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Full text of "Neue Jahrbücher für Philologie und Paedogogik"

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Neue 


JAHRBÜCHER 


für 


Philologie  nm  Paedagogik. 


Begründet 


Mi  Johann  Christian  Jahn. 


Gegenwärtig  herausgegeben 


Alfred  Fleckeisen       »»d       Hermann  Masins 

Professor  in  Dresden  Professor  in  Leipzig. 


TlfiRCNDDREISZICtgTfiR   JA  AR«  A  MO. 

Neunzigster  Band. 


Leipzig  1864. 

Druck  und  Verlag  von  B.  G.   Teubner. 


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Neue 


JAHRBÜCHER 


für 


Philologie  und  Paedagogik. 


Zweite  Afcteflug. 


Herausgegeben 


Hermann  Maiim. 


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IE1ITBR  JAIR«Aie  1S44 

oder 

der  Jahaschen  Jahrbücher  für  Philologie  und  Paedagogik 
Neunzigster  Band. 


Leipzig 

Druck  und  Verlag  von  B,  O.   Teubner. 


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Zweite  Abteilung: 

fttr  Gymnasialpädagogik  und  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschlusz  der  classischen  Philologie, 
Iierattsgegebei  tm  Professor  ttr.  Rcritii  Masiis. 


1. 

Zur  Gymnasialreform. 


Wenn  ich  anders  recht  sehe,  so  kann  man  die  verschiedenen  Klagen 
über  das  Nachlassen  unserer  Gelehrtenschule  in  ihrer  Wirksamkeit  in  den 
wenigen  Worten  zusammenzufassen :  das  Gymnasium  erzieht  nicht  mehr. 
Es  wird  damit  nicht  gesagt  werden,  dasz  aus  keinem  Gymnasium  annoch 
wolerzogene  Schüler  auf  die  Universität  übertreten,  was  der  Augenschein 
widerlegt.  Vielmehr  wird  der  Sinn  jener  Klage  der  sein ,  dasz  die  Schule 
an  der  groszen  Mehrzahl  ihrer  Zöglinge  hinsichtlich  der  Erziehung  nicht 
das  leiste,  was  sie  leisten  könnte  und  sollte.  Wenn  z.  B.  über  den  Man- 
gel an  Wiszbegierde  und  über  Gleichgültigkeit  gegen  die  Wissenschaft  an 
und  für  sich  geklagt  wird ,  so  wird  das  nur  so  viel  heiszen :  die  grosze 
Mehrzahl  der  Gymnasialschüler  ist  nicht  so  erzogen  worden,  dasz  die 
natürliche  Trägheit  durch  Unterricht,  Uebung  und  vernünftige  Zucht  über- 
wunden und  die  Vernunft  bei  den  Schülern  soweit  entwickelt  und  gestärkt 
erschiene,  als  sie  vordem  Uebertritt  auf  die  Universität  entwickelt  und 
gestärkt  werden  könnte  und  sollte,  und  dasz  der  selbständige  Wille  zum 
Studieren,  das  Verlangen  nach  Wahrheit  in  der  Wissenschaft  und  die 
Lust  zu  wissenschaftlichem  Leben  in  ihnen  belebt  worden  wäre.  Nimmt 
man  die  Klage  in  dieser  Gestalt  als  wolbegründet ,  und  den  Uebelstand 
als  einen  allgemeinen,  allen  unsern  Gymnasien  mehr  oder  weniger  ge- 
meinsamen an ,  so  wird  man  beim  Aufsuchen  der  Mittel ,  wodurch  dem 
Uebelstand  begegnet  werden  könnte,  nur  auf  die  alleu  Gymnasien  gemein- 
samen Ursachen  des  Uebelstandes  zurückgehen  müssen ;  denn  alles  Per- 
sönliche, alles  Nachteilige,  was  in  den  Lehrern  oder  den  Schülern  in- 
wohnt,  entzieht  sich  ja  überall  jeder  Berechnung,  und  es  ist  gleich 
vergeblich,  die  schwächere  oder  herabgekommene  Generalion  wie  das  Un- 
geschick oder  den  unverständigen  Eifer  der  Lehrer  anzuklagen.  Wenn 
auch  Hunderten  von  Lehrern  nachzuweisen  wäre ,  dasz  sie  nicht  Erzieher 
seien,  so  wäre  damit  für  die  Erklärung  der  Sache  nichts  gewonnen  und 
keine  Handhabe  geboten,  wodurch  man  des  Uebels  habhaft  werden  könnte. 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  1.  1 

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2  Zur  Gymnasialreform. 

Geling!  es  dagegen,  nachzuweisen,  äasz  das  Gymnasium  nach  seinem  der- 
mal igen  und  durchschnittlichen^  Bestände  gar  nicht  erziehen  könne,  so 
wird  daraus  zu  erkennen  sein,  wie  und  wo  man  die  helfende  Hand  an- 
legen solle. 

Patrone  der  bestehenden  Einrichtungen  möchten  zwar  vielleicht  gel- 
lend machen,  dasz  wenigstens  einzelne  Lehrer  durch  diese  Einrichtungen 
nidil  verhindert  worden  seien,  eine  bedeutende  erzieherische  Thätigkeit 
zu  üben,  wie  solche  z.  B.  der  sei.  Nägelsbach  unter  meinen  Augen  ge- 
übt hat.  Es  wird  sich  aber  in  allen  solchen  Fällen  herausstellen ,  dasz 
eine  Thäligkeit  dieser  Art  durch  jene  Einrichtungen  nicht  gefördert,  son- 
dern trotz  der  hinderlichen  und  unzweckmäszigen  Einrichtungen  ausge- 
übt worden  ist. 

Die  Vorschriften  für  den  Gymnasialunterricht,  nemlich  über  die 
Zahl  und  Art  der  Lehrpensen  wie  über  den  Lehrgang,  sind  das  Gemein- 
st! mste  unter  unsern  deutschen  Gymnasien:  und  so  wird  allerdings  die 
Prags  entstehen,  ob  die  Anwendung  dieser  Vorschriften  in  ihrer  Gesamt- 
heit oder  im  Einzelnen  die  erzieherische  Thätigkeit  der  Gymnasien  beein- 
trächtige ?  Diese  Frage  kann  meines  Erachtens  nur  mit  einem  entschiede- 
nen Ja  beantwortet  werden. 

Das  erste  unsern  Gymnasien  gemeinsame  Uebel  ist  der  durchgängige 
Zwang,  welchen  jene  Vorschriften  dem  Schüler  hinsichtlich  der  Benützung 
der  Lehrpensen  auferlegen.  Alle  die  Gelehrten,  welche  in  Schulpforte 
gebildet  wurden,  bevor  der  altberühmten  Anstalt  die  Preuszische  Uniform 
übergeworfen  wurde,  haben  es  anerkannt,  dasz  dort  bei  allem  Ungemache 
des  PeiinaHsmus  und  bei  mangelhaftem  Unterricht  viel  gearbeitet  und  viel 
gelernt  worden  sei,  weil  die  bestehende  Einrichtung  die  Freiheit  in  der 
Wald  der  Arbeit  begünstigt  und  die  traditionelle  Sitte  das  freiwillige  Ar- 
beiten zur  Ehrensache  gemacht  habe.  Gearbeitet  wird  auch  jetzt  und 
zwar  viel,  von  Lehrern  und  von  Schülern  unserer  Gelehrtenschulen:  es 
mag  vorkommen,  dasz  die  Schüler  einer  Classe  an  einem  Tage  vier  Auf- 
gaben für  ebensoviele  Lektionen  des  folgenden  Tags  zu  machen  haben; 
es  wird  auch  gearbeitet  der  Ehre  zuliebe,  nemlich  von  solchen,  welche 
dem  Vater  eine  gute  Censur  vorlegen  oder  einen  Preis  erlangen  wollen; 
auch  für  nutzlich  wird  das  Arbeiten  erkannt,  sofern  es  dem  Schüler, 
welcher  auf  die  Universität  übergehen  will,  das  Maturitätszeugnis  erwir- 
ken kann.  Aber  all*  diese  Arbeit  ist  nicht  höher  anzuschlagen,  als  die 
ihs  Schustergeseilen,  welcher  die  Woche  über  so  vielo  Paar  Schuhe  fertig 
bringen  musz,  damit  er  am  Ende  derselhen  seinen  Lohn  erhalte.  Für  die 
Arbeit  selbst,  d.  h.  für  die  Gegenstände  und  für  das  Arbeiten  kann  der 
Schüler  nicht  warm  werden,  weil  er  von  einem  Pensum  zum  andern  eilen 
musz,  um  fertig  zu  werden,  und  weil  er  niemals  wählen  darf,  was  er  ar- 
beiten wilL  Es  versteht  sich  von  selbst,  dasz  jeder  Lehranstalt  je  nach 
dein  ihr  vorgesteckten  Ziele  eine  gewisse  Anzahl  von  Lehrfächern  zuge- 
wiesen und  bestimmte  Leistungen  in  der  Behandlung  derselben  auferlegt 
sein  müssen,  wonach  nicht  nur  die  Prüfungen  der  Abiturienten ,  sondern 
auch  die  für  das  Aufrücken  in  den  Classen  nicht  entbehrt  werden  können 
Ein  gewisser  Zwang  ist  auch  hier  wegen  der  natürlichen  Trägheit  und 


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Zur  Gymnasialreform.  3 

Arbeitsscheu  liberal!  geboten.  Aber  wenn  der  Schüler  in  fünf  Lehr- 
fächern etwas  Bestimmtes  leisten  kann ,  darf  man  mit  Gewiszheit  anneh- 
men, dasz  er  in  zehn,  —  so  viele  hat  die  Preuszische  Prima,  —  nicht 
dasselbe  leisten  werde ,  wenn  ihm  die  zweite  Pentas  mit  derselben  Ver- 
bindlichkeit wie  die  erste  auferlegt  wird.  Bei  der  ersten  ist  es,  wenn 
die  Schulgesetzgeber  ihre  Aufgabe  verstehen,  wenigstens  nicht  unmöglich, 
eine  gewisse  Harmonie  oder  eine  organische  Verbindung  zwischen  den 
einzelnen  Lehrpensen  herzustellen  und  so  dem  Schüler  zu  gestatten, 
oder  ihn  einzuladen ,  dasz  er  seine  Aufmerksamkeit  auf  dieselbe  fixiere, 
für  sein  Denken  eine  bestimmte  und  durchgehende  Richtung  gewinne ; 
und  es  bleibt  ihm  dabei  noch  freier  Raum  genug  für  die  Wahl  irgend 
eines  andern  geistigen  Stoffes ,  woran  er  sich  vergnügen  mag.  Bei  zehn 
Lehrpensen  ist  ihm 'weder  diese  Wahl  noch  die  Möglichkeit,  sich  in  irgend 
einer  geistigen  Thätigkeit  zu  fixieren,  übrig  gelassen.  Wenn  ich  aber  als 
Lehrer  meinen  Schüler  erziehen  soll,  so  rausz  ich  mich  bemühen,  seinen 
Willen  dahin  zu  lenken ,  dasz  er  erstlich  sich  in  seiner  Thätigkeit  fixiere, 
und  zweitens ,  dasz  er  gerne  und  mit  eigenem  Triebe  arbeite. 

Wir  sind  mit  unsern  Gymnasien  dahin  gekommen,  dasz  von  dem- 
jenigen, was  der  junge  Mensch  vor  dem  Uebertritt  auf  die  Universität 
lernen  könnte,  geradezu  nichts  seiner  eignen  Wahl  und  Lust  überlassen 
bleibt,  sondern  vielmehr  alles  gelehrt  wird  und  zwar  mit  Zwang ,  und 
auch  dasjenige ,  was  gar  nicht  durch  Unterricht  mitgeteilt  werden  kann, 
wie  alles  Aesthetische.  Sogar  die  Bekanntschaft  mit  der  neuern  poeti- 
schen Nationallitteratur  ist  in  unsern  Schuten  obligatorisch  geworden, 
wobei  man  nicht  bedacht  hat,  dasz  der  Schüler,  welcher  sich  Goethe 
und  Schiller  durch  den  Lehrer  musz  erklären  lassen  und  Haus- 
arbeiten über  Dichterwerke  zu  liefern  hat,  um  so  gewisser  seine 
Unterhaltung  nicht  bei  diesen  Dichtern,  jedenfalls  nicht  bei  ihren  vor- 
züglichsten Werken,  und  sicherlich  bei  andrer  verwerflicher  Poesie 
suchen  werde.  Diesem  Zwaug  aber  vollends  die  Teilnahme  aller  Schü- 
ler am  Turnen  zu  unterwerfen,  die  Turnstunden  sogar  zum  Teile  zwi- 
schen den  wissenschaftlichen  Unterricht  hineinzuschieben,  erscheint  mir 
dem  Princip  und  der  wahrscheinlichsten  Wirkung  nach  gleich  verfehlt 
und  verwerflich;  dem  Princip  nach  auch  darum,  weil  es  als  eine  Con- 
cession  erscheint,  welche  einer  politischen,  alle  wirkliche  Bildung  an« 
feindenden  Partei  gemacht  worden  ist,  die  gar  keinen  Hehl  daraus  macht, 
was  sie  mit  diesem  von  ihr  geforderten  Zwange  beabsichtige.  Der  Wir- 
kung nach  ist  es  gewis  nicht  einerlei ,  ob  künftig  der  Secundaner  unter 
seinen  Mitschülern  der  angesehenste  ist  —  ducere  classem,  sagt  Quin- 
tilian,  ionge  pulcherrimum  —  welcher  ein  gutes  Latein  schreibt,  oder 
der,  welcher  den  höchsten  Sprung  macht.  Solange  das  Turnen  freige- 
geben war,  konnte  solch  eine  Collision  der  Meinungen  in  der  Schule  nicht 
entstehen.  Sobald  der  Staat  den  Schüler  —  und  jene  Partei  fordert  be- 
reits das  Turnenkönnen  auch  als  Bedingung  für  die  Anstellung  der  Lehrer 
—  zur  Teilnahme  am  Turnen  verpflichtet,  macht  er's  für  den  Schüler  und 
den  Lehrer  zweifelhaft,  ob  das  Latein  oder  das  Turnen  das  Wichtigere 
sei.   Uebrigens  wird  der  Zwang  auch  hier  nicht  anders  wirken,  als  bei 

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4  Zur  Gymnasialreform. 

manchen  Lehrpensen,  welche  dem  Gymnasium  aufgedrungen  sind.  Ich 
habe  bei  einer  und  derselben  Lehranstalt  das  Ergebnis  der  freien  und 
der  gezwungenen  Teilnahme  am  Turnen  erlebt :  jene  hat  die  besten  Schü- 
ler zu  einer  gewissen  Selbständigkeit  und  zum  Wetteifer  ohne  Eitelkeit 
erweckt;  diese  hat  das,  was  man  jetzt  erwartet,  die  Uebung  in  freiwilli- 
ger Unterordnung  etc.,  keineswegs  geleistet,  und  die  gezwungene  Teil- 
nahme hat  von  den  Wirkungen  der  freiwilligen  nichts  übrig  gelassen. 
Wer  die  Aufgabe  der  Erziehung  mit  dem  Gewöhnen  zu  erfüllen  meint, 
der  kennt  und  achtet  die  menschliche  Natur  nicht.  Der  Zwang  in  dem 
aber,  was  nur  durch  eigne  Lust  und  freie  Thätigkeit  gedeihen  kann,  ist 
ein  Bekenntnis  davon,  dasz  man  nicht  blosz  das  Kind,  sondern  auch  den 
Jüngling  und  den  Mann  durch  Gewöhnung  erziehen  wolle. 

Wenn  es  wenige  in  einem  gewissen  organischen  Zusammenhang 
stehende  Lehrpensen  sind,  an  denen  ich  meine  Schüler  übe,  so  werde  ich 
sie  auch  da  erst  zum  Arbeiten  gewöhnen  müssen;  aber  bei  wenigen  Lehr- 
pensen werde  ich  sie  auch  dazu  gewöhnen  können,  und  wenn  sie,  was 
bei  vernünftiger  Behandlung  der  Sachen  und  der  Personen  nicht  ausblei- 
ben kann ,  nach  und  nach  eine  Wirkung  des  Unterrichts  auf  ihren  Geist 
verspüren,  wenn*  sie  merken,  dasz  man  hei  mir  etwas  lerne,  so  werden 
sie  die  Arbeit  und  durch  die  Arbeit  das,  worin  sie  zu  arbeiten  haben, 
lieb  gewinnen,  für  den  Lehrer  und  für  das,  was  gelehrt  wird,  sich  er- 
wärmen ;  und  diese  Stimmung  ist  der  Anfang  der  Selbständigkeit,  die  den 
Kern  und  das  Element  des  wissenschaftlichen  und  des  Berufslebens  aus- 
macht. Wenn  dagegen  die  Schüler  in  zehn  verschiedenen  Fächern  sich 
durch  vier,  fünf  oder  mehr  Lehrer  sollen  unterrichten  lassen,  so  werden 
sie  immer  trag  und  verdrossen  bleiben ,  so  können  sie  sich  für  Jkeine  Ar- 
beit und  keinen  Lehrer  erwärmen.  Die  Ahnung  hiervon  hat  ohne  Zweifel 
die  Anordnung  der  Glassenordinariate  und  die  Gombination  verschiedener 
Fächer  in  Preuszen  veranlaszt,  was  ein  Notbehelf  ist,  so  lange  die  Fächer 
selbst  in  so  ganz  verschiedenen  Richtungen  auseinanderlaufen.  Denn  das 
eben  ist  das  zweite,  grosze,  unsern  deutschen  Gymnasien  gemeinsame 
Uebel :  die  grosze  Zahl  verschiedenartiger ,  im  Gymnasium  zusammenge- 
häufter Lehrfächer,  welche  das  einheitliche  Arbeiten  der  Lehrer  zum 
Zwecke  der  Erziehung  unmöglich  machen.  Der  vor  wenigen  Jahren  ver- 
storbene Geh.  Ralh  Dr.  Eil  er  s,  welcher  alle  Grade  der  Berufsthätigkeit 
für  die  Gymnasial  schule  bis  zur  höchsten ,  einem  Schulmann  erreichbaren 
Stufe  mit  Auszeichnung  durchgemacht  hat,  gibt  in  seiner  Autobiogra- 
phie*) eine  Genesis  dieses  Uebels,  welche,  wie  mir  scheint,  dessen  Ent- 
stehung selbst  etwas  einseitig  auffaszt,  den  gegenwärtigen  Bestand  des- 
selben aber  nach  untrüglicher  Autopsie  darstellt,  ^bie  Zahl  derer,  die 
nicht  studieren ,  aber  eine  dem  neuen  Zeitgeiste  angemessene  Bildung  ha- 
ben wollten,  wuchs.  Die  Gymnasien  konnten  mit  ihrer  hergebrachten 
Einrichtung  und  ihren  pedantischen  Lehrern  den  neuen  Forderungen 
nicht  genügen.  Es  entstanden  Privatanstalten  mit  anderen  Lehrgegen- 
ständen nnd  ganz  neuen  Methoden*   Die  Raschheit,  womit  diese  zehnmal 

*)  Meine  Wanderung  usw.  II  250  f. 

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Zur  Gymnasialreform.  5 

kostspieligeren  Anstalten  die'  Jugend  der  höhern  und  höchsten  Stände  in 
ihren  Kreis  zogen,  beweist,  wie  allgemein  das  Bedürfnis  einer  andern 
Bildungsweise  gefühlt  wurde.  Die  Gymnasien  magerten  ab,  und  die  Re- 
gierangen erkannten  die  Notwendigkeit  einer  Reform  derselben.  Hier  be- 
gann nun  das  verderblichste  Uebel  der  Ueberfullung  der  Gymnasien  mit 
Lehrgegenständen ,  wozu  dann  noch,  um  die  geistigen  Kräfte  der  Jugend 
vollends  zu  ersticken,  unter  dem  Einflüsse  sehr  unpädagogischer  Fachge- 
lehrten auf  unklare  Schulverwaltungsbehörden  die  ganz  unvernünftige 
Steigerung  der  Forderungen  in  den  einzelnen  Lehrgegenständen  hinzu- 
kam, welche  ihren  Ausdruck  in  dem  Abiturientenreglement  gefunden  hat. 
Man  wollte  die  bildende  Kraft,  welche  in  dem  Studium  der  classischen 
Sprachen  liegt,  zu  einer  noch  höheren  Potenz  erheben  und  zugleich  die 
früher  nur  beiläufig  betriebenen  Lehrgegenstände,  deutsche  Sprache,  Ma- 
thematik, Physik,  Geschichte  und  Geographie,  sowie  die  neu  hinzugekom- 
menen, so  steigern,  wie  es  vernünftigerweise  nur  in  besondern,  für  diese 
Lehrgegenstände  bestimmten  Schulen  hätte  geschehen  können.  Auch  Ja- 
kob Grimm  erklärt  in  der  akademischen  Rede  über  Schule,  Universität, 
Akademie  diese  immersteigende  Verlegenheit  bringende  Ueberfullung  der 
Lehrgegenstände  für  ein  wahres  Unheil ,  und  findet  das  den  Eingang  zur 
Universität  bedingende  und  erschwerende  Abiturientenexamen  verwerflich.' 
Dasz  aus  dieser  Häufung  der  Lehrpensen  statt  einheitlicher  Einwirkung 
auf  die  Erziehung  der  Jugend  nur  ein  Zerflattern  der  Thätigkeit  der  Gym- 
nasien und  der  jugendlichen  Köpfe  selbst  hervorgehen  müsse,  bedarf 
nach  den  vorliegenden  und  anerkannten  Ergebnissen  keines  Beweises.  Es 
ist  vielleicht  nötiger  zu  zeigen,  welche  irrige,  übrigens  von  Eilers 
in  der  angezogenen  Stelle  schon  angedeutete  Vorstellung  die  Zerflatterung 
sanktioniert  und  dem  Gymnasium  statt  seines  wirklichen  Zieles  ein  Phan- 
tom zum  Ziele  gesetzt  hat.  Eine  Preuszische  C.  0.  vom  24.  Octbr,  1837 
sagt  unter  Anderem  *) :  'Die  Lehrgegenstände  in  den  Gymnasien,  nament- 
lich die  deutsche,  lateinische  und  griechische  Sprache,  die  Religionslehre, 
die  philosophische  Propädeutik,  die  Mathematik  nebst  Physik  und  Natur- 
beschreibung, die  Geschichte  und  Geographie,  sowie  die  technischen  Fer- 
tigkeilen des  Schreibens,  Zeichnens  und  Singens  ....  machen  die  Grund- 
lage jeder  höheren  Bildung  aus ,  und  stehen  zu  dem  Zwecke  der  Gym- 
nasien in  einem  ebenso  natürlichen  als  notwendigen  Zusammenhange. 
Die  Erfahrung  von  Jahrhunderten  und  das  Urteil  der  Sachverständigen, 
auf  deren  Stimme  ein  vorzügliches  Gewicht  gelegt  werden  musz*,  spricht 
dafür ,  dasz  gerade  diese  Lehrgengenstände  vorzüglich  geeignet  sind ,  um 
durch  sie  und  an  ihnen  alle  geistigen  Kräfte  zu  wecken,  zu  entwickeln, 
zu  stärken,  und  der  Jugend,  wie  es  der  Zweck  der  Gymnasien  mit  sich 
bringt,  zu  einem  gründlichen  und  gedeihlichen  Studium  der  Wissenschaf- 
ten die  erforderliche,  nicht  blosz  formelle,  sondern  auch  materielle  Vor- 
bereitung und  Befähigung  zu  geben.  Ein  gleiches  läszt  sich  nicht  von  dem 
Unterricht  in  der  hebräischen  ....  und  von  der  französischen  Sprache 


*)  Li.  v.  JRönne :  Das  Unterrichtswesen  des  Preusz,  Staats  usw.  Zwei- 
ter Band.    S.  145. 


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Zur  Gymnasialreform. 

behaupten ,  welche  ihre  Erhebung  zu  einem  Gegenstände  des  öffentlichen 
Unterrichts  nicht  sowol  ihrer  inneren  Vortrefflichkeit  und  der  bildenden 
Kraft  ihres  Baues,  als  der  Rücksicht  auf  ihre  Nützlichkeit  für  das  prak- 
tische Leben  verdankt.  Wenn  indessen  äuszere  Gründe  rathen,  den  Unter- 
richt in  der  hebräischen  und  französischen  Sprache  auch  noch  ferner  iu 
den  Gymnasien  beizubehalten,  so  gehen  dagegen  jene  obengedachten  Lehr- 
gegenstände aus  dem  innern  Wesen  der  Gymnasien  notwendig  hervor. 
Sie  sind  nicht  willkürlich  zusammengehäuft,  vielmehr  haben  sie  sich  im 
Laufe  von  Jahrhunderten  als  Glieder  eines  lebendigen  Organismus  entfaltet, 
indem  sie,  mehr  oder  minder  entwickelt,  in  den  Gymnasien  immer  vorhan- 
den waren.  Es  kann  daher  von  diesen  Lehrgegenständen  auch  keiner  aus 
dem  in  sich  abgeschlossenen  Kreise  des  Gymnasialunterrichts  ohne  wesent- 
liche Gefährdung  der  Jugendbildung  entfernt  werden,  und  alle  dahin  zie- 
lenden Vorschläge  sind  nach  näherer  Prüfung  unzweckmäszig  und  unaus- 
führbar erschienen.'  Wenn  seit  dieser  Verordnung  von  1837  keines  der 
für  das  Preuszische  Gymnasium  vorgeschriebenen  Lehrfächer  aus  dem  in 
sich  abgeschlossenen  Kreise  des  Unterrichts  ohne  wesentliche  Gefahrdung 
der  Jugendbildung  entfernt  werden  kann,  so  musz  die  Jugendbildung 
durch  die  Gymnasien  vor  der  Peststeilung  dieses  Kreises,  zu  der  Zeit,  da 
die  Gymnasien  durchschnittlich  nur  viel  Latein  und  wenig  Griechisch, 
auszerdem  aber  nur  nach  der  besondern  Neigung  der  Lehrer  das  eine 
oder  das  andere  jener  Lehrfächer  mit  Ernst  betrieben,  äuszerst  mangel- 
haft und  ungenügend  gewesen  sein.  Dagegen  sagt  wieder  Eilers  von 
dem  Gymnasium  zu  Jever,  wo  er  sich  auf  die  Universitäts Studien  vorbe- 
reitete*): cEs  waren  an  der  ganzen  Anstalt  eigentlich  nur  drei  wissen- 
schaftlich gebildete  Lehrer,  und  unter  diesen  keiner,  der  ein  Preuszisches 
Oberlehrerexamen  nach  heutigem  Zuschnitt  hätte  machen  können.  Was 
konnte  mit  solchen  Kräften  geleistet  werden?  Nichts  als  Griechisch  und 
Lateinisch,  und  doch  mehr,  als  jetzt  von  unsern  Gymnasien  geleistet  wird, 
die  mit  scharf  examinierten  Professoren,  Oberlehrern  und  Lehrern  für 
alle  möglichen  Fächer  ausgerüstet  sind  ....  Damals  waren  die  weniger 
gelehrten  Philologen  begeistert  für  die  allen  Classiker,  und  fanden  ihre 
gröste  Freude  in  dem  gemeinsamen  Studium  derselben  mit  ihren  Schü- 
lern ;  jetzt  sind  die  viel  gelehrteren  philologischen  Lehrer  matt,  kleinlich, 
ohne  Geist  und  ohne  Begeisterung  für  Jugendbildung ,  selbst  gequält  und 
ihre  Schüler  quälend  mit  todten  Formen.  Ich  habe  seit  dreiszig  Jahren 
—  der  Verf.  schrieb  so  im  J.  1856  —  auf  die  traurigen  Folgen  unserer 
theoretischen  Schulgesetzgebung  aufmerksam  gemacht.'  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort  zu  zeigen ,  wie  willkürlich  in  der  obigen  Verordnung  die  Ge- 
schichte der  encyklopädischen  Gestaltung  des  Gyranasialunterrichts  ge- 
macht ist.  Wenn  man  seiner  Zeit  einfach  bei  der  Frage  geblieben  wäre, 
welcherlei  Lernen  und  welche  Uebungen  vorangehen  müsten,  damit  der 
Schüler  gehörig  vorbereitet  und  ausgestattet  auf  die  Universität  übertre- 
ten könne,  so  hätte  es  nicht  gefehlt,  dasz  aus  der  Lehreinrichtung  der 
Gymnasien  ein  wirklicher  und  wirksamer  Organismus  geworden  wäre :  es 


*)  Meine  Wanderung  usw.  I  60  f. 

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Zur  Gymnasialreform.  7 

würden  dem  Gymnasiuni  wenige  und  nur  solche  Lehrfächer  zugeteilt 
worden  sein,  welche,  durch  ihr  Wesen  und  ihre  Natur  mit  einander  ver- 
bunden, die  Lehrer  von  selbst  zu  einheitlicher  Thätigkeit  angetrieben 
hätten,  während  jetzt  bei  der  Abwesenheit  des  organischen  Zusammen- 
hangs unter  den  Lehrfächern  die  Lehrer  einer  und  derselbeu  Anstalt,  auch 
wenn  sie  den  redlichen  Willen  dazu  haben,  in  keinerlei  Weise  zusammen- 
wirken können.  Es  läszt  sich  die  apodictische  Sicherheit,  womit  in  jener 
Verordnung  die  Encyklopädie  der  Gymnasiallehrfächer  als  eine  historisch 
und  psychologisch  so  gegebene  und  gewordene  behauptet  wird ,  kaum 
anders  erklären  als  dadurch ,  dasz  sich  in  den  Gedanken  der  Schutgesetz- 
geber unter  dem  Einflüsse  des  Zeitgeistes,  dem  wir  je  nach  vorwaltender 
Stimmung  alles  Gute  und  alles  Böse  zuschreiben,  neben  und  über  dem 
wirklichen  und  anerkannten  Ziele  des  Gymnasialunterrichts  die  Vorstel- 
lung eines  geistigeren,  aber  nur  in  der  Phantasie  und  im  unklaren  Ge- 
rede der  Menge  vorhandenen  Zieles  festgesetzt,  und  dasz  diese  Vorstellung 
eines  imaginären  Zieles  die  Vorstellung  von  dem  realen  Ziele  des  Gym- 
nasialunterrichts im  Laufe  der  Zeit  mehr  und  mehr  absorbiert  habe. 
Denn  wie  wäre  es  sonst  zu  erklären,  dasz  die  genannten,  in  ihrem  Wesen 
so  verschiedenen  Disciplinen  Glieder  eines  lebendigen  Organismus  heiszen, 
dasz  ihre  Gesamtheit  die  Grundlage  jeder  höheren  Bildung  genannt  wird? 
Dieses  Nebelbild  eines  Zieles,  in  welchem  das  wirkliche  und  faszbare  Ziel 
des  Gymnasialunterrichts  verschwommen  ist,  wird  kein  anderes  sein,  als 
jene  'Gesamlbildung'  welche  in  den  Preuszischen  Verordnungen  zwar  nur 
hier  und  da  und  wie  im  Vorübergehen  genannt  wird,  aber  auch  unter 
den  anderen,  sonst  öfters  gebrauchten  Ausdrucken ,  wie 'höhere,  allge- 
mein menschliche  Bildung,  möglichst  gleichmäszige  Bildung,  wissenschaft- 
liche und  sittliche  Ausbildung'  verstanden  zu  werden  scheint.  Die  erste 
Frage  lautet  so:  was  musz  der  Schüler  gelernt  und  geübt  haben,  um  für 
die  Universität  gehörig  ausgestattet  zu  sein?  Die  zweite  aber:  wie  ent- 
steht die  Gesamtbildung,  welche  der  Schüler  gewonnen  haben  musz,  be- 
vor er  zur  Universität  übertritt?  Ebendamit  war  allem  und  jedem  Wis- 
sen und  Können  die  Pforte  des  Gymnasiums  aufgethan.  Bildung  ist  ganz 
gewis  der  Zweck  alles  Unterrichtens,  sei's  in  der  Dorfschule  oder  auf  der 
Universität,  und  dieser  edle  und  grosze  Zweck  musz  auch  für  den  Gym- 
nasialunterricht den  modus  abgeben.  'Aber  eben,  weil  Bildung  der  Zweck 
alles  Unterrichtens  ist,  kann  sie  nicht  das  Ziel  für  irgend  eine  Art  von 
Unterrichtsanstalten  sein.  Niemand  kann  sagen :  wer  das  und  das  gelernt 
und  geübt  hat,  der  ist  gebildet.  Also  kann  ich  auch  nicht  von  irgend 
einem  Stadium  der  Bildung  reden,  von  dem  aus  zu  bestimmen  wäre,  was 
alles  zur  Bildung  erforderlich  sei.  Die  Gesamtbildung  als  Ziel  des  Gym- 
nasialunlerrichts  gedacht,  ist  das  Phantom,  welches  die  Stelle  des  realen 
Zieles  der  Gymnasien  usurpiert. 

Hat  die  Vorstellung  von  den  Erfordernissen  der  Bildung  in  das  Gym- 
nasium die  multa  hereingebracht,  welche  das  multum  verschlingen,  so 
hat  sie  ebendamit  dasselbe  seines  Charakters  als  Schule  entkleidet,  hat  es 
zu  vornehm  werden  lassen,  als  dasz  es  noch  die  Erziehung  als  seine  erste 
und  wichtigste  Aufgabe  behandeln  könnte ;  und  das  ist  das  dritte,  grosze 


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8  Zur  Gymnasialreform. 

unsern  Gymnasien  gemeinsame  Uebel.  Dieses  erscheint  vielfältig  als  Con- 
cretum  in  der  Person  solcher  Lehrer  oberer  Glassen,  welche  die  Anfangs- 
grunde und  deren  Lehrer  gering  schätzen  und  überhaupt  nur  den  Sachen, 
nicht  den  Personen  einen  Werth  zuerkennen ,  oder  auch  und  fast  noch 
öfter  in  der  Person  solcher  Lehrer  unterer  Classen ,  welche  ihre  eigene 
Aufgabe  verachten  und  meinen,  zu  gut  für  elementarisches  Lehren  zu  sein. 
Dasz  solche  Einbildungen  den  Mann  unfähig  machen,  mit  andern  zum 
Zwecke  der  Bildung  zusammenzuarbeiten,  bedarf  keines  Beweises:  der 
Lehrer  bleibt  dadurch  von  seinen  Collegen  innerlich  ebenso  geschieden, 
wie  von  seinen  Schillern.  Es  ist  aber  nicht  überall  die  Individualität  des 
Mannes,  was  die  Gemeinschaft  mit  Collegen  und  Schülern  abschneidet, 
sondern  die  von  jener  Meinung  über  die  Bildung  dictierten  Lehrpläne  tra- 
gen meines  Erachten s  den  gröszeren  Teil  der  Schuld  daran,  dasz  der  Leh- 
rer je  mit  seinem  Fach  isoliert  bleibt,  statt  sich  und  sein  Fach  als  Teil 
eines  Ganzen  zu  betrachten ;  dasz  er  da ,  wo  noch  immer  am  Legen  und 
Befestigen  des  Grundes  zu  arbeiten  wäre,  den  Hochbau  emsig  betreibt, 
und  das,  was  durch  fleiszige  Uebung  zum  Verständnis  gebracht  werden 
sollte,  nur  dem  Gedächtnis  beizubringen,  mehr  den  Schein  eines  Wissens 
für  die  Prüfungen  als  ein  lebendiges  Wissen  zum  Zwecke  der  Bildung  zu 
erzielen  bemüht  ist.  Gleichwie  diese  Lehrpläne  die  Leistungen  des  Gym- 
nasiums als  ein  in  sich  abgeschlossenes ,  vielmehr  abzuschlieszendes  Gan- 
zes betrachten  —  'das  Gymnasium  hat  seinen  Zweck  in  sich,5  sagt  ein- 
mal Ludwig  Giesebrecht  —  so  werden  durch  die  gegebenen  Vor- 
schriften auch  die  einzelnen  Disciplinen  in  den  Augen  der  Lehrer  mit 
Notwendigkeit  lauter  einzelne,  unverbunden  nebeneinander  stehende 
Ganze ,  welche  nicht  etwa  die  Elemente  zu  Wissenschaften ,  sondern  die 
Wissenschaften  selbst  vorstellen.  So  will  zwar  eine  Preuszische  Instruc- 
tion für  den  geschichtlich-geographischen  Unterricht  vom  J.  1830*),  dasz 
die  Schule  der  Universität  sowol  das  Eindringen  in  den  Zusammenhang 
des  Ganzen,  als  in  viele  einzelne  Teile  der  Geschichte  überlasse.  Nichts- 
destoweniger heiszt  es  unmittelbar  vorher:  *Die  oberste  Stufe  (des  ge- 
schichtlichen Unterrichts  in  den  höhern  Gymnasialclassen)  kann  und  musz 
der  Geschichte  als  Wissenschaft,  die  ihren  Zweck  in  ihrem  eigenem  Werthe 
hat,  schon  mehr  Recht  angedeihen  lassen,  und  da  diese  wissenschaftliche 
Würde  keine  andere  ist,  als  dasz  das  Leben  der  Menschheit  in  seinem  all- 
mählichen Werden,  und  die  Offenbarung  des  höheren  Planes  der  Vor- 
sehung in  demselben  gezeigt  werde,  so  kann  sich  auch  die  Schule  der 
Pflicht  nicht  eutschlagen,  den  Geist,  der  in  der  Entwicklung  der  Mensch- 
heit immer  klarer  und  umfassender  hervortritt,  auch  dem  Geiste  des 
Jünglings  erkennbar  zu  machen.'  Wo  Geschichte  nach  dieser  Anweisung 
gelehrt  wird ,  da  steht  das  Pensum  doch  gewis  nicht  als  ein  TTpöc  Ti, 
sondern  als  Ding  für  sich  in  der  Lehranstalt :  der  Lehrer  musz  glauben, 
nicht  blosz  ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes  von  Geschichte,  sondern 
auch  noch  die  Philosophie  der  Geschichte  seinen  Schülern  mitzuteilen. 
Gleich  grosz  erscheint  die  wissenschaftliche  Spannung  und  Steigerung, 

*)  Bei  Rönne  S.  230  f. 

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Zur  Gymnasialreform.  9 

wenn  in  der  schon  angeführten  Pr.  C.  0.  von  1837  als  'rällilich'  erkannt 
wird  'das  Naturlehen ,  das  in  den  vier  untern  Classen  von  Stufe  zu  Stufe 
entwickelt  worden ,  nochmals  in  seinen  wichtigsten  Gestaltungen  den 
Schülern  der  zweiten  Glasse  vorüberzuführen,  und  ihnen  die  Idee  dessel- 
ben zum  Bewustsein  zu  bringen'.  Man  mochte  die  Lehrer  der  Mathematik 
darum  beneiden,  dasz  ihr  Pensum  eine  so  poetische  Fassung  ihrer  Auf- 
gabe von  selbst  abstöszt  und  dasz  sie  sich  selbst  das  hoc  age  immer  zu 
Gemüte  führen  müssen.  Dagegen  scheint  in  vielen  Gymnasien  —  ich 
selbst  habe  keine  Beobachtung  der  Art  gemacht  —  das  aliud  agere  nach 
allen  drei  Dimensionen  in  allzuwissenschaftlicher  Behandlung  des  Unter- 
richts in  den  beiden  alten ,  zum  Teil  auch  der  deutschen  Sprache  einhei- 
misch geworden  zu  sein,  wodurch  denn ,  wo  dies  in  die  Sitte  der  Anstalt 
übergegangen  ist,  das  Gymnasium  auch  für  sein  eigentliches  und  speci- 
tisches  Lehrfach  eine  Schule  zu  sein  aufgehört  hat. 

Das  vierte  unsern  Gymnasien  gemeinsame  Uebel  geht  aus  den  drei 
ersten  hervor ,  ist  aber  ein  sozusagen  selbständiges  und  das  gröste  Uebcl 
dadurch  geworden,  dasz  es  die  edelste  Eigenschaft  des  deutschen  Stam- 
mes ,  den  Sinn  für  die  Wahrheit ,  in  den  Gemütern  derjenigen ,  welche 
künftighin  unter  dem  Volke  als  Leiter  und  Vorbilder  stehen  sollen ,  mehr 
und  mehr  abzuschwächen  droht.  Wir  sagen  unsern  Schülern  freilich 
nicht,  amare  heisze  hassen  und  niger  heisze  weisz,  vielmehr  bemühen 
wir  uns,  dieselben  mit  einer  Menge  von  richtigen  Notizen  in  allen  Fächern 
auszustatten;  aber  wir  pflegen  mit  allem  Unterrichten  den  Schein  statt 
der  Wahrheit,  versprechen,  was  niemand  leisten  kann,  z.  B.  Vaterlands- 
liebe durch  Kenntnis  unserer  Nationallitteratur  einzupflanzen ,  oder  was 
der  Lehrer  gewöhnlicher  Art  an  Schülern  eines  gewissen  Alters  und  mitt- 
lerer Begabung  niemals  leisten  kann ,  wie  die  Bildung  durch  den  Ge- 
schiebtunterricht;  versprechen,  allen  Schülern  der  gleichen  Katego rieen 
beizubringen,  was  nur  wenige  begreifen  können,  wie  die  Mathematik, 
und  versprechen,  durch  eine  Vielheit  verschiedenartiger  Kenntnisse  in 
den  Köpfen  unserer  Schüler  eine  Bildung  zusammenzusetzen,  welche  nie- 
mals und  nirgends  vorhanden  und  sogar  unmöglich  ist.  Wir  rühmen 
vorder  Welt  die  bildende  Kraft  unseres  vornehmsten  Lehrfachs,  und  be- 
handeln dasselbe  so ,  dasz  der  Schüler  von  dieser  bildenden  Kraft  nichts 
bei  sich  selbst  wahrnimmt.  Teils  gebotene  Einrichtungen ,  teils  pädago- 
gische Theorieen,  welche  der  Eitelkeit  des  Lehrers  schmeicheln,  und  ihn 
des  ernstlichen  Arbeitens  entheben,  haben  zusammen  mit  dem  Nachah- 
mungstriebe und  der  durchgehenden  Neigung  unserer  Generation,  sich 
je  in  seiner  Weise  gehen  zu  lassen ,  eine  Halbheit  des  Thuns  in  unsere 
Gelehrtenschule  hereingebracht ,  welche  im  nachwachsenden  Geschlechte 
keine  Liebe  zur  Wahrheit  der  Wissenschaft  und  keine  Wahrhaftigkeit  im 
Leben  zu  erwecken  vermag. 

Quibusdam  aegrotis  fit  gratulatio ,  quum  se  aegros  esse  censuerunt. 

Wenn  nun  die  vorbenannten  vier  Uebel  dem  Gymnasium  nicht  ge- 
statten, seine  Schüler  zu  erziehen,  so  wird  dem  vierten  derselben,  nem- 
lich  der  Pflege  des  Scheines  statt  der  Wahrheit,  nicht  unmittelbar  und 
nicht  im  Allgemeinen  begegnet  werden  können.    Wenn  z.  B.  ein  ganzes 

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10  Zur  Gymnasialreform. 

Lehrercollegium  zu  der  Einsicht  käme,  dasz  die  Halbheit  in  seinem  Thun 
und  die  Pflege  des  Scheins  im  Unterrichten  ihm  den  Zugang  zu  den  Ge- 
mulem  der  Schüler  versperre,  und  die  Pflicht  zum  Erziehen  ihm  aus  den 
Augen  gerückt  habe,  so  müsten  eben  die  Glieder  dieses  Colleghims  sich 
in  dorn  guten  Vorsatze,  ihre  Sachen  anders  und  besser  anzugreifen,  wech- 
selseitig zu  ermuntern  und  zu  bestärken  bedacht  sein,  würden  aber  ohne 
Zweifel  alle  zusammen  bald  erkennen,  dasz  die  bestehenden  Leiteinrich- 
tungen der  Ausführung  ihrer  guten  Vorsätze  unübersteigliche  Hindernisse 
in  den  Weg  legen.  Wider  das  vierte  der  gemeinsamen  Uebel  kann  nur 
durch  Paränese  gestritten  werden.  Die  drei  ersten  Uebel  aber  fordern 
die  helfende  Hand  der  Behörden,  welche  über  der  Gelehrtenschule  stehen! 
es  isi  Sache  der  einzelnen  Anstalt  und  des  einzelnen  Lehrers,  erziehen 
?m  wollen,  aber  Pflicht  der  Vorgesetzten,  dafür  zu  sorgen,  dasz  die  An- 
stalt und  der  Lehrer  erziehen  könne.  Eilers  gibt  freilich  für  Preuszen 
geringe  Hoffnung,  indem  er  sagt*):  'Zur  Vertheidigung  des  Vielerlei  und 
der  gesteigerten  Forderungen  im  Einzelnen  hat  man  auf  die  Vervollkomm- 
nung der  Lehrmethoden  und  der  Lehrmittel  hingewiesen.  Wie  schlimm 
es  damit  in  der  Wirklichkeit  aussieht,  wissen  alle  einsichtigen  Schul- 
rälhe;  aber  die,  welche  die  Macht  etwa  in  Händen  hätten,  es  zu  ändern, 
wissen  es  nicht  und  können  es  nicht  wissen.  Ich  wenigstens  habe  kei- 
nen Präsidenten  und  keinen  Minister  kennen  gelernt,  der  etwas  Rechtes 
vom  Schulwesen  verstanden  hätte.5  So  schrieb  Eil  er  s  im  J.  1857.  Wenn 
»bftr  in  Preuszen  nicht  geholfen  wird,  so  ist  für  uns  Andere  nicht  eben 
viel  zu  erwarten.  Indessen  sind  im  März  d.  J.  die  ungestümen  Forde- 
rungen der  gleichbaldigen  Vorlegung  eines  Unterrichtsgesetzes,  welche 
von  den  Schulmeistern  und  deren  demagogisierenden  Patronen  in  der 
IV.  DefMitiertenkammer  ausgegangen,  für  die  Volksschule  dasselbe  Quod- 
libet beabsichtigten ,  welches  in  die  Gelehrtenschule  eingedrungen  ist, 
dort  mit  so  ruhiger  Entschiedenheit  zurückgewiesen  worden,  dasz  man 
Wöl  erkennt,  wie  bei  der  Behörde,  von  welcher  das  allerdings  höchst 
wünsehenswerthe  und  notwendige  Unterrichtsgesetz  ausgehen  musz ,  ein 
ganz  anderer  Geist  walte,  als  derjenige,  welcher  die  oben  angezogenen 
\> rnnt tiungen  der  dreisziger  Jahre  dicliert  hat.  Ich  glaube  dasz  Hegel 
selbiiU  dessen  Einflusz  (allerdings  neben  der  Autorität  Fr.  A.  Wolfs) 
überall  aus  diesen  Verordnungen  hervorblickt  (der  jedoch  die  Neigung 
/.um  wissenschaftlichen  Aufwärtsschrauben  des  Gymnasial  Unterrichts  aus 
meiner  und  meiner  Vaterstadt  mitgenommen  hatte),  jetzt  gewis  zu  ernst- 
lu'.hor  Beschränkung  und  Herabslinnnung  der  Aufgaben  der  Gelehrten- 
sehule  rathen  würde. 

Vor  allen  Dingen  wird  es  nötig  sein,  aus  dem  Gymnasium  wieder 
eine  Schule  zu  machen,  und  nicht  so,  dasz  etwa  von  den  sechs,  resp. 
zehn  Klassen  die  vier,  resp.  sechs  untern  die  Schule,  und  die  zwei,  resp. 
vjei'  «liem  eine  halbe  Universität  vorstellen,  sondern  alle  Klassen  ohne 
Unterschied  den  Charakter  der  Schule,  d.  h.  einer  solchen  Unterrichts- 
.üislall  tragen  und  aufweisen,  deren  Aufgabe  es  ist,  die  Jugend  durch 


*}  Meine  Wanderung  usw.  II  252. 

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Zur  Gymnasialreform.  1 1 

Unterricht  und  beim  Unterricht  zu  erziehen,  oder  mit  anderen  Worten, 
so  zu  unterrichten  und  zu  gewöhnen,  dasz  hei  den  Schülern  des  Gymna- 
siums durch  den  Unterricht  selbst  und  durch  die  persönliche  Einwirkung 
des  Lehrers  die  Vernunft  soweit  entwickelt  und  gekräftigt  werde,  als 
dieselbe  bis  zum  Uebertritt  auf  die  Universität  erstarken  und  entwickelt 
werden  kann.    Angenommen,  es  wurde  jetzt  irgendwo  in  Deutschland 
eine  neue  Instruction  für  Gymnasiallehrer  vorbereitet,  so  mästen  die  be- 
rufeneu Aesymneten  des  Schulwesens  einen  Paragraphen  dieses  Inhalts 
zum  ersten  und  grundlegenden  machen,  um  zu  wissen,  was  sie  wollen, 
und  ebendann t  ihre  eigene  Phantasie  zu  bändigen ,  damit  sie  in  der  Wahl 
der  Unterrichtsfächer  nicht  wieder  von  der  Nützlichkeit  und  Preiswürdig- 
keit der  Sachen,  d.  h.  der  Disciplinen,  sondern  lediglich  von  dem  Bedürf- 
nis der  Personen,  d.  h.  der  Lehrer  und  der  Schüler  ausgehen.    Denn 
jenes  verrückt  auch  für  die  Volksschule  den  Standpunkt  der  Beurteilung 
und  des  Entschlusses,  wie  er  neuerdings  in  Baden  verschoben  worden 
ist  und  jetzt  eben  in  meiner  Heimat  verschoben  wird;  und  zwar  ist  es 
das  Träumen  von  der  Bildung,  z.  B.  von  der  Bildung  zur  Vaterlandsliebe, 
oder  gar  von  der  Bildung  für  banausische  Thäligkeit,  was   solch  eine 
Verschiebung  des  Standpunkts  uns  als  ein  Fortschreiten  erscheinen  läszt. 
Ist  der  Paragraph,  welcher  das  Gymnasium  dazu  bestimmt,  die  Jugend 
durch  Unterricht  zu  erziehen,  für  die  Schulgesetzgeber  unentbehrlich,  so 
ist  er  auch  der  wichtigste  für  die  Vorsteher  und  Lehrer  selbst,  da  er  mit 
dem  Wesen  der  Lehranstalt  zugleich  die  Methode  in  der  Behandlung  der 
Sachen  und  der  Personen  ausdrückt,  und  namentlich  den  Vorsteher  nicht 
zweifelhaft  über  die  Art  der  Leistungen  bleiben  läszt,  die  er  von  den 
Lehrern  zu  verlangen  hat.     So  wie  es  jetzt  steht,  kann  ein  Lehrer  sich 
dem  Vorsteher  gegenüber  auf  die  Ansprüche  der  Wissenschaft  oder  auch 
auf  seine  Pflicht,  die  Schüler  durch  das  Examen  durchzubringen,  berufen, 
um  der  moralischen  Anstrengung  des  Erziehens  überhoben  zu  sein.    Mir 
wenigstens  wäre  es  im  Rectorat  ungemein  erwünscht  gewesen,  mit  Hin- 
deutung  auf  solch  einen  §  1  den  einen  und  den  andern  von  denjenigen, 
mit  welchen  ich  zu  arbeiten  hatte,  ermahnen  zu  dürfen,  dasz  er,  um  er- 
ziehen zu  können,  ein  ganz  anderer  Mensch  werden  müste ;  ein  Zuspruch, 
zu  welchem  jetzt  meines  Wissens  nicht  ein  einziger  der  Hunderte  von 
Rectoren,  die  es  in  der  Welt  gibt,  auch  nur  von  ferne  berechtigt  ist. 
Bedürfen  wir  dieses  ersten  grundlegenden  Paragraphen  zur  Feststellung 
der  allgemeinen  Methode  für  den  Unterricht,  so  ist  derselbe  nicht  minder 
notwendig  zur  Herstellung  und  Erhaltung  des  einheitlichen  Arbeitens  der 
Vorsteher  mit  den  Lehrern  und  der  Lehrer  unter-  und  miteinander. 

Mag  auch  immerhin ,  wie  das  in  den  Preuszischen  Instructionen  mit 
Ernst  betont  wird,  den  Lehrercollegien  ans  Herz  gelegt  werden,  dasz 
nicht  das  Wissen  an  sich  Werth  habe,  sondern  nur  die  Frucht,  welche 
dem  Geiste  und  Gcmütc  des  Schülers  daraus  erwachse:  das  Beibringen 
des  Wissens  bleibt  doch  die  nächste  greifbare  Aufgabe  des  Lehrers,  und 
der  Wetteifer  im  Beibringen  des  Wissens  musz  die  Arbeiter  an  dem  glei- 
chen Werke  nicht  einigen  sondern  auseinanderhalten,  wenn  nicht  die 
Thäligkeit  jedes  einzelnen  sittlich  geregelt  ist.    Eil  er s  sagt  aus  seiner 


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12  Zur  Gymnasialreform. 

Erfahrung  heraus  *) :  'Um  die  den  einzelnen  Lehrgegensländen  gesteckten 
Ziele  zu  erreichen,  muste  man  Fachlehrer  anstellen  und  überhaupt  die 
Zahl  der  Lehrer  vermehren.  Da  wurde  denn  das  Uebel  erst  recht  schlimm. 
Jeder  Fachlehrer  nahm  Zeit  und  Kraft  seiner  Schüler  für  seinen  Gegen- 
stand in  Anspruch,  und  sie  übten,  indem  sie  untereinander  in  Streit  ge- 
rieften, jeder  für  sich  nach  Kräften  jenen  Geist  und  Leben  tödtenden 
Druck  auf  die  Jugend,  worüber  sich  die  Aeltern  mit  so  vielem  Recht  seit 
Jahren  beschwert  haben  und  noch  beschweren.  Die  classischen  Philolo- 
gen, welche  Jacob  Grimm  vornehmer,  streitsüchtiger  und  gegen  Feh- 
ler unbarmherziger  nennt,  als  alle  andern  Fachlehrer,  wollten  sich  ihre 
alte  Herschaft  und  ihre  alte  Ehre  nicht  nehmen  lassen;  die  Mathematiker, 
ebenso  hochmütig  und  streitsüchtig,  machten  die  ihnen  im  Abilurienten- 
reglement  auferlegte  Pflicht  geltend ,  und  die  übrigen  thaten  auch  das  Ih- 
rige, um  mit  Ehren  bestehen  zu  können.  Es  gibt  nur  wenige  Lehrer- 
conferenzen,  wo  es  friedlich  und  mit  harmonischer  Berücksichtigung  der 
Leistungsfähigkeit  der  Schüler  zugeht.  Der  Eine  ruft:  Griechisch  und 
Lateinisch!  Der  Andere:  Mathematik  und  Physik!  Der  Dritte:  Geschichte 
und  Geographie!  Der  Vierte:  Deutsche  Sprache  und  Nibelungen!  Der 
Fünfte:  Neuere  Sprachen!  Der  Sechste:  Philosophische  Propädeutik!  und 
dann  will  doch  auch  der  Geistliche  für  den  Religionsunterricht  sein  Recht. 
So  von  verschiedenen  Seiten  her  angerufen  bleibt  dem  Director  kaum  et- 
was anderes  übrig,  als  die  geistige' und  körperliche  Gesundheit  der  Ju- 
gend den  Drängern  preiszugeben.'  Dasz  aus  dem  Lehrer  nicht  ein  Drän- 
ger werde,  das  eben  kann  nur  eine  die  Thätigkeit  jedes  einzelnen  regelnde 
und  leitende  Idee  bewirken,  und  weder  die  Wissenschaft  noch  die  Bildung 
kann  diese  Idee  sein,  sondern  nur  die  Erziehung,  weil  in  der  Wissen- 
schaft an  sich  nichts  inwohnt,  was  dem  selbstsüchtigen  Streben  einen 
Zaum  anlegte ,  und  weil  die  Vorstellungen  von  der  Bildung  bei  verschie- 
denen Menschen  verschieden  sind. 

Wenn  es  der  Typus  der  Schule  ist,  unter  welchen  das  Gymnasium 
zur  Heilung  der  dasselbe  schwächenden  und  bedrängenden  Uebel  zu  aller- 
erst wieder  gestellt  werden  musz,  so  tritt  als  das  zunächst  und  nicht 
minder  Notwendige  die  Verpflichtung  der  leitenden  Behörden  hervor,  den 
christlichen  Charakter  dieser  Schule  und  ebendamit  den  christlichen  Cha- 
rakter der  Erziehung  durch  den  Unterricht  in  derselben  mit  Entschieden- 
heit anzuerkennen  und  zu  erklären. 

Ich  zweifle  nicht  im  geringsten  daran ,  dasz  einer  Behörde ,  welche 
sich  so  weit  vorwagte,  nicht  nur  aus  der  Mitte  der  Ständeversammlungen, 
sondern  auch  von  Seiten  einer  Anzahl  von  Lehrern  der  heftigste  Wider- 
stand entgegenkommen  würde.  Man  würde  in  einer  solchen  Erklärung 
einen  gewaltsamen  Angriff  auf  die  Gewissensfreiheit  des  Lehrers  erken- 
nen, würde  mit  einem  Scheine  von  Berechtigung  zur  höchsten  Entrüstung 
fragen:  ob  denn  der  Lehrer  zur  Heuchelei  verpflichtet  werden,  ob  er 
künftighin  einen  Glauben  mit  dem  Munde  bekennen  solle,  den  er  eben  ein- 
mal im  Herzen  nicht  habe?  Und  damit  würden  solche  Frager  jene  Erklä- 


*\  Meine  Wanderung  usw.  II  251  f. 

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Zur  Gymnasialreform,  13 

rung  gleich  von  vorn  herein  zu  wiederlegen  und  zu  entkräften  meinen. 
Aber  gerade  die  Allgemeinheit  des  Widerwillens  gegen  das  Christentum 
beweist,  wie  not  es  thue,  dasz  der  Staat  selbst  sich  mit  Ernst  und  Mut 
dazu  bekenne,  ungefähr  so,  wie  er  in  deu  Fall  kommen  kann,  gegenüber 
von  heiszblütigen  Parteien,  die  ihr  Gerede  für  des  Volkes  Stimme  halten, 
mit  Ernst  und  Mut  zu  erklären,  dasz  die  Verfassung  als  beschworncr 
Vertrag  zwischen  Regierung  und  Volk  nach  wie  vor  bestehe.  Es  müssen 
die,  welche  im  Regimente  sitzen,  in  der  christlichen  Religion  das  religiöse 
Denken  und  Leben  überhaupt ,  wie  in  der  für  ein  bestimmtes  Land  vor- 
handenen Verfassung  das  constitutionelle  Leben  an  uod  für  sich  erhalten, 
um  der  Anarchie  des  Materialismus,  welchem  die  Wissenschaft  allzuleicht 
dienstbar  wird,  und  der  Anarchie  der  brutalen  Gewalt  mit  Erfolg  zu  be- 
gegnen. Es  ist  aber  Anarchie,  wenn  auch  noch  nicht  offene  Empörung 
überall  vorhanden,  wo  der  Untergeordnete  darum  gehorchen  soll,  weil  es 
dem  Uebergeordneten  einfällt  zu  sagen:  tel  est  mon  plaisir!  Denn  in 
jedem  Verhätnis  der  Unterordnung  ist  nur  zweierlei  möglich :  der  Ucber- 
geordnete  verlangt  Folgeleistung  entweder  nach  Willkür  oder  mit  Be- 
rufung auf  das  Gesetz.  Wenn  das  Erste,  so  erzieht  er  nicht,  sondern 
drückt  und  erbittert;  wenn  das  Zweite,  so  kann  der  Nachdruck  der  Er- 
mahnung und  Anweisung  nur  davon  ausgehen,  dasz  er  selbst  als  ein  Ge- 
horchender vor  denen  steht,  welche  die  Ermahnung  oder  Anweisung 
empfangen ;  denn  auszerdem  macht  sein  Gebieten  wieder  den  Eindruck  der 
Willkür.  Ich  habe  als  Schulvorsteher  kaum  jemals  etwas  Peinlicheres 
erlebt,  als  da  ein  höchst  begabter  Lehrer  zu  mir  sagte:  f Warum  müssen 
diese  Schüler  mir  gehorchen  ?  Weil  ich  jeden  zu  Boden  schlagen  kann, 
der  mir  den  Gehorsam  verweigert.'  Dasz  dieser  kein  Erzieher  war,  ver- 
steht sich  von  selbst:  den  Eindruck  der  Furcht  und  des  Schreckens,  den 
er  machen  wollte,  hat  er  wirklich  gemacht.  Der  Lehrer,  welcher  erziehen 
will,  braucht  nicht  den  Namen  Gottes  seinen  Schüler  gegenüber  täglich 
und  stündlich  im  Munde  zu  führen ;  aber  wenn  er  selbst  der  Herr  und 
Gebieter  über  den  Willen  seiner  Schüler,  und  nicht  vielmehr  selbst  zum 
Dienen  und  Gehorsam  berufen  zu  sein  glaubt,  und  nicht  in  seinen  Gedan- 
ken den  Willen  Gottes  obenanstellt,  so  kann  und  will  er  nicht  erziehen. 
Derselbe  Lehrer,  welcher  in  der  Kraft  seines  Armes  die  Gewähr  dafür 
erkannte,  dasz  ihm  gehorcht  werden  müsse,  verhöhnte  mich  in  einer 
Lehrerconferenz,  als  ich  gesagt  hatte,  dies  und  das  sei  unsre  Pflicht,  mit 
den  Worten:  'Pflicht?  Pflicht?  Was  wollen  Sie  denn  mit  der  Pflicht?  Ein 
jeder  fhut ,  was  er  nicht  lassen  kann.'  Die  Andern  stimmten  in  die  Ver- 
höhnung nicht  ein,  aber  auch  uicht  für  meine  entschiedene  Behauptung, 
dasz  der  Lehrer  seine  Pflichten  habe.  Es  gibt  keine  Bändigung  für  den 
unreinen  Eigenwillen,  als  die  freie  Unterwerfung  unter  den  Willen  Got- 
tes ,  wie  dieser  in  der  Offenbarung  verkündigt  ist. 

Wenn  die  Schulgesetzgebung  ihrer  unerläszlichen  Verpflichtung  ge- 
mäsz  den  christlichen  Charakter  der  Gelehrtenschule  bekennt  und  erklärt, 
so  übt  sie  keinen  Glaubenszwang  aus,  so  wenig  als  sie  einen  moralischen 
Zwang  dadurch  ausübt,  dasz  sie  dem  Lehrer  empfiehlt,  au  der  eigenen 
Fortbildung  in  seinem  Fach  zu  arbeiten  und  seinen  Schülern  mit  dem 


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14  Zur  Gymnasialreform. 

Vorbild  des  Fleiszes  und  guter  Sitten  vorzuleuchten.  Sie  redet  in  beiden 
Fällen  zum  Gewissen  des  Lehrers,  und  protestiert  mit  solch  einer  Erklä- 
rung gegen  das  vierte  und  gröste  der  oben  namhaft  gemachten  Uebel, 
die  Halbheit  und  das  Scheinwesen  im  Unterrichten.  Möglicherweise 
bringt  die  Erklärung  des  christlichen  Charakters  der  Gelehrtenschule  mit 
solch  einer  Protestation  schon  einen  Anfang  positiver  Wirkungen  hervor, 
da  eine  doch  gewis  überall  vorhandene  Minderheit  christlich  gesinnter 
Lehrer  dadurch  ermutigt  werden  wird,  unter  ihren  Millehrern  eine  freie 
Stimme  für  das  Wahre  und  Rechte  zu  erheben,  und  namentlich  vom  Unter- 
richt im  Lateinischen  und  Griechischen  jenen  Wust  abzustreifen /der  in 
manchen  Gymnasien  die  edle,  natürliche  Gestalt  dieser  Disciplin  überdeckt. 
Aber  die  eigentliche  Hilfe  gegen  das  vierte  Uebel  kann  doch  nur  dadurch 
geschafft  werden,  dasz  man  den  drei  ersten  mit  nachdrücklichem  Ernste 
begegnet. 

Der  Anfang  hierzu  wird  da  gemacht  werden,  wo  die  Leiter  der 
Schulangelegenheiten  ihre  dritte  maszgebende  Erklärung  dahin  abgehen, 
dasz  das  Ziel  des  Gymnasiums  die  Vorbereitung  des  Schülers  auf  die  Uni- 
versität sei,  und  dasz  die  ganze  Lehreinrichtung  des  Gymnasiums,  wie 
auch  die  Behandlung  des  gesamten  Unterrichts  nach  dieser  Bestimmung 
des  Gymnasiums,  Vorbereitungsanstalt  für  die  Universität  zu  sein,  be- 
messen werden  solle.  Wird  das  Ziel  des  Gymnasiums  nicht  in  solcher 
Weise  fixiert,  so  beschleicht  uns  wieder  über  Nacht  jener  Traum  von  der 
Vielseitigkeit,  der  alle  Menschen  und  alle  Lehranstalten  verdunsten  läszt, 
welche  aus  dem  Traume  Wirklichkeit  zu  machen  suchen;  Wenn  das 
Gymnasium  nicht  diese  Vorbereitungsanstalt  und  nur  diese  sein  soll,  so 
begehren  nicht  nur  'künftige  Schreiber,  Posthalter,  Gutsbesitzer,  Fabrik- 
herrn, Kaufleute,  Schiffskapitäne,  Gewerbetreibende  mancherlei  Art'  Ein- 
lasz  in  seine  Pforten,  und  nicht  nur  den  Einlasz,  sondern  auch,  dasz  man 
ihnen  die  Gerichte  auftrage,  welche  ihrem  Magen  und  Gaumen  zusagen. 
L.  Giesebrecht,  aus  dessen  Damaris*)  ich  die  obige  Aufzählung 
entnehme,  sagt  unmittelbar  darauf:  *So  entsenden  unsere  Gymnasien  nicht 
alle  ihre  Schüler,  nicht  einmal  deren  Mehrzahl  auf  die  Universitäten,  kön- 
nen mithin  auch  nicht  die  Bestimmung  haben,  nurStudentenzu  bil- 
den.' Sunt  deorum  templa,  sagt  Cicero,  ergo  sunt  dii.  Richtiger  als 
Giesebrecht  sagt  ein  Preuszisches  promemoria  vom  J.  1831**):  fDie 
Gymnasien  können  und  sollen  nicht  Allen  Alles  sein.9  Es  ist  nur  zu  be- 
klagen, dasz  sie  mit  den  oben  aufgezählten  Erfordernissen  der  'hohem 
Bildung'  jedenfalls  allzuvielen  allzuviel  sein  wollten.  Solange  die  Gym- 
nasien die  einzigen  Lehranstalten  waren,  in  denen  mehr  als  in  den  Volks- 
schulen gelernt  werden  konnte,  ist  die  Erweiterung  des  Gymnasiallehr-  J[ 
plans  über  das  Bedürfnis  künftiger  Studierender  hinaus  vielleicht  einiger-  > 
maszen  gerechtfertigt  gewesen.  Jetzt  ist  solch  eine  Erweiterung  eine  ^ 
nicht  mehr  zu  verantwortende  Einräumung,  welche  der  von  der  Bildung  j 
träumenden  und  schwatzenden  Welt  gemacht  wird,  und  ebendamit  ein     \ 


*)  Damaris  von  1861,  S.  386. 
**)  v.  Rönne,  das  Unterrichtswesen  usw.  S.  141, 


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Zur  Gymnasialreform.  15 

Abbruch  und  eine  Beeinträchtigung  der  Gelehrsamkeit,  aus  welcher  die 
wirkliche  Bildung  erwachsen  soll.  Denn  auch  die  Universitäten ,  welche 
mehr  nnd  mehr  von  dem  Schicksale  bedroht  sind,  Haufen  von  Special« 
schulen  zu  werden,  sollten  alles  aufbieten,  ihren  Charakter,  die  Gelehr- 
samkeit, gegen  die  Annexionsgelüste  der  'höhern  Bildung'  zu  wahren 
und  aufrecht  und  rein  zu  erhalten.  Sie  sollten  von  ihrem  Rechte,  Stamm* 
sitze  der  Gelehrsamkeit  zu  sein,  kein  Jota  fahren  lassen,  und  ebenso  das 
io  der  Natur  der  Dinge  liegende ,  in  Deutschland  aber  ihnen  entzogene 
Recht,  in  Sachen  der  Vorbereitung  auf  die  Universität  nicht  nur  ein  Wort 
mit-,  sondern  das  entscheidende  und  maszgebende  Wort  auszusprechen, 
gegenüber  der  Bureaukralie  sich  vindicieren ,  welche  für  gelehrte  Theolo- 
gie und  Jurisprudenz  gerade  so  viel  Achtung  empfindet,  als  für  die  Poli- 
zeiwissenschaft. Ich  glaube,  dasz  das  dritte  Postulat  für  das  Gymnasium 
als  Gelehrtenschule  noch  zu  unbestimmt  gefaszt  wäre,  wenn  man  als  Ziel 
desselben  nur  überhaupt  die  Vorbereitung  für  die  Universität  bezeichnete; 
dasz  vielmehr  der  dritte  Grundsalz  so  lauten  müsse:  Das  Gymnasium  ist 
diejenige  Lehranstalt,  durch  welche  die  für  Universitätsstudien  bestimmte 
Jugend  so  erzogen  und  geistig  ausgestattet  wird,  dasz  sie  für  die  gelehr- 
ten Studien  auf  der  Universität  so  empfänglich  und  so  befähigt  sei ,  als 
der  junge  Mann  bis  zur  Vollendung  des  18.  bis  20.  Jahres  werden  kann. 


Wie  durch  Anwendung  dieser  drei  Grundsätze  die  zur  Notwendig- 
keit gewordene  Umwandlung  des  Gymnasiums  in  der  Weise  erzielt  wer- 
den könne,  dasz  diese  Lehranstalt  wieder  in  Stand  gesetzt  werde,  ihre 
Schuler  zu  erziehen,  werde  ich  anderweitig  zu  zeigen  versuchen,  indem 
ich  hier  noch  das  Schema  einer  Neugestaltung  des  Gymnasial  Unterrichts 
anfüge.  Zur  Begründung  des  Vorschlags,  die  Teilnahme  an  dem  Unter- 
richt in  der  Planimetrie,  Stereometrie  und  Trigonometrie  der  Wahl  des 
Schülers  anheimzugeben ,  hebe  ich  noch  das  Bekenntnis  aus ,  welches  Dr. 
Eil  er  s  über  dieses  Unterrichtsfach  abgelegt  hat.  Mein  sei.  Freund, 
Gustav  Seh  w ab,  hat  mir  erzählt,  es  habe  sein  Vater,  ein  zu  seiner  Zeit 
als  gelehrter  Philosoph  wolbekannter  Mann,  sich  viele  Mühe  gegeben,  ihn 
in  die  Mathematik  einzuführen ,  sei  aber  von  dem  Versuche  abgestanden, 
weil  er  bei  dem  Sohne  durchaus  keine  Neigung  für  dieses  Fach  habe  er- 
wecken können ,  indem  er  gesagt :  'Du  würdest  es ,  mein  Sohn ,  am  Ende 
wol  begreifen;  aber  der  Gewinn  davon  würde  in  keinem  Verhältnis  zu 
der  Mühe  und  Zeit  stehen,  welche  darauf  verwandt  werden  müste.' 
Eilers  sagt*):  *So  wie  ich,  haben  wahrscheinlich  auch  die  meisten 
Directoren  mit  einem  bösen  Conflict  zwischen  Mathematik  und  Philologie 
zu  kämpfen  gehabt.  Der  Grund  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Sprach- 
kenntnis und  Mathematik  gehen  in  der  Schule  nicht  gleichen  Schritt  und 
nehmen  verschiedene  Geisteskräfte  in  Anspruch.  Mathematik  kann  nur 
von  Lection  zu  Lection  in  ununterbrochen  fortschreitender  Klarheit  des 
Verständnisses  gelehrt  werden ,  während  es  bei  den  Sprachen  mehr  auf 


*)  Meine  Wanderung  usw.  II  173  f. 

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16  Zur  Gymnasialreform. 

etil  Ansammeln  aus  einem  vorliegenden  ganz  fertigen  Stoffe  ankommt,  so 
(lasfc,  was  auf  einer  Stufe  des  Unterrichts  etwa  versäumt  oder  wieder  ver- 
gessen ist ,  auf  der  andern  leicht  nachgeholt  werden  kann.  Dazu  kommt, 
dasz  Talente  für  Sprachen,  Geschichte,  Geographie,  viel  allgemeiner  sind, 
ali  Talente  für  Mathematik.  Lebhafte,  flatterhafte  Knaben,  die  selten  ihre 
Aufmerksamkeit  dauernd  auf  einen  Gegenstand  zu  richten  vermögen, 
kaoameit  oft  zu  Sprachkennlnissen,  man  weisz  nicht  wie;  in  der  Mathe- 
matik, wo  Verstand  und  Urteilskraft  thätig  sein  müssen,  bringt  man  sie 
ufl  mit  allen  Mitteln  der  Güte  und  der  Strenge  keinen  Schritt  vorwärts. 
Dagegen  findet  man  Knaben,  deren  geistige  Thätigkeiten  mehr  nach  innen 
gerichtet  sind,  die  träumerisch  aussehen,  weil  sie  jeden  Faden  vermöge 
ihrer  geistigen  Natur  bis  zu  Ende  ausspinnen  müssen  —  Knaben  dieser 
Art  machen  oft  überraschende  Forlschritte  in  der  Mathematik ,  während 
ihnen  in  den  Sprachen  Alles  wirre  und  bunt  durcheinanderläuft.  Nun 
werden  aber  die  Bildungsstufen  und  Ciasseneinteilungen  unserer  Gymna- 
sien nach  Sprachkenntnissen  bemessen.  Da  tritt  denn  oft  der  Fall  ein, 
dasz  ein  Schüler  in  den  Sprachen  z.  B.  vollkommen  reif  für  Tertia  ist, 
iilier  in  d_er  Mathematik  nicht  einmal  den  Forderungen  der  Quarta  ganz 
genügen  kann.  Wollte  man  diesen  Schüler  doch  nach  Tertia  setzen ,  so 
wäre  er  für  die  Mathematik  verloren;  wollte  man  ihn  in  Quarta  zurück- 
luillcn,  so  würde  man  zu  Grunde  richten,  was  im  erfreulichen  Gedeihen 
ist.  Dies  ist  der  leidige  Conflict,  der  nicht  selten  noch  dadurch  geschärft 
wird,  dasz  der  mathematische  Lehrer  kein  richtiges  Urteil  für  die  philo- 
logischen Wissenschaften,  der  philologische  kein  richtiges  für  die  mathe- 
matischen hat.  Dem  Uebel,  welches  störender  in  das  ganze  Unterrichts- 
wesen der  Gymnasien  eingreift,  als  man  gewöhnlich  glaubt,  läszt  sich  nur 
dadurch  ausweichen,  dasz  man  besondere  Curse  für  den  mathemalischen 
Unterricht  einrichtet.  In  der  Geschichte  und  Geographie  kommt  es  bei 
Versetzungen  weniger  auf  scharfe  Abgrenzungen  an ,  weil  auch  in  diesen 
Wissenschaften  sich  Gleichartiges  zu  Gleichartigem  fügt,  und  oft  der  Fall 
ein  tri  Li,  dasz  ein  Schüler,  der  in  Tertia  zu  den  letzten  gehörte,  in  Prima 
in  erster  Reihe  steht.' 

]>as  Gymnasium  hat  zu  erziehen: 

I)  als  Schule: 

1)  durch  Gewöhnung, 

ü)  zum  äuszern  Anstand, 

I>)  zum  Gehorsam, 

f )  zum  Arbeiten, 

i)  zur  Uebung  der  Fertigkeiten:  Lesen,  Schreiben,  Rechnen; 

2)  durch  Unterricht  in  der  Religion. 

II)  als  Gelehrtenschule,  durch  einen  auf  die  gelehrten  Universitätsstudien 
vorbereitenden  Unterricht,  welcher  teils  obligatorisch,  teils  facultativ  ist. 
lt  Der  obligatorische  Unterricht  besteht: 

ü)  in  der  Anleitung  zu  —  und  in  der  Uebung  einer  Wissenschaft, 
nemlich  der  Wissenschaft  der  Sprache,  welche  Anleitung  und 
Uebung  geschieht 


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Zur  Gymnasialreform.  17 

gl)  durch  das  Lesen  und  Erklären  der  classischen  Autoren, 
ß)  durch  Reproduction  und  Production  in  der  deutschen  und  latei- 
nischen, resp.  griechischen  Sprache ; 

b)  in  der  Einführung  des  Schülers  in  die  Kenntnis  des  innern  und 
äuszern  Lebens  der  beiden  alten  Culturvölker,  unter  gelegentlicher 
Beiziehung  andrer  Eigentümlichkeiten  der  alten  Welt,  welche  Ein- 
fuhrung aber  nur  sporadisch  beim  Lesen  der  Alten  geschieht; 

c)  durch  gelegentliche  Vergleichung  der  alten  Idiome  mit  der  Mutter- 
sprache ,  welche  Vergleichung  immer  von  neuem  und  von  selbst 
durch  das  Uebersetzen  geschieht; 

d)  durch  Beiziehung  einer  andern  Sprache,  zunächst  der  französi- 
schen, welche  nicht  als  lebende,  sondern  wie  eine  todte  Sprache 
behandelt  wird; 

e)  in  der  Anleitung  zur  Kenntnis  der  allgemeinen  Geschichte,  wie 
auch  der  Geographie. 

2)  Der  facultative  Unterricht ,  an  welchem  nicht  vor  Vollendung  der 
Tertia ,  und  auch  da  noch  nur  unter  festen  Bedingungen  Anteil  ge- 
nommen werden  darf,  besteht  in  der  zum  obligatorischen  Unterricht 
hinzutretenden  Beschäftigung  der  zu  den  einzelnen  Fächern  sich 
freiwillig  anmeldenden  Schüler,  welche  zu  diesen  Fächern  vorwie- 
gende und  entschiedene  Anlage  und  Neigung  blicken  lassen  und  sich 
damit  auf  die  vorläufig  ausersehenen  Facultätsstudien  vorbereiten 


diese  der  freien  Wahl  anzubietenden  Lehrfächer  sind : 
Piaaiinetrie ,  Stereometrie  und  Trigonometrie, 
Botanisches ,  Zoologisches, 
Mineralogisches ,  Physikalisches, 
Die  Sprache  des  alten  und  des  neuen  Testaments, 
Schwerere  lateinische  und  griechische  Autoren  mit  Einführung  in  die 

Metrik, 
Mittelhochdeutsche  Dichterwerke  und  deutsche  Prosa  des  15.  und  16. 

Jahrhunderts, 
Römische  Staatsaltertümer, 
Philosophische  Propädeutik  nach  dem  von  Ludwig  Giesebrecht  in  der 

Damaris  von  1861  gegebenen  Schema. 

Tübingen.  Dr.  C.  L.  Roth. 


2t.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.   II.  Abt.  1864.  Hft.  1.  2 

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18  Fr.  Lübker:  der  Entwickelungsgang  des  evang.  höheren  Schulwesens. 

Der  Entwickelungsgang  des  evangelischen  höheren 
Schulwesens. 


rti-Uulrede  am  Geburtstage  des  Landesherrn,   gehalten  im  Gymnasium 
zu  Parchim  1869  von  Dr.  Friedrich  Lübker. 

Der  Geburtstag  eines  Fürsten  ist  für  sein  Land  nicht  blosz  ein  Tag 
des  freudigen  Dankes,  sondern  auch  der  ernsten  Mahnung.  Man  kann 
seine  Wünsche  und  Gebete  für  den  geliebten  Herrn  des  Landes  nicht 
sammeln,  ohne  dasz  man  die  Gegenwart  betrachtet,  die  Zukunft  erwägt, 
und  das  einzig  an  der  Hand  der  Erfahrung.  Eine  Schule  aber,  die  mit 
Hirer  Arbeit  dem  werdenden  Geschlechte  dienen  will,  bringt  die  Opfer 
ihres  Dankes  und  ihrer  Liebe  gern  in  den  Zeugnissen  ihrer  Wirksamkeit 
und  schämet  sich  auch  ihrer  Schwachheit  nicht,  indem  Bewustsein,  dasz 
noch  lange  nicht  erschienen  ist,  was  da  werden  soll,  und  dasz  unter  der 
ihincl  des  himmlischen  Pflegers  auch  das  kleine  Samenkorn  und  die  un- 
scheinbare Wurzel  zu  einem  kräftigen  Baume  gedeihen  kann.  Und  wenn 
die  Schule  e£den  Eltern  ihrer  Zöglinge  und  allen  Freunden  einer  geistig 
sich  heranbildenden  und  sittlich  sich  entwickelnden  Jugend,  die  bei  sol- 
chem Anlasse  einmal  wieder  in  ihre  Bäume  treten,  gern  recht  klar  und 
vernehmlich  sagen  möchte,  dasz  sie  auch  eine  Mithelferin  ihrer 
Freude  zu  sein  wünscht,  so  bekennt  sie  damit  in  aller  Demut  und  Be- 
tfeiieidenheit,  dasz  sie  nicht  meint,  wenn  auch  unter  dem  gnädigen  Bei- 
stände Gottes,  allein  die  Zukunft  ihrer  Schüler,  ihr  Gedeihen  und  ihre 
ftiilwickelung  maszgebend  und  beherschend  bestimmen  zu  können,  dasz 
sie  vielmehr  einen  groszen  Teil  solcher  Wirksamkeit  anderen  Einflüssen 
anheim  geben  musz  und  selbst  den  ihr  eigentümlich  angewiesenen  Bereich 
nicht  ohne  mannichfaltige  und  starke  Einwirkungen  von  auszen  beherschen 
kann.  Wenn  daher  eine  Schule  einen  langen  Zeilraum  ihres  Wirkens 
durchmessen  und  im  unvermeidlichen  Wechsel  der  Verhältnisse  einen 
Sdiatz  reichhaltiger  Erfahrung  gesammelt  hat,  dann  musz  sie  um  so  mehr 
auch  Zeugnis  davon  ablegen  können,  welchen  Einflüssen  sie  ausgesetzt 
gewesen  ist  und  wie  sie  die  Bichtungen  der  Zeit  und  die  Bewegungen  der 
Geis I er  und  die  Strömungen  der  Ideen  hat  an  sich  erfahren  und  tra- 
gen müssen,  wie  sie  von  denselben  ebenso  oft  behindert  als  gefördert 
worden  ist. 

Diese  unsere  Schule  feiert  nach  fünf  Jahren  das  Jubelfest  ihres  drei- 
hundertjährigeiT  Bestehens.  Und  noch  älter  hinauf  geht  das  Andenken 
einer  ob  auch  noch  nicht  von  dem  Geiste  evangelischer  Wahrheit  und 
Freiheit  erleuchteten  und  durchdrungenen,  aber  doch  verwandten  oder 
gleichen  Thätigkeit  in  der  höhern  Unterweisung  der  Jugend.  Zwar  läszt 
sich  diese  vielleicht  nicht,  wenigstens  in  nachweislichen  Zügen  nicht, 
liis  im  jenen  grauen  Tagen  dieser  alten  und  geschichtlich  ehrwürdigen 
Staill  zurückführen ,  wo  drüben  noch  vom  Bleicherberge  her  die  Fürsten- 


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Fr.  Lubker:  der  Entwicklungsgang  des  evang.  höheren  Schulwesens.  19 

bürg  auf  die  nahe  Stadt  und  den  fernen  Wald  hinblickte  und  in  einem 
ernsten  Kampfe ,  der  den  langwierigen  Hader  der  beiden  Nachbarländer 
Mecklenburg  und  Pommern  schlichten  sollte ,  die  Waffen  unter  ihren  jetzt 
unheimlich  verfallenen  Hauern  klirrten.  Aber  doch  schon  in  jene  Zeit, 
wo  mit  dem  Aufblühen  des  Städtewesens  auch  in  diesem  Lande  eine  leben* 
digere  Pflege  des  höheren  Jugendunterrichts  eintrat ,  reicht  eine  solche 
Kunde  an  diesem  Orte  hinauf,  und  schon  im  Anfange  des  14.  Jahrhunderts 
unter  der  Regierung  des  thatkräftigen  und  kriegsmutigen  mecklenburgi- 
schen Heinrich 's  desLöwen  wird  ein  Name  genannt,  dem  die  Leitung 
dieses  höhern  Unterrichts  hier  am  Orte  musz  anvertraut  gewesen  sein. 
Aber  so  lange  die  heil.  Sohrift  im  wesentlichen  als  ein  verschlossenes 
Buch  behandelt,  so  lange  kein  Zugang  zu  den  Geistesschätzen  des  gebil- 
deten Altertums  eröffnet,  so  lange  die  Wissenschaft  nicht  als  die  freie 
und  reiche  Spenderin  der  Güter  und  Gaben  zur  Erkenntnis  aller  Wahr- 
heit gewürdigt  wurde :  so  lange  konnte  von  einem  höhern ,  geistig  leben- 
digen, innerlich  sich  entwickelnden  und  fortschreitenden  Jugendunterrichte 
uicht  die  Rede  sein.  Als  aber  die  Herzöge  Johann  Albrecht  und 
Georg  in  eigener  Person  im  Kampfe  für  die  Sache  protestantischer  Lehr- 
freiheit ihr  Leben  eingesetzt,  und  der  letztere  vor  Frankfurt  a.  M.  den 
Heldentod  gefunden  halte,  da  suchte  der  ruhmbedeckt  in  sein  Vaterland 
heimkehrende  Johann  Albrecht  in  der  vertragsmäszigen  Verbindung  mit 
talerzog e  Ulrich  auch  in  dieser  Stadt  eine  Stätte  d e r  Jugendbil- 
dung m  pflanzen ,  die  nach  Luther 's  Wort  und  Willen  so  hart  über  den 
Sprachen,  wie  über  dem  Evangelium  halten  sollte.  Und  eine  lange  Reihe 
von  Namen  betbätigt  uns,  auch  wo  wir  sonst  eine  eingehendere  Kunde 
nicht  besitzen ,  den  unausgesetzten  Betrieb  der  Studien ,  ohne  welche 
weder  wissenschaftliche  Bildung  erlangt ,  noch  die  künftige  Leitung  des 
Volkes  in  allen  höheren  Beziehungen  des  Lebens  vorbereitet  werden  kann. 
Und  wenn  diese  Namen  uns  auch  durch  den  raschen  Wechsel  derselben, 
meist  nacji  dem  Zwischenraum  weniger  Jahre,  ein  Zeugnis  überliefern, 
(iasz  der  Dienst  der  Schule  mit  dem  der  Kirche  in  einem  nahen  Zusammen- 
hange gestanden  haben  und  der  Uebergang  aus  dem  einen  in  den  andern 
ein  ganz  gewöhnlicher  gewesen  sein  musz,  so  finden  wir  doch  auch 
solche  darunter,  die  in  verschiedenen  wissenschaftlichen  Gebieten ,  in  der 
Theologie  wie  in  der  Geschichte,  einen  guten  Klang  auch  in  weiterer  Um- 
gebung gehabt  haben,  wodurch  selbst  der  Uebergang  zu  dem  akademi- 
schen Lehramt  an  der  vaterländischen  Hochschule  vermittelt  worden  ist. 
Aber  wie  verborgen  und  still  auch ,  und  darum  im  Ganzen  nur  um  so  viel 
schöner,  das  Wirken  dieser  Bildungsstätte  hier  gewesen  sein  mag:  sie 
k  so  wenig  wie  irgend  eine  andere  im  gesamten  deutschen  Vaterlande 
(feilmächtigen  Einflüssen  der  Zeit,  den  wechselnden  Erscheinun- 
gen der  Ideen  und  Ansichten ,  den  geistigen  Strömungen  überhaupt ,  die 
sich  an  alle  Phasen  und  Wendepunkte  auch  der  äuszeren  oder  politischen 
Geschicke  anzureihen  pflegen,  in  irgend,  einer  Weise  sich  entziehen  können, 
und  wir  dürfen  annehmen,  auch  wenn  uns  die  nachweisbaren  Züge  und 
Belege  nicht  immer  zu  Gebote  stehn ,  dasz  dies  gesamte  Leben  der  deut- 
schen Schulwelt  so  reich  und  fruchtbar,  so  mahnend  und  anziehend  in 

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20  Fr.  Lubker:  der  Entwicklungsgang  des  evang.  höheren  Schulwesens. 

seinen  -Einzelheiten ,  auch  in  diesem  kleineren  Kreise  sich  offenbart  haben 
müsse. 

Welche  Menge  von  groszarligen  Einwirkungen  aber,  welcher  Strom 
<  [  -i  hütternder  Ereignisse  oder  niederbeugender  Verhältnisse  hat  sich  nicht 
des  deutschen  Lebens  während  dieser  letzten  dreihundert  Jahre  bemäch- 
tigt! Das  Ringen  der  Kirche  nach  evangelischer  Freiheit  auch  unter  wildem 
Sturm  und  schwerem  Druck,  die  Arbeit  der  Wissenschaft  in  der  Erkennt- 
nis der  Wahrheit,  die  wenn  sie  auch  manchmal  ihr  eigen  Werk  zerstört, 
•lu.li  am  Ende  immer  wieder  aufbauen  musz,  die  schöpferische  Macht 
einer  verjüngten  lebensfrischen  Litteratur,  die  aus  dem  Marke  des  classi- 
schen  Altertums  neue  Nahrung  sog,  ja  auch  die  Veränderungen  der  Staa- 
tenverhältnisse und  die  Entwickelung  des  bürgerlichen  Lebens,  wodurch 
im  sendjährige  Einigungen  zerrissen  und  neue  Staaten  mit  jugendlicher 
Lebenskraft  gegründet  wurden:  dieses  alles  muste  mehr  oder  weniger 
mittelbar  oder  unmittelbar  einen  mächtigen  Einflusz  auch  auf  das  Gebiet 
Oben,  wo  die  Jugend  mit  der  edelsten  Nahrung  des  Geistes  gerüstet  und 
ffu  den  Dienst  des  öffentlichen  Lebens  erzogen  wird.  Heben  wir  aus  dem 
ganzen  unerschöpflichen  Reichtum,  der  sich  hier  uns  darbietet,  nur  einige 
der  wichtigsten  Puncte  und  glänzendsten  Seiten  hervor. 

Freilich  am  liebsten  möchten  wir  da  verweilen ,  wo  der  Anfang  und 
Ursprung  dieser  ganzen  Entwickelung  zu  suchen  ist.  Die  e  v  a  n  g e  1  i  s c  h  e 
höhere  Schule  ist  wesentlich  oder  ausschliesziich  eine  Tochter  der 
Reformation,  auf  ihrem  Grunde  ruht  sie  bis  auf  den  heutigen  Tag  und 
wird  sie  ruhen  bleiben,  so  lange  sie  das  ist,  was  sie  heiszt.  Und  wie 
einfach  war  ihre  erste  Aufgabe,  wie  köstlich  ihr  Streben,  wie  herrlich 
ihr  vorgestecktes  Ziel !  Man  wollte  einzig  und  aHein  dazu  befähigen,  durch 
das  Verständnis  des  Evangeliums  vom  Dienste  menschlicher  Satzungen  frei 
und  durch  Ausübung  des  allgemeinen  prieslerlichen  Berufs  ein  Kind  Got- 
Lcs  zu  werden.  Die  gewöhnlichen  Stadtschulen  jenerZeit,  wie 
deren  eine  auch  diese  unsrige  gewesen  ist,  hatten  nur  die  einfachen  Auf- 
gaben und  Lehrgegenstände :  Lesen  und  Schreiben,  Latein  und  Christentum, 
sie  hatten  ein  einziges  und  festes  Ziel  vor  Augen,  das,  je  klarer  und  be- 
stimmter, je  schöner  und  erwünschter  es  dastand,  desto  leichter  erreicht 
werden  konnte.  Nur  die  höheren  Stadtschulen,  deren  Zahl  auf  wenige 
bevorzugte  Städte  beschränkt  blieb,  nahmen  Griechisch  und  Hebräisch, 
Mathematik  und  Philosophie  in  ihren  Lehrplan  auf,  setzten  sich  aber  da- 
mit sofort  auch  dem  Vorwurfe  und  der  vielfach  nur  zu  sehr  begründeten 
Klage  aus,  dasz  sie  diesen  ausgedehuten  Umfang  durch  eine  gleich  aus- 
gedehnte Kraft  und  Tüchtigkeit  in  Bezug  auf  die  Herschaft  über  den  Stoff 
und  seine  Behandlung  keineswegs  zu  bewältigen  im  Stande  wären.  Und 
je  weniger  die  hinzugekommene  grosze  Aufgabe  in  einem  innerlichen  Zu- 
sammenhange mit  jener  ersten  einfachen  stand,  wenn  man  nicht  die  beiden 
Grundsprachen  der  heiligen  Schrift  als  unerläszlich  zu  ihrem  Verständnisse 
für  einen  jeden  Christen  selbst  neben  der  deutschen ,  in  der  dieselbe  durch 
LuLher's  Geist  und  Mut  wie  neugeboren  war,  hätte  bezeichnen  wollen, 
desto  unwahrscheinlicher  muste  die  Erreichung  eines  Zieles  dastehn ,  an 
welchem  noch  eine  viel  später  folgende  Zeit  mit  weit  gröszer  gewordenen 


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Fr.  Lobt  er:  der  Entwicklungsgang  des*  evang.  höheren  Schulwesens«  21 

Mitteln  eine  schwere  Arbeit  gefunden  hat.  Aber  ein  unendlich  reicher 
Segen  muste  ja  doch  schon  durch  die  gewöhnlichen  Anstalten  hervorge- 
rufen werden ,  deren  in  kurzem  fast  keine  irgendwie  nennenswerthe  Stadt 
in  Deutschland  mehr  entbehrte.  Was  bis  dahin  der  Vorzug  eines  über- 
wiegenden Standes,  was  der  Glanz  der  Höfe  und  der  Schmuck  der  K us- 
erwählten im  Gebiete  geistigen  Lebens  gewesen  war ,  wurde  nunmehr, 
da  sich  das  Evangelium  in  seiner  Reinheit  und  Ursprünglichkeit  beurkun- 
dete und  aufs  neue  wieder  bei  den  Armen  und  Niederen  seine  Statte  suchte, 
ein  Geraeingutdes  Volkes.  Zugleich  aber  war  auf  diesem  Wege  das 
eigenste,  tiefste  und  wahrste  Bedürfnis  des  Volkes  befriedigt;  denn  das 
Verlangen,  das  ein  jeglicher,  bewust  oder  unbewust,  lauter  oder  stiller 
in  seinem  innersten  Busen  hegt  und  trägt,  die  Stimme  in  ihm,  die  Ant- 
wort begehrt  auf  seine  starke  und  lebendige  Frage,  die  Lösung,  die  er 
für  alle  Rälhsel  seines  Lebens  sucht,  werden  ihm  einzig  und  allein  auf 
diesem  Wege  gegeben  und  befriedigt.  Die  Glaubensthat  der  Reformato- 
ren öffnet  den  rechten  Weg  für  ein  jedes  Gewissen,  das  seinen  Frieden 
sucht;  der  Unterricht,  der  diesen  Weg  der  Menschenseelen  zeigt,  will  sie 
weder  auf  das  Prokrustesbett  abstracter  Theorieen  und  allgemeiner  Nasz- 
nahmen  spannen,  noch  sie  nach  einer  Schablone  selig  machen,  sondern 
steigt  mit  rastloser,  entsagungsvoller  Thätigkeil  in  die  Individualität  jeder 
zu  unterweisenden  Seele  hinab. 

So  lange  aber  die  Schrift  und  die  Sprachen  als  reformatorische  Mittel 

genügen,  um  allem  falschen  Wesen  der  römischen  Kirche  einen  festen 

Damm  entgegenzusetzen,  so  lange  war  eben  damit  auch  ein  vollständig 

oe/r/edigender  Schatz  der  besten  Mittel  gegeben ,  mit  welchen  die  Kräfte 

des  Geistes  zu  nähren  und  zu  befördern  sind. 

Aber  freilich  konnte  dieser  scheinbar  friedselige  Zustand  nicht  immer 
bleiben.  Dem  jungen  Leben  der  evangelischen  Kirche  musten  innere  und 
äaszere,  verborgene  und  offenbare  Feinde  entgegentreten,  zu  deren  Be- 
kämpfung, wenn  sie  eine  wahrhaft  wirksame  und  siegreiche  werden  sollte, 
vor  allen  Dingen  schon  die  Jugend  in  tfiesem  kräftigsten  und  bildsamsten 
Alter  zu  rüsten  war.  Zu  den  inneren  und  verborgenen  Feinden,  die  frei- 
lich zugleich  die  Hebel  der  vermehrten  Kräfte  und  die  Gegenstände  der 
erobernden  und  überwältigenden  Macht  des  Evangeliums  waren ,  rechne 
ich  die  Entfaltung  aller  Wissenschaften,  die,  nicht  ohne  Zuthun  der  mit 
der  Reformation  engverbundenen  classischen  Studien ,  so  neu  belebt  und 
so  bedeutend  erweitert  wurden ;  zu  den  äuszeren  aber  diejenigen  Bestre- 
bungen ,  mit  welchen  die  römische  Kirche  die  groszartigen  Wirkungen 
der  Reformation  zu  paralysiren  oder  zu  vernichten  bemüht  war. 

Nur  in  einem  gewissen  Sinne  aber  kann  die  Wissenschaft  in  Feind- 
schaft zum  Evangelium  stehen;  wenn  sie  recht  gelehrt  und  betrieben 
wird ,  führet  sie  zu  Gott  hin ,  und  wenn  das  Evangelium  seiner  göttlichen 
Bestimmung  nach  ein  Sauerteig  ist,  musz  alles,  was  von  weltlicher  Er^ 
kenntnis  in  irgend  einem  Gebiete  gewonnen  wird ,  von  seinem  höheren 
und  belebenden  Geiste  geheiligt  und  durchdrungen  werden.  Aber  diese 
Aufgabe  ist  zu  allen  Zeiten  keine  leichte ,  sie  war  es  vor  allen  in  jenem 
Zeiträume  nicht,  in  welchem  wie  urplötzlich  die  Brunnen  der  Geisterwelt 


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22  Fr.  Lübker :  der  Entwicklungsgang  des  evang.  höheren  Schulwesens. 

sich  öffneten  und  in  nie  gekanntem  Masze  die  Ströme  des  Wissens  und 
der  Bildung,  hier  aus  der,  wie  es  schien,  schon  abgestorbenen  allen, 
dort  aus  der  so  eben  entdeckten,  zum. Leben  erwachten  neuen  Welt,  vor 
allen  Dingen  über  das  Herz  Europas ,  unser  deutsches  Vaterland  sich  er- 
gossen. Da  galt  es ,  die  rechten  Mittel  zu  wählen  und  diese  Mittel  in  sei- 
nem Geiste  und  Wesen  persönlich  zu  vereinigen ,  um  die  Masse  des  tag- 
lich wachsenden  Stoffes  zu  beherschen;  da  muste  es  sich  bald  zeigen, 
dasz  weit  mehr  als  auf  den  Umfang  des  Wissens  auf  die  Sicherheit  und 
Lebendigkeit  der  Auffassung  und  Mitteilung  alles  ankomme,  dasz  darum 
die  ganze  Persönlichkeit  des  Lehrers  dazu  gehöre,  um  auf  eine  wahrhaft 
segensreiche  und  eindringliche  Weise  zu  wirken.  Die  Macht  der  fr e  i  en 
Persönlichkeit  wurde  durch  das  Beispiel  ausgezeichneter  Männer  be- 
stätigt ,  die  grade  dadurch  in  weiten  Kreisen  eine  grosze  Anziehungskraft 
übten  und  tausende  von  Schülern  zu  gleicher  Zeit  um  sich  versammelten. 
Wurde  so  die  Schule  zu  Straszburg  die  blühendste  der  damaligen  Welt, 
besucht  aus  allen  Ständen  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  wie  fast  aus 
allen  Ländern  Europa's,  aus  Portugal  und  Polen,  aus  Italien  und  Däne- 
mark ,  aus  Spanien  und  England ,  aus  Frankreich  und  Deutschland  ,  so 
blühten  in  nicht  geringerer,  wenn  auch  in  anderer  Weise  ähnliche  *  An- 
stalten in  Schlesien  und  Sachsen  und  in  anderen  deutschen  Ländern  auf. 
Wir  aber  beschauen  noch  heute  mit  der  lebendigsten  Freude  das  Bild  jener 
Zeit  und  jener  Männer,  die  den  Schatz  der  edelsten  Bildung  durch  die 
groszartige  persönliche  Wirkung  ihres  Geistes  und  Charakters  einer  zahl- 
reichen empfänglichen  Jugend  überlieferten ,  die  den  Sinn  und  die  Richtung 
des  ganzen  Strebens  vollständig  und  glücklich  beherschten  und  aus  diesem 
Grunde  sittlich  wie  geistig  die  schönsten  Wirkungen  erzielten. 

Diese  Gewalt  einer  lehrenden  Persönlichkeit  und  einer  indi- 
viduellenEinwirkung  auf  die  jugendlichen  Gemüter  entging  dem  auf- 
merksamen und  scharfberechnenden  Beobachter  innerhalb  der  römischen 
Kirche  nicht,  und  die  Diener  und  Nachfolger  des  lgnaz  von  Loyola  suchten 
mit  ungeheurer  Anstrengung  sich  der  Jugenderziehung  und  Seelsorge  nicht 
minder  wie  des  Einflusses  auf  die  Gabinette  und  der  Missionswirksam  keil 
zu  bemächtigen.  Der  Wetteifer ,  der  so  auf  beiden  Seiten  sich  entzündete, 
muste,  so  verschieden  auch  der  Ausgangspunct  in  der  protestantischen 
und  in  der  römischen  Auffassung  war,  doch  am  Ende  auf  verwandte  Er- 
gebnisse führen,  in  den  Jesuitenschulen  durfte  alles  gelehrt  werden ,  was 
nicht  gegen  die  Interessen  der  Hierarchie  verstiesz;  in  den  protestanti- 
schen Schulen  hielt  man  die  Strenge  der  kirchlichen  Lehre  fest ,  und  beide 
ahnten  nicht,  dasz  unter  dem  starren  Mechanismus  und  der  todten  Form 
das  reiche  Leben  entschwinde ,  dessen  Blüte  die  Reformation  in  dem  Evan- 
gelium und  in  den  Sprachen  gefunden  und  enthüllt  hatte.  Jenen  engen 
Zusammenhang  zwischen  de/*  göttlichen  Gnade  und  der  menschlichen  Frei- 
heit, den  Luther  wieder  neu  erlebt  und  gelehrt  hatte,  konnten  selbst  die 
Gegner  der  Jesuiten,  die  Jansenisten,  bei  aller  Tiefe  ihrer  sittlichen  Prin- 
cipien  nicht  finden;  statt  auf  den  weiten  Markt  des  Lebens  hinauszutreten, 
zogen  sie  sich  mit  ihrer  mehr  contemplativen  Wirksamkeit  auf  die  Ge- 
müter in  die  Stille  klösterlicher  Einsamkeit  zurück. 


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Fr.  Lübker:  der  Entwicklungsgang  des  evang.  höheren  Schulwesens.  23 

Das  Reformationszeitalter  war  geeignet  gewesen,  mit  seinem  schöpfe- 
rischen Geiste  und  lebenweckenden  Streben  tüchtige  Charaktere  und  Per- 
sönlichkeiten hervorzurufen;  die  Zeit  des  30jdhrigen  Krieges  war  einer 
gleichen  Hervorbringung  durchaus  ungünstig.  War  zuvor  der  Lehrer 
als  die  wahrhaft  lebendige  Methode  erkannt  worden,  so  suchte  man  nun 
dieselbe  auszerhalb  seiner  in  einer  objectiven  Norm  und  Behandlung.  Was 
aber  der  Geist  verloren  hat,  das  kann  der  Buchstabe  nimmermehr  ersetzen. 
Da  griff  man  denn  nach  den  verschiedenartigsten  Mitteln  und  Hülfen ;  die 
einen  wollten  lieber  mit  menschlichen ,  die  andern  mit  göttlichen  Kräften 
an  den  Seelen  der  Jugend  arbeiten.  Humanisten  und  Pietisten,  Philan- 
ihropisten  und  Eklektiker  stritten  sich  um  den  Vorrang ,  wie  um  jeden 
Fuszbreit  Landes  auf  dem  Boden  ihrer  gemeinsamen  Wirksamkeit.  Wer 
von  ihnen  am  Ende  der  Sieger  geblieben  sei,  ist  eine  Frage,  deren  Beant- 
wortung wir  uns  wol  durch  die  unverkennbare  Einseitigkeit  aller  dieser 
Theorieen  und  Systeme  überhoben  sehen  dürfen.  Es  waren  Abstractionen 
und  Ideen ,  die ,  auch  wenn  sie  eine  Zeitlang  mit  der  eisernsten  Gonse- 
quenz  festgehalten  werden ,  doch  vor  der  Macht  des  Lebens  und  der  Tha- 
ten  verschwinden  und  oft  plötzlich  und  schroff  ihr  eigenes  Dasein  zer- 
stören. Die  mächtigen  Ereignisse  und  Bewegungen  des  18.  Jahrhunderts 
auf  dem  Gebiete  des  Staatslebens  wie  der  Litteratur  wirkten  gesunder  und 
heubringender  als  alle  Theorieen.  Was  aber  war  denn  in  diesen  Bewe  - 
güngea  was  da  förderte  und  tiefere  Impulse  gab  für  eine  gesunde  Rich- 
tung auf  diesem  Gebiete  des  Geistes?  was  waren  die  Gefahren  und  Kämpfe, 
die  daraus  erwuchsen?  Was  andrerseits  die  Momente  und  Quellen,  durch 
welche  das  sonst  erstarrende  Leben  wieder  erquickt  und  befruchtet  ward? 
Wir  dürfen  es  uns  nicht  verhehlen :  die  politische  Seite  der  Refor- 
mation hatte  sich  überwiegender  geltend  gemacht  und  war  durch  den 
groszen  König  eines  groszen  protestantischen  Staats  mit  aller  ihrer  Ein- 
seitigkeit zu  einer  abgeschlossenen  Thatsache  geworden.  Die  dadurch 
unwillkürlich  geförderte  Richtung ,  die  in  ihrem  letzten  Ziele  und  Aus- 
gangspunkte weder  deutsch  noch  evangelisch  war,  konnte  nicht  anders 
als  einen  Gegenkampf  nationalen  und  christlichen  Ernstes  erwecken,  der 
früher  oder  später  das  ganze  Leben  ergreifen  und  durchdringen,  daher 
auch  mit  seinem  unausbleiblichen  Erfolg  oder  Rückschlag  die  Schule  be- 
rühren muste.  Jener  religiös  und  politisch  bis  auf  seine  höchste  Spitze 
getriebene  Geist,  der  in  Frankreich  seinen  Ursprung  und  seine  blutige 
Entwickelung ,  in  der  Knechtung  und  der  Wiedererhebung  Deutschlands 
seinen  Lohn  nicht  minder  als  sein  Grab  gefunden,  hatte  nach  verschiede- 
nen Seiten  hin  mittelbar  und  unmittelbar  auch  für  das  höhere  Schulwesen 
seine  gewaltigen  Folgen.  Der  durch  Begünstigung  des  Fremden  ver- 
absäumte oder  durch  die  Gewalt  des  Eroberers  unterdrückte  nationale 
Geist  des  deutschen  Volkes  machte  sein  Recht  und  seine  Kraft  aufs  neue 
geltend  und  verjüngte  sich  zu  einer  frischen  Blüte  goldener  Zeit;  die  ver- 
weltlichende Herschaft  des  Staates  über  die  Kirche  gab  das  religiöse  Ele- 
ment der  Jugenderziehung  der  Willkür  menschlicher  Ideen  und  armselig 
sler  Leerheit  preis,  während  sie  die  Kirche  mit  neuem  Weckerufe  trieb, 
ihres  heiligen  Werkes  mit  gottgegebener  innerer  Macht  zu  pflegen.   Hatte 


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24  Fr.  Lübker:  der  Entwickelungsgang  des  evang.  höheren  Schulwesens. 

sich  die  schöpferische  Kraft  des  nationalen  Geistes  auf  alles  geworfen, 
was  aus  irgend  einer  Zeit  das  Gepräge  classischer  Vollendung 
an  sich  hat,  muste  auch  der  Humanismus  eine  Selbstgenügsamkeit  ge- 
winnen, die  vor  dem  eigenen  Schatze  jedes  andere  Gut  geringschätzen 
lernte,  das  nicht  die  Vollkommenheit  der  künstlerischen  Form  an  seiner 
Stirne  trug.  Das  Uebermasz  und  die  Einseitigkeit  dieser  Wege  reicht 
noch  bis  in  unsere,  der  Aelteren,  Jugendzeit  hinein.  Ein  verlorenes  Gut 
ist  aber  immer  nicht,  wenn  man  seinen  Verlust  auch  endlich  fühlt,  so 
rasch  wieder  gewonnen.  Und  unser  Volk  vor  allen  läszt  viel  von  seinem 
Gut  sich  rauben ,  ehe  es  wach  und  aufmerksam  wird.  Erst  wenn  es  den 
Hufschlag  des  Feindes  auf  der  Brust  fühlt,  ermannt  der  alte  Löwe  sich 
und  schüttelt  seine  Mähnen  und  blickt  mit  finsterer  Miene  ihm  ins  Ange- 
sicht. Es  liegt  aber  ein  reicher  Schatz  auf  dem  tiefen  Grunde  unseres 
Volks,  aus  seinen  Schachten  ist  das  edle  Erz  hervorgeholt:  o  dasz  wir 
und  unsere  Enkel  es  zu  heben  nie  vergessen  noch  verlernen  möchten! 

Wir  stehen  blind  und  leer,  kalt  und  undankbar  da,  wenn  wir  sol- 
chen Lehren  der  Geschichte  gegenüber  nicht  Ernst  mit  dem  Vorsatze  ma- 
chen wollten ,  es  uns  das  Beste  an  unserem  Mut  und  Eifer ,  an  unserer 
Arbeit  und  Anstrengung  kosten  zu  lassen,  um  unsere  Jugend,  das  nach 
uns  folgende  Geschlecht ,  damit  zu  nähren  und  zu  schmücken.  Die  Schatz- 
kammern ,  aus  denen  wir  nehmen  sollen ,  sind  weit  geöffnet :  die  ewige 
Quelle  der  Wahrheit  sprudelt  lebensfrisch  mit  immer  junger  Kraft  und 
reichet  jedem ,  der  daraus  schöpfen  will  mit  dem  reinen  Sinne  gläubigen 
Verlangens ,  das  Wasser  des  Lebens  umsonst.  Die  Musterbilder  des  Schö- 
nen stehen  aus  alter  wie  aus  neuer  Zeit,  aus  dem  Leben  unseres  eigenen 
Volkes  in  seiner  frühsten  Jugend  wie  in  seinem  reifsten  Mannesalter ,  in 
klaren  Gestalten  vor  uns ,  wir  haben  horchen  gelernt  auf  die  Stimmen 
der  Völker  in  ihren  Liedern  und  Sagen ,  auf  die  Gesetze  der  Natur  in  ihrem 
fruchtbaren  und  groszartigen  Zusammenhange.  Die  Verirrungen  in  der 
Pflege  Einer  Seelenkraft  vor  den  andern  liegen  mit  warnender  Mahnung 
in  langer  Beihenfolge  vor  uns:  nicht  das  Gedächtnis  noch  der  Verstand, 
nicht  der  Wille  noch  das  Gemüt  dürfen  in  der  Pflege  höherer  Jugend- 
bildung verabsäumt  oder  vergessen  yverden.  Und  wenn  wir  dennoch 
immer  wieder,  nachdem  das  düstere  Grau  der  Theorie  und  das  falsche 
Gelb  der  Reflexion  schon  oft  als  giftig  für  die  Jugend  verworfen  und  be- 
seitigt worden  ist,  zu  dem  Verlassenen  zurückkehren  wollen,  dann  machen 
wir  uns  des  Segens  unserer  eigenen  Arbeit  quitt.  Aber  wenn  wir's  als 
unsere  Pflicht  erkannt  haben,  die  Jugend  selber  zu  den  reinen  Bildern 
der  Wahrheit  und  der  Schönheit  hinzuführen  und  uns  dann  nicht  davor- 
zustellen, als  hätten  dieselben  nicht  reines  Licht  genug  an  sich,  sondern 
könnten  nur  durch  den  Spiegel  unseres  Geistes  erkannt  werden:  o  dann 
wollen  wir  auch  mit  Manneskraft  darnach  ringen,  dasz  wir  allem  fal- 
schen Intellectualismus,  aller  einseitigen  Ausbildung  des  bloszen 
Erkennens,  wie  und  woher  sie  auch  kommen  möge,  wehren  und  die  ju- 
gendlichen Seelen  gesund  und  frisch  in  der  reinen  Quelle  baden  mögen, 
mit  welcher  Gott  den  wahrhaftigen  Menschengeist  zu  aller  Zeit  geträn- 
ket hat. 


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Fr.  Kohlrausch:  Erinnerungen  aus  meinem  Leben.  25 

Solche  Gelübde,  in  treuer  Liebe  zu  dem  anvertrauten  Werke  dar- 
gebracht, sind  die  schönsten  Opfer  ehrfurchtsvollen  Dankes,  die  wir  dem 
erhabenen  Fürsten  dieses  Landes  und  Schutzherrn  dieser  Schule  an  seinem 
Ehrentage  darzubringen  im  Stande  sind.  Nichts  Erfreulicheres  könnten 
wir  erleben,  als  wenn  der,  dem  wir  aus  der  Jugend  die  vor  uns  sitzt, 
ein  treues  und  williges ,  ein  tüchtiges  und  wohlbereitetes  Geschlecht  vor* 
führen  sollen ,  an  jedem  Tage  hineinblicken  könnte  in  unser  Werk  und 
sähe  in  allen  Zellen  Bienenemsigkeit  und  von  unserer  Arbeit  honigsüsze 
Frucht.  Weil  Gott  der  Herr  zu  aller  fröhlichen  Arbeit  seinen  Segen  gibt, 
so  können  wir's,  wenn  wir's  mit  rechter  Lust  und  Freude  thun.  Und 
wenn  wir  ihn  täglich  in  tiefer  Demut  und  fesler  Zuversicht  um  diesen 
Geist  der  Freudigkeit  und  des  gelrosten  Mutes  in  unserem  wahrlich  nicht 
leichten  Berufe  bitten,  dann  stehen  wir  im  wahren  Sinn  in  unserer  Arbeit 
und  dürfen  vor  und  mit  unserer  Jugend  auch  betende  Herzen  und  Hände 
für  unsern  Landesherrn  zu  ihm  erheben. 


3. 

Armierungen  aus  meinem  Leben  von  Fr.  Kohlrausch,  königl. 
tatfioe.  General-  Schuldirector.  Mit  dem  Bildnisse  des  Ver- 
fassers. Hannover,  Hahnsche  Hof buchhandlung.  1863.  Xu. 
472  S.  gr.  8. 

Dem  Namen  des  ehrwürdigen  Mannes ,  welcher  in  diesem  Buche  den 
Gang  seines  Lebens  und  Wirkens  uns  darstellt ,  ist  für  alle  Zeit  in  der 
Geschichte  des  deutschen  Unterrichts wesens  eine  Ehreustelle  gesichert, 
und  kaum  dürfte  unter  den  vielen ,  welche  in  diesem  ^Zeitalter  der  Staats  - 
schule'  berufen  gewesen  sind ,  ordnend  und  gestaltend  das  Unterrichts- 
wesen weiterer  Kreise  zu  bestimmen,  noch  einer  gefunden  werden,  der 
auf  gleiche  Weise  bis  in  ein  selten  erreichtes  Greisenalter  für  ein  edles 
und  besonnenes  Streben  immer  auch  den  rechten  Platz  gefunden ,  immer 
auch  die  entsprechende  Unterstützung  und  die  gehofften  Erfolge  sich  ge- 
sichert hätte.  Ein  wahrhaft  gluckliches  Berufsleben  haben  wir  vor  uns. 
Von  einem  engen  Kreise  aus  entwickelt  es  sich  in  immer  ausgedehntere 
Kreise  hinein ,  und  so ,  dasz  die  in  dem  einen  Kreise  treu  und  eifrig  aus- 
gerichtete Arbeit  jedesmal  wieder  gerade  die  angemessenste  Vorbereitung 
lffid  Ausrüstung  gibt  für  den  zunächst  weitern  Kreis,  der  denn  auch  ohne 
äüszerliehe  Mühe  und  Bewerbung  dem  tüchtigen  Manne  sich  aufthut. 
Dabei  ergeben  sich  ihm  im  Fortgange  seines  Lebens  zahlreiche,  für  Geist 
und  Gemüt  überaus  anregende  Berührungen  oder  Verbindungen  mit  aus- 
gezeichneten Persönlichkeiten ,  durch  welche  er  ganz  unmittelbar  auch  in 
die  groszen  geistigen  Bewegungen  des  Jahrhunderts  sich  hineingezogen 
sieht  und  wiederum  für  das  eigene  Schaffen  und  Bauen  neue  Gesichtspunkte, 
feste  Normen ,  nachhaltige  Ermunterungen  empfängt. 


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26  Fr.  Kohlrausch:  Erinnerungen  aus  meinem  Leben. 

Die  eingehende  Darstellung  eines  solchen  Lebens  und  Wirkens  musz 
allen ,  welche  die  Bedeutung  eines  solchen  Mannes  zu  würdigen  im  Stande 
sind,  in  hohem  Grade  anziehend  und  erfreulich  sein.  Was  bisher  davon 
den  ferner  Stehenden  bekannt  war,  beschränkte  sich  so  ziemlich  auf  das- 
jenige ,  was  über  Kohlrausch  selbst  im  Conversationslexikon  der  Gegen- 
wart Bd.  III  und  über  das  hannoversche  Schulwesen  in  Schmid's  Encyklo- 
pädie  des  Erziehungs-  und  UnterrichtswTesens  (s.  v.  Hannover)  und  in  der 
gehaltreichen  Schrift  *Das  höhere  Schulwesen  des  Königreichs  Hannover 
seit  seiner  Organisation  im  J.  1830'  (H.  1855)  mitgeteilt  ist.  Jetzt  aber 
haben  wir  eine  Selbstbiographie  vor  uns,  deren  Verfasser  von  einer  nur 
wenigen  erreichbaren  Höhe  aus  eine  Rückschau  auf  die  durchmessenen 
Bahnen,  zunächst  für  seine  Familie,  dann  aber  doch  auch  für  die  vielen, 
denen  ein  solcher  Lebensgang  ernster  Betrachtung  werth  erscheinen  kann, 
sich  zur  Aufgabe  gemacht  hat.  Wir  glauben,  dasz  für  Leiter,  Lehrer 
und  Freunde  des  höhern  Schulwesens  in  der  so  entstandenen  Darstellung 
ein  ungemein  reicher  Stoff  zum  Nachdenken  und  Vergleichen  vorliege. 

Blicken  wir  nun  zunächst  mit  dem  Verf.  in  sein  Jugendleben, 
die  Jahre  der  Vorbereitung ,  zurück.  Er  gibt  uns  da  sogleich  eine  Reihe 
sehr  ansprechender  Charakterbilder.  Der  humoristische  Erzähler  Konrad 
Günther,  die  edle  Frau  von  Beaulieu,  der  stattliche  Conrector  Kohlrausch 
mit  der  treuherzigen  Freundlichkeit  und  dem  furchtbaren  Zorne,  der  pe- 
dantische ,  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  pünktliche  Onkel  Detmering, 
der  wol  wollende,  alles  Schein  wesen  hassende,  entschieden  auf  das  Reelle 
gerichtete  Lieutenant  Inland  treten  in  festen  Umrissen  vor  uns ,  wie  über- 
haupt die  harmlose  Kindheit  in  Landolfshausen ,  wo  K.  den  15.  Novbr.  1780 
geboren  ist,  und  die  Wechsel  des  Schullebens  in  Hannover  trefflich  ge- 
zeichnet sind.  Die  akademischen  Studien  in  Göttingen  (1799 — 1802),  vor- 
zugsweise theologische ,  wandten  sich  doch  auch  der  Geschichte  und  Litte- 
ratur,  der  Mathematik,  Physik  und  Naturgeschichte  zu;  indes  bekennt 
der  Verf.  S.  48,  dasz  er,  mit  alleiniger  Ausnahme  der  Geschichte  bei  Hee- 
ren und  der  Mathematik  bei  Thibaut,  eine  tiefer  eingreifende  Anregung 
nicht  empfangen  habe,  zu  selbständigen  Studien,  in  einer  bestimmten  Rich- 
tung nicht  getrieben  worden  sei.  Die  ganze  geistige  Atmosphäre  Göttin- 
gens war  damals  nicht  der  Art,  dasz  eine  tiefere,  mächtiger  von  innen 
heraustreibende  Begeisterung  so  leicht  möglich  gewesen  wäre ;  selbst  bei 
Heyne  hat  K.  fast  gar  nichts  gehört.  Das  theologische  Examen  (examen 
praevium)  bei  dem  Consistorialrath  Sextro  in  Hannover  war  ohne  Schwie- 
rigkeit, und  nicht  ohne  Humor  hebt  der  Vf.  hierbei  hervor,  dasz  er,  dem 
es  beschieden  gewesen ,  fast  fünfzig  Jahre  lang  in  Kreisen  sich  zu  bewegen, 
in  denen  Prüfungen  recht  eigentlich  zur  Tagesordnung  gehören ,  der  so 
vielen  Prüfungen  beigewohnt  und  manche  Prüfungs-Ordnungen  abgefaszt 
habe,  niemals  wieder  mit  einem  Examen  geplagt  worden  sei,  wie  er  denn 
auch  in  seiner  wechselvollen  amtlichen  Wirksamkeit  nur  für  einen  Eid 
in  Anspruch  genommen  worden  sei  (S.  51  f.)-  Als  Hauslehrer  nach  Hol- 
stein in  die  Familie  Baudissin  gerufen,  gewinnt  er  aus  unmittelbarem  Le- 
bensverkehre ,  erst  auf  dem  einsamen  Schlosse  zu  Rantzau ,  dann  in  dem 
vielgestaltigen  Treiben  zu  Berlin  zunächst  während  des  Winters  1802 — 3) 


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Fr.  Kohlrausch:  Erinnerunger  aus  meinem  Lehen.  27 

die  förderlichsten  Anregungen ,  besonders  wichtig  aber  wird  es  für  ihn, 
dasz  er  durch  Fichte 's  philosophische  Vorlesungen ,  bald  auch  durch 
persönlichen  Umgang  mit  dem  charaktervollen  Hanne,  für  strengere  phi- 
losophische Studien  gewonnen  wird.     Aber  er  hat  auch  Gelegenheit, 
Vorlesungen  von  A.W.  Schlegel  und  Gall  zu  hören,  und  in  Hufeland's 
Hause  lernt  er  dann  auch  andere  bedeutende  Männer,  Joh.  Malier,  Wolt- 
mann,  Schiller,  F.  H.  Jacobi,  kennen;  durch  den  Erzieher  der  königlichen 
Priuzen,  den  Geh.  Rath  Delbrück ,  tritt  er  mit  seinen  Zöglingen  auch  der 
königlichen  Familie  näher  und  bei  einem  Kinderballe  im  Hause  des  Mini- 
sters  von  Schrötter  hat  er  Gelegenheit,  die  Königin  Luise  und  die  Frau 
von  Staöl  neben  einander  zu  sehn.     Später  folgt  ein  ziemlich  unstätes 
Leben :  er  sieht  Kiel  und  Kopenhagen,  kommt  als  Mentor  (im  Herbste  1806) 
wieder  nach  Göttingen,  wo  er  eine  Reihe  von  Gollegien  (Aber  Geschichte 
und  Statistik,  Staatsrecht  und  Finanzkunde,  Literaturgeschichte,  juristi- 
sche Encyclopädie  und  römische  Rechtsgeschichte)  benutzt  und  für  eine 
akademische  Wirksamkeit  sich  vorzubereiten  beginnt ,  aber  auch  die  Braut, 
die  schon  in  Rantzau  sein  Herz  gewonnen  hat ,  heimführt.    Er  sieht  hier- 
auf nach  sehr  gefahrvoller  Seereise  ein  zweites  mal  Kopenhagen,  um 
dann  wieder  seinen  Zögling,  den  Grafen  Wolf  von  Baudissin,  nach  Heidel- 
berg zu  geleiten ,  wo  Heinrich  Vosz  und  dessen  Vater  ihm  freundlich  sich 
erweisen.  An  diesen  Aufenthalt  schlieszt  sich  eine  genuszreiche  Schweizer- 
rme,  deren  Erlebnisse  uns  ein  Anhang  des  Buchs  S.  438  ff.  vergegenwär- 
tigt. Es  folgte  hierauf  ein  dritter  Aufenthalt  in  Göttingen  (seit  dem  Herbste 
1808),  Bad  jetzt  wurde  besonders  der  geistige  Verkehr  mit  Herbart, 
jd  desseü  pädagogische  Gesellschaft  er  eintrat,  förderlich  für  ihn.     Aus 
den  hier  erhaltenen  Anregungen,  welche  eine  direkte  Aufforderung  Nie- 
meyer's  verstärkte,  ergaben  sich  ihm  die  c Geschichten  und  Lehren  des 
Alten  und  Neuen  Testaments  für  Schulen' ;  dagegen  war  es  mehr  ein  Nach- 
wirken der  Eindrücke,  welche  Fichte's  Vorlesungen  auf  ihn  gemacht  hal- 
ten ,  dasz  er  bald  nachher  seine  Ideen  über  die  beste  Gestaltung  der  öffent- 
lichen Verhältnisse,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Utopia  des  Thomas 
Monis,  in  einer  Schrift,  welche  den  Titel  Kosmos  erhalten  sollte,  aber 
nie  erschienen  ist,  niederzulegen  unternahm.     Aber  schon  hatte  er  die 
Einladung  erhalten,  in  Barmen  eine  Unterrichts-  und  Erziehungsanstalt  zu 
begründen,  und  nachdem  er  noch  einen  Besuch  in  Weimar  gemacht  hatte, 
wo  er  mit  Goethe  und  Wieland  zu  verkehren  Gelegenheit  erhielt  (S. 
115  ff.),  begann  er  im  Frühjahr  1810  eine  Berufstätigkeit,  die  reiche 
Erfahrungen  ihn  sammeln  liesz. 

Die  Wirksamkeit  in  Barmen  (vom  Mai  1810  bis  zum  Februar 
1814)  hatte  zunächst  freilich  auch  ihre  Schwierigkeiten.  Kohlrausch  sollte 
die  Kinder  reicher  Kauf-  und  Fabrikherren ,  und  zwar  Knaben  und  Mäd- 
chen neben  einander,  vom  Alter  der  ersten  Schulbildung  bis  über  die  Con- 
firmation  hinaus  in  der  Weise  unterrichten  oder  unterrichten  lassen ,  dasz 
neben  den  Gegenständen,  die  ihm  selbst  vertraut  waren,  auch  solche,  die 
ihm  ziemlich  fremd  geblieben,  gelehrt  werden  musten;  überdies  sollten 
Pensionäre  ins  Haus  genommen  werden.  Für  einen  Mann,  der  eben 
noch  den  akademischen  Lehrstuhl  im  Auge  gehabt  hatte ,  war  diese  Auf- 


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28  Fr.  Kohlrausch:  Erinnerungen  aus  meinem  Leben. 

gäbe  doppelt  schwierig ,  und  an  Durchfuhrung  von  Herbart's  Ideen  war 
zunächst  kaum  zu  denken.  Es  ist  anziehend  zu  lesen,  wie  er  seinen  Ver- 
pflichtungen entsprochen,  welches  Vertrauen  er  gewonnen,  wie  er  mit 
gleichgesinnten  Freunden  in  einer  ^platonischen  Gesellschaft9  sich  geistig 
erfrischt  und  doch  auch  für  das  nächste  Bedürfnis  den  'chronologischen 
Abrisz  der  Weltgeschichte9  gearbeitet  hat.  Bald  freilich  nahmen  auch 
die  groszen  Weltereignisse  seine  Aufmerksamkeit  stark  in  Anspruch :  er 
sah  im  Novbr.  1811  Napoleon  zu  Düsseldorf  im  blendenden  Glänze  des 
Glückes  einziehen ,  aber  nach  kaum  zwei  Jahren ,  als  der  furchtbare  Um- 
schwung eingetreten ,  den  aus  Gassei  verjagten  König  Hieronymus  durch 
Barmen  fliehen.  Und  schon  hatte  auch  für  sein  Leben  eine  bedeutsame 
Veränderung  sich  eingeleitet;  aber  noch  in  Barmen  entstanden  seine  eReden 
über  Deutchlands  Zukunft 9,  bei  denen  noch  einmal ,  und  in  sehr  energi- 
scher Weise  Fichte' s  Einwirkungen  ihn  geleitet  zu  haben  scheinen.  Der 
Verf.  berichtet  mit  unverkennbarer  Freude  über  den  Inhalt  dieser  Redeu, 
worin  nach  offener  Erklärung  (S.  149)  noch  der  Greis  sein  politisches 
Glaubensbekenntnis  wiederfindet.  Merkwürdig  ist  der  Bericht  über  die 
verschiedene  Aufnahme,  welche  diesen  Reden  damals  zu  Teil  wurde: 
eine  herzlich  anerkennende  bei  Gneisenau,  eine  wahrhaft  enthusiastische 
bei  Rahel ,  eine  kühl  abweisende  bei  Gentz. 

Einen  sehr  wichtigen  Uebergang  bildete  für  Kohlrausch  die  Wirk- 
samkeit in  Düsseldorf  (vom  Februar  1814  bis  zum  September  1818). 
Er  trat  hier  in  die  innigste  Verbindung  mit  Kor  tum,  der  die  Leitung  und 
Erneuerung  des  unter  der  französischen  Herschaft  tief  herabgekommenen 
Lyceums  übernommen  und  auch  des  Freundes  Berufung  veranlaszt  hatte. 
Die  beiden  Männer  haben  diese  Verbindung  länger  als  vierzig  Jahre  fest- 
gehalten ,  obwol  das  gemeinschaftliche  Wirken  in  Düsseldorf  nur  ein  kur- 
zes war.  *Auf  dem  Boden  der  religiösen  Ueberzeugungen,  der  tief  ge- 
wurzelten Liebe  zur  Wahrheit  und  Verschmähung  alles  Scheinwesens  zeigte 
sich  unsere  Uebereinstimmung  so  probehaltig,  dasz  nicht  nur  in  dem  per- 
sönlichen engen  Zusammenwirken  für  den  nächsten  Beruf  nie  eine  ernst- 
liche Differenz  vorgekommen  ist,  sondern  dasz  auch  in  den  41  Jahren 
nach  unsrer  Trennung  in  dem  lebhaften  brieflichen  Verkehr  die  Gemein- 
samkeit des  Urteils  über  die  gröszern  Weltbegebenheiten  wie  über  klei- 
nere Lebensverhältnisse,  über  menschliche  Charaktere,  litterarische  Er- 
scheinungen ,  Geschäftssachen ,  Schulverwaltung  und  was  sonst  das  Leben 
an  bemerkenswerthen  Dingen  mit  sich  bringt,  oft  auf  überraschende  Weise 
hervortrat.  Ja  es  konnte  der  eine  der  Freunde  meistens  mit  Bestimmtheil 
voraussagen,  wie  der  Andere  in  groszen  und  kleinen  Dingen  über  eine 
Sache  urteilen  würde9  (S.  171).  Von  den  übrigen  Collegen  war  wol 
Brüggemann  der  bedeutendste,  ein  noch  junger  Mann,  der  mit  unge- 
wöhnlicher Energie  seinem  Berufe  sich  hingab  und  rasch  zu  der  einflusz- 
reichsten  Wirksamkeit  sich  emporarbeitete.  Aber  näher  verbunden  mit 
K.  war  unstreitig  Strack,  der  jedoch  schon  1817  die  Direction  der  Vor- 
schule in  Bremen  übernahm.  Kohlrausch  selbst  hatte  das  Ordinariat  der 
Secunda;  mit  dem  entschiedensten  Erfolge  scheint  er  als  Lehrer  der  Ge- 
schichte in  der  obern  Hälfte  des  Gymnasiums  gewirkt  zu  haben.   Er  liesz 


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Fr.  Kohl  rausch:  Erinnerungen  aus  meinem  Leben.  29 

zunächst  die  deutsche  Geschichte  stark  hervortreten,  und  dasz  er  bei  sei- 
nem Unterrichte  fort  und  fort  noch  ein  Lernender  war,  brachte  in  dem- 
selben gerade  eine  eigentümliche  Frische  und  Lebendigkeit,  die  der  ge- 
lehrtere Kenner  der  Geschichte  nicht  immer  sich  zu  sichern  weiss.  Aus 
den  für  diesen  Unterricht  gemachten  Studien  ging  bald  nachher  auch  das 
mit  gröstem  Beifall  aufgenommene  Werk  *die  deutsche  Geschichte'  (Eiber- 
feld  1816)  hervor;  dasz  dieselbe  in  ihren  letzten  Abschnitten,  welche  den 
Freiheitskampf  zu  schildern  hatten,  völlig  die  freudige  Erregung  der  Zeit 
reflektierte ,  diente  ihr  natürlich  zu  ganz  besonderer  Empfehlung.  Nicht 
ohne  Bedeutung  war  für  K.  auch  dies,  dasz  er  für  einige  Zeit,  durch  Ver- 
fügung des  Generalgouverneurs  Grüner,  Mitglied  eines  Schul ralhs  war, 
der  unter  dem  Vorsitze  des  Staatsrathes  Georg  Jacohi  ein  organisches 
Statut  für  das  Volksschulwesen  des  bisherigen  Groszherzogtutns  Berg  ent- 
werfen und  zur  Ausführung  bringen  sollte.  Es  kann  nun  nicht  auffallet, 
dasz  der  so  tüchtig  arbeitende  Mann  schon  im  Sommer  1817  einen  Ruf 
nach  Mainz  erhielt  und  bald  nachher,  als  er  vorläuGg  durch  den  Minister 
von  Schiickmann  in  Düsseldorf  sich  hatte  festhalten  lassen ,  ausersehen 
ward,  als  Schulrath  in  dem  Consistorium  und  der  Regierung  zu  Münster 
das  höhere  Schulwesen  der  Provinz  Westphalen  nach  der  neueren  preu- 
szischen  Schulordnung  einzurichten. 

Unstreitig  hatte  die  Wirksamkeit  in  Münster  (vom  September 
\%\%  bis  zum  Juni  1830)  zunächst  ganz  eigentümliche  Schwierigkeiten. 
Der  protestantische  Consistorialrath  sollte  in  dem  gut  katholischen  Münster 
die  Basis  zu  einer  umfassenden  Thätigkeit  erkennen,  sollte  katholische 
Gymnasien  unter  seine  Leitung  nehmen  und  in  lebendigen  Zusammenhang 
mit  dem  gesamten  Schulwesen  des  preuszischen  Staates  setzen ,  in  wel- 
chen die  Westphalen  z.  Th.  auch  noch  fester  sich  einzuleben  hatten.  Aber 
sein  ebenso  entschiedenes  als  besonnenes  Auftreten  half  ihm  über  manche 
Schwierigkeiten  schnell  hinweg.     Von  groszem  Interesse  sind  nun  die 
Mitteilungen  über  seine  Inspectionsreisen  (S.  186  ff.) ;  wir  erhallen  dabei 
wieder  eine  Reihe  anziehender  Charakterbilder,  namentlich  von  den  Di- 
rectoren  K  u  i  t  h a  n  in  Dortmund ,  Im  a  n  u  e  1  in  Minden ,  K r  ö  n  i  g  in  Biele- 
feld, Kapp  in  Hamm.     Nicht  minder  beachten  s  wer  th  erscheint  sodann, 
was  der  Verf.  über  die  von  ihm  eingerichteten  Directorenconferenzen  und 
die  aus  demselben  im  J.  1829  hervorgegangene  Instruction  für  den  Ge- 
schichtsunterricht, sowie  über  sein  Verhältnis  zu  dem  ausgezeichneten 
Oberpräsidenten  Freiherrn  von  Vinke  und  zu  den  evangelischen  Collegen 
im  Consistorium  N  a  t  o  r  p  und  Möller  berichtet  hat.     Für  manche  Leser 
dürfte  auch  das  S.  206  ff.  gegebene  Bild  der  damaligen  geselligen  Verhält- 
nisse in  Münster  einen  eigentümlichen  Reiz  haben;  die  Stellung  Immer- 
maun's  zum  General  Lützow  und  dessen  Frau  erhält  bei  dieser  Mittel- 
Iung~~woI  eine  etwas  andere  Betrachtung  als  gewöhnlich.   Auch  dasjenige 
wird  auf  Teilnehmer  rechnen  können,  was  S.  214  ff  von  dem  Conflicte 
zwischen  der  Regierung  und  dem  Generalvicar  Droste  zu  Vischering  (in 
Bezug  auf  den  Hermesianismus,  von  welchem  der  strenge  Prälat  die  jungen 
Theologen  der  Münsterschen  Diözese  durch  das  Verbot  des  Besuchs  der 
Universität  Bonn  zurückhalten  wollte)  erzählt  ist.     Es  war  ein  Vorspiel 


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30  Fr.  Kohlrausch :  Erinnerungen  aus  meinem  Lehen. 

gröszerer  Conflikte ,  in  einer  Zeit,  wo  doch  der  confessionelle  Gegensatz 
noch  mannichfache  Yermittelungen  zuliesz.  In  einen  ganz  andern  Gegen- 
satz sah  sich  der  Verf.  hineingestellt,  als  im  J.  1824  auf  Betrieb  des  Geh. 
Raths  von  Kamplz ,  ^welcher  jede  freisinnige  Richtung  zu  unterdrücken 
suchte9,  die  'deutsche  Geschichte'  durch  ein  Ministerialrescript  för  den 
Schulunterricht  verboten  wurde,  weil  sie  in  der  zweiten  Auflage  des 
Wartburgfestes  mit  Teilnahme  gedacht  hatte,  überdies  aber' durch  Auf- 
nahme einer  Stelle  des  Tacitus  die  Ursprünglichkeit  des  Adels  bei  den 
Deutschen  in  Frage  gestellt  und  durch  eine  Bemerkung  über  die  in  Folge 
des  westphälischen  Friedens  eingetretene  Schwächung  der  Kaisergewall 
das  Recht  des  deutschen  Fürstentums  gefährdet  zu  haben  schien.  Aber 
schon  die  dritte  Auflage  hatte  das  Wartburgfest  nicht  mehr  erwähnt ,  und 
da  in  der  gerade  damals  unter  der  Presse  befindlichen  vierten  auch  die 
sonst  noch  angefochtenen  Stellen  sich  ändern  lieszen ,  so  konnte  die  Wir- 
kung des  übereilten  Verbotes  wieder  aufgehoben  werden.  Als  dann  K. 
1826  an  der  Seite  des  Geh.  Oberregierungsrathes  Johannes  Schulze  eine 
Inspectionsreise  durch  Westphalen  machte,  erhielt  er  von  diesem  eine 
Einladung  nach  Berlin.  Auf  dieser  Reise,  die  im  Sommer  1827  unter- 
nommen wurde,  hatte  er  ausreichende  Gelegenheit,  das  Vertrauen  zu 
sich  vollkommen  wieder  herzustellen;  aber  von  noch  gröszerer  Bedeutung 
war  es  für  ihn ,  dasz  er  eine  Anzahl  der  vorzuglichsten  Gymnasien  Preu- 
szens  genauer  kennen  lernte  und  bei  dem  vielfach  anregenden  Aufenthalte 
in  der  Hauptstadt  mit  einer  Reihe  der  tüchtigsten  Männer  (Meineke, 
Köpke,  Spill eke,  Schleier macher)  näher  bekannt  wurde,  auf 
der  Heimreise  aber  auch  I lg  e  n  in  Schulpforte  und  Döring  in  Gotha  spre- 
chen konnte.  Im  J.  1829  beschäftigte  ihn  die  Errichtung  der  beiden  katho- 
lischen Gymnasien  in  Coesfeld  und  Recklinghausen.  Unter  der  Thätigkeit, 
die  er  nach  dieser  Seite  zu  entwickeln  hatte ,  konnte  das  Leid  sich  mindern, 
das  er  während  der  zunächst  vorhergegangenen  Zeit  in  seinem  Hause  zu 
tragen  gehabt  hatte.  Aber  schon  bereitete  sich  ihm  der  Uebergang  in 
einen  neuen  und  weitern  Wirkungskreis  vor,  durch  Vermittelung  seines 
alten  Freundes  Abeken  in  Osnabrück,  der  uns  S.  254  f.  in  der  anspre- 
chendsten Weise  charakterisiert  wird. 

Die  nun  beginnende  Wirksamkeit  in  Hannover  scheidet  sich 
von  selbst  in  zwei  Hälften,  in  der  Weise,  dasz  die  erstere  bis  zum  J. 
1  848  reicht.  Als  Vorsitzender  des  neu  errichteten  Oberschulcollegiums 
hatte  K.  eine  umfassende  und  vielseitige  Aufgabe  zu  lösen ,  an  die  er  zu- 
nächst ,  viel  körperlich  leidend ,  nicht  ohne  Sorgen  denken  konnte.  Aber 
es  ist  ihm  beschieden  gewesen ,  Groszes  und  Erfreuliphes  auf  dem  neuen 
Arbeitsfelde  zu  vollbringen.  Er  schildert  uns  zunächst  S.  270  IT.,  was 
er  in  den  höhern  Schulen  Hannovers  vorfand,  auf  überaus  belehrende 
Weise,  und  auch  hier  erhalten  wir  eine  Reihe  fein  gezeichneter  Charakter- 
bilder (von  Grotefend  in  Hannover,  von  Haage  in  Lüneburg,  von 
Wiedasch  in  Ilfeld,  von  Fr.  Ranke  in  Göttingen,  von  Seebode  in 
Hildesheim,  von  Müller  in  Emden),  die  Niemand  ohne  Befriedigung  be- 
trachten wird.  Man  sieht ,  wie  K.  überall  eben  so  scharf  und  sicher  in 
seinen  Beobachtungen ,  als  human  und  besonnen  in  seinen  Entscheidungen 


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Fr.  Kohlrausch :  Erinnerungen  aus  meinem  Leben.  31 

gewesen  ist;  manches,  wie  die  Erzählung  von  den  Wirren  in  Ilfeld,  ist 
von  ganz  besonderem  Interesse.  Die  unter  sehr  verschiedenen  Verhält- 
nissen entwickelten  Schulen  in  engern  Zusammenhang  zu  setzen  und  durch 
eine  möglichst  gleichmäszig  durchgeführte  Organisation  zu  höherem  Leben 
zu  bringen ,  war  unstreitig  eine  sehr  schwierige  Aufgabe.  Der  Verf.  be- 
richtet nun  auch,  wie  durch  Einsetzung  einer  wissenschaftlichen  Prüfungs- 
commission ,  durch  Begründung  eines  pädagogischen  Seminars ,  durch  An- 
wendung einer  Maturitätsprüfung  das  zunächst  Nötige  erreicht  wurde, 
und  wiederholt  hebt  er  hervor,  dasz  man,  statt  sogleich  in  einem  um- 
fassenden Gesetze  ein  Ideal  zu  proclamieren ,  lieber  durch  Einzelverord- 
nungen das  Bessere  anzubahnen  gesucht  habe.  Rascher,  aber  immer 
belehrend,  ist  der  Verf.  über  seine  Teilnahme  an  dem  Jubiläum  der  Georgia 
Augusta  (1837)  und  an  der  Philologen-  und  Schulmännerversammlung 
in  Gotha  (1840) ,  wo  er  K.  Fr.  Hermann  für  Göttingen  gewann ,  hinweg- 
gegangen. Dann  wendet  er  sich  zur  Organisation  des  Realunterrichts  in 
Hannover,  die  durch  die  Gonferenz  in  Emden  (1847)  ihre  Entscheidung 
erhielt  und  später  auch  im  Königreiche  Sachsen  (in  Plauen  und  Zittau) 
Nachahmung  fand.  Auf  die  Bedenken,  welche  Vollprecht  in  seiner 
Abhandlung  *  höhere  Bürgerschulen,  Gesamtgymnasien  und  Gymnasien' 
[Clausthal  1852)  gegen  die  Verbindung  von  Gymnasium  und  Realschule 
erhoben  hat ,  ist  hier  nicht  Rücksicht  genommen. 

Die  andere  Hälfte  der  Wirksamkeit  in  Hannover  —  seit  dem 
J.  1848  —  eröffnet  sich  für  K.,  in  ähnlicher  Weise,  wie  die  erslere,  mit 
Ae/Ügen  körperlichen  Affectionen ,  die  diesmal  eine  Folge  der  groszen 
durch  die  allgemeine  Erschütterung  der  politischen  Verhältnisse  herbei - 
ge/unrten  Aufregungen  zu  sein  schienen.  Aber  er  war  doch  gleich  anfangs 
imStande,  finanzielle  Verbesserungen  für  den  Realunterricht,  für  Lehrer- 
gehaJte,  für  den  Pensionsfond ,  für  das  Turnwesen  zu  erlangen  und  hatte 
dann  im  Herbste  1848  die  Genugtuung,  dasz  eine  zahlreich  besuchte 
Lehrerversammlung  in  Hannover,  unter  der  tüchtigen  Leitung  des  Directors 
Schmalfusz  aus  Lüneburg  mit  Takt  und  Mäszigung  berathend,  die 
bisherige  Wirksamkeit  des  Oberschulcollegiums  fast  durchaus  anerkannte. 
Erunterläszt  nicht,  heim  Rückblick  auf  jene  Tage,  die  im  Ganzen  grosze 
Besonnenheit,  welche  unter  so  verwirrenden  Verhältnissen  der  Lehrer- 
stand (und  auch  die  Schuljugend)  Hannovers  bewiesen ,  rühmend  hervor- 
zuheben. Die  im  Dece raber  jenes  Jahres  zusammengetretene  Gonferenz 
von  Vertretern  des  Volksschullehrerstandes ,  die  besonders  mit  der  Ein- 
'thtung  der  Schullehrerseminarien  sich  zu  beschäftigen  hatte,  war 
'Unfalls  nicht  unerfreulich.  Specieller  wird  dann  berichtet,  wie  das 
"taschulcollegium,  in  welches  zu  Anfange  des  J.  1849  Schmalfusz  als 
Scklrath  eintrat,  eine  Reihe  einzelner  Verbesserungen  herbeigeführt  hat. 
We  Erzählung  von  dem  25jährigen  Jubiläum  des  Oberschulcollegiums 
1855),  das  ihm  selbst  eine  hohe  Auszeichnung  brachte,  gibt  Anlasz  zu 
Rückblicken  auf  das  in  dieser  Zeit  Erreichte.  Dieselben  enthalten  in  ge- 
drängtester Fassung ,  was  die  eben  damals  erschienene  Schrift  *das  höhere 
Schulwesen  des  Königreichs  Hannover  seit  seiner  Organisation  im  J.  1830* 
Hannover,  Culemann)  in  detaillirler  Darstellung  vorgeführt  hat.     Mit  be- 


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32  Fr.  Kohlrausch :  Erinnerungen  aus  meinem  Lehen. 

sondrer  Teilnahme  verweilt  der  Verf.  sodann  bei  dem  Feste  der  Ein- 
weihung des  Georgianum  in  Lingen  (12.  Octbr.  1859);  die  Hauptsteilen 
der  bei  dieser  Gelegenheit  von  ihm  gehaltenen  Rede  hat  er  hn  Anhange 
S.  433  ff.  mitgetheilt.  Besonderer  Aufmerksamkeit  der  Schulmänner  em- 
pfehlen wir  die  Bemerkungen ,  welche  S.  392  ff.  über  die  Maturitätsprü- 
fung und  S.  400  ff.  über  das  System  des  gelehrten  Unterrichts  gemacht 
worden.  Kürzere  Notizen  über  das  Gewerbschulwesen  des  Königreichs 
Hannover,  dem  K.  ebenfalls  seine  Sorgfalt  zu  widmen  gehabt  hat,  über 
seine  Teilnahme  an  dem  historischen  Verein  für  Niedersachsen,  über  die 
Herausgabe  der  *  Bildnisse  der  deutschen  Könige  und  Kaiser '  schiieszen 
sich  an.  Das  den  edlen  Mann  umgebende  und  so  lange  reich  beglückende 
Familienieben  erscheint  in  dieser  letzten  Periode  durch  schwere  Heim- 
suchungen getrübt ;  doch  ist  ihm  das  einsamere  und  von  manchem  Unge- 
mach getroffene  Alter  noch  keineswegs  eine  drückende  Bürde,  wie  er 
denn  auch  in  den  allgemeinen  Betrachtungen,  womit  er  schlieszt,  neben 
denjenigen  Momenten,  welche  bange  Besorgnisse  rechtfertigen  könnten, 
andere  hervortreten  läszt,  an  welche  Hoffnungen  sich  knüpfen  lassen. 

Wenn  wir  den  ziemlich  ausgedehnten  Mitteilungen  des  ehrwürdigen 
Verfassers  über  die  Entwickelung  seines  Familienlebens  hier  nur  vorüber- 
gehend Aufmerksamkeit  zugewandt  haben,  so  ist  dies  mit  Rücksicht  auf 
die  Zwecke  dieser  Zeitschrift  geschehen.  Aber  wir  wollen  nicht  unter- 
lassen, diese  Mitteilungen  zu  eingehender  Beachtung  allen  denen  zu 
empfehlen ,  welche  Sinn  und  Empfänglichkeit  für  Familienglück  und  häus- 
liches Stillleben  sich  bewahrt  haben. 

Durch  unsere  Uebersicht  glauben  wir  einigermaszen  erkennen  zu 
lassen ,  wie  inhaltreich  das  Buch  zumal  für  pädagogische  Leser  ist.  Diese 
werden  auch  nicht  selten  ganz  beiläufig  beachlenswerthe  Lehren  einge- 
streut finden ,  wie  sie  der  Familienvater,  der  Schulmann ,  der  Aufsichls- 
beamte  aus  vielseitiger  Erfahrung  darbieten  konnte.  Hieher  dürfen  z.  B. 
gerechnet  werden  die  Bemerkungen  über  die  Vorteile  der  Erziehung  auf 
dem  Lande  S.  11,  über  die  Vernachlässigung  philosophischer  Studien  in 
der  Gegenwart  S.  71 ,  über  die  Stellung  der  Jugend  zum  politischen  Trei- 
ben S.  81,  über  die  Thätigkeit  des  praktischen  Schulmanns  S.  170,  über 
die  Entwöhnung  der  kleinen  Kinder  vom  Schreien  S.  185  f. ,  über  die  Ein- 
führung der  Jugend  in  die  Natur  S.  221  f. ,  über  den  bildenden  Einflusz 
häuslicher  Leiden  S.  250,  über  das  Zusammenleben  in  Alumnaten  S.  282, 
vgl.  241,  über  die  Vorteile  der  Gymnasien  in  kleineren  Städten  S.  289, 
über  den  Mangel  an  Originalität  und  Schwung  bei  der  Jugend  unsrer  Zeil 
S.  401  f. ,  über  die  Einrichtung  einer  Selecta  an  den  Gymnasien  S.  409  ff. 

Gewis  wird  jeder  unbefangene  Leser  mit  herzlichem  Danke  von  dem 
hochverdienten  Verfasser  scheiden.  Es  sollte  uns  freuen ,  wenn  die  vor- 
stehende Anzeige  etwas  dazu  beitrüge,  dem  Buche  die  verdiente  Aner- 
kennung und  Benutzung  in  einem  weiteren  Kreise  zu  sichern. 

Zittau.  H.  Kümmel. 


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G.Wendt:  gesammelte  Aufsätze  zur  deutscheu  Lilteratur  von  Hiecke.  33 

4. 

Gesammelte  Aufsätze  zur  deutschen  Litter atur  von  Robert 
Heinrich  Hiecke.  Herausgegeben  von  Dr.  G.  Wendt, 
Director  des  Gymnasiums  zu  Hamm.    Hamm,  G.  Grotesche 

Buchhandlung  (C.  Müller).  1864.    331  S.  8. 

Der  verstorbene  Director  H  i  ec  ke  in  Greifs wald  hat  auf  die  Gestaltung 
des  deutschen  Unterrichts  in  unseru  Gymnasien  einen  segensreichen  Ein- 
flusz  ausgeübt.     Steht  hier  in  didacüscher  Beziehung  das  1842  erschie- 
nene Buch  über  den  deutschen  Unterricht  auf  Gymnasien  obenan ,  so  hat 
doch  die  darin  entwickelte  Theorie  erst  ihre  rechte  Bedeutung  und  ihr 
volles  Licht  durch  die  Beispiele  und  Muster  erhalten ,  welche  R.  selbst  für 
die  Erklärung  unserer  deutschen  Dichter  gegeben  hat.   Schon  als  Schüler 
war  er  durch  seinen  trefflichen  Lehrer  W  i  e  c  k  in  Merseburg  dazu  ange- 
leitet worden  auch  den  tieferen  Gehalt  der  echten  Classiker  zu  erkennen, 
und  hatte  sich  dazu  später  durch  gründliche  philosophische  Studien  in  Berlin 
unter  Hegel  wissenschaftlich  weiter  befähigt.  In  diesen  Ideenkreisen  wurde 
er  als  junger  Merseburger  Lehrer  durch  den  regen  Verkehr  mit  den  Halle- 
schen  Jung-Hegelianern,  mit  Buge,  Echlermeyer  u.a.  immer  mehr  befestigt. 
Zwar  hatte  er  bereits  1834  ein  Programm  überGoethe's  Iphigenie  geschrie- 
en,  aber  erst  im  Jahre  1838  trat  er  mit  seinen  Gedanken ,  wie  auch  die 
poetische  Leetüre  eine  Aufgabe  angestrengter  geistiger  Thätigkeit  werden 
lind  damit   ihren  berechtigten  Platz  unter  den  Uuterrichtsgegenständen 
höherer  Lehranstalten  behaupten  könne,  an  die  Ocffentiichkeit  in  der  Bede 
über  den  Ideengehalt  inUhland's  Ballade  'des  Sängers  Fluch',  und  es  folg- 
ten nun  in  dem  folgenden  Jahre  die  Betrachtungen  über  Goethe's  Tasso 
in  den  Halleschen  Jahrbüchern,  an  deren  Begründung  er  den  lebhaftesten 
Anteil  genommen  hatte.    Während  der  vierziger  Jahre  hat  er,  festhaltend 
an  der  Ansicht,  dasz  die  sorgfältige  Erklärung  kleinerer  Gedichte,  Balla- 
den, Bomauzen,  Lieder,  Elegicen,  besser  als  die  gröszerer  Dichtwerke 
dazu  führen  könne  das  Denken  bei  der  Leclüre  von  Gedichten  nicht  zu 
vergessen,  in  den  Zeitschriften  von  Viehoff,  von  Low  und  Körner,  von 
Herrig  und  Viehoff  eine  Menge  solcher  Gedichte  namentlich  von  Uhland, 
ferner  von  Hebel,   Bückert,  Platen,   auch  eines  von  Goethe  in  seiner 
Weise  besprochen  und  damit  vielen  Lehrern  ein  Vorbild  zur  genaueren 
Auffassung  gegeben.   Ich  sage  absichtlich ,  in  seiner  Weise ,  die  aus  dem 
Inhalte  der  Dichtungen  ihren  Ideengehalt  ableitet,  dabei  aber  manche  an- 
dere Seilen  der  Erklärung ,  wie  die  geschichtliche  und  die  sprachliche, 
ziemlich  unbeachtet  iäszt.     Seine  letzten  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  be- 
ziehen sich  hauptsächlich  auf  Schiller's  Dramen,  die  allerletzte,  eine  Bede, 
Gehandelt  (1860]  Goethe's  Grösze  in  seinem  bürgerlichen  Epos  Hermann 
und  Dorothea. 

Diese  in  Zeitschriften  zerstreuten  oder  in  kleineren  Schul  Schriften 
weniger  bekannt  gewordenen  Aufsätze  hat  Herr  Director  Weudt  in  der 
hier  zu  besprechenden  Schrift  gesammelt.  Das  ist  mit  allem  Danke  von 
jedem  Lehrer  anzuerkennen,  dem  die  Erklärung  deutscher  Dichtungen 

K.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.   1S«1.   Hft.  1.  3 

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34  fr  Wendt:  gesammelte  Aufsätze  zur  deutschen  LilteraLur  von  Hiecke. 


obliegt.  Wo  so  viel  gefehlt  wirrt,  wie  gerade  auf  diesem  Gebiete,  da  thut 
ein  rechter  Führer  Not.  Mir  kann  es  jetzt  nicht  darum  zu  thun  sein  auf 
eine  Beurteilung  der  Hieekeschcn  Aufsätze  selbst  einzugehen;  nur  des 
Herausgebers  Arbeit  gibt  mir  zu  einigen  Bemerkungen  Veranlassung. 

Üie  Aufsätze  sind ,  so  weit  mir  eine  Vergleichung  der  Originaldrucke 
möglich  war,  genau  abgedruckt,  aber  nicht  blosz  in  dem  Aufsatze  über 
Goethc's  Tasso  sind  die  auf  Einzelheiten  in  dem  Buche  von  Lewilz  ein- 
gehenden Stellen  fortgelassen  (vgl.  S.  125),  auch  in  der  Rede  über  die 
Uhlaodsehe  Ballade  ist  eine  Stelle  und  zwar  mit  Fug  und  Recht  gestrichen, 
wogegen  ich  S.  165  den  Glückwunsch,  mit  welchem  H.  die  Rede  über 
Hermann  und  Dorothea  dein  Gymnasium  in  Stralsund  zu  dessen  dritter 
Saecularfeier  dargebracht  hat.  ungern  vermisse.  Der  Herausgeber  hat  die 
Aufsatze  nach  ihrem  Inhalte  geordnet  bis  auf  eine  kleine,  in  der  Vorrede 
durch  äussere  Umstände  entschuldigte  Abweichung.  Ich  hätte  die  chrono- 
logische Folge  festgehalten,  weil  diese  dem  Leser  die  Einsicht  in  dieEnl- 
wickelung,  welche  Hiecke  selbst  auf  diesem  Gebiete  des  Unterrichts  durch- 
gemacht hat,  sehr  erleichtert  haben  würde.  Wenn  wir  in  dem  Programm 
von  1834  sehen,  wie  er  fein  und  sinnig  den  Inhalt  der  Goetheschen 
Iphigeme  darlegt,  so  gibt  er  in  der  Rede  aus  dem  Jahre  1838  (die  übri- 
gens nicht  in  dem  Programme  des  Merseburger  Gymnasiums  von  1838, 
wie  es  in  dem  Inhalts  Verzeichnisse  heiszt,  sondern  erst  in  dem  des  Jahres 
1839  erschienen  ist)  schon  seinen  Zweck  und  seine  Methode  ganz  bestimmt 
au  und  hat  es  1846  in  der  Vorrede  zu  dem  Buche  über  Shakespeare'* 
Macbeth  noch  genauer  gothan.  Da  Hiecke  aber  ein  ganzer  Lehrer  war  und 
als  solcher  immer  fort  lernte  und  seine  Methode  weiter  ausbildete,  so 
würde  der  Fortschritt  von  seinen  Erstlingsarbeiten  bis  zu  der  meisterhaf- 
ten Festrede  über  Schiller'a  Grösse  in  den  Dichtungen  seiner  reiferen  Jahre 
und  zu  dem  ebenbürtigen  Vortrage  über  Goethe's  Grösze  bei  der  chro- 
nologischen Anordnung  deutlicher  hervorgetreten  sein.  Selbst  die  Anord- 
nung nach  dem  Inhalte  ist  nicht  festgehalten  darin,  dasz  die  Uhlandschen 
Dichtungen  die  Reihe  eröffnen  und  dann  erst  die  Resprechung  der  ersten 
Gedichte  in  der  Echtermc  versehen  Sammlung  folgt,  welche  viel  passen- 
der an  die  erste  Stelle  gesetzt  worden  wäre. 

Der  Herausgeber  hat  sich,  wie  der  Titel  sagt,  auf  die  Aufsätze  zur 
deutschenLilleratur  beschränkt  und  uns  damit  die  auf  Shakespere's 
Dramen  bezüglichen  Arbeiten  entzogen.  In  der  Schule  rechnen  wir  den 
grossen  britischen  Dichter  zu  den  unsrigen  und  schlieszen  einige  seiner 
historischen  Dramen  von  der  Erklärung  nicht  aus.  Deshalb  würden  wir 
den  Wiederdruck  der  betreffenden  Hiecke  sehen  Aufsätze  sehr  gern  gesehen 
haben.  Die  Rechte  der  Verleget1  an  dieselben  können  doch  Herrn  Wendt 
schwerlich  abgehalten  haben  1  da  er  die  durch  den  Ruchhandel  zu  be- 
ziehende Rede  über  Goethe's  Grösze  unbedenklich  hat  abdrucken  lassen. 
Aber  selbst  fiir  die  deutsche  Litteratur  hätte  ich  die  Aufnahme  der  Be- 
merkungen gewünscht,  welche  Hiecke  in  dem  Ruche  über  den  deutchen 
Unterricht  in  Betreff  einiger  Gedichte  von  ühland  (Schwäbische  Kunde, 
die  Rache)  und  Justinus  Kerner  (der  reichste  Fürst)  gegeben  hat.  Gerade 
die  stoffliche  Anordnung  der  Sammlung  muszte  dies  rechtfertigen. 


. 


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H.  Masius :  die  gesamten  Naturwissenschaften.  35 

Neu  ist  nur  ein  Aufsatz  S.  201 — 226  über  die  Idee  der  Wahlver- 
wandtschaften von  Goethe,  der  in  seiner  Methode  an  die  erste  Arbeit  über 
die  Iphigenie  erinnert  und  wol  auch  aus  einer  früheren  Zeit  herrühren 
mag;  seine  letzte  Feile  hat  er  sicherlich  nicht  erhalten. 

Wir  danken  dem  Herausgeber  für  die  Sorgfalt,  mit  welcher  er  sich  der 
gewisz  beschwerlichen  Sammlung  unterzogen  hat,  wünschen  aber  drin- 
gend, dasz  er  sein  Versprechen ,  auch  noch  eine  Reihe  philologischer  und 
pädagogischer  Arbeiten  Hiecke's  der  Oeflentlichkcit  zu  übergeben,  recht 
bald  erfüllen  möge.  Nur  so  wird  das  Bild  der  schriftstellerischen  Thätig- 
keit  unseres  Hiecke  vollständiger  werden ,  der  freilich  immer  mehr  Leh- 
rer als  Schriftsteller  sein  wollte. 

Leipzig.  Fr.  A.  Eckstein. 


Die  gesamten  Naturwissenschaften.  Für  das  Verständnis  weite- 
rer  Kreise  und  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  bearbeitet 
cot!  Dippel,  Gottlieb,  Koppe,  Lottner,  Mädler,  Masius,  Moll, 
Nauck,  Nöggerath,  Querstedt,  Romberg  undeon  Rus&dorf. 
umgeleitet  von  H.  Masius.  Zweite,  verbesserte  und  berei- 
cherte Auflage.   In  drei  Bänden.   Essen  bei  Bädeker.    1861. 

Io  einem  Zeitalter,  in  dessen  Charakter  die  Anteilnahme  des  groszen 
Publikums  au  den  Ergebnissen  der  Naturforschung  einen  scharf  ausgepräg- 
ten Zug  bildet,  kann  eine  populäre  Encyclopädie  der  Naturwissenschaften 
auch  für  die  Schule  nicht  ohne  Interesse  sein.  Nehmen  doch  viele  Zöglinge 
auch  solcher  Anstalten ,  bei  denen  diese  Wissenschaften  nicht  einen  haupt- 
sächlichen Teil  des  Lehrstoffes  ausmachen,  angeregt  durch  das  gelegentliche 
Lesen  von  Zeitschriften,  welche  ihre  Spalten  mit  Naturkundlichem  würzen, 
sowie  durch  die  Gespräche  geselliger  Kreise,  in  denen  Notizen  und  Urteile 
aus  jenem  Bereiche,  welche  in  populären  Vorträgen,  in  Feuilletons  oder 
in  populären  Schriften  vorgekommen  sind,  oft  zum  Unterhaltungsstoff 
dienen ,  an  gewissen  Thatsachen  und  Erörterungen  der  Naturwissenschaft 
regen  Anteil  und  suchen  in  guten  oder  schlechten  populären  Schriften, 
deren  es  von  beider  Art  in  Fülle  gibt,  weitere  Aufschlüsse  über  Fragen, 
die  auf  der  Tagesordnung  der  Gegenwart  stehn,  und  ersuchen  den  Lehrer 
um  Nachweisung  empfehlenswerter  Bücher. 

So  wenig  hoch  man  auch  den  bildenden  Werth  der  ohne  Nachhilfe 
von  Lehrern  und  ohne  sinnliche  Anschauung  von  Naturobjekten  gewonne- 
nen naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  in  vielen  Fällen  anschlagen  möge, 
su  wenig  läszt  sich  doch  verhindern ,  dasz  die  Jugend  das ,  was  ihr  von 
der  Schule  unvollständig  oder  gar  nicht  geboten  wird,  auf  eigne  Faust 
zu  erwerben  suche  und  zur  Unterhaltung  populäre  Bücher  lese.  Nun  ist 
aber  die  Lektüre  einer  zusammenhängenden ,  den  groszen  planmäszigen 

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36  H.  Masius :  die  gesaraten  Naturwissenschaften. 

Bau  der  Wissenschaft  ahnen  lassenden  Uebersicht  des  Gesamtgebietes  ge- 
wiss weil  nützlicher,  als  ein  gelegentliches  Umherflattern  in  verschiede- 
nen Bezirken  desselben ,  wozu  die  Journale  durch  ihre,  oft  mehr  nach  dem 
Reisenden  als  belehrenden  strebenden  und  nicht  selten  gefallsuchtig  auf- 
geputzten Artikel  leicht  verlocken.  Darum  erscheint  eine  Encyclopädie 
der  Naturkunde,  welche  durch  edle  populäre  Darstellung  in  die  verschie- 
denen Bezirke  eines  Tür  die  Gegenwart  unendlich  bedeutsamen  Reiches 
einführt,  ein  Lesebuch,  welches  anmutig  belehrend  unterhält,  ohne  den 
Ernst  der  Wissenschaft  zu  verleugnen,  welches  Kenntnisse  mitteilt  und 
das  Urleil  weckt,  ohne  zu  vorschnellem  Aburteilen,  zu  schöngeistiger 
Sentimentalität  und  zu  seichter  Vielwisserei  zu  verführen ,  für  alle  Schulen 
und  besonders  für  solche,  welche  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht 
auf  wenige  Stunden  beschränken  müssen,  eine  sehr  wünschenswerthe 
Erwerbung.  Zum  Beweise ,  dasz  ein  solches  Werk  nach  dem  Mode-Aus- 
drucke einem  wahren  Bedürfnis  entgegenkomme,  läszt  sich  das  insbe- 
sondere Gymnasien ,  Real  -  und  höheren  Bürgerschulen  gewidmete'  Schöd- 
lersche  Buch  der  Natur  anführen,  welches  schon  in  elfter  Auflage  vorliegt. 

Das  hier  zu  besprechende  Werk,  welches  das  Schödlersche  an  Um- 
fang um  mehr  als  das  vierfache  übertrifft,  hat  —  wie  die  nach  einigen 
Jahren  nötig  gewordene  zweite  Auflage  beweist  —  in  den  *  weitern  Krei- 
sen', für  welche  es  bestimmt  ist,  Anklang  gefunden.  Eignet  sich  dasselbe 
nun  auch  als  Lehrbuch  für  die  Schule,  so  dasz  es  der  Jugend,  für  die  das 
Beste  eben  gut  genug  ist,  zur  Lektüre  iu  Muszestunden  empfohlen  wer- 
den kann  und  die  Ehrenstelle  in  der  Schulbibliolhek  verdient?  Zur  Beant- 
wortung dieser  Frage  soll  das  hier  versuchte  Referat  über  den  Plan  des 
Ganzen  und  die  Ausführung  der  einzelnen  Teile  die  Entscheid ungsgrütule 
geben. 

Ueber  die  richtige  Zumessung  des  StofFes  läszt  sich  in  Bezug  auf 
eine  Schrift ,  die  nicht  für  einen  scharf  begrenzten  Leserkreis  berechnet 
ist,  schwer  urteilen.  Das  vorliegende  Werk  behandelt  nicht  blosz  alle  in 
ähnlichen  Encyclopädicfi  vorkommende  Fächer  mit  gröszerer  Ausführlich- 
keit, es  enthalt  auch  einige  Abschnitte,  welche  in  verwandten  Werken 
fehlen  und  gerade  Tür  die  Schule  höchst  dankenswerte  Gaben  darstellen. 
Solche  sind  die  besonderen  ausführlichen  Abhandlungen  über  das  Meer 
und  die  Schiffahrt,  über  die  Dampfmaschine,  die  Telegraphie  und  Photo- 
graphie, über  Bergbau-  und  Hüttenwesen.  Und  doch  möchte  man  urtei- 
len, dasz  das  Werk  für  die  Schule  trotzdem  eher  zu  wTenig,  als  zu  viel 
enthalte.  Mit  demselben  Rechte,  wie  die  Meereskunde,  dürfte  die  phy- 
sische Geographie  des  Festlandes,  obgleich  mehrere  ihrer  Gegenstände 
in  der  Physik,  Geologie,  Botanik  und  sonst  gelegentlich  besprochen  wer- 
den, eine  besondere  Abhandlung  beanspruchen;  neben,  ja  vor  der  um- 
fassenden Dampfmaschinen-Lehre  wäre  ein  populärer  Abrisz  der  Mechanik, 
na pi entlieh  eine  Erörterung  der  im  Alltagsleben  gebrauchten  Werkzeuge 
und  Maschinen,  wie  des  Pfluges,  des  Spinnrades,  der  Uhr,  der  Mahl- 
und  Sägemühle  wünsd  Jens  wer  th ;  endlich  würde  neben  der  Physiologie 
ein  Lehrbüchlein  der  Diätetik  nützlich  sein.  Vielleicht  werden  einmal  diese 
bis  jetzt  nicht  vertretenen  Fächer  als  Nachträge  zur  gegenwärtigen  Auf- 


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H.  Masius:  die  gesamten  Naturwissenschaften.  37 

läge  oder  als  Zugabe  zu  einer  neuen  hinzugefugt ;  dann  liesze  sich  das 
Werk  als  vollständigste  Encyclopädie  bezeichnen,  welche  auch  nicht  einen 
Teil  des  für  Schulen  wichtigen  Stoffes  vermissen  lasse. 

Die  Ansprüche,  welche  das  Werk  an  das  Masz  der  zum  Verständnis 
mitzubringenden  Kenntnisse  und  Fähigkeiten  stellt,  sind  —  wie  es  die  Be- 
stimmung für  eweitere  Kreise'  mit  sich  bringt  —  im  allgemeinen  so  ge- 
halten, dasz  die  Schüler  der  oberen  Klassen  eines  Gymnasiums  keine 
Schwierigkeiten  finden  werden.  Namentlich  sind  die  Anforderungen  an 
mathematische  Vorkenntnisse  sehr  mäszig  gestellt.  Die  Physik  gibt  das 
Verhältnis  des  Kreisumfanges  zum  Durchmesser  an ,  die  Astronomie  er- 
läutert die  Grundgesetze  der  Ellipse  und  setzt  nur  das  Wissen  voraus, 
welches  die  Schüler  in  den  Lehrstunden  der  mathematischen  Geographie 
der  unteren  Klassen  erwerben.  Vollkommen  elementar  ist  indessen  die 
Behandlung  nicht,  und  der  Schüler  wird  hier  und  da  eines  Fingerzeiges 
der  Lehrer  bedürfen.  Einige  Schwierigkeit  könnten  Anfänger  bei  der 
Auffassung  des  Körpermaszes  finden,  dessen  anschauliche  Vorführung 
Schödler  mit  Recht  gegeben  hat;  schwerer  noch  wird  ihnen  das  Verständ- 
nis einiger  Durchschnittszeichnungen  von  Maschinen  und  mancher  Quer- 
und  Längsschnitte  mikroskopischer  Pflanzen -Präparate  sein,  wozu  das 
Werk  wol  an  einer  geeigneten  Stelle  einen  Wink  hätte  geben  können. 
Leider  berücksichtigt  fast  kein  populäres  Buch  die  Schwierigkeit,  die 
viele  Laien  bei  der  Betrachtung  von  Diagrammen  abschreckt  oder  zur  Un- 
klarheit verführt. 

Einer  Schwierigkeit,  welche  sich  allen  Lesern  naturwissenschaft- 
licher Werke  ohne  Ausnahme  entgegenstellt  und  darin  besteht,  dasz  es 
gilt,  aus  Worten  eine  anschauliche  Vorstellung  von  Naturdingen  und 
Kunsterzeugnissen  zu  gewinnen,  ist  in  der  vorliegenden  Schrift  durch 
eine  grosze  Menge  eingedruckter  Holzschnitte  in  vielen  Fällen  glücklich 
abgeholfen.  Für  Physik  und  Astronomie  und  die  angewandten  Natur- 
wissenschaften ist  durch  wolgelungene  Illustrationen  ausreichend  gesorgt. 
(Die  Physik  ist  mit  198,  die  Astronomie  mit  20  eingedruckten  Holzschnit- 
ten und  mit  drei  besonderen  Sternkarten  ausgestattet.)  Die  Holzschnitte 
sind  richtig  und  verstandlich ,  ohne  nach  der  realistischen  Virtuosität  jener 
Künstler  zu  streben ,  welche  nach  Art  der  Genrebildmaler  alle  Glanzlichter 
und  Spiegelbilder  auf  Glasgefäszen  darzustellen  suchen,  was  übrigens 
nicht  immer  zum  Vorteile  naiver  Beschauer  dient.  In  den  beschreibenden 
Naturwissenschaften  war  eine  solche  Vollständigkeit  der  bildlichen  Dar- 
stellung nicht  möglich,  viele  Thiere  und  Pflanzen,  die  der  Leser  gern 
auch  illustrirt  sähe,  musten,  wenn  das  Werk  nicht  zum  Bilderatlas  wer- 
den sollte,  unberücksichtigt  bleiben;  aber  auch  hier  ist  eine  Vollständig 
keit  erzielt,  wie  sie  nur  wenige  ähnliche  Werke  aufweiszen.  (Die  Thier- 
kunde  ist  durch  180,  die  Pflanzenkunde  durch  134,  die  Mineralogie  durch 
129,  die  Geologie  durch  63  Holzschnitte  illustrirt). 

Eine  wesentliche  Eigentümlichkeit  dieser  Encyclopädie  besteht  darin, 
dasz  sie  das  Werk  einer  Association  von  zwölf  Mitarbeitern  darstellt, 
deren  jeder  einen  besonderen  Abschnitt  selbständig  verfaszt  hat.  In  dieser 
bei  einem  so  umfangreichen  Werke  fast  unumgänglichen  Thatsache  (denn 


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38  H.  Masius:  die  gesamten  Naturwissenschaften. 

wer  ki nute  sich  nach  Humboldt  rühmen,  in  allen  Bezirken  des  unabseh- 
baren Wissensfeldes  gleichinäszig  bewandert  zu  sein?)  trat  der  Bearbeitung 
t'ine  nc^ue  schwierige  Aufgabe  entgegen.  Es  scheint  notwendig  und  ist 
doch  last  unmöglich,  bei  einem  durch  vereinigte  Kräfte  gestalteten  Werke 
dieselbe  durchgängige  Gleichmäszigkeit  herzustellen,  welche  die  Arbeit 
eines  Einzigen  aufweist.  Wird  doch  jeder  einzelne  Mitarbeiter  in  dem 
Mas/e  der  an  den  Leser  zu  stellenden  Voraussetzungen,  sowie  in  der 
Darsleilungsart  sich  von  seinen  Collegen  etwas  verschieden  erweisen ,  so 
schuf!  auch  der  Redactionsplan  den  Grundcharakter  und  die  Gliederung 
des  zu  schaffenden  Werkes  vorher  entworfen  haben  mag.  In  einigen 
Punkten  scheint  in  unsrem  Falle  wirklich  der  Spielraum,  welcher  den 
Assoütirten  für  ihr  besonderes  Fach  gestattet  wurde,  weniger  scharf  ein- 
gehiillen  worden  zu  sein,  so  dasz  —  wie  weiter  unten  angedeutet  wird 
—  iIh:  Darstellungsart  des  einen  oder  andern  sich  nicht  recht  an  das  Kon- 
zert der  übrigen  anschmiegt.  Der  populäre  Lehrton  des  einen  Mitarbeiters 
ttäharl  sich  mehr  der  elementaren  Vortragsweise,  während  ein  andrer 
Schriftsteller  zu  einem  Kreise  von  höherer  Bildung  zu  sprechen  scheint; 
dar  Verfasser  der  Geologie  verweist  an  einzelnen  Stellen  auf  die  Schriften, 
welche  ausführliche  Belehrung  bieten,  während  in  den  übrigen  Abschnit- 
ten «Ire  litterarischen  Nach  Weisungen  fehlen  und  die  Hauptförderer  der 
Wissenschaft  nur  in  der  kurzen  Geschichte  derselben  angeführt  sind. 

Aber  alle  diese,  bei  der  Association  kaum  vermeidlichen  Ungleich- 
mäaztgkejten  werden  aufgewogen  durch  den  Vorteil,  dasz  jedes  Fach 
durch  einen  besonderen  Verfasser,  welcher  dasselbe  vorzugsweise  anbaut, 
bearbeitet  wird.  Denn  nur  dadurch  gewinnt  der  populäre  Vortrag  seinen 
groszten  Reiz,  dasz  der  Hörer  oder  Leser  lebhaft  fühlt,  wie  der  Darstel- 
lende seinen  Stoff  nicht  nur  beherscht,  sondern  con  amore  betreibt  und 
bei  der  Mitteilung  seinen  individuellen  Charakter  frei  entfaltet.  So  wie  es 
den  Schülern  einer  Lehranstalt  wohlthut,  die  verschiedenen  Disciplinen  in 
der  verschiedenen  Lehrweise  der  einzelnen  Lehrer  kennen  zu  lernen:  so 
wird  es  den  Lesern  eines  eucyclopädischen  Werkes  erwünscht  und  anregend 
sein,  wenn  der  Bearbeiter  jedes  einzelnen  Faches  in  der  seiner  Individua- 
lität um  meisten  angemessenen  Weise,  gleichsam  in  seinem  natürlichen 
Urusiiune  spricht,  wenn  also  im  Notwendigen  die  strenge  Einheit,  im 
l  n  wesentlichen  die  freie  Selbständigkeit  waltet. 

lias  ganze  Werk,  welches  1980  enggedruckte  Seiten  umfaszt,  ist  so 
gegliedert,  dasz  der  erste  Band  (von  630  S.)  die  Physik  und  Chemie,  der 
zweile  (auf  664  S.)  die  Physiologie  des  Menschen,  die  Thier-  und  Pflan- 
zenkunde, der  dritte  (auf  686  S.)  die  Mineralogie,  Geologie  und  Astrono- 
noinie  enthält. 

Hie  von  K.  Koppe,  dem  als  Verfasser  weitverbreiteter  Schulbücher 
rühmlich  bekannten  Professor  in  Soest,  bearbeitete  Pliysik  und  Me- 
teorologie entwirft  in  schlichter,  klarer  Darstellung  die  Grundzüge  der 
Wisseiu&haft  für  Leser,  welche  nur  die  mathematische  Vorbildung  einer 
Volksschule  mitbringen.  Sie  eignet  sich  daher  zum  Lesebuch  für  solche 
Jüngere  Schüler,  welche  sich,  schon  ehe  sie  in  der  Klasse  Unterricht  in 
der  Naturlehre  erhalten,  in  dem  anziehenden  Wissensfelde  umsehen  wol- 


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H.  Masras:  die  gesamten  Naturwissenschaften.  39 

Ien,  und  für  solche  ältere,  welche  —  wie  Goethe  —  einen  unüberwind- 
lichen Widerwillen  gegen  die  mathematische  Behandlung  der  Naturphäno- 
mene fühlen. .  Die  letzteren  finden  in  dieser  populären  Physik  einen  von 
'ihrem  Koppe9  darin  abweichenden  Lehrer ,  dasz  er  auch  dem  drr€U)|i£- 
TprjTOC  vollkommen  verständlich  ist  und  einen  solchen  zugleich  zur  Ein- 
sicht in  die  Unentbehrlichkeit  jener  wissenschaftlichen  Grundlage  für  den 
höhern  Aufbau  unaufdringlich  hinleitet. 

Höchst  erwünscht  werden  Schülern ,  welche  in  ihren  Physikstunden 
nur  kurze  Mitteilungen  über  die  physikalische  Technologie  erhalten  kön- 
nen, die  beiden  folgenden  Abschnitte  hier,  welche  von  S.  247 — 352  die 
Dampfmaschine  und  von  S.  355 — 440  die  elektrische  Telegra- 
phier eGalvanoplas tik,  Da guerrotypie  und  Photographie 
behandelu.  Die  Verfasser,  Ingenieur  G.  L.  Moll  und  Dr.  E.  Nauck, 
Director  der  Provinzialgewerbschule  zu  Grefeld,  haben  das  Allgemein- 
interessante dieser  jungen  Wissenschaften  in  leichtverständlicher  Weise 
mit  einer  für  Laien  ausreichenden  Ausführlichkeit  dargestellt,  sie  haben 
überdies  durch  72  treffliche  Holzschnitte  die  wichtigsten  Apparate  veran- 
schaulicht und  in  der  Geschichte  jener  mechanischen  und  optischen  Künste 
anziehende  kulturgeschichtliche  Bilder  entworfen. 

Die  von  S.  443—623  reichende,  durch  23  Holzschnitte  iilusrirte,  von 
Professor  Dr.  J.  Gottlieb  bearbeitet  C h e m  i e  und  chemische  Tech- 
nologie bietet  Schülern,  welche  autodidaktisch  Einblick  in  diese  Wis- 
senschaft  erlangen  wollen,  ohne  sich  nach  Stöckhardt's  trefflicher  heuri- 
stischer Methode  durch  eignes  Experimentiren  einarbeiten  zu  können,  eine 
anmutig  belehrende  Lektüre.     Dankenswerth  ist  die  ausführliche  Bespre- 
chung der  für  die  Gewerbe  wichtigsten  Stoffe  (z.  B.Leuchtgas,  Schiesz- 
pulver,Soda,  Glas,  Eisen,  Brod);  vermiszt  wird  dagegen  eine  kurze  Ein- 
fuhrung in  die  Ackerbauchemie,  deren  wichtigste  Fragen  oft  in  der  ge- 
selligen Unterhaltung  erwähnt  werden. 

Der  zweite  Band  beginnt  mit  den  bis  S.  93  reichenden  Grundzügen 
der  Physiologie,  entworfen  von  Dr.  E.  v.  Ruszdorf  in  Berlin.  Die- 
ser Abschnitt  scheint  für  die  Einführung  der  Jugend  nicht  wohi  geeignet 
zu  sein.  Für  junge  Leser  wäre  zunächst  eine  elementare  Schilderung  des 
menschlichen-Organismus  nötig,  welche  hier  weder  durch  die  gelegent- 
lichen kurzen  Erörterungen,  noch  durch  Abbildungen  (es  sind  deren  nur 
elf)  vermittelt  wird.  So  vermiszt  man  eine  Illustration  eines  Muskels  und 
einiger  Muskelgruppen ,  einiger  Gelenke ,  des  feineren  Baues  der  Drüsen 
—  Bilder,  ohne  deren  Anschauung  ein  gehöriges  Verständnis  der  mecha- 
nischen und  chemischen  Vorgänge  in  jenen  Teilen  nicht  zu  gewinnen  ist 
Auch  ist  der  Stil  der  physiologischen  Erörterungen  an  mehreren  Stellen 
nicht  der  Art,  dasz  er,  wenigstens  für  die  Schule,  ein  der  echten  Popu- 
larität entsprechender  genannt  werden  kann.  Einige  derselben  mögen 
dies  Urteil  belegen.  S.  25.  'Man  hat  sie  Proteusstoffe,  Mutterstoffe,  ge- 
nannt, die  ähnlich  wie  jene  Kröte  (!),  der  Proteus,  ebenfalls  in  wandel- 
baren Formen  schillern.'  S.  76.  'In  der  strengen  Wissenschaft,  geschäftig 
mit  dem  Pflugschaar  des  sondirenden  Experimentes ,  reist  der  Gedanke 
die  chinesischen  Mauern  des  gelehrten  Handwerker-  und  Kastengeistes 


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40  II.  Masius:  die  gesamten  Naturwissenschaften. 

nieder,  indem  er  die  natitr wissenschaftlichen  Einzelfächer  nur  als  Glieder 
eines  Organismus  betrachtet,'  —  S.  88.  eWenn  wir  Gemüt  den  allgemei- 
nen Gefühlszustand  nennen,  dessen  Grundton  das  Ichgefühl  ist,  so  sind 
alle  Gemütsgefilhle  Variationen  dieses  Gefühls,  und  alle  Strebungen,  alle 
Wtllensregungen  unmittelbare  Reflexe,  unmittelbare  Uebertragungen  die- 
ser Gefühle  auf  den  Sinn  der  That,  welchen  durch  die  Willensrichtungen 
ein  Ziel  der  Wirkung  angewiesen  wird.' 

Die  Z  o  0  I  o  g  i  e  v  o  1 1  Dr.  H.  Masius,  der  umfangreichste  Abschnitt 
des  ganzen  Werkes  (S.  97  —  400),  darf  unter  der  ansehnlichen  Zahl  ver- 
dienstlicher populärer  Thierkunden  als  eine  empfehlenswerthe  Leistung 
von  eigentümlichem  Charakter  genannt  werden.  Während  andere  Werke, 
wie  die  zoologischen  Briefe  Vogt's,  sich  als  Hauptaufgabe  steilen,  die 
Abstufungen  des  anatomischen  Baues  vom  niedern  zum  höheren  und  die| 
Entwicklung  der  Geschöpfe  nach  ihren  Altersphasen  vorzuführen;  wäh- 
rend andre,  wie  die  Naturgeschichte  von  Lenz,  sich  durch  die  Fülle  ihrer 
naiv -epischen  Erzählungen  aus  dem  Leben  der  Thiere  auszeichnen;  wäh- 
rend Leunis'  synoptische  Handbücher  durch  übersichtliche  Diagnostik  und 
knappe  Zusammeiiprcssimg  der  wichtigsten  Notizen  sich  besonders  zum 
Nachschlagen  und  zum  Einüben  des  Bestimmens  eignen:  liegt  der  Schwer- 
punkt dieser  SchrifL  in  der  planmäszigen  und  wohlgelungenen  Thier- 
physiognomik.  welche  nicht  sowol  die  oft  versteckten  und  dem  Natur- 
menschen als  künstlich  gesuchte  Wahrzeichen  erscheinenden  streng  wis- 
senschaftlichen Merkmale,  als  die  bei  der  naiven  Anschauung  unmittelbar 
sich  aufdrängenden  Charakterzüge  des  Habitus  berücksichtigt  und  in  mar- 
kigen Zügen  ein  lebendiges  Bild  der  Gestalt  und  des  Gebahrens  der  ver- 
schiedenen Geschöpfe  entwirft.  Man  könnte  diese  Methode  eine  Natur- 
ästhetik nennen;  sie  verwandelt  aber  die  sinnliche  Realität  der  Gestalten 
nicht  in  abstrakte  Begriffe,  sondern  bildet  sie  gleichsam  als  anschauliche 
Erlebnisse  plastisch  nach  und  weist  überdies  (z.  B.  S.  379)  darauf  hin, 
dasz  bei  dorn  Urteil  über  die  Rangordnung  der  Naturwesen  das  ästhetische 
Urteil  über  die  Formschön  beit  nicht  maszgebönd  sei.  Das  bekannte  Talent 
ies  Verfassers,  das  Aussehn  und  Benehmen,  die  leihliche  und  seelische 
Physiognomik  von  Pflanzen  und  Thieren  in  treffender,  lebendiger  Weise 
zu  kennzeichnen,  bewahrt  sich  auch  hier,  wo  es  galt,  in  engen  Rahmen 
vielerlei  Thiergcstallen  in  systematisch  geordneten  Gruppen  vorzuführen. 
Die  Thierbihtcr  dieser  Zoologie ,  oft  in  knappen,  epigrammatischen  Zügen 
skizzirt,  zuweilen  bis  ins  kleinste  Detail  sauber  ausgeführt,  werden  von 
Lesern,  welche  die  Natur  vom  naiven,  ästhetischen  Standpunkte  aufzu- 
fassen vorziehen  (und  solche  sind  ja  fast  alle  jugendlichen  Naturfreunde), 
zur  anmutigen  Unterhaltung  gern  betrachtet  und  mit  Nutzen  studiert 
werden.  Nächst  der  Physiognomik  ist  das  Verhältnis  der  einzelnen  Thiere 
zum  Menschen,  ihre  Benutzung  und  Bekämpfung  und  besonders  auch  der 
ästhetische  Einflusz  .derselben  auf  Kunst  und  Religion  einzelner  Völker 
eingehend  berücksichtigt,  Die  wörtliche  Anführung  von  Sprüchwörtern 
und  Volksreimen ,  sowie  von  Stellen  aus  alten  und  neuen  Schrifstellern, 
welche  die  künstlerische  Auffassung  einzelner  Thiergestalten  durch  ge- 
bildete und  rohe  Nationen  andeuten,  sind. eine  dankenswerte  Zugabe.  Dasz 


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H,  Masius:  die  gesamten  Naturwissenschaften.  41 

bei  einem  solchen  Grundplaue  die  Wirbelthiere  als  die  höheren ,  für  die 
ästhetische  Anschauung  reizenderen  und  dankbareren  und  zugleich  für 
das  wirtschaftliche  Leben  des  Menschen  weitaus  wichtigsten  bevorzugt 
werden  musten,  ist  selbstverständlich,  und  man  kann  keine  Ausstellung 
dawider  machen,  dasz  sie  307  S.  innehaben,  während  den  wirbellosen,  die 
in  einer  strengwissenschaftlichen  Uebersicht  wenigstens  den  gleichen 
Baum  beanspruchen  könnten ,  nur  165  S.  eingeräumt  ist.  Aber  die  volle 
Berücksichtigung,  die  ihnen  gebührt,  haben  die  letzteren  doch  woi  nicht 
gefanden,  da  die  allgemeine  Charakteristik  ihrer  Glassen  die  genauere 
Schilderung  einzelner  besonders  merkwürdiger  Arten  nicht  ersetzt.  So 
vermiszt  man  mit  Bedauern  bei  den  Krustern  eine  wenigstens  kurze  Schil- 
derung des  den  Kindern  oft  vorkommenden  Oniscus  und  des  Flohkrebses, 
bei  den  Würmern  den  Regenwurm  und  Blutegel ,  bei  den  Polypen  die  ein- 
heimische Hydra.  In  Betreff  der  Illustrationen  wäre  zu  wünschen,  dasz 
statt  der  Abbildungen  einiger  bekannten  Thiere  (wie  des  Pferdes ,  Huhns 
und  Wiedehopfes)  lieber  die  Bilder  einiger  Polypen  und  Infusionsthierc 
und  eine  Zeichnung  des  inneren  Baues  der  Weich  -  und  Slrahlthiere  ge- 
geben werden  möge. 

In  der  B  o  t  a  n  i  k  (S.  403—664)  behandelt  der  Verfasser ,  Dr.  D  i  p  p  e  1 
inldar,  in  ansprechender  und  ausführlicher  Weise  zuerst  die  Geographie 
und  Aeslhetik  der  Gewächse,  dann  von  S.  437 — 457  die  mikroskopische 
Anatomie  der  Gewebsteile,  von. S.  458 — 491  die  Organographie  und  Phy- 
siologie der  Pflanzen,  namentlich  auch  der  Gryptogamen,  welche  in  ähn- 
iichen  Schriften  oft  stiefmütterlich  angesehen  sind,    dann  gibt  er   von 
S.  #3—622  die  Beschreibung  der  wichtigsten ,  besonders  vollständig  der 
für  die  menschlichen  Verhältnisse  einfluszreichsten  Pflanzen ,  unter  deren 
Zahl  nur  wenige  (wie  das  Mutterkorn)  vermiszt  werden,   während  wol 
auch  die  Uebertragung  des  Karloflelkrautpilzes  auf  die  Knollen  und  die 
Verbreitung  des  Traubenpilzes  eine  Angabe  verdient  hätten.     Von  S.  622 
—643  wird  die  Verwendung  der  Pflanzenstoflfe  im  Dienste  des  Kultur- 
lebens erörtert  und  zum  Schlusz  ein  Abrisz  der  Geschichte  der  Wissen- 
schaft gegeben.    Zu  wünschen  wäre,  dasz  die  so  vollständige  Abhandlung 
auch  einen  Gegenstand,  den  leider  die  meisten  populären  W7erke  bei  Seite 
lassen ,  vorgeführt  hätte.    Dies  ist  eine  faszliche  Darstellung  der  strengen 
and  genauen  Methode,  nach  welcher  die  Wissenschaft  die  Arten  durch 
kurze,  scharf  bestimmte  Ausdrücke  kennzeichnet  und  mehrere  Arten  zu 
Gattungen  und  Familien  gruppirt.     Durch  die  streng   wissenschaftliche 
Beschreibung  einiger  bekannten  Pflanzen  (etwa  der  Stachel-  und  Johannis- 
beere, der  Schlehe  und  des  Kirschen-  und  Pflaumenbaumes)  hätte  der 
Laie  eine  Vorstellung  von   der  ihm  unverständlichen  und   zuweilen  als 
lächerliche  Kleinigkeitskrämerei  erscheinenden  diagnostischen  und  grup- 
pirenden  Thätigkeit  der  Systematiker  gewonnen.    Sonst  sind  dem  Referen- 
ten noch  folgende  Punkte  vorgekommen ,  mit  denen  er  sich  nicht  einver- 
standen erklären  kann.    In  der  Darstellung  der  mikroskopischen  Anatomie 
ist  leider  weder  das  Verfahren  der  Präparation  beschrieben ,  noch  bei  den 
Abbildungen  die  Stärke  der  Vergröszerung  angegeben,  weshalb  der  Laie 
über  manches  unklare  und  unrichtige  Vorstellungen  bekommen  wird.    In 


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[I.  Musiusi  die  gesamten  Naturwissenschaften 


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Betreff  der  llkisE r^l iuneii  wären  wo!  slalt  der  Abbildungen  allbekannter 
Pflanzen  (wie  des  Gänseblümchens,  Veilchens,  der  Lilie  und  Gerste  und 
zumal  stau  der  wenig  gelungenen  Ullrichen  von  unsern  Waldbäumen)  die 
Zeichnungen  von  der  Blut«  de*  Nadelhölzer  undBecherfrüchller,  vom  Bau 
der  Üivhishluiue  und  von  mehreren,  in  der  Geographie  vielgenannten 
Kulturpflanzen  (Oclhaum,  Batate.  Maniok,  Yam  u.  dgl.)  vorzuziehn.  Der 
Stil  des  Verfassers  neigt  an  mehreren  Stellen,  namentlich  in  der  Einleitung, 
zu  einem  leider  viel  verbreiteten ,  unpassenden  Poetisiren.  Es  scheint 
werler  der  populären  Wissenschaft  angemessen,  noch  von  besonderem 
-  stilistischem  Verdienste ,  wenn  in  der  Schilderung  des  Jahreslebens  der 
Flora  der  Winter  bezeichnet  wird  als  'der  düster  blickende  Alte,  der 
seine  Eisbluuien  an  die  Fenster  malt  und  den  Schneemantel  fester  wie  im 
Grimme  um  die  Schulter  schlägt*  Abgesehen  von  diesen  kleinen  Mängeln 
bietet  aber  die  Abhandlung  der  Jugend  eine  Fülle  wissenswerthen  Stoffes 
in  ansprechender  Form. 

Den  dritten  Band  eröffnet  die  Mineralogie  (S.  1 — 104),  bearbei- 
te* von  dem  als  Forscher  wie  als  populärer  Schriftsteller  anerkannten 
Professor  Quenstedl  in  Tübingen.  Er  hat  die  schwierige  Aufgabe, 
Laien,  ohne  jL-leichzeiiig  Sehaustücke  vorzeigen  zu  können,  die  wesent- 
lichsten Eigenschaften,  Gcwinnuugs-  und  Verwendungsarten  der  Minera- 
lien faszlicli  und  anziehend  zu  erzählen ,  glücklich  gelöst.  Sein  Vortrag 
ist  natürlich,  munter,  der  lebendigen ,  nicht  auf  besoudere  Zierlichkeit 
berechneten  Rede  ähnlich  und  durch  anekdotische  Zugaben  gewürzt.  Die 
Abhandlung  ist  jungen  Lesern  als  erste  Einführung  zu  empfehlen;  zu 
wünschen  wäre  für  solche  eine  kurze  Anleitung  zum  Sammeln  der  ge- 
wöhnlichen Vorkommnisse  und  zu  deren  näherem  Studium  gewesen. 

Die  Geognosie  und  Geologie  von  Dr.  J.  Nöggerath,  Berg- 
ralh  und  Professor,  dem  als  Verfasser  populärer  Schriften  allgemein  be- 
kannten Gelehrten,  überschreitet  in  der  Zumessung  des  Stoffes  (S.  107 — 
329)  wol  die  Grenzen  des  für  junge  Leser  notwendigen  (so  durch  die  aus- 
führliche Angabe  der  zahlreichen  Unterabteilungen  der  einzelneu  Forma- 
tionen und  ihrer  britischen  und  französischen  Aequivalente,  und  durch 
die  Aufzahlung  der  Kamen  vieler  Lcitpetrefakte,  deren  Beschreibung  und 
Zeichnung  nicht  beigegehen  ist);  sonst  verdient  aber  diese  Abhandlung 
eines  zuverlässigen  Sachkenners,  welcher  die  geologische  Urgeschichte 
mit  der  Bescheidenheit  eines  Forschers  ohne  verwegene  Hypolheseu  und 
ohne  die  bengalische  Flammen beleuchtung  der  Phantastik  erzählt,  der 
Jugend  empfohlen  zu  werden.  Besonders  ist  als  Illustration  und  weitere 
Ausführung  mancher  in  den  Unterrichtsstunden  der  physischen  Geographie 
erwähnten  Thatsachen  den  Schülern  der  oberen  Classen  das  Studium  der 
Abschnitte  vom  Vulkanismus  (S.  117— 145),  von  den  Gletschern  und  von 
den  Korallen  anzuralhen. 

Höchst  anziehend  für  Knaben*  welche  fast  alle,  wrie  der  junge  Theo- 
dor Körner,  im  Bergmannsheruf  ein  Leben  von  eigentümlichen  poetischen 
Beizen  erblicken,  wird  der  Ahrisz  der  Bergbau-  und  Hüttenkunde 
sein,  welche  auf  S.  323—426  der  Bcrgrath  L ottner  in  faszlicher  Dar- 
stellung gibt. 


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H.  Masius:  die  gesamten  Naturwissenschaften.  43 

Ebenso  dürfte  der  folgende  Abschnitt:  das  Meer  vonDr.  H.Rom - 
berg,  Navigationslehrer  zu  Bremen,  eine  Lieblingslektüre  der  Jugend  wer- 
den. Die  Physik  des  Weltmeeres ,  der  Einflusz  des  Oceans  auf  die  klima- 
tischen Verhältnisse  der  Erde ,  die  Strömungen ,  Wellen  und  Gezeiten, 
die  Eisbildung ,  der  Grund  und  die  Ufer  des  Meeres,  das  organische  Leben 
im  Salzwasser  und  die  wissenschaftlichen  Grundlagen  der  Schiffahrt  finden 
darin  (von  S.  427 — 546)  eine  ausreichende ,  klare  und  anziehende  Dar- 
stellung. 

Die  Astronomie  (S.  547 — 640),  verfaszt  vom  Professor  M  9dl  er  in 
Dorpat,  ist  —  wofür  schon  der  Name  des  Verfassers  bürgt  —  ein  Muster 
populärer  Darstellung  im  höheren  Stil,  welches,  ohne  der  Würde  der 
Wissenschaft  im  geringsten  zu  vergehen ,  die  ernste  Lehre  von  der  Me- 
chanik des  Himmels  durch  Einwebung  von  geschichtlichen  Thatsachen  und 
vod  geistvollen  Reflexionen  zur  anmutigen  Lektüre  macht.  Zur  allerersten, 
elementaren  Einführung  weniger  geeignet,  wird  diese  Abhandlung  dagegen 
reiferen  Schülern  zum  ebenso  anziehenden,  als  nützlichen  Studium  dienen. 

Die  Ausstattung  des  Buches  ist  schön.  Der  Druck  läszt  nur  in  der 
ßotanik  durch  manche  Druckfehler  in  den  lateinischen  Pflanzennamen  zu 
wünschen  übrig.  Die  Holzschnitte  sind  allermeist  lobenswert;  nur  ein- 
zelne, welche  organische  Naturkörper  darstellen  (z.  B.  das  Bilsenkraut, 
die  Lilie,  manche  deutsche  Bäume),  sind  nach  unvollkommenen  Zeichnun- 
gen gemacht  und  einige  in  der  technischen  Ausführung  weniger  gelungen. 

Nach  dem  Mitgeteilten  darf  denn  woi  die  vorliegende  Encyclopädie 
.ils  ew  für  die  Schüler  von  Gymnasien  und  Realschulen  empfehlenswertes 
Lesebuch  bezeichnet  werden,  welches  an  Reichhaltigkeit  die  meisten 
andern  übertrifft.  Jüngeren  Lesern  werden  namentlich  die  naturgeschicht- 
lichen  Abteilungen  und  die  Abhandlungen  über  den  Bergbau  und  das  Meer, 
älteren  die  Geologie,  die  Lehre  von  der  Dampfmaschine,  von  der  Tele- 
graphie,  Galvanoplastik  und  Photographie  und  von  der  Astronomie  anzu- 
raten sein,  Zu  wünschen  wäre,  dasz  die  Verlagshandlung,  wie  es  mit 
der  Zoologie  geschehn  ist*),  Unbemittelten  auch  den  Ankauf  einiger  an- 
dern Abschnitte  als  Einzelwerke  ermöglichen  könnte.  Gewisz  möchten 
viele  junge  Leute  die  Abhandlung  von  der  Dampfmaschine,  die  Meeres- 
kunde und  andre  Abschnitte  gern  als  Zugabe  zu  'ihrem  Koppe'  und  'ihrem 
Daniel5  erwerben. 

R.    •  Dr.  S. 


*)  Die  Thierwelt.     Charakteristiken  von  Dr.  Hermann  Masius. 
Zweite  unveränderte  Auflage.     Essen,  Bädeker.     1862. 


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44  Berichl  über  ilir  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

6. 

Bericht   über   clie  Verhandlungen  der  zweiundzwanzigsten 

Versammlung    deutscher  Philologen    und  Schulmänner  in 

Meiszen  vom  29.  September  bis  2.  October  1863. 


[Vorbemerkung:  Durch  besondre  Güte  der  Redaktionscommission  ist 
der  unterzeichnete  Berichterstatter  in  der  Lage  gewesen,  neben 
seinen  eignen  Aufzeichnungen  auch  die  offiziellen  Niederschriften 
benutzen  und  teilweise  Einsicht  in  die  Manuscripte  der  Redner  neh- 
men zu  können.  Wenn  er  trotzdem  die  ganzen  Verhandlungen  nur 
im  Ansznge  mitteilt >  so  hat  ihn  dazu  die  naheliegende  Rücksicht 
bestimmt,  dnsz  dem  Vertrieb  der  in  gleichem  Verlage  erscheinen- 
den f  Verhandlungen7  durch  das  Referat  in  dieser  Zeitschrift  nicht 
allzusehr  Abbruch  gcthan  werden  dürfe.] 

Auf  der  vorjährigen  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schul- 
männer zu  Augsburg  (s.  Jahrg.  1863.  Heft  2.  3  dies.  Zeitschr.)  war 
Meiszen  zum  Ort  der  nächsten,  zweiundzwanzigsten,  Versammlung  und 
als  Präsident  derselben  liector  Prof.  Dr.  Franke  daselbst  gewählt  wor- 
den j  dem  die  Wahl  eines  zweiten  Präsidenten  überlassen  bleiben  sollte. 
Diese  Wahl  fiel  auf  den   Director  Prof.  Dr.  Dietsch  in  Plauen. 

Ein  groszer  Teil  der  gelehrten  Gäste  traf  bereits  am  28.  September 
in  Welszen  ein,  jeder  Bahnzug  brachte  neue  Schaaren,  welche,  von 
Mitgliedern  des  Lük&leomite's  geleitet,  durch  die  mit  sächsischen  und 
deutschen  Fahnen  und  zahlreichen  Laubgewinden  geschmückten  Stra- 
szen  der  altehrwürdigen  Misnia  nach  dem  auf  dem  Rathhaus  eingerich- 
teten Wohnnngsbureau  wanderten.  In  den  späteren  Abendstunden  ver- 
einigten flieh  die  bereits  eingetroffenen  zu  einer  geselligen  Zusammen- 
kunft tu  den  festlich  geschmückten  Lokalitäten  des  cFelsenkellers.' 
Nach  den  in  den  folgenden  Tagen  ausgegebenen  Präsenzlisten  stieg  die 
Zahl  der  Mitglieder  auf  312,  so  dasz  die  diesjährige  Versammlung  zu 
den  stärker  besuchten  gehört.  Sachsen  war  in  der  Präsenzliste  mit  144 
Nummern  vertreten  (darunter  15  Universitätslehrer,  9  Gymnasialrecto- 
ren,  53  Gymnasiallehrer,!.  Die  übrigen  168  Nummern  verteilen  sich  un- 
ter die  andern  deutsehen  und  auszerdeutschen  Länder  folgend ermaszen: 
Preuszen  101;  Oesten-eich  9;  Bayern  8;  Hannover  und  Oldenburg  5; 
Württemberg  und  Baden  2;  Sächsische  Herzogthümer  9;  Mecklenburg  3; 
die  beiden  Hessen  8;  Holstein,  Braunschweig,  Frankfurt  3.  —  Rusz- 
land  10  (Dr.  Fritsehe,  v.  Siennitzky,  Schiehowsky,  v.  Bradke, 
vt  Slepzoff,  Engelmann,  Graff,  v.Paucker,  Krannha^s,  Berk- 
holz);  Norwegen  1  (Lökke);  Niederlande  1  (Juynboll);  Frankreich  1 
(Oppertj;  Schweiz  2  (titähelin,  Vischer*);  Italien  1  (Ettore  de 
Ruggiero]:  Türkei  1  (Mordtmann  aus  Constantinopel);  Asien  2  (Ro- 
sen aus  Jerusalem,  Long  aus  Calcutta);  Amerika  1  (Comfort  aus 
Neuyork). 

Der  Berichterstatter  unterläszt  es,  einen  specielleren  Auszug  aus 
der  Präsenzliste  zu  geben,  da  es  äuszerst  schwierig  ist,  für  die  Aus- 
wahl aus  einer  so  groszen  Anzahl  hervorragender,  in  den  verschieden- 
sten Zweigen  der  philologischen  Wissenschaft  ausgezeichneter  Gelehr- 
ten ein  festes  Prineip  zu  finden  und  dasselbe  zugleich  consequent  und 
mit  kundigem  Urteil  durchzuführen. 


*}  Prof.  Lazarus  aus  Bern  traf  erst  am  dritten  Versammlungstage 
ein,  ist  daher  in  der  Präsenzliste  nicht  mit  aufgeführt. 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.   45 

I.  Allgemeine  Sitzungen. 

Erste  Sitzung,  deu  29.  September.    Präsident:  Rector  Prof.  Dr.  Franke. 

Dienstag,  den  29.  Sept.  9V4Uhr  wurde  die  erste  allgemeine  Sitzung 
der  zweiundzwanzigsten  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schul- 
männer in  Gegenwart  des  Staatsministers  Dr.  v.  Falkenstein,  Exe. 
und  des  Geheimen  Kirchen-  und  Schulraths  Dr.  Gilbert  im  Festsaale 
der  Fürstenschule  durch  den  Präsidenten  eröffnet.  Wir  lassen  die  kurze 
Ansprache,  mit  der  derselbe  die  Versammlung  begrüszte,  dem  Wort- 
laute nach  folgen: 

'Hochgeehrte  Herrn!  Ich  heisze  Sie  im  Namen  der  hohen  Staats- 
regierung, im  Namen  der  Stadt  Meiszen  und  auch  in  dem  der  Schule, 
in  deren  Räumen  Sie  versammelt  sind,  auf  das  Herzlichste  bei  uns  will- 
kommen. Wir  wissen,  welchen  Segen  die  wissenschaftlichen  Verhand- 
lungen und  der  persönliche  Verkehr  so  vieler  bedeutender  Gelehrten 
und  Jugendlehrer  auch  für  unsere  Schule  haben  wird;  wir  wissen,  dasz 
jeder  Fortschritt  in  der  Wissenschaft  mehr  oder  weniger  für  die  Schu- 
len verwendet  wird  und  ihnen  zu  gute  kommt,  und  dasz  diese  Tage 
nicht  blosz  für  uns  eine  reiche  Quelle  vielfacher  Anregung  und  mannig- 
facher Belehrung  sein  werden.  Darum  haben  wir  uns  gefreut  und  dan- 
ken Ihnen  dafür,  dasz  Sie  diese  alte  Fürstenstadt  zu  Ihrem  diesjähri- 
gen Versammlungsorte  gewählt  haben.  Sind  auch  die  Räumlichkeiten, 
die  wir  Ihnen  zu  Ihren  Versammlungen  bieten  können,  enger  und  be- 
schränkter, als  Ihnen  an  anderen  Orten  zu  Gebote  gestanden  haben, 
so  sind  sie  doch  geheiligt  durch  das  Andenken  an  die  groszen  Fürsten, 
welche  sich  durch  die  Stiftung  der  Landesschulen  ein  so  wesentliches 
nnd  bleibendes  Verdienst  um  die  Pflege  der  Wissenschaften  und  gauz 
besonders  um  die  Befestigung  der  Reformation  erworben  haben,  gehei- 
ligt durch  die  Erinnerung  an  die  groszen  Männer,  welche  in  diesen 
3/aaern  den  ersten  Grund  zu  ihrer  Grösze  und  ihrem  Ruhm  gelegt  ha- 
ben. fChristo  et  studiis',  der  Wahlspruch  der  Landesschule,  ist  auch 
der  Wahlspruch  dieser  Versammlung.  Lassen  Sie  uns  daher  mit  Gott 
unsere  Verhandlungen  beginnen!  Er  wolle  dieselben  für  die  Wissen- 
schaft und   somit  auch  für  die  Schulen  und  für  das  Vaterland  segnen! 

Hochgeehrteste  Herren!  Sie  haben  auf  Ihrer  21.  Versammlung  in 
Augsburg  mich  zum  Präsidenten  der  diesjährigen  Sitzung  gewählt.  Ich 
babe  diese  Ehre  angenommen,  nicht  als  ob  ich  mich  derselben  für 
würdig  gehalten  oder  als  ob  ich  geglaubt  hätte,  den  Pflichten,  welche 
mir  dieselbe  auferlegt,  zu  Ihrer  Zufriedenheit  gerecht  werden  zu  kön- 
nen, sondern  weil  ich  die  Ueberzeugung  habe,  dasz  Sie  durch  diese 
Wahl  diese  altehrwürdige  Schule  haben  ehren  wollen,  deren  Vorstand 
zu  sein  ich  so  glücklich  bin.  Darum  glaube  ich  auch  Ihrer  gütigen 
Nachsicht  gewis  sein  zu  können,  und  bitte  Sie  um  dieselbe,  wenn  ich 
in  der  Verwaltung  meines  Amtes  bei  meiner  Unbekanntschaft  mit  den 
Formen  parlamentarischer  Verhandlungen  weit  hinter  Ihren  Erwartun- 
gen zurückbliebe.  Ich  erkläre  hiermit  die  22.  Versammlung  deutscher 
Philologen  und  Schulmänner  für  eröffnet.' 

Nach  diesen  Eröffnungs Worten  wurde  zuvörderst  das  Bureau  con- 
stituiert  Auf  Vorschlag  des  Präsidenten  wurden  zu  Sekretären  er- 
wählt: Prof.  Dr.  Döhner  aus  Meiszen,  Dr.  Grautoff  aus  Glogau,  Dr. 
Richter  aus  Plauen  und  der  unterzeichnete  Berichterstatter.  Hierauf 
wurde  die  Commission  zur  Bestimmung  des  nächsten  Versammlungs- 
ortes ernannt;  dieselbe  ward  zusammengesetzt  aus  dem  diesjährigen 
Präsidium  und  den  Präsidenten  der  früheren  Versammlungen,  den  Her- 
ren Proff.  DD.  G.  T.  A.  Krüger,  Vischer,  Eckstein,  Haase, 
Halm,  Fleckeisen,  und  noch  zu  ernennenden  Deputierten  der  orien- 
talischen und  germanistischen  Section.  Es  folgte  hierauf  die  Verlesung 
der  ersten  Präsenzliste,   der  Berliner  Statuten  von   1850,   sodann  ge- 


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46  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

scfaaftlicha  Mitteilungen  des  Präsidenten,  in  der  Hauptsache  bezüglich 
auf  das  aufgestellte  Festprogramm,  und  die  Verteilung'  der  der  Philo- 
lu^enversaintnlung  gewidmeten  litterarischen  Festengaben.  [Alle  diese 
werden  am  Sehlusz  des  Berichts  über  die  allgemeinen  Verhandlungen 
im  Zusammenhange  aufgeführt  werden.] 

Hierauf  ward  zur  Tagesordnung  übergegangen.  Vicepräsident  Prof. 
Biets  eh  bat  zunächst  im  Namen  des  Präsidiums  um  Entschuldigung, 
dasz  dasselbe  mit  seiner  Ankündigung  und  dem  Programm  der  dies- 
jährigen Versammlung  so  spät  hervorgetreten  sei  und  die  Zusendung 
der  Programm?  an  «Jle  einzelnen  Anstalten  und  Gelehrten  unterlassen 
habe.  Eh  sei  schlechterdings  unmöglich  gewesen,  den  Bestimmungen 
der  Statuten  in  diesem  Punkte  genau  nachzukommen.  Sodann  moti- 
vierte er  die  Verteilung  der  Vorträge  auf  die  einzelnen  Tage.  Das 
reiche  Material  habe  zum  Teil  den  Sectionen  zugewiesen  werden  müs- 
sen p  doch  würden  sieh  die  Vorstände  derselben  gewis  bereit  finden 
lassen,  für  einzelne  Vorträge  von  allgemeinem  Interesse  (z.  B.  für  die 
Gedächtaisrede  auf  Jacob  Grimm,  Gosche  über  phrygische  Inschrif- 
ten, Mordtmann  über  die  Zigeuner)  Stunden  anzusetzen,  in  denen 
die  ganze  Versammlung  zugegen  sein  könne.  (Es  erfolgt  kein  Wider- 
spruch.) 

Der  Präsident  machte  hierauf  den  Vorschlag,  der  sofort  ange- 
nommen ward,  den  von  der  vorjährigen  Versammlung  gebliebenen  Rest 
von  34  Thlr,  auf  den  Ankauf  einer  Anzahl  Exemplare  der  cVerhand- 
lungen  der  Augsburger  Philologenversammlung'  zu  verwenden  und  die- 
selben an  diejenigen  zu  verteilen,  welche  die  Zwecke  jener  Versamm- 
hing hauptsächlich  gefordert  hätten. 

Nach  Erledigung  dieser  Aeuszerlichkeiten  hielt  Vicepräsident  Direc- 
tor  D  i  eU  eh  den  ersten  der  angekündigten  Vorträge:  cüb  er  G.  E.  Les- 
sing als  Phi  lolo  gen.' 

Nichts  könne  einem  zu  Meiszen  versammelten  Kreise  von  Philolo- 
gen näher  liegen,  damit  beginnt  der  Redner,  als  das  Andenken  an  den 
grosten  Schüler  der  Schule  zu  St.  Afra,  Gotthold  Ephraim  Les- 
sing, der  vom  '21.  Juni  1741  bis  zum  30.  Juni  1746  an  dieser' Stätte 
die  Vorbereitung  zur  gelehrten  Bildung  erhalten  habe,  in  dankbarer 
Anerkennung  seiner  ausz erordentlichen  Verdienste  um  unser  Volk,  un- 
sere Liitcratur  und  speciell  die  philologische  Wissenschaft  zu  erneuern. 
Sei  es  doch  neben  Wiukelmann  vor  allem  Lessing  gewesen,  der  den 
Morgen  einer  neuen  kulturhistorischen  Periode  und  gleichsam  'das 
zweite  Wiederaufleben  des  Altertums'  herbeigeführt,  der  die  philolo- 
gische Wissenschaft  nicht  allein  durch  die  Resultate  seiner  Forschung, 
sondern  besonders  durch  Aufzeigung  der  richtigen  Methode,  umfängliche 
Aufsuchung  der  Quellen,  gründliche  Wort-  und  Sacherklärung,  elas- 
tische Form  der  Darstellung  mächtig  gefördert  und  in  engste  Be- 
ziehung zum 'National  leben  gesetzt  habe.  Nenne  ihn  doch  Dan - 
Sei  (Leben  L.  I  ß,  26)  geradezu  einen  cPhilologen';  die  pädagogische 
Bedeutung  des  grossen  Mannes  aber  sei  in  schönster  Weise  von  G. 
Baur  (Encyel.  d.  Krziehungs-  und  Unterrichtswesens  v.  Schmid  III 
S.  4Ü 1—415)  nachgewiesen  und  ins  gebührende  Licht  gesetzt  worden. 

LessLng's  Schulzeit  in  Meiszen  sei  von  Danzel  in  einem  für  die 
Schule  zu  ungünstigen  Lichte  dargestellt  worden.  Die  grosze  Zahl 
der  Religionsstunden  und  Religionsübungen  sei  in  dem  Geist  und  den 
Anschauungen  der  damaligen  Zeit  begründet  gewesen,  die  ungünstigen 
Aeuszerungen  L.Ts  aber  über  den  Geist  der  Schule  und  ihrer  Lehrer, 
besonders  über  den  Conrector  Höre  (W.  XII  S.  23),  seien  wol  nur  als 
Aeuszerungen  augenblicklichen  Mismutes  zu  fassen,  da  L.  an  einer  an- 
dern Stolle  sich  die  im  engen  Bezirk  der  klostermäszigen  Schule  ver- 
lebten Jahre  (W.  IV  S.  4)  als  die  glücklichsten  seines  Lebens  zurück- 
wünsche, und  dankbar  anerkenne,  dasz  er  den  festen  Grund  seines 
Wisaens   dieser  Anstalt  au  verdanken  habe.     Besonders  sei  die  Grund- 


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Bericht  übe  r  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  47 

einrichtuug  der  Fürstenschulen,  nach  der  dem  selbständigen  Studium 
möglichst  viel  freie  Zeit  eingeräumt  werde,  für  Lessing  wie  für  Klop- 
stock  sehr  förderlich  gewesen;  durch  dieses  Selbststudium  sei  er  schon 
auf  der  Schule. mit  Theophrast,  Plautus  und  Terentius  gründlich  ver- 
traut worden.  Dasz  aber  der  deutsche  Unterricht,  den  L.  genossen, 
sich  nicht  blosz  auf  die  Einübung  des  Canzlei-  und  Uebersetzungsstils 
beschränkt  habe,  das  beweise  der  Stil,  den  Lessing  schon  als  Schüler 
geschrieben.  Seien  doch  Gärtner,  Geliert  und  Rabener  wahrscheinlich 
schon  in  Meiszen  zur  Schriftstellerei  angeregt  worden,  habe  doch  L. 
selbst  nach  Danzel's  Nachweis  (I  S.  49)  bereits  als  Schüler  den  Plan 
zu  seinem  'jungen  Gelehrten'  entworfen.  Auch  die  Behauptung  des  ge- 
nannten Biographen,  dasz  die  Entfremdung  von  der  Heimat  'nicht  die 
schönste  Frucht  von  L.1s  Aufenthalt  auf  der  Fürstenschule'  gewesen 
sei,  sei  auf  das  rechte  Masz  zurückzuführen:  L.  habe  in  Meiszen  bald 
eine  gewisse  Persönlichkeit  und  ein  sehr  bestimmtes  Gepräge  des  Cha- 
rakters erhalten,  aber  weder  die  Liebe  zu  Eltern  und  Geschwister  noch 
die  Hauptgrundsätze  seines  elterlichen  Hauses  habe  die  Schule  in  ihm 
zerstört. 

Der  Einflusz  dieser  auf  der  Schule  begonnenen  und  auf  der  Univer- 
sität mit  Eifer  (unter  Ernesti's  und  Christas  Leitung)  fortgesetzten  alt- 
classischen  Studien  zeige  sich  schon  in  den  -frühesten  Schriften  'in  den 
Beiträgen  zur  Historie  und  Aufnahme  des  Theaters'  und  in  der  'Ab- 
handlung über  Plautus'.  Letztere  Abhandlung,  obgleich  nach  dem 
Musterschema  der  frühern  Philologen  angelegt  und  in  der  Aufzählung 
der  Ausgaben  und  Behandlung  einzelner  gelehrter  Fragen  der  neuern 
Wissenschaft  gegenüber  manche  Blöszo  bietend,  zeuge  doch  unwider- 
stehlich von  der  Gründlichkeit  seiner  Forschung,  seiner  straffen  Me- 
thode und  der  Selbständigkeit  seines  Urteils;  sie  habe  zuerst  z.  B.  die 
volkstümliche  Komik  der  Captivi  ins  rechte  Licht  gesetzt,  oberfläch- 
liche Urteile  von  Bayle  u.  a.  abgewiesen  und  das  des  Horaz  (a.  p.  270. 
sqqj  limitiert;  richtige  Winke  und  gute  Muster  für  eine  zweckenspre- 
chende Uebersetzung  gegeben,  wie  wir  von  ihm  bekanntlich  auch 
lebersetzungen  aus  Horaz,  Aristoteles*  Poetik,  Terentius,  Tertnllian 
besäszen.  Aber  in  den  Arbeiten  über  Plautus  habe  Lessing  auch  die 
Kritik  und  Exegese  vieler  andrer  Schriftstoller  gefördert.  Selbst  wenn 
seine  Conjecturen,  wie  man  es  ihm  vorgeworfen,  in  der  Mehrzahl  rois- 
glückt  wären,  habe  er  sich  doch  meist  um  die  Erklärung  der  behan- 
delten Stellen  ein  groszes  Verdienst  erworben  dnreh  seine  Exegese, 
scharfsinnige  Aufspürung  von  Fehlern  und  Widersprüchen  und  selten 
and  mit  Vorsicht  angewendeten  Geschmacksurteile.  Die  Unkenntnis  der 
Grundsätze  diplomatischer  Textkritik  werde  ihm  kein  billiger  Beurteiler 
zur  Last  legen,  zumal  da  Lessing  so  bescheiden  von  seinen  philologi- 
schen Bemühungen  gedacht  habe  fW.  VIII  S.  8). 

Ebenso  verdient  habe  sich  Lessing  um  Horaz  gemacht  durch  sein 
rVademecum  für  Herrn  Samuel  Gotthold  Lange7  und  die  'Rettungen 
des  Horaz',  obgleich  er  in  der  letzteren  Schrift  in  fast  allen  Punkten 
über  das  Ziel  hinausgehe.  Wenn  auch  Lessing  in  der  Erklärung  ein- 
zelner Stellen  mehrfach  selbst  irre,  so  habe  er  doch  das  grosze  Ver- 
dienst, den  Dichter  gegen  die  Verunglimpfungen  durch  anmaszende  Un- 
wissenheit und  erbärmliche  Verleumdung  siegreich  vertheidigt  zu  ha- 
ben. In  der  Abhandlung  'über  die  Tragödien  des  Seneca'  zeige  sich 
Lessing  zwar  noch  in  den  Theorieen  der  französischen  Aesthetiker  be- 
fangen, doch  bereite  sich  schon  die  Freiheit  des  Urteils  vor,  die  im 
Laokoon  so  siegesfroh  heraustrete.  Auch  die  in  den  Abhandlungen 
'von  der  Fabel'  gegebenen  kritischen  und  exegetischen  Bemerkungen, 
besonders  aber  die  scharfsinnige  Definition  und  Charakteristik  dieser 
Dichtgattung  habe  viel  zum  besseren  Verständnis  derselben  und  zur 
rechten  Würdigung  der  Leistungen  der  Alten  in  ihr  beigetragen.  In 
den  Arbeiten  'über  das  Epigramm'  aber  und  'die  vorzüglichsten  Epi- 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 


.trram  misten'  habe  Lessing  erstens  mit  unerbittlicher  Consequenz  alle 
Afterarten  dieser  Gattung  ausgeschieden  und  dann  viele  schätzbare  Bei- 
träge zum  Verständnis  wie  Logau's  und  Wernike's,  so  besonders  des 
Martial  geliefert.  Viel  bestimmter  aber  als  in  allen  früheren  Schrif- 
ten sei  der  Satz,  dasz  fdie  altclassische  Litteratur  für  die  deutsche  das 
wahre  Muster  und  Correctiv'  sei,  ausgesprochen  in  den  Litteratur- 
b riefen,  in  denen  zugleich  die  in  der  Geschichte  der  Pädagogik  so 
denkwürdige  Bekämpfung  der  seichten  Basedöw'schen  Unterrichtsprin- 
eiplen  und  manches  beherzigenswerthe  Wort  über  den  Werth  der  Alter- 
tumes tu  dien,  den  Unterschied  von  Altertumskunde  und  Altertumskräme- 
rci,  von  r  Gelehrten'  und  f  schönen  Geistern'  sich  finde.  Ueber  fdas 
Leben  des  Sophokles'  beruft  sich  der  Redner  auf  das  Zeugnis  von  Th. 
Berg-k  und  ala  unläugbar  richtige  Resultate  der  Schrift  bezeichnet  er 
den  Nachweis  der  Zugehörigkeit  des  Triptolemus  zur  ersten  Tetralogie 
des  Sophokles,  die  Erörterungen  über  den  Tritagonisten  bei  Aeschylos 
und  über  die  Masken  des  Thamyris,  über  das  Abhängigkeitsverhältnis 
des  Sophokles  und  Aeschylos  u.  a.  m.  Die  schönste  Frucht  dieser  Studien 
aber  sei  der  'Laokoon',  jenes  vom  18jährigen  Goethe  mit  Begeiste- 
rung aufgenommene,  in  die  ästhetische  Anschauung  der  ganzen  Zeit 
tiefe  umgreifende  Meisterwerk  Lessing's,  in  dem  die  von  Winkelmann 
entdeckten  Gesetze  der  Kunst  philosophisch  begründet,  ergänzt  und 
berichtigt  und  zugleich  an  den  hervorragendsten  Litteraturwerken  nach- 
gewiesen seien»  Irtümer  Lessing's  —  sowol  in  der  Bestimmung  der 
Qrenaeti  von  Malerei  und  Plastik  als  auch  in  der  Deutung  der  Lao- 
koongruppe  und  der  Feststellung  ihrer  Entstehungszeit  —  lieszen  sich 
nicht  abläugnen,  aber  sie  verschwänden  neben  den  groszartigen  Siegen, 
die  Leasings  Dialektik  erfochten  habe  über  die  Vergötterer  der  römi- 
schen Kiinstimesie,  die  Verehrer  der  Malerei  in  der  Dichtung  und  die 
antiquarischen  Exegeten,  welche  in  unverständiger  Weise  antike  Kunst- 
werke zur  Erklärung  der  Schriftsteller  herbeizogen.  Der  Redner  ent- 
wickelte hierauf  die  groszen  Verdienste,  die  sich  Lessing  in  der  Ura- 
nia tnrgie'  iLm  die  Poetik  des  Aristoteles  erworben,  indem  er  zuerst 
in  dieser  Heb  ritt  mit  Scharfsinn  Schwierigkeiten  und  Widersprüche  auf- 
gedeckt und  den  Weg  angebahnt  habe,  den  in  neuerer  Zeit  Bernays 
mit  Lessing'schem  Geist  weiter  verfolgt  habe.  Hieran  knüpfte  der  Red- 
ner den  Nachweis,  in  wie  vielfacher  Weise  in  dieser  Schrift  von  Les- 
sing das  Studium  des  Euripides,  Aeschylos,  Aristophanes  und  Terentius 
durch  Behandlung  allgemeiner  Fragen  und  Besprechung  einzelner  Stel- 
len gefördert  worden,  während  die  wahre  philologische  Methode  der 
Archäologie  gegen  Klotz  und  ähnliche  Geister  in  den  'antiquarischen 
Briefen'  und  durch  die  Discussionen  über  fdie  homerischen  Gemälde,  Bil- 
der der  Furien'  und  über  rdie  geschnittnen  Steine'  und  andere  gröszere 
und  kleinere  Aufsätze  mit  ebenso  viel  Scharfsinn  als  Akribie  und  Sach- 
kenntnis von  ihm  vertheidigt  und  festgestellt  worden  sei. 

Zum  Schlusz  warf  der  Redner  noch  einen  Blick  auf  L.'s  Tkätigkeit 
als  Bibliothekar  zu  Wolfenbüttel,  die  sowol  durch  Förderung 
der  Arbeiten  Andrer  als  durch  die  Publikation  wichtiger  Funde  (Paulus 
Süentiarius,  die  angebl.  Anecdota  des  Antoninus,  Ergänzungen  zu  Ju- 
lius Firmieus)  so  ersprieszlich  für  die  Wissenschaft  gewesen  sei,  sowie 
auf  seine  Verdienste  um  die  ältere  deutsche  Litteratur  (Heldenbuch, 
Minnesänger,  Boner,  Andreas  Scultetus,  Friedrich  v.  Logau)  und  schlosz 
mit  den  Worten:  rWäre  eine  Zeit  denkbar,  in  der  es  keine  Aufgaben 
mehr  für  die  Philologie  zu  lösen  gäbe,  so  lange  Lessing's  Geist  auf 
innere  selbständige  Durchdringung  und  Aneignung  der  Wahrheit  fort- 
wirkt, wird  man  Philologie  treiben.  Und  drängten  der  Zeit  hochgehende 
Wogen  diese  Wissenschaft  in  einen  entlegenen  Winkel  zurück,  solange 
dann  die  Deutschen  der  Sehnsucht  nach  einer  Wiedererweckung  jener 
Blüte,  die  unser  Volk  über  alle  andern  stellt,  fähig  sind,  wird  man  sie 
an  der  Quelle  suchen,  welche  Lessing  aufzeigt,' 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  49 

r  Specialit'äten  aus  diesem  reichhaltigen  Vortrag  anzuführen  haben 
wir  daran)  am  so  weniger  für  angemessen  gehalten,  da  die  Begründung 
und  weitere  Ausführung  vieler  Behauptungen  in  den  zahlreichen  Anmer- 
kungen enthalten  ist,  die  der  Redner  in  den  gedruckten  'Verhandlungen*1 
seinem  Vortrage  beizugeben  versprochen  hat. 

Prof.  Overbeck  aus  Leipzig  ergreift  das  Wort,  um  gegenüber 
der  von  dem  Redner  dargelegten  Auffassung  der  Laokoongruppe,  die 
in  der  Hauptsache  mit  der  Lessing'schen  übereinstimmte,  die  neuere 
Ansicht  zu  wahren,  die  auszer  Welcker  und  ihm  auch  Brunn  teile, 
auf  dessen  Zeugnisz  Dietsch  sich  mit  Unrecht  berufen  habe.  Diese 
gehe  allerdings  dahin,  dasz  Laokoon  schreie;  nur  dürfe  man  an  kein 
Brüllen  denken,  sondern  etwa  an  ein  schmerz  erfülltes  (h  "AiroXXov, 
"AttoXXov!  Dem  physiologischen  Zeugnisz  des  Marburger  Gelehrten 
könne  er  die  Gutachten  der  sachkundigsten  Leipziger  Mediciner  gegen- 
überstellen,  welche  sich  dahin  ausgesprochen  hätten,  dasz  die  Gestal- 
tung von  Laokoon' s  Unterleib  keineswegs  hindere,  einen  Ausruf  oder 
Aufschrei  anzunehmen,  zumal  wenn  man  mehr  an  das  Ende  als  an  den 
Ansatz  des  Schreiens  denke. 

Vicepräsident  Prof.  Dietsch:  Man  habe  ihn  miszverstanden.  Er 
habe  weder  die  neuere  Ansicht  von  Overbeck  und  Andern  bekämpfen 
noch  eine  eigne  aufstellen,  sondern  einfach  das  anführen  wollen,  was 
zur  Verteidigung  von  Lessing's  Auffassung  von  Archäologen  älterer 
und  neuerer  Zeit  geltend  gemacht  worden  sei. 

Prof.  Overbeck:  Es  handle  sich  nicht  um  seine  Ansicht,  sondern 
um  die,  welche  die  ganze  neuere  Wissenschaft,  nicht  gegen  Lessing, 
sondern  über  ihn  hinaus  und  auf  seine  Fundamente  sich  stützend,  in 
dieser  Frage  einnehme. 

Rector  Eckstein  aus  Leipzig  widerspricht  der  Auffassung  und  Be- 
hauptung des  Redners,  'dasz  L.  schon  auf  der  Meiszner  Schule  durch 
seine  altclassischen  Studien  die  Richtung  gegen  den  französischen  Ge- 
schmack seiner  Zeit  erhalten  habe.  Nach  Dietsch  solle  dieser  Um- 
schwung unmittelbar  nach  L.'s  Abgang  zur  Universität  hervorgetreten 
sein.  Er  glaube,  dasz  L.  damals  noch  ganz  im  Gottschedschen  Geschmack 
befangen  gewesen  sei;  seine  Jugenddramen  mit  ihren  Lisetten  und 
mechanischen  Figuren  trügen  noch  ganz  das  Gepräge  der  Leipziger 
Schule.  Erst  in  Breslau  nach  langen  Jahren  des  Ringens  und  ernster 
Arbeit  habe  sich  L.  zu  seiner  spätem  Richtung  hindurchgearbeitet.  — 
Zum  Schlusz  richtet  derselbe  eine  launige  Anfrage  an  den  Redner  in 
Betreff  einer  von  Danzel  wiedergegebnen  Notiz  des  Litteraten  R o c h - 
litz,  nach  der  der  Leipziger  Rector  Joh.  Fr.  Fischer,  welcher  eine 
Zeit  lang  als  Student  mit  einem  sehr  gelehrten,  besonders  im  Griechi- 
schen wolbewanderten  Studenten  Lessing  zusammengewohnt  habe,  über 
L.'s  spätere  Laufbahn  als  Comödiendichter  ein  höchst  verwerfendes  Ur- 
teil gefällt  haben  solle.    Er  halte  die  Anekdote  für  apokryph. 

Der  Redner  erwidert,  dasz  er  nur  die  von  Lessing  (Werke  III 
S.  8)  etwa  2  Jahre  nach  seinem  Abgang  zur  Universität  gethane  Aeu- 
szerung  mit  der  Stelle  der  Dramaturgie  zusammengestellt  habe  fman 
könne  kein  gutes  Trauerspiel  schreiben,  wenn  man  nicht  die  Alten 
flott  studiert  habe.'  Er  habe  in  der  ersteren  Stelle  keineswegs  einen 
gründlichen  Umschwung  von  Lessing's  ästhetischer  Anschauung,  son- 
dern nur  eine  Andeutung  und  Vorbereitung  seiner  späteren  Richtung  ge- 
fanden. An  der  Glaubwürdigkeit  der  erwähnten  Anekdote  zweifle  auch 
er;  er  werde  derselben  in  seinen  Noten  Erwähnung  thun. 

Rector  Klee  aus  Dresden:  Die  Unzuverlässigkeit  der  Rochlitz- 
schen  Anekdoten  habe  O.  Jahn  in  seinem  f  Leben  Mozart's'  mehrfach 
nachgewiesen ;  somit  möge  man  auch  der  Angabe  über  das  Zusammen- 
wohnen von  Fischer  und  Lessing  und  über  des  ersteren  strenge  Kritik 
nicht  viel  Glauben  schenken. 

N.  Jfthrb.  C  Phil.  u.  P&d.   II.  Abt.  1964.  Hft.  1.  4 


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50   Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

Prof.  Bursian  aus  Tübingen  nimmt  Anstosz  an  der  nach  seiner 
Ansicht  allzu  apodiktisch  hingestellten  Behauptung  des  Redners:  fdie 
Entgtehnngazeit  der  Laokoongruppe  sei  durch  Welcker  und  O.  Mül- 
l  e  r  festgestellt«'  Es  sei  noch  jetzt  eine  controverse  Frage,  ob 
wirklich  Lessing  die  Entstehung  des  Bildwerks  in  zu  späte  Zeit  versetzt 
habe»  Er  wolle  auf  die  Streitfrage  nicht  eingehen  und  nur  anführen, 
dasz  auch  Auktoritäten  wie  Lachmann,  Hermann,  O.  Jahn  die 
Welcker  sehe  Ansicht  nicht  teilen,  sondern  nach  dem  Zeugnisz  des 
riinius  <lcn  Laokoon  erst  unter  Titus  entstehen  lassen. 

Diüt-gch  will  auch  auf  diese  eine  genaue  Prüfung  der  vielfachen 
Zeugnis*  e  des  Altertums  erfordernde  Streitfrage  nicht  eingehen  und  lie- 
ber privatim  mit  dem  Vorredner  seine  Ansichten  austauschen. 

Nach  einer  kurzen  Pause  und  nach  einigen  auf  das  Festprogramm 
bezüglichen  Mitteilungen  des  Präsidenten  besteigt  Prof.  Curtius  aus 
Leipzig  die  Rednerbühne  und  hält  seinen  angekündigten  Vortrag: 
eUeber  die  lokalistische  Casustheorie  mit  besondrer  Rück- 
sicht auf  das  Griechische  und  Lateinische.'  Er  weist  im  Ein- 
gange hin  auf  die  grosze  Wichtigkeit,  welche  die  Feststellung  der 
Grundbedeutungen  der  Casus  nicht  nur  für  die  philosophische  Sprach- 
wissenschaft, sondern  für  die  gesamte  Philologie  sowie  für  die  Schul- 
praxis habe,  da  diese  Grundanschauungen  nicht  blosz  auf  die  Erklärung 
des  speziellen  Gebrauchs  der  Casus,  sondern  auch  auf  die  einzelner 
Stellen  der  Classiker  von  grösztem  Einflusz  sein  müszten.  Auch  die 
Schulmänner  dürften  sich  der  Verpflichtung  nicht  entziehen,  über  diese 
wichtige  Frage  sich  klar  zu  werden;  die  als  unrichtig  sich  erweisende 
Theorie  müsse,  selbst  wenn  sie  didaktisch  bequemer  sei,  unbedingt  der 
richtigeu  Platz  machen. 

Die  lokalistische  Casustheorie  sei  in  ihnen  Grundzügen  schon  von 
den  byzantinischen  Grammatikern  Phile mon,  Theodosius  und  PI a- 
nudes  aufgestellt  worden,  welche  die  3  obliquen  Casus  auf  die  Fragen 
iroflev,  ttoü,  tto!  zurückgeführt  hätten.  Diese  Theorie  sei  —  anschei- 
nend unabhängig  von  jenen  Vorgängern  —  um  1830  wiederholt  worden 
von  Wüllner,  K.  F.  Becker,  Kühner;  am  ausführlichsten  aber  sei 
Hie  von  Härtung  dargelegt  und  entwickelt  worden.  Seitdem  gelte  die- 
selbe unter  den  Jüngern  Gelehrten  trotz  der  groszen  Schwierigkeiten, 
in  welche  dieselbe  —  besonders  bei  Erklärung  des  Dativgebrauches — 
verwickle,  als  feststehendes  Dogma.  Er  wolle  nicht  die  innern,  logi- 
schen Widersprüche  und  Schwierigkeiten  der  Lokaltheorie  entwickeln, 
sondern  lediglich  an  den  vorliegenden  sprachlichen  Formen  dieselbe 
prüfen. 

Die  Intention  der  Sprache  bei  der  Casusbildung  erhelle  offenbar 
am  besten  aus  dem  formellen  Zusammenfallen  einiger  Casus 
und  der  formellen  Trennung  anderer.  Auch  die  L okalisten  hätten 
diesen  Punkt  nicht  unbeachtet  gelassen,  indem  Härtung  eine  ursprüngl. 
HriitiUÜ.  des  lat.  Ablativ  und  Dativ  behaupte,  andre  den  griech.  Dativ 
mit  dem  Lokativ  zusammengestellt  und  auf  das  teilweise  Zusammen- 
fallen des  Gen.  und  Abi.  im  Sanskrit  hingewiesen  hätten.  Allein  diese 
Behauptungen  seien  unhaltbar;  die  ursprüngliche  Verschiedenheit  des 
lat  Dat.  und  Abi.  erhelle  aus  den  altlat.  und  oskischen  Ablativformen 
auf  d,  entsprechend  den  indischen  und  persischen  auf  t;  der  Genetiv 
des  Sanskrit  habe  nur  im  Sing,  mit  dem  Abi.,  im  Dual,  dagegen  mit 
dein  Lokativ  Aehnlichkeit;  der  Ablativ  endlich  teile  im  Plur.  des  Sans- 
krit uud  Latein  und  im  Dual  der  erstgenannten  Sprache  vielmehr  die 
Form  des  Dativs,  der  doch  in  der  Theorie  der  Lokalisten  dem  Abi 
viel  ferner  liege  als  der  Genetiv,  der  Casus  des  Woher.  —  Aus  dem 
Angeführten  gehe  zugleich  das  hervor,  dasz  das  Casussystem  in  den 
ver&chiedneu  Numeri  ein  verschiednes  sei  und  somit  der  Sprache  kein 
$q  bestimmtes Bewusztsein  des  einzelnen  Casus  vorgeschwebt  haben 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  51 

könne,  als  die  Lokalisten  annähmen;  auch  hierin  zeige  sich  das  Indi- 
viduelle als  das  Frühere,  die  Einheit  als  das  Resultat  späterer  Ent- 
wicklung. 

Aus  dem  Zusammenfallen  und  der  Verschiedenheit  der  Casusendun- 
gen ergebe  sich  zuvörderst  ein  bestimmtes  positives  Resultat,  welches  der 
Lokaltheorie  schroff  entgegenstehe:  die  in  den  Formen  bestimmt  aus- 
geprägte Scheidung  zweier  Casusgruppen,  des  Nom.  Acc.  Voc.  einerseits 
und  der  übrigen  Casus  andrerseits.  Die  erste  Gruppe  falle  im  Neutrum 
und  im  Dual  aller  indogermanischen  Sprachen  formell  durchweg  zusam- 
men und  auch  sonst  habe  vielfach  der  Nom.  mit  dem  Acc.  oder  Vocat. 
gleiche  Form.  Durch  diese  Erscheinung  würde  der  Acc.  offenbar  aus 
der  Reihe  der  lokalen  Casus  herausgehoben,  da  undenkbar  sei,  dasz 
die  Sprache  je  den  Ausgangspunkt  und  Zielpunkt  einer  Thätigkeit  mit 
derselben  Form  habe  bezeichnen  können ,  dasz  z.  B.  t^kvo-v  f  das  Kind' 
zugleich  habe  bedeuten  können:  czu  dem  Kinde  hin'.  —  Zweitens 
lehre  die  Sprachvergleichung,  dasz  die  Casus  der  ersten  Gruppe  formell 
nie  mit  denen  der  zweiten  Gruppe  zusammenfielen.  Die  Lokalisten 
hätten  diese  Erscheinung  erklärt  durch  die  Annahme  präpositioneller 
Suffixe,  welche  den  Casus  der  zweiten  Gruppe  angehängt  seien.  Zur 
Stützung  dieser  Ansicht  habe  man  auf  das  französische  de  beim  Gene- 
tiv hingewiesen;  allein  wie  erkläre  sich  dann  die  Verbindung  von  ä  (ad) 
mit  dem  Wocasus?  Auszerdem  werde  der  formell  stets  mit  dem  Nom. 
zusammenfallende  Acc.  der  neueren  Sprachen  abgesehen  von  einzelnen 
singulären  Wendungen  (czum  Führer  wählen'  u.  ä.)  nie  durch  präposi- 
tionelle  Verbindungen  ersetzt. 

Durch  das  häufige  formelle  Zusammenfallen  des  Acc.  mit  Voc.  und 
"Som.  aber  werde  zugleich  die  aprioristische  Behauptung  der  Lokalisten 
erschüttert,  dasz  die  Sprache  bei  der  Casusbildung  von  lokalen  An- 
schauungen ausgegangen  sein  müsse.  Dasz  die  räumlichen  Anschau- 
ungen die  nächstliegenden  und  ursprünglichsten  aller  sinnlichen  An- 
sciiantmgen  seien,  könne  man  wol  zugeben,  ohne  deshalb  den  Schlusz- 
satz  anzuerkennen,  dasz  darum  alle  Casus  auf  Lokalanschauungen  zu 
reduciren  seien,  zumal  wenn  festgestellt  sei,  dasz  die  Sprache  beim 
Acc.  eben  von  andern  als  räumlichen  Anschauungen  ausgegangen  sein 
müsse. 

Hierzu  komme,  dasz  die  Lokaltheorie  begründet  sei  auf  die  casus- 
arme lateinische  und  die  noch  ärmere  griechische  Sprache.  Von  den 
8  Casus  des  Sanskrit  fänden  sich  aber  mehrfache  Reste  auch  in  den 
europäischen  Sprachen  (Spuren  des  Abi.  in  den  griech.  Adverbien  auf 
wc;  der  Instrumentalis  im  Altdeutschen;  der  Locativ  und  Instrumentalis 
in  den  slawisch -lettischen  Sprachen),  woraus  erhelle,  dasz  diese  Casus 
schon  vor  der  Spraehentrennung  vorhanden  gewesen  seien.  Mit  dem 
Aassterben  einzelner  Glieder  aus  dieser  reicheren  Casusreihe  sei  ihre 
Funktion  an  andere  Casus  gefallen  und  daraus  Mischcasus  entstan- 
den, die  unmöglich  auf  eine  Grundbedeutung  zurückgeführt  werden 
könnten.  So  sei  z,  B.  der  griechische  Dativ  ein  dreifacher  (echter  Da- 
tiv, Instrumentalis,  Lokativ);  der  Lokativ  ferner  sei  im  Latein  durch 
den  Ablativ  (nicht  Dativ!),  der  Instrumentalis  durch  denselben  Casus, 
im  Griechischen  dagegen  durch  den  Dativ  ersetzt  worden.  Wie  vertrage 
sich  diese  Inconsequenz  mit  der  Theorie  der  Lokalisten?  Ferner,  wie 
sei  der  Lokativ  neben  dem  Dativ  zu  erklären,  wenn  man  denselben  als 
den  Wocasus  auffasse!»  Falle  nicht  der  Genetiv  mit  dem  Ablativ  in  der 
Bedeutung  des  Woher  zusammen?  Wo  erscheine  im  Latein  der  Dativ 
in  der  von  den  Lokalisten  ihm  zugeschriebnen  Grundbedeutung?  Welche 
lokale  Bedeutung  wolle  man  dem  Instrumentalis  zuweisen?  Somit  sei 
die  hauptsächlich  auf  die  casusarme  griechische  Sprache  begründete 
Lokaltheorie  nach  allen  Seiten  hin  unhaltbar;  es  sei  eben  unmöglich 
die  einzelnen  Casus,   die   vielfach   als  Mischcasus  mit  suppletorischen 

4* 


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nl*  Bericht  über  die  Versammln uy  deutscher  Philologen  usw.  iu  Meiszen. 

Funktionen  sieh  erwiesen,  auf  eine  scharf  zugespitzte  Grundbedeutung 
zu  r  ü  c  k  zu  f  i  i  h  re  n. 

Nur  die  Grundbedeutung  der  Casus  erster  Gruppe  lasse  sich  mit 
einiger  Wahrscheinlichkeit  feststellen,  obgleich  die  Analyse  der  Formen 
auch  rüeksichtlich  der  genannten  Casus  noch  nicht  abgeschlossen  sei. 
Von  den  beiden  sieh  entgegen  stehenden  Ansichten,  von  denen  die  eine 
die  Casusendungen  als  Pronominalstämme,  die  andre  als  Präpo- 
sitionalsnf  fixe  ailffaist,  empfehle  sich  die  erstere  am  meisten  zur 
Erklärung  der  Camus  erster  Reihe;  der  zweiten  stehe  auszerdem  auch 
das  entgegen,  dasz  viele  Präpositionen  sich  als  'erstarrte  Casus',  somit 
als  jüngere  Bildungen  erwiesen* 

Der  Redner  stellt  hierauf  folgende  Erklärung  als  f wenigstens  an- 
nehmbar* hin.  Im  Vocativ  erscheine  der  reine  Stamm,  das  Ding  werde 
ohne  allen  syntaktischen  Zusammenhang  einfach  angerufen;  das  s  des 
Nominativs  im  persönlichen  ücsehlechte  identificirt  er  nach  Bopp  mit 
dem  PronommyJstanim  sa  =  hie,  von  dem  auch  der  griech.  Artikel  ö 
stamme;  die  Aceusativendung  m  oder  am  führt  er  mit  Grassmann  und 
Bopp  auf  das  Sanskritprononu'n  amu  =  jener  zurück.  Er  nimmt  also 
an,  daaz  die  Sprache  Subjekt  und  Objekt  durch  ein  postponiertes  Pro- 
nomen hervorgehoben  habe,  eine  Hervorhebung,  die  beim  Neutrum  fer- 
ner gelegen  habe  und  daher  unterlassen  worden  sei.  Somit  sei:  deus 
donum  dat  zu  übersetzen  etwa:    rGott  hier  —  Gabe  da  —   geben  er.' 

Der  Redner  schlieft  mit  dem  Wunsche,  dasz  die  Untersuchungen 
über  die  sprachlichen  Forme ti  der  Casus  mehr  als  bisher  mit  denen  auf 
dem  Gebiet  der  JSyutax  Hand  in  Hand  gehen  möchten,  und  gedenkt 
dabei  des  jüngst  heim  gegangenen  Meisters  Jacob  Grimm,  der  in  den 
r4  Bänden  seiner  deutschen  (Grammatik  ein  grpszartiges  Muster  tief- 
sinniger Verbindung  von  Formenlehre  und  Syntax  der  Nachwelt  hinter- 
lassen habe*' 

Prof.  Lange  aus  Giosseu  erklärt  zunächst,  dasz  er  nicht  die  Lokal* 
theone  Härtung'»,  KiihnerTs  u.  a.  gegen  den  Vorredner  in  Schutz 
nehmen  wolle,  sondern  nur  den  Grundgedanken  der  Lokalisten.  Dieser 
erscheine  ihm  richtig*  Die  Bp räche  habe  offenbar  wenigstens  die  Ten- 
denz lokaler  Ansehauunng  gehabt,  wenn  dieselbe  auch  nicht  durchge- 
führt sei,  sondern  bei  einer  unbestimmten  instinetmäszigen  Untersuchung 
stehen  geblieben  eei.  die  das  von  C.  betonte  Zusammenfallen  ver- 
seht edner  Casus  in  verschiedene  Numeri  gestattet  habe;  die  zweite 
Gruppe  von  Casus  (Gen.  Dat.  etc.)  müsse  doch  wol  lokal  gefaszt  werden, 
wenn  auch  nicht  in  der  Bestimmtheit  der  Grundbedeutung,  wie  sie  die 
Lokalisten  festgestellt  hatten.  Dasz  die  räumlichen  Anschauungen, 
weil  aus  einem  Zusammen  wirken  von  Gesichts-  und  Tastsinn  hervor- 
gehend, die  einnnszreicbsten.und  am  festesten  haftenden  unter  allen 
sinnlichen  Anschauungen  seien,  habe  besonders  Lotze  überzeugend 
nachgewiesen.  Daher  nehme  er  an,  dasz  allerdings  räumliche  Anschau- 
ungen, wenn  auch  ganz  unbestimmte  und  allgemeine,  nach  deren  Analo- 
gie Geistiges  durch  Metapher  aufgefaszt  worden  sei,  den  Casus  ursprüng- 
lich zu  Grunde  gelegen  haben.  Er  nehme  ferner  nicht  mit  dem  Vorredner 
Anstosz  daran ,  dasz  neben  dem  Dativ  als  Wocasus  ein  Locativ  existiert 
habe.  Nach  seiner  Kenntnis  vom  Sanskrit,  besonders  der  Sanskrit- 
dichtung,  prävaliere  beim  Locativ  das  Lokale,  beim  Dativ  das  Geistige, 
d;kher  letzterer  auch  häufig  im  finalen  Sinne  sich  finde.  Vielleicht  seien 
übrigens  beide  Casus  ursprunglich  identisch  gewesen  und  erst  später 
das  i  des  Lokativ,  wenn  geistige  Beziehungen  ausgedrückt  werden  soll- 
ten, d.  i,  im  Dativ,  zu  ei  gesteigert  worden. —  Auch  der  Instrumentalis 
ferner  lasse  sieh  auf  eine  unbestimmte  räumliche  Anschauung  zurück- 
führen ;  denn  im  epischen  Sanskrit  finde  er  sich  ja  oft  in  einer  Bedeu- 
tung, die  Bopp  bezeichnet  habe  als  die:  sociative  oder  comitative. 
Die  scharfe  Scheidung  des  Soeiativen  und  Instrumentalen   sei  erst  das 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  53 

Werk  späterer  Reflexion,  wie  ja  auch  im  Bewusztsein  uns  res  Volkes 
im  Gebranch  der  Präposition  'mit'  die  verschiednen  Anschauungen 
durcheinanderflössen. 

Ferner  stimme  er  der  Theorie  des  Vorredners  von  Mischcasus 
nicht  bei,  da  diese  das  Problem  nicht  löste,  sondern  nur  hinausschöbe 
und  von  der  unerweisbaren  Voraussetzung  ausgehe,  dasz  vor  der 
Sprachenspaltung  das  Sanskrit  eine  ganz  scharfe  Scheidung  der  5  casus 
obliqui  gehabt  habe.  Schon  im  Sanskrit  habe  der  Ablativ  eine  vage 
Bedeutung  und  finde  sich  bald  auf  die  Frage  Woher,  bald  auf  die  Frage 
Wo  als  Antwort;  dasz  aber  der  griech.  Dativ  als  Lokativ  auch  Instru- 
mentalis werden  konnte,  erkläre  sich  einfach  daraus,  dasz  beide  letzt- 
genannten Casus  ursprünglich  Brüder  gewesen  seien.  —  Endlich  sei 
durchaus  nicht  nötig,  alle  Casusendungen  entweder  aus  pronominalen 
oder  aus  präpositioneilen  Suffixen  herzuleiten.  Wenn  auch  die  erste 
Casusgruppe  durch  postponierte  Pronomina  gebildet  sei,  so  stehe  nichts 
der  Annahme  im  Wege,  dasz  die  andern  Casus  entstanden  seien  aus 
Znsammensetzung  mit  Urpräpositionen;  an  Anhängung  fertiger 
Worte  wie  aput,  ad,  inter  etc.  sei  freilich  nicht  zu  denken.  So  lasse 
er  das  i  des  Lokativ  als  eine  virtuelle  Präposition  etwa  mit  der  Kraft 
eines  demonstrativen  Adverbs ;  oikoi  bedeute:  <Haus  da',  was  nach  dem 
Zusammenhang  durch  Differenzierung  der  Grundbedeutung  bald  cim 
Hanse',  bald  fbeim,  am  Hause'  usw.  bedeuten  könne.  In  diesem  ge- 
schichtlichen Process  der  Differenzierung^  habe  z.  B.  unleugbar  der 
Ablativ  in  einer  gewissen  Zeitperiode  die  vorhersehende  Tendenz 
des  Woher,  sowie  dies  auch  vom  Genetiv  in  einer  bestimmten  Zeit  der 
Sprachgeschichte  gelte.  Somit  lasse  er  den  Satz  des  Vorredners  nicht 
gelten,  dasz  rdie  Lokaltheorie  der  TJeberrest  einer  veralteten  Casus- 
auschauung'  sei;  das  gelte  nur  von  den  Lokalisten,  welche  wie  Här- 
tung aües  Räumliche  in  die  Fragen  des  Woher?  Wo?  Wohin?  gezwängt 
hUten, 

Prof.  Curtius  erklärt  hierauf,  dasz  er  eben  nur  diesen  Hartung- 
schen  Lokalismus,  nicht  den  neueren,  vom  Vorredner  dargelegten,  habe 
bekämpfen  wollen ,  da  derselbe  litterarisch  noch  nicht  niedergelegt  sei. 
Er  habe  selbst  ja  keineswegs  geleugnet,  dasz  räumliche  Anschauungen 
bei  der  Casusbildung  gewaltet  haben  könnten ,  ja  er  nehme  dieselben 
für  einzelne  Casus  selbst  entschieden  an.  Er  habe  nur  die  Möglich- 
keit bestritten,  auf  lokale  Anschauungen  eine  der  Form  wie  der  Be- 
deutung der  Casus  Genüge  leistende  allgemeine  Casustheorie  zu 
begründen. 

Director  Ahrens  aus  Hannover:  Er  sei  in  der  angeregten  Frage, 
über  die  er  sich  schon  vor  20  Jahren  in  Cassel  zur  Bekämpfung  der 
Doderleinschen  Ansicht  und  später  in  seiner  'griechischen  Formenlehre' 
ausgesprochen  habe,  mehr  mit  Prof.  Curtius  als  mit  Prof.  Lange 
einverstanden.  Er  scheide  aber  nfcht  wie  Ersterer  die  Casus  nach  der 
Form,  sondern  nach  der  Bedeutung  in  zwei  Gruppen:  in  topische 
und  logische.  Die  topischen  Casus,  im  Sanskrit  vollständig,  in 
den  andern  Sprachen  nur  in  Trümmern  erhalten,  hätten  entschieden 
lokale  Bedeutung:  klar  ausgeprägt  finde  sich  ein  Casus  des  Woher, 
des  Wo  und  ein  Comitativus;  dazu  müsse  man  aber  in  der  Idee  auch 
noch  einen  Casus  des  Wohin  statuieren,  Obgleich  er  in  der  Sprache  in 
abgesonderter  Gestalt  nicht  vorkomme.  Ihnen  gegenüber  ständen  nun 
die  logischen  Casus.  Als  solche  gäben  sich  der  Genetiv,  Dativ  und 
Accusativ  zu  erkennen,  schon  dadurch,  dasz  sie  in  allen  Sprachen  sich 
erhalten  hätten.  In  den  lokalen  Casus  zeige  sich  eine  Art  Luxus  der 
Sprache,  da  sie  durch  Präpositionen  hätten  füglich  ersetzt  werden 
können;  die  logischen  dagegen  seien  unentbehrlich.  Nicht  zufällig  sei 
die  Dreiheit  der  logischen  Casus,  die  im  Zusammenhang  mit  den  drei 
Hanptwortklassen  stehe.    Das  Substantiv  regiere  nur  den  Genetiv ,  das 


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54  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Moisz™. 

Adjectiv  den  Genetiv  und  Dativ,  das  Verbum  alle  drei  Caeus.  Der  Ao 
cusativ,  der  das  Princip  der  Bewegung  enthalte,  entspreche  am  meisten 
dem  Verbum,  der  Genetiv  dem  Substantiv,  der  Dativ  stehe  zwischen 
beiden  in  der  Mitte.  Die  lokalen  Casus  seien  —  da  sie  überhaupt  ein 
Luxus  der  Sprache  seien  —  in  manchen  Sprachen  fast  ganz  verschwun- 
den, dagegen  in  andern  sehr  zahlreich  vertreten;  so  weise  z.  B.  das 
Finnische  deren  14  auf.  Die  Ansicht  von  Lange,  dasz  alle  Casus  ur- 
sprünglich von  räumlichen,  wenn  auch  unbestimmten,  Anschauungen 
ausgegangen  seien  und  die  geistige  Verhältnisse  bezeichnenden  Casus 
aus  ursprünglichen  Lokalcasus  sich  heraus  entwickelt  hätten,  hält  der 
Sprecher  für  eine  Theorie,  die  sich  durch  bestimmte  Beläge  aus  der 
Sprachgeschichte  zur  Zeit  nicht  und  schwerlich  j  e  werde  erweisen 
lassen. 

Dr.  Wagler  auz  Luckau  :v  Er  wolle  als  Schlichter  Schulmeister' 
nur  zwei  Bemerkungen  sich  erlauben.  Die  Lokaltheorie  empfehle  sich 
dadurch ,  dasz  auch  auf  andern  Gebieten  der  Sprache  die  Priorität  der 
sinnlichen  Anschauung  und  ein  allmähliches  Aufsteigen  zum  Geistigen 
hervortrete ;  die  Theorie  von  Curtius  verwickle  in  neue  Schwierigkeiten, 
indem  sie  die  bisher  vorhandnen  aufdecke  und  beseitigen  wolle,  und 
komme  in  der  Feststellung  des  Nominativs  und  Accusattvs  als  Hier- 
und Dortcasus  wieder  —  auf  den  Lokalismus  hinaus.  Sodann  sei  die 
Lokaltheorie  sehr  praktisch,  um  den  Gabrauch  des  Acc.  als  Objekts- 
casus ,  des  Ablativs  beim  Passiv,  der  Städtenamen  u.  a.  m.  den  Schü- 
lern klar 'zu  machen.  Er  rathe  daher  nicht  gegen  die  bisher  ange- 
wandte Theorie  die  f  nicht  einmal  vollständig  durchgeführten  Hypothe- 
sen' von  Curtius  einzutauschen. 

Prof.  Steinthal  aus  Berlin:  Wenn  er  Prof.  Lange  recht  verstan- 
den habe,  so  müsse  er  ihm  in  zwei  Punkten  widersprechen.  Wenn  der- 
selbe behaupte,  die  Sprache  müsse  bei  der  Casusbildung  von  lokalen 
Anschauungen  ausgegangen  sein,  da  diese  die  frühesten  und  einflusz- 
reichsten  aller  sinnlichen  Wahrnehmungen  seien,  so  bemerke  er  da- 
geg*en,  dasz  die  Sprache  nicht  eine  Schöpfung  von  Kindern,  sondern 
von  Erwachsenen  sei,  denen  auch  andere  als  räumliche  Anschauungen 
zu  Gebote  gestanden  haben,  die  also  nicht  notwendig  bei  der  Casus- 
bildung von  letzteren  hätte  ausgehen  müssen.  Zweitens  erklärt  er  sich 
gegen  die  Annahme,  dasz  funbestimmte  Raumanschauungen'  der  Spra- 
che bei  den  einzelnen  Casus  vorgeschwebt.  Die  lebendige  Sinnlichkeit 
eines  Wilden  oder  Urmenschen  habe  sich  sicherlich  das  Wo  und  Wo- 
hin usw.  nur  individuell  und  bestimmt,  nicht  als  allgemeine  Kategorieen 
denken  können  und  daher  auch  gewis  nicht  im  Gebrauche  durcheinan- 
dergeworfen. Er  gehe  noch  weiter,  fährt  der  Redner  fort,  als  Cur- 
tius; er  sondere  die  drei  Casus:  Nom.,  Acc.  und  Voc.  nicht  blosz  we- 
gen ihrer  Form,  sondern  wegen  ihrer  Bedeutung  als  die  Grundcasus, 
die  eigentlichen  und  wahren  Casus  von  den  übrigen  ab.  Er  spreche 
daher  gerade  den  Sprachen,  die  am  reichsten  an  Casus  seien,  z.  B. 
dem  Finnischen  und  Ungarischen,  weil  sie  keinen  ausgeprägten  Accu- 
sativ  und  Nominativ  hätten,  Casus  überhaupt  ab.  Logische  Casus 
erkenne  er  nicht  an;  räumliche  Verhältnisse  seien  keine  reinen  Formen. 
Im  Finnischen  und  Ungarischen  freilich  seien  alle  sogenannten  Casus 
logisch,  indem  sie  alle  möglichen  räumlichen  Beziehungen  ausdrück- 
ten, aber  darum  seien  sie  eben  keine.  Denn  jedem  Casus  müsse  eine 
logische,  kategorische  Bedeutung  zu  Grunde  liegen.  Darum  fasse  er 
auch  nicht  mit  Curtius  den  Nom.  als  Casus  der  Nähe,  den  Acc.  als  den 
der  Ferne,  da  seine  begrifflichen  Formen  aus  solchen  immerhin  mate- 
riellen sich  nicht  hätten  entwickeln  können.  Er  identificiere  daher 
nicht  das  s  des  Nominativ  mit  dem  Demonstrativ  $«,  sondern  meine, 
dasz  das  erstere,  wenn  auch  onomatopoetisch  desselben  Ursprungs, 
doch  weniger  materiell  aufzufassen  sei  als  jenes  und  nur  cThätigkeit, 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  55 

Lebendiges,  Bewegung9  bezeichnet  habe,  das  n  des  Acc.  dagegen  das 
Stumpfere,  Todte,  Leidende*.  Somit  sei  das  Verhältnis  von  Nom.  und 
Acc.  nur  eine  weitere  Ausbildung  des  Verhältnisses  von  Masculinum 
und  Neutrum,  worauf  ja  auch  teilweise  die  Formen  führten.  Neben 
Nom.,  Acc.  und  Vocat.  habe  es  ursprünglich  wahrscheinlich  im  Indo- 
germanischen ebenso  viel  Casus  gegeben  wie  im  Finnischen  usw.,  in- 
dem alle  denkbaren  Präpositionalverhältnisse  durch  Casus  ausgedrückt 
worden  seien.  Die  indogermanischen  Völker  hätten  dann  später  diese 
mehr  materiellen  Verhältnisse  meist  durch  besondere  Präpositionen  aus- 
gedrückt, um  die  eigentlichen  Casus  in  ihrer  Reinheit  zu  erhalten;  da- 
her hätten  sich  bei  ihnen  nur  wenige  andere  Casus  (Gen.,  Dat.  im 
Griechischen)  erhalten,  indem  die  Sprache  einige  an  sich  materielle 
Verhältnisse  formell  aufzufassen  sich  gewöhnt  habe.  In  der  Casus- 
armut der  deutschen  und  griechischen  Sprache  zeige  sich  ein  stark- 
ausgeprägter formeller  Sinn.  Er  erkenne  also  nur  drei  wahre  Casus 
an;  die  übrigen  (uneigentlichen)  Casus  der  ältesten  Sprachen  seien 
später  meist  durch  Präpositionen  ersetzt  worden',  nur  einige  geblieben, 
welche  den  reinen  Casus  möglichst  anzunähern  die  Sprache  sich  be- 
strebt habe.*) 

Prof.  Lange:  Er  habe   zu  erwähnen  vergessen,   dasz  die  Sprache 
der  ältesten  Zeit  im  Zusammenhang  mit  der  Gesticulation  gedacht  wer- 
den müsse.    Durch  den  hinzutretenden  Gestus   seien  die  unbestimmten 
Kaumbezeichnungen   zu  bestimmten  geworden,   habe  z.  B.  das  an  sich 
anbestimmte  lokale  i  für  jede  im   concreten  Falle  vorliegende  räum- 
liche Anschauung  genügt.  '  Es  lägen  nun  vier  Casustheorien  vor;   für 
die  Schulpraxis   sei  durch  die  lange  Debatte  wenig  gewonnen  worden, 
aber  die  Wissenschaft  habe  ja  eine  andere  Aufgabe,  als  Theorieen  für 
die  Pädagogik   zurechtzulegen.     Ganz  besonders  interessant  müsse   es 
sein,  für  das   Griechische,    wie   es   seiner  Zeit  Bemhardy    angebahnt 
habe,  den   Casusgebrauch  historisch   zu   verfolgen,   natürlich  mit  den 
nötigen  Vorkenntnissen  aus  der  vergleichenden  Grammatik. 

Oberlehrer  Dr.  Lasson  aus  Berlin  will  nur  fzwei  Fakta  consta- 
tieren'.  Steinthal  schreibe  durch  eine  logische  Construction  der  Spra- 
che ?or,  was  sie  durch  die  Casus  auszudrücken  habe.  Curtius  aber  sei 
im  positiven  Teil  seiner  Auseinandersetzung  in  den  Localismus  zurück- 
rerfallen,  indem  auch  er  einen  räumlichen  Gegensatz  zwischen  Nom. 
und  Acc.  statuiere,  wenn  auch  nicht  einen  Gegensatz  in  der  Richtung, 
sondern  in  der  Kühe.  Nach  seiner  Ansicht  sei  und  bleibe  die  lokale 
Bedeutung  von  den  Casus  unabtrennbar. 

Da  der  Schlusz  der  Debatte  gewünscht  ward,  schlosz  der  Präsident 
die  Sitzung  nach  1  Uhr.  Hierauf  begaben  sich  die  Sectionen,  —  un- 
ter ihnen  abermals  eine  archäologische  —  in  die  ihnen  angewiesenen 
Lokalitäten,  um  sich  daselbst  zu  constituieren. 


*)  Diese  Ansichten  hat  der  Redner  in  seinem  Werke:   Charakteri- 
stik der  hauptächlichsten  Typen  des  Sprachbaues'  S.  300  ff.  ausführlich 
entwickelt. 
j  (Fortsetzung  im  nächsten  Hefte.) 

|  Zwickau.  Dr.  Vogel. 


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56  Personalnotizen. 

Personalnotizen. 


i  rMemumyen,  Bef Förderungen 9  Versetzungen,  Auszeichnungen. 

Arnold,  Franz,  Licent.  der  Theol.,  als  Religionslehrer  bei  dem  kath. 

Gymnasium  in  Glogau  angestellt. 
Bind s eil,   Dr.,  Prof.  u.  Secretär  der  Universitätsbibliothek  zu  Halle, 

erhielt  den  rothen  Adlerorden  IV  Kl. 
Classen,   Dr.  Joh.,    Prof.  u.  Director  des   Gymnasiums  zu  Frankfurt 

a.  M.,  zum  Director  des  Johanneums  in  Hamburg  berufen. 
Columbus,    Dr.  Dominik,   zum  Director  des  Gymnasiums  in  Linz  er- 
nannt. 
Conze,  Dr.  A.,  Privatdocent  in  Göttingen,   zum  ao.  Prof.  in  der  phil. 

Fac.  der  Univ.  Halle  ernannt. 
Dorschel,   Dr.,   als  wissenschaftlicher  Hülfslehrer  am  Gymnasium  zu 

Greifswald  angestellt. 
Eckstein,   Dr.  F.  A.,   Rector  der  Thomasschule  in  Leipzig,   zum  ao. 

Prof.  in  der  phil.  Fac.  der  dortigen  Univ.  ernannt. 
Eggers,  Dr.,  als  f Professor'  prädiciert  und  zum  Lehrer  der  Akademie 

der  Künste  in  Berlin  ernannt. 
Eit  cd  berger  von  Edelberg,  Dr.,  ao.  Prof.  der  Kunstgeschichte  und 

Kunstarchäologie  an  der  Univ.  in  Wien,  zum  ordentl.  Prof.  dieser 

Lehrfächer  ernannt. 
Fürst  er,  Dr.   W.,  Privatdocent  und  Assistent  an  der  Sternwarte  zu 

J Berlin,   zum  ao.  Prof.  in  der  phil.  Fac.   an  der  Universität  Berlin 

ernannt. 
Geres,  H.  Fr.,  SchAC,   als  ord.  Lehrer  am  städt.  Gymn.  zu  Marien- 
burg angestellt. 
Gräser,   Dr.,    bisher   Director  des   Gymnasiums  in  Torgau,   als  Pro- 

rector  u.  Professor  am   Pädagogium  des  Klosters  U.  L.  Frauen  zu 

Magdeburg  angestellt. 
Gruppe,    Dr.  O.,  ao.  Prof.  an  der  Univers.  Berlin,    zum  Secretär  der 

Akademie  der  Künste  ernannt. 
Haacke,  Dr.,  Oberlehrer  u.  Prof.  am  Pädagogium  des  Klosters  U.  L. 

Frauen  in  Magdeburg,  zum  Director  des   Gymnasiums  in   Torgau 

berufen. 
Hub  er,    Dr.  Alfons,    Privatdocent  in  Innsbruck,    zum  ord.   Prof.  der 

allgem.  Geschichte  an  der  dortigen  Univ.  ernannt. 
Hübner,  Dr.  E.,  Privatdocent  in  Berlin,   zum  ao.  Prof.  in  der   phil. 

Fac.  der  dortigen  Univ.  ernannt. 
Jülg,  Dr.  Bernhard,    ord.  Prof.  in  Krakau,    zum  Professor  der  class. 

Philologie  an  der  Univ.  Innsbruck  ernannt. 
Kays  er,  Dr.  Lud.,  ao.  Professor  in  Heidelberg,  zum  ord.  Prof.  in  der 

phil.  Fac.  der  dortigen  Univ.  ernannt. 
Kock,   Dr.  Th.,  Prof.  u.  Dir.  des  Johanneums  zu  Hamburg,  zum  Dir. 

des  Gymnasiums  in  Memel  berufen. 
Kopp,  Dr.,  Professor  in  Gieszen,  zum  ord.  Prof.  in  der  phil.  Fac.  der 

Univ.  Heidelberg  ernannt. 
Krauss,  Dr.,   ord.  Lehrer  bei  dem   Gymnasium   an  der  Apostelkirche 

in  Cöln,  zum  cOberlehrer'  befördert. 
Kühler,   Dr.,  Prof.  u.   interimist.  Dirigent  des  Wilhelms-Gymnasiums 

in  Berlin,  zum  wirkl.  Director  ernannt. 


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Leipzig, 

Druck  und  Verlag  yon  B.  G.  Teubner. 
1864. 


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Zweite  Abteilung: 

fflr  GyfflBftsialpädagogik  und  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschlusz  der  classischen  Philologie, 
hemsgegeta  tm  Prtfesstr  Dr.  Bernau  Nasiis. 


n. 

Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien. 


Ttaai:  'der  Religionsunterricht  musz  eine  Richtung'  auf  das  Rationelle 
und  Ethische  nehmen.' 


%oft  ich  mir  das  innere  Leben  und  Weben  unserer  heutigen  Schu- 
fen, namentlich  die  sittliche  und  religiöse  Seite  desselben  vor  Augen  halte 
ttod  zugleich  erwäge,  wie  dies  Leben  im  Laufe  etwa  eines  Menschenalters 
dmihiich,  unmerklich  das  geworden  ist,  was  es  jetzt  ist,  kann  ich  mich 
licht  eines  tiefen  Schmerzes  und  einer  ganz  unaussprechlichen  Trauer 
erwehren. 

Wie  sind  wir  doch  so  bemüht ,  dies  innere  Leben  nach  jener  Seite 
hin  zu  erwecken,  zu  pflegen  und  zu  bilden !  Wie  viel  mehr  thun  wir  doch 
hierfür  in  Vergleich  zu  dem  was  früher  dafür  geschah !  Wir  halten  unsere 
Schüler  wieder  zu  fleiszigem ,  regelmäszigem  Kirchenbesuche  an  und  su- 
4en  sie  überhaupt  zu  kirchlicher  Sitte ,  kirchlichem  Leben  und  zu  wah- 
ter  Ehrfurcht  vor  der  Kirche  und  ihren  Institutionen  zu  gewöhnen.  Wir 
^sammeln  sie  täglich  um  uns  zum  Gebet ,  wir  halten  mit  ihnen  wöcheut- 
fehe  Andachten ,  in  denen  wir  ihnen  das  göttliche  Wort  praktisch  nahe 
*  legen  und  dessen  Bedeutung  auch  für  sie  darzuthun  suchen.  Der  Reli- 
#>Bsunterricht ,  für  den  wir  ja  theologisch  gebildete  Männer  heranziehen, 
st  offenbar  tiefer,  geistiger,  wissenschaftlicher  geworden.  Er  hat  man- 
cherlei auszerliche  Zuthaten,  die  sich  in  Ermangelung  besseren  Inhaltes 
n  ihn  angesetzt  hatten,  abgestreift,  mehr  die  Sache  ins  Auge  gefaszt 
rod  sich  auf  die  wesentlichen  Objecte  dieser  Disciplin  concentriert. 
Offenbar  ist  die  Religion  bei  uns  nicht  mehr  eine  Disciplin ,  welche  mit 
Gleichgültigkeit  oder  gar  mit  Misachtung  betrachtet  wird.  Der  Vorwurf, 
den  vor  Zeiten  die  evangelische  Kirchenzeilung  und  ihre  Mitarbeiter  so 
reichlich  über  die  Gymnasien  ausgeschüttet  haben ,  dasz  diese  eine  un- 

H.  Jtfcrfc.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  2.  5 

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58  Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien. 

christliche  Jugend  erzögen ,  -trifft  uns  schon  seit  einer  langen  Reihe  von 
Jahren  nicht  mehr,  wenn  er  uns  überhaupt  je  getroffen  hat.  Wer  sollte 
nun  nicht  erwarten ,  dasz  eine  so  gepflegte  und  gebildete  Jugend  einen 
tieferen  religiösen  Sinn,  ein  wirkliches  Verständnis  für  die  Sphäre  des 
Religiösen  von  der  Schule  mit  sich  nehmen  und  durch  Wort  und  That  be- 
kunden würde? 

Ist  dem  nun  wirklich  so?  Können  wir  uns  vor  uns  selber  und  vor 
dem  heiligen  und  allwissenden  Gott ,  in  dessen  Dienst  wir  ja  auch  stehen, 
dieser  Frucht  unserer  Arbeit  berühmen?  Ach  der  kirchliche  Sinn  ist 
nicht  erhöht:  das  Wort  Gottes  ist  unsern  Schülern  nicht  näher  gerückt, 
nicht  zu  einer  Quelle  geworden,  aus  der  sie  täglich  Wasser  des  Lebens  zu  I 
schöpfen  kommen.  Wir  haben  nach  Rechtgläubigkeit  gestrebt  und  dar- 
über die  frühere  Gläubigkeit  eingebüszt;  ja  selbst  der  Glaube  an  Wahr- 
heiten, die  uns  noch  vor  dreiszig  Jahren  als  völlig  sicher  und  unerschütter- 
lich galten,  ist  uns  wankend  geworden  und  verloren.  Wir  bauen  auf  einem 
Fundamente,  das  nicht  mehr  da  ist,  künstliche  dogmatische  Systeme  auf, 
die  beim  ersten  Luftzug  zusammenstürzen.  Zwar  bei  den  Abiturienten- 
prüfungen entwickeln  unsere  jungen  Leute  oft  so  viel  theologische  Ge- 
lehrsamkeit, so  tiefe  Blicke  in  die  Geheimnisse  des  Gottesreiches,  so 
grosze  Belesenheit  in  der  Schrift,  dasz  ich  dabei  mit  Beschämung  an  meine 
eigene  Jugendzeit  zurückdenken  musz;  dafür  aber  ist  ihnen  der  Glaube 
an  das  Dasein  Gottes,  an  die  Unsterblichkeit  ihrer  eigenen  Seele  eine 
Sache  von  höchster  Gleichgültigkeit.  Von  einer  festen,  dauernden  Rich- 
tung der  jungen  Herzen  auf  Gott,  von  einer  bewuszten  auf  Principieu 
gegründeten  Sittlichkeit  der  Gesinnung  ist  wenig  mehr  zu  sehen.  So  weit 
können  wir  es  selbst  noch  beobachten;  über  das,  was  jenseits  der  Grenzen 
der  Schule  liegt  und  geschieht,  mögen  andere  ein  Zeugnisz  ablegen.  Es 
sollte  uns  lieb  sein,  wenn  man  uns  nachwiese,  dasz  wir  uns  geirrt,  dasz 
wir  zu  sehr  ins  schwarze  gemalt  hätten:  meiner  eigenen  Erfahrung  bin 
ich  leider  nur  zu  sicher. 

Und  man  lasse  sich  doch  ja  nicht  durch  einen  Schein  von  höherer 
Sittlichkeit  —  denn  im  Religiösen  ist  auch  dieser  Schein  nicht  vorhanden 
—  blenden  und  bestechen. 

Es  gibt  ja  Schulen,  nicht  blosz  solche,  welche  sich  KOT*  iSoxnv 
christliche  nennen  und  zu  sein  rühmen,  sondern  auch  andere  —  welche, 
indem  sie  sich  auf  strenge  Zucht  gründen,  ihre  Zöglinge  vor  manchen 
Ausschweifungen  und  Verirrungen  bewahren  und  sie  scheinbar  mit  siche- 
rer Hand  auf  geradem  Wege  leiten  und  erhalten.  Aber  wenn  sich  wirk- 
lich der  Geist  der  Jugend  auf  solchen  Schulen  vor  der  imponierenden 
Macht  alter  Sitte,  überlieferten  Gesamtgeistes  oder  einzelner  ernster, 
willenslarker  Lehrer  beugt,  ist  dieser  Gehorsam,  diese  Zucht,  diese 
Sittlichkeit  auch  von  Dauer?  Bricht  nicht  der  wider  Willen  zurückgehal- 
tene Strom  hinterher  mit  doppelter  Macht  hervor?  Und  von  dem  Spiel, 
welches  hinter  den  Coulissen  vorgeht,  haben  Lehrer  und  Inspectoren 
kaum  eine  Ahnung.  Die  Aeuszerung ,  welche  Wiese  vor  Zeiten  über 
unsere  Alumnate  gethan  hat,  gilt  noch  immer  für  den,  der  sich  nicht  durch 
die  glänzende  Hülle  und  schöne  Floskeln  betören  lassen  will.  Dazu  kommt 


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Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien.  59' 

noch  so  manches ,  was  den  Schein  von  Sittlichkeit  erwecken  kann.  Unsere 
Jugend  ist  viel  mattherziger  und  kraftloser  geworden,  mattherziger  zum 
Guten  wie  zum  Schlechten.  Sie  hat  keine  Kraft  einer  Neigung  abzusagen, 
der  Verlockung  zur  Sande  zu  widerstehen;  sie  hat  aber  auch  keinen 
Mut  zu  offener  Opposition.  Sie  medisirt  lieber  hinterrücks  über  die  Leh- 
rer im  Kreise  von  Eltern  und  Geschwistern  und  rächt  sich  für  vermeintes 
Unrecht  durch  heimliche  Tücke.  Dann  ist  sie  in  ihren  Manieren  feiner 
und  geleckter  geworden.  Wie  sollte  sie  das  nicht  ?  Wird  ihr  nicht  von 
früher  Jugend  auf  durch  die  lieben  Mütter,  nicht  Tugend  und  Frömmig- 
keit, sondern  der  Schein  der  Tugend,  der  Anstand,  gepredigt?  Ist  nicht 
auf  diesen  Schein  jede  Erziehungsorge  berechnet?  Die  ganze  Gesinnung 
ist  niederer  und  gemeiner  geworden.  Ihr  Motiv  ist  die  Selbstsucht  in 
ihren  tausend  und  abertausend  scheuslichen  Gestalten.  Liebe,  wahre 
Liebe,  welche  einer  Aufopferung  oder  auch  nur  eines  Opfers  fähig  wäre, 
sei  es  zu  den  Eltern,  sei  es  für  König  und  Vaterland,  sei  es  für  Wahrheit 
und  Wissenschaft,  gehört  immer  mehr  zu  den  seltenen  Ausnahmen.  Der 
ideale  Sinn  schwindet  mehr  und  mehr  dahin.  Wem  der  Schein  nicht  ge- 
nügt, der  möchte  oft  mit  dem  Kaiser  Augustus  rufen:  Vare,  Vare,  redde 
mihi  meas  legiones ! 

Nun  wird  allerdings  niemand  mehr  so  albern  oder  so  boshaft  sein, 
die  Schulen  für  einen  Zustand ,  den  sie  so  klar  erkennen ,  so  offen  auf- 
decken, so  sehnlichst  zu  beseitigen  wünschen,  verantwortlich  zu  machen. 
Es  gibt  im  Leben  kein  Factum  und  keinen  Zustand,  zu  dem  nicht  viele 
Factoren  mitgewirkt  hätten.  Auch  die  Schulen  können  sich  dem  Winde 
nicht  entziehen ,  der  durch  unsere  politischen  und  kirchlichen ,  socialen 
und  Familienverhältnisse  hindurchfährt.  Es  ist  aller  Ehren  wert ,  wenn 
sie  diesem  Geist  sich  nicht  unterwerfen,  sondern  ihm  Stand  halten.  Das 
politische  Getreibe  reiszt  sie  aus  der  stillen  Tiefe  des  Gemütes  heraus ; 
die  socialen  Verhältnisse  nähren  und  steigern  die  Genuszsucht,  die  Selbst- 
sucht und  den  Materialismus.  Eine  Masse  von  Zeitschriften  und  Journalen, 
alle  von  Politik  und  Materialismus  erfüllt,  führt  ihnen  in  leichter,  gefälli- 
ger Form  Elemente  zu,  von  denen  sie  innerlich  zerfressen  werden.  Auch 
manche  wissenschaftlichen  Werke  von  groszer  Bedeutung,  wie  Momm- 
sen's  römische  Geschichte,  nähren  den  Geist  der  Frivolität,  nicht  zu  reden 
von  Büchern  wie  Stahr's  Tiberius,  welche  die  scheusliche  Verworfen- 
heit sittlich  rehabiliiiren  wollen.  Von  allen  Seiten  drängen  Feinde  an  uns 
heran.  Wie  sollen  wir  ihnen  widerstehen?  Wenn  sie  an  einem  Punkte 
zurückgeschlagen  werden ,  werden  sie  uns  an  einem  andern  Punkte  be- 
siegen. 

Nein ,  dem  ist  nicht  so ,  lieber  Leser.  Das  Gebiet  des  Geistigen  ist 
nicht  wie  eine  Festung,  welche  vom  Feind  belagert  wird;  es  ist  wie  ein 
lebendiger  Organismus.  Leidet  ein  Teil  dieses  Ganzen,  so  leiden  alle 
andern  Teile  mit;  eben  so  verbreitet  sich  aber  auch  von-  einem  Teile 
Gesundheit  und  neues  Leben  über  das  Ganze.  Dies  bestimmt  uns ,  auch 
einen  solchen  Teil  anzugreifen  und  zu  versuchen ,  ob  wir  von  diesem  Teil 
aus  dem  ganzen  Hülfe  und  Kraft  bringen  können.  Dieser  Punkt  ist  der 
Religionsunterricht. 

5* 

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60  k  Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien. 

Ich  halte  die  Richtung,  welche  derselbe  genommen  hat,  für  eine 
falsche  und  verderbliche ,  und  ich  bin ,  denke  ich ,  nicht  der  einzige ,  wel- 
cher so  urteilt.  Der  Oberlehrer  Michael  zu  Dresden  hat  kürzlich  hier- 
über ein  sehr  schönes  Programm  geschrieben  und  Vorschläge  «zu  einer 
Neugestaltung  des  Religionsunterrichts  gemacht.  Diese  Vorschläge  weichen 
allerdings  von  meiner  Ansicht  durchaus  ab;  sie  constatieren  jedoch,  dasz 
die  jetzige  Gestalt  jener  Disciplin  auch  von  andern  als  mangelhaft  erkannt 
wird.  Dies  Programm  veranlaszt  mich ,  offen  mit  einer  Ansicht  hervor- 
zutreten, die  ich  seit  vielen  Jahren  gehegt  und  oft  und  viel  mit  meinen 
Collegen  durchgesprochen  habe.  Ich  wTerde  mich  schon  glücklich  schätzen, 
wenn  es  mir  gelingt,  diese  Frage  wieder  in  Flusz  zu  bringen.  Ich  teile 
in  dieser  Beziehung  nicht  die  Sicherheit  Hollenberg's,  der  freilich  als 
Berliner  Lehrer,  sei  es  auch  an  einem  Alumnate,  kaum  wissen  kann,  in 
welchem  Zustande  sich  das  sittlich  -  religiöse  Leben  unserer  Jugend  be- 
findet. 

Ich  gedenke  unzählige  Male  daran ,  welche  Bedeutung  für  mich  der 
Religionsunterricht  gehabt  hat ,  den  uns  vor  Zeiten  unser  längst  verewig- 
ter Rector  in  der  Prima  erteilte.  Wir  nahmen  aus  diesen  Stunden  doch 
etwas  mit  hinaus;  in  schweren  Stunden  der  Versuchung  hat  mich  das 
ernste  Wort  unseres  herrlichen  Lehrers  wie  ein  schützender  von  Gott 
gesandter  Engel  bewahrt;  noch  bis  diesen  Augenblick  hallt  es  mir  nach. 
Ich  weisz,  auch  andern  als  mir  hat  dieser  Unterricht  einen  klaren  Halt 
im  Leben  gegeben.  Und  was  ist  es  nun  gewesen ,  was  ihm  diese  Kraft 
verliehen  hat? 

Der  Religionsunterricht  jener  Zeit  war  fast  überall  ein  rationa- 
listischer, dem  damaligen  Zustand  der  Kirche  und  der  damaligen  Theo- 
logie entsprechend.  Unsere  Lehrer  standen  auf  diesem  Boden,  unser 
Lehrbuch,  das  vortreffliche  Niemeyersche ,  welchem  so  übereilt  über  Bord 
geworfen  ist,  war  in  diesem  Sinne  verfaszt,  von  den  Kanzeln  herab  hörte 
man  gleiche  Predigten;  die  ganze  Zeitrichtung  war,  auch  in  andern  Disci- 
plinen,  dem  Rationellen,  der  Reflexion  zugewandt.  Die  Hermannsche 
Philologie,  die  Ueerensche  Geschichte  trugen  dasselbe  Gepräge.  Ueberall 
war  der  Unterricht  auf  Reflexion  gegründet,  auf  Ueberzeugung  durch 
Gründe  gerichtet.  Dies  erstrebten  die  Lehrer,  dies  forderten  wir  Schüler. 
Der  ganze  Unterricht  erhielt  dadurch  eine  unglaubliche  Einheit  und  Soli- 
dität, war  wie  aus  einem  Gusz  hervorgegangen  oder  besser:  wie  aus 
einem  Geist  geboren.  Auch  auf  den  Charakter  wirkte  dies  ein.  Kraft  in 
der  Ueberzeugung  und  Kraft  im  Sittlichen  waren  der  Stolz  und  die  Zierde 
der  Jugend.  Dies  war  auch  der  Typus  des  Religionsunterrichts,*  welcher 
in  diesem  Sinne,  aber  mit  hohem  Ernst  behandelt  wurde.  Was  diese  Be- 
handlung gestattete,  wurde  mit  Strenge  durchgearbeitet;  was  für  sie 
weniger  geeignet  war,  nur  leise  berührt  oder  mit  Discretion  umgangen. 
Nie  ist  mit  rohen  Händen  darüber  hingefahren  worden.  Die  alten  Ratio- 
nalisten waren  meist  ernste,  aber  auch  feine  und  tactvolle  Männer.  Man 
hat  über  jene  Zeit  schändliche  Lügen  ausgesprochen,  wie  in  der  evange- 
lischen Kirchenzeitung ,  und  die  ganze  Zeit  entgelten  lassen ,  was  einzelne 
verschuldet  haben  mögen.    Das  wenigstens  gewannen  wir:  festen  Glau- 


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Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien.   *  61 

hen  an  das  Walten  Gottes  und  die  Ehrfurcht  vor  Gott  und  seinem  heiligen 
Willen ,  und  damit  war  doch  schon  etwas  gewonnen. 

Was  ich  nun  will ,  ist  dies ,  dasz  der  Religionsunterricht  zwar  nicht 
wieder  rationalistisch  werde  —  wir  können  nicht  mit  einem  salto  mortale 
wieder  zu  Wegscheider  und  Röhr  zurück  —  wol  aber,  was  sehr  wohl  mög- 
lich ist,  wieder  eine  Richtung  auf  das  R  a  t  i  o  n  a  1  e  nehme ,  anstatt  auf  das 
Positive,  Dogmatische',  Confessionelle.  Es  gibt  keine  Disciplin,  in  der  wir 
nicht  die  Teile  aussondern ,  welche  für  die  geistigen  Kräfte  und  für  die 
Bedürfnisse  eines  gewissen  Lebensalters  die  geeigneten  sind;  und  wir  be- 
handeln die&e  Teile  selbst  wieder  in  einer  Ausführlichkeit  und  in  einer 
Fassung,  wie  dies  dem  vorliegenden  Zwecke  entsprechend  ist.  So  begin- 
nen wir  die  Grammatik  nicht  mit  der  Lautlehre;  eben  so  verfahren  wir 
in  der  Geographie,  in  der  Geschichte,  in  der  Naturkunde,  in  der  Lectürc 
der  Glassiker;  nur  die  Mathematik  hat  die  traurige  Praerogative ,  nicht 
methodisch ,  sondern  systematisch  behandelt  werden  zu  sollen.  Warum 
soll  nicht  die  Religion  eben  so  gelehrt  werden  —  man  verzeihe  den  Aus- 
druck lehren  —  wie  fast  alle  andern  Lehrobjecte? 

Der  Religionsunterricht  auf  unsern  Schulen  hat  zuerst  Knaben  vor 
sich,  welche  noch  in  der  vollen  Unmittelbarkeit  des  Lebens  stehen  und 
dem  Lehrer  auch  für  die  Religion  ein  gläubiges  Gemüt  entgegenbringen. 
Aber  es  bleibt  nicht  bei  dieser  Unbefangenheit  und  Unmittelbarkeit,  in 
welcher  das  Object  alles  und  das  Subject  nichts  ist ;  die  Reflexion  wächst 
unbemerkt  heran;  das  Ich  stellt  sich,  wie  in  allen  Sphären  des  Schul- 
iebeusnnd  in  allen  Disciplinen,  so  auch  hier  dem  Positiven  gegenüber  und 
/Dacht  sich  zum  Richter  über  das  Object  des  Glaubens.  Auch  der  Religions- 
unterricht kann  nun  nicht  mehr  auf  seiner  bisherigen  Stufe  verbleiben, 
sondern  musz  dem  Knaben  und  Jüngling  auf  den  Wegen,  auf  denen  er  jetzt 
wandelt,  nachgehen,  dasz  er  ihn  nicht  verliere.  Dies  wird  vielfachst  ver- 
säumt und  ist  die  Ursache ,  warum  so  viele  unserer  Schüler  ohne  Glauben 
von  ans  gehen  und  ohne  Glauben  ihr  Leben  dahinleben. 

Zwischen  Glauben  und  Unglauben  liegt  ein  mittleres,  der  Zweifel. 
Der  Glaube  hat,  wenn  er  aus  seiner  ersten  Objectslosigkeit  heraustritt  und 
nunmehr  gewisse  Objecte  des  Glaubens  vor  sich  sieht,  welche  er  von  sich 
unterscheidet,  die  Voraussetzung,  dasz  in  diesen  Objecten,  nicht  in  dem 
Subject  die  Wahrheit  liege.  Der  Unglaube ,  welcher  sich ,  beiläufig  be- 
merkt, nicht  auf  die  religiöse  Sphäre  beschränkt,  geht  umgekehrt  davon 
aus,  dasz  das  Subject  das  allein  berechtigte  sei  und  dasz  das  Positive, 
blosz  deshalb,  weil  es  sich  als  positiv  gelten  zu  wollen  anmasze,  das 
Unwahre  und  Nichtige  sei.  Zwischen  beiden  steht  nun  der  Zweifel, 
welcher  nicht  Glaube  und  nicht  Unglaube  ist.  Denn  der  Zweifelnde 
glaubt  nicht  mehr,  sondern  zweifelt  schon,  aber  ist  doch  noch  nicht 
ungläubig,  sondern  zweifelt  noch.  Im  ihm  begegnen  sich  zu  schwerem 
Kampfe  zwei  Mächte.  Süsze  Erinnerungen  ziehen  ihn  nach  der  einen 
Seite,  wie  den  Faust  am  Ostermorgen;  dann  treibt  ihn  der  Stolz  des  Ich 
wieder  von  dort  hinweg.  Dies  ist  wesentlich  der  Zustand ,  welchen  der 
Religionslehrer  der  oberen  Klassen  vor  sich  hat.  Wer  da  glaubt,  mit 
bloszen  Dogmen  etwas  ausrichten  zu  können,  wird  sich  entsetzlich  ge- 

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Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien. 

täuscht  sehen.  Dies  Aller  erkennt  eben  keinen  Dreifusz  des  Apoll  und 
keine  pylhischen  Orakelsprüche  an.  Einige  schwache  Köpfe  lassen  sich 
vielleicht  mit  Phrasen  imponieren;  die  wahre  Frucht  dieses  Unterrichts 
ist  aber  der  Unglaube,  welcher  in  der  Jugend  immer  mehr  um  sich  greift. 
Um  dem  Zweifel  zu  begegnen,  ist  es  nun  meines  Erachtens  durchaus 
notig ,  dasz  der  Religionsunterricht  seinen  dogmatischen  Charakter  ver- 
liere und  eine  Richtung  auf  das  Bationelle  nehme.  "Wer  einen  Feind  be- 
siegen will ,  musz  ihn  auf  seinem  eigenen  Grund  und  Boden  aufsuchen. 
Nie  Stoffe,  welche  er  vornemlich  zu  verwerten  hat,  sind  also  diejenigen, 
welche  nach  der  Seite  der  sogenannten  Vernunft-  oder  natürlichen  Reli- 
gion zu  liegen.  Ich  sage  absichtlich  sogenannt;  denn  in  der  That  ist, 
was  wir  Vcritunflrcligion  nennen,  ein  Product  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit, an  welchem  viele  Jahrtausende  gearbeitet  haben.  Es  ist  dabei  zurück- 
zugehen auf  den  Ursprung  der  religiösen  Gefühle,  auf  die  Gemütslage, 
durch  welche  diese  Gefühle  bedingt  sind,  und  dieselben  als  ein  Factum 
und  zwar  als  ein  allgemeines  Factum,  also  als  ein  Factum,  welches  not- 
wendig in  der  menschlichen  Natur  begründet  ist,  zur  Anerkennung  brin- 
gen. Diese  Sehnsucht  des  Herzens  sucht  ein  Object,  durch  welches  sie 
selbst  gestiÜt  we nl e.  Der  G hm be  erkennt  dies  Object  als  ein  wirkliches 
an;  die  Gcmülsstimniung,  welche  mit  dieser  Anerkennung  verbunden  ist, 
ist  die  der  Andacht.  Der  denkende  Verstand  setzt  die  auf  diesem  Wege 
entstandene  Kette  von  Vorstellungen  weiter  fort,  sucht  nach  Beweisen  für 
die  Wirklichkeit  jenes  Objcctcs,  um  sich  dasselbe  nicht  wieder  entreiszen 
/u  lassen  und  diese  religiösen  Anschauungen  mit  den  übrigen  Kreisen  von 
Vorstellungen  in  Verbindung  und  in  Harmonie  zu  setzen.  Diese  Beweise 
haben  für  dies  Lebensalter  wie  freilich  für  jeden  denkenden  Menschen  eine 
grosze  Bedeutung,  Hieraus  entwickeln  sich  femer  die  BegrilTe  von  den 
Eigenschaften  Gottes,  von  der  Schöpfung,  Erhaltung  und  Regierung  der 
Well  durch  dieses  höchste  Wesen.  Wir  können  dies  hier  nicht  weiter 
verfolgen,  sondern  wollen  nur  bemerken",  dasz  diese  Partieen  der  Glau- 
benslehre nicht  (ihers  Knie  zu  brechen,  sondern  höchst  sorgfaltig  zu  be- 
handeln sind,  namentlich  aber  aufklare  und  deutliche  Vorstellungen  und 
scharfe  Begriffe  zu  halten  ist-  In  diesen  Kreis  von  apriorischen  Ideen  tritt 
nun  die  positive  Religion  ein,  welche  sich  als  aus  unmittelbarer  Offen- 
barung der  Gottheit  a lammend  darstellt.  Hier  ist  es  nun  von  äuszerster 
Bedeutung,  das  Recht  des  Thalsächlichen,  den  Anspruch  darauf  Glauben  zu 
linden,  obwol  dieser  Glaube  immer  ein  freiwilliger  Act  bleibt,  die  Mög- 
lich kei  t,  dasz  sich  Gott  einzelnen  Menschen  in  vollerem  Glänze  geoffen- 
barl  habe  usw.  klar  darzulegen.  Die  Persönlichkeit  und  die  einzelne 
Thal  sind  überhaupt  nicht  zu  beweisen,  sonderu  anzuerkennen  oder  nicht 
anzuerkennen.  Hieran  schlicht  sich  nun  von  Seilen  des  Glaubenden*  das 
lief  gefühlte  Bedürfnis  einer  Versöhnung  mit  jener  höhern  Macht,  von 
Seilen  der  Offenbarung  in  Christo  das  dieses  Bedürfnis  befriedigende 
Evangelium  von  dem  Versöhner.  Doch  es  würde  uns  zu  weit  führen,  diese 
Gedanken  noch  weiter  zu  verfolgen.  Es  wird  jedem  klar  sein ,  welche 
Teile  der  Glaubenslehre  wir  hervorgehoben  zu  sehen  wünschen:  es  sind 
diejenigen ,  für  welche  von  Seiten  der  Jugend  ein  wirkliches  tieferes  Ver- 


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Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien.  63 

stäüdnis  und  eine  innere  Zustimmung  erwartet  werden  kann,  zugleich 
diejenigen,  welche  für  das  sittliche  Leben  derselben  eine  Wirkung  aus- 
zuüben versprechen.  Lehren  wie  die  von  der  Trinilät,  von  der  Person 
Christi  usw.,  mögen  dem  gereiften  Lebensalter,  welches  bereits  der  Spe- 
culation  fähig  ist,  aufbewahrt  bleiben  und  für  jetzt  die  Andeutung  ge- 
nügen, dasz  die  Kirche  sich  durch  diese  Dogmen  in  schweren  inneren 
Kämpfen  theure  und  wichtige  Wahrheiten  habe  sichern  wollen. 

Diese  Weise  des  Religionsunterrichts ,  welche  darauf  berechnet  ist, 
dem  Schüler  in  der  Periode  des  Zweifels  vor  dem  drohenden  Unglauben 
zu  bewahren  und  im  Glauben  zu  erhalten  und  zu  befestigen,  wird  es  natür- 
lich nicht  verabsäumen  dürfen,  ihm  auch  Waffen  in  die  Hand  zu  geben,  mit 
denen  er  gewissen  der  Religion  feindseligen  Tendenzen  begegnen  könne. 
Diese  Waffen   sind  vornemlich  klare  Vorstellungen  und  scharfe  Regriffe. 
Es  ist  viel  wichtiger  für  den  Schüler,  dasz  er  über  Deismus,  Atheismus, 
Pantheismus  eine  klare  Vorstellung  habe ,  diese  möglichen  Falls  auch  mit 
historischer  Belehrung  verbunden,  als  dasz  er  die  Lehren  der  Kirche  über 
gewisse  subtile  Dogmen  kenne,  z.  B.  über  die  Art  und  Weise,  wie  in 
Christo  zwei  Naturen  verbunden  seien ,  über  die  Lehren  des  Pelagianismus 
und  Semipelagianismus  u.  dgl.     Noch  stärker  drängt  heutzutage  der  Ma- 
terialismus heran  und  weisz  sich  klug  in  die  allgemeine  Anschauungs- 
weise einzuschleichen ,  so  dasz  sich  viele  bereits  mitten  im  Materialismus 
Müden,  ehe   sie  noch  eine  Ahnung  von  dessen  Principien  haben.    Ich 
weisz  aus  Erfahrung ,  dasz  auch  die  Jugend  diesen  Ideen  leicht  huldigt, 
zumal  da  sie  mit  der  Richtung  auf  Genusz  und  Ausbeutung  des  kurzen 
lekfls  sich  angenehm  verbinden.   Hier  ist  der  Punkt ,  den  ich  als  den 
eigentlich  gefährdeten  betrachte,  und  der  Religionsunterricht  die  Disciplin, 
welche  durch  Belehrung  und  Ueberzeugung,  nicht  aber  durch  Versiche- 
rung oder  Ueberredung,  dem  Feinde  begegnen  musz.     Wenn  ich  sehe, 
wie  dagegen  dieser  Unterricht  sich  mit  Dingen  abmüht ,  welche  entweder 
völlig  unwesentlich  und  zum  Teil  ganz  unfruchtbar  oder  gar  zweifelhaft 
und  bedenklich  sind,  wie  z.  B.  bei  so  manchen  messianisch  gedeuteten 
Stellen ,  so  wird  mir  dabei  oft  angst  und  bange  um  die  jungen  Herzen, 
welche  nach  Brod  verlangen  und  dafür  einen  Stein  erhalten.     Und  es  ist 
mir,  wie  wenn  vor  uns  eine  reichbesetzte  Tafel  gedeckt  wäre,  wir  aber, 
um  die  einladenden  Speisen  unbekümmert,  nach  einem  Stücke  trockenen 
Brodes  griffen ,  das  unversehens  mit  auf  die  Tafel  geraten  wäre. 

Ich  komme  zu  einem  zweiten  Punkte ,  in  welchem ,  wie  ich  glaube, 
ebenfalls  schwer  gefehlt  wird :  es  ist  die  Introduction  in  die  Bücher  der 
heiligen  Schrift ,  von  welcher  ich  rede. 

Schon  oben  ist  darauf  hingewiesen,  dasz  die  Bibel  durchschnittlich 
ein.den  sogenannten  Gebildeten  unbekanntes  Buch  ist;  die  Mühe  und  die 
to,  welche  die  Schulen  darauf  wenden,  ihre  Zöglinge  in  die  Bibel  ein- 
zuführen ,  sind  so  gut  wie  verloren.  Dies  ist  eine  erschreckliche  Erfah- 
rung, für  uns  um  so  beschämender,  wenn  wir  sehen,  dasz  es  unter  an- 
dern nicht  minder  gebildeten  Völkern  —  wir  denken  dabei  an  E  n  g  1  a  n  d 
und  Schottland  —  so  ganz  anders  hiermit  bestellt  ist.  Wir  glauben 
gern ,  dasz  es  seine  besondern  Gründe  hat ,  weshalb  hier  die  Bibel  noch 

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Her  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien. 

eine  tiefe  Verehrung  genieszt  und  für  das  Leben  eine  so  grosze  praktische 
Bedeutung  hat;  aber  wir  sind  doch  andrerseits  überzeugt,  dasz  auch  bei 
uns  die  heilige  Schrift  zu  Ehren  gebracht  werden  könnte.  Es  würde  dies 
geschehen,  wenn  man  aufhörte,  dieselbe  in  einer  so  ganz  besondern,  von 
den  übrigen  Autoren,  welche  in  der  Schule  gelesen  werben,  so  ganz  ver- 
schiedenen Weise  zu  behandeln. 

Offenbar  ist  die  Bibel  ein  anderes  Buch  als  Homer  und  Hesiod,  So- 
plioclcs  und  Pindar,  Herodot  und  Thucydides  es  sind.  Sie  ist  ganz  und 
gar  durchdrungen  von  göttlichem  Geiste,  eine  Offenbarung  nicht  sowol 
menschlicher  Kraft  und  Klugheit,  als  vielmehr  der  Ratschlüsse  und  der 
Thalen  Gottes.  Selbst  die  Erzählung  der  historischen  Ereignisse  beginnt 
mit  dem.  worin  die  profane  Geschichte  schlieszt.  Aber  wenn  die  heilige 
Schrift  so  von  aller  anderen  Litteratur  absolut  verschieden  ist,  so  er- 
scheint sie  doch  andrerseits  in  gleichen  Formen  wie  diese  und  ist  den 
gleichen  Gesetzen  und  Beschränkungen  wie  diese  unterworfen.  Sie  er- 
scheint in  bestimmten  Zeiten  und  in  einem  bestimmten  Volke,  und  zwar  • 
in  Zeiten  und  in  einem  Volke,  welche  beide  ein  sehr  bestimmtes  Gepräge 
an  sich  1  ragen  und  sich  so  auch  in  der  Litteratur  wieder  abgebildet  haben. 
Der  göttliche  Gedanke  musz,  wie  z.B.  in  den  Psalmen,  oft  aus  dieser  Um- 
hüllung herausgeschält  werden,  um  in  reiner,  verklärter  Gestalt  zu  er- 
scheinen. Auch  ihm  klebt  vielfach  Fremdes  und  fremder  Stoffsich  an,  wel- 
cher abgestreift  werden  musz.  Eben  so  hat  die  Kritik  hier  grosze  und 
schwierige  Aufgaben.  Manche  Bücher,  welche  sich  in  unserm  Kanon 
befinden ,  sind  schon  von  deu  alten  Kirchenlehrern  als  unächt  anerkannt 
worden;  über  manche  schwebt  der  Streit  der  gelehrten  Theologen  noch; 
bei  manchen  wird  die  Frage  stets  eine  offene  bleiben.  Aber  wie  viel 
schwierigere  Fragen  erheben  sich  hinter  diesen!  Die  drei  synoptischen 
Evangelien  sind  für  sich  allein,  auch  ohne  Johannes,  ein  eben  so  schwie- 
riges Problem  für  die  Kritik,  wie  die  homerischen  Gesänge.  Fast  eben 
so  grosze  Schwierigkeiten  bietet  uns  der  Peutateuch  dar,  in  welchem 
älteste  und  jüngste  Elemente  verbunden  sind,  zwischen  denen  fast  ein 
Jahrtausend  liegt.  Die  verschiedenen  Redactionen  des  mosaischen  Gesetzes 
hat  Bimsen  vortrefflich  nachgewiesen.  Auch  Ewald  hat  es  versucht, 
vielleicht  zu  kunstlich,  nach  Schleiermacher's  Vorgang  das,  was  jetzt  als 
Ganzes  vor  uns  steht,  in  seine  Elemente  aufzulösen  und  von  der  Erschei- 
nung zu  den  Quellen  zurückzugehen.  Hierüber  musz  der  Lehrer  dem 
Schüler  eine  ruhige  und  verständige  Belehrung  geben.  Er  darf  unter  kei- 
nen Umständen  den  Zweifeln  preisgegeben  werden ,  welche  sich  massen- 
haft an  ihn  hr randrängen,  sobald  er  die  Bibel  einigermaszen  mit  Aufmerk- 
samkeit zu  lesen  beginnt.  Oder  verlangt  man  von  dem  Schüler,  dasz  er, 
wenn  er  in  den  Evangelien  hier  völlige  wörtliche  Uebereinstimmung,  dort 
totale  Differenz  (wie  bei  den  Geschlechtsregistern  Jesu)  vorfindet,  gedan- 
kenlos darüber  hinweggehe?  Wenn  wir  besonnene  und  erfahrene  Lehrer 
voraussetzen  dürfen ,  so  können  wir  erwarten ,  dasz  diese  schon  das  rich- 
tige Mass  hallen,  Ausgemachtes  nicht  mit  haltloszen  kritischen  Hypothesen 
zusammenwerfen  und  die  Gewissen  nicht  stören,  sondern  im  Gegenteil 
beruhigen  und  befestigen  werden.     Ohne  tactvolle  Lehrer  hat  jeder  Reli- 


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Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien.  .  65 

gionsunterricht  seine  Gefahren  für  die  Jugend.  Sicher  ist  uns  aber,  dasz 
die  stupide  Kritiklosigkeit  mit  der  jetzt  alles  über  einen  Leisten  geschla- 
gen wird,  mindestens  eben  so  viel  schadet,  als  ehedem  vielleicht  eine 
vorzeitige  und  crude  Kritik  geschadet  hat.  Natürlich  wird  die  Kritik 
nicht  an  den  Anfang  zu  stellen,  sondern  vielmehr  erst  dann  anzuwenden 
sein ,  wenn  durch  die  Leetüre  selbst  und  im  Laufe  derselben  für  den 
Schüler  sich  Fragen  erheben ,  welche  unbeantwortet  zu  lassen  gefährlich 
und  der  Wahrheit  widerstreitend  ist.  Die  Leetüre  selbst  wird  keine  andere 
sein  dürfen  als  die,  mit  welcher  wir  die  alten  Glassiker  und  die  Meisterwerke 
unserer  eigenen  schönen  Lilteratur  treiben ,  d.  h.  sich  mit  Liebe  in  die 
heiligen  Schriften  versenkend,  sich  mit  ihnen  beseelend  und  durchdringend, 
das  Grosze,  Ewige,  Gottliche  in  ihnen  an  die  Herzen  der  Jugend  legend, 
das  menschlich  Beschränkte,  Leidenschaftliche  (z.  B.  in  den  Psalmen)  er- 
klärend, ohne  Tendenz  auf  Dogmen,  unbefangenen  Sinnes.  So  habe  ich 
vor  Zeiten  den  Jesaias  gelesen  und  —  ich  weisz  es  —  meinen  Schülern 
zi<m  ersten  Mal  Liebe  zur  heiligen  Schrift  eingeflöszt.  Ich  habe  sie  starr 
gesehen  vor  Entzücken  und  vor  Staunen,  dasz  solche  Dinge  in  der  Bibel 
zu  Gnden  seien.  So  hatte  der  Schulrath  Lange,  der  Uebersetzer  des  He- 
rodot,  in  den  Zeiten  der  französischen  Herschaft  in  Berlin  mit  den  Schü- 
lern des  Werderschen  Gymnasiums  das  erste  Buch  der  Maccabäer  gelesen, 
er  allerdings,  um  glühendsten  Hasz  gegen  die  Fremden  in  die  Seele  seiner 
Schüler  zu  pflanzen.  Es  war  ihm  herrlich  gelungen ;  ich  habe  es  ihm 
nachgemacht  und  gleiche  Wirkung  dieses  noch  dazu  apokryphischen  Bu- 
ches Beobachten  können.  Wir  verstehen  nur  nicht  mehr  die  Bibel  zu  lesen, 
wir  würden  damit  noch  heute  Wunder  wirken  können.  Ich  zweifle  nicht, 
dasz  man  meine  Worte  misdeuten  wird.  Ich  wiederhole  daher:  die  Bibel 
soll  and  musz  ein  heiliges  Buch  bleiben  und  als  ein  solches  gelten ;  aber 
dies  schlieszt  nicht  aus,  dasz  die  Leetüre  derselben  eine  begeisterungsvolle, 
ans  dem  Inneren  der  Schrift  hervorquillende ,  von  fremdartigen  Bezieh- 
ungen gelöste  sei.  Natürlich  wird  der  Lehrer,  den  ich  mir  denke 
und  wünsche,  zwischen  Offenbarung  und  Inspiration  zu  unterscheiden 
fähig  sein. 

Ein  dritter  Punkt  betrifft  das  Ethische.  Dies  wird  gegenwärtig 
so  vernachlässigt,  als  ob  es  überhaupt  keine  Wissenschaft  der  Ethik  mehr 
in  der  Welt  gäbe.  Ich  weisz  aus  eigener  Erfahrung ,  dasz  den  Zöglingen 
der  Gymnasien  vielfach  die  einfachsten  Begriffe  der  Moral  unbekannt  sind ; 
davon,  dasz  sie,  was  durchaus  notwendig,  die  Ethik  als  ein  Ganzes,  in 
sich  eng  Geschlossenes  vor  sich  haben  sollten ,  in  welchem  ein  Teil  von 
dem  andern  getragen  und  gestützt  wird ,  ist  vollends  nicht  die  Bede.  Das 
kommt  davon  her,  dasz  man  das  Ethische  als  inlegrirenden  Teil  der  Dog- 
matik  eingefügt  hat.  In  Folge  dessen  wird  sie  in  der  Regel  stiefmütterlich 
behandelt  oder  ganz  unberücksichtigt  gelassen.  Ueberdies  hat  sie  dadurch 
ihre  Bedeutung  als  selbständige,  in  sich  selbst  ruhende  Disciplin  verloren, 
und  könnte ,  selbst  wenn  der  Lehrer  es  wollte ,  so  als  Appendix  zur  Dog- 
matik  nicht  mehr  die  Wirkung  auf  die  Jugend  ausüben,  die  sie  vor  allem 
auszuüben  berufen  und  geeignet,  ist.  Denn  im  Leben  wie  in  der  Wissen- 
schaft ist  es  allein  das  in  sich  selbst  Gegründete  >  was  auf  eine  Wirkung 

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Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik? 

rechnen  kann,  Die  Ethik  zumal,  welche  wir  im  Sinne  haben,  müste  auf 
Principten  gebaut  sein,  welche  dem  Jüngling  und  dem  Manne,  der 
Schwäche  und  der  Sünde  gegenüber,  Kraft  verleihen  und  den  inneren  Mut 
beleben  könnten,  ohne  dasz  die  Demut  dadurch  aufgehoben  und  der  Auf- 
btick  zu  tiaü,  dem  unser  aller  Leben  geweiht  sein  soll,  getrübt  oder  ver- 
mindert würde, 

Ueber  die  Organisation  dieser  Disciplin  enthalte  ich  mich  jetzt  noch 
weiterer  Vorschläge.  Ich  bemerke  jedoch  dies  eine,  dasz  die  Ethik,  wel- 
clic  auf  Schulen  gelehrt  werden  soll,  wesentlich  eine  historische  Disciplin 
sein  mtiszlc,  d.  h.  eine  Disciplin,  welche  darlegte,  wie  die  ethischen  Ideen 
sich  stufenweise  zuerst  bis  zu  der  Ethik  der  Griechen  erhoben  haben,  von 
denen  diese  Ideen  zuerst  als  ein  Ganzes  aufgefaszt  und  systematisch  ent- 
wickelt sind,  und  wie  demnächst  diese  antike  Ethik  in  das  Christentum 
itifgen  diu  in  cu  und  hier  aus  dem  Geiste  des  Christentums  wiedergeboren  ist. 

So  weil  für  jetzt.  Ob  unsere  Ideen,  wenn  sie  sich  Anerkennung 
verschafften,,  die  von  uns  ersehnte  und  erstrebte  Wirkung  ausüben  würden, 
liegt  in  einer  höheren  Hand.  Der  schwache  Mensch  musz  sich  begnügen, 
das  Gute  gewollt  und  pro  virili  parte  das  Seine  dafür  gethan  zu  haben. 

Oclobcr  1863.  *** 


8. 

Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik? 


Nichts  tat  schwerer,  als  die  Mathematik ! —  Welcher  Schulmann 
hifcUc  diese,  namentlich  jungen  Leuten  als  eine  der  unumstößlichsten 
Wahrheiten  geltende  Ansicht  nicht  vielfältig  zu  hören  und  zu  bekämpfen 
Gelegenheit  gefunden?  Wenn  nun  auch  jene  oft  und  bitter  beklagten 
Sdiwii'riijl.  uii  —  Dank  unseren  jetzigen  geschmeidigeren  Lehrmethoden, 
daneben  den  ins  Leben  so  tief  eingreifenden  Leistungen  der  mehr  und 
mehr  sich  entfaltenden  Realschulen!  —  in  neuester  Zeit  nicht  mehr  als 
un  übers  teigliche  betrachtet  werden,  so  hat  gleichwol  jeder  Mathematikus 
dieser  Meinung  gegenüber  immer  noch  genug  der  Anfechtungen  zu  be- 
stehen, und  ist  es  wol  keine  müszige  Aufgabe,  dieselbe  einmal  einer  etwas 
genaueren  Betrachtung  zu  unterziehen.  Soll  dieses  jedoch  nur  mit  eini- 
ger Gründlichkeit  geschehen ,  so  macht  sich  da  und  dort  eine  philoso- 
phische Erörterung  ohne  Weiteres  nötig,  damit  aber  auch  ein  Anschlusz 
an  irgend  ein  allgemein  verbreitetes  philosophisches  System,  denn  es  gilt, 
verstand]  iclie  Kunstausdrücke  zu  gebrauchen.  Wir  wählen  zu  diesem 
Zweck  das  knntische  System  mit  seiner  wol  immer  noch  am  meisten  ver- 
breiteten Ausdrucks  weise. 

Eine  uralte,  wol  seit  Aristoteles  geltende,  Bestimmung  scheidet 
bereits  Form  und  Gehalt  einer  Wissenschaft.  Wenn  wir  nun  hier  zunächst 
die  Grundbegriffe  der  Mathematik  zu  betrachten  anfangen,  so  beleuchten 


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Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik?         67 

wir  damit  den  schwierigsten  Teil  des  nur  durch  innere  Anschauung  und 
Betrachtung  unserer  geistigen  Tätigkeiten  zum  Bewusztsein  zu  bringen- 
den, also  ganz  intuitiven 

A)  Gehaltes  dieser  Wissenschaft. 

Die  mathematischen  Lehren  tragen  —  sowol  ihrem  Gehalt  als  ihrer 
Form  nach  —  ein  so  ganz  eigentümliches  Gepräge,  dasz  man  ehemals 
nicht  selten  die  etwas  wunderliche  Ansicht  hegte ,  als  könnte  diese  Wis- 
senschaft ohne  Beihülfe  irgend  einer  andern,  also  ganz  selbständig  ihre 
Wahrheiten  zu  einem  systematischen  Ganzen  zusammenfügen.  Allein  die 
jedem  Menschen  ganz  auf  gleiche  Weise  zu  Gebote  stehenden ,  fast  ohne 
alle  äuszere  Erfahrung  zum  Bewusztsein  zu  bringenden  mathematischen 
Erkenntnisse,  ferner  jene  die  Form  dieser  Wissenschaft  so  eng  einrah- 
menden (logischen)  Reflextonsbegrifle  von:  Einerieiheit,  Verschiedenheit; 
Form,  Gehalt;  Aeuszerem,  Innerem;  Uebereinstimmung,  Widerstreit, 
wie  wir  deren  Sonderung  zunächst  Leibnitz  verdanken,  weisen  ganz  deut- 
lich auf  ihre  metaphysische  Abkunft  hin.  Alle  mathematische  Grundan- 
schauungen, Grundbegriffe  gehören  sämtlich  eng  verflochtenen  Reihen 
philosophischer  Vorstellungen  von  Raum  und  Zeit  an. 

Darauf  deutete  im  vorigen  Jahrhundert  bereits  mit  seltener  Klarheit 
Kant,  in  diesem  wiederholt  Fries,  Apeltu.  a.  recht  oft  hin.  Jene 
Vorstellungen  kommen  deswegen  allen  Menschen  auf  dieselbe  Weise,  ver- 
möge der  gleichen  geistigen  Organisation ,  zu.  Allein ,  wie  im  bürger- 
lichen Leben  der  Nachweis  für  das  Eigentumsrecht  eines  Besitztumes  weit 
leichter  zu  führen,  als  die  Besitzergreifung  einzuleiten  ist,  so  auch  auf 
dem  philosophischen  Gebiet.  Vorstellungen  haben,  dieser  sich  mit  Be- 
wusztsein bemeistern ,  sind  zwei  wesentlich  verschiedene  Acte.  Das  alles 
läszt  sich  leicht  durch  eine  kurze  Betrachtung  klar  machen. 

Alle  unsere  Sinne  sind  unzähligen  Täuschungen  unterworfen ,  gleich- 
wol  werden  wir  durch  diese  Sinne,  namentlich  durch  den  Sehsinn  und 
Tastsinn  auf  dieses  Besitztum  mathematischer  Wahrheiten  recht  klar  hin- 
gewiesen. Was  ist  es  denn  nun,  das  unseren  äuszeren  Beobachtungen 
festen  Widerhalt  verleiht,  einen  solchen  Widerhalt  verleiht,  dasz  wir  uns 
immer  und  immer  jener  gemeinsamen  Erkenntnisse  erinnern  müssen?  — 
Wo  Zahlen  sprechen,  sagt  ein  alles  Sprichwort,  da  soll  der  Streit  enden. 
Dieser  einfach«  Ausspruch  deutet  mit  mehr  Schärfe  auf  die  Gemeinsamkeit, 
Gleichheit  mathematischer  Erkenntnisse  hin,  als  manches  philosophische 
Lehrbuch  durch  lange  Deductionen.  So  verschiedenartig  nemlich  das, 
was  unsere  fünf  Sendboten  in  die  Auszenwelt,  unsre  Sinne,  uns  zeigen, 
auch  sein  mag ,  eine  Eigenschaft  an  den  Erscheinungen  nennen  sie  uns  . 
einstimmig  alle  wieder,  das  ist  die  unabweisbare  Eigentümlichkeit,  dasz 
sie  alles  in  Zeit  und  Raum  eingegrenzt  vorfinden.  Es  sind  alle  Zeitteile, 
sowie  alle  Raumteile  völlig  gleichartig ,  wenn  daneben  sich  gleichwol  eine 
Verschiedenheit  unter  solchen  Teilen  herausstellt,  so  kann  diese  nur  noch 
durch  den  Grad ,  also  durch  die  Grösze  sich  bestimmen  lassen.  Das  Masz 
der  Grösze  ist  aber  die  Zahl  oder  die  leicht  in  Zahlen  bestimmbare  Linie. 
Die  Gemeinsamkeit  dieser  unabweisbaren ,  notwendigen  Anschauungsweise 

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68         Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik? 

sichert  uns  Menschen  eine  leichte  gegenseitige  Verständigung  —  dem 
obigen  Sprichwort  aber  volle  Geltung. 

l)  Bilder  des  Dichters  —  Schemate  des  Mathematikers.  Raum 
und  Zeit,  diese  den  Philosophen  so  beschwerlichen,  so  räthselhaften, 
der  Gröszenlehre  dagegen  so  äuszerst  willkommenen  Vorstellungen ,  von 
Kant:  Formen  des  äuszeren  und  inneren  Sinnes  genannt,  sie 
sind  es  ohne  Widerrede ,  auf  welchen  der  Mathematiker  seine  Entwürfe 
aufrollt,  abejf  auch  alle  anderweitigen  Vorstellungen  finden  sich  mehr  oder 
minder  scharf  in  diese  Rahmen  eingeschlossen,  so  die  Bilder  des  Dich- 
ters, wie  die  Schemate  des  Mathematikers.  Durch  das  schärfere  Her- 
vortreten dieser  zeitlichen  und  räumlichen  Bestimmungen  sind  aber  letz- 
tere von  ersteren  gerade  am  wesentlichsten  verschieden.  So  sorg  faltig 
Schiller  auch  in  der  Zeichnung  seines  Teils  zu  Werk  geht,  dessen  Eigen- 
tümlichkeiten bis  zur  Bogensehne  hin  angibt,  auf  eine  scharfe  Orts-  und 
Zeitbestimmung  läszt  sich  derselbe  nirgends  ein.  Bei  den  Bildern  des 
Dichters  können  wir  in  Affekt  geraten,  nicht  so  bei  den  Schema ten  des 
Mathematikers.  Letztere  lassen  uns  ganz  kalt.  Der  Traum  unterhält  mit 
Bildern  des  Dichters.  —  Es  gehört  zu  der  letzten  Art  der  Schilderungen 
eine  lebendige  Ideenverbindung ,  Seitens  des  Erfinders  derselben ,  um  nicht 
Einzelnes  zu  übersehen.  Wir  nehmen  es  dem  Dichter  gar  nicht  so  übel, 
wenn  er  uns  etwas  Unsinn  vorschwatzt ,  Rosz  und  Mann  in  einen  Centaur 
zusammenzieht,  wenn  er  mit  Sonnenweiten  Milliarden,  wie  mit  Rechen- 
pfennigen spielt,  erfreuen  uns  recht  innig  an  den  schönen,  sinnigen  Ara- 
besken Raphael's,  hören  aber  daneben  auch  in  alten  Tagen  noch  die  bunten 
Erzählungen  aus  Tausend  und  einer  Nacht  und  die  Belagerung  von  Troja 
mit  einem  gewissen  Wohlgefallen  an. 

Ganz  anders  steht  es  um  die  ganz  eigentümlichen  Bilder  —  jene 
Schemate  des  Mathematikers,  obwol  sie  mit  den  Bildern  des  Dichters 
dieselbe  Geburtsstätte  gemeinsam  haben.  Während  letzterer  durch  recht 
viel  Einzelnes  seine  Schilderungen  zu  beleben  streben  musz ,  liegt  es  dem 
Mathematiker  gerade  ob,  das  Einzelne  aufzuopfern,  nur  ganz  Allgemeines, 
die  Form  eines  Ganzen  oder  die  Form  der  Verbindung  mannig- 
faltiger Teile  zu  einem  Ganzen  im  Auge  zu  behalten.  Manche  dieser 
mathemalischen  Schemate  bilden  sich  uns  von  selbst ,  anderer  müssen  wir 
dagegen  uns  durch  einen  oft  recht  künstlichen ,  geistigen  Mechanismus 
bemeistern.  Das  Bild  einer  Stadt,  einer  Gegend  verbleicht  mit  der  Zeit 
von  selbst  zum  bloszen  Grundrisz-Schema.  Welches  Gedächtnisz  vermöchte 
auch  auf  Jahre  hinaus  jeden  Ziegel  des  Daches,  jede  Thurmspitze,  jedes 
Thor,  jedes  Haus  mit  Klarheit  behalten  können? 

Wird  dagegen  von  Jemandem  verlangt ,  er  solle  sich  das  Bild  eines 
mathematischen  Dreiecks  entwerfen ,  so  hat  er  von  den  durch  die  Phan- 
tasie vorgeschlagenen  Linien  alle  Farben,  jede  Breite  geflissentlich  zu  be- 
seitigen, die  Figur  mit  Willen  nicht  gleichseitig,  auch  nicht  recht-  oder 
stumpfwinkelig  werden  zu  lassen,  jeden  Hintergrund  und  eben  so  jeden 
Vordergrund  zu  entfernen,  nur  die  Eigentümlichkeiten:  Dreieckigkeit, 
Dreiseitigkeit  vorzuführen,  soll  überhaupt  das  Ideal  einer  solchen  Zeich- 
nung entstehen.  —  Das  Schema  einer  Grösze  ist  die  Zahl    Diese 

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Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik?         69 

stellt  nicht  allein  eine  Menge  Einheiten,  woraus  die  Grösze  besteht,  vor, 
sondern  auch  die  Art  der  Verbindung  zu  einem  Ganzen.    Wir  bilden  die 
Zahl,  indem  wir  nacheinander  die  Eins  als  Zeichen  des  Maszes  in  die  Zeit 
und  den  Raum  hineindenken,  eine  bestimmte  Reihe  solcher  Einsen  mit 
einem  Begriff  und  dann  mit  einem  Namen,  zuletzt  mit  einem  Zeichen  (Zif- 
fer) belegen.   Aber  welche  Beschaffenheiten  hat  denn  diese  Eins?  Auszer 
dem  Ausgedehntsein,  gar  keine«   Was  musz  hier  geflissentlich  vermieden 
werden?    Sehr  vieles!    Soll  eine  Menge  Menschen  mit  einer  Zahl  belegt 
werden,  so  ist  von  aller  Verschiedenheit  derselben  abzusehen,  lediglich 
der  numerische  Unterschied  sicherzustellen.     Es  ist  somit  ein  solches 
Schema  durch  seine  Allgemeinheit  und  gewissermaszen  auch  durch 
seine  Beweglichkeit,  also  dadurch,  dasz  es  gleichsam  zwischen  vielen 
ähnlichen  Bildern  innen  schwebt,  ein  Ideal,  einem  gewissen  Begriff  ge- 
mäsz  entworfen ,  mit  dem  es  vollständig  congruent  sein  musz.     Die  grö- 
szere  Klarheit  solcher  Schema te  verleiht  auch  den  damit  verbundenen 
Begriffen- eine  schärfere  Abgrenzung,  Sicherheit,  Brauchbarkeit.    Der  Be- 
griff enthält  nicht  mehr  Eigentümliches,  als  was  das  Schema  bereits  hat. 
Mit  geschlossenen  Augen  entwerfen  wir  die  klarsten,  mathematischen 
Schemate.     Da  nun  dieselben  aller  sinnlichen  Beschaffenheiten  entkleidet 
sind,  wirken  sie  nicht  auf  unsere  Empfindung,  sie  lassen  —  im  Gegen- 
satz zu  den  Bildern  des  Dichters' —  kalt,  erregen  keine  Affekte.     Diese 
Schemale  lassen  sich  ferner  wegen  ihrer  Klarheit  leicht  von  dem  Bewuszl- 
sein festhalten ,  sie  behaupten  nichts  Einzelnes,  sind  allgemeine  und 
iiotweidige  Zusammenstellungen  unserer  Einbildungskraft.  Sie  stehen 
uns  jeden  Augenblick  zu  Gebot,  während  der  Dichter  die  Zuthaten  zu  sei- 
nen Bildern  von  der  Erfahruug  zu  erwarten  hat,  diese  also  mehr  zufällig 
sind.  Alle  mathematischen  Begriffe  —  Axiome,  Postulate,  Definitionen  — 
ruhen  auf  solchen  Bildern  als  ihren  Grundanschauungen.  Die  Philosophen 
nennen  diese  Art  Abstractionen  quantitative,  im  Gegensatz  zu  den 
qualitativen,  wo  lediglich  die  vielen  Vorstellungen  zukommenden, 
gemeinsamen  Teilvorstellungen  festgehalten ,  zu  einem  Ganzen  verbunden 
werden.     Die  Vorstellungen  Rose,  Lilie,  Veilchen  usw.  führen  zwar  auf 
die  Abstraction :  Blume,  denn  sie  haben  das  Merkmal :  'Blumenhaftes'  ge- 
meinsam in    sich;   keineswegs  aber  auf  ein  mathematisches  Schema. 
Während  die  mathematischen  Abstractionen  wahre  Ideale  der  Klarheit 
vorstellen ,  leiden  die  philosophischen  wegen  des  Mangels  an  Anschaulich- 
keit und  ihrer  zu  groszen  Allgemeinheit  gerade  an  dieser  löblichen  Eigen- 
schaft.    Freiheit,  Unsterblichkeit,   Unendlichkeit   sind   derartige,   aber 
auch  unklare  Vorstellungen,  niemand  kann  sich  ein  Bild  dazu  entwerfen, 
sondern  wir  gelangen  zu  ihnen  nur  auf  dem  Weg  der  Spekulation ,  also 
ohne  Anschauung ,  lediglich  durch  Begriffe. 

Was  die  auf  diesen  Schematen  ruhenden  Begriffe  ferner  anbelangt, 
so  sind  dieselben  nicht  blosz  durch  Denken  gewonnene  Zusammensetzun- 
gen von  Geschlechtsbegriffen  und  Artunterschieden ,  wie  in  anderen  Wis- 
senschaften, sondern  jedes  hier  verwendete  Merkmal  hat  eine  solche 
Anschaulichkeit ,  dasz  es  sich  nach  Form  und  Inhalt  von  anderen  unter- 
scheiden läszt.     Diese  Begriffe  lassen  sich  —  construiren,  also  als 


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70         Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik? 

möglich  nachweisen.  Ferner  bringt  jedes  mathematische  Urteil  zu  einen 
Subjekt  ein  neues  Prädicat  hinzu,  während  bei  rein  philosophischen  I  r 
teilen  das  Umgekehrte  statt  hat.  Man  betrachte  die  Salze;  Zwischen  zwo» 
Punkten  ist  die  gerade  Linie  die  kürzeste  und :  Alles  Gleichzeitige  befind» 
sich  in  notwendiger  Wechselwirkung.    Dort  ist  Subjekt :  Linie ,  das  Pnl 
dicat:  Kürze,  hier  Wechselwirkung  das  zweite,  was  zu  dem  Präilica 
Gleichzeitig  erst  hinzukommt.    Davon  liegt  der  Grund  ebenfalls  wieder  i 
der  Möglichkeit,  schematisiren  zu  können.     Also  Khrhrit  ihr  Schemai 
ist  für  den  Mathematiker  Alles ,  denn  von  dieser  hängt  die  der  Begi 
und  zuletzt  die  der  Schlüsse  ab.   Ob  der  Knabe  eine  streng  plnlosophfei 
also  schulgerechte  Definition  von  Infinitiv,  Nominativ  a,  a.  grammatisel 
Ausdrücken  zu  geben  vermag  oder  nicht,  das  hemmt  den  Fortgang 
seinen  sprachlichen  Studien  wenig,  nicht  so  auf  dem  mathematisch*« 
biet.  —  Darum  ist  bei  Anfängern  die  Kunst  des  Schema! isireus ,  wo  tu 
lieh,  recht  zu  üben  —  worauf  früher  Pestalozzi  schon  so  vielfach  in 
Schriften  hinwies.  Wo  ist  aber 

2)  Die  Geburtsstätte 
dieser  Schemate  zu  suchen? 

Wir  haben  es  mit  einer  der  Aufmerksamkeit,  man  möchte  s 
gerade  entgegengesetzten  geistigen  Operation  zu  thun ,  denn  scharf  i 
etwas  hinsehen  und  von  etwas  absehen,  tragen  fast  widerspreche! 
Merkmale  in  sich.     Dort  gilt  es,  Vorstellungen  zu  beachten,  hier 
gleichen,  wenn  sie  sich  aufdrängen,  zurückzuweisen ,  uns  gegen  sie 
zusperren.   Erinnern  wir  uns  nur  an  die  Mühen ,  grossen  Mühen ,  weh 
wir  hatten,  Lesen  und  Schreiben  zu  lernen.  Von  wie  vielem  musteti 
anfänglich  absehen,  wie  sehr  hatte  die  Willenskraft  anderer  Seils  ei 
wirken,  um  den  Schriftzügen  des  Lehrers  zu  folgen  ?    Ein  ganz  ahnlic 
Bewandtnis  hat  es  bei  dem  Entwerfen  von  mathematischen  Schema  tea 

Kant  sagt  in  seiner  Anthropologie  desfalls  sehr  sinnreich: 

'Von  einer  Vorstellung  absehen  zu  können,  selbst  wenn  sie 
dem  Menschen  durch  den  Sinn  aufdrängt,  ist  ein  weit  grosseres  Verraö, 
als  das  Aufzumerken,  wTeil  es  eine  Freiheit  unsers  Denkvermögens  i 
Eigenmacht  des  Geistes  bewreist,  den  Zustand  seiner  Vorstellung  in  *ei« 
Gewalt  zu  haben  (animi  sui  compos).  In  dieser  Rücksicht  ist  nun  das  V 
mögen  abzusehen  viel  schwerer,  aber  auch  wichtiger,  als  das  der  Aufini 
samkeit.  Viele  Menschen  sind  unglücklich,  weil  sie  nicht  absehen  köj 
Der  Freier  könnte  eine  gute  Heirat  machen,  wenn  er  mir  über  eine  Wj 
im  Gesicht,  oder  über  eine  Zahnlücke  seiner  Geliebten  wegsehen  koi 
Es  ist  aber  eine  besondere  Unart  unserer  Aufmerksamkeit ,  gerade  t 
was  fehlerhaft  an  anderen  ist,  auch  unwillkürlich  zu  beachten,  sc 
Augen  gerade  auf  einen  dem  Gesicht  gegenüber  am  Rock  fehlenden  ku 
oder  einen  gewöhnlichen  Sprachfehler  zu  richten,  den  anderen  dadur 
zu  verwirren,  sich  selbst  aber  auch  im  Umgang  das  Spiel  zu  verde i  bfM 

Die  Schwierigkeit  der  Bildung  solcher  Schemate  liegt  darum  wo!  i 


Dadurch,  dasz  wir  einen  vernünftigen  von  auszen  her  erregl 
Geist  besitzen ,  dasz  dessen  Selbsttätigkeiten  auf  das  engste  verbumlci 

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Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  au  der  Mathematik?         71 

sich  zeigen,  darum  keine  getrennten,  theilweisen  Anregungen  unseres 
Geisteslebens  möglich  sind,  rausz  eine  Vorstellung  notwendig  andere  — 
wie  eine  Welle  andere  Wellen  —  beleben.  Unter  diesen  herbeigeführten 
Vorstellungen  wird  ein  guter  Teil  zur  Bildung  der  obigen  Schemate  — 
und  zwar  alles  auf  Raum  und  Zeit  Bezügliche  —  zu  verwenden ,  ein  un- 
gleich gröszerer  Teil  dagegen  zur  Seite  zu  weisen  sein.  Alle  durch  die 
Sinne  uns  gewordenen  Vorstellungen  der  ersten  sinnlichen  Beschaffen- 
heiten der  Dinge  um  uns,  wie  die  von  Düften,  Gerüchen,  Schall,  Wärme, 
ja  sogar  auch  von  Farben ,  bleiben  unanwendbar. 

Es  rufen  aber  Vorstellungen  einander  aus  dem  dunkelen  Inneren  un- 
seres Geisteslebens  vor  das  Bewustsein ,  je  enger  sie  in  einem  und  dem- 
selben Vorstellungsact  früher  verbunden  erschienen.  Jugenderinnerungen 
tauchen  auch  in  den  spätesten  Jahren  nicht  vereinzelt  auf. 

Frühere  Gemütszustände,  sofern  sie  noch  auf  den  gegenwärtigen 
einzuwirken  vermögen,  sind  ebenfalls  ein  sehr  sicheres  Mittel,  längst 
schlummernde  Vorstellungen  gleichzeitig  wieder  zu  beleben.  Der  unver- 
hoffteste und  leiseste  Trommelschlag  richtet  auch  den  längst  ausgedienten 
Soldaten  in  die  vor  Zeiten  eingelernte  Haltung ,  in  den  ordonanzmäszigen 
Schritt. 

Vorstellungen,  welche  durch  die  Art  und  Weise  ihrer  Entstehung 
gkichsam  verwandt  siud>  erwecken  sich  ebenfalls  mit  groszer  Gewalt 
we4er,  so  jene  alle,  die  wir  dem  Sehsinn  oder  dem  Ohr  verdanken.  Die 
ersten  Takte  einer  Melodie  beleben  in  uns  die  Vorstellung  von  allen  nach- 
senden Takten.  Welche  ungemein  feste  Verkettung  dadurch  unter  den 
Vorstellungen  bedingt  wird,  dafür  finden  wir  die  deutlichsten  Beweise  in 
der  Ideenflucht  Wahnsinniger,  wo  die  Geschwätzigkeit  der  Phantasie  iti 
rastloser  Eile  von  einer  Vorstellung  zu  einer  ähnlichen  anderen  eilt,  im 
bewustlosen  Thun  und  Treiben  von  Mondsüchtigen,  Nachtwandeiern.  — 
Will  darum  der  angehende  Mathematiker  seine  von  allen  Beschaffenheiten 
der  Sinnenwelt  entblöszten  Schemate  entwerfen,  will  er  vor  seinem  Be- 
wustsein nur  aus  Räumlichem  und  Zeitlichem  zusammengesetztes  fest- 
halten, so  gilt  es,  mittelst  des  Verstandes  die  eben  bezeichneten  Bän- 
der, womit  die  Vorstellungen  verkettet  sind,  gewaltsam  zu  zerreiszen, 
Dieses  ist  aber  kein  so  leichter  geistiger  Act ,  als  man  gewöhnlich  meint. 
Ohne  Mühe  folgt  selbst  das  Kind  einer  für  dasselbe  noch  unverständlichen 
Musik,  angeregt  durch  das  ihm  unbewust  lebendig  gewordene  Affekten- 
spiel; mit  Spannung  musz  es  dagegen  schon  die  Schriftzüge  seines  Schreib- 
lehrers nachzuahmen  suchen.  Mathematische  Schemate  können  aber  gar 
kein  Gefühl  der  Lust  rege  machen,  denn  sie  sind  lediglich  Sache  der 
Ueberleguug ,  darum  gilt  es  hier ,  mit  der  g  a  u  z  e  n  G  e  w  a  1 1  eines  festen 
Willens  einzugreifen.  Welcher  lange  Weg  von  einem  Bleifederstrich 
bis  zu  dem  Schema  einer  Linie!  Farbe,  Breite  des  gezeichneten  Striches 
musz  zunächst  bei  der  Vorstellung  davon  wegfallen,  ebenso  musz  die 
Beschaffenheit  des  gebrauchten  Papieres,  des  Griffels  vergessen  werden, 
femer  ist  von  allem  abzusehen ,  was  während  des  Zeichnens  einer  solchen, 
sogenannten  Linie  ringsum  geschah. 

Ist  es  darum  lebhaften  Knaben  zu  verargen,  wenn  sie  eben  keine 


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72         Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik? 

besondere  Lust  zeigen ,  sich  der  mathematischen  Vorstellungen  zu  hemei- 
stern?  Sicher  nicht!  Es  macht  Mühe,  zu  jenen  mathematischen  Grund- 
Schematen  eine  Fertigkeit  zu  erlangen.  Sind  freilich  diese  ersten  Grund- 
lagen einmal  gewonnen,  mit  rechter  Klarheit  aufgefaszt  worden,  dann 
wird  es  gerade  lebhaften  Naturen  leichter,  als  anderen,  zu  dem  Zu- 
sammengesetzteren weiter  zu  schreiten.  Newton  gestand  mehrfach  zu, 
dasz  ihm  Euklid's  Elemente  viele  Mühen  verursachten;  gleichwol  vermag 
jeder  gesunde  Verstand  sich  dieser.  Grundanschauungen  mit  Klarheit  zu 
bemeistern ,  während  für  die  Erlernung  von  Künsten  sich  dieses  nicht  be- 
haupten läszt.  Wir  können  Niemandem  zumuten,  die  Reinheit  des  Inter- 
valles  zweier  Töne  zu  bestimmen. 

B)  Form  der  mathematischen  Lehren. 

Dieses  Alles  traf  die  Grundlagen  für  den  anschaulichen  Gehalt 
der  mathematischen  Lehren ,  wie  steht  es  denn  nun  um  die  Art  und  Weise 
der  Verbindung  derselben? 

Mathematische  Lehrbücher  zerfallen  gewöhnlich  in  zwei  Hauptteile, 
einmal  in  eine  Zusammenstellung  von  Definitionen,  Axiomen,  Postulaten, 
dann  in  eine  solche  von  Lehrsätzen  und  Aufgaben.  Jene  sind  gewisser- 
maszen  Glaubenssätze  (Dogmen),  welche  als  allgemeinste,  notwendige 
Grunderkenntnisse  auch  als  unumstöszliche  hingenommen  werden  müssen. 
Von  ihnen  dagegen  abhängig  bleiben  die  Lehrsätze,  Aufgaben  mit  ihren 
Beweisen  und  Lösungen,  und  dieses  Alles  ist  durch  eine  sogenannte  hypo- 
thetische Verflechtung  mit  einander  auf  das  engste  verbunden.  Eine  solche 
Schluszkette  folgt  mehr  oder  minder  hervortretend  immer  der  Form : 

A  gilt 
Wenn  A  gilt,  gilt  B 

Bgüt 
Wenn  B  gilt,  gilt  C 

Cgilt 
Wenn  C  gilt,  gilt  D  usw. 
wo  A,  B,  C  lediglich  synthetische  Urteile,  also  nur  solche  sein  dürfen, 
in  welchen  das  Prädicat  dem  Subjekt  ganz  neue  Vorstellungen  als  Begriffe 
beilegt.  Das  Urteil :  'der  Adler  ist  ein  Vogel'  gibt  nichts  Neues,  es  ist  ana- 
lytischer Natur,  dagegen  liegt  in  dem  Axiom:  'Zwischen  zwei  Punkten 
ist  die  gerade  Linie  die  kürzeste9  für  diese  Linie  etwas  ganz  Neues:  Kürze 
als  Prädicat. 

Wenn  nun  jedes  rein  philosophische  System  seine  Behauptungen 
immer  in  kategorischer  Form ,  jedes  geschichtliche  seine  losen  Bausteine 
durch  Gonjunktionen  zu  einem  Ganzen  verbunden  anbieten  musz,  so  bat 
der  Mathematiker  in  seiner  hypothetischen  Verflechtung  neben  jenen  die 
festeste  Verbindung  für  seine  Wahrheiten,  und  kein  Teil ,  auch  nicht  der 
kleinste  seiner  Wissenschaft,  vermag  sich  dieser  Art  der  Verflechtung 
zu  entschlagen.  Obwol  wir  nun  im  Leben  solche  Schluszketten  ebenfalls 
häufig  verwenden ,  bieten  sie  hier  doch  ihre  ganz  eigentümlichen  Schwie- 
rigkeiten. Es  kommt  nemlich  bei  diesen  langen  logischen  Verbindungen 
nicht  allein  darauf  an,  allgemeine,  notwendige  Urteile  mittelst  des  Ge- 


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Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik?         73 

däehtnisses  festzuhalten,  sondern  es  gilt  vornehmlich,  diese  als  Vorder« 
sätze  und  zugleich  daneben  alle  Mittelsätze  judiciös  aufzufassen  und  mit 
voller  Klarheit  vor  das  Bevvustsein  zu  bringen.  Lediglich  und  nur  auf 
diesem  Weg  läszt  sich  das  Verständnis  von  einem  zum  anderen  mathe- 
matischen Satz  übertragen.  Welche  Länge  aber  diese  Ketten  haben ,  dafür 
gibt  folgende  Tabelle  ein  anschauliches  Bild.  Euklid's  Lehrsalz  5,  dasz  in 
dem  gleichschenkligen  Dreieck  die  Winkel  an  der  Basis  gleich  sind ,  stützt 
sich  auf  folgende  Vordersätze,  Lehrsätze  und  Aufgaben: 

Lehrsatz  5. 

, * s 

Lehrs.  4.  Forder.  2.                    Aufg.  3.                 Grunds.  3. 

244  sind  ^  aus  Eine  Gerade  zu  V.  einer  Geraden  Von  Gleichem 

Gleichh.  2.  Seiten  verlängern.  ein  best.  Stück  Gleiches  hin- 

u.  des  eingeschl,  abzuschneiden.  *  weggen..  läszt 


Winkels. 


Grunds.  6.  Def.  8 

Zwei  Gerade  schlieszen        des  Winkels, 
keinen  Baum  ein. 


Jleich 


es. 


Aufg.  2.                    Ford.  3.  Def.  15  Grunds.  1. 

Durch  einen  P.  eine  E.  Kreis    zu  des  Krei-  Zwei  Gröszen,  die  einer 

Gerade  von  best.  beschreiben.           ses.  3.  gl.  sind,  sind  selbst 

Länge  zu  legen.  gleich. 

Ford.  3.  Aufg.  1.  Ford.  1.  Ford.  2. 

Ein  gleichs.  A  V.  einem  P.  zum  andern 

zu  construieren.  eine  Gerade  zu  ziehen. 

Ford.  1.  Grunds.  1.  Ford.  3.  Def.  15. 

Ueberblicken  wir  nochmals  das  Ganze ,  so  finden  wir  hier  drei  eng  ver- 
bundene Aufgaben  nebeneinander.  1)  Das  der  Mathematik  ganz  allein  zu- 
kommende Schematisiren ;  2)  das  Formiren  von  mathematischen  Begriffen ; 
3;  das  Verwenden  des  vorigen  zu  Urteilen,  Schlüssen,  endlich  zum  Aufbau 
eines  ganzen  Systemes.  Hiervon  bietet  das  ganz  uniehrbare  Schematisiren, 
dieses  Entwerfen  der  einfachsten  Grundconstructionen  immer  die  gröszten 
Schwierigkeiten  für  den  Anfänger.  So  einfach  nemlich  solche  Schemate 
einerseits  ausfallen  sollen ,  müssen,  sie  doch  andererseits  in  ihrer  Zusam- 
mensetzung stets  allgemeinste,  notwendige  Verbindungen  von  Formen 
anbieten.  Der  Anfänger  bleibt  aber  in  der  Regel  bei  dem  Einzelnen  stehen, 
statt  sich  zum  Allgemeinen  zu  erheben,  bildet,  bei  dem  Verlangen:  ein 
Dreieck  zu  denken,  sich  gewöhnlich  ein  gleichseitiges,  gleichschenkeliges 
oder  sonst  eine  Art  des  Dreieckes  aus,  statt  ein  allgemeines  Bild  dieser 
Figur  zusammenzustellen.  Jür  das  Entwerfen  der  diesen  Schematen  ent- 
sprechenden Begriffe,  Urteile  usw.  können  wir  schon  dem  psychologischen 
Mechanismus  durch  logische  Mittel  mehr  zur  Hülfe  kommen.  Euklid's  Sy- 
stem z.  B. ,  welches  man  gewöhnlich  mit  dem  Namen  eines  synthetischen 
belegt,  ist  ein  blosz  ostensives  Verfahren,  die  Wahrheit  eines  Salzes 
nachzuweisen ;  dieses  läszt  sich  leicht  in  ein  sogenanntes  heuristisches  zu 
Gunsten  leichterer  Erfindung  von  Wahrheiten  umwandeln ,  indem  wir  vom 
Einzelnen  auf  Allgemeines  zurückschreiten ,  also  den  regressiven  Gang  " 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.   1864.  Hft.  2.  D$tized  by  Gc 


74         Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik? 

einschlagen  f  während  das  ohen  hingegebene  Schema  einen  progressiven 
Weg  nimmt.  Wie  dem  aber  auch  nun  sei,  für  den  angehenden  Mathema- 
tiker mu\  alle  diese  Operationen  schwer  zu  nennen. 

Wenn  nun  dieses  der  Fall  ist,  weshalb  mutet  man  denn  ohne  Aus- 
nahme jungen  Leuten  höherer  Bildungsanstalten  so  Unverdauliches  zu? 
Darauf  dient  als  Antwort:  Wir  haben  es  hier  für  unsere  innere  geistige 
Aufklärung  mit  einem  Bildungsstoff  zu  thun,  wie  keine  andere  Wissen- 
schaft dergleichen  anbieten  kann.  Ganz  und  gar  von  aller  äuszeren  Er- 
fahrung verlassen,  hat  der  Mathematiker  in  innerer  Beschauung  sein 
System  aufzubauen,  ist  darum  zur  umfassendsten  Kenntnisnahme  seines 
geistigen  Eigentumes,  seiner  geistigen  Thätigkeiten ,  zu  einer  sehr  be- 
sonnenen, nüchternen  Einschau  in  sich  selbst  gezwungen.  Unsere  Bil- 
dung auf  Schulen,  was  will  diese  aber  zunächst?  —  doch  nur  Besitz- 
ergreifung des  geistigen  Eigentumes,  Selbsterkenntnis,  oder  wie  man 
sonst  das  alte:  yvujBi  C€<XUTÖv  übersetzen  mag.  Dafür  sagte  aber  schon 
J.  Fr.  Fries  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  in  seiner  Psychologie  so  tref- 
fend :  bliese  Bildung  der  Seibsterkenntnisz  oder  Besonnenheit,  in  welcher 
der  Mensch  seiner  Meister  wird,  ist  die  Grundlage  aller  Geistesbildung, 
daher  von  höchster  Bedeutung.  Die  Macht  des  Verstandes  über  das  Be- 
wustsein  ist  die  innerste  Gewalt,  durch  die  der  Mensch  sich  selbst  besitzt. 

—  Dieses  wache  und  dabei  verständige  Bewustsein  entscheidet 

innerlich,  was  der  Mensch  ist  und  Unit,  worin  er  frei  zu  nennen  sei,  was 
ihm  zugerechnet  werden  könne,  Ueber  dunkeles  Selbstgefühl  erhebt  der 
Mensch  allmülig  die  Klarheit  des  Selbstbewustseins,  und  diese  stufenweise 
Fortbildung  zur  höheren  Besonnenheit  zeigt  am  unmittelbarsten  das  Fort- 
schreiten des  Menschengeistes'. 

Ist  denn  nun  an  den  mathematischen  Lehren  für  den  Anfänger  alles 
schwer?  —  Sicher  nicht!  Es  läszt  sich  vielmehr  leicht  nachweisen,  dasz 
gerade  durch  die  einförmige  Architektonik  des  mathematischen  Systemes, 
daneben  durch  den  beschränkten,  besser,  genau  abgegrenzten  anschau- 
lichen Gehalt  dieser  Wissenschaft  das  Verständnis  bei  weitem  mehr  er- 
leichtert werden  musz,  als  in  anderen  Unterrichtsstoffen.  Doch  davon 
vielleicht  ein  anderes  Mal! 

HUdbuj  ghausen  d.  23.  Febr.  1863.  Prof.  Büchner. 


9. 

Vocabulaire  systematique  anglais-frangais  et  guide  de  conver- 
saUon  anglaise,  par  R.  Koenig  Dr.  phil.  (X.  314.)  Olden- 
burg 1863.    Schmidt. 

Der  Inhalt  ist  in  3  Abteilungen  gebracht:  Gott,  Natur,  Menschheit, 
von  denen  jede  wieder  in  eine  Reihe  Unterabteilungen  zerfällt.  Zu  I  sind 
gezogen;  1)  Religion,  Gottesdienst,  2)  abstracte  Begriffe,  3)  Zeit;  zu  II: 

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J 


R.  Koenig :  Vocabulaire  syst£matique  anglais-fran$ais.  75 

4}  ÜBiversam,  5)  Erde  und  Meer,  6)  Thierreich,  7)  Pflanzenreich,  8)  Mine- 
ralreich; zu  III:  9)  der  menschliche  Körper,  10)  Gesundheit  und  Krank- 
heit, 11)  Nahrung,  12)  Kleidung,  13)  Wohnung,  14)  die  Stadt,  15)  die 
Seele,  16)  der  moralische  Mensch,  17)  der  sociale  Mensch,  18)  die  bürger- 
liche Gesellschaft,  19)  Gesetzgebung,  20)  Heer,  21)  Seewesen,  22)  Erzie- 
hung und  Unterricht,  23)  Wissenschaft  und  Künste,  24)  Handel,  25)  Reisen, 
26)  Kunst  und  Handwerk,  27)  Ackerbau,  Jagd  und  Fischfang,  28)  Ver- 
gnügungen. -—  Ihnen  schlieszt  sich  als  zweiter  Teil  eine  Phraseologie  an, 
welche  englische  Redensarten  und  Anglicismen ,  französische  Redensarten 
und  Gallieismen  mit  der  entsprechenden  französischen  und  englischen 
üebersetzung  enthält ,  und  eine  Sammlung  englischer  Sprüchwörter.  So- 
daun  folgt  eine  kurze  Zusammenstellung  englischer  Homonymen  und  eine 
alphabetische  Liste  der  im  Text  erklärten  Synonymen.  Ein  index,  der 
aber,  wie  hier  gleich  bemerkt  werden  kann,  es  leider  vielfach  an  Voll- 
ständigkeit vermissen  läszt,  schlieszt  das  Ganze.  Wir  müssen  gestehen, 
keinen  besonders  triftigen  Grund  für  die  vom  Verf.  angewandte  Einteilung 
zu  sehen,  fan  Einzelnen  genommen  läszt  sich  gegen  die  Abschnitte  nichts 
einwenden,  aber  sollte  es  nicht  praktischer  sein,  z.  R.  das  Capitel  Religion 
mit  dem  von  der  Seele  und  von  den  moralischen  Eigenschaften  des  Men- 
schen zu  verbinden?  Gehörte  nicht  der  Abschnitt  ^Erziehung'  ebenfalls 
hierher?  Durch  die  vom  Verf.  beliebte  Einteilung  wird  doch  Zusammen- 
gehöriges auseinandergerissen!  Eben  so  wenig  sehen  wir  ein,  warum 
väie  Seele9  und  f der  moralische  Mensch*  getrennt  worden ,  und  warum 
*Zeit'  unter  den  Begriff  Gottes  gebracht  worden  ist,  statt  unter  'Mensch- 
heit'. Praktisch  ist  diese  Anordnung  nicht,  insofern  als  der  Schüler,  dem 
der  innere  Zusammenhang  der  betreffenden  Capitel  nicht  so  klar  vor 
Augen  liegt,  jedenfalls  viel  Zeit  auf  das  Aufsuchen  wird  verwenden  müs- 
sen; der  Lehrer  wird  sich  schon  zu  helfen  wissen.  Der  Verf.  sagt  S.  V: 
'pour  faciliter  les  e*  tudes  personnelles ,  il  nous  a  semble1  plus  simple  et 
plus  rationnel  de  classer  les  matteres  de  notre  vocabulaire  en  trois  grands 
domaines:  Dieu,  la  nature  et  l'humanirä  avec  toutes  les  ide*es  accessoires 
qui  s'y  rattachent9  — *aher  wie  das  Studium  erleichtert  wird,  und  warum 
die  Dreiteilung  einfacher  und  vernünftiger  (als  was?)  ist,  verstehen  wir 
nicht.  Herr  Dr.  Koenig  hat  sich  das  Vocabulaire  von  Plötz  zum  Muster 
genommen,  es  wäre  wol  nicht  überflüssig  gewesen,  die  Gründe  anzu- 
geben ,  warum  er  von  der  Anordnung  dieses  in  eminenter  Weise  prakti- 
schen Schulmannes  abgewichen  ist. 

*€et  ouvragc*  heiszt  es  S.  IV,  'ne  s'adresse  point  exclusivement  aux 
Francis,  mais  ä  tous  ceux  qui  possedent  assez  le  francais  pour  baser  sur 
cette  langue  une  etude  approfondie  (?)  de  l'&nglais.9  Wir  wissen  nicht, 
wie  weit  der  Verf.  darauf  rechnet,  dasz  sein  Werk  in  Frankreich  selbst 
benutzt  wird,  befürchten  aber,  dasz  ein  geborener  Franzose  sich  in  dieser 
Weise  schwerlich  an  die  Erlernung  der  englischen  Sprache  begibt.  In- 
desz  dem  sei  wie  ihm  wolle,  der  Verf.  hat  doch  wol  hauptsächlich 
Deutschland  im  Auge,  da  in  deutschen  Schulen  das  Sprachstudium  einen 
verdientermaszen  hervorragenden  Platz  einnimmt.  Wir  wünschen  ihm 
Glück  zu  der  Ausführung  des  Planes,  für  die  höheren  Unterrichtsanstalten, 

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76  R.  Koenig:  Vocabulaire  syst^matique  anglais-francais. 

namentlich  die  Oberclassen  einer  Realschule,  ein  Handbuch  der  Conver- 
saLion  in  englischer  und  französischer  Sprache  zu  verfassen.  Der  Lehrer 
lindet  in  dem  Werke  eine  willkommene  Stütze  und  Grundlage  zurUebung 
in  der  Convcrsation  und  kann  —  ein  Vorteil,  den  wir  zu  schätzen  wis- 
sen —  bald  in  englischer,  bald  in  französischer  Sprache  sich  mit  seinen 
Schülern  unterhalten  und  ihnen  somit  leichter  die  Uebereinstimmung 
und  die  Verschiedenheit  beider  Sprachen  vor  die  Augen  führen.  Allein 
man  mag  sagen  was  man  will,  im  Geiste  des  Schülers  nicht  nur,  sondern 
auch  in  dem  des  Lehrers ,  und  wenn  derselbe  auch  durch  Studium  und 
durch  lungeren  Aufenthalt  im  Auslande  sich  in  den  Geist  der  fremden 
Sprachen  hineingearbeitet  hat,  bildet  das  Deutsche  stets,  mehr  oder  min- 
der, den  Ausgangspunkt  der  Vorstellungen.  Der  Verf.  hat  allerdings  wol 
imhewust,  aber  als  Deutscher  von  Geburt,  sich  bei  der  Aufstellung  des 
englischen  Textes  von  deutschen  Vorstellungen  leiten  lassen ;  denn  die 
Fälle,  in  denen  eine  französische  Vorstellung  ein  englisches  Wort  veran- 
lass L,  sind  vi  rhältnismäszig  sehr  selten,  so  viel  wir  haben  sehen  können. 
Wir  wünschten  in  dieser  Beziehung  eine  gröszere  Berücksichtigung  der 
eigentümlichen  Ausdrücke  der  deutschen  Sprache,  und  ihr  entsprechend 
einen  grösseren  Reichtum  an  echt  englischen  Ausdrucksweisen ,  als  der 
Verf.  für  gut  befunden  hat  uns  zu  geben.  Wir  greifen  auf  Geratewol 
einen  Artikel  heraus,  z.  B.  bei  hand  (S.  69)  vermissen  wir  eine  Reihe  von 
ganz  gcwölm liehen  Ausdrucksweisen,  wie:  lake  hands,  to  be  at  hand,  to 
have  a  hand  in  (a  matter),  in  the  turn  of  a  hand,  to  lay  hand  upon  o.,  lo 
come  to  hands,  off-hand,  on  the  one  hand  —  on  the  other,  hand  over 
ht»ad  usw.  Es  mag  sein,  dasz  diese  und  andere  Ausdrücke  an  einer  ande- 
ren Stelle  vorkommen,  dasz  auch  der  Verf.  vielleicht  aus  pädagogischen 
Rücksichten,  um  das  Buch  nicht  über  Gebühr  aufschwellen  zu  lassen,  sie 
unberücksichtigt  gelassen  hat;  uns  steht  aber  das  Princip  hoch,  welches 
der  Verfr  in  der  Vorrede  anerkannt  hat:  die  gegebene  Idee  musz  in  ihren 
Verzweigungen,  so  zu  sagen,  verfolgt  und  dargestellt  werden.  Das 
höchste  Stichen  des  Unterrichts  in  einer  fremden  Sprache  kann  eben  nur 
das  sein,  den  Schüler  in  den  Geist  derselben  einzuweihen,  ihm  die  An- 
schauungsweise des  fremden  Volks  klar  vorzuführen,  so  dasz  er  die 
Eigentümlichkeiten  und  Besonderheiten  desselben  seinem  Gedächtnisse 
einprägen  und  sie  beim  Gebrauch  anwenden  lernt.  Es  wäre  eine  ver- 
dienstvolle Arbeit,  durch  welche  das  Studium  der  englischen  Sprache  sehr 
gefördert  werden  könuic,  wenn  mau  die  einzelnen  Begriffe  in  ihrer  gan- 
zen Ausdehnung  und  Tiefe  verfolgte,  wenn  mau  somit  zeigte,  wie  sich 
der  Engländer  das  betreffende  Wort  eigentlich  vorstellt,  und  welche  Vor- 
jUellungsreihen  sich  an  die  ursprüngliche  Bedeutung  desselben  anknüpf- 
ten. Man  würde  so  manche  paradoxe  Erscheinung  als  wolbegründet  er- 
klären können,  manche  Ausnahme  als  Teil  einer  Regel  erkennen,  auch 
manches ..  das  uns  im  Leben  und  Treiben  des  Engländers  auffällt  und  un- 
erklärlich dünkt,  als  im  engsten  Zusammenhang  mit  seinem  innersten 
Denken  stehend  finden. 

Indem  wir  zu  dem  Inhalte  selbst  übergehen ,  müssen  wir  bemerken, 
dasz  uns  der  Umfang  desselben  zu  einer  Beschränkung  nötigt;  es  wäre 


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R.  Koenig :  Vocabulaire  syslematique  anglais-francais.  77 

unmöglich,  alles  das,  was  bei  einer  genaueren  Durchsicht  des  Werkes  als 
wünschenswerth  oder  einer  Bemerkung  bedürftig  erscheinen  könnte,  in 
einem  Referate  wie  diese  Zeitschrift  es  erfordert ,  anzuführen.  Wir  be- 
schränken uns  daher  auf  einige  Gapitel. 

Zuerst  sind  uns  die  Gitate  aufgefallen.  Wozu  die  Stelle  aus  Müton's 
Paradise  Lost?  um  dem  Schüler  etwa  über  Eden  und  Paradise  aufzu- 
klären? —  S.  6  ist  neben  der  Erklärung  von  seeptie  noch  ein  Citat  aus 
Clarke  zu  finden:  sufler  not  your  failh  to  be  shaken  by  seeptics.  Man 
fragt:  cui  bono?  —  S.  32  gegnügt  es  nicht  in  der  Anm.  zu  sagen:  mora 
is  chiefly  used  in  poetry;  musz  dazu  ein  Citat  aus  Prior  als  Beweis  die- 
nen? Bei  morning-dew  wird  bemerkt:  m.  is  here  employed  as  adjeetive 
(sollte  der  Schüler  nicht  wissen  dasz  dem  Engländer  solche  Substantiv- 
Verbindungen  sehr  geläufig  sind!)  und  dazu  ein  Citat  aus  Shakespeare: 
she  looks  as  clear  as  inorning  roses  newly  washed  with  dew!  —  Zu 
twilight  ist  Milton  angezogen  in  einer  Stelle  wo  es  Abenddämmerung  be- 
deutet: warum  fehlt  dann  ein  Citat,  worin  es  Morgendämmerung  heiszt? 

—  S.  33  werden  sogar  Bale  und  Spenser  citiert,  welche  unter,  hours 
auch  Betstunden  verstehen.  Wo  bleibt  da  die  Grenze  des  sprachlich  Er- 
laubten, wenn  Schriftsteller  des  16n  Jahrhunderts  herbeigezogen  werden? 
Beigloom  (S.  38)  finden  wir  Th.  Moore,  wir  hätten  lieber  eine  Erklärung 
des  vielgebrauchten  Wortes  gesehen.  —  Doch  genug.  Unserer  Meinung 
nach  gehören  Citate  überhaupt  nicht  in  ein  Werk  wie  das  vorliegende, 
nnd  wenn  man  sie  gestatten  wollte,  müsten  sie  mindestens  so  prägnant 
als  irgend  möglich  sein.  Der  Verf.  hat  es  wol  selbst  gefühlt,  wie  wenig 
passend  sie  sind ,  sich  darum  mit  einer  geringen  Zahl  begnügt.  Hoffent- 
lich verschwinden  auch  diese  in  einer  neuen  Auflage. 

S.  6  ist  to  say  grace  übersetzt  implorer  la  be'nediction ,  es  heiszt 
doch  dire  les  gräces  =  dire  la  priere  avant  ou  apres  le  repos.  —  Was 
soll  das  Folgende  bedeuten :  to  coujure ;  to  exorcise  (call  up  spirits)  = 
conjurer;  ensorceler,  evoquer  (un  esprit)?  to  exorcise  ist  doch  Geister 
austreiben,  und  ensorceler  =  behexen  d.  h.  böse  Geister  in  lern,  hin- 
eintreiben! —  S.  11  a  matter-of-fait  man  ist  nicht  =  un  homme  positif. 
Letzteres  bedeutet  un  homme  qui  aime  Pexactitude,  qui  recherche  en  tout 
la  certitude  et  la  justesse,  während  der  englische  Ausdruck  allerdings 
auch  einen  Menschen  bezeichnet,  der  überall  genau,  umständlich  zu  Werke 
geht,  dabei  aber  höchst  prosaisch,  pedantisch  und  langweilig  ist.  Wir 
gestehen,  auch  kein  entsprechendes  französisches  Wort  zu  wissen,  der 
Franzose  kennt  die  Sache  nicht,  es  hätte  daher  wol  einer  Umschreibung 
bedurft.  —  S.  12  methinks  wird  als  unstatthaft  angegeben,  es  findet  sich 
aber  trotz  Wehster  bei  guten  Schriftstellern,  wie  Bulwer,  Thackeray. 
Die  Sprache  des  gewöhnlichen  Lebens  bedient  sich  der  Phrase  sehr  oft. 

—  Bei  S.  31  bitten  wir  um  Aufklärung.  Was  heiszt  by  the  month,  by 
theweek?  Die  französische  Uebersetzung  au  mois,  ä  la  semaine  verstehen 
wir  eben  so  wenig.  —  S.  32  even-song  ist  nur  hymne  (priere)  du  soir. 
S.  33  die  Phrase  well  and  good  =  ä  la  bonne  heure  begegnet  uns  hier 
zum  ersten  Male,  auch  die  Lexica  lassen  im  Stich  —  was  dann??  — 
foat  is  something  like  =  das  läszt  sich  hören;  ist  it  aus  Versehen  weg- 


idby  Vj( 


R,  Kofcnig,*  Vocabulaire  sy stein alique  anglais-francais. 

geblieben?  wir  wöslen  nicht,  dasz  man  es  weglassen  könnte.  —  S.  34 
i.o  appoint  a  later  hour  soll  sein  =  to  put  the  dock  back.  Es  heiszt 
aber  weiter  nichts  als:  eine  spätere  Zeit  festsetzen,  wann  man  z.  B.  sich 
wieder  treffen  will. 

In  Abschnitt  l  haben  wir  nicht  gefunden:  Cardinal,  the  College  of 
Cardinais,  the  Holy  FaÜier,  Council,  synod,  prior,  preacher,  to  preach  a 
sermon  (statt  des  ungewöhnlichen  to  serraonice),  congregation,  toprofess 
a  religio«,  adherent  (member)  of  a  Church,  sexton  (neben  grave-digger), 
fnneral  procession ,  funeral  sermon,  high  (great)  altar,  to  say  mass, 
catechism,  to  catechize,  the  len  Comtmuidments,  Decalogue,  to  sacrilize, 
divination,  to  partake  of  the  Lord's  supper,  sacrament,  cup,  chalice, 
mausoleum,  ander taker,  to  go  out  of  mo Urning,  monk,  ermit,  ermitage, 
cross,  to  make  the  sign  of  thecross,  the  confessional ,  confession,  to 
confess  to  o.,  to  repent,  absolution,  Organist,  pipes  of  an  organ,  hymn- 
book,  nave,  aisle,  pew,  fout,  baplästery  —  alles  keine  ungewöhnlichen 
Wörter!  —  S.  13  bei  contrast  vermiszt  man  the  reverse;  bei  at  bariance 
(S.  14)  das  sehr  gebräuchliche  al  odds  in  to  be  (set,  fall)  at  odds,  bei 
a  matter  of  coursc  (22)  die  Bedeutung  cetwas  Alltägliches',  bei  misfor- 
lune  das  gewöhnliche  bad  heck.  —  S.  26  ist  uns  aufgefallen,  dasz 
der  Verf,  im  Text  abrid^ement  schreibt,  während  in  der  Anmerkung  das  e 
fehlt,  wie  auch  anderswo  judgment  ohne  e  geschrieben  ist.  Der  Grund, 
warum  einige  Lexieographen  diesen  Buchstaben  einschieben  wollen,  scheint 
uns  nicht  stichhaltig  zusein,  auch  ist  die  beabsichtigte Aenderung keines- 
wegs durchgedrungen.  —  S.  27  ist  he  is  hard  to  be  pleased  übersetzt: 
il  est  difficile  ä  vivre;  avec  lui  ist  wol  aus  Versehen  weggeblieben?  — 
S.  30  vermiszt  man  of  old,  in  oUI  (olden)  times,  of  yore,  in  times  (the 
days)  of  yore.  Ist  semi-annually  wirklich  besser  als  half-yearly?  Warum 
fehlt  S.  33  yesterday  weck,  S.  34  you  are  late,  too  late,  behind  your  time, 
neben  ihe  clock  loses  auch  the  clock  gains?  Wir  möchten  noch  em- 
pfehlen: what  is  ihe  time?  the  time-picce,  early  in  the  morning,  in  the 
evening,  at  night,  day  by  day,  in  the  day-time,  what  is  the  day  in  the 
nionlh?  five  o'clock  precisely,  it  is  on  the  turn  (stroke)  of  six  usw. 

Der  einzige  Grund,  den  mau  gegen  die  Aufnahme  all  dieser  Phrasen 
haben  könnte,  wäre  der,  dasz  dadurch  die  Sammlung  zu  umfangreich 
werden  würde.  Allein  wir  meinen ,  je  vollständiger  eine  solche  Samm- 
lung ist,  wolverstanden  aber,  je  genauer  sie  sich  dem  Sprachgebrauch 
anscblieszt,  desto  besser.  In  der  Hand  eines  verständigen  Lehrers  ist 
auch  ein  gewisser  Ucberflusz  durchaus  nicht  von  Uebel,  und  für  den  auf- 
merksamen und  gewissenhaften  Schüler  ist  es  nicht  blosz  eine  Freude, 
sondern  auch  wirklicher  Gewinn,  wenn  er  in  seinem  Leitfaden  Mittel  und 
Wege  angegeben  findet,  wie  er  einen  Gedanken  auf  verschiedene  Weisen 
wiedergeben  kann.  — 

Die  unter  dem  Text  fortlaufenden  Anmerkungen  sind  gröstenteils 
Crabb's  English  Synonymes  entnommen,  doch  hat  der  Verf.  es  verstanden, 
die  hervortretende  Idee  eines  Wortes  kurz  wiederzugeben.  In  Bezug  auf 
die  übrigen  Bemerkungen  und  Erklärungen  verweisen  wir  auf  das  weiter 
oben  schon  Angeführte;  die  zweite  Hälfte  des  Buches  ist  in  diesem  Punkte 


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N.  Raschle:  Proben  und  Grundsätze  der  deutschen  Schreibung  usw.    79 

besser  versehen  als  die  erste.  Wir  bitten  den  Verf. ,  dieser  Ungleichheit 
Lei  der  nächsten  Auflage  abzuhelfen. 

Das  Werk  ist  nicht  nur  allen  Lehrern  des  Englischen  zu  empfehlen, 
sondern  auch  denen,  welche  bei  einigen  Vorkenntnissen  tiefer  in  den  Geist 
der  englischen  Sprache  eindringen  wollen.  Ein  Studium  desselben  wäre 
auch  eine  praktische  Vorbereitung  für  solche,  welche  England  selbst  be- 
suchen wollen,  sie  werden  sich  leicht  zu  helfen  wissen. 

P.  Dr.  R. 


10. 

Proben  und  grundsäze  der  deutschen  Schreibung  aus  fünf  jar- 
Hunderten.  Gesammelt  und  erläutert  fon  Manuel  Raschke, 
lerer  des  deutschen  und  der  geschickte  am  h.  k.  et),  gymna- 
sium  in  Teschen.  Wien  1862.  Förster  &  Bartelmus.  63  S.  8. 
16  Sgr. 

Das  bedürfnis  einer  Verbesserung  unserer  deutschen  Schreibung 
wird  von  jedermann  anerkannt;  wie  weit  wir  indess,  abgesehen  von  der 
grossen  meinungsverschiedenheit  der  auf  diesem  gebiete  massgebenden 
gelehrten,  von  der  befriedigung  desselben  noch  entfernt  sind,  beweist 
das  angeführte  buch ,  das  wol  nicht  zu  den  vorausgegangenen  rfilen  und 
fortrefüichen  schriflen9,  auf  welche  es  sich  stützt,  gezählt  werden  dürfte. 
Was  zunächst  die  äussere  form  betrifft,  so  ist  dasselbe,  wie  der  Ver- 
fasser in  der  vorrede  sagt,  nicht  blos  für  fachleute  bestimmt,  sondern 
res  soll  dem  fertigen  ferbreitung  schaffen9  vorzüglich  bei  'den  der  schule 
wie  der  deutschen  Sprachwissenschaft  fern  stehenden.9  Das  buch  ist  also 
vorzugsweise  practischer  tendenz ,  und  wir  dürfen  von  ihm  als  solchem 
vor  allem  consequenz  verlangen.  Dieselbe  ist  freilich  in  der  Schrei- 
bung der  einzelnen  Wörter  so  ziemlich  beobachtet;  warum  aber  der  verf. 
sich  gescheut  hat,  die  sogenannte  deutsche  schrift  und  die  grossen  an- 
fangsbuchstaben  —  bis  auf  die  Widmung  an  lehrer  und  buchdrucker  und 
zum  schluss  ein  paar  verse  von  Schiller  und  Goethe  —  aufzugeben  und 
somit  eine  alte  böse  last  von  uns  abzuwerfen ,  vermag  referent  um  so 
weniger  einzusehen,  als  es  doch  dem  verf.  darauf  ankommen  musste, 
seinen  lesern  einmal  eine  probe  vor  äugen  zu  geben ,  in  welchem  kleide 
ein  deutsches  buch  erscheinen  müsse;  und  sicherlich  würde  ihnen  die 
wirklich  deutsche,  d.  h.  die  lateinische  schrift  sowie  die  kleinschreibung, 
die  ref.  mit  dem  verf.  als  allein  richtig  anerkennt,  weniger  unbequem 
gewesen  sein  ah  die  freilich  mit  dem  recht  des  Verfassers  durchgeführte 
Schreibung  von  Wörtern  wie:  iergent,  not,  jezig,  ßler,  tut,  werend, 
wal,  ser,  schwär,  fil  (st.  viel),  foll,  spize,  zil,  zal,  getan,  im  (st.  ihm) 
usw.  Vielleicht  hat  der  verf.  diese  incousequenz  dadurch  entschuldigen 
wollen,  dasz  er  am  Schlüsse  seines  buches  doch  zu  der  glücklichen  über- 


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80    M.  Raschke:  Proben  und  Grundsätze  der  deutschen  Schreibung  usw. 

zeugung  gelangt,  dass  seine  wünsche  durchaus  kein  versuch,  dieselben 
einzuführen,  sein  sollen. 

Nachdem  der  verf.  zuerst  von  der  Schreibung  anderer  sprachen  ge- 
handelt, wobei  er  jedoch,  abgesehen  von  Unrichtigkeiten  im  einzelnen, 
manches  unsichere ,  z.  B.  die  specialisirte  Übernahme  der  hebraeischen  (!) 
schriftzeichen  seitens  der  Griechen,  als  sicher  hinstellt,  nachdem  er  dann 
die  einzelnen  perioden  der  deutschen  Schreibung  kurz  characterisirt  und 
die  ansichten  der  auf  diesem  gebiete  arbeitenden  männer ,  wie  Grimm's, 
Rud.  v.  Raumer's,  Wackernagel's ,  Schleicher's  u.  m.  a.  angeführt  hat, 
gehl  er  zur  betrachtung  der  einzelnen  sprachtheile  über  und  schlieszt  mit 
der  begründung  und  empfehlung  der  von  ihm  aufgestellten  Schreibweise. 
Die  beigegebenen  20  tafeln  geben  eine  mehr  interessante  als  nothwendige 
Übersicht  der  verschiedenen  Schreibung  von  Wörtern  im  ahd. ,  mhd. ,  im 
16.,  17-  Jahrhundert  und  von  Lessing  bis  heute,  sogar  eine  vergleichung 
der  Schreibung  einiger  der  heutigen  zeitungen  und  Zeitschriften,  —  Als 
oberstes  gesetz  für  die  Verbesserung  der  deutschen  Schreibung  stellt  der 
verf.,  seinen  Vorgängern  folgend,  s.  23  auf:  *die  Vereinbarung  der  laut- 
gemässheit  mit  der  Sprachgeschichte'.  Diesen  richtigen  theoretischen 
grundsatz  hat  aber  der  verf.  practisch  in  einen  ganz  andern  unge wandelt, 
neml.  in  den:  alle  laute,  die  wir  jetzt  nicht  aussprechen,  sind  auch  nicht 
durch  besondere  schriftzeichen  auszudrücken.  Er  lässt  bald  die  Sprach- 
geschichte ganz  ausser  acht,  z.  B.  in  der  Schreibung  fgesant,  gewant', 
wo  die  ableitung  durchaus  dt  fordert,  und  folgt  einzig  und  allein  der 
lautgemässheit;  er  geht,  seine  Vorgänger  darin  bei  weitem  überbietend, 
darauf  aus ,  alle  nur  irgend  entbehrlichen  Buchstaben  (h  als  dehnungs- 
zeichen,  c,  qu,  ph,  v,  th,  tz,  ie,  y  u.  a.)  'auszumerzen*  und  das  aipha- 
bet jeder  spräche  und  so  auch  der  deutschen  auf  möglichst  wenige  zeichen 
zu  reduciren,  d.  h.  die  spräche  arm  zu  machen;  und  das  aus- keinem  an- 
dern gründe,  als  weil  wir  jetzt  diese  buchstaben  in  der  ausspräche  von 
andern  (k,  f,  t,  z,  i  u.  a.)  nicht  unterscheiden.  Dass  aber  diese  lautgleich- 
heit  verschiedener  buchstaben  nicht  ursprünglich ,  sondern  nur  eine  all- 
mälige  folge  unserer  nachlässigen  ausspräche  ist ,  davon  hat  der  verf.  keine 
ahnung ,  der  vielmehr  diese  unsere  nachlässigkeit  und  Bequemlichkeit 
an  stelle  der  Sprachgeschichte  für  unsere  Schreibung  massgebend  sein 
lässt.  Noch  weniger  kann  ref.  dem  verf.  darin  beistimmen,  dass  auch  die 
fremd  Wörter,  geographische  namen  etc.  diesem  grundsatze:  schreib  wie 
du  sprichst,  der  überhaupt,  mit  consequenz  durchgeführt,  zu  Ungeheuer- 
lichkeiten führen  muss ,  zu  unterwerfen  seien ;  es  ist  bisher  ein  vorzug 
der  deutschen  vor  andern  nationen  gewesen ,  fremde  Wörter  nicht  germa- 
nisirt  zu  haben.  —  Obgleich  übrigens  das  buch  manches  beachten s wer the 
und  belehrende  enthält,  so  scheint  doch  der  Verfasser  überhaupt  wenig 
berufen  zu  sein,  für  deutsche  rechtschreibung  zu  sorgen;  das  beweist  er 
s.  19 ,  wo  er  spuren  der  Überlieferung  statt  Durchführung  des  lautgetzes 
darin  erblickt,  dass  wir  noch  heute,  wo  das  gesetz  gilt:  cnach  langem 
Selbstlaut  einfacher  mitlaut,  nach  kurzem  doppelter9  schreiben:  halten, 
walten,  schelten,  gelten  etc.  statt  hallten,  wallten,  schellten, 
gellten,  wie  sollten,  wollten  etc.    Ein  lehrer  des  deutschen  sollte 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.   81 

doch  wol  wissen,  dass  unter  'doppelter*  mitlaut  nicht  verstanden  ist 
'zwei  dieselben9,  sondern  überhaupt  nur  'zwei  mitlaute',  dass 
also  im  stamme  halt-,  walt-,  schell-,  gelt-,  mit  der  infinitivendung  -en 
dies  lautgesetz  vollkommen  durchgeführt  ist,  und  das  anstatt  der  imper- 
fecta soll-t-en ,  woll-t-en,  vielmehr  Wörter  wie  bild-en,  stürz-en ,  wurz-el, 
stütz-en  u.  a.  zu  vergleichen  sind. 

Endlich  kann  ref.  sein  verwundern  nicht  unterdrücken,  statt  Itzehoe 
geschrieben  zu  sehen  Izehö,  da  ja  bekanntlich  in  Itzehoe  wie  in  Soest, 
Vaerst,  Hueck ,  Oldesloe  etc.  das  e  nur  zur  Dehnung  des  vorangegangenen 
vocals  dient,  und  also  nicht  Izehö,  sondern  Itzehö,  Söst,  Värst,  Hück, 
Oldeslö  etc.  gesprochen  (und  von  Raschke  geschrieben)  werden  muss ;  und 
dass  Mexico  weder  Mexico  noch  Mehico  (für  Mechico;  h  soll  neml.  statt 
ch  angewandt  werden,  wie  sh  für  seh)  noch  Mejico  —  welche  falsche 
aussprachen  leider  bei  uns  noch  immer  gebräuchlich  sind  —  sondern 

SS 

Meschico  gesprochen  werden  muss,  hätte  der  Verfasser  schon  von  W. 
v.  Humboldt  Kawi  I  p.  180  anm.  lernen  können. 

Wir  finden  es  somit  sehr  erklärlich ,  dasz  der  verf.  am  Schlüsse  seine 
grundsätze  mit  dem  uns  sehr  zweifelhaft  dünkenden  lobe  zu  empfehlen 
für  nothwendig  erachtet  hat :  'Unsere  Schreibung  beschleunigt  den  buch- 
druck,  indem  eine  beträchtliche  zal  unnüzer  buchstaben  entfällt'  (siel). 

Berlin.  G.  Lange. 


(6.) 

Bericht   über  die  Verhandlungen  der  zweiundzwanzigsten 
Versammlung   deutscher  Philologen   und  Schulmänner  in 
Meiszen  vom  29.  September  bis  2.  October  1863. 

(Fortsetzung  von  S.  55.) 


Um  2  Uhr  vereinigte  ein  solennes  Mittagsmahl  die  Mitglieder  der 
Versammlung  in  dem  reich  und  sinnig  decorirten  Saale  des  'Gasthofs 
zur  Sonne',  dem  Se.  Excellenz  der  Herr  Staatsminister  Dr.  v.  Falken- 
stein beiwohnte.  Während  des  durch  viele  Toaste  gewürzten  heiteren 
Festessens  wurden  den  abwesenden  Koryphäen  philologischer  Wissen- 
schaft, die  zugleich  um  die  Entstehung  und  das  Gedeihen  der  Philolo- 
genversammlung sich  die  wesentlichsten  Verdienste  erworben,  den 
Herren  Böckh,  Bekker,  Schümann,  Ritschi,  Welcker  und  Doederlein 
telegraphische  Orttsze  zugesendet.  Am  Abende  fanden  gesellige  Zu- 
sammenkünfte in  verschiedenen  Lokalen  statt. 


Der  Morgen  des  30.  September  ward  durch  Sektionssitzungen  aus- 
gefüllt. Doch  war,  dem  in  der  ersten  Sitzung  ausgesprochnem  Wunsche 
gemäsz ,  die  Veranstaltung  getroffen  worden ,  dasz  an  der  ersten  Sitzung 
der  germanistischen  Sektion ,  die  um  10  Uhr  im  Festsaale  der  Fürsten- 
schule abgehalten  ward ,  die  ganze  Versammlung  sich  beteiligen  konnte, 


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82  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

um  als  eine  von  gleichen  Gefühlen  beseelte  Körperschaft  das  Andenken 
an  den  vor  wenigen  Wochen  zu  einem  höheren  Dasein  abgerufenen  Alt- 
meister  altdeutscher  Wissenschaft,  Jacob  Grimm  in  ernster  Feier  zu 
dircü.  Ein  Auszug  aus  der  kurzen  und  schlichten,  aber  tiefempfunde- 
nen und  tief  ergreif  enden  Gedächtniszrede,  in  der  der  Vorsitzende  ge- 
nannter Sektion,  Herr  Prof.  Dr.  Z am cke  aus  Leipzig,  die  Verdienste 
des  Heimgegangenen  um  die  altdeutsche  Wissenschaft  und  unser  ganzes 
deutsches  Volksleben  sowie  seine  seltnen  Eigenschaften  als  Gelehrter 
und  Mensch  feierte,  folgt  unten  in  den  Sektionsberichten.  Wir  können 
es  uns  aber  nicht  versagen,  an  dieser  Stelle  das  huldvolle  Handschrei- 
ben dem  Wortlaute  nach  wiederzugeben,  welches  Se.  Majestät  der  Kö- 
nig- auf  die  ihm,  dem  Kenner  der  italienischen  Litteratur  und  Uebersetzer 
von  Dantc's  Divina  Commedia,  gemachte  ergebenste  Anzeige,  dasz  in 
Meiszen  (zum  ersten  Male)  die  Vertreter  romanischer  Sprachen  mit  den 
Germanisten  zu  einer  Sektion  zusammentreten  würden,  an  den  Präsi- 
denten der  Germanis tensektion  gerichtet  hat  und  welches  in  dieser 
ersten  Sitzung  von  demselben  verlesen  ward:  cMein  Herr  Professor! 
Es  konnte  mir  nur  erfreulich  und.  schmeichelhaft  sein,  dasz  Sie  bei 
Gelegenheit  der  Versammlung  deutscher  Philologen  einer  Arbeit  meiner 
früheren  Musze  mit  Anerkenntnisz  gedacht  haben.  So  wenig  ich  mich 
auch  für  befähigt  halten  würde,  in  dem  Kreise  so  ausgezeichneter  Ge- 
lehrter etwas  zur  Förderung  der  Sache  beitragen  zu  können,  so  wenig 
würde  ich  mich  doch  Ihrer  freundlichen  Einladung  entzogen  haben, 
wenn  meine  jetzigen  Verhältnisse  es  gestatteten«  Ich  bitte,  diese  meine 
Antwort  der  Sektion,  deren  Vorstand  Sie  sind,  mitzuteilen  und  dersel- 
ben zu  versichern,  dasz  ich  ihren  Arbeiten ,  wenn  auch  abwesend,  mit 
Interesse  folgen  werde.  Mit  ausgezeichneter  Hochachtung  Ihr  ergeben- 
ster Johann.    Pillnitz,  den  16.  September  1863.' 

Auch  der  um  11  Uhr  in  demselben  Lokal  unter  dem  Vorsitz  des 
Präsidiums  der  allgemeinen  Sitzungen  abgehaltenen  Sitzung  der  Orien- 
talisten wohnte  ein  groszer  Teil  der  Versammlung  bei,  um  den  Vor- 
trag- des  Handelsrichters  Dr.  Mord t mann  aus  Constantinopel :  rüber 
die  Zigeuner'  anzuhören. 

Obgleich  die  Sprachforschung  die  Abstammung  der  Zigeuner  aus 
Indien  bereits  festgestellt  habe,  damit  beginnt  der  Redner,  so  habe 
man  doch  nur  vereinzelte  Notizen  über  den  Weg,  den  sie  genommen, 
und  ihren  Aufenthalt  in  den  verschiedenen  Ländern.  Pott*)  habe 
hauptsächlich  nur  die  Sprache  der  deutschen  und  ungarischen  Zigeuner 
untersucht;  die  der  türkischen  Zigeuner  sei  noch  wenig  berücksichtigt 
worden.  Der  Redner  nennt  als  Forscher  auf  letzterem  Gebiete:  Mr. 
Brown,  Dragoman  der  amerik.  Gesandtsch.  in  Constantinopel,  einen 
Dr.  Paspatis  und  einen  Mr.  Alishan,  deren  Vorarbeiten  er  benutzt 
habe. 

Die  Sprache  des  f  Vagabundenvolks '  der  Zigeuner  gäbe  in  ihrer 
o unten  Mischung  aus  den  verschiedensten  Idiomen  nicht  undeutliche 
Fingerzeige  über  die  Stationen  und  die  Richtung  ihrer  Wanderung. 
Daraus,  dasz  zwar  die  Benennungen  der  wichtigsten  Körperteile,  Le- 
bensbedürrnisse  und  Nahrungsmittel,  die  wichtigsten  Zeit-  und  Zahl- 
wörter indisch,  andere  Ausdrücke  der  ersten  Culturperiode  aber  ent- 
schieden nicht  indogermanisch  seien,  schlieszt  M.,  dasz  die  Zigeuner 
zu  den  Ureinwohnern  Indiens  vor  der  arischen  Einwanderung  ge- 
hört hätten;  der  Einflusz  der  potenteren  arischen  Nationalität  mache 
sich  bemerklich  in  den  vielen  Sanskritworten,  welche  die  Z.  für  städ- 
tisches Gewerke,  religiöse  Begriffe  und  Uebungen,  Zeitbestimmungen  nsw. 
von  jener  ontlehnt  hätten;  zugleich  ergäbe  sich  hieraus,  dasz  die  Z. 
eine  gewisse  bürgerliche  Stellung  neben  den  erobernden  Stämmen  ein- 


*)  'Die  Zigeuner  in  Europa  und  Asien'  2.  Bd.,  Halle  1844—45. 

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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  83 

genommen  und  nicht  als  Parias1  gegolten  hätten«  Naeh  Persien  solle 
nach  einer  historischen  Notiz  ein  sassanidischer  König  Bahr  am  V 
(420—440)  eine  Colonie  der  *  possenreiszenden '  Zigeuner  zur  Erheite- 
rung seines  durch  Hanger  und  Krieg  gedrückten  Volkes  gerufen  haben. 
Persischen  Ursprungs  seien  daher  die  Ausdrücke  für  Gesang,  Musik, 
auch  einige  für  Ackerbau,  Viehzucht.  Auf  einen  Aufenthalt  in  Kurdistan 
and  Armenien  deuteten  viele  kurdische  und  einige  armenische  Worte 
der  Zigeunersprache,  sämmtlich  nicht  charakteristisch,  woraus  auf 
einen  Bückschritt  in  der  Cultur  geschlossen  werden  müsse.  Zu  Anfang 
des  9.  Jahrhunderts  seien  nach  Zeugnissen  byzantinischer  Historiker  in 
Phrygien  'die  Ketzersekte  der  Athinganen  (?)  erschienen,  die  Wahr- 
sagerei und  Bauchrednerei  getrieben  habe';  M.  deutet  diese  Notiz  auf 
die  Z. ,  welche  noch  heutzutage  in  der  Türkei  Tschingane*  hieszen.  Von 
groszem  Einflusz  auf  die  Sprache  der  Z.  seien  die  Neugriechen  ge- 
wesen, von  denen  dieselben  nicht  viele,  aber  charakteristische  Aus- 
drücke z.  B.  Zahlen,  Handwerksausdrücke,  technische  Worte  für  städ- 
tische Einrichtungen  und  Cultus ,  entlehnt  hätten;  slawisch  seien  eine 
Anzahl  landwirtschaftliche  Ausdrücke,  türkischen  Ursprungs  aber 
auszerordentlich  wenige  Worte ,  da  Türken  und  Zigeuner  durch  gegen- 
seitige Verachtung  und  die  vom  Islam  gezogne  Scheidewand  von  ein- 
ander schroff  geschieden  wären.  Das  Resultat  seiner  Untersuchung 
faszt  der  Redner  zum  Schlusz  etwa  in  folgenden  Worten  zusammen: 
die  Z.  hatten  in  Indien  wie  die  übrigen  Ureinwohner  eine  gewisse  Cul- 
tur erreicht,  die  durch  die  Arier  noch  stieg;  diese  Cultur  blieb  statio- 
när in  Persien,  wo  die  Z.  ihre  Beschäftigung  (d.  i.  das  Gewerbeleben 
mit  Ackerbau  und  Viehzucht)  und  Religion  vertauschten.  Der  Rück- 
schritt zeigt  sich  etwa  im  7.  Jahrb.,  indem  sie  in  Kurdistan  und  Ar- 
menien an  ein  Vagabundenleben  sich  gewöhnten.  In  Kleinasien  trat 
im  9.  Jahrhundert  ihre  völlige  Verwilderung  ein ,  besonders  durch  die 
Vernachlässigung  und  endliche  Abwerfung  der  Religion;  in  Europa  ga- 
ben sie  sich  wieder  einzelnen  Betriebsarten  hin ,  die  sie  ganz  verlernt 
hatten'. 

Prof.  Brockhaus  aus  Leipzig  erklärt,  dasz  er  mit  den  Grund- 
anschauungen Mordtmann's  nicht  einverstanden  sei  und  den  Zigeu- 
nern weder  ein  so  hohes  Alter  noch  einen  so  originellen  Ursprung  noch 
eine  so  bedeutende  Entwicklung  beimessen  könne.  Die  Kritik  über  die 
Einzelheiten  des  Vortrags  müsse  aufgespart  bleiben,  bis  derselbe  im 
Druck  vorliege. 

Präsident  Rector  Franke  macht  den  Vorschlag,  da  sich  die  in 
Augsburg  ge faszt  en  Beschlüsse  nicht  zu  bewähren  schienen,  für  den 
folgenden  Tag  eine  allgemeine  Sitzung  anzuberaumen  und  die  Vorträge 
der  Herren  Proff.  Steinthal  und  Gosche  auf  die  Tagesordnung  zu 
setzen.    (Wird  angenommen.)  —  Schlusz  der  Sitzung  12  Uhr*). 

Ein  von  der  hohen  Staatsregierung  zur  Verfügung  gestellter  Extra- 
zag führte  um  %3  Uhr  die  Versammlung  nach  Dresden.  Se.  Majestät 
<ier  König  hatte  gestattet,  dasz  speciell  für  die  Mitglieder  der  Ver- 
sammlang von  3  Uhr  an  die  Sammlung  der  Antiken,  der  Mengs'schen 
Gypsabgüsse  und  die  Gemäldegallerie  geöffnet  werden  sollten,  und  die 
Professoren  Hettner  und  Schnorr  v.  Carolsfeld  übernahmen  in 
liebenswürdigster  Weise  die  Führung  der  Besichtigenden.  Um  %7  Uhr 
begann  die  zu  Ehren  der  Versammlung  veranstaltete  Aufführung  des 
auf  Colonos  mit  der  Musik  von  Mendelssohn  im  Hoftheater; 


*)  Der  Berichterstatter  hat  diese  Sitzung  der  orientalischen  Sektion, 
obgleich  die  beiden  Präsidenten  der  Versammlung  in  ihr  den  Vorsitz 
führten,  doch  nach  den  am  29  Sept.  in  der  ersten  allgem.  Sitzung  ge- 
gebnen offiziellen  Erklärungen  als  'Sektionssitzung'  aufführen  zu  müs- 
sen geglaubt. 


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84   Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

vor  der  Vorstellung  aber  hatte  eine  aus  den  vor-  und  diesjährigen  Prä- 
sidenten zusammengesetzte  Deputation  (die  Pro  ff.  Drr.  Ahrens,Dietsch, 
Eckstein,  Flügel,  Franke, Haase,  Krüger,  Vischer,  Zarncke) 
die  Ehre,  durch  den  Herrn  Minister  Dr.  v.  Falkenstein  Sr.  Majestät 
dem  König  Johann  vorgestellt  zu  werden;  beim  Eintritt  in  die  könig- 
liche Loge  aber  ward  Se.  Majestät  durch  ein  vom  Rector  Dr.  Franke 
gebrachtes  dreimaliges  'Hoch'  ehrerbietigst  von  der  Versammlung  be- 
grüszt.  Nach  dem  Theater  fanden  sich  die  Festteilnehmer  zu  einer 
äuszerst  belebten  geselligen  Zusammenkunft  in  dem  Belvedere  auf  der 
Brühl'schen  Terrasse  zusammen.  Erst  um  12  Uhr  wurde  bei  herrlich- 
stem Mondschein  die  Rückfahrt  nach  Meiszen  angetreten. 


Zweite  (auszerordentliche)  Sitzung  den  1.  October.     Präsident:  Rector 
Dr.  F  r  a  n  k  e.   Anfang  8  Uhr. 

Nach  Erledigung  mehrerer  geschäftlicher  Angelegenheiten  teilte 
der  Präsident  die  im  Verlauf  des  vorhergehenden  und  laufenden  Tages 
auf  telegraphischem  Wege  eingetroffenen  Erwiderungen  auf  die  ihnen 
zugesendeten  Grüsze  von  den  Herren  Proff.  Böckh,  Ritschi,  Wel- 
cker,  Schömann  und  Doederlein  der  Versammlung  mit. 

Hierauf  hielt  Prof.  Dr.  Steinthal  aus  Berlin  den  von  ihm  ange- 
kündigten Vortrag:  füber  die  Beziehung  der  Philologie  zur 
Psychologie.' 

Der  Redner  geht  aus  von  dem  Satze,  den  er  theoretisch  nicht  wei- 
ter erläutern  will,  dasz  f  die  Psychologie  für  die  Philologie  Prin- 
cipienlehre  sei'  sowol  deshalb,  weil  sie  die  von  der  Philologie  selbst 
aufgestellten  Principien  bearbeite,  als  auch  deshalb,  weil  die  Phi- 
lologie von  ihr  manche  Principien  entlehnen  müsse,  die  sie  zu  ihrem 
Ausbaue  brauche.  Principienlehre  sei  sie  aber  nicht  in  dem  allgemei- 
nen Sinne  wie  Metaphysik  und  Logik,  welche  die  allgemeinen  Kate- 
gorieen  des  Seins  und  Denkens  aufstellten,  sondern  in  einem  ganz  spe- 
cialen ,  indem  sie  die  oIkeigu  dtpxai  der  Philologie  zuführe.  —  Das  letzte 
Ziel  aller  philologischen  Disciplinen  sei  zugestandnermaszen  das,  einer- 
seits die  Fülle  des  geistigen,  sprachlichen,  religiösen,  politischen  Le- 
bens eines  Volkes  aus  der  Idee  und  dem  Geiste  des  Volkes  abzuleiten 
und  andrerseits  diesen  Volksgeist  in  seiner  geschichtlichen  Entwicklang 
als  Offenbarungsform  des  menschlichen  Geistes  überhaupt  zu  begreifen. 
Eine  Erscheinung  aus  dem  Volksgeiste  ableiten  aber  heisze  nichts  an- 
dres als  fin  ihr  denselben  Charakter  nachweisen,  den  man  zugleich 
als  den  Charakter  des  gesammten  Volks,  als  die  den  Volksgeist  be- 
herschende  Idee  erkannt  habe  und  in  gleichartiger  oder  analoger  Weise 
auch  in  andern  Hauptrichtungen  des  Volksgeistes  und  Volkslebens  wie- 
derfinde. Ein  solcher  Nachweis  nun  sei  .offenbar  nicht  eine  Erklärung 
und  wirkliche  Ableitung,  sondern  nur  eine  Charakteristik.  Die  Kate- 
gorieen  aber,  welche  die  Philologie  bei  diesem  Verfahren  anwende, 
z.  B.  Unmittelbarkeit  und  Vermittlung,  Individualisation ,  Aneignungs- 
fähigkeit und  Abgeschlossenheit,  Leidenschaftlichkeit  und  Gemessenheit, 
Anmuth  und  Würde,  Phantasie  und  Verstand,  Subjektivität  und  Objek- 
tivität usw.,  seien  sämtlich  psychologischer  Natur  und  bedürften  erst 
einer  eingehenden  Erörterung  durch  die  Psychologie.  —  Neben  dieser 
allgemeinen  Charakteristik  scheine  allerdings  die  Philologie  zu  gewis- 
sen historischen  Erklärungen  zu  gelangen,  indem  sie  den  Volksgeist  in 
seinen  geschichtlichen  Veränderungen  und  verschiedenartigen  Manife- 
stationen vorführe,  gleichsam  als  eine  Reihe  auseinanderentstehender 
Bilder,  und  die  organische  Entwicklung  eines  Volksgeistes  aus  seinem 
Keime  bis  zum  Untergang  nachzuweisen  suche.  Auch  diese  Arbeit  nun, 
weil  von  den  allgemeinen  Gesetzen  der  geistigen  Entwicklung  ausgebend, 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meisren.  85 

müsse  notwendig  durch  den  Hinzutritt  der  Psychologie  an  Klarheit, 
Sicherheit  und  Vertiefung  gewinnen,  indem  wie  die  obenerwähnten 
allgemeinen  Kategorieen  so  auch  die  Entwicklungsgesetze  des  Menschen- 
geistes durch  psychologische  Untersuchungen  erst  in  das  rechte  Licht 
gestellt  würden*  Freilich  seien  gerade  die  Gesetze  der  Entwicklung 
des  Menschengeistes  von  der  Psychologie  noch  nicht  gründlich  genug 
behandelt  worden,  da  dieselbe  wol  den  wiederkehrenden  Verlauf  und 
Verband  zweier  geistiger  Erscheinungen,  meist  aber  nicht  die  reale  Ur- 
sache dieses  Verbandes  nachzuweisen  im  Stande  sei,  denn  die  Ent- 
wicklungsgesetze des  Geistes  verhielten  sich  zu  den  wirklichen  psycho- 
logischen Gesetzen  ebenso  wie  sich  das  Organ  einer  Sinnenth&tigkeit 
zu  den  einzelnen  constituierenden  Teilen  dieses  Organs  verhalte. 

Beide  Aufgaben  der  philologischen  Wissenschaft  also,  die  ästhe- 
tische und  die  historische  Construktion  des  Volksgeistes,  könnten 
in  rechter  Weise  erfaszt  und  gelöst  werden  nur  durch  Kenntnis  der 
Gesetze,  von  denen  die  seelischen  Vorgänge  beherscht  und  geleitet 
würden.  Zunächst  werde  der  historische  Sinn  durch  die  Psychologie 
gestärkt  und  gereinigt ,  da  es  im  Wesen  der  Seele  liege ,  f  den  geschicht- 
lichen Geist  zu  erzeugen,  Geschichte  zu  machen  und  in  sich  zu  erfah- 
ren'. Durch  sie  werde  die  irrige  Meinung  widerlegt,  dasz  in  der  ästhe- 
tischen nach  Ideen  charakterisierenden  Construktion  eine  genetische 
Erklärung  liege  oder  wenigstens  dadurch  entbehrlich  gemacht  werde, 
ein  Irtam,  der  am  ausgeprägtesten  sich  bei  Hegel  finde,  von  dem 
aber  auch  W.  v.  Humboldt  und  viele  neuere  Historiker,  besonders 
Literarhistoriker  nicht  freigesprochen  werden  könnten.  Durch  psycho- 
logische Untersuchungen  werde  daher  auch  die  Unstatthaftigkeit  der 
Behandlung  der  Litteraturgeschichte  nach  ctbr)  (Epos,  Lyrik,  Drama, 
Prosa  usw.)  nachgewiesen,  welcher  die  ungeschichtliche  und  unpsycho- 
iogische  Voraussetzung  zu  Grunde  liege,  dasz  jenen  Ideen  wie  substan- 
tiellen Wesen  die  Kraft  innegewohnt  nabe  sich  zu  verwirklichen;  denn 
wie  man  hier  die  Ideen  behandle  unabhängig  von  den  Ideen  erzeugen- 
den persönlichen  Subjekten,  so  könne  man  folgerecht  mit  Hegel  auch 
von  der  Entwicklung  der  Naturdinge  reden  mit  Absehung  von  der  Ma- 
terie. Dem  historischen  Princip  werde  aber  dadurch  keineswegs  ge- 
nügt, dasz  man  einleitungsweise  die  Litteraturepochen  charakterisiere 
und  chronologische  Ueb  er  sichten  gebe,  wie  Bernhardy,  da  dies  eben 
nur  Chronologie  und  keine  Construction  nach  Ideen  sei  und  die  beiden 
Faktoren,  der  Einflusz  der  Zeitepochen  und  der  Einflusz  der  litera- 
rischen Ideen ,  nicht  vermittelt  durch  die  Gesetze  der  Causalität,  neben- 
einandergestellt würden.  So  werde  z.  B.  das  alexandrinische  Epos  im 
Znsammenhang  der  Entwicklung  der  Epik  behandelt,  während  dasselbe 
doch  viel  weniger  mit  Homer  und  dem  frühern  Epos  als  mit  den  gleich- 
zeitigen dramatischen  Bestrebungen  und  der  allgemeinen  Richtung  der 
alexandrin  isehen  Zeit  gemein  habe ;  so  werde  auch  Euripides  meist  mit 
Unrecht  als  Nachfolger  des  Sophokles  aufgefaszt  und  nicht  im  Zusam- 
menhang mit  ähnlich  gearteten  und  strebenden  Geistern,  die  auf  andern 
Gebieten  sich  bethätigt  hätten.  Auch  die  Unterschiede  der  griechischen 
Stammcharaktere  seien  bisher  zu  sehr  nach  Ideenconstruktionen  fest- 
gestellt worden,  indem  man  dieselben  als  etwas  Fertiges,  Abgeschlosse- 
nes, als  den  Keim  alles  dessen  angesehen  habe,  was  die  Stämme  spä- 
ter geschichtlich  geleistet  hätten,  ohne  die  wirklichen  Lebensverhältnisse 
der  Stamme  als  die  wahren  Ursachen  vollkommen  zu  würdigen  und  den 
Punkt  zu  berücksichtigen,  dasz  diese  Charaktere  sich  allmählich  ent- 
wickelt und  in  ihrer  Produktivität  einander  abgelöst  haben.  Am  früh- 
sten habe  sich  der  ionische  Charakter  entwickelt,  dann  der  dorische 
auf  politischem ,  der  äolische  auf  litterarischem ,  hierauf  auch  der  do- 
rische auf  litterarischem  Gebiete ,  zum  Schlusz  erst  der  attische  Stamm- 
charakter.   Wolle  man  hieraus  folgendes  Entwicklungsgesetz  ableiten, 


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86  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

dasz  auf  die  ionische  Aeuszerlichkeit  mit  einer  gewissen  Notwendigkeit 
die  äolische  Subjektivität  gefolgt  sei,  hierauf  zur  dorischen  Innerlichkeit 
sich  gesammelt  und  in  der  attischen  Objektivität  ihren  Abschiusz  ge- 
funden habe,  so  bedürfte  dieses  erstens  genauerer  Bestimmungen,  d.  i. 
Beschränkungen  und  dann  würde  auch  dies  wiederum  auf  der  Voraus- 
setzung beruhen,  dasz  die  genannten  Kategorieen  ideale  Mächte,  objek- 
tive Potenzen  seien.  Vielmehr  müsse  man  sagen,  f  jeder  Stamm  habe 
das  Hellenentum  in  der  Form  entwickelt,  welche  durch  die  Bedingun- 
gen, unter  denen  er  seine  Blüte  erreichte,  notwendig  geworden  sei'. 
Zur  Begründung  dieses  Satzes  wies  der  Redner  hin  auf  die  grosze  Ver- 
schiedenheit der  politischen,  klimatischen,  geographischen,  commer- 
ciellen  Verhältnisse ,  unter  denen  die  einzelnen  Stämme  sich  entwickelt 
hätten.  Aus  diesen  verschiedenen  Einflüssen  ergebe  sich  eine  Verschie- 
denheit nach  der  Entwicklung  der  Zeit  und  dem  Wesen  nach,  beides 
in  Wechselwirkung.  Durch  eine  solche  Auffassung  werde  sowol  das 
speculative  als  das  historische  Bedürfnis  befriedigt;  die  einheitliche 
Idee  des  Hellenentums ,  die  ihre  Abschattung  und  Entwicklung  in  den 
verschiedenen  Stamm  Charakteren  gefunden  habe ,  werde  mit  den  in  der 
Wirklichkeit  liegenden  Bedingungen  und  Einflüssen  in  eine  Beziehung 
wechselseitiger  Causalität  gesetzt. 

So  erzeuge  die  Psychologie  nach  beiden  Seiten  hin  Klarheit,  nach 
der  speculativen  wietder  historischen.  Denn  z.  B.  die  so  gewonnene  ein- 
heitliche Idee  des  Hellenentums,  weil  verwirklicht  in  bestimmten  Er- 
eignissen und  Institutionen  und  in  den  einzelnen  lebendigen  Subjekten 
des  hellenischen  Volkes,  sei  nicht  blosz  eine  Hypothese  von  construk- 
tivem  Werth,  sondern  ein  psychologisches  Faktum,  nicht  blosz  specu- 
lativ  berechtigt,  sondern  historisch  notwendig  und  daher  Objekt  einer 
psychologischen  Betrachtung.  Wenn  die  Psychologie  diese  Aufgabe 
im  weitesten  Sinn  erfasse,  so  werde  sie  zur  Völkerpsychologie, 
welche  die  gesamte  Geschichte  zu  erklären  suche,  deren  reale  Fakto- 
ren die  Volker  seien.  Von  dieser  Völkerpsychologie  sei  die  Philologie 
im  Ideal  nur  relativ  unterschieden,  denn  sie  seider  analytische  Teil 
der  Geschichte  wie  jene  der  synthetische,  sie  die  Wissenschaft  des 
Gjeistes  wie  jene  die  der  Seele,  so  dasz  in  der  Idee,  wenn  man  von 
dem  Leben  des  Geistes  in  der  Seele  abstrahiere ,  beide  Begriffe ,  die  der 
Philologie  und  Völkerpsychologie,  ganz  zusammenfallen  würden. 

Auf  Antrag  des  H.  Prof.  Haas e  ward  die  Debatte  über  diesen  Vor- 
trag verschoben,  bis  der  folgende  Redner  gesprochen  haben  würde. 
Um  nemlich  dem  in  der  ersten  Sitzung  geäuszerten  Wunsche  der  Ver- 
sammlung zu  entsprechen,  hatte  die  Sektion  der  Orientalisten  den  Vor- 
trag des  Herrn  Prof.  Gösch  e  aus  Halle  auf  diese  Morgenstunde  verlegt, 
so  dasz  er  an  den  vorausgehenden  sich  unmittelbar  anschlosz. 

Herr  Prof.  Gosche  besprach  in  einem  längeren  Vortrage,  dessen 
Inhalt  der  Berichterstatter,  dem  eine  Einsicht  in  das  Manuscript  des 
Redners  nicht  vergönnt  war ,  nur  in  den  allgemeinsten  Umrissen  wieder- 
zugeben im  Stande  ist,  15  kleine,  grösztenteils  in  Centralphrygien  auf- 
gefundene phrygische  Inschriften,  die  auf  einer  von  Kiepert  entwor- 
fenen lithographirten  Tafel  (die  an  die  Anwesenden  verteilt  ward)  zu 
zwei  Gruppen,  einer  alt-  und  neuphrygischen ,  zusammengestellt  waren. 
Der  Redner  kritisierte  zuerst  die  Entzifferungsversuche  der  letzten  30 
Jahre,  besonders  die  von  Osann,  Lassen  und  Mordtmann,  und  wies 
nach,  dasz  dieselben  meist  eine  streng  philologische  Methode  vermissen 
lieszen.  Hierauf  erläuterte  er  die  Inschriftentafeln.  Die  Hauptpunkte 
dieser  Auseinandersetzung  waren  etwa  folgende:  Das  Alphabet  der  In- 
schriften gehe  bis  zum  ©  des  griech.  Alphabets  herab,  habe  ein  an- 
scheinend sehr  weich  gesprochnes  Digamma,  ermangele  aber  des  6. 
Eigentümlich  sei  das  e  mit  4  Strichen,  was  wol  ein  langes  e  bezeich- 
nen solle.    Die  ältere  Gruppe ,  die  ßoucTpo<pnö6v  geschrieben  ist,  zeige 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  87 

die  Diphthongenhäufung  einer  stark  degenerierten  Sprache.  Für  die  jün- 
gere Gruppe  erhalte  man  dadurch  einen  Schlüssel,  dasz  sie  fast  durch- 
gängig eine  bilingue  ist.  Der  Redner  weist  aus  verschiedenen  Spuren 
und  durch  Kombination  der  verschiedenen  Inschriften  nach,  dasz  einige 
eigentümlichen  Laute  der  phrygischen  Sprache  sich  mit  armenischen 
deckten ,  ferner  dasz  das  Pronomen  der  ersten  Person  durchaus  auf  echt 
iranischer  Stufe  stehe  und  auf  die  von  Afghanistan  bis  Kleinasien  hin- 
reichende Sprachengruppe  hinweise.  In  schroffem  Gegensatze  zu  die- 
sen jüngeren  Inschriften  ständen  die  altphrygischen;  doch  seien  die 
neuphrygischen  nicht  wol  in  die  vorchristliche  Zeit  zu  setzen,  daher 
als  älteste  Denkmäler  der  armenischen  Sprache  anzusehen;  das  Ein- 
dringen der  Gallier  und  Griechen  mache  die  gewaltsame  Zerstörung  der 
altphrygischen  Sprache  erklärlich.  Die  altphrygischen  Inschriften  seien 
fast  völlig  unverständlich,  denn  sie  seien  erstens  keine  bilinguen  und 
zweitens  fehle  uns  die  Kenntnisz  des  entsprechenden  Altarmenischen. 
Der  Redner  versucht  die  Deutung  verschiedener  einzelner  Worte,  be- 
sonders in  der  Inschrift  des  Midasgrabes,  bekennt  aber  selbst  zum 
Schlosz,  dasz  aus  allen  Inschriften  nur  etwa  Folgendes  mit  Wahrschein- 
lichkeit hervorgehe;  dasz  die  Phrygier  eine  iranische  Nation 
und  den  Armeniern  verwandt  gewesen  seien,  worauf  anch  sowol 
die  Glossen  der  Grammatiker  (z.  B.  des  Uesychius)  als  einzelne  Namen 
wieMidas,  Marsyas,  Gordius  führten,  die  sich  aus  dem  iranischen 
Sprachkreise  deuten  lieszen,  desgleichen  einzelne  Eigentümlichkeiten 
in  Religion  und  Cultur. 

Da  der  erst  gegen  Ende  des  Vortrags  eingetretene  Dr.  Mordt- 
mann  auf  die  von  mehreren  Seiten  an  ihn  ergehende  Aufforderung  zum 
Sprechen  nicht  eingeht,  so  wird  die  Sitzung  gegen  %11  Uhr  geschlos- 
sen. Die  Zeit  von  11 — 1  Uhr  ward  durch  Sektionssitzungen  ausgefüllt. 

Gegen  3  Uhr  fand  erst  Besichtigung  des  durch  seine  geschicht- 
lichen Erinnerungen  so  denkwürdigen  Domes  statt,  in  dessen  Hallen 
die  Anwesenden  durch  trefflich  ausgeführte  und  in  den  akustisch  ge- 
bauten Bäumen  wunderbar  wirkende  Orgel-  und  Gesangsvorträge  über- 
rascht wurden;  sodann  ein  vom  herrlichsten  Herbstwetter  begünstigter 
gemeinsamer  Ausflug  nach  dem  im  herbstlichen  Blätterschmuck  pran- 
genden Park  und  Schlosz  Siebeneichen  und  von  da  in  das  anmutige 
Triebischthal.  Erst  in  später  Abendstunde  ward  aus  dem  dortigen  Re- 
staurationslokale aufgebrochen,  um  dann  in  den  verschiednen  Lokali- 
täten der  Stadt  das  trauliche  Beisammensein  bis  tief  in  die  Nacht  hinein 
fortzusetzen.  Da  hörte  man  allerorten  lebhafte  Debatten  in  freierer 
Form,  ja  es  ertönten  wol  auch  im  engeren  Kreise  Yon  ehrwürdigen 
Lippen  fröhliche  Skolien,  die  der  jüngeren  Generation  bewiesen,  dasz 
die  Herzen  noch  jung  sein  können  auch  bei  grauem  Haar« 


Dritte  Sitzung  den  2.  October.     Präsident:  Dircctor  Professor  Dietsch. 
Anfang  9%  Uhr. 

Der  Präsident  teilt  der  Versammlung  mit,  dasz  der  von  Dr.  Up- 
per t  aus  Paris  angekündigte  Vortrag  'über  Keilinschriften9  dadurch  in 
Wegfall  gekommen  sei,  dasz  derselbe  Tags  vorher  abgereist  sei;  auch 
Dr.  Bechstein  habe  sich  entschlossen,  seinen  Vortrag  fdie  Program - 
menlitteratur,  ihre  Verwertung  für  die  Wissenschaft  und  ihre  Concen- 
tration  durch  den  Buchhandel  zurückzuziehen  nnd  in  den  c  Verhand- 
lungen' zum  Abdruck  bringen  zu  lassen.  Hierauf  wird  die  Tagesordnung 
festgestellt.  Dieselbe  beginnt  mit  dem  Bericht  über  die  Beschlüsse  der 
zur  Wahl  des  nächsten  Versammlungsortes  gewählten  Oommission. 

Rector  Dr.  Eckstein,  als  Berichterstatter  der  Commission ,  besteigt 
die  Rednerbühne.     f Die  Erfahrung  früherer  Jahre ,  dasz  in  kleineren 


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88  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meist 

Orten  die  Versammlung  sieh  enger  und  traulicher  zusammenschüV 
habe  sich  in  erfreulichster  Weise  auch  dieses  Jahr  in  Meiszen  b* 
tigt;  dagegen  habe  sich  der  Beschlusz  der  Augsburger  Versamiri         v* 
jedesmal  am  ersten  und  vierten  Tage  allgemeine  Sitzungen  zu  ha 
die   zwischenliegenden  Tage  durch  Sektionssitzungen  auszufüllen, 
unpraktisch  erwiesen.     In  Zukunft  werde  daher  wol  zur  alten  Eint 
tung  zurückgekehrt  werden  müssen,  nach  der  an  jedem  Tage  af 
meine  Sitzungen  abgehalten  werden.    Die  Wahl  des  nächsten  Versa 
lungaortcs  sei  bei  der  groszen  Zahl  von  Wanderversammlungen  i 
Art  nrit  Schwierigkeiten  verbunden  gewesen.    Nach  reiflicher  Erwäg 
habe  sich  die  Commission  für  Hannover  entschieden,  (zumal  da 
dieser  Seite  bereits  ein  freundliches  Anerbieten  gemacht  worden  s 
um  nach  25  Jahren  wieder  einmal  in  das  Geburtsland  der  Philolog 
Versammlungen  zurückzukehren;  als  Präsidenten  bringe  sie  den  Dil 
tor  Dr.  Ahrens,  als  Vicepräsidenten  den  Dr.  Grotefend  daselbsi 
Vorschlag.     Die  archäologische  Sektion  habe   im  Zusammenhang  hi 
mit  bereits  den  Prof.  Dr.  Wiesel  er  in  Göttingen  zu  ihrem  Vorsitzend 
gewählt. 

Prof.  Haase  aus  Breslau  beantragt  Teilung  der  Anträge.  Da 
Gegensatz  der  allgemeinen  und  besondern  Sitzungen  sei  von  Anfang 
an  vorhanden  gewesen.  Trotz  mancher  abmahnender  Stimmen  (z.  Bk 
der  von  T  hier  seh)  hätten  sich  besondere  Sektionen  gebildet,  von  de- 
nen keine  auszer  der  pädagogischen  feste  Wurzeln  geschlagen  habe. 
Er  beklage  aufs  lebhafteste  diese  Zersplitterung,  und  stimme  für  mög- 
lichste Beschränkung  der  Sektionen;  wenigstens  dürften  sie  nicht  auf 
Kosten  der  allgemeinen  Versammlungen  T£raft  und  Zeit  in  Anspruch 
nehmen.  Der  Augsburger  Beschlusz  sei  hervorgerufen  worden  durch 
eine  gewisse  Verlegenheit  des  Präsidiums,  die  genügende  Zahl  geeig- 
neter Vortrage  für  die  allgemeinen  Sitzungen  zu  beschaffen.  Er  em- 
pfehle daher  den  in  Braunschweig  gefaszten  Beschlusz ,  in  diesem  Punkte 
nicht  den  Zufall  walten,  sondern  durch  eine  Commission  im  Lauf  des 
Jahres  für  eine  Anzahl  geeigneter  Vorträge  Sorge  tragen  zu  lassen. 
Er  stimme  somit  für  Umstoszung  der  Augsburger  Beschlüsse  mit  dem 
Zusätze ,  dasz  die  Präsidenten  des  nächsten  Jahres  ersucht  werden  soll- 
ten ,  rechtzeitig  dafür  zu  sorgen,  dasz  für  die  allgemeinen  Sitzungen 
ein  recht  reiches  Material  von  allgemein  anregenden  Vorträgen  vor- 
handen sei. 

Rector  Eckstein  bemerkt  berichtigend,  dasz  der  fragliche  Augs- 
burger Beschlusz  nicht  aus  einer  Verlegenheit  des  Präsidiums  hervor- 
gegangen ,  sondern  vielmehr  hervorgerufen  worden  sei  durch  bestimmte, 
von  Geh.  H.  Firnhaber  gemachte,  auf  gröszere  Fixierung  des  Vereins 
gerichtete  Vorschläge ,  denen  man  durch  diesen  Beschlusz  habe  auswei- 
chen wollen.  Es  beantwortet  hierauf  derselbe  Redner  eine  von  Director 
Ahrens  an  ihn  gerichtete  Frage  über  die  Stellung  der  Germanisten 
und  Orientalisten  zur  Versammlung  und  bemerkt  dabei,  dasz  beide  Sek- 
tionen den  Wunsch  ausgesprochen  hätten,  als  integrierender  Teil  der 
Verkam  ml  iin«-  angesehen  zu  werden,  weshalb  künftighin  mit  Wegfall 
des  Zusatzes  die  Versammlung  sich  einfach:  'Versammlung  deut- 
scher Philologen  und  Schulmänner'  nennen  möge. 

Prof.  Bnrsian  aus  Tübingen  schlägt  vor,  die  Zeit  von  8—10  Uhr 
täglich  den  Sektionen,  die  von  10—1  Uhr  den  allgemeinen  Sitzungen 
einzuräumen.  Durch  diese  Anordnung  würden  die  Einzelsitzungen  in 
ein  innigeres  Verhältnis  zu  den  allgemeinen  gebracht,  das  Einzelne  dem 
Ganzen  untergeordnet  und  das  Bewusztsein  des  Allgemeinen  festgehal- 
ten, was  allerdings  auch  ihm  sehr  nötig  erscheine. 

Tic  t  cor  Llckstein  empfiehlt  für  die  nächsten  Versammlungen,  be- 
sonders die  in  gröszeren  Städten  abzuhaltenden,  die  schon  in  Berlin 
und  Darmstadt  getroffene  Einrichtung,  während  der  Versammlungstage 


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Bericht  Aber  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  89 

ein  Tageblatt  erscheinen  zu  lassen,  durch  das  nicht  allein  die  Präsenz- 
listen, sondern  auch  die  Tagesordnungen  und  sonst  Mitteilungen  aller 
Art  am  einfachsten  zur  Kenntnis  der  Mitglieder  gebracht  werden  Könnten. 

Durch  die  hierauf  folgenden  Abstimmungen  wurden  1)  die  Augs- 
burger Beschlüsse,  das  Verhältnis  der  Plenar-  zu  den  Sectionssitzun- 
gen  betreffend,  aufgehoben;  2)  nach  dem  Vorschlag  der  Commission 
Hannover  als  nächster  Versammlungsort,  Director  Ahrens  und  Pro- 
fessor Grotefend  als  Präsidenten  der  nächsten  Versammlung  gewählt. 

Dir.  Ahrens  dankt  für  die  auf  Hannover  und  auf  seine  Person 
gefallne  Wahl ,  erklärt,  dasz  er  glaube  versichern  zu  können,  dasz  der 
Beschlusz  der  Versammlung  nicht  nur  von  den  gelehrten  Anstalten  und 
der  Bürgerschaft  von  Hannover  mit  Freuden  begrüsxt  werden,  sondern 
auch  von  seiten  seines  allergnädigsten  Königs  und  der  hohen  Staats- 
regierung die  Genehmigung  nicht  werde  versagt  werden,  und  bittet  zum 
Schlusz  im  Voraus  um  gütige  Nachsicht,  zugleich  aber  auch  um  Unter- 
stützung seiten  der  Versammlung ,  besonders  durch  rechtzeitige  Anmel- 
dung von  Vorträgen. 

Hierauf  hielt  Prof.  Schwabe  aus  Giessen  seinen  Vortrag:  'über 
die  Wiederauffindung  und  erste  Verbreitung  Catull's  im 
vierzehnten  Jahrhundert'.  Folgendes  waren  etwa  die  Hauptpunkte 
seiner  Auseinandersetzung.  'Die  Mutter  unserer  heutigen  Catull Hand- 
schriften befand  sich,  wir  wissen  nicht  seit  wann,  zu  Verona.  Dieselbe 
war  die  Tochter  der  französischen  Urhandschrift,  welche  nicht  mehr 
in  Capital-  oder  Uncialschrif t ,  sondern  schon  in  einer  schwierigen 
Minuskel  geschrieben  und  daher  kaum  älter  als  das  siebente  Jahrhun- 
dert, für  uns  doch  die  älteste  Einheit  der  Ueberlieferung  ist.  Andrer- 
seits flosz  aus  derselben  Urhandschrift  unmittelbar  und  zwar  spätestens 
im  neunten  Jahrhundert  die  Ueberlieferung  des  62.  Gedichts  Catull's, 
welche  in  Thou's  Handschrift  zu  Paris  (8071)  vorliegt.  —  Die  verone- 
sische  Handschrift  entdeckte  und  las  darin  Catull's  Gedichte,  die  er 
vorher  nirgends  hatte  auftreiben  können,  im  Jahr  966  der  Bischof 
ßather  zu  Verona.  Dann  verschwand  sie  wieder  und  mit  ihr  alle  Kennt* 
nis  von  Catull's  Buch.  Erst  während  der  ersten  Jahrzehnte  des  14« 
Jahrhunderts  (vor  1326  oder  1330)  fand  ein  r  Thorschreib  er  Francesco' 
dieselbe  zu  Verona  wieder;  seinen  Fund  verherrlichte  der  dortige  Hof- 
dichter Campesani  durch  ein  Epigramm.  In  den  dreisziger  und  vierziger 
Jahren  sahen  die  Handschrift  Wilhelm  von  Pastrengo,  Syndikus  zu 
Verona,  und  bei  einem  vorübergehenden  Aufenthalte  in  dieser  Stadt  (vor 
1347)  auch  Franz  Petrarca  und  zogen  sich  Einzelheiten  aus.  ,  Neue 
Nachrichten  tauchen  im  Jahre  1374  auf:  sie  finden  sich  in  3  von  Haupt 
veröffentlichten  Briefen  von  Coluccio  di  Piero  de  Salutati  (vgl.  d.  Ber.  d. 
Sachs.  Ges.  der  Wiss.  1849  S.  258).  Aus  ihnen  ergibt  sich  nicht  sowol 
das,  was  Haupt  daraus  geschlossen,  dasz  sich  Catulrs  Buch  in  Petrarca' s 
Bibliothek  befunden,  als  vielmehr  Folgendes,  was  für  unsern  Zweck 
sehr  wichtig  ist.  Wir  sehen  nemlioh  daraus,  dasz  Coluccio  zu  Florenz 
im  Jahre  1374  den  Broaspini  zu  Verona  um  Uebersendung  eben  jener 
veronesischen  Mutterhandschrift  selbst  oder  einer  Abschrift 
davon  bittet.  Zweitens  aber  erkennen  wir  aus  den  Aeuszerungen  Co- 
luccio'8,  dasz  CatulPs  Buch  selbst  den  eifrigsten  und  wohlbewandertsten 
Kennern  der  Alten  noch  im  Jahr  1374  so  gut  wie  unbekannt 
war,  oder,  anders  ausgedrückt,  dasz  damals  von  der  veronesischen 
Handschrift  noch  keine  Abschriften  genommen  waren.  Endlich  wird 
es  durch  die  Uebereinstimmung  der  in  Frage  kommenden  Zeit-  und 
Ortsverhältnisse  und  andrer  Thatsachen  fast  unzweifelhaft  gemacht, 
dasz  die  Catullhandschrift  von  St.  Germain,  jetzt  zu  Paris 
(1165),  die  erste  Abschrift  der  veronesischen  und  zwar  die  von  Broas- 
pini für  Coluccio  besorgte  ist.  Denn  dieselbe  ist  sowol  die  älteste  aller 
heute  noch  vorhandnen  Handschriften  als  auch  wurde  sie  noch  nicht 
ein  Jahr  nach  dem  Termin  des  Auftrags  (Mitte  November  1374)  been- 

H.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.    18«.  Hft.  2.  7 


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90  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

digtj  zugleich  ist  klar,  dasz  sie  zu  Verona  geschrieben  worden  ist. 
Die  beiden  letzten  Thatsachen  erhellen  aus  den  Worten  ihrer  subscrip- 
tio:  *1S75  mense  Octobri  19°,  quando  Casignorius  laborabat  in  extremis'. 
Dasz  nemlieh  an  diesem  Tage  Can.  Signorio  della  Scala,  Herr  von 
Verona,  daselbst  gestorben,  berichtet  H.  della  Corte  in  der  'Geschichte 
von  Verona  II  166'.  Diese  erste  Abschrift  der  veroneser  Handschrift 
ist  mit  einer  Treue  und  Gewissenhaftigkeit  geschrieben,  welche  von 
keiner  der  übrigen  bis  jetzt  bekannten  Handschriften  übertroffen  wird; 
und  so  sichert  auch  die  innere  Güte  dem  codex  Germanensis  in  der 
Reihe  der  Handschriften  den  Ehrenplatz,  den  Alter  und  Geschichte  ihm 
anweisen', 

Der  Präsident  dankt  dem  Redner  im  Namen  der  Versammlung 
für  seine  interessanten  Mitteilungen.  Eine  Debatte  über  dieselben  fand 
nicht  statt. 

Nach  ihm  bestieg  Prof.  Lange  aus  Giessen  die  Rednerbühne  und 
sprach  in  freiem  Vortrage  über  die  ^transitio  ad  plebem?.  Wir  geben 
die  Hauptpunkte  dieser  eingehenden  Entwicklung  wieder,  soweit  es 
nns  möglich  war,  sie  beim  Hören  zu  fixiren.  Der  Redner  erklärt  zu- 
nächst, dasz  man  von  der  tr.  im  technischen  Sinne  einen  Fall  von 
vornherein  ausscheiden  müsse,  die  Ueberlassung  eines  patricischen 
filius  familias  an  einen  Plebejer,  um  dessen  Familie  vor  dem  Aussterben 
zu  sichern,  weil  die  tr.  ad  pleb.  in  diesem  Falle  nur  ein  Accessorium 
der  Adoption,  nicht  Hauptzweck  gewesen  sei.  Es  sei  das  keine  tr.  im 
eigentlichen  Sinn,  wie  denn  auch  der  Ausdruck  transitio  ad  patres  für 
den  umgekehrten  Fall  nicht  existiere;  denn  das  Charakteristische  der 
eigentlichen  tr*  sei:  die  Beibehaltung  des  patricischen  Namens, 
wie  erstens  hervorgehe  aus  den  beiden  uns  historisch  überlieferten  Fäl- 
len von  tr.,  denen  des  P.  Clodius  und  des  P.  Cornelius  Dolabella,  zwei- 
tens aus  den  Stellen,  in  welchen  der  Fälschungen  in  den  iaudationes 
gedacht  wird  (Cic.  Brut.  16.  62:  ad  plebem  transitiones,  cum  homines 
humiliores  in  alienum  eiusdem  nominis  infunderentur  genus;  Liv.  IV  16). 
Unmöglich  hätten  Plebejer  durch  Fälschung  ihr  Geschlecht  von  einem 
patricischen  herleiten  können,  wenn  mit.  der  tr.  eine  Namensänderung 
verbunden  gewesen  wäre.  Die  Motive  zur  tr.  seien  gewesen:  ent- 
weder das  Streben  nach  dem  Volkstribunat  oder  der  Wunsch,  für  die 
Consulwahl  das  Anrecht  auf  beide  consularische  Stellen  sich  zu  er- 
werben und  so  eine  doppelte  Chance  sich  zu  eröffnen.  Ueber  die  For- 
malitäten boi  der  tr.  wüszten  wir  nur  das,  was  vom  Fall  des  Clodius 
berichtet  werde  (Cic.  de  domo  c.  13.  14;  Dio  Cass.  lib.  37  und  38  etc.). 
Nach  diesen  Zeugnissen  sei  Clodius,  der  sui  juris  war,  1)  durch  arro- 
gatio in  den  comitiis  curiatis  auf  Grund  einer  lex  curiata  des  C.  Jul. 
Caesar  unter  Assistenz  des  Augur  Pompeius  (Cic.  ad  Att.  VIH  3.  3)  von 
einem  Plebejer  P.  Fonteius,  der  20  Jahre  alt,  kräftig  und  verheirathet 
war,  dessen  Vater  Clodius  seinem  Alter  nach  hätte  sein  können,  arro- 
giert;  2)  sofort  nach  der  arrogatio  von  seinem  Adoptivvater  durch 
©mancipatio  aus  der  patria  potestas  entlassen  worden  (Cic.  1.  1.  §  37). 
Demnach  nehme  man  bis  jetzt  an,  dasz  die  transitio  ad  plebem  eines 
homo  sui  juris  durch  Arrogation  und  nachfolgende  Emancipation  be- 
werkstelligt worden  sei.  Gegen  diese  von  Becker  in  seinen  'Alter- 
tümern* entwickelte  Auffassung  habe  sich  neuerdings  Mommsen  erklärt 
(Rhein,  Mus.  1861  S.  321),  weil  mit  der  arrogatio  notwendig  Namens- 
wechsel verbunden  gewesen  sei.  Derselbe  nehme  daher  im  Falle  des 
Clodius  nach  Dio  Cassius  XXXVII  51  (r1)v  eürf^veiav  ££uj|u6co:to  Kai 
Trpoc  t&  TrXf^eovic  oiKCUUJU<XTa  £c  atrröv  cqpwv  töv  cuMoyov  £c€\6ibv  jLie- 
tIctti)  an ,  Clodius  habe  die  transitio  ad  plebem  dadurch  bewerkstelligt, 
dasz  er  sein  Patriciat  durch  eine  fdetestatio  sacrorum  calatis  comitiis' 
(Gell.  XV  27,  3)  abgeschworen  habe. 

Dagegen  macht  der  Redner  geltend,  dasz  Dio  C.  an  jener  Stelle 
nichts  von  eoinitiis   calatis  sage,  noch  Cic.  irgendwie  einer  im  Jahre 


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Beriebt  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Neiszen.  91 

60  stattgehabten  detestatio  sacrorum  Erwähnung  thue.  Der  Umstand 
aber,  dasz  auch  Zonaras  bei  Besprechung  der  transitio  des  Wortes 
€£6uvuc0m  sich  bediene,  lasse  sich  leicht  erklären,  da  der  behufs  der 
tr.  stattfindenden  arrogatio,  so  gut  wie  jeder  arrogatio  eine  detestatio  8. 
als  integrierender  Bestandteil  habe  vorausgehen  müssen.  Wenn  Momm- 
sen  aber  meine,  dasz  die  detestatio  allein  zum  Uebergang  zur  Plebs 
genügt  habe,  so  sei  diesz  allerdings  die  Ansicht  des  Dio  Cassius,  (irpö- 
(pctciv  37,  51;  aOOtc  38,  12),  aHein  der  Ansicht  des  Dio  Cassius  stehe 
entgegen  die  des  Metellus,  des  Caesar  und  des  Senats.  Aus  Dio  Cass. 
37,  51  selbst  gehe  hervor ,  dasz  Metellus  die  gesetzliche  Notwendigkeit 
einer  lex  curiata  nach  hergebrachter  Sitte  behauptet  habe,  und  aus 
38, 12,  dasz  Caesar,  ebenso  wie  Metellas  die  lex  curiata  für  gesetzlich 
notwendig  gehalten  habe.  Dasz  aber  der  Senat  mit  Metellus  überein- 
gestimmt habe,  folge  aus  Cic.  ad  Att.  2,  1,  4.  5.  und  de  har.  resp.  16, 44. 

Man  müsse  daher  die  Ansicht  Becker'«  von  der  transitio  ad  plebem 
festhalten,  insoweit  ergänzt ,  als  erkannt  worden  sei,  dasz  auch  der  bei 
der  transitio  ad  plebem  stattfindenden  arrogatio  die  detestatio  sacrorum 
habe  vorangehen  müssen.  Aber  es  müsse  nun  auch  erklärt  werden, 
wie  trotz  der  arrogatio  der  Name  habe  beibehalten  werden  können. 
Hierfür  liege  die  Erklärung  in  der  Annahme ,  dasz  die  zum  Behuf e  der 
transitio  ad  plebem  vorgenommene  arrogatio  keine  ernstlich  gemeinte, 
sondern  nur  eine  arrogatio  fiduciae  causa  gewesen  sei.  Der  Redner 
machte  diese  Vermutung  wahrscheinlich  durch  Hervorhebung  der  Aehn- 
Kchkeiten  zwischen  der  arrogatio  des  Clodius,  als  einem  Scheinge- 
schäfte, mit  der  aus  den  Juristen  bekannten  coemptio  fiduciae  causa. 

Clodius  sei  gar  nicht  ernstlich  als  filius  des  Fonteius  betrachtet, 
sondern  sofort  nach  der  Adoption  wieder  emaneipiert  worden;  eine 
ernstliche  Adoption  sei  in  keiner  Weise  motiviert  gewesen,  denn  sein 
Adoptivvater  sei  als  junger,  verheiratheter  Mann  gar  nicht  in  dem  Falle 
gewesen,  ein  Aussterben  seiner  Familie  befürchten  zu  müssen.  Kurz 
das  Ganze  sei  nur  ein  Scheinverfahren  gewesen,  angestellt  zu  dem 
Zwecke,  dem  Clod.  die  Bewerbung  um  das  Tribunat  zu  ermöglichen 
(Cic.  de  domo  §  34—38).  Der  Redner  nimmt  daher  für  die  tiansitio  ad 
plebem  eine  besondere  Art  der  arrogatio  an:  die  arrog.  fiduciae  causa, 
die  —  gewis  schon  früher  —  von  den  Pontifices  für  derartige  Fälle 
zugelassen  worden  sei.  Er  meint,  dasz  man  nach  Analogie  der  arro- 
gatio fiduciae  causa  auch  auf  das  Vorkommen  von  adoptiones  (im  engern 
Sinne)  fiduciae  causa  schlieszen  dürfe ,  und  stellt  es  als  wahrscheinlich 
hin,  dasz  die  adoptio  fiduciae  causa  im  zweiten  punischen  Kriege,  die 
arrogatio  fiduciae  causa  etwas  später  aufgekommen  sei. 

Prof.  Dr.  Rein  aus  Eisenach:  Er  wolle  sich  nur  eine  kurze  Be- 
merkung erlauben  in  Betreff  des  in  Frage  gezognen  Punktes,  ob  mit 
der  trans.  notwendig  Aenderung  des  Namens  verbunden  war.  Ihm 
scheine  dies  unzweifelhaft,  da  arrogatio  als  andre  Form  der  adoptio 
ohne  Namenstausch  nicht  gedacht  werden  könne,  und  wenn  man  mit 
Clodius  eine  Ausnahme  gemacht  habe,  so  sei  es  eine  auszerordentliche, 
widerrechtliche  gewesen,  wie  ja  überhaupt  die  ganze  tr.  in  diesem  Falle 
eine  reine  Comödie  war.  Eine  besondre  tr.  fiduciae  caussae  anzuneh- 
men erscheine  ihm  daher  nicht  nötig;  auch  könne  die  arrogatio  nicht 
wol  mit  der  coemptio  zusammengestellt  werden. 

Prof.  Lange:  Wenn  mit  der  tr.  notwendig  Namensänderung  ver- 
bunden gewesen  wäre,  könne  man  nicht  begreifen,  wie  Plebejer  durch 
Fälschungen  in  den  Leichenreden  ihre  Geschlechter  auf  berühmte  pa- 
tricische  gentes  hätten  zurückführen  können.  Eine  arrogatio  ohne  Na- 
menswechsel sei  ebenso  denkbar,  wie  eine  coemptio  ohne  wirkliche 
Heirat.  Die  Zusammenstellung  von  arrogatio  und  coemptio  halte  er 
anfrecht,  da  manus  und  patria  potestas  im  Grunde  dieselben  Begriffe 
seien,  nur  auf  verschiedne  Objecto  angewandt. 

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92  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

Prof.  Hein  gibt  dies  nicht  zu,  verzichtet  jedoch  in  Anbetracht  der 
beschrankten  Zeit  auf  weitere  Begründung  seines  Widerspruchs  an  die- 
eem  Orte. 

Prof.  Linker  aus  Lemberg:  Prof.  Lange  habe  seine  Auseinan- 
dersetzung wesentlich  auf  die  Stelle  de  domo  c.  13.  14  gegründet  als 
auf  Cicero's  Zeugnis.  Er,  der  Redner,  halte  die  Rede  de  domo,  ab- 
weichend hierin  von  Mommsen  und  vielen  Neueren,  entschieden  für 
nicht  et  ce  romanisch,  obgleich  er  zugebe,  dasz  dieselbe  historisch  und 
auch  stilistisch  interessant  sei  und  gewis  aus  alter  Zeit  stamme.  Nach 
seiner  Ansicht  habe  F.  A.  Wolf  die  Unechtheit  der  Rede  aus  sprach- 
lichen Gründen  überzeugend  nachgewiesen,  wenn  auch  im  Einzelnen 
nicht  vorsichtig  genug;  die  von  Nägelsbach  und  Lahmeyer  (de  harusp. 
reap.)  versuchte  Verteidigung  der  Echtheit  habe  ihn  nicht  überzeugen 
können , 

Prof.  Lange  will  auf  diese  verwickelte  Frage  hier  nicht  eingehen 
und  erklärt  einfach,  dasz  er  in  Uebereinstimmung  mit  Mommsen  an  der 
Echtheit  nicht  zweifle. 

Hieran  schlosz  sich  ein  kürzerer  Vortrag  von  Prof.  Dr.  Linker 
aus  Lemberg  füber  Horat.  Epod.  XVI'. 

Der  Hedner  erwähnt  im  Eingang,  dasz  er  in  seinem  in  Frankfurt 
gehaltnen  Vortrage:  rüber  das  Verhältnis  des  Horaz  zu  Sallust',  bereits 
den  Schlusz  der  16.  Epode  zu  besprechen  Gelegenheit  gehabt  habe. 
Seitdem  seien  die  Epoden  abgesehen  von  dem  Posener  Programm  von 
Martin  'über  die  strophische  Gestaltung  der  Epoden9  im  Vergleich  zu 
den  übrigen  Werken  des  Dichters  sehr  wenig  behandelt  worden  und 
gewissermaszen  das  f Stiefkind  dieser  Untersuchungen9  gewesen.  Der 
Verf.  genannter  Schrift  gehe  zu  weit,  wenn  er  den  Satz  aufstelle,  dasz 
alle  Epoden  des  Horaz  in  vierzeilige  Strophen  zu  zerlegen  seien. 
Einige  Epoden  seien  hierbei  auszunehmen,  bei  denen  eine  andere  Vers- 
ahteilang  deutlich  hervortrete  (z.  B.  Ep.  IV  zerfalle  in  2  X  10  Verse; 
Ep.  XII  wahrscheinlich  (?)  in  2  X  13  Verse);  unläugbar  aber  sei  die 
vierzeilige  Stropheneinteilung  bei  Ep.  XIV,  VH  und  sehr  wahrschein- 
lich auch  in  Ep.  XVI. 

Die  Epode  XVI  zerfalle  nach  ihrer  überlieferten  Form  in  zwei  Hälf- 
ten von  38  und  28  Versen,  eine  Ungleichheit,  die  bei  der  sonst  nicht 
nur  in  den  carminn.,  sondern  auch  in  den  Epoden  nachweisbaren  Sym- 
metrie der  Teile,  den  Verdacht  nahe  lege,  wenigstens  die  Notwendig- 
keit einer  Untersuchung  begründe,  ob  wirklich  bei  diesem  Gedichte 
und  nur  bei  diesem  eine  Ungleichheit  der  Teile  anzunehmen  sei. 

Der  Redner  ist  der  festen  Ueberzeugung ,  dasz  die  Ep.  in  2  gleiche 
Hälften  und  zwar  in  je  8  vierzeilige  Strophen  zerfalle,  indem  er  die 
beiden  Verse  5  und  6  (aemula  nee  virtus  Capuae  nee  Spartacus  acer 
Novisque  rebus  infidelis  Allobrox)  für  eine  Interpolation  ansieht,  da  sie 
auch  aus  Innern  Gründen  nicht  für  horazisch  gelten  könnten.  Der  Dich- 
ter führe  in  dem  Eingang  des  Gedichtes  die  Feinde  Rom's  an,  welche 
die  Stadt  direct  belagert  oder  wenigstens  in  grosze  Gefahr  gebracht 
hätten:  Porsena,  Hannibai  und  die  Marsi,  bei  welchem  letzteren  Na- 
men nicht  an  den  Bundesgenossenkrieg  überhaupt,  sondern  an  die  gegen 
Ende  desselben  stattgehabten  Straszenkämpfe  am  Esquilin  unter  Pon- 
tius Telesiuus  zu  denken  sei.  Neben  diesen  nehme  sich  ganz  singulär 
die  aemula  virtus  Capuae  aus,  da  Capua  —  obgleich  aemula  Romae 
von  Livius  genannt  —  doch  nie  Rom  ernstlich  bedroht  habe;  ferner 
Spartacus,  der  mit  knapper  Not  den  römischen  Herren  entronnen  sei; 
endlich  der  ( Allobrox9,  der  in  der  catilinarischen  Verschwörung,  auf 
die  doch  die  Worte  novisque  —  infidelis  deuteten,  dem  römischen  Con- 
sul  sogar  einen  wesentlichen  Dienst  geleistet  und  erst  später  die  Rö- 
mer in  einen  mit  jenen  genannten  Gefahren  gar  nicht  zu  vergleichen- 
den Krieg  verwickelt  habe. 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  93 

Der  Redner  bringt  zum  Schlusz  noch  ein  Bedenken  in  Betreff  des 
vierten  der  jedenfalls  echten,  von  Horaz  angeführten  Beispiele  vor. 
Die  Worte:  'nee  fera  caerulea  domuit  Germania  pube*  deute  man 
gewöhnlich  so,  dasz  man  darunter  die  f  blauäugige'  Jugend  der  Ger- 
manen oder  der  Cimbern  und  Teutonen  verstehe.  Die  caerulei  ocuü 
der  Germanen  seien  allerdings  schon  aus  Tacitus  bekannt  genug;  aliein 
nirgends  —  weder  bei  einem  Dichter  noch  bei  einem  Prosaiker  —  werde 
sich  caeruleus  als  Epitheton  einer  Person  im  Sinn  von  'blauäugig9  er- 
weisen lassen,  während  bei  flavus,  flava  (von  den  Haaren)  ein  derarti- 
ger Gebrauch  nach  römischem  wie  auch  nach  unserem  Sprachgefühl 
zulässig  sei.  Caeruleus  in  Verbindung  mit  Neptunus,  Triton,  dii  be- 
deute: 'blaugrün'  und  gehe  auf  Körper-  und  Gesichtsfarbe;  so  könne 
man  auch  die  caerulea  pubes  nur  so  deuten,  dasz  ähnlich  wie  bei  den 
virides  Britanni  an  die  gefärbte,  resp.  taetowierte  Haut  zu  denken  sei» 
Schon  Cäsar  (V  14)  berichte  von  den  Britanniern,  andre  Schriftsteller 
von  den  Celten  überhaupt ,  dasz  sie  ihre  Haut  vor  der  Schlacht  gefärbt 
hätten;  auch  Herodot  erzähle  dies  von  gewissen  historisch  nicht  genau 
zu  bestimmenden  Völkerschaften;  aus  keinem  Zeugnis  aber  lasse  sich 
beweisen,  dasz  auch  die  Germanen  diese  Sitte  gehabt  hätten.  Somit 
sei  wol  die  Germaniae  pubes  im  weitern  Sinne  zu  fassen,  so  dasz  dar- 
nnter'die  Gallier  zu  verstehen  seien,  die  im  Jahre  390  Rom  in  Asche 
legten.  Auf  eine  ähnliche  Verwechslung  der  Gallier  mit  den  Germanen 
habe  schon  v.  Wietersheim  im  S.  Bd.  seiner  f  Geschichte  der  Völker- 
wanderung* hingewiesen.  Nach  dem  Gesagten  deutet  der  Redner  die 
gen.  Worte  auf  die  f  taetowierten  Schaaren  der  gallischen  Belagerer  vom 
Jahre  390'. 

Professor  Bursian  aus  Tübingen:  Er  erlaube  sich  nur  einen  Zwei- 
fel vorzubringen  gegen  die  Behauptung  Linker's,  dasz  caeruleus  in 
keinem  Falle  auf  die  graublauen  Augen  der  Germanen  gedeutet  werden 
iönne.  Bestimmte  Beispiele  für  einen  derartigen  Gebrauch  dieses  Wor- 
tes könne  er  im  Augenblick  nicht  anführen,  allein  er  meine,  dasz  ein 
Dichter  überall  dann  ein  nur  einem  einzelnen  Körperteile  zukommendes 
Beiwort  auf  den  ganzen  Menschen  übertragen  könne ,  wenn  dieses  Epi- 
theton eben  nur  auf  diesen  Teil  bezogen  werden  könne.  Dies  gelte  von 
dem  Blau  der  Augen  wie  vom  Blond  der  Haare.  Die  Leiber  der  Meer- 
götter hieszen  caerulei ,  da  die  Phantasie  des  Dichters  sie  sich  gleich- 
sam f graublau  angelaufen9  ausmale;  beim  Menschen  könne  das  Epithe- 
ton nur  vom  Auge  verstanden  werden,  sei  also  genügend  deutlich  und 
nach  der  Analogie  von  flavus  zu  beurteilen. 

Prof.  Linker:  Er  bemerke,  dasz  seine  Deutung  auf  bestimmte 
Beispiele  sich  stütze,  indem  nicht  bloss  die  Meergötter,  sondern  auch 
Völkerschaften  bisweilen  caerulei  genannt  würden  in  Bezug-  auf  Ge- 
sichts- und  Hautfarbe.  Zwischen  Augen  und  Haaren  sei  der  Unter- 
schied, dasz  diese  viel  mehr  als  jene  dem  Menschen  einen  bestimmten 
Typus  gäben,  weshalb  auch  die  Beziehung  auf  die  Haare  dem  Hörer 
beim  Worte  flavus  sofort  nahe  liege,  nicht  so  bei  caeruleus  die  auf  die 
Augen. 

Prof.  Bursian  bezweifelt,  dasz  caeruleus  an  vorliegender  Stelle 
ftaetowiert'  bedeuten  könne,  da  der  Dichter  doch  schwerlich  auf  eine 
gallische  Volkssitte  angespielt  haben  werde,  von  der  die  damaligen 
Römer,  (wie  aus  der  Spärlichkeit  der  Zeugnisse  zu  schlieszen  sei,) 
offenbar  wenig  Bescheid  gewuszt  hätten. 

Prof.  Linker  verspricht  in  seiner  demnächst  in  Druck  erscheinen- 
den Abhandlung  mehrere  Beispiele  für  den  Gebrauch  des  Wortes 
caeruleus  von  Haut-  und  Gesichtsfarbe  beizubringen. 

Rector  Eckstein:  Noch  weniger  als  Linker  sei  er  mit  den  Resul- 
taten der  Martinschen  Untersuchungen  einverstanden,  die  übrigens  im 
weiteren  Kreise  wenig  bekannt  zu  sein  schienen.  Er  wünsche  sehn- 
lichst, dasz  endlich  einmal  die  Vierstrophentheorie ,  die  so  fest  begrün- 


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94  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

del  scheine,  an  den  bestimmten  Zeugnissen  des  Altertums,  z.  B.  dem 
des  Marias  VictorinuSj  ihre  Widerlegung  finden  möchte,  dasz  man  end- 
lich einmal  aufhöre ,  dem  Horaz  Fremdartiges  aufzudrängen  und  seine 
Gedichte  zu  zerfleischen,  wie  es  auch  Linker  mit  seinem  kritischen 
Messer  gethan  habe.  Er  könne  sich  nicht  genug  wundern,  dasz  sein 
Freund  v.  Leutsch  dies  so  ruhig  geschehen  lasse,  er,  der  doeh  über  die 
metrischen  Zeugnisse  des  Altertums  die  beste  und  vollste  Auskunft  ge- 
ben könne,  Linker  verwerfe  zwei  Verse,  weil  er  sich  in  den  Kopf 
gesetzt  habe,  es  könne  nur  von  Feinden  die  Rede  sein,  die  ßom  un- 
mittelbar und  ernstlich  bedroht  hätten.  Zunächst  entstehe  auch 
nach  Auswerfung  der  beiden  Verse  und  der  neuen  Auslegung  der  cae- 
rulea pubes  keine  chronologische  Folge  der  Beispiele,  wenn  man  nicht 
etwa  den  Ueberfall  der  Marsi  in  die  Königszeit  (vor  Porsena)  verlegen 
wolle,  was  der  Redner  selbst  nicht  gewollt  habe;  und  dann  sehe  er 
nicht  ein,  warum  die  Erwähnung  von  Oapua  und  Spartacus,  die  dem 
Horaz  dock  anderwärts  als  gefährliche  Feinde  Rom's  erschienen,  hier 
so  störend  sein  solle,  dasz  man  deshalb  die  Verse  als  unecht  ansehen 
müsse. 

Prof.  Linker:  Spartacus  werde  nur  einmal  von  Horaz  (III  14. 19) 
erwähnt  und  zwar  als  ein  —  fden  römischen  Weinkellern'  gefährlicher 
Feind. 

Rector  Eckstein:  Also  doch  als  Plünderer  Roms.  Das  Bedenk- 
liche Kipe  darin,  class  man  in  den  vorliegenden  Worten  etwas  Bestimm- 
tes suche  und  2  Veree,  weil  sie  dem  Bestimmten  nicht  entsprächen, 
beseitigen  wolle,  Er  stelle  sich  in  dieser  Frage  ganz  auf  die  Seite  der 
conservativen  Partei, 

Prof.  Linker:  Es  sei  eine  petitio  prineipii,  von  der  Forderung 
einer  historischen  Reihenfolge  der  angeführten  Beispiele  auszugehen. 
Et  finde  ein  andres  Princip  der  Anordnung  näher  liegend.  Im  ersten 
Distichon  würden  Feinde  aus  Italien  selbst,  im  folgenden  (nach  Aus- 
werf 'wag  von  vs,  6  und  6)  auswärtige  Feinde  erwähnt  und  zwar  in  je- 
dem 2  Feinde  in  je  einem  Vers.  Das  eingeschobne  Distichon  führe  3 
Heispiele  vor  und  zwar  in  einer  absteigenden  Klimax,  wenn  man 
ilire  Gefährlichkeit  für  Rom  in  Betracht  ziehe.  Dies  stimme  wenig  mit 
dem  folgenden  Distichon,  welches  gerade  die  beiden  gefährlichsten 
Feinde  erwähne.  - —  Uebrigens  protestiere  er  gegen  den  Vorwurf  eines 
sophistischen  Haschens  nach  Athetesen  und  leichtfertiger  Zweifelsucht, 
wie  ihn  besonders  Nauck  in  der  3.  Auflage  seiner  Ausgabe  ihm  gemacht 
habe,  der  'sein  Verfahren  gewissermaszen  als  Popanz  für  alle  besonne- 
nen Schulmänner3  hinstelle.  Er  habe  immer  nur  das  gesprochen  und 
geschrieben ,  was  er  mit  voller  Ueberzeugung  offen  und  ehrlich  zu  ver- 
teidigen im  Stande  gewesen  sei. 

Rector  Eckstein  verwahrt  sich  gegen  diese  Auffassung  seiner 
Worte  und  fordert  seinen  Freund  v.  Leutsch  auf,  endlich  aus  seinem 
Schweigen  herauszutreten. 

Prof.  v.  Leutsch  aus  Göttingen:  Er  habe  geschwiegen,  weil  das 
weitschichtige  Material  für  die  Behandlung  dieser  Frage  noch  keines- 
wegs genügend  durcharbeitet  sei,  da  auszer  Horaz  noch  mancher  andre 
Dichter  in  den  Bereich  der  Untersuchung  gezogen  werden  müsse,  und 
weil  auch  unsere  Kenntnis  von  antiker  Musik  noch  eine  sehr  unvoll- 
ständige sei,  auf  welche  doch  in  dieser  Frage  immer  wieder  als  auf 
die  eigentliche  Grundlage  recurriert  werden  müsse.  Wie  wenig  wir 
über  diese  wüsten,  werde  jedem  aufmerksamen  Leser  des  Westphal- 
schen  Buchs  klar  geworden  sein.  In  Betreff  der  horazischen  Gedichte, 
sei  er  der  Meinung ,  dasz  Horaz  die  Mehrzahl  seiner  Gedichte  strophisch 
und  zwar  meist  in  Strophen  von  4  Versen  componiert  habe,  aber  we- 
nigstens ein  Gedieht  sieher  in  dreizeiligen  Strophen.  Uebrigens  glaube 
er,  dasz  durch  die  richtig  aufgefaszte  und  gehandhabte  Stropheneintei- 
lung  die  Zahl  der  Verse  bei  Horaz  nicht  vermindert,  sondern  vielmehr 

• 

Li 


Beriebt  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Heiszen.   95 

die  Echtheit  vieler  aus  andern  Gründen  angezweifelter  Stellen  werde 
erwiesen  werden. 

Prof.  Linker:  Dasz  die  Oden  des  Horaz  fvierzeilig'  seien,  werde 
nach  seiner  Ansicht  bewiesen  durch  den  vierzeiligen  Wechselgesang: 
mit  Lydia.  Eine  Kürzung  habe  durch  diese  Strophentheorie  nur  das 
Gedieht  Carm.  ÜV  8  erfahren,  denn  auch  Carm.  I  1  sei  ja  durch  4  teil- 
bar, so  dasz  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  keine  Zeile  dieses  Gedich- 
tes gefährdet  sei.  Ob  das  Gedicht  III 12  aus  4  dreizeiiigen  oder  (nach 
Lachmann)  1  vierzeiligen  Strophe  bestehe,  wage  er  nicht  zu  entscheiden. 

Vicepräsident  Director  Dietsch  ersucht,  da  die  Sitzung  noch  zu 
verlängern  nicht  rathsam  erscheine,  Herrn  Dr.  Benseier  aus  Leipzig 
seinen  Vortrag:  'über  einige  Eigentümlichkeiten  der  griechi- 
schen Namen  bildung'  zurückzuziehen  und  zum  Abdruck  zu  den 
'Verhandlungen'  zu  geben;  verliest  sodann  ein  von  der  Germanisten- 
section  eingegangenes  Schriftstück,  in  welchem  die  Versammlung  um 
Teilnahme  und  Unterstützung  des  von  genannter  Section  ausgehenden 
Unternehmens,  dem  jüngstverstorbnen  groszen  Meister  Jacob  Grimm 
'ein  würdiges  Ehrengedächtnis'  zu  stiften,  gebeten  wird,  und  schlieszt 
hieran  ein  ernstes  Schluszwort,  in  dem  er  einen  dankbaren  Rückblick 
hält  auf  das  in  den  verflossnen  Tagen  auf  wissenschaftlichem  und  ge- 
selligem Gebiete  Gebotne  und  die  Bitte  ausspricht,  in  treuem  Andenken 
die  Eindrücke  dieser  Tage  zu  bewahren.  Hierauf  schlosz  er  mit  dem 
Wunsche  eines  frohen  Wiedersehns  in  Hannover  die  22e  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner. 

Ehe  die  Versammelten  das  Sitzungslokal  verlieszen,  ergriff  noch 
Professor  Dr.  Haase  aus  Breslau  das  Wort  und  lieh  den  Gefühlen  der 
Dankbarkeit  einen  Ausdruck,  von  denen  gewis  alle  scheidenden  Gäste 
inHUckerinnerung  der  verflosznen  Tage  erfüllt  waren.  'Mit  angeneh- 
men und  wohlthuenden  Eindrücken  schieden  gewis  alle  Anwesenden  von 
dieser  seit  Jahrhunderten  durch  die  edelste  geistige  Arbeit,  die  es  gebe, 
durch  die  Erziehung  der  Jugend  geweihten  Stätte,  an  die  die  Namen 
und  Erinnerungen  so  vieler  groszer  Männer  sich  knüpften  und  in  der 
das  vor  länger  als  300  Jahren  begonnene  grosze  Werk  von  tüchtigen 
Nachfolgern  in  würdigster  Weise  noch  fortgesetzt  werde.'  In  ehrfurchts- 
vollen Worten  dankte  hierauf  der  Redner  für  das  lebendige  Interesse, 
die  Liberalität  und  thätige  Förderung ,  deren  sich  die  diesjährige  Phi- 
lologenversammlung Seiten  Sr.  Majestät  des  Königs  Johann  und  der 
hohen  Staatsregierung  zu  erfreuen  gehabt  habe;  hieran  schlosz  er  herz- 
liche Worte  der  Anerkennung  und  des  Dankes  für  die  von  den  Behör- 
den und  Bürgern  Meiszens  bewiesne  Gastlichkeit,  Fürsorge  und  ach- 
tungsvolle Teilnahme  an  den  Bestrebungen  der  Versammlung,  sowie 
für  die  aufopfernde  und  umsichtige  Thätigkeit  des  Präsidiums  und  des 
Lokalcomite's  und  schlosz  seine  Rede  mit  einem  dreimaligen  Hoch  fauf 
das  alte  Haupt  des  meisznischen  Landes,  die  freundliche  Stadt  Meiszen, 
alle  in  ihr  Seszhaften  und  auf  die  beiden  Präsidenten',  in  welches  die 
Versammelten,   von  ihren  Plätzen  sich  erhebend,   freudig  einstimmten, 

Schlusz  der  letzten  allgemeinen  Sitzung  J/21  Uhr. 


Anhangsweise  geben  wir  noch  eine  Ueb ersieht  der  der  Meiszner 
Philologenversammlung  gewidmeten  Festschriften,  der  in  gröszerer 
oder  geringerer  Anzahl  von  Exemplaren  verteilten  litterarischen  Ge- 
schenke und  der  aufgelegten  Novitäten. 

a)  Festschriften:  1)  Germaniae  philologis  doctis  illustribus  Misnae 
a.  MDGCCLXIII  congressis  vereeunde  d.  d.  d.  Freytagius,  Ar- 
chidiac.  Misen.  8.  p.  4.  (Alcäische  Ode). 

2)  Philologis  et  paedagogis  Germaniae  . . .  Misniae  solennem  con- 
ventam  agentibus  salutem  dieunt  plurimam  scholae  regiae  Afranae 


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96  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen. 

rector  et  professores,  Misenae  4.  p.  20.   Insunt:  Ottonis  Kreuss- 
leri  Observationes  in  Theocriti  Carmen  I. 

3)  Kaside  des  Selm&n  aus  Säweh  zum  Lobe  des  Wesir  Gijatiid- 
din  Muhammed  aus  dem  Persischen  übersetzt  usw.  von  K.  H.  Graf, 
Meiszen.  8.  S.  3. 

4)  Philologos  Germaniae  Misniae  etc.  salutat  HermannusFritz- 
schius,  professor  Lipsiensis  hujusque  Graeca  societas,  Lipsiae  4. 
p.  VII.  Insunt:  Gustav i  Schneid eri  Gerani  disputatio  de  loco 
Aristotelis  Metaph.  A,  10  p.  1076,  a.  11  ed.  Bekk.  et  Ioannis 
Schuemanni  Megalopolitani  quaestiones  de  usu  spondei  ante  cae- 
suram  bucolicam  in  Theocriti  carminibus. 

b)  Geschenke:  1)  Einige  Bemerkungen  über  Kritik,  Exegese  und 
Versabteilung  beiPindar  von  Tycho  Mommsen,  Oldenburg  1863. 
8.  S.  39. 

2)  'Ueber  Königlichen  Sinn',  Rede  zur  Feier  des  Geburtsfestes 
Sr.  Majestät  des  Königs  Friedrich  August  gehalten  vom  Conrector 
Dr.  Philipp  Wagner,  Dresden  1863.  8.  S.  16. 

3)  3  Indices  lectionum  in  Academia  Rostochiensi  habitarum  a. 
1862.  1863.  1863—64.  Insunt:  F.  V.  Fritzschii  supplementum  ad 
Aristophanem,  de  scriptoribus  satiricis  specimen  I,  de  origine  tra- 
goediae  dissertatio. 

4)TheodoriDoehneri,  prof .  Misn.,  Quaestionum Plutarehearam 
partioula  IV.  4.  p.  33.  Inest :  analectorum  Byzantinorum  specimen  I. 

5)  Manuale  bibliographum  ed.  S.  Calvary,  Pars  I. 

c)  Aufgelegte  Novitäten:  Rhetores  latini  minores  ed.  C.  Halm, 
fasc.  I.  Lips.  Teubn.  1863.  —  Horaz's  Satiren  und  Episteln,  erklärt 
von  G.  T.  A.  Krüger,  Leipz.  Teubn.  4.  Aufl.  —  Erläuterungen  zu 
den  deutschen  Classikern  von  H.  Düntzer,  Bdch.  30 — 36,  Weni- 
gen-Jena  1863. 


n.   Sectionsflitznngen. 
1)   Verhandlungen  der  pädagogischen  Section. 

Die  pädagogische  Section  constituierte  sich  den  29.  September 
12  Uhr  nach  Schlusz  der  ersten  allgemeinen  Sitzung.  Eine  E&nzeich- 
nung  der  Mitglieder  in  eine  besondere  Liste  erfolgte  diesmal  nicht. 
Auf  Antrag  des  Vicepräsidenten  Director  Dietsch  aus  Plauen  wählte 
die  Section  den  in  der  Leitung  der  pädagogischen  Verhandlungen  durch 
vielfache  Praxis  auf  den  Philologenversammlungen  geübten  und  be- 
währten Rector  Professor  Eckstein  aus  Leipzig  auch  diesmal  zum 
Vorsitzenden.  Als  Schriftführer  fungierten  die  Secretäre  der  allgemei- 
nen Verhandlungen,  Dr.  Richter  aus  Plauen  und  der  unterzeichnete 
Berichterstatter. 

Der  Vorsitzende  schlug  nach  einigen  kurzen  Begrüszungsworten 
vor,  von  den  aufgestellten  (und  in  einem  gedruckten  Programm  publi- 
cierten)  5  Thesengruppen  zuerst  die  von  Director  Kl  ix  aus  Glogau  an- 
geregten Fragen:  'über  öffentliche  Prüfungen  und  Schulfeierlichkeiten' 
zur  Besprechung  zu  bringen,  da  ein  Aussprechen  hierüber  'zumal  in 
dem  mit  Redeacten  so  reich  gesegnetem  Sachsen'  von  besonderem  In- 
teresse und  praktischem  Nutzen  sein  müsse. 

Die  erste  Sitzung  ward  auf  den  nächsten  Morgen  8  Uhr  angesetzt. 

Erste  Sitzung,  den  30.  September,  Anfang  8%  Uhr. 

Der  Vorsitzende  schlägt  vor,  die  zu  discutierenden  Thesen  in  zwei 
Gruppen  (These  1  und  These  2—4)  zu  teilen.  Wir  geben  zuvörderst 
den  Wortlaut  der  vom  Director  Klix  aufgestellten  Sätze  wieder: 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Neiszen.  97 

1)  Die  Öffentlichen  Examina  auf  den  Gymnasien  beim  Schlusz  der 
Jahrescnrse  sind  zwecklos  und  unter  Umständen  sogar  schädlich;  sie 
sind  daher  zu  beseitigen. 

2)  O eigentliche  Schalfeiern,  sei  es  in  der  Form  der  sog.  Redeactas 
oder  freierer  Feste,  sind  für  das  Leben  der  Schule  notwendig,  aber  so 
einzurichten,  dasz  sie  in  den  Schülern  das  Gefühl  der  Zugehörigkeit 
zum  Ganzen  wecken  nnd  erhalten,  und  dem  teilnehmenden  Publicum 
einen  Einblick  in  den  in  der  Anstalt  waltenden  Geist  gewähren. 

3)  Die  sog.  Redeactas  müssen  einen  bestimmten  Gedanken  hervor- 
treten lassen,  durch  welche  die  Wahl  ihres  Inhalts,  der  Gesänge,  De- 
clamationen  und  freien  Vorträge  bestimmt  wird.  Ihre  häufige  Wieder- 
kehr z.  B.  als  sog.  Abendunterhaltungen  erscheint  im  Interesse  der 
Schüler  unzulässig.  Ihre  Stelle  haben  sie  nur  bei  den  Anlässen,  welche 
teils  die  Schule  selbst  (Einweihungen,  Jubeltage,  Entlassung  von  Abi- 
turienten, Jahresschlüsse,  mit  denen  die  öffentliche  Verkündigung  der 
erfolgten  Versetzungen  und  die  Verteilung  von  Prämien  unbedenklich 
verbunden  werden),  teils  das  Leben  der  Gemeinde  oder  des  Volkes 
hietet.  Die  bei  solchen  Gelegenheiten  von  den  Lehrern  zu  haltenden 
Reden  müssen  den  Schülerreden  folgen,  nie  vorausgehen. 

4)  Die  im  Freien  zu  haltenden  Schul  feste  schlieszen  sich,  wo  nicht 
altes  Herkommen  gewisse  Tage  bestimmt,  am  passendsten  an  die  gro- 
ssen Gedenktage  des  Vaterlandes  an.  Lied  und  Wort  müssen  auch 
ihren  Mittelpunkt  bilden  und  die  gemeinsamen  zur  Unterhaltung  die- 
nenden Spiele  bei  denselben  einen  turnerischen  Charakter  annehmen. 
Die  eigentlichen  Turnfeste  gehören  auf  den  Turnplatz. 

Director  Kl  ix  sagt  zur  Einleitung  und  Verteidigung  seiner  ersten 
These  etwa  Folgendes:  Es  sei  eine  sehr  wichtige  Frage  im  Leben  der 
Schule ,  wie  dieselbe  sich  zu  verhalten  habe,  wenn  sie  ans  Licht  der 
Oeffentlichkeit  trete.  Er  habe  seine  Thesen  gestellt,  um  die  Aufmerk- 
samkeit auf  diesen  wichtigen  Punkt  zu  lenken  und  um  selbst  die  An- 
sichten erfahrner  Schulmänner  zu  hören.  Was  die  Prüfungen  anlange, 
so  misbiilige  er  nicht  diese  überhaupt,  sondern  nur  die  'Schaustücke' 
zum  Schlusz  der  Jahrescnrse.  Diese  halte  er  für  zwecklos,  da  der 
aoszerhalb  der  Schule  Stehende  durch  sie  keinen  rechten  Einblick  in 
das  Leben  der  Schule  erhalte  und  dem  Schüler  ihr  Erfolg  irrelevant 
erscheine;  ja  sogar  für  schädlich,  da  für  eitle  oder  nachlässige  Leh- 
rer die  Versuchung  sehr  nahe  liege ,  ihre  Classen  vorher  zum  Examen 
'abzurichten',  was  nicht  nur  eine  schnöde  Täuschung  des  Publicums 
sei,  sondern  auch  ein  Anstosz  und  schlechtes  sittliches  Beispiel  für  die 
Schüler.  Er  wisse  überhaupt  nicht,  ob  öffentliche  Prüfungen  als  ge- 
setzlieh notwendig  beständen  oder  nur  als  usus  von  den  Behörden  vor- 
ausgesetzt würden.  An  seiner  Anstalt  habe  er  sie  seit  Jahren  ganz 
eingestellt  und  keine  Nachteile  davon  bemerkt. 

Probst  Dr.  Müller  aus  Magdeburg:  Der  liebelst  and  des  *  Abrich- 
tens' lasse  sich  durch  Vereinbarung  und  Controle  der  Lehrer  unter 
einander  leicht  beseitigen;  dann  höre  auch  das  Examen  auf,  eine 
'Schaustellung'  zu  sein.  Am  Kloster  U.  1.  Frauen  habe  man  die  zwei 
Tage  der  öffentlichen  Prüfung  auf  einen  reduciert,  indem  am  zweiten 
Tage  nur  ein  Privatexamen  innerhalb  der  Classen  abgehalten  werde. 
Die  Examina  würden  immer  genügend  besucht,  besonders  die  der  un- 
tern Classen.  Er  pflege  den  Eifer  der  Schüler  dadurch  besonders  an- 
zuspornen, dasz  er  für  jede  Antwort  jedes  Schülers  sich  eine  Censur 
notiere  und  diese  Notizen  den  Schülern  nach  der  Prüfung  vorlese. 
Den  Hauptnutzen  der  Examina  sehe  er  darin ,  dasz  die  Jugend  lerne, 
ohne  Scheu  vor  Fremden  das  auszusprechen,  was  sie  wisse. 

Professor  Massmann  aus  Berlin:  Obgleich  nicht  selbst  Schuhnann, 
habe  er  doch  stets  an  der  Schule  Interesse  genommen;  auszerdem  sei 
sein  ganzes  Leben  'Pädagogik'  gewesen,  darum  wage  er  es  hier  zu 
sprechen*    Schon   als  Schüler   habe   er  Aergernis  genommen  an  dem 


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98  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meisten. 

FVersteckspieP  der  öffentlichen  Prüfungen  und  noch  jetzt  habe  er  kein 
Wolgefallen  daran.  Et  inisbillige  die  vom  Vorsitzenden  vorgeschlagene 
Treuuung  der  These  l  von  2.  3.  4;  man  müsse  zugleich  das  Ersatz- 
mittel mit  prüfen,  was  die  Punkte  2—4  vorschlügen,  wenn  man  über 
Aufhebung  der  Examina  discutiere.  Er  schlage  vor,  anstatt  der  Abhal- 
tung öffentlicher  Prüflingen  den  Eltern  die  Erlaubnis  zu  erteilen,  an 
bestimmten  Tagen  in  die  Classen  selbst  einzutreten  und  so  das  Still- 
lebcn  der  Schule  zu  belauschen. 

Der  Vorsitzende  vertheidigt  die  von  ihm  vorgeschlagene  Tren- 
nung. Die  SätKe  2—4  hingen  nur  dadurch  mit  Satz  1  zusammen,  dasz 
auch  sie  Fälle  aufzählten  f  in  denen  die  Schule  ins  Licht  der  Oeffent- 
litilikeit  heraustrete,  keineswegs  aber  sollten  und  könnten  diese  Feste 
nla  r  Ersatz  mittel*  für  die  Examina  gelten. 

Keetor  Dr.  Peter  aus  Pforta  erinnert,  dasz  man  einerseits  dem 
Publicum  gewisse  Rücksicht  schuldig  sei,  andererseits  keine  der  weni- 
gen noeb  vorhandenen  Brücken  zwischen  Schule  und  Haus  voreilig 
abbrechen  solle.  Er  habe  selbst  als  Lehrer  an  einem  neubegründeten 
Gymnasium  (Anclam)  erfahren,  wie  lebhaft  das  Publicum  auch  an  den^ 
Examinibus  sich  beteilige ,  wenn  es  lebhaftes  Interesse  an  der  Anstalt 
überhaupt  nehme.  Er  meine  auch,  dasz  sich  wol  gewisse  Grundsätze 
aufstellen  unu"  Einrichtungen  treffen  lieszen,  um  dem  vom  Thesensteiler 
erwähnten  abusus  zu  steuern. 

Der  Vorsitzende:  Tra  Allgemeinen  lasse  sich  wol  der  Erfahrungs- 
satz  aussprechen,  dasz  mit  der  Grösze  der  Städte  die  Teilnahme  an 
deu  Prüfungen  der  gelehrten  Schulen  abnehme. 

Direktor  Ahrens  aus  Hannover:  In  Hannover,  das  jetzt  doch  zu 
den  greiszern  Städten  gehöre,  sei  die  vorliegende  Frage  viel  von  Colle- 
gien  und  Behörden  debattiert  worden.  Mehrere  Schulen  hätten  die 
Examina  abgestellt,  andere,  unter  ihnen  seine  Schule,  sie  beibehalten. 
Er  habe  keine  Veranlassung,  über  geringen  Besuch  der  Prüfungen  zu 
klagen,  besonders  nicht  rücksichtlich  der  untern  Classen,  und  möchte 
diese  Gelegenheit,  mit  den  Eltern  in  engern  Verkehr  zu  treten,  der 
Schule  nicht  entgehen  lassen.  Zum  Schlusz  empfiehlt  der  Redner  die 
an  seiner  Schule  getroffne  Einrichtung  der  Mappe ncensuren,  welche 
eine  eingehendere  um!  riiekhaltslosere  Besprechung  der  einzelnen  Schü- 
ler enthielten,  daher  nicht  den  Schülern  selbst  mitgeteilt,  sondern  nur 
den  Eltern  beim  Examen  zur  Einsicht  vorgelegt  würden.  Diese  Ein- 
richtung übe  eine  wunderbare  magnetische  Kraft  aus.  Die  Prüfungen  * 
der  oberen  Classen  seien  zwar  unverhältnismäszig  weniger  als  die  der  4 
unteren  besucht,  doch  sei  die  Beibehaltung  derselben  schon  deshalb 
nötig,  damit  die  Schulbehörde  eine  Uebersicht  über  die  ganze  Schule  • 
gewinne. 

Der  Vorsitzende  resümiert  kurz  die  Debatte:  darüber  scheine 
mau  sich  geeinigt  zu  haben,  dasz  die  Prüfungen  für  die  Lehrer 
schlechthin  bedeutungslos,  somit  nur  um  des  Publicums  willen  festzu- 
halten seien,  wenn  man  sie  überhaupt  festhalten  wolle. 

Director  H iiser  ans  Aschersleben  macht  geltend,  dasz  bei  der 
Entscheidung  dieser  Frage  auf  die  Lokalverhältnisse  der  einzelnen 
Schulen  Rücksicht  genommen  werden  müsse.  Schulen,  die  ganz  oder 
teilweise  städtisch  seien,  könnten  sich  unmöglich  diese  Gelegenheit  ent- 
gehen lassen,  mit  den  Vätern  und  Müttern  sich  in  Rapport  zu  setzen. 
Er  halte  es  in  solchem  Falle  für  eine  wichtige  Aufgabe  der  Schule, 
du*  erkaltende  Interesse  des  Publicums  wieder  zu  wecken. 

Keetor  Palm  aus  Bautzen  klagt  ebenfalls  über  geringe  Teilnahme 
des  Publicums  bei  ilen  Prüfungen  oberer  Classen,  hegt  aber  Bedenken 
den  Wegfall  der  öffentlichen  Examina  überhaupt  zu  befürworten,  da 
dieselben  neben  dem  Vorteil,  dasz  sie  den  Wechselverkehr  von  Schule 
und  Haus  forderten,  auch  noch  einen  anderen,  nicht  unwichtigen  Vor- 
teil böten,   dasz  durch  sie  die  Lehrer  ihre  Lehrmethoden  gegenseitig  ■ 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  99 

kennen  lernen  könnten.  Durch  Privatexamina  innerhalb  der  Schule 
werde  nur  der  eine  Zweck  erreicht,  durch  öffentliche  Examina  beide. 

Professor  Schmalfeld  aus  Eisleben  erklärt,  dasz  nach  seinen  Er- 
fahrungen weder  das  Publicum  noch  im  Allgemeinen  die  Schüler  das 
Examen  mit  der  Gleichgültigkeit  ansehen,  wie  es  von  den  Vorrednern 
behauptet  worden  sei.  Er  meine  sogar,  dasz  Schüler  und  Lehrer  da- 
durch ethisch  gehoben  würden,  wenn  sie  bisweilen  Gelegenheit  hätten, 
von  ihrer  gemeinsamen  Arbeit  öffentlich  Zeugnis  und  Rechenschaft  ab- 
zulegen. 

Director  Hüser:  Es  sei  mehrfach  von  'Schaustellungen'  gespro- 
chen worden;  man  möge  die  Examina  nur  so  nennen;  eine  Schaustel- 
lung sei  ja  an  sich  nichts  Verwerfliches,  sondern  nur,  wenn  sie  eine 
trügerische  sei.  Die  Schule  wolle  doch  eben  ihr  stilles  Schaffen  und 
Leben  in  den  Examinibus  öffentlich  darstellen,  was  ihm  ebenso  natür- 
lich als  durchaus  ungefährlich  erscheine,  wenn  es  nur  eine  ehrliche, 
wahrheitsgetreue  Dar-  oder,  wenn  man  wolle,  Schaustellung  sei. 

Oberlehrer  Liesske  aus  Dresden  weist  darauf  hin,  dasz  das  Gym- 
nasium die  Pflicht  habe,  neben  und  im  Gegensatz  zu  anderen  höheren 
Lehranstalten  die  eigentümliche  Art  seines  Lebens  und  seiner 
Thätigkeit  auch  bisweilen  öffentlich  darzustellen.  Dies  geschehe  nur 
ganz  unvollkommen  durch  Programme,  nur  einseitig  durch  Redeacte; 
am  besten  unläugbar  durch  öffentliche  Examina. 

Director  Kl  ix  aus  Glogau  gibt  zu,  dasz  unter  gewissen  lokalen 
Verhältnissen  öffentliche  Examina  notwendig,  ja  sogar  unter  besonders 
günstigen  Umständen  —  wie  in  dem  vom  Rector  Peter  angeführten 
Falle  —  anregend  und  fruchtbar  sein  können.  Im  Princip  halte  er  an 
tai  These  fest.  Der  Vorschlag  Massmann's  sei  schlechthin  unausführ- 
bar; auf  den  Einwand  Palm's  entgegne  er  das,  dasz  es  ja  stets  den 
Lehrern  freistehe ,  gegenseitig  bei  einander  zu  hospitieren.  Das  Inter- 
esse des  Publicums  an  der  Schule  schlage  er  sehr  hoch  an  und  halte 
es  für  Pflicht,  dasselbe  zu  wecken,  wo  es  schlummere.  Dies  geschehe 
aber  viel  wirksamer  durch  die  These  2 — 4  vorgeschlagenen  Schulfeier- 
lichkeiten, als  durch  die  Examina,  zumal  da  zum  Besuch  der  letzteren 
die  Eltern,  wenn  sie  überhaupt  erschienen,  in  der  Regel  nicht  das  Inter- 
esse an  der  Schule,  sondern  lediglich  das  an  den  Kindern  bestimme. 

Der  Vorsitzende  bittet,  da  die  allgemeine  Frage  genügend  ven- 
tiliert zu  sein  scheine,  noch  um  Mitteilung  der  Erfahrungen,  die  man 
mit  3— 4tagigen  öffentlichen  Examinibus  gemacht  habe,  wie  sie  an  man- 
chen Schulen  noch  jetzt  im  Brauche  seien. 

Professor  Dr.  Klussmann  aus  Rudolstadt  referiert  über  die  frü- 
her  4,  erst  neuerdings  3  Examentage  seines  Gymnasiums :  das  Interesse 
;  des  Publicums  pflege  mit  dem  zweiten  Tage  zu  erlahmen ;  nur  zu  der 
Prüfung  der  Kleinen  fänden  sich  Väter  und  besonders  Mütter  zahlrei- 
cher ein,  zumal  wenn  über  f allgemein  interessante'  Fächer  examiniert 
»erde.  Unverkennbar  würden  die  Eltern  mehr  durch  die  Sorge  um 
ure  Kleinen  als  durch  wirkliches  Interesse  an  den  Lehrgegenständen 
nid  der  Schule  in  das  Schulexamen  gezogen. 

Probst  Müller  aus  Magdeburg:  Am  Kloster  U.  1.  Fr.  habe  man 
J  Prüfungstage ,  2  zu  Michaelis,  2  zu  Ostern.  Er  möchte  sie  um  kei- 
nen Preis  aufgeben  oder  reducieren ,  da  —  besonders  in  der  gröszern 
Madt  —  jede  Gelegenheit  benutzt  werden  müste,  wobei  die  Lehrer 
Eltern  der  Zöglinge  kennen  lernen  und  sich  in  Beziehung  zu  ihnen 
setzen  könnten. 

Subconrector  Dr.  Franke  aus  Gera  bestätigt  das  Gesagte  durch 
seine  Erfahrungen  am  Rütheneum  in  Gera.  Daselbst  hätte  bis  vor  Kur- 
zem neben  den  cPerlustrationen',  die  jedesmal  zu  Ostern  privatim  in 
Jen  Classen  erfolgten,  zu  Michaelis  eine  drei  bis  viertägige  Prüfung 
Jen.    Das  neueste  Regulativ  habe  diese  Examina  auf  1—2  Tage 


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100  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszew 

beschränkt,  da  die  Teilnahme  des  Public  ums  während  der  langhinge* 
zogenen  Prüfungen  eine  ganz  ausz  erordentlich  geringe  gewesen  sei. 

Hierauf  wurde  zur  Besprechung  der  Thesen  2—4  geschritten* 

Direetor  Kl  ix.:  Oeffentliche  Manifestationen  des  Sehullebens  in 
Feierlichkeiten  und  Festen  seien  dringend  nötig,  weil  dadurch,  in  den 
Schälern  das  Bewußtsein  der  Zugehörigkeit  zur  Schule  und  Zusammen- 
gehörigkeit als  Corporation  geweckt  werde.  Ans  diesem  Grunde  finde 
er  z.  B.  gemeinsame  Aufzüge  ganz  passend.  Die  Redeacte,  nm  mit 
ihnen  zu  beginnen ,  müsten  daher  von  allen  Schülern  besucht  und  als 
fBlüthen'  und  Höhepunkte  des  Schullebens  angesehen  werden.  Dies 
werde  am  besten  dadurch  erreicht,  wenn  jeder  Actus  einen  bestimmten 
Mittelpunkt  habe,  um  den  sich  die  Gesänge,  Declamationen  und 
Vorträge  gruppierten.  Er  habe  seit  mehreren  Jahren  die  Schulacts 
seines  Gymnasiums  (Glogau)  in  der  angegebenen  Weise  eingerichtet 
nnd  seitdem  sei  ein  gesteigertes  Interesse  auch  Seiten  des  Public  ums 
zu  bemerken  gewesen. 

Dir.  Hüser  stimmt  mit  dem  Vorredner  darin  überein,  dasz  das  Oe 
fühl  der  Korporativen  Zusammengehörigkeit  im  Schul  ercötus  zu  weckeü 
und  zu  nähren  sei,  ferner  darin,  dasz  es  besonders  durch  das  Heraus- 
treten in  die  Oeffentlichkeit  geweckt  werde.  Dagegen  will  er  von  der 
Censuren-  und  Prämienverteilung  das  Publicum  ausgeschlossen  wissen, 
ja  findet  es  sogar  rathsam,  bei  Besprechung  von  Schülern  oberer  Clas- 
sen  die  der  unteren  zu  entlassen.  Der  Redner  gebt  dann  über  auf  ge 
raeinsame  religiöse  Feiern,  wird  aber  hierbei  vom  Präsidenten  unter- 
brochen,  da  die  Besprechung  dieses  Punktes  von  den  Thesen  abführe. 

Die  Debatte  wurde  hier  abgebrochen,  da  nm  10  Uhr  die  gennuv 
stische  Section  mit  einer  Gedächtnisrede  auf  den  jüngst  heimgegange- 
ueUj  unvergeszlichen  Jacob  Grimm  ihre  Sitzungen  eröffnete,  welch« 
in  corpore  beizuwohnen,  der  gesamten  Philo  logen  Versammlung  zugleich 
als  eine  heilige  Pflicht  erschien  nnd  wahres  Herzensbedürfnis  war.  Da 
ferner  ein  groszer  Teil  der  Versammlung  auch  den  um  11  Uhr  begkj- 
nenden  Vortrag  des  Dr.  Mordtmann  aus  Cönstantinopel  anzuhören  ge- 
wünscht hatte,  so  konnte  die  Fortsetzung  der  ahgekrochnen  Debattr 
erst  gegen  1%  Uhr  erfolgen. 

Probst  Müller  widerlegt  einige  gegen  die  Examina  vorgebrachten 
Einwendungen  und  bezweifelt,  dasz  die  in  den  Thesen  2—4  vorgeschla- 
genen Schulfeierlichkeiten  ein  genügendes  Ersatzmittel  für  dieselben 
seien. 

Der  Präsident  bedeutet  den  Redner,  dasz  die  Debatte  über 
These  1  bereits  geschlossen  sei.  Was  die  Redeacte  betreffe»  so  sei  eT 
für  seine  Person  überhaupt  gegen  Schülerreden,  zumal  wenn  sie  Ersatz 
sein  sollton  für  das,  was  zu  sagen  dem  Lehrer  zukomme. 

Direetor  Kl  ix:  Auch  er  sei  der  Meinung,  dasz  die  Rede  öiftSJ 
Lehrers  der  Gipfelpunkt  eines  jeden  Actus  sein  solle, 

Professor  Mass  mann:  Er  habe  immer  mit  Misf allen  Sehülerreden 
gehört;  ihm  sei  dieses  'PapageiengeschwjiU'  widerlich  gewesen,  be* 
sonders  da  es  auswendig  gelernt  und  mühsam  vorher  eingeübt  werde, 

Professor  Schmalfeld:  Er  habe  an  einem  Gymnasium  40  Jahr* 
Erfahrungen  gesammelt;  diese  stimmten  allerdings  mit  dem  eben  Ge- 
äusserten gar  nicht  überein.  Was  dem  Zuhörer  als  Geschwätz  erscheine, 
sei  für  den  Schüler  etwas  Ernstes  und  Wichtiges ,  es  fühlten  sich  die 
jungen  Redner  durch  das  ihnen  geschenkte  Vertrauen  gehoben  tmd  ge- 
ehrt  und  trügen  ihre  Reden  in  der  Regel  mit  wahrer  Begeisterung  vor 
Das  Publicum  nehme  bei  weitem  mehr  Interesse  an  den  Schülerredeu, 
als  Massmann  glaube  und  behaupte;  für  die  Schüler  aber  sei  dieses 
öffentliche  Auftreten  sehr  wichtig  zur  Weckung  des  Selbstgefühls  nnd 
Selbstvertrauens.  Beim  'Freisprechen'  aber,  welche»  Massmann  wünsche, 
würde  erst  recht  * Geschwätz'  zu  Tage  kommen;  dagegen  sei  eine  gute 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  101 

Vorübnng  für  das  Freisprechen  das  freie  Vortragen  des  Auswendigge- 
lernten. 

Rector  Peter:  Er  könne  nicht  umhin,  den  mit  Misf allen  aufge- 
oommenen  Worten  Massmann's  teilweise  beizupflichten.  Schülerreden 
seien  stets  unreif  und  in  der  Regel  weder  selbst  empfunden  noch  selbst 
gedacht;  darum  seien  sie  auch  pädagogisoh  bedenklich,  weil  sie  gar 
leicht  zu  innerer  Unwahrheit,  Frühreife,  zum  Hinausgehen  über  die 
Sphäre  der  Schule  und  Blasiertheit  führten  und  den  Schüler  an  einen 
auf  das  zuhörende  gemischte  Publicum  berechneten  'Feuilletonistenstil' 
gewohnten.  Viel  unbedenklicher  seien  Declamationen,  obgleich  auch 
durch  sie  die  Eitelkeit  Nahrung  finden  könne. 

Probst  Müller:  Er  habe  bei  45jähriger  Erfahrung  nie  über  Teil- 
nahmlosigkeit  des  Publicums  bei  den  Redeacten  zu  klagen  Ursache 
gehabt  In  Torgau  habe  er  oft  sogar  2  Tage  nach  einander  Redeacte 
gehalten  vor  einer  zahlreichen  Zuhörerschaft.  Der  Lehrer  müsse  na- 
türlich die  Themata  prüfen  und  seine  Sache  sei  es,  unpassende  die 
Censur  nicht  passieren  zu  lassen.  Schülerreden  müsten  natürlich  als 
erste  Versuche  von  Jünglingen  billig  beurteilt  werden;  doch  seien  kei- 
neswegs alle  Schüler  so  unreif  und  gedankenarm,  wie  es  nach  den 
Worten  der  Vorredner  scheinen  müste;  es  fänden  sich  doch  oft  ganz 
frappante  Beispiele  vom  Gegenteil. 

Director  Dr.  Wiehert  ans  Magdeburg:  Dasz  der  Inhalt  der  Schü- 
lerreden fremdes  Eigentum  sei,  das  wisse  auch  das  Publicum,  es  er- 
warte dagegen,  dasz  die  Form  dem  Schüler  selbst  eigen  sei.  Aber 
selbst  das  sei  zu  viel  vom  Schüler  verlangt,  der  aus  Mangel  an  Denk* 
reife,  abgeklärtem  ästhetischen  Geschmack  und  geschultem  formellen 
Sinn  durchschnittlich  das  Zeug  nicht  habe,  eine  formgerechte  Rede  zu 
halten.  Es  pflegten  daher  die  Arbeiten  der  Schüler  genau  durchcorri- 
giert  ra  werden,  so  dasz  vom  eignen  Werk  derselben  oft  nur  sehr  we- 
nig übrig  bleibe.  Diese  Thatsache  zeige,  wie  unnatürlich  Schülerreden 
seien, 

Professor  Kämmel  aus  Zittau:  Es  müsse  diese  Frage  doch  auch 
Tom  historischen  Gesichtspunkt  aus  angesehen  werden.  Im  16.  Jahr- 
hundert  hätten  die  Gymnasien,  besonders  die  sächsischen  und  schlesi- 
schen,  eine  Unzahl  von  Redeacten  gehabt,  was  darum  nicht  Wunder 
nehmen  dürfe,  weil  der  gesamte  Unterricht  der  damaligen  Gymnasieu 
ein  vorhersehend  formeller  gewesen  und  auf  Poetik  und  Rhetorik  hin- 
ausgelaufen sei.  Bei  diesen  Redeacten  sei  in  der  Regel  ein  bestimm- 
tes Thema  z.  B.  de  Aeneae  virtutibus,  de  pietate,  de  fide  usw.  behan- 
delt worden,  so  dasz  den  verschiedenen  Rednern  bestimmte  partes 
desselben  zugeteilt  waren.  Jetzt  sei  es  anders;  der  Unterricht  habe 
tos  Materiale  in  den  Vordergrund  gestellt,  das  Publicum  seine  Harm- 
losigkeit verloren  und  gröszere  Ansprüche  zu  machen  sich  gewöhnt. 
Das  Interesse  des  Publicums  an  den  Schul acten  habe  sich  im  Allge- 
meinen sehr  verringert  und  laufe  zumeist  auf  das  persönliche  Interesse 
*a  den  auftretenden  Schülern  hinaus;  doch  es  sei  nur  an  Tagen  be- 
sonderer Erregung  der  Gemüter  ein  reges  und  lebendiges.  Und  doch 
Jmw  er  sich  für  die  Schülerreden  aussprechen,  indem  er  besonderes 
Gewicht  darauf  lege,  dasz  durch  diese  Einrichtung  der  Einzelne  ge- 
fügt werde,  mit  seiner  Persönlichkeit  für  die  Ehre  der  Anstalt  einzu- 
teilen. Nötig  sei  aber  grosze  Vorsicht  und  Besonnenheit  Seiten  des 
korrigierenden  Lehrers;  besitze  dieser  den  richtigen  Blick  und  feinen 
Takt,  so  sei  es  wol  möglich,  bei  mancher  kleinen  Nachhülfe  der  cor- 
ngierenden  Hand  dennoch  im  groszen  Ganzen  das  Individuelle  zu  scho- 
nen und  gewähren  zu  lassen. 

Der  Vorsitzende  bemerkt,  den  Vorredner  ergänzend,  dasz  auch 
anderwärts  im  16.  und  17.  Jahrhundert  die  Schulacte  den  geschilderten 
^arakter  hatten,  dasz  aber  diese  Schülerreden  von  den  Rectoren  nicht 
oIqbz  corrigiert,  sondern  geradezu  gemacht  zu  werden  pflegten,  indem 


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102  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen* 

diese  Acte    an    manchen  Orten    eine   ergiebige   Erwerbsquelle  für  dir 
rectores  waren. 

Probst  Müller  meint,  dasz  es  vollständig  genüge,  wenn  der  Leb 
rer  die  Reden  sich  vorlesen  lasse  und  dabei  die  gröbsten  Unrichtip- 
keiten  beseitige.  In  keinem  Falle  dürfe  man  dureh  schonungslose  und 
peinliche  Kritik  dem  Schüler  die  Lust  an  der  Sache  verkümmern.  Wi 
durch  wiederholtes  Öffentliches  Auftreten  das  Selbstvertrauen  und  der 
Mut  wachst^  habe  er  in  seiner  Praxis  an  vielen  Beispielen  beobachtet. 
Schon  deshalb  dürfe  man  diesen  alten  Brauch  nicht  abschaffen, 

Schulrath  Heiland  aus  Magdeburg:  Unsere  Redeacte  seien  die 
letzten  Ausläufer  der  alten,  erst  lateinischen >  dann  deutschen  Schid- 
comödien ,  hervorgegangen  wie  diese  aus  dem  Bedürfnis  5  die  Schuk 
au  gewissen  Tagen  an  die  Oeffentlichkeit  heraustreten  zu  lassen  tm<l 
die  Schüler  fauf  eine  gelinde  Weise'  in  dieselbe  einzuführen.  W» 
schon  Kammel  bemerkt  habe,  sei  die  von  Klix  angestrebte  Embeitlidi- 
keit  der  Redeacte  in  früherer  Zeit  vorhanden  gewesen,  indem  ein 
Thema  in  verschiedenen  Reden  durchgesprochen  worden  sei.  AllHu 
eine  solche  Einheitlichkeit  führe  zu  endloser  Langweiligkeit  und  *6 
daher,  so  historisch  sie  sei,  nicht  zurückzuwünschen,  Er  lege  groaz&a 
Gewicht  auf  die  Redeacte  als  auf  wahre  f8prachfeste'  der  SchuL, 
Leider  hätten  die  letzten  Decennien  durch  Weglassung  der  gri och i seht 
'und  hebräischen  Reden  und  Gedichte  die  Wirkung  der  Acte  nach  di 
ser  Seite  hin  abgeschwächt.  Das  Ueberwiegen  der  deutschen  Ked> 
in  unseren  Schulacten  sei  zu  beklagen;  es  führe  nur  zu  leicht  zu  dr 
von  Peter  angedeuteten  Gefahren.  Auch  das  Declamieren  kleinerer 
Schüler  halte  er  für  bedenklich,  da  durch  dieses  die  Eitelkeit  leicr; 
Nahrung  erhalte  und  in  einem  Lebensalter  Zuversicht  und  Dreistigk-i 
gefordert  werde,  in  welchem  die  natürliche  SehüchtErnheit  eben  nithi 
überwunden,  sondern  vielmehr  wie  ein  Heiligtum  bewahrt  werden  solle 
In  jedem  Falle  sei  das  von  Massmann  gewünschte  'Freisprechen'  abso- 
lut unzulässig.  Die  lateinischen  und  griechische  ü  Verträge  böten  dt-u 
Vorteil  vor  deutschen  Reden,  dasz  ihre  Wirkuug-  nicht  auf  Damen  und 
sehwaehe  Eltern  berechnet  und  durch  sie  somit  die  Eitelkeit  am  we- 
nigsten genährt  werde.  Der  Redeactus  sei  allerdings*  eine  £mo€iEic, 
wie  das  Examen,  ja  noch  mehr  als  dieses;  aber  darin  liege  kein  Kacb- 
teil t  wenn  er  nicht  eine  unwahre  und  trügerische  ^Schaustellung1  sei 
Auf  das  Moment,  dasz  durch  die  Redeacte  das  Bewußtsein  der  eorpo- 
rativen  Zusammengehörigkeit  bei  den  Schülern  geredet,  werde,  legt  • 
wenig  Gewicht,  um  so  weniger,  da  an  manchen  Orten  aus  räumlicütn 
Rücksichten  ein  groszer  Teil  des  Cötus  gar  nicht  einmal  zn  den  öfieiit- 
liehen  Redeacten  zugelassen  werde. 

Eector  Peter:  Er  habe  sich  keineswegs  gegen  die  fls&acUj 
überhaupt  erklären,  sondern  nur  auf  gewisse  Gefahren  hinweisen  wpl4 
len»  In  jetziger  Zeit  dränge  sich  schon  beim  Schüler  zu  sehr  das  In- 
dividuelle1 hervor.  Man  müsse  diesen  Punkt  recht  beachten,  wollt 
man  den  von  ihm  aufgeführten  Gefahren  und  Uebelständen  begegnen. 

Direetor  Hüser  vertheidigt  die  deutschen  Reden,  da  durch  sie,  so- 
wie durch  Gesänge  und  Declamationen,  das  Publicum  am  meisten  an- 
gezogen werde.  In  den  Declamationen  der  Kleinen  finde  er  nichts  Be- 
denkliches. *• 

Dr.  Schultz  aus  Berlin  macht  (nachdem  er  eine  Notiz  über  eine 
Vor  wenigen  Jahren  in  Arnstadt  von  ihm  gesehene  Schuicomödie  vor- 
geschickt, die  wir  leider  genau  wiederzugeben  nicht  im  Stande  sind) 
den  Vorschlag,  da,  wo  räumliche  Beschränkung  es  unmöglich  mache, 
dem  ganzen  Cötus  die  Teilnahme  am  Redeactus  zu  gestatten,  die  Schü- 
ler der  Unter-  und  Mittelciassen  zur  Generalprobe  als  Zuhörer  zuzu- 
lassen. Wn 8  Direetor  Klix  unter  der  f Einheit  und  dem  festen  Mittel- 
punkt1 der  Redeacte  verstehe,  sei  ihm  nicht  recht  klar  und  er  bitte 
um  Auskunft  darüber.    Sicher  meine  er  doch  nicht  eine  solche  Einheit, 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  103 

wie  sie  ein  am  Grauen  Kloster  alljährlich  stattfindender  Rede  actus  habe, 
bei  dem  zum  Gedächtnis  eines  Wolthäters  der  Anstalt  in  mehreren  Be- 
den die  Stadt  Venedig,  italienische  Kunst  und  Litteratur  gefeiert  wird. 
Um  die  allgemeine  Teilnahme  an  Zarncke's  Rede  zum  Gedächtnis 
J.  Grimm's  möglich  zu  machen,  wurde  hier  die  Discussion  abgebrochen. 
Schlusz  10  Uhr. 

Zweite  Sitzung  den  1.  October.    Anfang  10*4  Uhr. 

Der  Präsident  recapituliert  die  Hauptpunkte  der  gestrigen  De- 
batte: man  habe  von  allen  Seiten  die  Wichtigkeit  der  Redeacte  aner- 
kannt, sowol  um  des  durch  sie  vermittelten  Verkehrs  mit  dem  Publi- 
cum willen  als  auch  wegen  ihrer  formalen  Seite  als  'Sprachfeste'  der 
Schale;  dagegen  habe  man  sich  noch  nicht  geeinigt  über  die  Fragen, 
ob  vorhersehend  deutsche  Reden  oder  Reden  in  fremden  Sprachen  zu 
halten  und  wie  die  von  Klix  gewünschte  'Einheit'  der  Redeacte  zu  ver- 
stehen und  zu  erreichen  sei. 

Director  Kl  ix:  Er  meine  natürlich  mit  der  von  ihm  gewünschten 
'Einheitlichkeit*  nicht  die  mechanische  der  früheren  Zeiten,  deren  Pra- 
xis Prof.  Kämmei  sachkundig  entwickelt  habe,  sondern  eine  idealere, 
dasz  nämlich  durch  einen  leitenden  Gesichtspunkt  die  einzelnen  Vor- 
träge in  Zusammenbang  unter  einander  gesetzt  würden.  So  seien  die 
Reformations-  und  Melanchthonsfeiern  in  Wittenberg  wahre  Musteracte. 
Er  gehe  aber  noch  weiter.  Ganze  geschichtliche  Perioden  könnten  in 
einzelnen  Redeacten  durch  Reden  und  Declamationen  veranschaulicht 
werden.  Er  habe  an  seiner  Schule  eine  derartige  Einheitlichkeit  der 
Udeacte  immer  angestrebt  und,  wie  er  glaube,  mit  gutem  Erfolg.  — 
Soch bitte  er;  über  den  Passus  der  These  sich  zu  äuszern:  dasz  eine 
häufige  Wiederkehr  von  Schulfeierlichkeiten,  besonders  solcher,  die 
nicht  im  Leben  der  Schule  begründet  seien,  nicht  wünschenswerth  er- 
scheine, dasz  besonders  die  musikalisch-theatralischen  'Abendunterhal- 
tangen'  gefährlich  seien,  da  durch  sie  die  Schüler  zu  halben  Schau- 
spielern würden. 

Auf  die  hierauf  vom  Präsidenten  erhobene  Anfrage,,  was  man 
mit  den  erwähnten  'Abendunterhaltungen',  wo  sie  stattfänden,  für  Er- 
fahrungen gemacht  habe,  berichtet  Prof.  Dr.  Erler  aus  Züllichau, 
dasz  daselbst  aus  alter  Zeit  die  Einrichtung  von  12jährlichen  Concerten 
mit  je  4— 5  musikalischen  Piecen,  Reden  und  Declamationen  bestünde; 
ohne  die  Frage  im  Princip  besprechen  zu  wollen,  könne  er  doch  das 
versichern,  dasz  die  bewusten  Abendunterhaltungen  erstens  vollkommen 
unschuldig  und  harmlos  seien,  zweitens  aber  auch  entschieden  nützlich 
zar  musikalischen  Ausbildung  und  Beseitigung  falscher  Scheu  vor  dem 
Publicum.  Bei  diesen  Aufführungen  seien  übrigens  alle  Schüler  zugegen. 

Der  Präsident  ist  der  Meinung,  dasz  der  Thesensteller  an  den 
Züllichauer  Abendunterhaltungen,  die  ja  nur  eine  Art  gröszerer  Fami- 
lienfeste seien,  woi  keinen  Anstosz  nehmen  könne  und  werde. 

Director  Kl  ix  bestätigt  dies;  Internate  und  Alumnate  habe  er  über- 
haupt bei  diesem  Passus  seiner  Thesen  nicht  im  Auge  gehabt. 

Director  Dietsch  weist  nach,  wie  derartige  Abendunterhaltungen, 
die  bei  geschlossenen  Anstalten  völlig  unbedenklich,  ja  sogar  sehr  nütz- 
lich und  zweckmäszig  sein  könnten,  doch  ihre  groszen  Bedenken  hät- 
ten an  freien  Gymnasien,  besonders  wegen  der  an  dieselben  nach  Schü- 
lersitte leicht  sich  schlieszenden  Bacchanalien. 

Der  Vorsitzende  schlägt  vor,  nun  zur  Besprechung  von  These  4 
'über  Schulfeste'  überzugehen. 

Director  Kl  ix:  Er  habe  auch  in  Glogau  wie  anderwärts,  gewisse 
historisch  überlieferte  Schulfeste  vorgefunden,  sein  Bestreben  sei  nun 
dahin  gegangen,  ihnen  Inhalt  zu  geben.  Zu  diesem  Ende  habe  er 
z-  6.  die  Schulspaziergänge  dadurch  erstens  belebt,  dasz  er  Turnspiele 


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104  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meisen* 

nach  dem  Muster  der  olympischen  eingeführt  und  an  die  Tüchtigsten 
Medaillen  vorteilt,  ferner  dadurch,  dasz  er  sie  auf  patriotische  Ge 
denktage  (z.  E.  den  18.  Juni)  gelegt  habe.  Er  lüge  besonderes  Ge- 
wicht  auf  den  letBteren  Punkt,  da  diese  Feste  so  cio  kräftiger  Hebel 
zur  Weckung  des  Patriotismus  und  Gemeinsinnes  werden  konnten. 

Probst  Müller:  Auch  das  Kloster  iu  Magdeburg  habe  ein  Somm-r 
fest  im  Walde  mit  Wettspielen  und  Siegespretscn»  Solche  Feste  bilde* 
ten  ein  Band  zwischen  Lehrern  uud  Schülern,  nur  müsten  die  Lehrer 
sich  nicht  blosz  passiv  durch  ihre  Gegenwart,  sondern  wo  möglieh  activ 
durch  Leitung  und  Belebung  der  Spiele  usw.  an  denselben  beteiligen, 

Director  Unser  findet  das  Mitspielen  des  Lehrers  bedenklich. 

Director  Dietseh  berichtet,  dasz  man  in  Plauen  es  vorgezogen 
habe,  classen weise  mit  den  Schülern  Spaziergänge  auf  halbe  oder  g&nz* 
Tage  zu  machen.  Dadurch  würden  die  Schüler  noch  mehr  genötigt, 
an  den  Lehrer  vertraulich  sich  anzusehliüszen;  ein  gemeinsames  Fest 
sei  bei  einer  stark  frequentierten  Schule  ohne  grosze  Geldmittel  und 
besonders  günstige  Lokalitäten  schwer  zu  veranstalten  und  lasse  leicht 
Alle  unbefriedigt. 

Professor  Dinter  aus  Grimma  wünscht  gröszere  Ausdehnung  die- 
Ber  Schul  feste  und  widerlegt  das  Bedenken  Hüscr'e. 

Der  Vor  sitzende;  Die  These  beziehe  sich  nicht  auf  Classenspa- 
ziergänge,  sondern  auf  Schulfeste,  von  denen  die  Debatte  eben  abge* 
aeh weift  sei.  Für  öchul  feste  wisse  er  nichts  mehr  zu  empfehlen  als 
Turnspicle,  die  tüchtig  einzuüben  Sache  des  Turnlehrers  sei,  nur  ziehe 
er  als  Prämien  den  Medaillen  die  clasaischen  ""Kränze*  vor. 

Professor  Langbein  aus  Stettin ;  An  der  Realschule  zu  Stettin 
fände  neben  Clasaenspaziergiiogen  ein  Sommerfest  statt;  zu  diesem 
würden  aber  nur  solche  Schüler  geladen,  die  sich  durch  Arbeiten  und 
kleine  freie  Leistungen  um  die  Schule  verdient  gemacht  oder  einzelneu 
Lehrer  sich  verpflichtet  hatten. 

Der  Vorsitzende  bemerkt,  dasz  auch  ein  derartiges  Fest  nicht 
unter  die  Kategorie  der  allgemeinen  Schulfeste  falle,  und  weist  hierauf 
auf  die  Bedeutung  des  f  Turnliedes*  für  Schul  feate  hin.  Das  einfache 
Lied  werde  au  wenig  geübt,  da  der  Geiiangunterricht  in  der  Regel  mit 
derartigen  einfachen  Compositiouen  sich  zu  befassen  verschmähe. 

Rector  Klee  aus  Dresden  teilt  diesen  Wunsch;  darum  möge  man 
den  vierstimmigen  Gesang  recht  cultivioren,  da  auf  Gymnasien  einmal, 
besonders  hei  dem  immer  fühlbarer  werdenden  Mangel  au  guten  Tenor- 
stimmen,  ein  richtiger  rMännergeftang'  nicht  erzielt  werden  könne.  An 
der  Kreuzsehulo  jgu  Dresden  werde  sehr  Tüchtiges  im  Gesang  geleistet, 
andererseits  freilich  auch  die  musikalischen  Ucbungen  übertrieben,  in 
dem  ein  Chorist  durchschnittlich  108  Stunden  im  Jahr  zu  versäumen 
genötigt  sei. 

Der  Präsident  betont  namentlich  den  Punkt,  dasz  der  Cötus  eine 
Anzahl  einfacher  Lieder,  besonders  patriotischer,  mit  Text  und  Melodie 
stets  präsent  haben  müsse;  eine  kimstmaszige  Ausführung  dieser  Ge- 
sänge sei  ja  gar  nicht  vonnoten. 

Director  Weutrup  aus  Salzwedeh  Es  sei  Sache  des  Lehrers  der 
deutschen  Sprache  dafür  zu  sorgen,  dasz  die  Texte  der  wichtigsten 
Volks-  und  Vaterlandslieder  den  Schülern  bekannt  seien-  dieser  habe 
sich  zu  diesem  Zwecke  mit  dem  Gesanglehrer  in  Einvernehmen  zu 
setzen. 

Der  Vorsitzende  schlägt  vor,  die  Discussion  über  diese  Fragen  zu 
echlieszen  und  zum  Schluszsatz  von  These  4  überzugehen,  in  dem  spe- 
ciell  der  Turnfeste  Erwähnung  gethan  sei.  Es  erfolgt  kein  Wider- 
spruch, 

DirectoT  Kli  je  ;  Aus  gutem  Grunde  habe  er  die  'Turnfeste'  aus- 
drücklich mit  aufgeführt,  da  das  Turnen  noch  immer  nicht  genügend 
cultiviert  werde*    Er  habe  in  Glogau  seit  2  Jahren  Turnfeste  gehalten, 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  105 

indem  er  das  Sommertarnen  mit  einem  Feste  geschlossen  habe.  Dasz 
der  Turnplatz  der  Ort  für  derartige  Feste  sei,  erscheine  ihm  selbstver- 
ständlich. 

Der  Vorsitzende  bemerkt,  dasz  auch  er  —  früher  seltener,  in 
den  letzten  Jahren  ziemlich  regelmäszig  —  ein  ( Schauturnen'  (leider 
ohne  Gesang,  da  passende  Lieder  nicht  eingeübt  worden  wären)  abge- 
halten und  die  Beobachtung  gemacht  habe,  dasz  nicht  nur  die  Schüler 
dabei  sich  sehr  eifrig,  sondern  auch  das  Publicum  sehr  teilnehmend 
gezeigt  habe. 

Professor  Lechner  aus  Erlangen  (vom  Vorsitzenden  zum  Sprechen 
aufgefordert)  verwirft  zuvörderst  den  Ausdruck  'Schauturnen'.  Er  fasse 
die  Turnfeste  einfach  als  eine  Prüfung  auf  mit  dem  Nebenzweck,  das 
Publicum  über  das  Wesen,  die  Aufgabe  und  Methode  des  Turnens  auf- 
zuklären. Alle  Aeuszerlichkeiten  habe  er  immer  möglichst  vermieden, 
wenigstens  beschränkt,  dagegen  sei  er  auf  Abwechselung  in  den  Uebun- 
gen  bedacht  gewesen.  Eine  bestimmte  patriotische  Tendenz  habe  er 
weder  in  seinen  Reden  noch  in  dem  Arrangement  des  ganzen  Festes 
verfolgt,  durch  welches  nach  seiner  Ansicht  nichts  mehr  und  nichts 
weniger  erreicht  werden  solle,  als  dasz  dem  Publicum  im  heiteren 
Spiele  ein  Bild  f strenger  Zucht»  vorgeführt  werde.  Hierauf  verbreitet 
sich  der  Redner  in  beredter  Sprache  über  die  von  ihm  schon  auf  einer 
früheren  Philologenversammlung  warm  vertheidigte  Spieszsche  Methode 
nnd  gibt  specielle  Rathschläge,  wie  in  die  vorzuführenden  Uebungen 
zugleich  Abwechselung  und  Methode  zu  bringen  sei. 

Rector  Klee  ist  ebenfalls  gegen  das  'Schauturnen'  mit  Prämien. 
Bas  Tarnfest  habe  einfach  als  Prüfung  zu  gelten,  nach  deren  Erfolg 
*ie  in  anderen  Unterrichtsfächern  die  Censuren  festgestellt  würden. 
Beiläufig  gibt  er  die  Notiz,  dasz  neuerdings  auch  auf  der  Kreuzschule 
das  Turnen,  und  zwar  für  Prima  bis  Tertia  facultativ,  für  die  unteren 
Clmea  obligatorisch ,  eingeführt  worden  sei  und  er  die  gute  Einwir- 
kung desselben  an  der  Haltung  der  Schüler  auch  in  den  Lehrstunden 
wahrgenommen  habe,  eine  Erfahrung,  die  Probst  Müller  durch  die  an 
seiner  Schule  gemachten  Beobachtungen  bestätigt. 

Professor  Lechner:  Das  Spieszsche  System  empfehle  sich  beson- 
ders auch  für  Turnfeste.  Indem  es  nicht  blosz  einzelne  eitle  Virtuosen, 
sondern  Alle  in  gemeinsamer  Uebung  vorführe,  mache  es  das  Prüfungs- 
turnen  zu  einem  wahren  Schulfeste,  was  es  ja  doch  auch  im  Sinne  des 
Thesenstellers  sein  solle. 

Da  nach  einigen  an  diese  letzten  Worte  sich  reihenden  kurzen 
Bemerkungen  von  Wagler,  Klix,  Klee  Niemand  weiter  das  Wort  be- 
gehrte, so  wurde  nach  einem  kurzen  Schluszwort  des  Thesenstellers, 
in  dem  derselbe  für  die  seinen  Sätzen  geschenkte  Teilnahme  und  die 
durch  die  Debatte  ihm  zuteil  gewordene  Belehrung  dankte,  nach  dem 
Vorschlag  des  Vorsitzenden  übergegangen  zu  den  von  Professor  Dr. 
Fö8z  aus  Berlin  angekündigten:  Vorschlägen  zu  einer  engeren 
Verbindung  des  geschichtlichen  und  geographischen  Un- 
terrichts.' 

Professor  Fosz:  Von  vielen  Seiten  werde,  besonders  in  Preuszen, 
aber  die  geringe  Berücksichtigung  des  historischen,  besonders  aber  des 
graphischen  Unterrichts  im  Lehrplanj  der  Gymnasien  geklagt.  Die 
j0  den  Examinibus  zu  Tage  tretenden  Resultate  des  Unterrichts  in 
beiden  Fächern  seien  allerdings  im  Allgemeinen  sehr  unbefriedigende. 
Dieser  Mangel  sei  auch  in  Preuszen  von  den  vorgesetzten  Behörden 
^erkannt  und  vom  Redner  in  langjähriger  und  vielseitiger  Erfahrung, 
besonders  bei  Examinibus,  schmerzlich  empfunden  worden.  Der  Grund 
dieser  Erscheinung  liege  in  verschiedenen  Umständen,  z.  B.  darin,  dasz 
^Universitäten  Geographie  in  der  Regel  gar  nicht  (zur  Zeit  nur 
wf  einer  Universität)  oder  wenigstens  nicht  für  zukünftige  Schulmän- 
ner vorgetragen  werde,  besonders  aber  an  der  mangelnden  Verbindung 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  18Ö4.   Hft.  2.  8 

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106  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meisten. 

von  Geographie  und  Geschichte  im  Unterrichte.  Gewöhnlich  werde 
auf  den  Gelehrtenschulen  die  ganze  Geographie  dreimal,  die  Geschichte 
zweimal  durchgenommen,  aber  beide  Unterrichtsgegenstände,  zumal 
wenn  sie  verschiedenen  Lehrern  anvertraut  wären,  liefen  meist  voll- 
ständig  zusammenhanglos  neben  einander  her.  Der  Geschichtsunter- 
rieht  nähme  nur  gelegentlich  auf  den  Boden  und  die  speciellen  Lokal- 
verhältnjsße  Rückzieht,  unter  denen  und  nach  denen  die  geschichtlichen 
Ereignisse  sich  entwickelt  haben,  der  Lehrer  der  Geographie  begnüge 
sich  meist  damit,  die  Elemente  der  physischen  Geographie  und  dann  in 
gröözerer  Ausführlichkeit  die  politische  Geographie  zu  behandeln.  Auf 
diesem  Wege  komme  der  Schüler  zur  Klarheit  und  Bestimmtheit  weder 
des  geschichtlichen  noch  des  geographischen  Wissens.  Der  Redner 
machte  hierauf  gewisse  Vorschläge,  beide  Unterrichtsgegenstände  enger 
in  Verbindung-  zu  bringen,  oder  vielmehr  er  brachte  in  einer  reichen 
Auswahl  von  Heispielen  die  Methode  zur  Anschauung,  nach  der  er  bei 
seinem  Unterricht  in  beiden  Fächern  zu  verfahren  pflege.  Wir  müssen 
es  uns  versagen t  die  Einzelheiten  dieses  anregenden  Vortrags  wieder- 
k uneben,  einerseits  weil  nicht  einmal  die  Feder  des  Stenographen  dem 
Eedeflnsz  des  Sprechers  zu  folgen  vermochte,  andererseits  weil  die  Be- 
deutung und  der  Heiz  dieser  methodischen  Winke  in  einem  dürren  Aus- 
zug völlig  schwinden  würde. 

Der  Vorsitzende  ermahnt,  bei  der  Debatte  sich  auf  die  rein 
didaktische  Frage  au  beschränken. 

Professor  Oertol  aus  Meiszen  erklärt,  dasz  er  die  trübe  Anschauung 
des  Redners  rüeksichtlich  der  in  Geographie  und  Geschichte  auf  den 
Gymnasien  durchschnittlich  erreichten  Resultate  nach  seiner  langjähri- 
gen Erfahrung  nicht  zu  teilen  vermöge;  vielleicht  habe  der  Redner 
seine  Anforderungen  au  hoch  gespannt.  Auch  er  sei  der  Meinung,  dasz 
solide  und  bleibende  Kenntnisse  in  beiden  Fächern  nur  durch  einen 
solchen  Parallel  ismus  erzielt  werden  könnten:  es  sei  dies  allgemeiner 
anerkannt  und  werde  auch  praktisch  allgemeiner  ausgeübt,  als  Pro- 
fessor Fosz  meine.  Auch  er  habe  immer  darauf  gehalten,  dasz  die 
Schüler  z.  B.  durch  die  ganze  Schule  eines  und  desselben  Atlanten 
sich  bedienten ,  und  sei  immer  darauf  bedacht  gewesen,  das  Wandel- 
bare (Geschichtliche)  mit  dem  Bleibenden  (physische  Geographie)  zu 
verbinden  und  auf  dieses  zu  begründen. 

Director  Professor  Kämmel  aus  Zittau:  Er  stimme  in  der  Frage, 
ob  in  den  bc wüsten  Fächern  im  Allgemeinen  auf  unseren  Schulen  Ge- 
nügendes geleistet  werde,  mehr  mit  dem  Herrn  Professor  Fosz  als  mit 
dem  lotsten  Redner  überein.  Auch  er  habe  die  Erfahrung  gemacht, 
dasz  die  Schüler  der  oberen  Gymnasialclassen ,  besonders  in  der  Geo- 
graphie, sehr  unwissend  zu  sein  pflegen.  Er  leite  diese  Erscheinung 
von  drei  Ue beiständen  her':  1)  württen  beide  Fächer  noch  viel  zu  sehr 
als  Gedächtnissachen  behandelt,  2)  sei  meist  der  Unterricht  in  densel- 
ben verschiedenen  Lehrern  anvertraut  und  dadurch  ein  methodisches 
Ineinandergreifen  beider  unmöglich  gemacht,  3)  könne  die  Geographie 
in  den  Öberclassen  nur  en  passant  von  dem  Lehrer  der  Geschichte  be- 
rücksichtigt werden,  da  keine  besonderen  Lectionen  dafür  angesetzt 
seien,  und  dabei  lasse  sich  nichts  Gründliches  erreichen.  Solle  daher 
nicht  in  futuram  oblivionem  gelernt  werden,  so  müsse  man  allen  Ern- 
stes darauf  bedacht  sein,  den  historischen  Unterricht  auf  das  in  der 
Geographie  Gelernte  zu  begründen,  den  reichen  Stoff  recht  gewissen- 
haft zu  verteilen  und,  wenn  irgend  möglich,  beide  Fächer  in  die  Hand 
eines  Lehrers  au  logen. 

Director  Kl  ix  findet  die  Schilderung  von  Fosz  über  den  in  Preu- 
szen  vorhandenen  rNotstand'  in  Geschichte  und  Geographie  stark  über- 
trieben. Professor  Fosz  habe  auf  seine  (hauptsächlich  beim  Fähndrichs- 
examen  gemachten)  Erfahrungen  allgemeine  Behauptungen  begründet, 
die   für  das   ganze  Königreich  Preuszen  unmöglich   zugegeben  werden 

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5- 


Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  107 

könnten.  Zu  jenen  Examinibus  pflegten  bekanntlich  die  Gymnasien 
nicht  ihre  besten  Schüler  zu  schicken.  Uebrigens  hänge  gerade  bei 
diesen  Fächern  mehr  als  bei  anderen  von  dem  Geschick  oder  Unge- 
schick der  Lehrer  ab ,  so  dasz  die  Erfahrungen  an  den  verschiedenen 
Schulen  gerade  in  diesem  Punkte  sehr  abweichen  dürften. 

Professor  Schäfer  aus  Greifswald:  Der  geographische  und  ge- 
schichtliche Unterricht  habe  sich  in  den  letzten  10  Jahren  sehr  ge- 
hoben; dies  müsse  man  zugestehen.  Dennoch  spüre  man  auf  den  Uni- 
versitäten noch  wenig  den  Einflusz  dieser  Veränderung  zum  Besseren; 
leider  kämen  viele  Studenten  sogar  ohne  Atlanten  zur  Universität. 
Wichtig  sei  daher,  dasz  man  dafür  sorge,  dasz  die  Kenntnisse  in  den 
oberen  Classen,  wenn  nicht  vermehrt,  wenigstens  conserviert  würden; 
die  Schule  allein  könne  dies  nicht  leisten,  daher  sei  der  Schüler  recht 
zur  privaten  Leetüre  guter  geographischer  Werke  anzuleiten.  Die  von 
Professor  Fosz  angeführte  Methode  billigt  der  Redner  besonders  für 
Bepetitionen ;  beim  eigentlichen  Unterricht  könne  sie  leicht  zu  Haschen 
nach  methodischen  Kunststückchen,  zu  einem  aphoristischen,  springen- 
den Vortrag  führen.  Der  Redner  schlieszt  mit  Worten  des  Danks  und 
der  Anerkennung  für  den  als  Mitglied  der  Philologenversammlung  an- 
wesenden Professor  Kiepert,  der,  praktisches  Geschick  mit  Wissen- 
schaftlichkeit verbindend,  ,den  Schulen  viel4  mehr  genützt  habe  als 
Spruner  durch  seine  an  der  rechten  plastischen  Anschaulichkeit  erman- 
gelnden Kartenwerke. 

Professor  Lazarus  aus  Bern:  Obgleich  nicht  Schulmann,  erlaube 
er  sich  doch  das  Wort  zu  ergreifen,  , da  die  von  Professor  Fosz  ange- 
regte Frage  eine  tief  eingreif  ende ,  nicht  blosz  für  die  Schule,  sondern 
auch  für  die  Psychologie  und  psychologische  Pädagogik  sei,  die  Frage, 
iame  weit  die  Schule  dem  Zuge  der  Zeit,  durch  Teilung  der  Gebiete 
und  beziehentlich  der  Arbeit  einzelne  Disciplinen  selbständig  heraus- 
zuarbeiten, nachgehen  dürfe.  Nach  seiner  Ansicht  habe  die  Pädagogik 
beiden  Principien,  dem  wissenschaftlichen  und  psychologischen  Rech- 
nung zu  tragen  und  die  einzelnen  Gebiete  bald  in  ihrer  Selbständigkeit 
bald  in  ihrem  Zusammenhang  mit  allen  übrigen  Gebieten  des  Wissens 
zu  behandeln.  Professor  Fosz  habe  sehr  anregende  und  dankenswerthe 
Winke,  wie  dies  didaktisch  zu  erreichen  sei,  in  Betreff  der  geogra- 
phischen Wissenschaft  gegeben.  Dasz  er  nichts  wesentlich  Neues  vor- 
getragen habe,  beweise  die  Uebereinstimmung  der  folgenden  Redner  ' 
mit  ihm,  die  sämtlich  die  Anschaulichkeit  des  geographischen  Unter- 
richts betont  und  den  gründlichen  Nachweis,  wie  die  historischen  That- 
sachen  mit  dem  Boden,  auf  dem  sie  spielten,  zusammenhingen  und 
von  seiner  eigentümlichen  Gestaltung  ab  hingen,  im  Unterricht  gefor- 
dert hätten.  Schon  vor  20  Jahren  sei  ihm,  als  Schüler  der  oberen 
Classen  des  Gymnasiums  zu  Braunschweig,  von  einem  tüchtigen  Lehrer 
in  der  angegebenen  Weise  die  Geographie  vorgeführt  worden.  Die 
Pädagogik  habe  aber  durch  Aufstellung  einer  festen  Methode  dafür  zu 
sorgen,  dasz  in  dieser  Wissenschaft  nicht  so  viel  wie  bisher  der  Per- 
sönlichkeit der  einzelnen  Lehrer  überlassen  bleibe  und  bei  den  Schü- 
lern der  mittlere  Durchschnitt  zwischen  genialer  Einsicht  und  Borniert- 
heit erreicht  werde,  den  zu  erreichen  Aufgabe  einer  nach  Grundsätzen 
verfahrenden  Pädagogik  sei.  Wodurch  sonst  sei  die  von  Jahrzehnd  zu 
Jahrzehnd  bemerkbare  Hebung  des  geographischen  Unterrichts  herbei- 
geführt worden  als  durch  die  von  den  Persönlichkeiten  der  Lehrer  un- 
abhängige verbesserte  Methode?  Er  wolle  für  eine  solche  Methode 
zweierlei  Grundsätze  aufstellen :  1)  mnemotechnische  Kunstgriffe  und 
zufällige  Ideencombinationen  producierten  nur  Kenntnisse,  nicht 
wirkliche  Erkenntnisse  d.  i.  völlige  Durchdringung  des  Lernstoffes; 
2)  indem  man  den  geographischen  Unterricht  zur  Basis  des  geschicht- 
lichen mache,  dürfe  man  den  mächtigen  Einflusz  des  die  Natur  sich 
dienstbar  machenden  Menschengeistes  neben  dem  Einflusz  der  geogra- 

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108  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw,  in  Meisen* 

pbischen  und  physikalischen  Verhältnisse  nicht  unterschätzen,  das  Ob- 
jeetive  nicht  zu  umseitig  verfolgen,  vielmehr  müsse  man  dem  Materia- 
iis tischen  das  Psychologische  und  zwar  als  das  Höchste  und  Wichtigste 
parallel  gehen  lassen.  Nach  diesen  Grundsätzen  seien  auch  die  von 
Fq$%  gemachten  Vorschläge  zu  beurteilen,  die  in  anregender  Weise 
den  Gegensatz  von  todtem  und  lebendigem,  ferner  von  unmittelbarem 
und  zusammenhängendem  Wissen  veranschaulicht  hätten.  Die  von  Käm- 
me! gemachte  Scheidung  von  Gedächtnis  und  Anschauung  verwirft  der 
Üedner,  da  die  Anschauung  von  jenem  sich  nicht  loslösen  lasse,  und 
führt  dafür  den  Gegensatz  von  verbalem  und  anschaulichem  Ge- 
dächtnis ein. 

Director  Die t seh  erinnert  daran,  dasz  er  schon  zu  Braunschweig 
Thesen  über  den  geographischen  Unterricht  gestellt  habe,  und  erkennt 
an,  dasz  in  der  Zwischenzeit  viele  Bausteine  zum  Ausbau  dieser  Dis- 
üiplin  und  zu  einer  festen  Methodik  zusammengetragen  worden  seien. 

Professor  Fosz  erklärt  sich  ganz  einverstanden  mit  den  von  La- 
zarus aufgestellten  Grundsätzen;  wenn  er  auch  den  idealen,  psycholo- 
gischen Faktor  in  seinem  Vortrag  weniger  betont  habe,  so  habe  er  ihn 
doch  keineswegs  ausschKeszen ,  ja  nicht  einmal  zurückstellen  wollen, 
sowie  er  auch  andererseits  immer  darauf  bedacht  gewesen  sei,  dasz  in 
den  Köpfen  der  Schüler  nicht  blosz  leichte  Ideencombinationen,  son- 
dern gründliche  Ideenverbindungen  erzeugt  würden. 

Da  keiner  der  Versammelten  mehr  das  Wort  begehrte,  so  sehlosz 
der  Vorsitzende  diu  zweite  und  letzte  Sitzung  der  pädagogischen 
Section  mit  Worten  des  Dankes  an  alle  die,  welche  den  Arbeiten  der 
Section  activ  und  passiv  Teilnahme  geschenkt,  wobei  er  besonders  die 
so  warmen,  gedankenreichen  und  begeisterten  Worte  des  Herrn  Pro- 
fessor Lazarus  hervorhob,  und  mit  dem  Wunsche,  dasz  man,  da  die 
Augsburger  Besehlüsse ,  welche  zwei  ganze  Tage  den  Sectionssitzungen 
einräumten,  sieh  nicht  bewährt  hätten,  künftighin  zu  der  früheren  Ein- 
richtung wieder  zurückkehren  möge.  * 


2)    Verhandlungen  der  germanistischen  Section. 

Dienstag,  den  29.  September.  Nach  Schlusz  der  aligemeinen 
Sitzung  constituierte  sich  die  germanische  Section  und  ernannte  zu 
ihren  Secretären  die  Herren  Dr.  Bechstein  aus  Leipzig  und  Dr.  Koch 
aus  Grimma, 

Mittwoch,  den  30-  September,  10  Uhr  Morgens  versammelte  sich 
die  Section  in  dem  Festsaale  der  Fürstenschule,  da  in  der  ersten  all- 
gemeinen Sitzung  die  gesamte  Philologenversammlung  den  Wunsch  aus- 
gedrückt hatte,  der  Eröffnungssitzung  dieser  Section  in  corpore  bei- 
wohnen zu  können.  Der  Vorsitzende ,  Prof.  Dr.  Zarncke  aus  Leipzig, 
eröffnete  die  diesjährigen  Sessionen  der  Germanistenabteilung  mit  einer 
tiefergreifenden,  weil  ans  einem  tiefbewegten  Herzen  heraus  gesproch- 
en Gedächtnisrede  auf  den  vor  wenig  Wochen  verstorbnen,  nicht  nur 
der  altdeutschen  Wissenschaft,  sondern  dem  ganzen  deutschen  Volke 
unersetzlichen  Jacob  Grimm,  Der  Redner  wies  daraufhin*),  wie  es 
ohne  Jacob  Gnmm's  Arbeiten  schwerlich  eine  Germanistensection  geben 
würde*  Er  sei  ja  doch  der  eigentliche  Gründer  deutscher  Sprachwissen- 
schaft nnd  habe  sieh  mit  einer  Vielseitigkeit  auf  diesem  Gebiete  be- 
thiitigt,  dasz  die  Specialforschej  in  den  verschiedensten  Fächern  nichts 


*)  Das  folgende  Referat  verdankt  der  Berichterstatter  der  Güte  des 
Secretärg  der  Section,  Dr.  Koch  aus  Grimma,  dessen  Aufzeichnungen 
er  —  mit  geringen  Acnrtemngen  in  der  Fassung  —  einfach  wieder- 
gegeben hat. 


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Bericht  Ober  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  109 

andres  zu  tlran  hätten,  als  sein  Werk  auszubauen.  Seine  Begabung 
sei  durchaus  der  Begabung  der  deutschen  Nation  congenial  gewesen, 
darum  würden  auch  für  alle  Zeiten  seine  Werke  ein  Schatz  der  ganzen 
Nation  und  eine  Zierde  ihrer  Litteratur  bleiben.  Der  Redner  charak- 
terisierte hierauf  in  allgemeinen  Zügen  die  litterarische  Wirksamkeit 
des  einzigen  Mannes,  von  dessen  gröszeren  Werken  ein  jedes  eine  neue 
Epoche  der  altdeutschen  Studien  herbeigeführt  habe.  Zum  Schlusz  ent- 
warf der  Redner  noch  ein  mit  Liebe  und  Gemüt  gezeichnetes  Charakter- 
bild des  Heimgegangenen  und  rief  ihm  ins  Jenseits  den  Dank  für  die 
liebevolle  Teilnahme ,  bereitwillige  Unterstützung  und  Förderung  nach, 
deren  sich  in  ganz  besonderm  Masze  die  Genossen  im  gleichen  Studium 
tod  ihm  zu  erfreuen  gehabt  hätten.  Durch  seinen  Hingang  sei  die 
Schale  der  Germanisten  gleichsam  verwaist  und  führerlos  geworden; 
darum  gelte  es,  der  groszen  Verpflichtungen  und  Aufgaben,  die  die 
Wissenschaft  an  die  noch  Lebenden  stelle,  ernst  sich  bewuszt  zu  wer- 
den, damit  die  Zurückbleibenden  im  Geiste  dessen  fortarbeiteten,  der 
—  zu  früh  für  die  Wissenschaft  wie  für  seine  Schüler  und  Freunde  — 
von  diesem  irdischen  Arbeitsfelde  abgerufen  worden  sei.  Indem  er  so 
seinen  Blick  auf  die  Zukunft  der  germanistischen  Wissenschaft  lenkte, 
hiesz  der  Vorsitzende  mit  herzlicher  Freude  die  Vertreter  romanischer 
Philologie  willkommen,  die  diesmal  zum  ersten  Male  zu  gemeinschaft- 
liehen Sitzungen  mit  den  Germanisten  zusammengetreten  seien ,  f da  erst 
mit  diesen  zusammen  die  Germanisten  -  eine  wissenschaftliche  Disciplin 
repräsentierten,  die  ihren  Schwerpunkt  in  sich  selber  habe'.  Hierauf 
verlas  der  Vorsitzende  ein  an  ihn  als  Präsidenten  der  germanistischen 
Section  gerichtetes  Handschreiben  Sr.  Majestät  des  Königs  Johann, 
dessen  oben  in  den  Sitzungsberichten  der  allgemeinen  Versammlung 
Weite  gedacht  worden  ist. 

Nachdem  hierauf  die  Section  sich  in  das  ihr  zugewiesene  Lokal 
begeben,  hält  Vicepräsident  Prof.  Möbius  aus  Leipzig  einen  Vortrag 
'über  die  Teilnahme  der  scandinavischen  Gelehrten  an  der 
germanischen  Philologie'. 

Eierauf  beantragt  Hoff  mann  v.  Fallersieben,  einen  Aufruf  zur 
Stiftung  eines  Denkmals  für  Jacob  Grimm  an   das  deutsche  Volk  zu 
erlassen.   Nach  kurzer  Debatte  einigt  man  sich  dahin,  von  diesem  Pro- 
jecte  die  aligemeine  Versammlung  in  Kenntnis  zu  setzen. 
Donnerstag,  den  1.  October,  8  Uhr  früh. 

Den  Vorsitz  führt  Vicepräsident  Möbius,  da  Zarncke  durch  Un- 
|  Wohlsein  behindert  ist  zu  erscheinen.    , 

;  Bartsch  aus  Rostock  referirt  über  die  von  ihm  kürzlich  in  Pfei- 
!  fer's  Germania  mitgeteilten  Bruchstücke  des  ältesten  uns  bekannten 
i  deutschen  Passionsspieles  aus  dem  Anfang  des  13n  Jahrhunderts,  be- 
I  schreibt  die  in  der  Aarauer  Cantonsbibliothek  befindliche  Pergament- 
|  handschrift  und  schlieszt  daraus,  dasz  die  Blätter  nicht  von  rechts  nach 
i  links,  sondern  von  oben  nach  unten  umzuschlagen  seien,  dasz  das  Stück 
nun  Aufführen  gedichtet  gewesen  sei. 

Mass  mann  aus  Berlin  erinnert  sich,  in  Stuttgart  eine  Handschrift 
der  mirabilia  urbis  Komae  gesehen  zu  haben,  welche  lang  geschrieben 
.    ?wesen  sei,  so  dasz  man  das  Blatt,  anstatt  es  umzuwenden,  nur  fort- 
zurücken gebraucht  habe. 

Bechstein  aus  Leipzig  schlägt  vor,  der  'Germania'  ein  Feuille- 
ton beizugeben,  desgleichen  die  seit  einiger  Zeit  ins  Stocken  gerathene 
Zeitschrift  von  Frommann  in  Nürnberg  cdie  deutschen  Mundarten'  wieder 
ins  Lehen  zu  rufen,  und  teilt  mit,  wie  er  seine  Zeitschrift  (das  f deutsche 
Museum')  fortzusetzen  gedenke. 

Ueber  die  Frommannsche  Zeitschrift  entspinnt  sich  eine  Debatte 
zwischen  Massmann,  v.  Raumer  und  Bechstein.  Man  beschlieszt, 
Frommann  die  lebendige  Teilnahme  und  das  Interesse  der  Germanisten 
für  die  Fortsetzung  seines  Werkes  zu  versichern. 


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110  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Me 

Es  folgt  der  Vortrag  von  Mahn  aus  Berlin  füber  den  gegen- 
wärtig e  n  S  t  a  n  d  der  r  o  m  a  n  i  s  c  h  o  n  P  b  il  o  1  o  g  i  e  nebst  Vorschlägen, 
sie  immer  mehr  zu  verbreiten.'  Man  solle  Gesellschaften  für  das  Stu- 
dium der  neuern  Sprachen  gründen,  welche  durch  esoterische  und  exo- 
te ria che  Vortrage ,  durch  Aussetzung  von  Reisestipendien,  Unterhaltung 
einer  Zeitschrift  als  ihres  besondeni  Organs  diese  Wissenschaft  zu  för- 
dern suchen  sollten.  Es  müsse  unbedingt  auf  diese  Sprachen  mehr  Zeit 
verwendet,  diu  betreffenden  Autoren  m listen  in  besondern  Seminarien 
für  neuere  Sprachen  in  ihrer  eignen  Sprache  mündlich  und  schriftlich 
erklärt  werden* 

Da  sich  an  diesen  Vortrag  keine  Debatte  schlosz,  so  ergriff  Gym- 
nasiallehrer Lökke  ans  Christlania  das  Wort,  um  Prof.  Möbius  für 
seinen  tags  znvor  gehaltenen  Vortrag  zu  danken;  ces  sei  ihm  erstaunlich 
gewesen,  wie  ein  Fremder  eine  so  gründliche  Besprechung  der  germa- 
nistischen Studien  seiner  Landsleutc  habe  geben  können9.  Aufgefallen 
sei  ihm  nur,  dasz  Rask's  Verdienste  nicht  genug  anerkannt  worden 
seien.  —  Möbius  verteidigt  seine  Charakteristik  des  Genannten  und 
Massmann  tritt  ihm  bei. 

Mussafia  aus  Wien  macht  Mittei Iniigen  über  ein  kürzlich  von  ihm 
herausgegebnes  Gedicht:  fla  prise  de  Pampelune',  welches  eine 
Lücke  in  den  poetischen  Darstellungen  von  KarVs  Zug  nach  Spanien 
ausfülle;  der  Abfassung  nach  gehöre  es  in  die  zweite  Hälfte  des  13. 
Jahrhunderts,  die  Sprache  sei  so  sonderbar  gemischt,  dasz  sich  schwer 
sagen  lasse ,  ob  das  Altfranzösische  oder  Venetianische  vorwiege. 

Der  Vizepräsident  bringt  zur  Kenntnis  der  Section,  dasz  als 
Ort  der  nächsten  PhilologcNversammluug  Hannover  gewählt  worden  sei, 
und  schlägt  als  Sectionsprasidentcn  Für  «las  nächste  Jahr  vor:  die  Her- 
ren W,  Müller  (Germanist)  und  Tb.  Müller  (Romanist),  beide  in 
Göttlngen  T  welcher  Vorschlag  einstimmig  angenommen  wird. 

Nach  einer  Panse  halt  Dietrich  aus  Marburg  einen  Vortrag  über 
die  'nordischen  Runen'  und  sucht  aus  den  Namen  und  der  Gestalt 
der  einzelnen  Kimen  nachzuweisen,  dasz  dieselben  ursprünglich  'eine 
von  den  Germanen  erfnndne  Bilderschrift7  waren. —  Massmann  findet 
die  von  Dietrich  versuchten  Deutungen  snhjectiv  und  bringt  das  Runen- 
alphabet mit  dem  pliönieJsch-griechiKchen  in  Zusammenhang.  —  Der 
Redner  vertheidigt  sich  gegen  den  Vorwurf  subjeetiver  Willkür  und 
sucht  nachzuweisen,  dasz  er  nach  streng  wissenschaftlicher  Methode 
verfahren  sei. 

Die  tags  zuvor  abgebrochne  Debatte  über  ein  zu  Ehren  Jacob 
Grimma  zu  stiftendes  Ehrendenkmal  wird  wieder  aufgenommen.  Mass- 
mann schlägt  eine  f  Grimm  Stiftung*  vor,  aus  deren  Fonds  tüchtige 
Werke  auf  dem  Gebiet  altdeutscher  Wissenschaft  prämiirt  oder  Reise- 
stipendien verliehen  oder  die  Mittel  zur  Auffindung  und  Benutzung  noch 
verborgner  Handschriften  geliefert  werden  sollten.  —  Mussafia  räth, 
die  Hauptversammlung  zu  ersuchen,  eine  Commission  zu  ernennen,  die 
im  nächsten  Jahre  in  Hannover  bestimmte  Vorschläge  für  eine  Grimm- 
stiftung den  versammelten  Philologen  unterbreiten  solle.  —  v.  Raum  er 
dagegen  schlügt  vor,  dasz  diese  Commission  aus  der  Mitte  der  Section 
ernannt  werde.  Die  Section  geht  auf  letzteren  Vorschlag  ein;  es  wer- 
den die  5  Herren:  Wetgand,  v.  Raumer,  Bartsch,  Zarncke  und 
Hildebrand  zu  Mitgliedern  dieser  Commission  gewählt  und  es  wird 
bestimmt»  dasz  der  Hauptversammlung  von  der  Einsetzung  und  Be 
Stimmung  dieser  Commission  oftlciell  Anzeige  gemacht  werde. 

Freitag,  den  2.  Öctober,  8  Uhr  früh,  Zunächst  wurde  ein  von 
dein  unterdessen  wegen  Unwohlseins  abgereisten  Präsidenten  der  Section 
abgefasKtes  Sehreihen  vorlesen,  in  welchem  derselbe  den  Wunsch  aus- 
sprach, dasz  die  Commission  für  die  Orimmstiftung  erweitert  und  eine 
Entscheidung  für  ein  bestimmtes  Frojeet  baldigst  herbeigeführt  werden 
möge.     Nach  längerer  Debatte  bescnlosz  man,  den  gestrigen  Beschlusz 


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Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen.  111 

aufrecht  zu  erhalten.  Hieran  reihte  sich  der  von  allen  Mitgliedern 
mit  der  gespanntesten  Aufmerksamkeit  entgegengenommene  Vortrag  von 
Hildehrand  aus  Leipzig  f über  die  deutschen  Dialekte',  welcher 
eine  lebhafte  und  interessante  Debatte  hervorrief.  Schlusz  der  Sitzung 
gegen  9  Uhr.  —  In  der  unmittelbar  darauf  folgenden  letzten  allgemei- 
nen Sitzung  ward  das  vom  Präsidium  der  Germanistensection  in  Betreff 
der  Grimmstiftung  erlassne  Schriftstück  vom  Vieepräsidenten  Director 
Dietsch  der  Versammlung  vorgetragen. 


3)   Verhandlungen  der  orientalischen  Section.*) 

Die  Section  der  Orientalisten  wurde  in  ihrer  ersten  Sitzung, 
Dienstag  den  29.  Sept.,  durch  den  Präsidenten  Prof.  Dr.  Flügel  aus 
Dresden  mit  einigen  Worten  der  Begrüszung  und  einem  kurzen  Rück- 
blick auf  die  bisherige,  jetzt  19jährige  Thätigkeit  des  Vereines  deut- 
scher Orientalisten  eröffnet,  worauf  zur  Constituierung  des  Bureaus 
geschritten  wurde.  Auf  Vorschlag  des  Präsidenten  nahm  die  Gesell- 
schaft Prof.  Graf  aus  Meiszen  als  Vicepräses,  Dr.  Fr.  Müller  aus 
Wien  und  Dr.  Mühlau  aus  Leipzig  als  Secretäre  durch  Acclaination 
an.  Nach  Ankündigung  der  zu  haltenden  Vorträge  gab  Prof.  Arnold 
ans  Halle,  als  Secretär  der  Deutschen  Morgenl.  Gesellschaft,  den  Ge- 
schäftsbericht des  Secretariats  und  der'  Bibliothek  für  das  verflossene 
Geschäftsjahr,  wonach  die  Gesellschaft  gegenwärtig  aus  12  Ehrenmit- 
gliedern, 31  correspondierenden  und  340  ordentlichen  Mitgliedern  be- 
steht. Die  Bibliothek  hat  sich  um  53  Werke  und  3  Nummern  Hand- 
schriften, Münzen  u.  dgl.  vermehrt;  erstere  schlieszen  mit  Nr.  2509, 
letztere  mit  300  ab.  An  diesen  Bericht  knüpfte  der  Präsident  den 
mit  allgemeiner  Zustimmung  angenommenen  Vorschlag ,  eine  Sammlung 
von  Photographien  deutscher  und  ausländischer  Orientalisten  von  Seiten 
der  D.  M.  Gesellschaft  anzulegen  und  die  Mitglieder  zur  Einsendung 
ihrer  Photographien  an  das  Secretariat  durch  die  Zeitschrift  aufzufor- 
dern. Es  folgte  der  Redactionsbericht  des  Redakteurs  der  Zeitschrift 
der  D.  M.  G.,  Prof.  Brockhaus  in  Leipzig,  der  sich  über  die  gegen- 
wärtigen und  zunächst  beabsichtigten  litterarischen  Unternehmungen 
der  Gesellschaft  verbreitete.  Nachdem  mit  Ernennung  der  Commission 
zur  Prüfung  der  Jahresrechnung  die  geschäftlichen  Angelegenheiten 
abgemacht  waren,  wurde  zu  den  wissenschaftlichen  Vorträgen  und  Mit- 
teilungen geschritten.  Stadtpfarrer  Dr.  Wolff  aus  Rotweil  legte  zwei 
Photographien  des  im  Besitze  Sr.  Maj.  des  Königs. von  Württemberg 
befindlichen  Models  der  Heil.  Grabeskirche  in  Jerusalem  zur  Ansicht 
vor  und  brachte  einige  erläuternde  Bemerkungen  bei,  denen  dann  noch 
Consul  Rosen  aus  Jerusalem  interessante  Mitteilungen  über  die  be- 
treffenden Legalitäten,  namentlich  über  die  el-Chankeh,  des  Spital 
Saladins,  hinzufügte.  Prof.  Rödiger  aus  Berlin  sprach  über  ein  im 
Berliner  Antiquarium  befindliches  Münzbild  von  Nebukadnezar ,  welches 
im Gypsabgusse  vorgelegt  wurde,  und  Prof.  Oppert  aus  Paris  gab  auf 
Aufforderung  des  Vortragenden  noch  weitere  Erläuterungen  dazu.  Den 
Schlusz  der  ersten  Sitzung  machte  Prof.  Gosche  aus  Halle  mit  dem 
Vortrage  des  wissenschaftlichen  Jahresberichtes  für  1862/3,  für  dessen 
ganze  Mitteilung  jedoch  die  Zeit  zu  kurz  war,  weshalb  für  das  Uebrige 
auf  die  Publikation  des  Jahresberichtes  in  der  Zeitschrift  verwiesen 
wurde,  in  der  überhaupt  die  gehaltenen  Vorträge  gedruckt  erscheinen. 


*)  Obige  Mitteilungen  verdankt  der  Berichterstatter  der  Güte  des 
Herrn  Prof.  Dr.  Arnold  in  Halle,  des  Secretärs  der  deutschen  mor- 
genländischen Gesellschaft,  dem  er  hiermit  herzlichen  Dank  sagt. 


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Bricht  ulier  die  Versammlung  lettischer  Phil  v.  m 

Den  ersten  Teil  der  zwoit.cn  Sitz un ff,   Mittwoch    der 
nahmen   geschäftliche,    auf  die  D.  M.  GeBeUseh.  Bezug  habende  Mit- 
teihingen  ein*),  darunter  auch  eine  Aufforderung  zu  einer  Subscn, 
für  ein  dem  verstorbenen  Geh,  Kirchenrath  Prof.  Dr.  K  nobel  in  Giessen 
zu  errichtendes  Grabdenkmal.     Hierauf   folgten  die  Vorträge  des  Prof, 
Dieterici  aus  Berlin  Tüber  die  unter  dem  Namen  Diwan  es-F 
die  lauteren  Brüder,  bekannte  arabische  Philosophensekt  e\ 
wozu  Prof.   Fleischer    einige   sprachliche   Bemerkungen   gab,    und  des 
Prof.  Weber  aus  Berlin  füber  d  ie  Menschenopfer  bei  den  alu*n 
Indern',   der  aber   nicht   ganz   zu  Ende  gebracht  werden  konnte,   da 
die  Section  die   in   der   allgemeinen  Versammlung  gehaltenen  Vorträge 
des  Dr.  Mordtniann  aus  Coustantinope!   füber  die  Zigeuner'   und  da 
Prof.  Gosche  'über  die  alt-phryglseben  Inschriften*  mit  anhören  wollt< 
weshalb  die  Sitzung  schon  um  11  Uhr  geschlossen  wurde. 

In  der   dritten  Sitzung,    Donnerst,  d.  12.  Öetob. ,   beendigte  zu- 
nächst Prof.  Weber  den  angefangenen  Vortrag.     Nach  hierauf  erfolg 
ter  Ergänzungswahl  des  Vorstandes  der  D.M.  Ges.  hielt  Prof.  Oppert 
einen   Vortrag    füber    alt  assyrische    liturgische   Inschrift 
und  Prof,  Weber   gab   die   exteiuporirte  Uebersetzung   eines   in    ei 
scher  Sprache  eingereichten  interessanten  Aufsatzes  des  als  Teilnehmer 
an   der  Versammlung  gegenwärtigen  Mr.  Dr,  Long   ans  Caleutta  über 
den  gegenwärtigen  Zustand  der   orientalischen  Studien   in  Indien.     Dr. 
Zenker   aus  Leipzig   knüpfte  an   die  Vorlegung  des   on  Heftes    sein 
türkischen   Lexikon   einige   Bemerkungen   über  die   Herausgabe    diese 
Werkes  und  suchte  um  die  Unterstützung  derselben  von  Seite  der  D,  ~ 
Gesellscb.  nach,   die    auch  von  der  Versammlung  dem   Vorstände,   wel- 
cher allein  über  die  Geldangelegenheiten  der  Gesellschaft  zu  entschei- 
den tat,  empfohlen  wnrde.     Zuletzt  spraeh  Dr.  Levy  ans  Breslau  übe 
den    so    eben    erschienenen    3n  Band   seiner  phouizischen  Studien,    in 
besondere    über   90   in   Carthago   neuerlich    gefundene   phöntzisehe    In 
Schriften ,   worauf  die  Versammlung   in   herkömmlicher  Weise  gesch.li 
sen  wurde. 

Als  Teilnehmer  an  der  Versammlung  haben  sich  47  Mitglieder  eh 
gezeichnet. 


4)    Verhandlungen  der  archäologischen  Section.1) 

Nachdem  bereits  im  vergangenen  Jahre  zu  Augsburg  vielseitig  der 
Wunsch  geftuszert  worden  war,  eine  archäologische  Section  zu  b» 
den,  so  vereinigten  sich  auf  der  diesjährigen  Versammlung  eine  Anzah 
von  Mitgliedern  zur  definitiven  Com tituierun g  und  es  konnte  die  erst 
Sitzung  Mittwoch  d.  30.  Septhr.  9  Uhr  unter   erfreulicher  Beteiligung1 
eröffnet  werden. 


*)  Das  Ausführlichere  wird  der  in  der  Zeitsehr.  der  D*  M.  Ges. 
erscheinende  protokollarische  Bericht  über  die  Versammlung  in  Meiszen 
enthalten. 

1)  Der  Berichterstatter   gibt   im  Obigen  wörtlich   die  Aufzeichnun- 
gen wieder,  die  Herr  Dr.  Alfred  Schöne  in  Leipzig  ihm  gütigst  zu 
Verfügung  gestellt  bat. 

2)  Die  Mitgliederliste  weist  am  Sehlusz  folgende  Namen  auf:  Hett- 
ner>  Bursian  (Tübingen),  Dr.  P,  Becker,  Bein,  D,  Schubert  (Bautzen), 
Koner,  Comfort  (Neuyork),  Schicbowski  (Petersburg },  de  Ruggiero  I 

Prof.  W.  Zahn  (Berlin),  Overbeck,  D.  Volkmann  (Pforta),  Schäfer 
[Greif swaldj ,  D.  Schöne  (Leipzig) ,  Dr.  Kuhn  .(Dresden),  Prof.  Berg- 
mann (Brandenburg),  D.  Üohmke  (Leipzig),  Viecher  (Basel),  M.Hertz 


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Bericht  Über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Meiszen,   1 13 

Auf  allgemeinen  Vorschlag-  übernahm  Prof.  Ov  erb  eck  aus  Leipzig 
den  Vorsitz  und  wählte  zum  Schriftführer  Dr.  A.  Schöne  aus  Leipzig, 
—  Nach  einigen  begrüszenden  und  einleitenden  Worten  de«  Vorsitzen- 
den be8chlosz  die  Section,  für  die  nächste  voraussichtlich  in  Hannover 
stattfindende  Versammlung  Prof.  Wieseler  aus  Göttingen  tum  Vor- 
sitzenden  zu  wählen  und  denselben  schriftlich  hiervon  zu  benachrich- 
tigen. 

Hierauf  sprach  Prof.  W.  Vischer  aus  Basel  über  die  Ergebnisse 
der  neuesten  Ausgrabungen  am  Dionysostheater  in  Athen.  Da  der 
äii8zer8t  interessante  Vortrag  in  extenso  in  dem  Neuen  schweizerischen 
Museum  1863  Nr.  1  und  2—4  bereits  abgedruckt  ist,  so  verweisen  wir 
%uf  diese  Zeitschrift  und  erwähnen  nur,  dasz  diese  Mitteilungen  von 
der  Versammlung  mit  ungeteilter  Beistimmung  aufgenommen  wnrrien, 
so  auch  insbesondere  die  Vermutung,  dasz  die  sogen.  Valerianische 
Mauer  viel  späteren  Ursprunges  sei  und  etwa  ans  der  Zeit  der  fränki- 
schen Herzöge  herrühre.  Auf  Befragen  des  Dr.  Hui t seh  aus  Dresden 
wird  bemerkt,  dasz  das  zu  Grunde  liegende  Masz  das  kleinere  Stadion 
zu  sein  scheine.  Schlieszlich  erwähnt  der  Vortragende  noch,  dasz  eiun 
bei  den  Ausgrabungen  gefundene  Basis  mit  der  Inschrift  MENANAPOC 
in  den  Maszen  völlig  mit  dem  Plinthos  der  Vatikan.  MenanderHtAlue») 
übereinstimme.  Auf  einen  Einwand  von  Prof.  Bursi an,  dasz  nach  Ana- 
logie der  übrigen  Dichterstatuen  wol  auch  der  Menander  nicht  aus 
Marmor,  sondern  aus  Bronze  gewesen  sein  werde,  wird  von  dem  Hed- 
ner mit  der  Bemerkung  entgegnet,  dasz  man  im  Dionysostheater  noch 
Bruchstücke  von  Marmorstatuen  gefunden  habe.  Und  allerding«  liisxt 
sich  aus  der  Stelle  Paus.  1,  21,  1  deutlich  ersehen,  dasz  eine  ganze  Reihe 
von  Dichterstatuen  im  Theater  gestanden  haben,  und  wenn  nun  auch  in 
der  yita  dec.  orat.  8.  v.  Lycurgus  ausdrücklich  berichtet  wird,  dasz  die 
Statuen  des  Aeschylos,  Sophokles  und  Euripides  ehern  gewesen  seien, 
so  hegt  doch  darin  an  sich  kein  Grund  zu  der  Annahme,  dasz  auch 
alle  übrigen  aus  dem  gleichen  Materiale  gearbeitet  waren.  Hält  man 
dazu  die  auffallende  Wahrnehmung,  dasz  die  Masze  der  aufgefundenen 
Bagis  genau  mit  denen  des  Vatican.  Plinthos  stimmen,  bei  welchem 
die  antike  Basis  fehlt,  und  dasz  Bruchstücke  von  Marmorstatuen  auch 
anderweitig  im  Theater  gefunden  worden  sind,  so  hat  Viseber  alle 
Wahrscheinlichkeit  für  sich,  wenn  er  die  Identität  der  Vatikan,  mit  der 
athenischen  Menanderstatue  vermuthet. 

Schlusz  der  Sitzung  10  Uhr. 

Zweite  Sitzung  Donnerstag  d.  1.  Octbr.  10  Uhr.  Prof.  Overbeck 
legte  eine  neue  Zeichnung  der  röm.  Aresstatue4)  in  der  Villa  Liidovisi 
vor,  welche  Raoul - Rochette  für  einen  trauernden  Achillen*  erkläre. 
Die  Mehrzahl  der  übrigen  Erklärer  erkannten  darin  einen  Ares,  bei 
welchem  ursprünglich  noch  Aphrodite  gestanden  habe.  Diese  letztere 
Annahme  werde  widerlegt  durch  die  Beschaffenheit  der  Basis,  welche 
allem  Anscheine  nach  an  der  rechten  Seite  nicht  abgeschnitten,  son- 
dern unverkürzt  sei.  Die  Vermuthung,  dasz  noch  eine  Figur  mit  der 
Statue  verbunden  gewesen  sei,  werde  aber  allerdings  sehr  nahe  gelehrt 
durch  3  beachtenswerthe  Stellen  der  Statue.  Auf  der  linken  Schulter 
befinde  sich  ein  hervorstehender  Marmorrest,  ein  dergleichen,  etwas 
gröszerer  dicht  unter  dem  Knopf  des  Schwertes,  aus  der  Gewandung 
hervorragend,   während  dicht  unter  diesem  Stück  sich  eine  nicht  ganz 


(Breslau),  D.  Haeck er  (Berlin) ,  Beyer  (Freystadt) ,  auszer  welchen  noch 
gegenwärtig  waren  F.  Haase ,  D.  Hultsch  (Dresden)  und  Prof.  v.  Paucker 
(Dorpat). 

3)  Galeria  delle  statue  Nr.  390. 

4)  Raoul-Rochette,  M.  I.  Tf.  11;  Müller- Wieseler  D.  d.  a.  K.  II,  250; 
Müller,  Archäol.  S.  574. 


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114  Bericht  über  die  Versammlung  deutscher  Philologen  usw.  in  Mciszen. 

handgrosze  Stelle  im  Felsen  ausgebrochen  zeige.  An  eine  spätere 
Ucberarbeitung  des  Felsens  sei  übrigens  nicht  zudenken,  da  sonst  der 
Ueberarbeitcr  sicherlich  auch  diese  Stelle  ausgeglichen  haben  würde. 
Auf  Befragen  yon  Prof.  Kon  er  constatiert  Overbeck  die  Echtheit 
dieser  'S  Koste  und  .vermuthet  nun,  dasz  wir  darin  die  Spuren  eines 
zweiten  Eroten  zu  erkennen  hätten,  welcher  mit  Knie  und  Hand  anf 
Schulter  und  Hüfte  des  Ares  gerubt  haben  könne.  Analogien  hierfür 
böten  Paris  monumente,  insbesondere  werde  auch  der  Vatican.  Paris 
mit  falsch  ergänzter  rechter  Hand  und  abgeschnittener  Schulter  ähn- 
lich zu  ergänzen  sein. 

Prof.  Rureiau  opponiert.  Die  Stellung  dieses  zweiten  schwierig 
anzubringenden  Eroten  würde  nicht  schön  sein;  die  Entfernung  der 
Marmorreste  scheine  so  grosz,  dasz  der  Eros  hätte  unverbältnismäszig 
gross  sein  müssen,  worauf  Overbeck  versichert,  dasz  er  nach  approxi- 
mativer Messung  nicht  gröszer  als  der  zu  den  Füszen  sitzende  zu  sein 
brauche,  Bursian  bemerkt  ferner,  die  Beispiele  von  Vasenbildern,  Wand- 
gemälden und  Reliefs  genügten  nicht,  um  die  statuarische  Ausführung 
dieses  fast  schwebenden  Eroten  zu  rechtfertigen.  Er  hält  es  für  wahr- 
scheinlich, dasz  ursprünglich  eine  Aphrodite  daneben  gestanden  habe, 
und  dasz  sie  durch  Zerschneiden  der  Basis,  wofür  der  scharfe  Abschnitt 
spreche  t  entfernt  worden  sei.  Zudem  könne  die  Stelle  des  Plinius  (36, 26) 
auf  eine  Gruppe  von  Mars  und  Venus  bezogen  werden.  —  Prof.  Hertz 
erinnert  au  die  Unsicherheit  der  Annahme,  dasz  Ares  dargestellt  sei. 
—  Prof.  Haase  spricht  dafür,  dasz  ein  Eros  angefügt  gewesen,  und 
hält  die  3  Stützpunkte  zur  Befestigung  eines  solchen  schwebend  dar- 
gestellten für  auereichend.  —  Prof.  Kon  er  vermuthet,  dasz  die  Statue 
in  einer  Nische  gestanden  habe  und  dasz  die  fraglichen  Stücke  die 
Reste  von  zur  Befestigung  dienenden  Stützen  seien,  wogegen  Bursian 
unter  Hinweis  auf  die  treuliche  Ausarbeitung  des  Rückens  Einsprache 
erhebt.  Obiger  Fall  sei  höchstens  bei  Dekorationsstatuen  gewöhnlicher 
Art  eingetreten.  Nachdem  man  sich  noch  dahin  geeinigt  hatte,  dasz 
der  Eest  auf  der  Schulter  nicht  von  dem  Schwertriemen  herrühren 
könne,  wurde  es  für  wünschenswerth  erklärt,  den  Versuch  der  Ergän- 
zung eines  Eroten  durch  einen  Künstler  machen  zu  lassen.  Schlieszlich 
sei  bemerkt,  dasz  die  erwiesen  ergänzten  Teile  nicht  von  Gewicht  für 
die  Reconstruktionsfrage  sind5).  Wider  die  Gruppierung  mit  Aphrodite 
sprechen  gewichtige  Umstände,  so  die  Haltung  der  Statue  selbst  und 
die  Beschaffenheit  des  Felsens  und  der  Basis,  sowie  auch  die  Plinius- 
stelleft)  weit  eher  für  2  gesonderte  Statuen  als  für  eine  Gruppe  zeugt. 
Urlichs  in  Reinem  cSkopas'  S.  118  ff.  erkennt  in  den  Fragmenten  die 
Reste  der  Lanze,  was  kaum  gerechtfertigt  erscheinen  dürfte,  wenn  man 
nicht  dennoch  den  Rest  auf  der  Schulter  als  zur  Befestigung  etwa  eines 
bronzenen  Schwertriemens  bestimmt  betrachten  will.  Und  so  wird  auch 
die  Benennung  'Ares'  immer  noch  mit  einigem  Zweifel  betrachtet  wer- 
den müssen ,  zumal  sich  die  Gebaerde  des  aufgestemmten  mit  beiden 
Händen   gefassten  Knies  anderweitig  als  Gestus  der  Trauer  vorfindet. 

Ferner  legte  Prof.  Overbeck  die  Zeichnung  einer  in  Kreta  ge- 
fundenen Vase  vor  (die  bereits  in  dem  Jahrgang  1863  der  £<pr||Li€plc 
dpXütioXöYiKri  publiciert  ist.)  Pervanoglu  erklärt  sie  als  ein  Parisurteil, 
wogegen  aber  die  zwei  griechisch  gekleideten  und  Speere  tragenden 
Jünglinge  sprechen.  —  Die  unzweifelhaft  richtige  Deutung  giebt  Prof. 
Bursian,   welcher  darin  findet:     Paris,  von  Hermes  und  zwei  Eroten 


5)  Ergänzt  sind  Nase,  rechte  Hand  und  rechter  Fusz  bei  Ares,  der 
Schwertgriff,  beide  Arme  und  der  Kopf  des  sitzenden  Eros. 

6)  a.  a.  O.  Hier  erscheint  besonders  beachtenswerth  das  fpraeterea' 
und  das  fin  eodeni  loco'  gegenüber  den  Ausdrücken,  die  Plin.  sonst  bei 
Gruppen  anzuwenden  pflegt. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  115 

geleitet,  kommt  zu  Helena,  wobei  auf  Einrede  zugestanden  wird,  dasz 
statt  des  Hermes  wahrscheinlich  nur  ein  Kf|puH  anzunehmen  sei. 

Noch  entspinnt  sich  eine  längere  Discussion  betreffs  des  Fundortes. 
Prof.  Schäfer  behauptet,  dasz  schwerlich  jemals  apulische  Vasen  di- 
rekt als  Handelsartikel  nach  Kreta  eingeführt  worden  seien,  und  von 
Vasen  kretischen  Fundortes  wisse  man  sonst  nichts.  Ihm  schlieszt  sich 
Prof.  Bursian  an,  indem  er  die  Vasen  von  Pantikapaion  als  Parallele 
anführt.  Prof.  Kon  er  bemerkt,  dasz  diese  Mythenvasen  wahrschein- 
lich in  Athen,  aber  ausdrücklich  für  das  Bedürfnis  und  den  Geschmack 
der  Kolonien  gearbeitet  wurden.  —  Schlieszlich  wird  nach  Erwähnung 
der  Xenophantosvase7)  darauf  hingewiesen,  dasz  sich  auch  an  den  klei- 
nen am  Rhein  und  ans  der  Donau  gefundenen  Bronzestatuen,  welche 
oft  erweislich  auf  gute  Vorbilder  zurückzuführen  sind,  nicht  selten 
fremdartige,  wahrscheinlich  lokale  Zuthaten  finden. 

Mit  dem  Ausdruck  der  Befriedigung  über  die  erfolgreich  zu  Stande 
gebrachte  Constituierung  einer  selbständigen  Section  wurde  die  Sitzung 
um  11  Uhr  geschlossen. 

Zwickau.  Dr.  Vogel. 


Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 


I. 

Exposi  über  einige  Fragen  des  Schulwesens  und  der  Gesetzgebung. 
Als  Manuscript  gedruckt.  Vom  (königl.  sächs.)  Ministerium  des 
Cultus  und  öffentlichen  Unterrichtes.  Dresden  1864.  Druck  von 
B.  G.  Teubner. 

Die  vorliegende  Schrift  wird  insbesondere  von  sächsischen  Päda- 
gogen mit  Interesse  gelesen  werden,  denn  sie  ist  ein  Actenstück  zur 
Geschichte  des  sächsischen  Volksschulwesens.  Sofern  sie  aber  gewisse 
allgemeine  Grundfragen  des  Schulwesens  zu  abschliessender  Erörterung 
bringt,  darf  sie  ohne  Zweifel  auch  auf  einen  weiteren  Leserkreis  rech- 
nen, und  es  wäre  nnr  zu  wünschen,  dasz  sie  nicht  von  Amtswegen  auf 
die  gleichsam  private  Sphäre  eines  bloszen  Manuscripts  beschränkt 
bliebe.  —  Einen  mittelbaren  Anlasz  zur  Abfassung  des  Expose'  gaben 
Anträge  der  sächsischen  Kammern:  den  Beginn  nnd  Umfang,  nament- 
lich des  elementaren  Schulunterrichts  derart  zu  regeln,  dasz  die  körper- 
liche Entwickelung'  der  Jugend  über  der  geistigen  nicht  verabsäumt 
werde,  und  die  demgemäsz  von  dem  betreffenden  Ministerium  angestell- 
ten Ermittelungen  und  Erwägungen;  den  eigentlichen  Inhalt  aber  bil- 
den nun  eben  die  Resultate  dieser  letzteren.  Da  der  Charakter  unserer 
Zeitschrift  ein  genaueres  Eingehen  auf  denselben  leider  nicht  gestattet, 
so  müssen  wir  uns  begnügen  auf  die  Hauptcapitel  der  höchst  instruc- 
tiven  Schrift  zu  verweisen.  Es  sind  dies  Cap.  1  fvon  der  angeblichen 
Ueberbürdung  der  schulpflichtigen  Jugend  mit  Lehrstunden,  Unter- 
richtsmaterial und  häuslichen  Schularbeiten'  und  Cap.  2  füber  den  An- 
fang der  Schulpflichtigkeit'.  In  dem  ersten  derselben  wird  überzeugend 
dargethan,  wie  werfig  begründet  im  Allgemeinen  jene  Klagen  seien, 
welche  jezuweilen  über  allzugrosze  Belastung  der  Jugend  in  den  säch- 

7)  Archäol.  Zeitung  1856.  Tf.  86.  87. 

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in» 


Kurze  Anzti^pii  und  Misccllen. 


«ischen  Volksschulen  erhoben  werden;   vielmehr  habe  man  bei  den  an» 
gestellten  Revisionen  fast  durchgehend  8  die  grosse  Ordnung  und  pr 
mäszige  Sorgfalt  anzuerkennen  gehabt,  welche  von  den  Dir« 
Bürgerschulen   namentlich   auch  den  Schulaufgaben  und  häuslichen 
beiten,  dem  Umfange  und  der  gleichmäßigen  Verteilung  der*> 
die  einzelnen  Wochentage  usw,  zugewendet  werde.     Zugleich  wird 
auf  hingewiesen,  wie.  im  extremen  Gegensatz  zu  jenen  Anschuldig 
sich  Stimmen  laut  gemacht,  welche  mit  Kmpbnse  f Chemie t  und  " 
wirthsehaftliche  Grundlehren1  in  den  städtischen  Knabenschulen 
dert,   welche    es    der  Volksschule  zum  Vorwurf  angerechnet,   dasz 
nicht  genüge,   rum  dem  Handwerker  die  für  seinen  Beruf  not* 
Kenntnisse  zu  verschaffen*.     fSoll  aber  das  Ziel  der  Volksschule'  - 
sehlieszt  treffend  dieses  Capitel  —  *soll  das  Ziel  der  Volksschule 
gänzlich  verrückt  werden  und  soll  dieselbe  im  Stande  sein,  ohne  Ueb 
bürdung,  ja  ohne  Schaden  au  Leib  und  Seele  ihre  Schüler  an  das  f 
zu  fuhren,  so  wird  man  sich  auch  wieder  daranf  besinnen  müssen,  di 
jegliches  Ding   seine  Zeit   habe,    dasz   die  Volksschule   von   den  eri 
Anfängen   menschlicher   und    allgemeiner  Bildung   beginnen    müsse 
doch  unmöglich  sich  dahin   ausdehnen  könne,   wo  die  spätere  Arbeite 
Fortbildungsschule,    der    Gewerbsehule,    der    Mandwerkerschnle    lic 
Man  wird  vor  allen  Dingen  sich  daran  gewöhnen  müssen,    hei   linken 
Anforderungen   an  Wissen  und  Ausbildung  besonders  den  Knaben  au 
einen   längeren    Schulbesuch   und  Bildungsgang   zu   vergönnen,    als 
mit  dem   14- Jahre  zur  Confirmation;   —   eine  Erkenntnis,  welch 
szen  Schiebten  unserer  Bevölkerung  noch  gänzlich   fehlt,  wie  z.  B, 
Umstand  zur  Genüge  beweist,    dasz  der  Cursus   unserer  Realschule 
von  den  wenigsten  Zöglingen    derselben   vollständig   beeiiii 
dem    meistens    in    den    mittleren    und    selbst    in    den    unteren    Cla 
mit    der   f'oniirmation    abgebrochen   wird   und   dasz   auch   unsere 
nannten    höheren    Bürgerschulen    ihre   Arbeit   mit   der   Confirmatio 
sehlieszcn   pflegen/     Koch   eingehender  und  vielleicht  noch  lehrre 
ist   das   Capitel   rüber   den   Anfang  der   Schulpflicht! gkeit*,     Denn 
werden   vorzugsweise   einzelne    arztliche   Bedenken   beleuchtet,  wa 
sieh   bald   nur  bedingt,    bald  unbedingt   gegen    den  in  Bachsen  gesel 
liehen  Anfang   des  Schulbesuches  (mit  dem  vollendeten  ß  Lebensja" 
erklärt  haben*     Es  erfreut  dabei  zu   sehen,   wie  sorgsam  sich  die  ] 
bürde  von  jeder  Einseitigkeit  fernhält  und  ebensowol  das  Beherzig 
werthe   und   Treffliche   der  medieinisehen   Gutachten   adoptiert  (S.  I 
als   andererseits   die    höheren   pädagogischen  Interessen   einer  bloss 
ma tischen    Betrachtungsweise    gegenüber    zu    vertreten    woisz. 
wird   mit  Recht  hervorgehoben,   dasz  für  eine  sehr  grosze  Anzahl  1 
Kindern  der  Aufenthalt  in  der  Schule,  verglichen  mit  dem  Auf'ciitl 
in  ihren  elterlichen  Wohnungen,  sogar  noch  eine  leihliche  Wolt 
ist.     fMan   denke   an  die  vielen  Kinder  der  handarbeitenden  und 
löhnernden  Bevölkerung,   welch«1    von   den  Müttern    während   ihrer  | 
Wesenheit   am  Tage   in  den  Stuben  eingeschlossen  werden;  man  de 
an  die   Kinder  vieler  Handwerker   und   der   Fabrikbevölkerung,  de 
frühste   Kindheit   schon   unter    allerlei   Mithülfe   bei   sitzender  Bes<  ~ 
tigung,  hinter  dem  Treib-  und  Spulrade,  im  Warten  noch  kleinerer  1 
der  vergeht;   man   denke    an    die  Kinder   ganzer  zahlreicher  Bruehb 
der  städtischen  Bevölkerung,  besonders  der  Bevölkerung  groszer  St' 
Welche  ihre  Wohnungen  fast  ausschlieszlich  in  kellerartigen  Soutcrmii 
in  engen  Gassen,  sonnen-  und  lichtlosen  Höfen  und  Hinterhäusern 
man    thue    endlich   auch   einen  Blick   in   solche  Wohn  statten   und 
wie  in  demselben  Räume  zu  gleicher  Zeit  die  Mutter  kocht  und  Wa* 
reinigt  und  die  gewaschene  am  Ofen  trocknet,  und  dar  Vater  daneb 
sein    oft    übelriechendes    oder    doch    die   Luft   verderbend«1*    M 
allein  oder  mit  Gesellen  betreibt.     rFür  alle  diese  Kinder  fängt  mit  < 
beginnenden  Schulpflichtigkeit,  mit  dem  täglichen  Schulwege  die 


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Kurze  Anzeigen  und  Miseellen.  117 

regelmäszige  tägliche  Bewegung,  der  erste  regelmäszige  tägliche  Ge- 
niisz  frischer  und  besserer  Luft,  fängt  mit  dem  Schulbesuche  zum  Teil 
sogar  die  erste  verständige  und  liebreiche  Aufmerksamkeit  auf  die  Ge- 
sundheit des  Leibes,   auf  Reinlichkeit  und  Ordnung,   auf  die  Haltung 

des  Körpers,  die  Schonung  der  Augen  usw.   an,   . * und  für  sie 

den  Anfang  der  Schulpflichtigkeit  um  ein  Jahr  weiter  hinaus  sc  hieben 
wollen  heiszt  somit  selbst  ihr  leibliches  Leben  ein  Jahr  länger  der  Ver- 
kümmerung preisgeben.'  Wie  nun  aber  vollends  die  eigentliche  päda- 
gogische Aufgabe  der  Volksschule  gegen  jede  Verzögerung  des  Schul- 
besuchs den  entschiedensten  Einspruch  erhebt,  wie  Bildung,  Sittlichkeit 
und  Religiosität  eines  groszen  Teils  der  Jugend  geradezu  einzig  und 
allein  auf  der  Schule  stehen,  und  wie  die  Einwirkungen  derselben  um 
ein  Jahr  verspätigen  meist  nichts  geringeres  besagt  als  Unkraut  für 
ein  ganzes  Leben  säen  —  das  Alles  ist  im  weiteren  Verfolg  mit  ebenso 
viel  überzeugender  Klarheit  als  beredter  Wärme  entwickelt  worden. 
Gleicherweise  wird  man  endlich  gern  demjenigen  beistimmen ,  was  in 
den  beiden  nächsten  Capiteln  von  der  Organisation  der  HLcmentar- 
classen'  und  über  f  Vorkehrungen'  und  Abhülfen'  gesagt  ist.  —  Wir 
schlieszen  hiermit  unser  kurzes  Keferat  über  eine  Schrift ,  die  aufs 
neue  beweist,  mit  welch  rühmlichem  und  weisem  Eifer  die  8taatsregie- 
rang  in  Sachsen  die  Pflege  der  Volksbildung  fördert  und  leitet. 


II. 

hi  neugriechische  Sprache  und  die  Verwandtschaft  der  griechischen 
Sprache  mit  der  deutschen  (,)  von  Dr.  H.  K.  Brandes,  Lemgo 
und  Detmold,  Meyersche  Hofbuchhandlung.    1862.    25  Ngr. 

Der  Verfasser,  Professor  und  Rector  des  Gymnasiums  zu  Lemgo, 
wird  den  Lesern  wol  nicht  ganz  unbekannt  sein,  da  er  alljährlich  seit 
längerer  Zeit  Reisen  zu  machen  gewohnt  ist,  welche  er  sodann  regel- 
mä8zig  für  das  Publicum  beschreibt  und  veröffentlicht.  So  war  er  auch 
im  Jahre  1860  in  Griechenland,  und  wahrscheinlich  ist  diese  Reise, 
deren  Beschreibung  seiner  Zeit  ebenfalls  im  Druck  erschienen  ist,  die 
besondere  Veranlassung  für  ihn  zu  ernsterer  Beschäftigung  mit  der  neu- 
griechischen Sprache  und  teilweise  zu  der  vorliegenden  Schrift  selbst 
geworden.  Er  spricht  sich  darüber  nicht  weiter  aus,  und  namentlich 
sagt  er  in  Ansehung  des  mit  der  neugriechischen  Sprache  sich  beschäf- 
tigenden Teiles  seiner  Schrift  nichts  von,  seiner  eigentlichen  Absiebt 
und  von  den  Zwecken,  die  ihn  dabei  geleitet  haben.  Dasz  die  vorlie- 
gende Schrift  in  zwei  Teile  zerfällt,  ersieht  man  schon  aus  dem  Titel. 
Vom  zweiten  Teile,  der  fdie  Verwandtschaft  der  griechischen  Sprache 
mit  der  deutschen'  zum  Gegenstand  hat  (S.  79 — 240),  bemerkt  der  Verf. 
geradezn,  dasz  er  diese  Blätter  r nicht  für  gelehrte  Sprachforscher,  die 
«leren  nicht  bedürfen,  sondern  für  seine  Freunde  oder  früheren  Schüler 
bestimmt  habe,  welche  jene  Sprachen  lieben  und  gern  mit  einander  ver- 
gleichen, und  nun,  was  sie  selbst  wissen,  hier  übersichtlich  jauaammen- 
gestellt  finden'  (S.  79).  Man  kann  unter  solchen  Umständen  diesen 
Teil  der  Schrift  auf  sich  beruhen  lassen  und  hier  von  einer  weiteren 
Besprechung  desselben  ganz  absehen.  Was  dagegen  den  ersten  Teil 
anlangt,  der  mit  der  neugriechischen  Sprache  sich  beschäftigt,  kü  mag 
man  zunächst  seine  Freude  darüber  nicht  unterdrücken,  dasz  ein  deut- 
scher Schulmann  und  Hellenist  es  der  Mühe  für  werth  gehalten  hat, 
der  neugriechischen  Sprache  eine  besondere  Aufmerksamkeit  eu  schen- 
ken und  sie  zu  einem  Gegenstande  seines  Studiums  zu  machen.  Solche 
Beispiele  sind  gar  selten,  und  ein  jedes  verdient  daher,  wo  man  es 
findet,   eine   ausdrückliche  Anerkennung,    also  auch  das  vorliegende. 


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118  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  J 

Für  die  Sache  selbst  würde  es  jedoch  vorteilhafter  gewesen  sein,  und 
jene  Anerkennung  würde  dann  vielleicht  auch  der  Sache  selbst  noch 
mehr  zu  gute  kommen,  wenn  der  Verfasser  zugleich  erklärt  hätte,  für 
wen  er  eigentlich  seine  Bemerkungen  über  die  neugriechische  Sprache 
bestimmt  und  wen  ur  dabei  vor  Augen  gehabt  habe,  auch,  welcher  Art 
seine  eigenen  neugriechischen  Studien  gewesen  seien,  teils  nach  Ab- 
sicht und  Zwuck,  teils  nach  den  Mitteln,  die  er  dabei  benutzt  hat  und 
die  er  dabei  bat  benutzen  können.  Was  der  Verfasser  hier  zusammen- 1 
gestellt  hat,  ist  gut  gemeint,  und  es  kann  Manchem,  der  von  der  neu- 
grlecki  ticken  Sprache  gar  Nichts  weisz  und  der  ihr  Wesen  etwas  näher 
können  zu  lernen  wünscht,  Nutzen  gewähren;  allein  es  sind  nur  flüch- 
tige und  oberflächliche  Bemerkungen  über  die  Unterschiede  zwischen 
der  alten  und  neuen  Sprache,  namentlich  in  Bezug  auf  typische  und . 
grammatische  Eigenheiten  der  letzteren,  verbunden  mit  einzelnen  Bei- 
spielen, Worten  und  Redensarten  der  neuen  Sprache.  Der  Verfasser] 
erkennt  die  letztere  mit  Kocht  im  Wesentlichen  als  dieselbe  mit  der  alt- j 
griechischen  Sprache  an,  wie  sich  auch  aus  manchen  seiner  lexikologi- ' 
sehen  und  etymologischen  Mitteilungen  klar  und  deutlich  ergibt,  aber 
er  behandelt  seinen  Gegenstand  selbst  ohne  alle  Consequenz  und  kei- 
neswegs nach  bestimmten  Grundsätzen,  nach  denen  jene  Unterschiede 
hätten  dargelegt  sein  müssen,  um  ein  möglichst  umfassendes  Bild  der 
Eigentümlichkeiten  der  neuen  Sprache  gewähren  zu  können.  Aus  dem, 
was  der  Verfasser  und  wie  er  es  gibt,  ist  abzunehmen,  dasz  er  selbst 
die  letztere,  mit  ihren  Dialekten,  keineswegs  gründlich  kennt.  Daher 
vermengt  er  die  Sprache  des  gemeinen  Volks  und  die  bessere  Aus-  j 
drucksweise  gebildeter  Griechen,  und  namentlich  lassen  die,  z.  B. * 
ß.  32  f.  und  öfter  beigebrachten  Worte  der  neugriechischen  Sprache 
zwar  erkennen ,  inwiefern  diese  letztere  von  der  altgriechischen  ver- 
schieden ist,  aber  sie  lassen  zugleich  vermuten,  dasz  der  Verfasser  nicht 
die  besten  Quellen,  sondern  z.  ß.  das  Wörterbuch  von  J.  A.  E.  Schmidt 
vorzugsweise  mit  benutzt  und  irriger  Weise  seine  eigne  Weisheit  dar- 
aus geschöpft  hat.  Die  von  ihm  S.*44  f.  gegebenen  Beispiele  und 
Proben  neugriechischer  Schriftsprache  sind  nicht  glücklich  gewählt  und 
gebün  keine  richtige  Vorstellung  von  dem,  was  diese  Sprache  wirklich 
ist.  Aber  freilich  ist  dies  auch  um  so  schwieriger,  je  mehr  die  Sprache j 
seihst  noch  unter  dem  Einflüsse  des  Bildungs-  und  Beinigungsprocessei 
steht,  den  sie  gegenwärtig  durchzumachen  hat.  Die  Grundsätze  fürs 
das  wirklich  Feststehende  im  Wesen  der  neugriechischen  Sprache  sind 
eben  so  schwer  mit  Sicherheit  aufzustellen  als  consequent  zu  beobach- 
ten, und  die  Grenze  zwischen  dem,  was  der  KOivrj  und  was  der  xvbaio. 
f\<hcca  angehört,  ist  nicht  leicht  zu  bestimmen  und  festzuhalten. 

K, 


in. 

Zur  albanesischen  Sprachfrage.*) 

Unterzeichneter  hatte  kürzlich  Gelegenheit,  eine  kleine,  italienisch 
geschriebene  Schrift;  Memoria  sulla  lingua  albanese,  di  Giuseppe  Cri- 
spi>  professore  di  Lettere  greche  nella  universita*  degli  Studi  di  Pa- 
lermo (Palermo,  1831.  76  S.)  zu  erhalten  und  zu  lesen.  Der  Verfasse^ 
derselben  ist  der  nemliche  Crispi,  der  später  auch  die  fMemorie  storiche 
di  talune  eostumanae  appartenenti  alle  colonie  greco-albanesi'  (Pa*! 
lernte,  1853)  herausgab,  und  der  zu  der  von  Leonardo  Vigo  von  Aei 
lieale  veröffentlichten  *Raccolta  di  canti  popolari  siciliani'  (Catania, 
1857)  eine  kleine  Sammlung  sicilisch- albanischer  Volkslieder  (es  sind 

*)  Vgl.  Jahrbücher  Bd.  82.  H.  6.  S.  293  f.  u.  Bd.  84.  H.  6.  S.  291  f. 

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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  119 

im  Ganzen  siebzehn  Canzonen  und  zwei  geistliche  Gesänge)  lieferte. 
Bekanntlich  wanderten  nemlich  im  15.  Jahrhunderte,  nachdem  Georg 
Castriota,  genannt  Skanderbeg,  den  Türken  unterlegen  war,  nach  des- 
sen Tode  viele  Landsleute  desselben  nach  Italien  aus,  von  denen  einige 
in  Calabrien  sich  niederlieszen ,  andere  dagegen  von  Ferdinand  dem 
Katholischen  in  Sicilien  aufgenommen  wurden.  Diese  Albanesercolo- 
nien  bestehen  in  Sicilien  noch  heutzutage.  Auszer  ihrer  Nationalsprache, 
der  albanesischen,  reden  diese  Fremdlinge  auch  griechisch,  und  der 
Ritus  dieser  albanesischen  Colonisten  ist  der  der  griechisch -orientali- 
schen Kirche.  Ihr  Bischof  residiert  in  Palermo,  und  neben  dem  Bis- 
tum besteht  dort  auch  ein  griechisches  Seminar  oder  Collegium,  woraus 
bereits  einige  namhafte  Hellenisten,  wie  der  sprachgelehrte  Bischof 
Crispi,  hervorgegangen  sind.  So  lesen  wir  bei  Ferd.  Öregorovius,  fSi- 
ciliana',  Leipzig,  1861,  S.  295  f.,  und  dieser  Crispi  ist  der  oben  ge- 
nannte, der  sich  auch  auf  der  gedachten  Schrift  von  1855  als  rvescovo 
di  Lampsaco'  bezeichnet. 

Was  die  erwähnte  S&nmlung  sicilisch  -  albancsischer  Volkslieder 
von  Crispi  anlangt,  so  sagt  letzterer  in  einer  Einleitung  dazu:  rdie  al- 
banesische  Sprache  zählt  ein  so  hohes  Alter,  dasz  man  sie  zu  den  Ur- 
sprachen rechnen  kann,  denen  sie  durch  Mechanismus  und  Laute  nahe 
kommt.  Denn;sie  ähnelt  darin  dem  Chaldäischen  und  Hebräischen,  sie 
ist  innig  verbunden  mit  dem  Phrygischen,  Pelasgischen,  dem  alten  Ma- 
cedonisch  und  dem  primitiven  Aeolisch.  Ihr  gröster  Ruhm  ist  jedoch 
der,  einer  der  ursprünglichen  Stämme  zu  sein,  auf  denen  die  göttliche 
Sprache  der  Hellenen  wuchjB'  (s.  Öregorovius  a.  a.  O.  S.  297  f.).  Zu 
der  nämlichen  Ansicht  bekannte  sich  Crispi  bereits  in  seiner  früheren 
Schrift  von  1831,  und  er  suchte  darin  nachzuweisen,  dasz  die  albane- 
sistfie  Sprache  eine  Ursprache  sei,  die  bis  zu  den  Pelasgern,  Phry- 
giern,  Macedoniern  und  ältesten  Aeoliern  zurückreiche;  dasz  sie  auch 
zum  groszen  Teile  die  Mutter  der  griechischen  Sprache  sei,  und  dasz 
auch  die  lateinische  Sprache  mit  ihr  zusammenhänge.  Besonders  für 
die  von  ihm  behauptete  Verwandtschaft  der  albanesischen  Sprache  mit 
der  griechischen  bringt  er  dort  nicht  nur  nach  geschichtlichen  Momen- 
ten, sondern  auch  in  linguistischer  Beziehung,  teils  was  Ortsbenennun- 
gen in  Macedonien,  Epirus  usw.  betrifft,  teils  insoweit  er  dafür  auf 
eine  gröszere  Anzahl  von  griechischen  Worten  Bezug  nimmt,  die  er  in 
nähere  oder  entferntere  Verbindung  mit  albanesischen  Worten  setzt,  zahl- 
reiche Nachweise  bei.  Seine  diesfallsigen  Zusammenstellungen  bestäti- 
gen einzelne  Angaben  in  der  in  den  früheren  Aufsätzen  dieser  Jahrb.  von 
mir  aus  anderen  Quellen  mitgeteilten  AeHvfpcupfct  c€AAr]voaAßaviKfV  Dasz 
dadurch  auch  manche  Ansichten,  die  Dr.  v.  Hahn  in  seinen  'Albane- 
sischen Studien9  über  die  albanesische  Sprache  ausspricht,  ebenfalls 
ihre  Bestätigung  finden,  ergibt  sich  für  sachverständige  Leser  nach 
dem  oben  Bemerkten  von  selbst. 

Ich  habe  übrigens  nur  im  Allgemeinen  auf  die  gedachte  Schrift 
Crispi*s  und  auf  die  in  ihr  enthaltenen  linguistischen  Zusammenstel- 
lungen hier  verweisen  wollen,  und  musz  es  denen,  die  diesem  Gegen- 
stande ein  besonderes  Interesse  zuwenden,  überlassen,  ihn  mit  Bezug 
auf  Crispi's  Schrift  weiter  zu  verfolgen.  Jedenfalls  verdient  sie  unter 
den  vorliegenden,  namentlich  persönlichen  Verhältnissen  auch  von  Seite 
deutscher  Sprachforscher  eine  besondere  Beachtung.  Im  Einzelnen  be- 
merke ich  nur  noch,  dasz  Crispi  in  dieser  Schrift  S.  54  den  räthsel- 
liaften  Namen  Skipetar  (oder  Scbipatär,  wie  er  ihn  schreibt),  mit  dem 
die  Albanesen  sich  selbst  benennen,  ebenfalls  mit  dem  altgriechischen 
Worte  cirfqpoc,  das  Hesychius  mit  £(<poc  erklärt,  in  Verbindung  bringt 
und  einer  Ableitung  jenes  Namens  von  diesem  Worte  nicht  entgegen 
ist,  so  dasz  also  die  Benennung:  Skipetar  oder  Schipat&r  einen  r be- 
waffneten Mann9  oder  Schwertträger'  bezeichnen  würde.  Ich  hatte 
Bd.  82.  H.  6.  S.  297  diese  Ableitung  für  die  einfachste  erklärt,  obgleich 


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Kurze  Anzeigen  und  Hlscellea. 


Crispi,  auszer  anderen  von  ihm  angeführten  Etymologien,  jet 
nOfig   auch   noch   mit  dem   griechisch  in    Worte    ck^ttt}   (i 
Htille)  in  Verbindung  bringt  und  dabei  bemerkt,    du  m  die 

aibanesischen  Helden  durch  ihre  eigentümlich  verhüllende  Tracht 
man   dabei   an   das   sogenannte  Albaneserhemd,   die  auch  hei  den  I 
tigen   Griechen    gebräuchliche    Fustanella,    sieh    erinnern   lassen?) 
den  übrigen  Nationen  sich  unterschieden  hätten,  und  dasz  sie 
—   wie  Crispi   sagt  —  f ähnlich    dem  Deukalion,    XtUKOi  Kai  CK€U 
Albani  e  velaii,  genannt  worden  seien1. 

Dr.  Theod.  Kit 


Das  Verhältnis  Wolfs  und  W.  e*  Humboldt'*  zu  Goethe  und  Sei 
von  Lothholx, 

Das   LycL-Lim   der   Stadt  Wernigerode,    dessen   Begründung 
Reformationszeit  zurück  reicht,  vgl.  Geschichte  des  Lyceums  zu 
Kallenbach,  Progr.  zur  SOOjlhrigen  Jubelfeier  1850,  hat  in  den 
Jahren   durch   die   thätige  Beihülfe   des  Grafenhauses  Stollberg-1 
gerode  und  der  Stadtgemeinde    einen  erfreulichen  Aufschwung  _ 
inen,    und   nachdem   die   Überlassen   hergestellt   und   tüchtige   Le 
kräfte  gewonnen  worden  sind,  sieb  zu  einem  vollständigen  Gyn 
erweitert  und  erhoben. 

Als  einen  Lebensaet  der  verjüngten  Anstalt  und  zugleich  des  i 
waltenden  Geistes  begrüszen  wie  das  Festprogramm  zu  dem  feierli 
Einzüge  Sr.  Erlaucht  des  regierenden  Grafen  Otto  und  der  Gr 
in  welchem  das  Lyceura  der  freudigen  Teilnahme  einen  Ausdruc 
leiht,  fweil  sich  au  das  frohe  Ereignis  der  Vermählung  des  regte 
Grafen  neue  Hoffnungen  für  eine  glückliche  Zukunft  unserer 
liehen  Zustände  und  somit  unseres  Gymnasiums  ansehlieszen' 
wissenschaftliche  Beigabe  dieses  Festprogramms  (42  S.)  enth 
Darstellung* der  persönlichen  Verhältnisse  und  Beziehungen  Fr.  A. 1 
zu  Goethe  und  W-  v-  Mumboldt's  zu  Schüler  von  Prof.  Dr,  Lotl  " 

Wie  in  dieser  Schrift,  die  hervorgegangen  ist  aus  einer 
und  tiefen  Erkenntnis  der  allgemeinen  Bildungsmoiueiitu  und  sich  i 
auf  ein  gründliches  Studium  und  auf  geschickte  Benutzung  de 
schlagenden  literarhistorischen  Materialien,  eine  Frage  van  wa 
vaterländischem  Interesse  behandelt  wird,  so  wird  durch  sie  zug 
der  Beweis  geliefert,  wie  der  Geist  und  die  Form  des  clasHisehoTi  Alt« 
luius  einen  mächtigen  tiefwirke nden  EinMusz  auf  unsere  nationale  \ 
tur,  inabesondere  auf  die  beiden  groszen  Dichter  gehabt.  Was 
di«  Schule  in  der  Jugend  nicht  zu  Meten  vermochte ,  das  bat 
eignes  liebe  volles  Studium  und  der  wissenschaftliche-  und  freundsc 
liehe  Verkehr  mit  verwandten  Geistern  entgegengebracht.  Und 
dieses  innige  Verhältnis  des  Altertums  zu  unserer  Litteratur  l*i 
kein  Geheimnis  mehr  ist,  so  ist  es  doch  dankbar  anzuerkennen, 
dasselbe  in  seinen  spezielleren  Beziehungen  weiter  verfolg 
m entlich  auch  in  solchen  Kreisen  zur  Kenntnis  gebracht  wird, 
solchem  Zusammenhange  noch  keine  Ahnung  haben  oder  ihn  in  i 
selbstgeuügsanien  Ignoranz  für  zu  unbedeutend  erachten,  Die 
ebene  Schrüt  enthält  nicht  nur  eine  interessante  Leetiire  an  sieh 
dem  zugleich  eine  wirksame  Empfehlung  der  Gyinnaalatatudicn, 
sie  viele  Leser  finden. 

S. 


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Zweite  Abteilung. 


Seite 

7.  Der  Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien.    Von  ***    .      57—66 

8.  Was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  der  Mathematik? 

Vom  Professor  Büchner  in  Hildburghausen 66—74 

9.  Anz.  v.  -ß.  König:  Vocabulaire  syst^matique  anglais-fran- 
cais  et  guide  de  conversation  anglaise  (Oldenburg  1863). 

Von  Dr.  R.  in  P 74—79 

10.  Anz.  v.  M.  Raschke:  Proben  und  grundsäze  der  deutschen 
Schreibung    aus    fünf  Jahrhunderten  (Wien   1862).     Von 

Dr.  G.  Lange  in  Berlin 79—81 

(6.)  Bericht  über  die  Verhandlungen  der  22n  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner  in  Meiszen  vom 
29.  Septbr.  bis  2.  Octbr.  1863.  (Schlusz.)  Vom  Gymna- 
siallehrer Dr.  Vogel  in  Zwickau 81 — 115 

Kurze  Anzeigen  und  Miscellen 115 — 120 

I.  Expose'  über  einige  Fragen  des  Schulwesens  und  der  Ge- 
setzgebung (Dresden  1864).    Von  M. 115-117 

II.  Anz.  v.  H.  K.  Brandes:  die  neugriech.  Sprache  und  die 
Verwandtschaft  der  griechischen  Sprache  mit  der  deut- 
schen (Lemgo  u.  Detmold  1862).    Von  K 117—118 

III.  Zur  albanesischen  Sprachfrage.     Vom  Justizrath  Dr. 

Th.  Kind  in  Leipzig 118-120 

IV.  Das  Verhältnis  Wolfs  und  W.  Humboldts  von  Lothholz. 

Von  —  ck  in  S 120 


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Leipzig, 

Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teabner. 
1864. 


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Zweite  Abteilung: 

f ör  Gymnasialpldagogik  and  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Auß8chlu8z  der  classischen  Philologie, 
heraasgegetai  tm  Prefesser  Dr.  lerHin  Maiins. 


11. 

Ueber  Versetzungen. 


In  einigen  preuszischen  Provinzen  treten  auf  Veranlassung  der  Be- 
hörden von  3  zu  3  Jahren  Directorenconferenzen  zusammen,  um  Ansichten 
und  Erfahrungen  auszutauschen  über  Themata ,  die  dazu  in  der  vorher- 
gegangenen Versammlung  bestimmt  sind.  Unter  solchen  augenblicklich 
vorliegenden  Fragen  sind  einige  Ober  die  Versetzungen  von  so  allge- 
meinem Interesse,  dasz  auch  eine  öffentliche  Besprechung  derselben 
angemessen  erscheint. 

'Wie  wird  der  Kenntnisstand  der  zu  versetzenden  Schüler  am  zweck- 
mäßigsten ermittelt?  Durch  schriftliche  und  mündliche  Versetzungs- 
prüfungen? Und  wie  werden  solche  am  besten  abgehalten?' 

Ob  schriftliche  4ind  mündliche  Versetzungsprüfungen  notwendig  sind, 
kann  wol  kaum  noch  fraglich  erscheinen.  Dasz  die  Lehrer  zusammen« 
treten,  und  nach  ihrer  souverainen  Kenntnis  der  Schüler  frischweg  ab- 
stimmen, halte  ich  für  völlig  abwegig.  Die  gröszte  Objectivität  ist  als 
Grundlage  nicht  dringend  genug  zu  wünschen.  Dabei  lege  ich  wenig 
Gewicht  auf  die  thörichten  Vorstellungen  der  Eltern  und  Schüler  über 
Gunst  oder  Ungunst  der  Lehrer,  obwol  es  mindestens  überflüssig  ist, 
dergleichen  Vorstellungen  durch  ein  völlig  subjectives  Verfahren  zu  näh- 
ren und  zu  stärken.  Herr  X.  besteht  darauf,  dasz  sein  Sohn  Privatstunden 
bei  dem  Glassenlehrer  erhalte ,  denn  er  hat  einen  unverwüstlichen  -Glau- 
ben an  eine  gewisse  magische  Wirkung  dieser  Stunden.  —  Herr  Y. ,  der 
in  Anerkennung  des  schweren  Berufes  und  in  Dankbarkeit  gegen  die 
Lehrer  seiner  Söhne  sehr  wortreich  ist,  ladet  die  Herren  cdann  und  wann9 
zu  kleinen  diners  fins  ein;  aber  stets  einzeln,  damit  die  Absicht  nicht 
verstimme.  Sonderbari  das  Mann  und  wann9  fällt  immer  in  das  letzte 
Quartal,  und  die  Erkundigung,  wie's  denn  mit  Paulchen  stehe,  erfolgt 

5.  Jahrb.  f.  Phfl.  u.  Päd.  II.  Abt.  13*4.  Hft.  3.  9 


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122  Ueber  Versetzungen. 

stets  nach  dem  Champagner.  —  Nun,  die  Lehrer  erfreun  sich  in  unseren 
Tagen  solcher  Achtung  unter  ihren  Mitbürgern,  dasz  kein  Verständiger 
sie  für  dergleichen  Manöver  zugänglich  wähnt.  Und  was  durchgefallene 
Schüler  sich  und  den  Ihrigen  zum  Tröste  als  mitwirkende  Ursachen  ihres 
Unglücks  oder  der  Beförderung  Anderer  vorgeben,  mag  immerhin,  auch 
wo  die  Eltern  es  zu  glauben  geneigt  sind ,  auf  sich  beruhn  bleiben. 

Aber  auch  ganz  abgesehen  von  derlei  Dingen  bin  ich  selbst  der  Mei- 
nung, das*  das  Urteil  der  Lehrer  vielfach  unsicher  und  nichts  weniger 
als  unbefangen  ist.  —Mancher  ist  in  der  Disciplin  nicht  so  ganz  muster- 
gültig. Er  hat  seine  liebe  Not  mit  den  Quartanern  und  Tertianern;  gerade 
die  lebhaften  und  fähigen ,  nicht  die  stillen  und  dummen  machen  ihm  zu 
schaffen.  Mag  er  auch  noch  so  gerecht  sein  wollen,  es  liegt  einmal  in 
.  der  Natur  der  Dinge ,  dasz  er  seinen  'wolgesitteten  Knaben'  mehr  Kennt- 
nisse, den  'rohen  Burschen'  dagegen  mehr  Mängel  zutraut,  als  wahr  ist. 
Denn  dasz  einer  unaufmerksam  und  keck  ist,  und  dennoch  etwas  wissen 
oder  lernen  sollte,  hält  mancher  für  ganz  paradox.  —  Ein  andrer  gibt 
Privatstunden.  Ich  bin  ein  ganz  entschiedner  Gegner  aller  Privatstunden 
in  Objecten ,  die  in  der  Schule  gelehrt  werden.  Denn  was  die  Schüler  an 
positivem  Wissen  erreichen,  büszensie  gewöhnlich  an  Selbständigkeit 
ein.  Das  Uebel  ist  indessen  nicht  ganz  zu  beseitigen ,  und  wer  einmal 
Privätstunden  erhalten  soll ,  wird  sie  am  zweckmäszigsten  bei  dem  Glas- 
senlehrer  nehmen.  Dieser  wird  nun  meinen  —  denn  prona  venit  cupidis 
in  sua  vota  fides  —  den  Schüler  so  bedeutend  gefördert  zu  haben,  zumal 
er  auch  in  der  Classe  stets  aufmerksam  war,  dasz  er  reif  sei.  Oder  aber, 
er  wird  in  den  Privatstunden  erst  recht  gesehen  haTben ,  wie  schwach  der 
Schüler  ist ;  er  wird  ihn  ungünstiger  beurteilen ,  als  die  ihm  objectiv 
gleichstehenden  Mitschüler,  da  deren  Mängel  ihm  nicht  so  klar  sind;  er 
mag  sich  auch  besonders  hüten,  seinen  Privatschüler  nicht  zu  günstig 
zu  censieren,  und  so  geht  nach  dieser  Seite  hin  die  Unbefangenheit 
verloren.  —  Die  Lehrer  sind  ferner  geneigt,  nach  ihrem  Fache  einseitig 
zu  urteilen ,  und  schätzen  das  Gewicht  gering ,  welches  die  übrigen  Ge- 
genstände in  die  Wagschale  werfen.  -  Denn  die  guten  oder  schlechten 
Leistungen  liegen  ihnen  ja  nicht  vor,  und  was  College  X.  unter  reif  oder 
unreif  in  seinem  Fache  versteht,  können  sie  schlechterdings  nicht  wissen: 
der  Grad  der  Reife  oder  Unreife  entzieht  sich  ihrer  Beurteilung  durchaus. 
—  Den  Sohn  meines  Freundes ,  zumal  wenn  ich  ihn  auch  auszerhalb  der 
Schule  als  einen  fähigen  Knaben  kenne,  werde  ich  geneigt  sein,  gunsti- 
ger zu  beurteilen.  —  Es  kommt  auch  vor ,  dasz  man  meint :  Der  Junge 
versteht  nichts  von  4er  Mathematik ,  d  e  n  n  er  ist  aus  der  Familie  Muller. 
Zufällig  war  im  cpncreten  Falle  des  Unglücklichen  Stiefmutter  eine  ge- 
borne  Müller.  —  Kurz,  man  wird  zugeben,  dasz  das  subjective  Urteil 
der  Lehrer  auf  mannichfache  Weise  befangen  sein  kann.  Auch  darf  man 
die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen  erachten,  dasz  Zweifel  an  der  Urteils- 
kraft Rieses  oder  jenes  herzensguten  Coliegen  nicht  gerade  aus  der  Luft 
gegriffen  seien,  sondern  so  zu  sagen  in  der  Luft  zu  liegen  scheinen. 

Meine  Ansieht  ist  demnach,  dasz  das  subjective  Urteil  sich  nur  neben 
objectiv  vorliegenden  Leistungen  geltend  machen  darf.    Dabei  behält  es 


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Ueber  Versetzungen.  123 

immer  noch  eine  grosze  Bedeutung;  aber  einmal  hat  es  für  sich  ein 
Correctiv  in  der  vorliegenden  Arbeit,  und  zweitens  gewinnen  die  übrigen 
Lehrer  einen  concreten  Anhalt.  —  Nun  ist  freilich  nicht  zu  bestreiten, 
dasz  die  Prüfungsarbeit  erheblich  schlechter  ausfallen  kann,  als  die  wirk* 
liehen  Kenntnisse  des  Schülers  es  bedingen.  Da  kann  denn  der  Lehrer 
sein  Urteil  dazu  geben  und  bemerken ,  dasz  die  sonstigen  Arbeiten  besser 
gewesen  seien ;  er  kann  das  durch  Angabe  der  Censur  und  Fehlerzahl 
näher  begründen.  Dabei  würde  ich  indessen  die  häuslichen  Arbeiten  nicht 
zulassen;  denn  was  darin  an  Abschreiben,  Helfenlassen,  Vorübersetzen 
und  Vergleichen  vorgeht,  übersteigt  die  Fassungskraft  manches  sehr  ge- 
lehrten und  woldenkenden  Lehrers.  Ich  würde  die  Censur  aller  in  der 
Glasse  unter  Aufsicht  angefertigten  Arbeiten  in  tabellarischer  Uebersicht 
der  ganzen  Abteilung  vorgelegt  wünschen  zur  Begründung  des  von  der 
Examenarbeit  abweichenden  Urteils.  Sodann  hat  der  Fachlehrer  noch  im 
mündlichen  Examen  Gelegenheit,  die  latenten  Kenntnisse  seines  dienten 
zur  Erscheinung  zu  bringen.  Gelingt  auch  das  nicht,  und  ist  derselbe 
auch  in  andern  Objecten  schwach,  so  ist  mein  ceterum  censeo,  er  falle 
durch.  Ist  ja  doch  erfahrungsmäszig  nicht  das  die  Sorge,  dasz  reife 
Schüler  durch  die  Lehrer  zurückgehalten  werden,  sondern  weit  öfter  ver- 
greift man  sich  im  Gegenteil.  —  Hat  aber  ein  Schüler  unter  strenger 
Aufsicht  gut  gearbeitet,  und  der  Lehrer  hält  die  Leistung  seinen  sonsti- 
gen Kenntnissen  nicht  für  adäquat,  nun  so  sehe  ich  wenigstens,  was 
der  Schüler  leisten  kann,  und  lasse  Brutus  einen  ehrenwerten  Mann  sein. 

Zu  dem  schriftlichen  und  mündlichen  Examen  sind. alle  zuzulassen, 
welche  in  der  Glasse  die  vorgeschriebene  Zeit  zugebracht  haben.  Bei 
anderweitig  vorgebildeten  Schülern  ist  diese  Forderung  des  absolvirten 
Cursus  nicht  zu  machen.  Der  Rath,  zurückzutreten,  kann  zwar  erteilt 
werden,  ist  aber  nicht  verbindlich.  Denn  einerseits  kommt  es  vor,  dasz 
eine  Versetzung  dennoch  stattfindet;  andrerseits  ist  es  dem  Schüler  oft 
von  wesentlichem  Nutzen ,  eine  solche  Probe  seiner  Leistungen  mitzu- 
machen. Und  dasz  es  weniger  ehrenrührig  sei ,  zurückzutreten  als  durch- 
zufallen, das  beruht  zum  gröszten  Teil  auf  optischer  Täuschung. 

Schriftliche  Arbeiten  sind  anzufertigen  in  allen  Sprachen  und  in  der 
Mathematik  (auf  Realschulen  auch  in  Physik  und  Chemie) ,  und  zwar  nicht 
von  der  gesamten  Ciasse,  da  dann  das  Absehreiben  nicht  zu  hindern  ist. 
In  vollen  Classen  kann  der  Schüler  es  kaum  vermeiden,  den  Text  seines 
Nebenmanns  dann  und  waun  zu  sehn ;  viele  sehn  auf  den  ihres  Vorder- 
manns; dasz  sie  ihn  nicht  sehn  wollen,  und  über  solchen  Betrug  sitt- 
lich erhaben  sind,  ist  reine  Mythe.  Siehe  die  verschärften  Bestimmungen 
über  Täuschungen  beim  Abiturientenexamen. 

Sind  die  Arbeiten  corrigiert  und  jedes  Fach  für  sich  geordnet,  so 
werden  die  Rangnummern  jedes  Schülers  in  den  einzelnen  Fächern  addiert, 
und  nach  dieser  Summe  die  Generalordnung  gemacht  A.  ist  in  einem 
Fache  der  2e,  im  zweiten  der  4e,  im  dritten  der  6e,  im  vierten  der  le, 
im  fünften  der  de;  seine  Gesamtziffer  ist  16;  B.  hat  die  Nummern  1,  7,  5, 
2, 4  also  Summa  19;  C.  dagegen  5, 1, 1, 3, 2  also  Summa  12.  Die  General- 
ordnung ist  also  C,  A.,  B.    Das  ist  das  relativ  zuverlässigste  Verfahren» 

9* 


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124  Ueber  Versetzungen. 

Dabei  gibt  nicht  blosz  die  Reibenfolge,  sondern  aucb  die  Differenz  der 
Gesamtziffer  mit  der  der  Nachbarn  einen  Anhalt;  sehr  häufig  ist  beispiels- 
halber zwischen  dem  lOn  und  lln  Schüler  ein  so  groszer  Sprung  in  der 
Gesamtziffer,  dasz  klar  hervortritt,  die  10  ersten  seien  reif,  die  folgen- 
den unreif. 

Die  mundliche  Prüfung  hat  nun  für  Lehrer  und  Schüler  den  Zweck, 
das  in  der  Generalordnung  zu  Tage  getretene  Urteil  zu  bestätigen  oder 
zu  modificieren.  Der  Schüler,  welcher  schlechter  gearbeitet  hat,  als  ihm 
zugetraut  ward,  hat  Gelegenheit,  sich  besser  zu  zeigen;  ein  anderer 
macht  das  etwa  schwankende  Urteil  durch  schlechte  Antworten  zu  einem 
negativen.  Die  Prüfung  hat  sich  auch  auf  Geschichte  und  Geographie  zu 
erstrecken ,  damit  besondere  Leistungen  oder  besondere  Mängel  in  diesem 
Fache  berücksichtigt  werden  können.  —  Die  absolut  reifen  Schüler  sind 
nur  gelegentlich  zu  fragen,  die  absolut  unreifen  nur  in  so  weit,  als  ihnen 
Gelegenheit  zu  geben  ist,  zu  zeigen  und  zu  sehn,  dasz  auch  die  münd- 
lichen Leistungen  ungenügend  sind.  Es  handelt  sich  vorwiegend  um  die 
miltelmäszigen.  —  Die  Gegenwart  sämtlicher  stimmender  Lehrer  ist 
selbstverständlich.  Vor  der  Abstimmung  ist  dasjenige  zur  Geltung  zu 
bringen,  was  in  Betreff  der  Anlagen,  des  Fleiszes,  der  sittlichen  Führung 
oder  des  Alters  etwa  zu  berücksichtigen  sein  möchte.  Darüber  handelt 
die  folgende  Frage.  —  Bei  der  Bekanntmachung  der  Versetzung,  die 
nicht  beim  öffentlichen  Examen,  sondern  intra  parietes  bei  der  Gensur 
stattzufinden  hat,  würde  ich  stets  offen  aussprechen,  was  in  zweifelhaften 
Fällen  hierhin  oder  dorthin  den  Ausschlag  gegeben  hat,  und  überhaupt 
die  ganze  Sache  möglichst  wenig  in  den  Nimbus  geheimnisvollen  Weis- 
lums  hüllen. 

*in  welchem  Verhältnisse  zu  einander  sind  die  verschiedenen  Unter- 
richtszweige bei  der  Versetzung  zu  berücksichtigen?  In  welchem 
Masze  etwa  auch  das  Lebens-  und  Classenalter,  der  bewiesene  Fleisz, 
die  sittliche  Führung  und  die  geistigen  Anlagen  der  Schüler?'    * 

Diejenigen  Unterrichtszweige  fallen  bedeutend  mehr  ins  Gewicht,  welche 
die  Entwicklung  des  Geistes  zeigen,  als  diejenigen,  welche  in  einem 
bloszen  Aggregate  von  Kenntnissen  bestehn ;  einmal ,  weil  die  Leistungen 
schwieriger  sind  und  also  die  Reife  wichtiger;  sodann,  weil  das  Fort- 
kommen in  der  folgenden  Classe  von  den  Kenntnissen  bei  der  Aufnahme 
weit  mehr  abhängig  ist.  Ob  also  einer  Naturgeschichte  oder  Geographie 
weisz ,  ist  ziemlich  gleichgültig ;  selbst  die  Geschichte  ist  bis  zur  Ver- 
setzung nach  Prima  so  wesentlich  nicht,  und  es  sind  also,  wie  bereits 
bemerkt,  nur  besondere  Leistungen  oder  besondere  Mängel  darin  zu 
berücksichtigen.  Die  Sprachen  aber ,  und  —  man  wird  die  Unbefangen- 
heit des  Philologen  anerkennen  —  in  höherem  Masze  noch  die  Mathema- 
tik, sind  das  Entscheidende.  Wer  den  Gursus  in  dieser  Wissenschaft 
nicht  absolviert  hat,  ist  in  der  folgenden  Classe  meislhin  völlig  unbrauch- 
bar. Jede  Nachsicht  straft  sich  nirgend  härter  als  hier.  Ist  erst  irgendwo 
eine  Lücke  entstanden,  so  verliert  der  Schüler  jede  Lust,  und  bekennt 
sich  alsbald  zu  dem  leider  so  weit  verbreiteten  Aberglauben,  er  habe 


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Ueber  Versetzungen.  135 

kein  Talent  für  Mathematik.  Wollte  man  nur  an  die  Thflr  von  Tertia 
schreiben:  *AY€UJji£rpr)TOC  fir)bclc  eidrui,  also  dasz  absolut  Niemand 
hineinversetzt  würde,  der  den  Gursus  der  Mathematik  in  Quarta  nicht 
völlig  absolviert  hätte,  und  darin  mit  Strenge  fortfahren,  so  würden  Lust, 
Talent  und  Leistungen  erheblich  gefördert  werden.  Dazu  ist  aber  not- 
wendig, dasz  die  Gurse  beschränkt  werden  und  immer  und  immer  repe- 
tiert wird.  Legt  man  die  Gleichheit  der  Figuren  nach  Tertia,  die  Aehn- 
lichkeit  nach  Secunda ,  beschränkt  die  sphärische  Trigonometrie  auf  ein 
Minimum,  nimmt  von  den  Kegelschnitten  nur  die  Hauptsätze,  von  den 
Gleichungen  dritten  Grades  nur  die  Cardanische  Regel,  begnügt  sich  bei 
den  diophantischen  Gleichungen  mit  wenigen  Beispielen,  schlieszt  die 
höheren  Reihen  aus  und  überläszt  es  dem  Lehrer,  Einzelne,  die  Neigung 
oder  künftiges  Studium  dazu  treibt,  privatim  weiter  zu  führen,  so  wür- 
den sich  die  Leistungen  schon  bessern.  Und  wenn  durch  solche  Be- 
schränkung zu  fortwährendem  Repetieren  Zeit  gewonnen  ist,  währenddes 
diejenigen,  die  bereits  sicher  sind,  durch  Gonstructionsaufgaben  und 
Rechnungen  geübt  würden,  wenn  dadurch  ermöglicht  wird,  zufällig  ent- 
standene Lücken  auszufüllen ,  und  Strenge  bei  der  Versetzung  zu  ange- 
strengtem Fleisze  nötigt:  daran  würde  das  Vorurteil,  als  sei  zu  dem  Gur- 
sus der  Schule  ein  besonderes  Talent  erforderlich,  gar  bald  schwinden. 
—  Aber  ach ,  quanto  cogor  meminisse  dolore ,  man  thut  das  gerade  Ge- 
genteil! Man  will  dies  bequeme  Vorurteil  officiell  sanctionieren ;  man 
wirft  das  Gewehr  in  den  Graben  und  gesteht:  Es  läszt  sich  nicht  errei- 
chen! —  Da  nemlich  die  Beobachtung  gemacht  ist,  dasz  die  Leistungen 
der  Primaner  in  der  Mathematik  und  auch  in  den  alten  Sprachen  ab- 
nehmen, so  ist  der  Vorschlag  gemacht  worden,  die  Einen  in  der  Ma- 
thematik, die  Andern  in  der  classiscben  Philologie  weiter  als  bisher 
zu  führen ,  und  dafür  die  Anforderungen  in  dem  andern  Fache  zu  ermä- 
szigen.  Das  soll  erreicht  werden  durch  Extracurse.  Man  beginnt  also 
die  Besserung  oben 4  obwol  es  doch  handgreiflich  ist,  dasz  der  Fehler 
unten  und  in  der  Mitte  liegt;  man  streut  so  zu  sagen  Guano  auf  die 
Aehren.  Und  die  Sünde  gegen  das  Talent,  das  in  den  alten  Sprachen  und 
in  der  Mathematik  etwas  Gutes  leisten  könnte?  Und  die  noch  grössere 
Sünde  gegen  diejenigen ,  die  in  beiden  mittelgut  sind ,  und  nunmehr  die 
bange  Wahl  haben ,  in  welchem  Fache  sie  sich  zu  Helden  stempeln  lassen 
sollen?  Denn  wenn  man  auch  beide  Gurse  als  nicht  obligatorisch  be- 
zeichnet, so  ist  doch  klar,  dasz  zu  den  ausgesprochenen  Mittelmäszigen, 
dem  Sumpfe ,  Niemand  wird  gehören  wollen. 

Dieser  Vorschlag  erscheint  mir  dem  Ohrwurm  ähnlich,  der,  in  den 
Kern  sich  einbohrend ,  den  Pfirsich  in  zwei  äuszerlich  hübsch  röthlich 
scheinende,  aber  teils  nolreife,  teils  unreife  Hälften  auseinandersprengt. 
Er  verletzt  das  Princip  der  Gymnasien  nicht  unerheblich  und  erregt  die 
gewichtigsten  Bedenken;  ich  kann  indessen  heute  nicht  weiter  darauf 
eingehn. 

Meine  Meinung  ist  also ,  dasz  bei  der  Versetzung  das  Hauptgewicht 
aufSprachen  und  Mathematik  gelegt  werden  soll,  und  dasz  die  in  der 
Mathematik  herkömmliche  sträfliche  Nachsicht ,  zu  der  die  Nichtmathema- 


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126  Ueber  Versetzungen. 

tiker  in  Erinnerung  eigner  Leiden  nur  allzu  geneigt  sind,  durchaus  ge- 
hemmt werde.  Dasz  unter  den  Sprachen  die  lateinische  Grammatik  das 
Wichtigste  ist,  halte  ich  für  selbstverständlich.  Auch  leistet  ja,  wer 
darin  gut  ist,  meisthin  auch  in  den  andern  Sprachen  Gutes,  es  sei  denn, 
dasz  er  die  eine  oder  die  andere  später  angefangen  hätte. 

Die  Frage,  oh  Lebens-  und  Classenalter,  der  bewiesene  Fleisz,  die 
sittliche  Fuhrung  und  die  geistigen  Anlagen  bei  der  Versetzung  zu  be- 
rücksichtigen seien ,  musz  entschieden  bejaht  werden.  Da  sich  einmal  der 
Grad  der  Reife  nicht  alkoholometrisch  bestimmen  läszt,  so  wird  eine  Be- 
rücksichtigung der  Persönlichkeit  des  Schülers  von  Seiten  der  Lehrer 
doch  stets  Platz  greifen ,  und  liesze  sich  auch  gar  nicht  wegdecretieren. 
Der  Lehrer,  der  selbst  gute  Anlagen  hat,  wird  stets  den  talentvollen  und 
faulen,  derjenige,  der  sich  selbst  mühsam  sein  Wissen  erworben  bat, 
den  fleiszigen  aber  talentlosen  milder  zu  beurteilen  geneigt  sein.  Es 
kommt  aber  auf  das  Masz  an ,  in  welchem  solche  Berücksichtigung  sich 
zu  halten  hat« 

Das  Lebens-  und  Classenalter  ist  am  wenigsten  bestimmend; 
denn  ohne  Fleisz  kann  es  natürlich  als  ein  Grund  zur  Versetzung  nie 
angesehn  werden;  in  Verbindung  mit  guten  Anlagen  kommt  es  aber  eben 
nicht  vor.  Es  wird  also  nur  selten  irgendwie  Einflusz  haben;  vielmehr 
erweist  sich  das  Mitleid  gegen  dergleichen  falte  Knaben'  erfahrungs- 
mäszig  als  ein  schlecht  angewendetes;  für  diese  selbst  und  für  die  Anstalt 
ist  es  wünschenswert,  dasz  die  Classen  strenger,  als  bisher,  durch  Ent- 
fernung solcher  Veteranen  gesäubert  werden.  Ihr  Einflusz  auf  den  Tod 
der  Giasse  und  den  kindlichen  Sinn  ist  verderblicher,  als  man  gewöhn- 
lich meint.  —  Zu  grosse  Jugend  ist  allerdings  ein  Hindernis  der  Ver- 
setzung ;  entweder  isL  der  Knabe  dabei  kindisch  und  entbehrt  der  nötigen 
Reife  des  Gbaraclers,  oder  er  ist  altklug  und  gehört  zu  der  erschreck- 
lichen Sorte  der  Wunderkinder,  die  man  nicht  noch  mehr  treiben  darf. 

Mit  dem  bewiesenen  Fieisze  ist  es  eine  eigne  Sache.  Von  Seiten 
der  Logik  läszt  sich  niehts  gegen  die  Behauptung  sagen ,  dasz  der  Schü- 
ler, der  trotz  alles  seines  Fleiszes  das  Ziel  nicht  erreicht  hat,  doch  erst 
recht  nicht  reif  sei.  Auf  der  andern  Seite  ist  nicht  zu  verkennen,  dasz 
eine  gewisse  Garantie  für  die  Zukuuft  gegeben  ist,  und  das  ist  der  einzige 
Gesichtspunkt,  aus  dem  der  Fleisz  berücksichtigt  werden  darf.  Aber  je 
weiter  hinauf,  desto  mehr  gilt,  so  hart  es  auch  klingt,  das  stoische 
f misericordia  commotus  ne  sis' ;  denn  der  heruntergekommene  Gandidat 
der  Theologie  hatte  ganz  Recht,  als  er  sagte,  an  seinem  Unglück  seien 
niehl  diejenigen  schuld,  die  ihn  im  2n  Examen  hätten  durchfallen  lassen, 
sondern  diejenigen,  die  ihm  durch  das  Abiturientenexamen  und  das  erste 
theologische  geholfen  hätten. 

Einen  talentvollen  Schüler  sitzen  zu  lassen,  weil  er  etwas  faul  ge- 
wesen, ist  häufig  sehr  unrecht.  Die  Leistungen ,  und  mithin  die  Reife, 
sind  im  Ganzen  und  Groszen  ein  Product  aus  Anlagen  und  Fleisz;  der 
Fleisz  ist  der  Goefficient  der  unbekannten  Grösze;  freilich,  wenn  ein 
Factor  gleich  0  4st,  so  ist  auch  das  Product  gleich  0.  Aber  der  Fleisz 
kann  zunehmen,  die  Anlagen  sind  im  Ganzen  constant,  und  je  höher  hin- 


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Ueber  Versetzungen.  127 

auf,  desto  entscheidender  werden  sie.  Wenn  zwei  Morgen  Acker  mittel« 
mäszige  Gerste  getragen  haben,  und  der  Landmann  wollte  den  einen,  der 
Weizenboden  ist ,  zur  Strafe  wieder  mit  Gerste ,  den  andern ,  der  Gersten- 
boden ist,  zur  Anerkennung  mit  Weizen  besäen,  so  handelt  er  thöricht. 
Dasz  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der  Fleisz  die  Anlagen  ersetzen  kann, 
ist  dabei  natürlich  nicht  bestritten,  und  einige  Ausgleichung  Hegt  darin, 
dasz  die  fähigsten  auf  der  Schule  äuszerst  selten  zugleich  $ie  fleiszigsten 
sind.  Die  Lehrer,  die  beides  vereint  zu  finden  meinen,  sind  sehr  häufig 
in  einer  Täuschung  befangen,  die  sich  gewöhnlich  auf  den  Fleisz,  mit- 
unter auch  auf  die  Anlagen  bezieht.  Es  liegt  nun  aber  in  der  mensch- 
lichen Natur ,  die  Leistungen  nicht  rein  objectiv  gelten  zu  lassen ,  sondern 
belohnend  oder  strafend  einzugreifen,  und  es  waltet  darin  ein  sittlich 
ernstes  Gefühl  der  Gerechtigkeit ;  aber  diese  Gerechtigkeit  ist  eine  mensch- 
liche, die  Ungleichheit  der  Anlagen  stammt  von  Gott,  und  es  geziemt  sich 
woi,  des  Weinbergs  zu  gedenken.  In  der  letzten  Zeit  pflegt  ja  Jeder,  der 
auf  Versetzung  hofft,  fleiszig  zu  sein;  dasz  das  mit  derselben  notwendig 
wieder  aufhöre,  ist  nicht  ausgemacht.  Zwar  vermeinen  die  Lehrer  oft, 
sie  könnten  die  Beförderung  des  Talentes  bei  mangelhaftem  Fleisze  vor 
den  Schülern  nicht  verantworten;  diese  aber  sehn  keineswegs  eine  Un- 
gerechtigkeit darin;  ihre  Rede  ist:   cJa,  dem  wird  es  auch  so  leicht.' 

Mit  dieser  Erörterung  will  ich  durchaus  nicht  ausgeschlossen  wissen, 
dasz  im  gegebenen  Falle  der  faule  Schüler  trotz .  seines  Talentes  durch- 
falle, der  fleiszige  trotz  seiner  Mängel  befördert  werde,  sondern  nur  dar- 
auf hinweisen ,  dasz  Belohnung  und  Strafe  kein  Hauptmoment  bei  der 
Versetzung  sind.  —  Im  geraden  Gegensatze  dazu  steht  es ,  dasz  man  ge- 
rade da,  wo  die  Anlagen  gar  nichts  gelten  sollten,  sie  über  alle  Gebühr 
berücksichtigt  Medaillen,  Prämien  und  Auszeichnungen,  die  nur  dem 
Fleisze  und  der  Sittlichkeit  zu  Teil  werden  sollten,  trägt  im  Durschschnitt 
das  Talent  davon.  Durch  die  Versetzung  des  begabten  Schülers  erkenne 
ich  nur  einen  factischen  Vorzug  an :  durch  die  Auszeichnung  belohne  ich 
diesen  ganz  unverdienter  Weise. 

Die  sittliche  Führung,  so  wesentlich  sie  für  den  Werth  des 
Menschen  ist,  so  wenig  kann  sie  an  und  für  sich  ein  Moment  für  die 
Versetzung  abgeben.  Ist  darunter  sittlicher  Ernst  verbunden  mit  stetem 
Fleisze  gemeint ,  nun  so  verdient  sie  Berücksichtigung ;  Unreife  des  Cha- 
racters  und  moralische  Mängel  dagegen  können  ein  Zurückbleiben  moti- 
vieren. Bestimmte  Principien  lassen  sich  aber  darüber  nicht  aufstellen; 
die  ernste  Erwägung  des  vorliegenden  Falles  musz  entscheiden. 

'Welche?  Anteil  steht  dem  Director  und  den  einzelnen  Lehrern  an 
der  Berathung  uud  Beschluszfassung  über  die  Versetzung  zu?' 

Alle  Lehrer  der  Classe  und  der  Director  stimmen  ab;  auch  der  in  der 
unteren  etwa  nicht  unterrichtende  Ordinarius  derjenigen  Classe ,  in  welche 
versetzt  werden  soll.  Absolute  Majorität  entscheidet;  bei  gleichen  Stimmen 
gibt  diejenige  des  Directors  den  Ausschlag.  Dasz  dabei  Jeder  nicht  nach. 
seinem  Fache,  sondern  nach  dem  Gesamtergebnis  abstimmt,  ist  selbst- 
verständlich. —  An  einigen  Anstalten  soll  es  Siüe  sein,  dasz  sämtliche 


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128  Die  sechs  Römeroden  des  Horaz. 

Lehrer  für  alle  (Hassen  stimmen.  Das  ist  unmotiviert  und  höchst  bedenk- 
lich. Die  Prüfling  der  Arbeiten  musz  dabei  vielfach  oberflächlich  und  das 
Urteil  über  unbekannte  Schüler  stets  schwankend  sein.  Die  Folge  ist, 
dasz  der  fremde  Lehrer  sich  nach  der  Abstimmung  dessen  richtet,  dem 
er  die  gröszere  Befähigung  zutraut,  oder  der  sich  in  der  Gouferenz  am 
besten  geltend  tu  machen  weisz.  —  Noch  bedenklicher  aber  ist  es ,  dem 
Director  allein  die  Entscheidung  zu  überlassen.  Das  macht  die  Lehrer  zu 
Nullen  neben  der  einen  Eins.  Die  Anstalt  ist  zu  bedauern,  wo  sie  dies  in 
der  That  sind;  wo  sie  es  nicht  sind,  und  dennoch  dies  Recht  geltend  ge- 
macht wird,  ist  eine  traurige  Zerfahrenheit  und  eine  künstlich  hervor- 
gerufene Opposition  gerade  der  Tüchtigeren  unter  den  Lehrern  die  not- 
wendige Folge.  Und  der  Lehrer,  der  zum  Director  erwählt  wird,  musz 
die  Vorstellung  gewinnen ,  ab  sei  über  Nacht  eine  wundersame  Erleuch- 
tung über  ihn  gekommen ,  da  er  plötzlich  aus  einem  Thyrsussehwinger 
ein  Bacchus  geworden.  Die  ungemeine  sapientia  supra  vulgus,  die  ihm 
amtlich  beigelegt  wird ,  wird  er  factisch  zu  besitzen  glauben ,  und  auch 
in  anderer  Beziehung  gellend  zu  machen  suchen.  Da  steht  denn  bei 
Manchem  zu  befürchten ,  dasz ,  mit  Shakspeare  zu  reden ,  *Gemüt  und  Amt 
einander  sich  verderben.' 

Stralsund.  Dr.  Carl  Kruse. 


12. 

Die  sechs  „Römeroden"  des  Horaz.*). 

(Bede  bei  Entlassung  der  Abiturienten.) 


Odi  profanum  volgrus  et  arceo ; 
Favete  ling-uis! 

Mit  diesen  Worten  leitete  einst  der  venusinische  Sänger  jene  grosz- 
artigen  sechs  Gedichte  ein ,  in  denen  er  der  r ö  m  i  s c h  e  n  J  u g  e  n  d  den 
Weg  vorzeichnete,  eine  bessere  Zukunft  anzubahnen.  Wie  damals,  so 
richten  sich  auch  heut  zu  Tage  die  Blicke  aller  Edlen  auf  die  Jugend, 
von  Ihr  hoffend  und  erwartend,  dasz  sie  bessere  Zeiten  heraufführen 
werde.  Von  der  jungen  Generation  hängt  ja  in  Wirklichkeit  die  Zukunft 
ab,  nicht  blosz  für  Ein,  nein,  für  mehrere  Menschenalter.  Ist  die  Ju- 
gend ,  und  namentlich  diejenige ,  welche  dereinst  auf  den  Leuchter  ge- 
stellt sein  wird,  dem  Verderbnisse  der  Zeit  verfallen,  wehe  dann  der 


*)  Der  Vf.  hat  hier  einmal  den  tiefern  Sinn  der  sog.  Römeroden 
und  deren  innigen  Zusammenhang  unter  einander  zur  Anschauung  zu 
bringen  gesucht,  sodann  aber  den  Versuch  gemacht,  in  wie  weit  an- 
tikes Dichten  und  Denken  auch  für  die  Erziehung  in  der  christlichen 
Gegenwart  heilsamer  und  fruchtbarer,  als  gewöhnlich  geschieht,  ver- 
werthet  werden  könnte.  Nur  diese  beiden  Rücksichten  bestimmten  ihn 
zur  Veröffentlichung  dieser  Entlassungsrede. 

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Die  sechs  Römeroden  des  Horaz.  129 

Zukunft  eines  Volkes!  Ist  aber  die  Jugend  aufgewachsen  und  gefestigt  in 
Weisheit  vor  Gott  und  den  Menschen,  glücklich  dann  die  kommenden 
Geschlechter! 

Sie,  theuere  Zöglinge  dieser  Anstalt,  die  Sie  jetzt  im  Begriffe 
stehen,  zu  den  höheren  Studien  überzugehen,  um  Sich  vorzubereiten  für 
Ihren  Lebensberuf,  in  dem  Sie  mehr  oder  weniger,  jeder  in  seinem  Kreise 
und  in  seiner  Weise,  in  die  Geschicke  der  Zukunft  eingreifen  werden, 
Sie  haben  unlängst  mit  vollem  Eifer  und  in  gerechter  Bewunderung  jene 
Gesänge  des  römischen  Dichters  in  Sich  aufgenommen.  Aber  ist  es  Ihrem 
Bewusztsein  auch  nahe  getreten,  dasz  alle  seine  Mahnungen,  wenn  man 
nur  die  Namen  ändert,  wie  auf  unsre  Zeit  gemacht  zu  sein  scheinen? 
Ja,  in  Wahrheit,  mutato  nomine  de  te  fabula-  narratur  kann  man  mit 
Horaz  Jedem  von  Ihnen  zurufen.  —  Was  könnte  ich  daher  in  dieser  feier- 
lichen Abschiedsstunde,  wo  Sie  der  Stätte  Lebewohl  sagen,  an  der  Jahre 
lang  Ihre  Erziehung  geleitet,  an  der  Jahre  lang  Ihr  Geist  nach  all  seinen 
Richtungen  durch  die  verschiedensten  Disciplinen  geschult,  geübt,  ent- 
wickelt wurde;  wo  Sie  namentlich  an  den  unsterblichen  Meisterwerken 
der  Griechen  und  Bömer  zu  gesundem  Geschmacke,  zur  Begeisterung 
für  alles  Schöne,  Edle,  Erhabene,  zum  Adel  der  Phantasie,  zu  richtigem 
Urteile,  zu  rascherem  Erfassen,  zu  geistiger  Klarheit  . . .  angeleitet  wur- 
den, was  könnte  ich  da  besseres  thun,  als  jene  Mahnungen  des  alten 
Römers  Ihnen  aufzufrischen  und  auf  Ihre  gegenwärtige  Lage  anzupassen, 
zumal  wo  ich  der  Hoffnung  lebe,  dasz  gerade  Horaz  auch  in  späteren 
Jahren  noch  oftmals  als  treuer  Freund  von  Ihnen  werde  angegangen  wer- 
den! Denn,  abgesehen  von  allen  anderen  Vorzügen,  welcher  Dichter 
beleuchtet  so  alle  Verhältnisse  des  Lebens,  wie  er;  ja,  welcher  Philo- 
soph weisz,  wie  Horaz,  für  alle  Lagen  so  bündigen  Rath  zu  erteilen,  so 
kernige  Sinnsprüche  uns  zuzurufen?  Freilich  giebt  es  auch  etliche  Sce- 
aen,  von  denen  leider  Quintilian's  Wort  gilt,  wenn  er  sagt,  er  möge 
nicht  an  allen  Stellen  den  Horaz  erklären.  Aber  lassen  wir  ihn  deshalb 
uns  nicht  verleiden ;  noch  werfen  wir  darum  einen  Stein  auf  ihn !  Sicher- 
lich steht  er,  dem  die  Sonne  der  Offenbarung  nicht  leuchtete,  den  der 
Strahl  der  Gnade  nicht  erwärmte,  entschuldigter  da,  als  jene  Dichter 
christlicher  Zeit,  die,  obwol  dem  Namen  nach  Christen ,  in  ihren  Werken 
sinnlicher,  verführerischer,  heidnischer  sind,  als  die  Heiden  selbst, 
-  entschuldigter  auch,  als  jene  Männer,  die  da  Worte  der  heiligen  Re- 
ligion, Worte  der  Gottesfurcht,  Worte  der  Herzensreinheit  im  Munde 
führen  und  lehren ,  aber  im  Geheimen  das  treiben ,  was  der  heiduische 
Dichter  vielleicht  nur  zum  Spiel  in  Versen  verwandt,  aber  weder  im 
offenen  noch  im  geheimen  Wandel  in  Ausführung  gebracht  hat.  Doch, 
wie  dem  auch  sei ,  pflücken  wir  im  Garten  der  horazischen  Poesie  die 
nährenden  und  stärkenden  Früchte,  und  lassen  und  fliehen  wir  die  gifti- 
gen! —  Wenn  Sie  demnach  in  späterer  Zeit  die  herrlichen  Gedichte  des 
Horaz  wieder  und  wieder  zur  Hand  nehmen ,  mögen  Sie  dann  jedesmal 
Sich  dieser  festlichen  Stunde  erinnern  und  der  guten  Vorsätze  gedenken, 
von  denen  ich  Sie  heute  warm  beseelt  wissen  möchte!  Daher  noch  Ein- 
mal: Favete  unguis! 


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130  Die  sechs  Römeroden  des  Horaz. 

Die  Zeit  des  Horaz  kannte,  wie  die  unsrige,  kein  höheres  Losungs- 
wort als  ' Geld'.  Cleld  war  der  Abgott,  dem  alles  huldigte.  €Die  Köni- 
gin Pecunia'  —  so  spottet  Horaz  in  einer  Epistel  —  Verleiht  Ansehn, 
Freude,  Geschlechtsadel,  Schönheit  und  Wohlgestalt,  ja  Beredsamkeit 
und  Anmut.'  *  Alles',  —  sagt  er  anderswo  —  Tugend,  Ruf,  Ehre,  alles 
Göttliche,  alles  Menschliche  huldigt  dem  Reich  turne;  wer  Reichtumer 
aufgehäuft,  der  wird  berühmt  sein,  wird  als  tapfer,  als  gerecht,  als  weise 
gelten,  ja  König  sein  und  was  immer  er  will.'  Demnach  wurde  die  Ar- 
mut als  Schmach,  ja  als  Laster  angerechnet:  magnum  pauperies  oppro- 
brium.  Alles  jagte  daher  dem  Reichtume  nach ;  Habsucht  war  die  ganze 
Richtung  der  Zeit. 

Was  lehrt  dagegen,*  wenn  wir  die  poetische  Fassung  abschälen, 
Horaz  in  der  ersten  seiner  sechs  Römeroden? 

cMagst  du  noch  so  hoch  stehen ,  noch  so  mächtig ,  selbst  ein  König 
sein,  du  bist  nicht  allmächtig,  bist  kein  Gott;  Zeus  herscht  auch  über  die 
Könige.  Magst  du  noch  so  grosze  Besitzungen  haben ,  von  noch  so  hohem 
Adel  und  Ruhm  sein:  du  bist  demselben  Loose  unterworfen  wie  der 
niedrigste  Erdensohn,  bist  ein  sterblicher  Mensch;  ja  im  Gegenteile,  der 
Reiche  ist  keineswegs  besser  daran ,  als  der  genügsame  Landmann  oder 
Hirt,  als  derjenige,  der  sich  begnügt  mit  dem,  was  zum  Le"beo  hinreicht: 
diesen  flieht  nicht  der  erquickende  Schlaf;  nicht  verfolgen  ihn  die  Sorgen 
all ,  die  den  Reichen  quälen ,  sei  es  dasz  der  Sturm  seine  Schiffe  zu  zer- 
trümmern, droht  y  sei  es  dasz  Schlössen  oder  Regengüsse  oder  Hagel  oder 
Frost  oder  Dürre  seine  Besitzungen  überziehen.  Noch  weniger  verfolget 
ihn  der  Ekel  der  Uebersättigung,  wie  den  blasierten  Reichen,  der  nicht 
weisz,  wo  er  mehr  Freude,  Friede  und  Ruhe  finden  soll;  den  Furcht  und 
Sorge  allüberallhin  begleiten,  mag  er  sich  Paläste  im  Meere  erbauen,  mag 
er  zu  Schiff  oder  zu  Rosz  nach  fernen  Zonen  fliehen.  Darum  weg  mit 
der  unheilvollen  Habsucht,  und  seien  wir  zufrieden  mit 
dem,  was  genugist!'  S  o  der  römische  Dichter.  Die  Anwendung  auf 
unsere  Zeit  ergibt  sich  von  selbst,  und  kann  ich  mir  füglich  ersparen. 

Im  Gefolge  des  Reichtums  aber,  der  sich  in  Rom  aufgehäuft  hatte, 
und  wiederum  zugleich  als  Grund  zu  der  immer  weiter  greifenden  Hab- 
sucht, herschte  eine  Genuszsucht,  eine  Verweichlichung,  die  ebenso 
weit  entfernt  war  von  der  natürlichen  Sittlichkeit,  wie  von  dem  alten 
Römersinne  jener  Zeiten ,  wo  es  hiesz :  Et  facere  et  pati  fortia  Romanum 
est.  Tugend  war  zum  leeren  Klange  geworden,  Treu  und  Glauben  aus 
der  Menschheit  geschwunden;  nur  rohe  Selbstsucht,  die  vor  keinem  Ver- 
brechen, vor  keiner  Schande  zurückbebte,  dafern  nur  das  Ziel  erreicht 
wurde,  bestimmte  das  Thun  der  Menschen;  Gemeinsinn  und  Vaterlands- 
liebe vollends  waren  längst  unbekannte  Dinge  geworden.  Und  ist  es  in 
unseren  Tagen  viel  anders? 

Hatte  demnach  der  Dichter  im  ersten  Gesänge  gemahnt:  *Weg  mit 
der  Habsucht;  weg  mit  dem  verderblichen  Haschen  nach  Reichtum',  so 
ruft  er  im  zweiten:  cWeg  auch  mit  dem  verweichlichenden 
Wohlleben!  Entbehrung  vielmehr  lerne  der  Jüngling,  gekräftigt  im 
harten  Waffendienste,  ertragen;  in  Fährnissen  und  Abhärtungen  bringe 


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Die  sechs  Römeroden  des  Horaz.  131 

er  sein  Leben  hin ;  ein  Schrecken  werde  er  für  die  Feiode  des  Vaterlandes, 
und  nimmer  vergesse  er,  dasz  es  schön  sei  und  sflsz  fürs  Vaterland  zu 
sterben;  dasz  Mannhaftigkeit  und  Mannestugend,  hoch  über  die  Urteile 
der  Menge  erhaben,  dasz  Tugend,  den  Dunstkreis  der  niederen  Erde  tief 
unter  sich  lassend,  den  Weg  zum  Himmel  fleugt,  und  dasz  Treu  und 
Glauben  kein  leerer  Wahn  sind.'  . 

'Darum',  so  mahnt  der  Sänger  im  dritten  Liede,  csei  auf  Edles 
und  Gutes  all  Euer  Streben  gerichtet  in  aller  Beharrlich- 
keit! Wer  im  Guten  beharrlieh  ist,  der  ist  der  wahre  Mann;  den 
schreckt  nicht  der  Menge  tobend  Geschrei,  nicht  des  Gewalthabers  finste- 
res Antlitz,  nicht  der  Elemente  Wuth.  Beharrlichkeit  im  Guten 
verlieh  die  Unsterblichkeit  all  den  Helden  der  Vorzeit,  liesz  Roma  die 
Beherscherin  des  Erdkreises  werden.  Aber  n  u  r  s  o  lange  sollte  Rom  die- 
ses bleiben  —  war  der  Gottheil  Beschlusz  — ,  als  es  nicht  in  die  Fusz- 
tapfen  des  treulosen ,  des  ehebrecherischen  Troja's ,  seiner  Ahnin  träte. 
Sobald  es  aber  Troja's  Beispiel  der  Treulosigkeit  und  schnöden  Ueppigkeit 
nachahmen  würde,  sollte  es  auch  Troja's  schreckliches  Schicksal  erfahren.9 

Diese  Worte  des  Musenpriesters  klingen  sie  nicht  wie  Seher -Worte 
für  alle  Zeiten,  auch  für  unsre  Zeiten?  Wie  sie  an  Rom  in  Erfüllung 
gegangen,  welches,  als  die  Fäulnis  der  Entsittlichung  und  Ueppigkeit, 
als  Treulosigkeit  und  Selbstsucht  alles  Masz  überschritten,  in  gewaltige 
Trümmer  zusammenbrach,  indem  edlere,  unentweihte  Nationen  aus  Ger- 
manien's  Wäldern  ihre  siegreichen  Fahnen  im  ganzen  Römerreiche  auf- 
pflanzten :  so  sind  zu  allen  Zeiten  und  in  allen  Ländern ,  vom  grauesten 
Altertume  bis  herab  auf  die  Gegenwart,  die  Staaten  verrottet  zusammen- 
gebrochen, sobald  Sittlichkeit,  Treue  uud  Ehrlichkeit,  die  festesten  und 
einzigen  Grundfesten  der  Staaten ,  unterwühlt  waren.  Und  —  wer  weisz, 
ob  nicht  eine  nahe  Zukunft  auch  unserm  Lande  ein  gleiches  Schicksal 
aufgespart  hat?  Doch  baldige  Umkehr  zum  Besseren  kann  solches  noch 
abwenden,  und  die  junge  Geheration  thue  das  ihrige  dazu! 

Indessen  es  musz ,  soll  des  Vaterlandes  Heil  gesichert  sein ,  noch  ein 
Weiteres  hinzukommen,  lehrt  der  veuusinische  Sänger  in -seiner  vierten 
Römerode.  Und  das  ist  Pflege  der  Künste  und  Wissenschaften 
und  die  dadurch  erzielte  höhere  Bildung  und  humane  Ge- 
sittung. Fördert  der  Musen  Pflege  mächtig  schon  den  Einzelnen, 
so  dasz  er  überall  sich  glücklich ,  sicher ,  heimisch  fühlen  mag :  so  er- 
bläht erst  vollends  dem  Staate  Glück  und  Segen,  daferu  der  Musen  mil- 
der Zuspruch  im  Rathe  der  Mächtigen  gehört  wird;  dafern  Bildung  ihren 
sittigenden  mildernden  Einflusz  durch  den  ganzen  Leib  des  Staates  ge- 
haucht hat,  so  dasz  Hoch  wie  Niedrig  vor  roher  Gewaltthat  zurück- 
bebt; denn 

Vis  consili  expers  mole  ruit  sua; 
Vim  temperatam  Di  quoque  provehunt 
In  maius :  idem  ödere  vires 
Omne  nefas  animo  moventes. 
Fast  dasselbe  lehrt  der  grosze  vaterländische  Dichter  in  den  Worten : 
'Wo  rohe  Kräfte  sinnlos  walten,  —  Da  kann  sich  kein  Gebild  gestalten; 


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132  Die  sechs  Römeroden  des  Horaz. 

—  Wo  sich  die  Völker  selbst  befrein ,  —  Da  kann  die  Wohlfahrt  nicht 
gedeihn'  —  oder  an  andrer  'Stelle ,  wenn  er  singt: 

Freiheit  liebt  das  Thier  der  Wüste, 
Frei  im  Aether  herrscht  der  Gott; 
•  Ihrer  Brust  gewaltge  Lüste 

Zähmet  das  Naturgebot. 

Doch  der  Mensch  in  ihrer  Mitte 

Soll  sich  an  den  Menschen  reihn, 
Und  allein  durch  seine  Sitte 

Kann  er  frei  und  mächtig  sein. 

Nun  wol;  wenn  dem  so  ist,  theure  Zöglinge,  wenn  die  Wissen- 
schaften den  milden  Sinn,  höhere  Bildung  und  Sitte  gewähren,  auf  denen 
wesentlich  das  Glück  nicht  blosz  des  Einzelnen,  der  sie  pflegt,  sondern 
sogar  des  ganzen  Vaterlandes  beruht:  wie  glücklich  können  Sie  Sich 
preisen,  dasz  Sie  an  dieser  schönen  Aufgabe  mitzuarbeiten  berufen  sind! 
Wie  müssen  Sie  Sich  angetrieben  fühlen ,  fort  und  fort  höherer  Vervoll- 
kommnung in  den  Wissenschaften ,  so  Ihnen  zum  Heil ,  wie  dem  Vater- 
lande zur  Wohlfahrt ,  entgegenzustreben ! 

Wenn  sodann  im  fünften  Gesänge  Horaz  den  Verfall  der  Vater- 
landsliebe beklagt,  die  tiefe  Schmach  bejammert,  die  über  Rom  ge- 
kommen war,  seit  die  begeisterte,  Gut  und  Blut  aufopfernde  Vaterlands- 
liebe der  Zeit  eines  Regulus  geschwunden  war ;  seit  Römer  in  einseitiger 
Selbstsucht  im  Feindeslande  sich  wohnlich  einrichteten,  sich  behaglich 
zu  fühlen  gewöhnten,  ja  sogar,  vergessend  ihres  Namens,  ihrer  Toga, 
der  ewigen  Vesta ,  als  Kämpfer  in  den  Reihen  der  Feinde  ergrauten :  ist 
es  da  nicht  fast,  als  ob  wir  germanische  Zustände  schildern  hörten? 
Oder  was  hat  denn  Deutschland  zerrissen,  zerklüftet,  was  uns  so  oft  dem 
Fremden,  dem  Feinde  zum  Spieiballe,  zum  Spotte  gemacht,  als  gerade 
der  Verfall  der  Vaterlandsliebe ,  als  eif ersuch telnde  Selbstsucht  einzelner 
Teile?  Wie  oft  hat  sogar  der  Bürgerkrieg  in  Germania's  Gauen  gewütet! 
Ja,  haben  nicht  oftmals  Deutsche  sich  den  eigenen  Feinden  verkauft,  nicht 
in  den  Reihen  der  Bedrücker  deutscher  Grösze,  deutscher  Freiheit  ge- 
kämpft? Ist  es  nicht  sogar  des  Deutschen  Art,  in  den  Gegenden  der  ver- 
schiedensten Zungen  sich  zu  e  n  t  deutschen ,  seine  Nation ,  seine  Sprache 
abzustreifen,  uneingedenk  freierer  Vorfahren,  seines  Stammes ,  ja  sogar, 
seines  Namens  sich  schämend ,  mit  den  Fremden ,  selbst  mit  den  Feinden 
sich  zu  verschmelzen ,  wogegen  der  Nichtdeutsche  in  allen  Ländern  bleibt, 
was  er  ist?  0,  dasz  des  Venusiners  Wunsch  nach  Wiederbelebung 
echter  Vaterlandsliebe  auch  in  unserer  Jugend  in  Erfüllung  gehen  möge! 
0,  dasz  wenigstens  in  der  heranwachsenden  Generation  ein  echt  vater- 
ländischer Geist  wehen  möchte!  Dasz  wenigstens  nicht  selbstische  Partei- 
leidenschaft verfolgt  würde,  um  das  Vaterland  in  widerstreitende  Teile 
zu  zerreiszen ,  statt  zu  halten  an  dem  Worte  des  deutschesten  der  deut- 
schen Dichter:   cDas  ganze  Deutschland  soll  es  sein!' 

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Die  sechs  Römeroden  des  Horaz.  133 

Doch  folgen  wir  dem  römischen  Dichter  weiter.  In  der  letzten 
jener  Vaterlandsoden  deckt  Horaz  erst  den  tiefsten  und  eigentlichen 
Grund  aller  der  Schäden  und  Gebrechen  auf,  an  denen  zu  seiner 
Zeit  das  Römervolk  erkrankt  war:  es  war  dies  der  Verfall  der  Reli- 
giosität. cDie  Tempel  verödeten,  die  Gottheit  wurde  misachtet,  der 
Religion  gespottet;  darob  wurde  Rom  mit  schweren  Strafen  heimgesucht, 
mit  Niederlagen ,  mit  Burgerkrieg.  Aus  der  Irreligiosität  erwuchs  Schuld 
auf  Schuld;  es  ward  das  Familienleben  entweiht,  die  Ehe  entheiligt; 
niedrige  Sinnlichkeit  brach  über  die  Jugend  herein ,  besudelte  alle  Alter, 
Geschlechter  und  Verhältnisse,  erzeugte  ein  üppiges,  verweichlichtes, 
unkeusches  Geschlecht.  Wie  anders  zur  Zeit  der  Vorfahren ,  wo  eine 
abgehärtete,  mannhafte,  den  Lüsten  fremde  Jugend  jene  Helden  abgab, 
die  einen  Pyrrhus,  einen  Hannibal,  einen  Antiochus  niedergeschmettert!' 
Oder,  um  an  ein  verwandtes  Gedicht  desselben  Römers  zu  erinnern,  wie 
anders  und  besser  bei  den  Scythen  und  Gelen ,  wo  auf  Entweihung  der 
Keuschheit  Todesstrafe  stand!  Wie  anders  bei  den  alten  Germanen,  de- 
nen Tacitus  nachrühmt:  'Also  leben  sie  in  gesicherter  Keuschheit,  nicht 
durch  schlüpfrige  Schauspiele  verführt,  noch  durch  üppige  Gastmahle. 
Befleckte  Keuschheit  findet  keine  Gnade ;  denn  dort  lacht  niemand  über 
das  Laster;  verführen  und  verführt  werden  heiszt  nicht  Weltlon.' 

Wenn  Horaz  in  dem  Verfalle  der  Religiosität  den  Urgrund  aller  Ge- 
brechen seiner  Zeit  erkannt  hat,  hat  er  damit  nicht  das  Licht  aufgesteckt 
zur  Beleuchtung  und  Aufhellung  alter  ähnlichen  Zeitverhältnisse?  Was 
anders  als  Verfall  der  Religion  hatte  die  Entsittlichung  Europa's  am  Ende 
des  vorigen  Jahrhunderts,  halle  die  französische  Revolution  mit  ihren 
Gräueln  heraufbeschworen?  Was  anders  als  Misachtung  der  Religion  .ist 
auch  in  unsern  Tagen  der  Urgrund  aller  Krebsschäden,  die  an  der  Mensch- 
heit nagen  ?  Wo  keine  Religion ,  da  keine  Verleugnung  seines  Selbst ,  da 
kein  höherer  Beweggrund  bei  seinem  Thun ,  als  Refriedigung  des  niede- 
ren Seins ,  gleichviel  durch  welche  Mittel ;  wo  keine  Religion  (wohlge- 
merkt im  Herzen,  nicht  blosz  auf  der  Zunge),  da  keine  Sittlichkeit,  da 
keine  Zucht,  keine  Reinheit  des  Wandels;  da  ist  allen  Laslern  Thur  und 
Thor  geöffnet  Darum  festgehalten  an  der  Religion!  Wenn  hierzu  aufs 
Nachdrucksvollste  der  heidnische  Dichter  auffordert;  wenn  er  verlangt, 
'von  der  Gottheit  müsse  alles  Reginnen  seinen  Anfang  nehmen ,  auf  sie 
alles  zurückbezogen  werden'  (Hinc  omne  prineipium ,  huc  refer  exitum) : 
werden  da  wir  Christen  von  einem  Heiden  uns  beschämen  lassen?! 

Wohlan  denn ,  theure  Zöglinge !  Soll  dereinst  auch  bei  Ihnen  der 
Schreckensruf  des  Dichters ,  womit  er  seine  ernsten  Mahnungen  schlieszt, 
in  Erfüllung  gehen ,  der  Ausruf: 

Damnosa  quid  non  immiuuit  dies? 
Aetas  parentum  peior  avis  lulit 
Nos  nequiores  mox  daturos 
Progeniem  vitiosiorem  — 

oder  aber  dürfen  wir  das  Gegenteil  hoffen?    Werden  Sie  mit  Aufbietung 
all  ihrer  Kräfte  bestrebt  sein,  den  Hoffnungen  und  Erwartungen  gerecht 


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134  H.  Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen. 

zu  werden,  welche  auf  Sie  gesetzt  werden?  Möge  der  Allmächtige  das 
verleihen!   Mit' seiner  Gnade  können  und  werden  Sie  es. 

So  entlassen  wir  Sie  denn  voll  der  freudigen  Zuversieht:  Sie  werden 
Sich  fern  halten  von  dem  verderblichen  Geiste  der  Zeit,  —  werden  kör- 
perlich und  geistig  stark  jederzeit  dastehen,  —  werden  dem  Guten  in 
aller  Beharrlichkeit  nachstreben,  —  werden  fortfahren  Sich  selbst  zu 
veredeln  durch  die  Wissenschaft,  um  auch  andre  einst  veredeln  zu  kön- 
nen, —  werden  ans  Vaterland,  ans  theure,  sich  anschlieszen,  —  werden 
endlich  (worin  Alles ,  Alles  was  wir  Menschen  zu  thun  haben ,  mit  Einem 
Worte  enthalten  ist)  Gott  und  sein  Gebot  heilig  halten ,  mit  Gott  alles 
.beginnen ,  auf  Gott  Alles  zurückbeziehen :  Hinc  omne  principium ,  huc 
refer  exitum ! 

Gonitz  in  Westpreuszen.  Anton  Goebel. 


13. 

1)  Die  Psalmen  übersetzt  und  ausgelegt  von  Dr.  H.  Hupfeld, 

ord.  Professor  d.  Theol.  zu  Halle,  erster  bis  vierter  Band. 
Gotha,  Fr.  A.  Perthes  1 855— 1862. 

2)  Die  Psalmen  übersetzt  und  ausgelegt  von  Dr.  F.  Hitzig, 

Professor  d.  Theol.  in  Heidelberg,  erster  Band  (Ps.  I — 55). 
Leipzig  u.  Heidelberg  1863.  (Der  zweite  und  letzte  Band  ist 
unter  der  Presse.) 

Zu  den  Schulbüchern  des  Gymnasialunterrichts  im  weiteren  Sinne, 
d.  h.  zu  der  Ausstattung  des  Lehrers  der  hebräischen  Sprache  oder  der 
Schulbibliotheken  gehören  unstreitig  die  Gommentare  zum  A.  T.,  und  es 
iät  eine  Art  Notwendigkeit ,  dasz  an  diesem  Orte  von  Zeit  zu  Zeil  in  ge- 
bührender Kürze  darüber  Bericht  erstattet  wird ,  was  von  Bedeutung  auf 
diesem  Felde  der  Büchermarkt  gebracht  habe.  Und  da  wol  die  Annahme 
gleichfalls  gerechtfertigt  ist,  dasz  in  den  vorbereitenden  Schulen  neben 
prosaischen  Schriften  des  A.  T.  auch  prophetische  und  poetische,  oder 
doch  jedenfalls  die  Psalmen  behandelt  werden ,  und  da  auch  der  Religions- 
lehrer  die  Psalmen  im  Urtext  studieren  sollte,  so  mögen  für  diesmal  die 
zwei  neuesten  Auslegungen  des  Psalters  nach  ihrer  Eigentümlichkeit  be- 
schrieben und  auf  ihr  Verhältnis  zum  Schulunterricht  hingewiesen  werden. 

Seitdem  de  Wette's,  seiner  Zeit  sehr  verdienstliche,  Arbeit  auf- 
gehört hat,  die  höchste  oder  überhaupt  nur  eine  Auctorität  für  die  Psal- 
menauslegung zu  sein,  sind  der  Reihe  nach  viele,  meist  recht  gute  und 
die  Sache  immer  weiter  fördernde  Gommentare  zu  diesem  poetischen  Buch 
des  A.  T.  veröffentlicht  worden.  Sehen  wir  ab  von  den  minder  bedeuten- 
den ,  zum  Teil  ziemlich  wertlosen  oder  nur  der  Erbauung  dienenden  Bei- 
trägen von  Glausz  1831,  Stier  1834—36,  Maurer  1838,  Thofuck  1843, 

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H.  Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen.  136 

7.  Lesgerke  1847;  so  können  die  anderen  zahlreichen  Arbeiten  von  Ewald 
1836  und  1840,  Köster  1837,  Hengstenberg  1842—47  und  1849—62, 
(Mausen  1853,  Delitzsch  1859—60  sämtlich  als  Werke  bezeichnet  wer- 
den, die  je  in  ihrer  Art  Epoche  machten,  bald  mehr  bald  minder  neue 
Bahnen  aufschlössen  und  der  deutschen  Wissenschaft  zur  Ehre  gereichen. 
So  wenig  wir  auch  nur  von  Einer  der  eben  genannten  Auslegungen  sagen 
möchten,  dasz  sie  für  den  Lehrer,  der  die  Psalmen  erklären  und  deren 
Sinn  für  sich  und  seine  Schüler  befriedigend  feststellen  will,  ganz  ent- 
behrlich sei;  so  gilt  dies  noch  in  höherem  Grade  von  den  zwei  in  der 
Ueberschrifl  bezeichneten  neuesten  Arbeiten,  die  auf  den  Schultern  dieser 
und  früherer  Vorgänger  stehen  und  von  denen  namentlich  die  erstere, 
bei  aller  Selbständigkeit,  zugleich  eine  beurteilende  Zusammenstellung 
der  nennenswertesten  älteren  Auffassungen  aller  wichtigen  Stellen  bietet. 
Hupfeld  spricht  es  ja  ausdrücklich  als  sein  Bestreben  aus,  <nicht  allein 
überhaupt  der  Aufgabe  des  Auslegers  in  ihrem  vollen  Umfang  gerecht  zu 
werden,  sondern  auch  insbesondere  eine  Geschichte  der  Psalmenauslegung 
in  ihren  hervorragenden  Stellen  und  Vertretern  zu  liefern'.  Diesz  anzu- 
streben und  zu  leisten,  ist  nun  zwar  keineswegs  das  Ziel,  das  der  Gom- 
mentar  von  Hitzig  im  Auge  hat;  dasz  er  aber  gleichfalls  die  bedeutenderen 
Arbeiten  früherer  Ausleger  genau  kennt  und  nötigenfalls  berücksichtigt, 
iäszt  sich  überall  wahrnehmen,  wenn  gleich  eine  wesentliche  Eigentüm- 
lichkeit dieses  Erklärers ,  die  er  mit  Ewald  und  Olshausen  teilt ,  darin 
bestehen  möchte,  dasz  man  ihm  die  Selbständigkeit  und  Unabhängigkeit 
von  fremder  Auctorität  auf  jedem  Schritt  und  Tritt  anfühlt,  wofür  wir 
ihm  wegen  der  hie  und  da  überraschend  glücklichen  Griffe  in  neuer  Aus- 
legung recht  dankbar  sein  müssen.  Fast  musz  man  annehmen ,  dasz  von 
ihm  jederzeit  der  Text  und  zwar  unpunktiert  gelesen  und  wieder  gelesen, 
erwogen  und  nach  meinem  Sinn  festgestellt  wird,  lange  bevor  er  nur 
einen  andern  Gommentar  ansieht  und  vergleicht,  oder  vielmehr  so,  dasz 
er  alles  Fremde  absichtlich  vergiszt  und  ignorirt,  während  Hupfeld  bei 
aller  Genauigkeit  in  Erwägung  des  reinen  Textes  doch  alsbald  hinüber- 
sieht nach  dem ,  was  Andere  darüber  schon  gedacht  und  gesagt  haben, 
und  dann  das  Für  und  das  Wider  sorgfältig  untersucht  und  darnach  zu- 
letzt das  Ergebnis  bestimmt. 

So  hat  denn  allerdings  die  Arbeit  von  Hupfeld  den  Vorzug  einer 
v  gröszeren  Vollständigkeit,  die  von  Hitzig  den  einer  noch  energischeren, 
"  frischeren  und  völlig  unbefangenen  Selbständigkeit.  Wie  sich  dieser  und 
andere  Unterschiede  im  Einzelnen  ausprägen,  soll  jedoch  unten  an  einem 
besonderen  Beispiele  nachgewiesen  werden.  Vorerst  möge  nur  noch  auf 
einige  Punkte  aufmerksam  gemacht  werden,  welche  beiden  Auslegungen 
gemeinsam  sind  und  den  Wunsch  nahelegen ,  es  möehten  diese  beiden 
tüchtigen, Arbeiten  gerade  im  Gymnasialunterricht  recht  gründlich  und 
allgemein  benutzt  werden ,  womit  jedoch  nicht  gesagt  sein  soll,  dasz  man 
in  jeder  Beziehung ,  namentlich  in  theologischer  Auslegung ,  dabei  stehen 
zn  bleiben  habe. 

In  erster  Linie  ist  bei  beiden  zu  nennen  und  zu  rühmen  das  mit 
besonderem  Nachdruck  und  Ernst  gehandhabte  Streben  nach  ungefärbter 


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136  H.  Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen. 

Wahrheit,  und  nur  nach  Wahrheit,  nach  dem  Ziel,  einzig  blosz  den  Text 
reden  zu  lassen,  nicht  aber  andere,  statt  durch  Gründe  nur  durch  Tra- 
dition gestützte  Auffassungen  des  Textes ,  wie  sie  auf  Grund  der  Macht- 
sprüche der  Kirche  oder  neutestamentlicher  Gitate  u.  dgl.  lange  Zeit  her- 
kömmlich gewesen  waren.  Die  von  de  Wette  und  Ewald  zuerst  mit  be- 
sonderem Glück  betretene  Bahn  ist  von  diesen  ihren  neueren  Nachfolgern 
mit  derselben  Entschiedenheit  verfolgt  worden ,  von  Hitzig  wie  gesagt, 
noch  energischer  und  teilweise  wenigstens  scheinbar  (s.  unten)  in  ande- 
rem Sinne  als  von  Hupfeld.  Zwar  könnte  es  scheinen ,  die  Aeuszerung 
des  letzteren ,  cein  Buch  wie  die  Psalmen  fordert  vorzugsweise  eine  theo- 
logische Auslegung'  stehe  damit  im  Widerspruch,  führe  geradezu  zu 
dogmatischer  Befangenheit  und  es  müsse  notwendig  Hupfeld's  Auslegungs- 
weise von  der  Hitzig's  im  Princip  verschieden  sein,  zumal  da  er  noch 
ausdrücklich  beigefügt,  'er  hoffe  diese  Forderung  in  höherem  Masze  er- 
füllt zu  haben ,  als  irgend  einer  seiner  Vorgänger.'  In  der  That  sind  aber 
gewis  beide  hierin  in  den  Grundsätzen  vollkommen  einig  und  gehen  nur 
in  der  Anwendung  je  und  je  auseinander.  Denn  auch  Hitzig,  wie  gewis 
alle  Vertreter  einer  gesunden  Exegese,  müssen  zustimmen,  wenn  Hupfeld 
das,  was  er  meine,  mit  folgenden  Worten  des  Näheren  bestimmt :  *Natür- 
lich  vorausgesetzt,  dasz  man  unter  theologischer  oder  religiöser  Aus- 
legung nicht  etwa  jene  erbaulichen  Tiraden  oder  alle  Schranken  über- 
fliegenden typischen  Phantasien  und  Spielereien  versteht,  denen  die  älteren 
und  wieder  manche  neuern  Ausleger  sich  hingeben ;  die  alle  Unterschiede 
zwischen  A.  und  N.  T.  und  unter  den  verschiedenen  Büchern  des  A.  T. 
selbst  verwischend,  nicht  minder  wie  die  überwundene  rationalistische 
Auslegung  die  concreten  Begriffe  des  A.  T.  in  eine  abstracte  Allgemeinheit 
auflösen  und  alles  wahre  Verständnis  desselben  gründlich  verkehren.  Ich 
verstehe  darunter  eile  Erklärung  der  vorkommenden  religiösen  Begriffe 
und  Anschauungen  in  ihrer  eigentümlichen  geschichtlichen  Gestalt ,  Be- 
grenzung und  Entwicklungsstufe,  oder  solche  praktische  Anwendungen, 
die  erweislich  in  dem  Gesichtskreis  und  der  Tragweite  der  betreffenden 
Stellen  liegen.'  Dasz  jedoch  innerhalb  dieses  Bahmens  noch  ziemlich 
grosze  Unterschiede  in  der  theologischen  Behandlung,  in  der  gröszeren 
oder  kleineren  Abhängigkeit  von  kirchlicher  oder  sonstiger  Ueberlieferung, 
wie  sie  auch  der  nüchternen  Auslegung  erlaubt  ist,  in  der  Stellung  zu 
dem ,  was  man  den ,  etwa  durch  das  N.  T.  erschlossenen ,  tieferen  Schrifl- 
sinn  nennt,,  geben  kann,  gehl  teils  aus  dem  vorhin  Gesagten  hervor,  teils 
wird  es  durch  das  unten  gegebene  Beispiel  recht  deutlich  ans  Licht  treten. 
Ein  zweiter,  beiden  Cefiximen  taren  gemeinsamer  Vorzug  ist  sodann 
die  sorgfältige  Behandlung  der  sprachlichen  Seite  der  Auslegung,  und 
zwar  ebensowol  in  lexico graphischer  als  in  grammatischer  Hinsicht.  Das 
ist  ganz  besonders  erfreulich  zu  sehen,'  wie  hier  von  zwei  bewährten 
Männern  des  Faches  mit  ernstestem  Bemühen  nach  einem  und  demselben 
Ziele  gestrebt  wird,  über  eine  Menge  noch  vorhandener  Dunkelheiten  volle 
Klarheit  zu  verbreiten.  Und  dasz  sie  zum  Teil,  ja  ziemlich  oft  nicht  allein 
auf  ganz  getrennten  Wegen  gehen,  sondern  auch  zu  recht  verschiedenen 
Ergebnissen  gelangen,  kann  für  die  Sache  selbst  und  für  die  Schule  meist 


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H.  Hupfeld  und  F.  ^Hitzig:  die  Psalmen.  137 

nur  Gewinn  bringen.  Für  vieles  Neue  und  Wohlbegründete  in  sprach- 
lichen Dingen  ist  man  dem  Einen  wie  dem  Andern  zu  aufrichtigem  Danke 
verpflichtet. 

Auch  hinsichtlich  der  Uebersetzungsgrundsätze  herscht  wol  zwischen 
beiden  keine  wesentliche  Differenz.  Die  Uebertragungen ,  wie  sie  in  bei- 
den Commentaren  vorliegen ,  sind  nach  denselben  Forderungen  gefertigt, 
wörtlich,  aber  mit  Geschmack,  körnig,  bändig  und  orientalisch  gefärbt, 
besonders  bei  Hitzig,  ohne  unverständlich  zu  werden,  des  edlen  Inhalts 
würdig,  wie  wol  Hitzig  dem  Leser  oft  ziemlich  mehr  Duldung  gegen  die 
orientalische  Phantasie  zumutet. 

Selbst  in  Betreff  der  historischen  Seite  der  Auslegung  können  wir, 
so  wenig  die  beiden  Ausleger  es  Wort  haben  wollen ,  und  so  sehr  sie 
facliscb  oft  auseinandergehen,  keine  prinzipiellen  Grund  Verschiedenheiten 
erkennen,  sondern  sind  überzeugt,  dasz,  so  sehr  sie  sich  hauptsächlich 
auf  diesem  Felde  bald  mehr  bald  weniger  offen  gegenseitig  befehden,  bei 
geöffnetem  Visir  'sich  oftmals  Bruderzüge  unterm  Helm  entblöszen'  wür- 
den. Den  Beleg  für  die  Verschiedenheit  wie  für  die  Einigkeit  s.  w.  unten. 

Endlich  ist  das  auch  noch  eine  gemeinsame,  wenngleich  nicht  eben 
erfreuliche,  Eigentümlichkeit  beider,  dasz  sie  fast  in  gleichem  Nasze  da. 
und  dort  eine  zu  grosze  Gereiztheit  gegenüber  von  abweichenden  Auf- 
fassungen und  ein  zu  starkes  Selbstgefühl  heraustreten  lassen.  Mannich- 
fach liegen  freilich  Herausforderungen  genug  zu  Grund,  und  mitunter  gilt 
es  auch  von  exegetischen  Arbeiten:  difficile  est  satiram  non  scribere. 
Aber  selbst  in  diesem  Falle  entstellt  es  einen  Gommeutar  zu  einem  bib- 
lischen Buch ,  besonders  zu  dem  Psalter,  (der,  ob  auch  nicht  dem  Worte 
(Ps.  18, 36)  doch  wiederholt  dem  Sinne  nach  die  goldene  Wahrheit  preist: 
'wenn  du  mich  demütigst ,  machst  du  mich  grosz') ,  wenn  die  Vorrede 
dazu  oder  gar  die  Auslegung  bittere  Ausfälle  auf  litterarische  Gegner  zum 
Besten  gibt. 

Doch  es  ist  hier  nicht  der  Ort,  hierbei  auf  Einzelnes  hinzuweisen, 
so  wenig  als  der  Raum  gestattet ,  noch  weiter  von  besonderen  Ärmlich- 
keiten und  Verschiedenheiten  der  in  Frage  stehenden  Auslegungen  oder 
von  Einzelnheiten  zu  reden ,  die  zu  loben  oder  aber  teilweise  zu  tadeln 
wären.  Dem  Leser  und  Schulmann  wird  es  jedenfalls  erwünschter  sein, 
wenn  er  zum  Schlusz  an  einem  ganz  speciellen  und  besonders  sprechen- 
den Beispiel  erfährt,  wie  diese  beiden  Ausleger  einen  und  denselben  Stoff 
behandeln,  wie  sie  scheinbar  sehr  auseinandergehen  und  doch  im  Grunde 
so  weit  einig  sind,  dasz ,  wenn  auch  nicht  sie  selbst  mehr,  jedenfalls  die 
auf  ihrem  Grunde  fortbauende  Auslegung  zu  einem  erfreulichen  Ergebnis 
gelangen  könnte,  bei  dem  sich  alle  die  streitenden  Teile  beruhigen  dürf- 
ten. Und  so  können  dann  auch  in  ungesuchter  Weise  kurze  Andeutungen 
beigefügt  werden  darüber,  in  welches  Verhältnis  die  Schule  sich  zu  die- 
sen Bibelforschungen  zu  stellen  habe. 

Unter  diejenigen  Psalmen,  bei  denen  sowol  manche  Einzelnheiten, 
als  auch  namentlich  die  allgemeinen  Fragen  nach  dem  Verfasser,  der  Ver- 
anlassung, dem  Inhalt,  der  Beziehung,  —  ob  auf  den  Messias  oder  nicht 
—  dem  Verhältnis  zu  anderen  Lehren  der  Schrift  nicht  geringe  Schwie- 

N.  Jahrb.  f.  Phil,  u.  Päd.  II.  Abt.    1864.  Hft.  3.  10 


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138  H.  Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen. 

rigkeiten  machen,  gehört  bekanntlich  der  achte  Psalm.  Hören  wir 
zuerst,  wie  Hupfeld  sich  über  diese  letztgenannten  Punkte  vernehmen 
läszt.  'Der  Mittelpunkt  des  Lieds',  sagt  er,  ist  die  dankbare  Betrachtung 
der  Gfl  te  Gottes  gegen  den  Menschen,  die  ihm  eine  so  hohe  Stelle  in  der 
Schöpfung  angewiesen;  und  die  vorhergehende  Betrachtung  der  Grösze 
und  Heiüchkeit  Gottes  in  der  Pracht  des  Himmels  dient  nur  dazu,  durch 
den  Gontrast  derselben  mit  der  Kleinheit  des  Menschen  die  Gnade  Gottes 
gegen  diesen  eindringlicher  zu  machen.  —  Das«  der  Psalm  keine  hi st o- 
risohe  Beziehung  und  Deutung  bedarf,  ja  verträgt,  ist  so  augen- 
scheinlich (?) ,  dasz  alle  Vermutungen  dieser  Art  kurzer  Hand  abzuweisen 
sind ,  ohne  eine  Widerlegung  zu  verdienen.  —  Directe  messianische  Weis- 
sagung enthalt -der  Psalm  auf  keinen  Fall.  Eine  Beziehung  auf  Christus 
dürfen  wir  dem  Dich  t  er  ja  nicht  zuschreiben.  —  Auch  ist  hier  zwar  auf 
den  Fall  des  Menschen  nicht  gesehen,  sondern  die  menschliche  Natur 
lediglich  nach  ihrer  ursprünglichen  Einsetzung  und  Idee  betrachtet:  aber 
daraus  folgt  nicht,  dasz  der  Psalm  auf  den  jetzigen  Zustand  nach  dem 
Fall  gar  nicht  passe,  sondern  auf  den  Urständ  und  seine  Wiederher- 
stellung durch  Christus  sehe.  Vielmehr  geht  er  unstreitig  auf  die  Wirk- 
lichkeit und  hat  eben  von  der  menschlichen  Natur  nach  dem  Fall  eine 
andere  Vorstellung ,  als  die  christlichen  Dogmatiker'. 

Was  dagegen  Hitzig  in  den  genannten  Beziehungen  sagt,  läszt  sich 
in  folgenden  Sätzen  zusammenfassen:  *Es  ist  eine  Ode  an  Jahve,  den 
huldvollen  Weltgebieter.  Herlich  auf  Erden  zeigt  sich  unser  Gott, 
der  durch  den  Mund  von  Kindern  seine  Feinde  entwaffnete.  Der  himmlische 
Schöpfer,  wie  nimmt  er  sich  doch  auch  des  Menschen  an,  welchen  er 
unter  Gott  (wol  eher  'so,  dasz  er  ihn  nur  wenig  hinter  Gott  zurückstehen 
läszt')  zum  Herrn  der  Erde  bestellt  hat!  —  Freudig  bewundernde  An- 
schauung der  Welt  preist  in  diesem  Psalm  Jahve  als  denjenigen ,  der  die 
Menschen  überhaupt  hoch  begnadigt  hat.  Damit  ist  aber  noch  keineswegs 
alle  volkstümliche  Beziehung  ausgeschlossen ,  und  kann  darum  gkichwol 
der  Psalm  aus  einer  geschichtlichen  Veranlassung  hervorge- 
gangen sein.  Derselbe  Jahve  ist  ja  auch  Israel's  Nationalgotl ,  nur  als 
solcher  kann  er  *  Dränger  und  rachgierige  Feinde*  V.  3  haben.  Dasz 
Jahve  aus  dem  Munde  der  Knäblein  und  Säuglinge  eine  Wehr  bereitet 
habe,  um  dem  Rachegierigen  die  Befriedigung  seiner  Rach- 
sucht zu  wehren,  kann  als  allgemeine  Wahrheit  gar  nicht  behauptet 
werden;  denn  es  ist  kein  stehendes  Sein,  keine  bleibende  Thatsache  der 
Weltordnung,  Was  V.  3  aussagt,  das  hat  sich  irgend  einmal  ereignet; 
und  die  Worte  verstatten  schwerlich  ein  anderes  Verständnis  als:  beim 
Schreien  der  Knäblein,  de»  Vagita»  der  Säuglinge  habe  sich  in  der  Seele 
des  Feindes  ein  menschliches  Gefühl  geregt,  so  dasz  er  seine  Wuth  be- 
zähmend ihrer  schonte.  —  Nun  wird  1  Sam.  27,  8.  9  erzählt,  wie  dasz 
David  im  Kriege  gegen  Amalek  Niemand  am  Leben  liesz,  und  dagegen 
1  Sam.  30,  1.  2,  dasz  die  Amalekiter  beim  Ueberfalle  Ziklags  —  Niemand 
umbrachten.  Jahve  hatte  den  Sinn  dieser  Nationalfeinde  erweicht,  und 
dieser  Erweis  von  Gottes  Macht  und  Liebe  ist  es,  welcher  den  Dichter, 
nunmehr  gewis  David,  zu  diesem  Hymnus  begeistert  hat.  —  Indem  man 


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H. 'Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen.  139 

verkannte,  da»  V.  3  der  partikulare  Gott  und  dessen  Feinde  gemeint  sind, 
so  wie  durch  schiefe  Auffassung  und  Umschlefchuug  cder  Dränger  und  Rach- 
gierigen und  ihrer  Beschwichtigung'  verrannten  sieb  die  Ausleger  den 
Weg  zum  Verständnis  und  stimmen  meist  in  dem  Glauben  überein ,  es 
bandle  sich  um  eine  Verteidigung  der  Sache  Gottes  aus  dem  Munde  der 
Kinder  gegenüber  von  Gottesläugnern.  Aber  von  diesen  letzteren  weiss 
der  Text  nichts;  wer  das  Dasein  Gottes  läugnet,  wird  ihn  nicht  bedrän- 
gen.  Auch  mag  das  Lallen  der  Kinder  ein  frommes,  sinniges  Gemüt  über^ 
zeugen,  jedoch  nicht  den  Abgeneigten  widerlegen.  Oder  wie  viel  haben 
denn  gewisse  Theologen  in  ihrem  Kampfe  gegen  die  negative  Philosophie 
ausgerichtet?9 

Wir  haben  hier  unsere  beiden  Ausleger  in  ihrer  gansen  Eigentüm- 
lichkeit verschiedener  Art  vor  uns.  Auf  den  ersten  Anblick  gehen  sie 
auch  unversöhnlich  weit  auseinander ,  indem  jeder  bis  zur  Grenze  seines 
Standpunkts ,  Hitzig  sogar  in  der  Polemik  mit  seiner  Scharfe  und  Ironie 
bis  zur  Grenze  des  Erlaubten  fortschreitet.  Auch  seine  Kunst ,  die  er  mit 
Ewald  teilt,  an  kleine,  schwache  Fäden  die  schwersten  Gewichte  zu 
hängen  und  blosz  entfernte  Vermutungen  als  sichere  Gewisbeiten  auszu- 
bieten, ist  hier  in  ihrer  ganzen  Keckheit  entfaltet,  nicht  minder  aber  seine 
Meisterschaft,  einzelne  von  der  bisherigen  Exegese  noch  nicht  gelöste 
Räthsei  and  Schwierigkeiten  zu  entdecken  und  mit  klarem,  nüchternem 
Verstände  schonungslos  auch  jede  Art  von  unberechtigter  Ueberschwäng- 
iiehkeit  zurückzuweisen.  In  vornehmem  Ignoriren  herkömmlicher  Ansich- 
ten geht  er  auch  hier  insofern  wirklich  gar  zu  weit,  als  er  über  die 
messianischen  Auffassungen  dieses  Psalms  kein  einziges  Wort  sagt. 
Hupfeld  seinerseits  zeigt  ebenfalls  hier  seine  glänzende  Seite  der  ruhigen, 
allseitigen  Erwägung  und  Besprechung  aller  Punkte,  die  irgend  bei  die- 
sem-Lied  zur  Sprache  kommen  können,  wird  der  Tiefe  des  Inhalts  ge- 
recht ,  ohne  den  sichern  Boden  und  die  nüchterne  Klarheit  aufzugeben, 
unterscheidet  sich  aber  vor  Allem  durch  die  von  ihm  grundsätzlich  sehr 
scharf  durchgeführte  Abweisung  der  modernen,  sogenannten  positiven 
Kritik  Ewald' s  und  Hitzig's,  in  der  er  (s.  Bd.  IV,  §  7  Anm.  37)  eine  unent- 
schuldbare kritische  Vermessenheit  erblickt. 

Und  dennoch  ist  beim  Lichte  betrachtet  die  Kluft  zwischen  diesen 
Beiden  gar  nicht  so  gross  und  keineswegs  unauefüllbar.  Der  Einheits- 
punkte sind  mehr  als  der  Unterschiede.  Auszer  dem ,  was  oben  über  die 
Aehnlicbkett  ihres  Standpunkts  in  den  wesentlichsten  Dingen  gesagt  war, 
die  hier  an  der  gewis  im  Grunde  fast  ganz  gleichen  Ansicht  über  den 
dogmatischen,  messianischen  Gehalt  dieses  Schriftstücks  gar  leicht  im 
Einzelnen  sich  nachweisen  liesze,  möchte  ich  behaupten,  dasz  auch  über 
die  scheinbar  so  schroffen  Gegensätze  hinsichtlich  defZolässigkeit  einer 
geschichtlichen  Grundlage  und  Beziehung  des  Psalmen  eine  Verständigung 
nichts  weniger  als  unmöglich  ist.  Würde  der  verhängnisvolle  dritte  Vers 
fehlen,  so  würde  Hitzig,  der  hier  merkwürdigerweise  mit  der  positiven 
Ansicht  der  älteren  Kirche,  daset  die  Ueberschriften  echt  seien,  überein- v 
stimmt,  ebenso  gewis  nicht  auf  der  Beziehung  des  Psalms  auf  eine  Ver- 
kommenheit aus  David's  Leben  bestehen ,  als  andererseits  Hupfeld  dieser 

10* 


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140  H.  Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen. 

Beziehung  nicht,  länger  entgegenträte,  sobald  in  diesem  dritten  Verse  auch 
nur  ein  weiterer  mehr  bezeichnender  Zug  aus  dem  Bilde  oder  der  Zeit 
David's  nachweisbar  wäre.  Man  sieht ,  es  handelt  sich  durchaus  nicht  um 
qualitative  Verschiedenheiten ,  sondern  nur  um  ein  Mehr  oder  Weniger, 
und  zuletzt  darum ,  dasz  der  Eine  sich  scheuen  zu  müssen  glaubt,  ein 
non  liquet  auszusprechen,  sobald  irgend  eine  Möglichkeit  vorzuliegen 
scheint,  die  Gelegenheit  und  einzelne  Lage  nachzuweisen,  aus  der  ein 
Lied  entsprungen  ist,  während  der  Andere  aus  Scheu,  zu  viel  zu  be- 
haupten, lieber  möglichst  wenig  behauptet.  Man  kann  es  auf  der  einen 
Seile  ebenso  schmerzlich  als  aufrichtig  bedauern,  dasz  in  unserer  Zeit  so 
viele  Theologen  und  Bibelforscher,  die  in  den  ersten  Prinzipien  nahezu 
ganz  einig  sind ,  sich,  gegen  einander  oft  so  gegensätzlich  gebärden  und 
anstellen ,  auf  der  andern  Seite  kann  aber  dabei  die  Sache  und  die  Wahr- 
heit häufig  nur  gewinnen. 

Wenigstens  im  vorliegenden  Falle  verhält  es  sich  so.  Es  konnte 
scheinen,  Hupfeld  habe  durch  seine  umsichtige  Auslegung  i.  J.  1855  die 
Akten  über  den  fraglichen  Psalm  gewissermassen  abgeschlossen;  man 
konnte  etwa  noch  über  das  Einzelne,  wie  z.  B.  schon  über  die  rätsel- 
hafte Form  des  zweiten  Verses  verschiedener  Ansicht  sein,  in  allen 
Hauptsachen  aber  befriedigte  zunächst  seine  billige,  eine  schöne  Mitte 
zwischen  den  zwei  Extremen  haltende  Ansicht  unstreitig  das  wissen- 
schaftliche wie  das  fromme  Bewustsein  unserer  Zeit.  Viele  hätten  sich 
in  diesem  vermeintlichen  Besitz  einer  ganz  sichern  Errungenschaft  be- 
friedigt gefühlt.  Nun  kommt  aber  nur  ein  paar  Jahre  später  Hitzig  mit 
seiner  die  frühere  vom  J.  1835  und  36  verbessernden  und  ergänzenden 
Bearbeitung  der  Psalmen,  wirft  wieder  gewichtige  Bedenken  in  den  Weg, 
zeigt  unwiderleglich,  wo  und  warum  noch  zu  ändern  und  zu  bessern  sei, 
überzeugt  mit  schlagenden  Gründen,  dasz  in  diesem  Psalmen  V.  3  indivi- 
duelle, geschichtliche  Veranlassung  haben  müsse;  und  siehe  da,  man 
sieht  sich  zwar  wieder  aufgestört  aus  seiner  Buhe,  aber  ebendadurch  da 
und  dort  im  Verständnis  wesentlich  gefördert. 

Wir  haben,  wenn  ich  anders  recht  sehe,  an  Hupfeld  und  Hitzig 
zwei  gleich  ehrenwerte  Vertreter  der  einander  allerdings  scharf  gegen- 
überstehenden Grundansichten  von  der  Psalmenpoesie.  Hitzig's  Haupt- 
vorzug besteht  in  der  vollen  Anerkennung  und  consequenten  Durchführung 
des  entschieden  wahren  Satzes:  jedes  gute  lyrische  Gedicht,  und  so  auch 
die  besten  Psalmen  aus  der  Blütezeit  dieser  Litteratur  bei  den  Hebräern, 
ist  ein  Gelegenheitsgedicht.  Welch  äuszerst  glückliche  Griffe  er  dieser 
richtigen  Einsicht  und  seiner  Gonsequenz  verdankt  und  welchen  Gewinn 
auch  jetzt  noch  nach  so  vielen  Bearbeitungen  der  Psalmen  die  wirklich 
richtigste  Auslegung  derselben  davon  hat,  dessen  kann  man  sich  äuszerst 
oft,  in  besonders  hohem  Grade  z.  B.  bei  der  Auffassung  des  so  vielfach 
gezwungen  aufgefaszten  sechszehnten  Psalms  vergewissern.  Durch  die 
Beziehung  auf  1.  Sam.  30  ist  ein  Schlüssel  gefunden,  für  den  wir  recht 
dankbar  sein  dürfen.  Wer  möchte  leugnen,  dasz  hier,  und  auch  sonst 
nicht  selten,  Hitzig  den  unbefangenen  Leser  geradezu  nötigt,  ältere  selbst 
Hebgewördene  Ansichten  geradezu  über  Bord  zu  werfen  ?    Aber  es  wäre 


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H.  Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen.  141 

ganz  verfehlt,  wenn  man  nun  ohne  Weiteres  jede  andere  Auslegung,  die 
auf  dem  audern  Extreme  steht ,  welche  neinlich  solche  individuelle  Ver- 
anlassungen leugnet  und  höchstens  die  Möglichkeit  davon  da  und  dort  zu* 
gibt,  in  sehr  vielen  Fallen  aber  mit  gröster  Entschiedenheit  blosz  allge- 
meine  Beziehung  annimmt,  als  unhaltbar  und  veraltet  betrachten  wollte. 
Nicht  allein  ist  es  in  vielen  Fällen,  auch  Hitzig  gegenüber,  gar  wol  ge» 
rechtfertigt,  an  der  Richtigkeit  der  vorausgesetzten  individuellen  Beziehung 
dieses  oder  jenes  Lieds  zu  zweifeln  und  den  allzu  kecken  Behauptungen 
ein  Halt,  ein  non  liquet  zuzurufen;  nein,  es  ist  gar  sehr  erwünscht,  bei 
bei  einem  und  demselben  Gedicht  von  dem  einen  Ausleger  den  indivi- 
duellen, von  dem  andern  den  allgemeinen  Charakter  und  Gedankeninhalt 
hervorgehoben  zu  sehen.  Denn  beides  hat  seine  Berechtigung.  Hitzig 
kann  vorkommenden  Falls  ganz  recht  haben,  zu  sagen,  dieser  Psalm  ist 
aus  der  und  der  Lebenslage  David's  hervorgegangen,  und  Hupfeld  hat  auch 
recht,  wenn  er  davon  absehend  auseinandersetzt,  welche  allgemeine 
Wahrheiten  das  Lied  behandle.  Denn  das  ist  das  Schöne  der  ech- 
ten gesunden  Lyrik;  sie  erfaszt  die  individuellste  Erfah- 
rung und  Empfindung  so  in  der  Tiefe,  dasz  sie  zu  einer 
allgemeinen  wird  und  in  allen  gesunden  Menschengemü- 
tern widerklingt. 

In  diesem  Betracht  kann  namentlich  die  Schule  von  diesen  beiden 
Commentaren  und  besonders  von  ihrer  Vergleichung  um  so  gröszeren  Ge- 
winn ziehen ,  da  einer  den  andern  ergänzt  und  jeder  dafür  sorgt ,  dasz 
man  bei  dem  auf  der  Gegenseite  nicht  zu  frühe  sich  beruhigt  und  einer 
bedenklichen  Sicherheit  und  Zuversicht  Raum  gibt. 

So  werden  wir  bei  unserem  achten  Psalm,  und  auch  sonst  oft,  zu- 
nächst von  Hitzig's  Auffassung  und  historischer  Grundlegung  ausgehen 
müssen ,  in  Betreff  der  allgemeinen  Beziehungen  aber  ebenso  Hupfeld' s 
Winke  dankbar  zu  benutzen  haben  und  teilweise  über  beide  hinausgehend 
und  hinausstrebend ,  den  Schülern ,  denen  ja  doch  je  und  je  auch  derlei 
umfassendere  Gesichtspunkte  eröffnet  werden  sollen,  etwa  Folgendes  zu 
sagen  haben: 

1.  Der  8.  Psalm  hat,  so  sehr  er  sich  ins  ideelle  Gebiet  erhebt,  eine 
;  individuelle  Veranlassung  gehabt;  er  ist  (wie  Hitzig  nachweist)  na- 
mentlich im  dritten  Vers  nur  unter  dieser  Voraussetzung  vollkommen  klar. 
Der  nächste  dem  Verfasser  vorschwebende  Sinn  kann  nicht  wol  allego- 
risch-symbolisch gefaszt  werden ,  und  es  ist  somit  unrichtig ,  wenn  die 
meisten  Ausleger  nur  diesen  letzteren  Sinn  gelten  lassen  wollen. 

2.  Es  ist  möglich,  dasz  diese  Veranlassung,  wie  Hitzig  meint,  in 
dem  1.  Sam.  30, 1.  2  Erzählten  zu  suchen  ist.  Doch  ist  es  zu  viel  gewagt, 
auf  diese  so  kurze  Notiz  eine  ganz  sichere  Vermutung  zu  bauen.  Wahr- 
scheinlicher ist  es  wol,  dasz  vielmehr  eine  uns  nicht  mehr  bekannte 
noch  auffallendere  Rettung  von  Feinden  durch  die  Hand  von  Kindern  zu 
Grunde  liegt. 

3.  Aber  V.  5  und  6  läszt,  was  Hitzig  nicht  genug  beachtet  hat,  wei- 
ter vermuten ,  dasz  sich  bei  dem  Dichter  an  diesen  einzelnen  Fall  eine 
durch  denselben  angeregte  neue  Betrachtung,  jedoch  wiederum  indivi- 


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142  H.  Hupfeld  und  F.  Hitzig:  die  Psalmen.     - 

dtieller  Art,  angeschlossen  haben  mag,  dasz  nämlich  etwa  David,  heim- 
gekehrt  von  einer  Unternehmung ,  bei  welcher  er  jene  Durchhilfe  mittelst 
dieser  Unmündigen  erfahren  hatte,  mit  sinnendem,  frommem  Gemüte  in 
dem  Kreise  seiner  Familie  das  Wesen  der  Kinder  weit  überhaupt 
ins  Auge  gefaszt  hat,  wobei  er  sich  gleichsam  selbst  über  dem  jetzt  zum 
ersten  Mal  auftauchenden  Gedanken  überrascht,  wie  hier  ebenso  wie  am 
Himmelszelt  Gottes  herablassende  Grösze  und  Gnade  offenbar  werde. 

4.  Diese  Betrachtungen  gestalteten  sich  ihm  mit  der  ganzen  Frische 
des  Selbsterlebten  zu  diesem  tiefsinnigen  Liede,  das  vermöge  seines  rei- 
chen Inhalts  verschiedene  Anwendung  zulftszt.  Insbesondere  läszt  sich 
in  diesem  Sinne  sagen :  cDer  Mund  der  Kinder  und  Säuglinge  ist  nur  Bei- 
spiel eines  schwachen  unberedten  oder  vielmehr  noch  gar  nicht  rede- 
fähigen  Mundes,  als  eines  Verteidigers  der  Ehre  Gottes,  der  dennoch 
hinreicht,  die  Gegner  Gottes  im  allgemeinen  Sinne,  die  Gottesleugner, 
zum  Schweigen  zu  bringen.9  Diese  allegorische  Anwendung  unserer 
Stelle,  wobeiem  sehr  feines  Otymoron  entsteht,  beruht  auf  dem  Vor- 
gang Christi  Matth.  21,  16,  und  findet  sich  seit  Calvin  bis  auf  Hupfeld 
bei  sehr  vielen  Auslegern. 

5.  Ja  der  tiefste  Sinn  des  Vs.  5 — 7  Gesagten  ist,  wie  überall,  wo 
die  Menschennatur  nach  ihrer  ideellen  Seite  betrachtet  wird,  in  voller 
Reinheit  und  Fülle  nur  in  der  Person  Christi  verwirklicht  worden. 

6.  Eine  Anwendung  des  von  der  Würde  des  Menschen  Gesagten 
auf  Christus  Hebr.  2,  6 — 9.,  1.  Kor.  15,  27.  28  ist  somit  in  diesem  Sinne 
wol  gerechtfertigt.  Somit  können  wir  also  mit  Calvin  und  Hengstenberg 
eine  zwar  uns  erlaubte,  aber  vom  Verfasser  nicht  gemeinte  indirectc 
Beziehung  auf  Christus  zugeben,  sofern  in  ihm  erst  die  Idee  der 
Menschheil,  die  in  der  Wirklichkeit  durch  die  Sünde  geschwächt  ist,  in 
vollem  Glänze  wieder  erschienen  ist.  So,  aber  auch  nur  so,  ist  der  Psalm 
eine  messianische  Weissagung. 

Schönthal.  L.  Mezger. 


14. 

Das  Schulwesen  der  Jesuiten  nach  den  Ordensgesetoen  dargestellt 
von  Dr.  Guside  Weicher,  College  am  königl.  Pädagogium 
m  Hatte.  Halle,  Verlag  der  Buchhandlang  des  Waisenhauses. 
1863.  VIti.  288  S.  8.   (1%ThIr.) 

Wie  Vieles  auch  über  die  Gesellschaft  Jesu  geschrieben  worden  ist, 
so  fehlt  es  doch  noch  immer  an  einer  zuverlässigen  und  erschöpfenden 
Geschichte  ihres  Erziehungs-  und  Unterrichlswesens.  Freilich  ist  es  eine 
gewaltige  Aufgabe,  das  überaus  reiche  und  massenhafte,  aber  noch  wenig 
geordnete  und  gesichtete  Material  zu  bewältigen,  und  je  ernster  die  Auf- 
gabe genommen,  je  gewissenhafter  die  Arbeit  ausgeführt  würde,  desto 


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6.  Weicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten.  143 

eher  könnte  wol  auch  die  Sache,  welche  darzustellen  ist,  Verdrusz  und 
Uebcrdrusz  erwecken.  Dennoch  ist  es  in  hohem  Grade  wünschenswerth, 
dasz  die  Ausführung  einer  solchen  Geschichte  endlich  einmal  von  einem 
freien  und  energischen  Geiste  unternommen  werde.  Es  mfiste  ja  doch 
eine  ausserordentlich  lehrreiche  und  selbst  für  nichtpädagogische  Leser 
in  mehr  als  einer  Beziehung  spannende  Geschichte  werden,  eine  Ge- 
schichte feinster  Berechnung  und  mühsamsten  Fleiszes,  kühnster  Ent- 
schlossenheit und  unbeugsamster  Beharrlichkeit,  eine  Geschichte  man* 
nichfaltiger  Entwicklungen  bei  einer  Angstiich  bewahrten  Stabilität, 
groszartiger  Erfolge  in  einem  oft  leidenschaftlichen  und  gefährlichen 
Kampfe,  aber  auch  eine  Geschichte  verhängnisvoller  Verwirrungen  und 
bedenklicher  Experimente,  wobei  die  heiligsten  Rechte  rücksichtslos  ver- 
kannt, ganze  Geschlechter  in  falsche  Bahnen  geleitet,  edle  Völker  in  sich 
gespalten  und  zerrüttet  worden  sind.  Und  je  mehr  der  Geist,  den  diese 
Geschichte  in  seinem  Schaffen  und  Walten  darzustellen  bitte,  ein  noch 
immer  in  einem  weiten  Völkerkreise  fortwirkender  ist,  je  zuversichtlicher 
er  gerade  in  unsern  Tagen  sich  wieder  erhoben  und  geltend  gemacht  hat, 
desto  notwendiger ,  desto  wichtiger  kann  es  erscheinen ,  dasz  in  einer 
umfassenderen  historischen  Darstellung  recht  Vielen  zum  Bewustsein  ge- 
bracht werde,  was  dieser  Geist  will,  was  er  wirkt,  wohin  er  fährt 

Es  würde  aber  eine  solche  Geschichte  am  füglichsten  in  drei  Zeit- 
alter einzuteilen  sein:  in  das  Zeitalter  der  Ausbreitung  und  Organisation 
(etwa  bis  in  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts),  in  das  Zeitalter  der  Ermat- 
tung und  Stagnation  (bis  zur  Katastrophe  im  J.  1773) ,  in  das  Zettalter 
der  Restauration.     Leicht  ist  zu  erkennen ,  wie  dabei  auf  alle  bedeut- 
sameren Bewegungen  der  letzten  drei  Jahrhunderte  mit  einzugehn  und 
der  Einflusz  des  Jesuitismus  auf  Leben  und  Bildung  der  Völker  durch  die 
Schule  nicht  eben  nur'unter  einem  knapp  pädagogischen  Gesichtspunkt  zu 
fassen,  sondern  mit  dem  weiter  schauenden  Auge  des  Gulturhistorikers 
zu  betrachten  wäre.    Gerade  auf  die  Resultate  jesuitischer  Pädagogik 
würde  besonders  Rucksicht  zu  nehmen  sein ;  und  diese  sind  doch  bei  den 
|  verschiedenen  Völkern  wieder  sehr  verschiedene  gewesen. 
|        Indes  sind  freilich  die  Resultate  wieder  nicht  zu  begreifen  ohne  ein 
f  gründliches  Verständnis  und  eine  unbefangene  Auffassung  und  Kritik  der 
'  Gesetzgebung,  welche  der  Orden  für  seine  pädagogische  Thätigkeit  sich 
-  gegeben  hat.     Eine  Darstellung,  welche  solches  Verständnis  und  solche 
Auffassung  möglich  macht ,  führt  notwendig  auch  zu  tieferer  Einsicht  in 
i  den  Geist  9  welcher  das  ganze  Institut  des  JesuiÜsmus  beherscht  und  es 
zu  einer  so  ausserordentlichen  Macht  erhoben  hat.   Und  eine  solche  Dar- 
stellung bietet,  nun  das  Bueh,  mit  welchem  wir  uns  hier  etwas  genauer 
j  und  eingehender  beschäftigen  wollen. 

Die  Arbeit  ist  aus  Studien  hervorgegangen ,  welche  der  Verf.  als 
I  Mitglied  des  pädagogischen  Seminars  an  der  Universität  Halle  unter  Lei- 
tung des  Directors  Prof.  Dr.  Kramer  gemacht  hat.     Die  da  begonnenen 
Quellenstudien  hat  er  seitdem  fleiszig  fortgesetzt  und  jetzt  in  der  Weise 
zum  Abschlusz  gebracht,  dasz  ein  specieli  ausgeführtes  Bild  der  Orga- 
|  nisation  des  jesuitischen  Schulwesens  vor  uns  steht.     Der  Verf.  geht 


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144  G.  Weicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten. 

also  bei  seiner  Darstellung  durchweg  von  den  Anordnungen  aus ,  welche 
der  Orden  in  der  ersten  Zeit  seiner  Entwicklung  für  Erziehung  und  Unter- 
richt seiner  Gollegien  aufgestellt  hat,  und  unverkennbar  ist,  dasz  er  mit 
groszer  Unverdrossenheit  und  scharf  eindringender  Aufmerksamkeit  ge- 
forscht hat ,  um  ein  durchaus  selbständiges  Urteil  zu  gewinnen.  Aber  er 
berücksichtigt,  wie  natürlich,  auch  dasjenige,  was  sonst  an  Hilfsmitteln 
zur  Hand  ist,  ohne  mit  Ostentation  Citate  zu  häufen.  Wir  können  nun 
wol  sagen ,  dasz  wir  in  der  bezeichneten  Umgrenzung  eine  erschöpfende 
Darstellung  vor  uns  haben ,  die  eben  deshalb  auch  als  eine  sehr  zuver- 
lässige Vorarbeit  zu  einer  umfassenden  Geschichte  des  jesuitischen  Schul- 
wesens anzusehen  ist.  Gewis  wird  sich  dem  mühseligen  Geschäft,  das 
Corpus  Institutorum  Societatis  JEsu  (2  Voll.  Antverp.  1702.  4)  durchzu- 
arbeiten, nicht  so  bald  auf  gleiche  Weise  ein  Anderer  unterziehen. 

Der  Standpunkt  des  evangelischen  Bekenntnisses,  auf  welchem  der 
Verf.  steht,  nötigt  ihn  freilich  oft  zu  einer  nachdrücklichen  Polemik; 
doch  ist  diese  Polemik  eben  nur  aus  der  Sache  selbst  hervorgegangen, 
nicht  Absicht  gewesen  bei  der  Wahl  des  Stoffes,  nicht  eine  die  That- 
sachen  irgendwie  fälschende  Tendenz.  Das  Urteil  würde  kaum  eine 
erhebliche  Moditication  erfahren  haben ,  wenn  der  Verf.  auch  mehr  noch, 
als  er  gethan ,  auf  die  z.  T.  sehr  schwungvollen  Schilderungen  jesui- 
tischer Praxis  aus  neuerer  Zeit  sich  eingelassen  hätte.  Dem  wahrhaft 
leichtsinnigen,  aus  grober -Unkenntnis  kommenden  Gerede  in  Körners 
Geschichte  der  Pädagogik  (Leipzig  1867)  ist  an  mehrern  Stellen  (S.  9, 165, 
246 ,  247 ,  266  f.)  die  gebührende  Abfertigung  zu  Teil  geworden. 

.  Die  Anlage  des  Buches  ist  sehr  zweckmäszig.  Nachdem  in  der  Ein- 
leitung die  Bedeutung  der  jesuitischen  Pädagogik,  die  Entstehung  des 
jesuitischen  Erziehungssystems,  die  Uebersicht  der  Quellen  und  Hilfsmittel 
Gegenstände  der  Darstellung  gewesen  sind,  kommen  zur  Behandlung: 
(Gap.  1)  Zweck  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  nach  jesuitischer  An- 
schauung, (Gap.  2)  die  verschiedenen  Arten  der  jesuitischen  Lehr-  und 
Erziehungs-Anstalten,  (Gap.  3)  die  äuszere  Schul  Verfassung ,  (Gap.  4)  die 
Lehrverfassung,  (Gap.  6)  die  sittliche  und  religiöse  Erziehung.  Ein  zu- 
sammenfassender ^Rückblick'  sohlieszt  das  Ganze.  Es  möge  gestattet  sein, 
das  so  Dargebotne  noch  etwas  specieller  zu  besprechen. 

Die  'Bedeutung  der  jesuitischen  Pädagogik'  wird  in  der  Weise  dar- 
gestellt, dasz  zunächst  und  zumeist  die  Zeugnisse  Berücksichtigung 
finden,  welche  die  Päpste  und  Fürsten  des  16.  Jahrhunderts,  aber  auch 
protestantische  Schul  -  und  Staatsmänner  zu  Gunsten  derselben  abgegeben 
haben.  Doch  wird  dann  in  anderer  Art  noch  hervorgehoben ,  wie  jene 
Bedeutung  vor  Allem  in  der  Einengung,  Bekämpfung  und  Zurückdrängung 
des  Protestantismus,  und  scheinbar  mit  den  Waffen  des  Protestantismus, 
zu  erkennen  sei.  Allerdings  wäre  hier  wol  auch  noch  manches  Andere 
mit  in  Betracht  zu  ziehn.  Müste  hier  nicht  auch  des  Einflusses  gedacht 
werden ,  welchen  das  jesuitische  Schul  -  und  Erziehungswesen  auf  das 
gesamte  Leben  der  katholischen  Völker  ausgeübt  hat?  Denn  in  Wahrheit 
sind  diese  länger  als  zwei  Jahrhunderte  vom  Jesuitismus  beherscht  wor- 
den, der  ja  direct  oder  indirect  alles  katholische  Unterrichts«  und  Er- 


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G.  Weicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten.  145 

ziehungswesen  selbst  da  bestimmte,  wo  andere  Orden  oder  Gongregationen 
sich  seinen  Einwirkungen  zu  entziehen  und  eine  selbständige  Haltung 
sich  zu  bewahren  suchten.  Daher  dann  auch,  als  der  Orden  gefallen  war, 
die  Zerrüttung  so  grosz,  der  Ersatz  so  schwer!  Dürfte  man  hier  auf 
Specielles  sich  einlassen ,  so  würde  es  z.  B.  eine  überaus  fruchtbare  Be- 
trachtung sein,  wenn  man  sich  vergegenwärtigen  wollte,  was  der  Adel 
Frankreichs  oder  auch  Polens  durch  seine  jesuitischen  Erzieher  gewor- 
den ist. 

Sehr  kurz  ist  die  'Entstehung  des  jesuitischen  Erziehungssystems' 
behandelt.  Der  Verf.  hat  darauf  verzichtet,  die  Gründe  darzulegen, 
welche  den  Jesuitismus  so  glänzende  Siege  feiern,  so  ausgedehnte  Er- 
oberungenmachen lieszen;  eben  so  wenig  ist  er  darauf  bedacht  gewesen, 
den  Zusammenhang  der  jesuitischen  Pädagogik  mit  den  auch  von  prote- 
stantischen Schulmännern  (Hieronymus  Wolf,  Michael  Neander,  Gome- 
nius)  benutzten  Leistungen  des  Spaniers  Ludwig  Vi ves  aufzuzeigen. 
Vgl.  Jahrbücher  Bd.  76.  S.  118  ff.  Für  den  Verf.  richtete  sich  die  Auf- 
merksamkeit vor  Allem  auf  die  Entstehung  der  für  alle  folgenden  Zeiten 
maszgebend  gebliebenen  Schulgesetzgebung  Aquaviva's  (Ratio  et  insti- 
tatio  studiorum  Societatis  JEsu),  durch  welche  die  bei  der  auszerordent- 
lichen  Ausbreitung  des  Ordens  höchst  wünschenswerthe  Üiiiformität 
erreicht  wurde.  Sehr  beachtenswerth  ist  in  der  hier  gegebenen  Dar- 
stellung der  Nachweis ,  dasz  eigentlich  doch  Deutschland ,  das  Land  der 
Schulen ,  das  Hauptland  für  die  jesuitische  Schulpraxis  gewesen  ist.  Im 
J.  1679  kamen  von  den  578  Gollegien,  welche  der  Orden  damals  besasz, 
auf  Deutschland  und  seine  Pertinenzien  (incl.  Polen  und  Ungarn)  161,  also 
über  ein  Viertel  der  Gesamtheit  und  mehr  als  ein  Drittel  der  (469)  euro- 
päischen Gollegien ,  eine  Zahl ,  die  in  manchen  Gegenden ,  besonders  am 
Niederrbein  und  in  Böhmen  auf  das  Doppelte  stieg,  sobald  man  die  zahl- 
reichen Residentiae  Gollegiorum  hinzurechnete. 

Bei  der  Uebersicht  über  die  'Quellen  und  Hilfsmittel9  ist  mit  Recht 
auch  der  Lettres  provinciales  von  Pascal  ausführlicher  gedacht;  ja  der  Verf. 
nimmt  keinen  Anstand,  denselben*  gleiche  Dignität  mit  den  Quellen  im 
engsten  Sinne  beizulegen.  Wir  wollen  dabei  auf  die  apologetischen  Be- 
merkungen des  Abbe*  Maynard  in  s.  Werke  Pascal,  sa  vie  et  son  carac- 
tere,  ses  Berits  et  son  ge^nie  (Paris  1850)  T.  I,  351 — 513,  die  wol  einer 
Prüfung  werth  sind,  aufmerksam  machen.  Sonst  liesze  sich  bei  diesem 
Abschnitte  fragen ,  ob  zif  den  Hilfsmitteln  nicht  besonders  noch  die 'wich- 
tigeren Schul-  und  Lehrschriften  der  Jesuiten  des  ersten  Zeitalters  ge- 
hören ;  wir  denken  dabei  an  die  Katechismen  von  C  a  n  i  s  i  us  und  A  u  g  i  e  r 
(Auger) ,  an  die  Leistungen  zahlreicher  Jesuiten  für  Poetik  und  Rhetorik, 
an  die  umfassenden  Arbeiten  Possevin's,  die  z.  T.  geradezu  als  Com- 
mentare  zur  Ratio  Studiorum  gelten  können.  Vgl.  über  die  unter  dem 
Einflüsse  der  Jesuiten  entwickelte  Katechismuslitteratur  Daniel  Classische 
Studien  in  der  christlichen  Gesellschaft ,  deutsch  von  Gaiszer  (1855) 
S.  311  ff.,  über  Possevin  ebd.  S.  192  ff.  und  305  ff.  Freilich  würde  der 
Verf.  bei  solcher  Erweiterung  seiner  Studien  kaum  zu  wesentlich  andern 
Ergebnissen  gekommen  sein. 


idby  VJiO 


146  6.  Weicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten. 

Der  *Zweck  der  Erziehung  und  des  Unterrichts',  welchen  die  Jesui- 
ten vor  Augen  hatten ,  erscheint  allerdings  auf  den  ersten  Blick  als  ein 
durchaus  anerkennenswerther  (ad  profectum  animarum  in  vita  et  doctrina 
christiana  intendit  societas) ;  aber  bei  dem  tieferen  Einblick  in  die  Ten- 
denzen des  Ordens,  welchen  der  Verf.  S.  35  ff.  uns  gewinnen  läszt,  ist 
es  doch  unverkennbar,  dasz  man  besonders  an  Gewinnung  und  Heranbil- 
dung der  Jugend  für  das  Interesse  und  den  Dienst  des  Ordens  dachte. 
Auch  die  in  der  früheren  Zeit  strenger  festgehaltene  Unentgeltlichkeit  des 
Unterrichts  ergab  sich  vorzugsweise  aus  dieser  Tendenz ,  und  bekannt  ist, 
wie  solche  in  Wahrheit  nur  scheinbare  Liberalität  verlockend  selbst  auf 
protestantische  Aeltern  wirkte. 

Bei  Schilderung  der  'verschiedenen  Arten  der  jesuitischen  Lehr-  und 
Erziehungsanstalten'  S.  42  ff.  hat  der  Verf.  aus  guten  Gründen  auf  die 
Gollegia  sich  beschrankt.  Eine  Berücksichtigung  der  Universitäten ,  die 
ganz  oder  teilweise  unter  die  Herschaft  des  Ordens  gekommen  sind,  lag 
der  Aufgabe  des  Buches  fern ,  und  was  in  solcher  Beziehung  etwa  behan- 
delt werden  konnte,  das  dürfte  bei  der  Charakteristik  der  Studia  supe- 
riöra  seine  Erledigung  gefunden  haben.  Die  Vernachlässigung  der  Volks- 
schule macht  der  Verf.  nach  dem  Vorgange  Vieler  den  Jesuiten  stark  zum 
Vorwurf.  Indesz  ist  doch  wol  zu  beachten,  dasz  lange  Zeit  ja  auch  auf 
dem  Gebiete  des  Protestantismus  eine  eigentliche  Volksschule  nicht  zur 
Entwicklung  kam,  dasz  die  Jesuiten  die  Sorge  für  die  Jugend  des  Volks 
z.  T.  andern  Orden  überlassen  konnten,  dasz  ihre  Katechismus  vielfach 
auch  in  die  Landessprachen  übersetzt  und  den  Kindern  des  Volks  in  die 
Hand  gegeben  wurden ,  (welche  Bedeutung  der  kleine  Katechismus  des 
Gauisius  für  das  Bistum  Würzburg  gewann,  davon  s.  Archiv  des  hist. 
Vereins  von  Unterfranken  und  Aschaffenburg  XIV  2 ,  170  f.) ,  dasz  die  im 
J.  1571  von  Pius  V  bestätigte  Christenlehrbruderschaft,  die  ganz  unter 
dem  Einflüsse  des  Jesuitenordens  sich  entwickelt  und  besondere  Bedeu- 
tung auch  in  Belgien  und  Deutschland  gewonnen  hat,  mit  Eifer  gerade 
für  die  religiöse  Bildung  der  Jugend  des  Volkes  sorgte  (v.  Helfer t  die 
Gründung  der  österreichischen  Volksschule  durch  Maria  Theresia  S.  39  f. 
und  64  f.) , .  dasz  die  Jesuiten  Anstalten  und  Stiftungen  für  arme  Kinder 
und  Waisen/  gern  unter  ihre  Leitung  und  Aufsicht  nahmen  usw..  Auch 
standen  ja  die  Jesuiten  sonst  dem  Volke  nicht  fern ;  wie  ihre  Prediger  auf 
die  Massen  gewirkt  haben,  ist  bekannt.  Dabei  soll  nicht  geleugnet  wer- 
den ,  dasz  sie  am  liebsten  doch  in  den  höhern  Regionen  sich  hielten. 

Auf  die  sehr  detaillirle  Beschreibung ,  welche  der  Verf.  der  'äuszern 
Schulverfassung'  gewidmet  hat,  können  wir  nicht  wol  specieller  eingehn. 
Er  führt  uns  nach  einander  vor  die  obere  Leitung  und  Beaufsichtigung 
des  jesuitischen  Schulwesens,  die  Verwaltung  der  einzelnen  Collegia ,  die 
Vorsteher,  Beamten  und  Lehrer  der  Collegia,  die  Schulverhältnisse  (Scho- 
lastik societatis,  Alumni  und  Convictores,  Scholastici  externi),  die  Glie- 
derung der  einzelnen  Anstalten,  die  Jahres-  und  Tagesordnung  (S.54 — 122). 
Bei  der  Schilderung  der  Lehrerverhältnisse  hätte  der  häufige  Lehrerwech- 
sel stärker  betont  werden  sollen.  Die  Scholastici  externi  durften  nicht 
genannt  werden,  ohne  der  protestantischen  Jesuitenzöglinge  ausführlicher 


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G.  Wekker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten.  147 

zu  gedenken,  wenn  auch  in  den  Ordensgesetzen  auf  solche  nicht  aus- 
drücklich Rücksicht  genommen  wird.  Durch  zahlreiche  Beispiele  läszt 
sich  darthun,  dasz  im  Zeitalter  der  heftigsten  confessiouellen  Gegensätze 
die  Collegien  der  Jesuiten  fort  und  fort  Knaben  und  Jünglinge  protestan- 
tischer Aeltern  sich  zugeführt  sahen.  Am  auffallendsten  erscheint,  was 
in  Preuszen  geschah.  Im  polnischen  Preuszen ,  wo  die  Jesuiten ,  von  den 
Bischöfen  eifrig  unterstützt,  eine  Schule  nach  der  andern  eröffneten,  war 
die  Versuchung  für  die  Protestanten  besonders  stark.  Den  Collegien  von 
Braunsberg,  von  Alt -'Schottland  vor  Danzig,  von  Rössel  ward  die  pro- 
testantische Jugend  der  höhern  Stände  trotz  mannichfacher  Warnungen 
zugeführt.  In  kurzer  Zeit  ergaben  sich  sehr  beunruhigende  Resultate 
(vgl.  Hirsch  Gesch.  des  akademischen  Gymnasiums  in  Danzig  S.  14  f.), 
und  als  ganz  Deutschland  schon  unter  den  Leiden  des  schrecklichsten 
Krieges  seufzte,  war  man  im  polnischen  Preuszen  den  Jesuiten  gegenüber 
noch  sehr  harmlos.  Im  Herzogtume  Preuszen  hatten  noch  am  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  die  Protestanten  grosze  Neigung,  ihre  Kinder  in  die 
Schulen  der  Jesuiten  zu  schicken.  Wichtig  für  diese  Verhältnisse  ist: 
Christlicher  Sendbrief  an  t die  evangelischen  Christen  in  Lieffland,  Polen, 
Preuszen ,  Litthauen ,  Churland  usw. ,  dasz  sie  ihre  Kinder  in  der  Jesuiten 
Schalen  zu  schicken  Abscheu  und  Gewissen  haben  sollen.  Geschrieben 
durch  Geo.  Mylium.  Jena  1596.  In  den  Fortgesetzten  Sammlungen  von 
Alten  und  Neuen  Theo).  Sachen  1737  S.  643—665.  Vgl.  Horkel  der 
Holikämmerer  Th.  Gehr  und  die  Anfänge  des  kgl.  Friedrichs-Collegiums 
zu  Königsberg  S.  40  f.  In  Hessen  hielt  Landgraf  Wilhelm  für  nötig, 
durch  die  1573  in  Marburg  versammelte  Generalsynode  eine  'getreue  und 
kurze  christliche  Warnung  der  Superintendenten  und  Theologen  des  Für- 
stentums Hessen  vor  der  Jesuiten  in  der  Nachbarschaft  hervorgebrachten 
verführerischen  Schulen  und  Lehren'  aussetzen  zu  lassen.  S.  Heppe 
Geschichte  der  hessischen  Generalsynoden ,  Bd.  I  S.  99  f. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  das  Gapitel  über  die  'Lelirverfassung' 
der  Jesuiten  (S.  122—227).  Nach  kürzerer  Besprechung  der  Studia  su- 
periora  (Theologie  in  einem  vierjährigen,  Philosophie  in  einem  dreijähri- 
gen Gursus) ,  behandelt  der  Verf.  in  sehr  eingehender  und  belehrender 
Weise  die  Studia  inferiora  (Litteras  humaniores),  den  Gymnasialunter- 
richt der  Jesuiten.  Es  wird  dabei  die  Auswahl  und  Verteilung  des  Lehr- 
stoffes, die  Methode  und  die  Schulzucht  uns  vorgeführt.  Dasz  beim 
Lehrstoff  wiederum  das  Lateinische  besonders  ausführlich  behandelt  wird, 
entspricht  eben  ganz  den  Verhältnissen  der  jesuitischen  Unterrichtspraxis. 
Mit  durchgreifender  Gonsequenz  haben  die  Jesuiten  bei  Wahl  und  Be- 
handlung der  classischen  Autoren  einerseits  Ausscheidung  und  Fernhal- 
tung des  sittlich  Bedenklichen,  andererseits  Beziehung  des  Unterrichts 
auf  Anwendung,  Verwerthung  der  Leetüre  für  grammatisch-stilistische 
Ausbildung  sich  zur  Aufgabe  gemacht.  Es  konnte  hierbei  vielleicht  noch 
mehr  hervorgehoben  werden,  dasz  doch  bei  Auswahl  der  Autoren  be- 
sonders maszgebend  auch  die  Rücksicht  auf  das  einer  christlichen 
Jugend  Dienliche  gewesen,  wie  denn  auch  die  Erklärung  der  Autoren 
nach  der  Ansicht  des  P.  Jouvency  von  der  Art  sein  sollte,  ut  scriptores, 


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148  G.  Weicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten. 

quamvis  ethnici  et  profani ,  onünes  fierent  quodammodo  Christi  praecones. 
Die  Ausführung  'wird  freilich  sehr  hinter  der  Idee  zurückgehlieben  sei». 
Ueber  den  Unterricht  in  der  Rhetorik  wären  uns  ausführlichere  Mitteilun- 
gen erwünscht  gewesen ;  das  kleine  Lehrbuch  der  Rhetorik  von  P.  Cy- 
prian  Suarez ,  schon  in  der  Ratio  studiorum  als  brevis  summa  empfohlen, 
hat  sich  bis  in  das  18.  Jahrhundert  als  brauchbar  erwiesen,  und  nach 
seinem  Teile  viel  dazu  beigetragen ,  dasz  der  Unterricht  der  Jesuiten  in 
so, wunderbarer  Stetigkeit  sich  erhielt.  Während  der  Verf.  dieses  Buch 
eben  nur  erwähnt ,  hat  er  S.  146  f.  Genaueres  über  die  Grammatik  des 
P.  Emanuel  Alvarez  gegeben,  doch  hier  wieder. die  Gelegenheit  nicht  be- 
nutzt, die  bei  den  Jesuiten  so  wichtigen  und  z.  T.  doch  auch  glänzende 
Leistungen  vorbereitenden  metrischen  Uebungen  zu  charakterisieren.  Die 
Vernachlässigung  der  Landessprachen  ist  natürlich  in  den  Schulgesetzen 
der  Jesuiten  nicht  gefordert ,  und  daher  hat  wol  auch  der  Verf.  darauf 
nur  obenhin  seine  Aufmerksamkeit  gelenkt;  aber  in  der  Praxis  war  sie 
allezeit  sehr  grosz ,  selbst  da  noch ,  als  von  oben  her  Pflege  derselben 
geboten  wurde.  Es  ist  klar,  welche  Nachteile  gerade  aus  solcher  Ver 
nachlässigung  für  den  ganzen  Unterricht  der  Jesuiten  sich  ergeben  musten. 
Derselbe  verlor  dadurch  die  Möglichkeit  wahrhaft  innerlicher,  triebkräf- 
liger  Bildung  und  verzichtete  zugleich  auf  freiere  und  volkstümliche 
Entwicklung  des  wissenschaftlichen  Lebens.  'Dem  Geiste  des  Schülers  bot 
sich  kein  Bewustsein  eines  Verhältnisses  zu  seinem  Volke,  weder  zur 
Vorzeit  desselben  noch  zur  Zukunft,  und  keine  Aussicht  zum  selbstän- 
digen Fortschritt  in  derselben;  er  war  festgebannt  an  den  schmalen  Baum 
der  Gegenwart,  an  eine  Stabilität  in  einer  allen,  keiner  Bildsamkeit  weiter 
fähigen  Sprache,  deren  eigenthümlichen  Bildungsgang  er  nicht  begriff 
und  nicht  aus  den  Quellen  begreifen  konnte,  die  bei  solcher  Anlernung 
uud  Behandlung  für  ihn  nicht  jiur  eine  todte,  sondern  auch  ertödtende 
war  und  blieb :  ein  vereinzeltes  Phänomen ,  losgerissen  von  allen  histo- 
rischen Bezügen,  ohne  Einflusz  auf  seine  geistige  Mündigkeit,  auf  Be- 
gründung einer  groszartigen  Weltansicht.'  (Birnbaum).  Bei  den  Be- 
mühungen der  mährischen  Stände  seit  1742,  eine  vollständige  Universität 
in  Olmütz  zu  erlangen ,  die  übrigens  ganz  unter  den  Jesuiten  bleiben 
sollte,  dachte  man  diese  auch  dahin  zu  bestimmen,  *1)  in  den  niedern  6 
Schulen  (Classen)  der  Jugend  gradualiter  das  Fundament  der  Universal- 
historie und  der  dazu  gehörigen  Chronologie,  dann  der  Geographie  und 
Heraldik  zu  lehren,  2)  nebst  der  Latinität  auch  eine  gute  deutsche 
Schreibart,  und  Redensart,  sowol  quoad  orthographiam ,  als  poesin,  epi- 
stolographiam  und  rhetoricam  auf  das  fleiszigste  beizubringen,  als  man 
bisher  zum  Nachteil  der  meisten  katholischen  Universitäten  erfahren  müs- 
sen ,  dasz  uach  neun  -  und  mehrjährigem  Studio  die  Studenten  fast  nicht 
den  mindesten  Begriff  von  der  für  einen  Gelehrten  sowol  in  Statu  politico 
als  ecclesiastico  so  nötigen  Historie  und  Geographie  erlangt ,  die  deutsche 
Muttersprache  aber  dermaszen  negligiert  worden,  dasz  öfters  ein  abso- 
luter Philosophus,  Theologus  und  Jurist  nicht  fähig  gewesen,  einen  guten 
und  correcten  Brief  zu  schreiben ,  noch  weniger  aber  einen  deutschen 
Vers,  Bittschrift  oder  Oration  zu  Stande  zu  bringen.'  Die  Wünsche  waren 


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Cr.  Weicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten.  149 

billig,  wurden  aber  doch  nicht  erfüllt.  $.  d'Elvert  Gesch.  der  Studien-, 
Schul-  und  Erziehungsanstalten  in  Mähren  und  öst.  Schlesien  (Brunn  1857) 
S.  19.  Neben  solchen  Thatsachen  läszl  sich  kaum  gellend  machen,  dasz 
Jesuiten  eine  grosze  Anzahl  ascetischer  Werke  in  den  Landessprachen 
geschrieben  haben,  der  Thatsache  aber,  dasz  ein  Jesuit  (Paz mann)  als 
Begründer  der  ungarischen  Büchersprache  genannt  werden  kann ,  steht 
die  andere  gegenüber,  dasz  durch  Jesuiten  die  böhmische  Nationallittera- 
tur  in  der  Zeit  der  Gegenreformation  vernichtet  worden  ist.  S.  S  u  g  e  n  - 
heim  Gesch.  der  Jesuiten  in  Deutschland  Bd.  I,  S.  283  f.  —  Wir  würden 
diese  Anzeige  allzusehr  ausdehnen  müssen ,  wenn  wir  nun  auch  an  das- 
jenige, was  der  Verf.  über  das  bunte  Vielerlei  der  jesuitischen  Erudition 
and  den  vielfach  in  Mechanismus  auslaufenden  Religionsunterricht  sagt, 
speziellere  Bemerkungen  anknüpfen  wollten.  Ebenso  müssen  wir  darauf 
Verzicht  leisten ,  in  die  sehr  anziehenden  Betrachtungen  über  die  Unter- 
richtsmethode der  Jesuiten  unsre  Leser  einzuführen ;  wir  beschränken  uns 
auf  die  Bemerkung ,  dasz  der  Verf.  durchweg  mit  sicherem  pädagogischen 
Takte  sein  Urteil  abgegeben  hat:  Ueberlieferung  und  Aneignung  des  Lehr- 
stoffs ,  Schulübungen ,  Aemulation ,  Schulakte ,  Examina ,  Disciplin  in  und 
auszerhaLb  der  Schule  treten  in  scharfer  Zeichnung  und  klarer  Beleuch- 
tung uns  vor  Augen. 

Ein  sehr  gelungener  Abschnitt  ist  auch  der  letzte  über  die  'sittliche 
ood  religiöse  Erziehung9  in  den  Jesuitenschulen.     Der  Verf.  zeigt,  wie 
der  in  seiner  theoretischen  Fassung  ganz  richtige  Grundsatz  des  Ordens, 
dasz  man  das  Leben  durch  und  durch  von  der  Religion  durchdringen  und 
bestimmen  lassen  müsse,  in  der  Praxis  arge  Veräuszerlichurig  erfahren, 
wie  die  Frömmigkeit  in  vielfacher  Andachtsübung  gesucht  worden ,  wie 
diese  selbst  wieder  durch  die  Ostentation,  die  man  hineinlegte,  durch  die 
Belohnungen,  die  man  damit  verband ,  durch  die  in  ödeste  Werkheilig- 
keit sich  verlierenden  Einzelandachten  (ad  horam  explendam)  als  Mittel  zu 
der  gefährlichsten  Verbildung  gedient,  während  man  religiöse  Erkenntnis 
nur  in  geringem  Masze  geboten  habe.     Und  nun  die  Beichte  mit  ihrer 
.  laxen,  das  sittliche  Leben  verwirrenden  Gasuislik !     Dann  wieder  neben 
|  peinlicher  Ueberwachung  und  Isolierung  der  Zöglinge  (Abtrennung  auch 
l  vom  Familienleben)  grosze  Nachsicht  gegen  die  Externen  und  schwer  zu 
[  begreifende  Schlaffheit  gegenüber  den  gröbsten  Verirrungen.  (Eine  Reihe 
auffallender  Beispiele  bei  Sökeland  Gesch.  des  Münsterschen  Gymna- 
siums S.  64  f.,  71  f.,  74,  78  ff.).     Mit  Bemerkungen  über  die  Sorge  für 
das  leibliche  Leben,  über  die  Uebung  in  den  Künsten  der  Geselligkeit 
und  den  Feinheiten  des  Anstandes  schlieszt  diese  Darstellung ,  die  sonach 
die  jesuitische  Erziehung  mit  vollendeter  Weltförmigkeit   enden  läszt. 
I    Ueber  die  Pflege  der  edlen  Kunst  des  Gesanges  ist  bei  den  Jesuiten  tiefes 
|    Schweigen.   Welch'  ein  Gegensatz  auch  hier  zu  den  Schulen  des  Prote- 
!    stantismus ,  in  denen  der  Gesang  eine  Ehrenstelle  hat ! 

Ein  'Rückblick9  S.  260—281  führt  die  Parallele  oder  vielmehr  den 

Gegensatz  zwischen  der  jesuitischen  und  der  protestantischen  Pädagogik 

durch  eine  Reihe  bedeutsamer  Momente  hindurch ;  für  ein  protestantisches 

I    Herz  eine  sehr  tröstliche  Betrachtung!     Gewis  litt  das  protestantische 


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150  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  sUtist.  Notizen. 

Schulwesen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  an  groszen'  und  tiefen  Gebre- 
chen, die  den  Vertretern  desselben  den  Kampf  gegen  den  kühn  und 
schlau  zugleich  operierenden  Jesuit ismus  zuweilen  recht  schwer  gemacht 
haben;  aber  bei  solcher  Ueberschau  kommt  man  doch  rasch  zu  dem  Ge- 
fühle, dasz.  auf  protestantischer  Seite  der  Geist  evangelischer  Wahrheit, 
Innigkeit  und  Freiheit  immer  wieder  auch  in  knappen  Formen  und  selt- 
samen Verhüllungen  gewaltet  hat.  —  In  engem  Zusammenhange  mit  die- 
ser Schluszbetrachtung  steht  ein  Excurs  über  Const.  P.  VI.  c.  5  und  die 
Obligatio  ad  peccatum,  deren  Resultat  in  den  Worten  zusammengefaszl 
ist:  'Die  Verpflichtung  zum  Gehorsam  gegen  die  Oberen  sogar  bis  zur 
Vollziehung  einer  Sünde  ist  zwar  nicht  in  dem  Wortlaut  einer  Stelle, 
wol  aber  in  dem  übereinstimmenden  Inhalte  vieler  Stellen  der  jesuitischen 
Ordensgesetze  selbst  enthalten.9 

Wir  wünschen  aufrichtig ,  dasz  der  Verf.  durch  die  Aufnahme  seiner 
tüchtigen  Arbeit  ermuntert  werden  möge  zu  Fortsetzung  seiner  Studien 
auf  dem  weiten  Gebiete  der  Geschichte  der  Pädagogik.  Es  wird  uns  eine 
Freude  sein ,  ihm  bald  wieder  auf  demselben  zu  begegnen. 

Zittau.  H.  Kämmei 


Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  statistische 
Notizen,  Anzeigen  von  Programmen. 

(Fortsetzung  von  S.  539  des  vorigen  Jahrgangs.) 


Landshut].  Der  Religionslehrer  Prof.  Dr.  B  reiten  ei  eher  schied 
von  der  Anstalt,  da  demselben  die  Predigerstelle  an  der  Metropolitan- 
pfarrkirche  zu  U.  L.  Fr.  in  München  übertragen  worden  war.  An  seine 
Stelle  trat  Hellmai  er.  Die  durch  die  Ernennung  des,  Lehramtscan- 
didaten  von  Ten g  zum  Studienlehrer  in  Kempten  erledigte  Stelle  eines 
Assistenten  wurde  dem  Lehramtscand.  Widern ann  übertragen.  Leh- 
rerpersonal: Rector  Prof.  Dr.  Fertig  (IV),  die  Professoren  Schuster 
(III),  Dr.  Fuchs  (II),  Broxner  (I)  Schuch  (Math.  u.  Phys.)t  Hell- 
mai er  (kath.  Rel.),  Stadtpfarrer  Kimmel  (prot.  Rel.  u.  Gesch.),  Assi- 
stent Widemann;  die  Studienlehrer  Kohl  (IV),  Zeisz^III),  Roth- 
hamer  (II),  Höger  (I).  Schülerzahl  des  Gymnasiums:  71  (IV  10,  III  23, 
II  20,  I  18),  der  Lateinschule:  125  (IV  24,  III  23,  II  37,  141).  Dem 
Jahresbericht  folgt:  Grundzüge  der  griechischen  Bühne  für  Gymnasial- 
schüler vom  Studienlehrer  Höger.  18  S.  4.  Inhalt:  §  1.  Dionysos, 
seine  Bedeutung.  §  2.  Dionysische  Feste.  §  3.  Tragödie,  ihre  Ent- 
stehung; Thespis.  §  4.  Thespis  Nachfolger.  §  6.  Die  3  groszen  Tra- 
giker: a)  Aeschylus.  b)  Sophokles,  c)  Euripides.  §  6.  Theater:  a)  Ka- 
men, b)  Bestimmung,  c)  Grösze.  §  7.  Teile  dos  griechischen  Theaters : 
A)  O&rrpov.  B)  CKTjvfV  C)  'Opxncxpo;  Chor  der  Tragödie.  §  8.  Thea- 
terpublicum,  dessen  Verteilung.  §  9.  Theaterpächter,  Eintrittsgeld. 
§  10.  Trilogischer  Verband;  tetralogische  Aufführungsweise.  §  11.  Cho- 
regie.    §  12.  Schauspieler.    §  13.  Kampfrichter;  Kampfpreise.   §  14.  Me- 


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Berichte  aber  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  staust.  Notizen.  151 

trum  des  Dialogs  im  griech.  Drama.    Anhang:    Die  wichtigsten  Litur- 
gien der  Athener.    Plan  eines  griech.  Theaters. 

14.  Metten].  Im  Lehrerpersonale  der  Stadienanstalt  im  Benedik- 
tiner-Stifte trat  keine  Aenderung  ein.  Stadienrector  Dr.  P.  Freymüller 
(IV),  die  Professoren  P.  Höfer,  P.  Braun,  P.  Högl,  P.  Gerz_(Math.), 
P.  Mittermüller  (Gesch.);  die .  Studienlehrer  P.  Bertold  (IV),  P. 
Sachs  (in),  P.Leeb  (II*),  P.  Engelhardt  (ü*),  P.  Deybeck  (I*), 
P.  Lickleder  (I*),  P.  Trimpl  (I?).  Schülerzahl  des  Gymnasiums: 
119  (IV  28,  HI  30,  II  28,  I  83),  der  Lateinschule:  265  (IV  42,  III  56, 


II-  41,  II»»  29,  I*  21,  I*  37,  Ic  40).    Dem  Jahresbericht  folgt:  Pensies 
sw  Viducation  primaire.    Par  P.  Deybeck.    28  S.    4. 

15.  Mübnchen].  a.  Wilhelms  -  Gymnasium.  Lehrerpersonal: 
Studienrector  Prof.  Hutter  (IV),  die  Professoren  Bauer,  Stanko  (III), 
Eisenmann  (II),  Lauth  (I),  Sehedler  und  Preger  (für  Selig,  und 
Gesch.),  Dr.  Mayer  und  Assistent  Bielmayr  (für  Math,  und  Phys.), 
Häring  (Franz.),  die  Studienlehrer  Fesenmair  (IV),  Heiss  (III), 
Straub  (II),  Strobl  (I*),  Cand.  Arnold  (I»»),  Offenbach  (Rel.  und 
Gesch.),  Assistent  Dembschik  (Math.),  P e r n a t  (Kalligr.).  Den  ausser- 
ordentlichen Unterricht  erteilen:  Stifts vicar  Richter  (Hebr.),  Car- 
r&ra  (Ital.),  Everill  (Engl.),  Kleiber  (Zeichnen),  Gerber  (Stenogr.), 
die  Professoren  Lenz  und  Schönchen  (Gesang),  •  Scheibmaier 
(Tnrnen).  Schülerzahl  des  Gymnasiums:  119  (IV  25,  III  25,  II  37, 1  32), 
der  Lateinschule:  245  (IV  52,  III  41,  II  71,  I*  46,  I»>  35).  —  Dem  Jah- 
resbericht ist  beigegeben :  lieber  Plan  und  Idee  der  Antigone  des  Sopho- 
kles, Nebst  einem  kritischen  Versuche  zum  Prolog  dieser  Tragödie.  Vs.  23 
-25.  Von  Rector  Prof.  Hutter.  36  S.  4.  Der  Verfasser  der  vor- 
liegenden dramaturgischen  Abhandlung  erklärt  die  Sophokleische  Anti- 
gone nach  einem  neuen  Gesichtspunkte.  Das  Neue  der  Auffassung  ist 
die  tiefere  und  weiter  greifende  Bedeutung,  die  in  dem  bräutliohen 
Verhältnisse  der  Antigone  zu  Hämon  erblickt  wird.  Die  Beleuchtung 
der  Absicht  dieser  Verlobung  soll  die  Widersprüche  und  Zweifel  über 
Idee  und  Inhalt  der  Tragödie  lösen  und  zur  Einigkeit  des  Urteils  füh- 
ren. Nach  der  bisherigen  Auffassung  habe  hier  Sophokles  einen  Liebes- 
bund zwischen  Hämon  und  Antigone  gedichtet,  um  den  Selbstmord 
Hämon's  and  durch  den  Tod  dieses  den  Tod  der  Mutter,  der  Eurydike, 
zu  motivieren,  so  aber  zu  der  den  Kreon  vernichtenden  Katastrophe 
zu  gelangen.  Allein  wäre  die  dem  Kreon  verderbliche  Liebesraserei 
Hämon's  der  einzige  und  höchste  Zweck  der  Verlobung  der  Antigone 
mit  demselben ,  so  erschiene  dies  als  ein  auszer  der  Einheit  der  Hand- 
lung gesuchtes  Mittel,  eine  der  Erfindungsgabe  des  Sophokles  nicht  wol 
;  anstehende  Intrigue,  die  dem  Kreon  durch  Eros  gespielt  werde,  und 
!  deren  romanhafte  Flachheit  sich  wenig  mit  der  antiken  Tragödie  ver- 
j  trage.  Man  Übersehe  hier  den  Begriff  der  Verlobung  und  ihre  Absicht, 
!  die  Vermählung  der  Verlobten,  welchen  künftigen  Ehebund  der  Dich- 
ter überall  betone  und  hiedurch  auf  die  Bedeutung  dieser  Verlobung  in 
leiner  Composition  aufmerksam  mache.  Die  unbe zwingliche  Stärke  der 
Liebe  Hämon's  zu  Antigone,  diese  leidenschaftliche  Neigung,  die  am 
Schksz  der  Scene  zwischen  ihm  und  dem  Vater,  und  noch  sichtbarer 
durch  seinen  Selbstmord  im  Felsengrabe  neben  der  von  ihm  umschlun- 
genen todten  Braut  ausgesprochen  sei,  deute'  auf  die  Uqlösbarkeit  die- 
ser Verbindung  und  auf  die  Gewißheit  der  Unvermeidlichkeit  des  künf- 
tigen Ehebundes  der  Verlobten  bin,  wenn  nicht  das  Hindernis  des  Todes 
dazwischen  trete.  Bei  dieser  Bedeutung  -der  Verlobung  mit  Hämon, 
auf  welche  so  viele_  Stellen  hinweisen,  erscheine  die  Brautschaft  der 
Antigone ,  welche  sie  mit  dem  letzten  Sprossen  des  neuen  Königshauses 
,  zur  Herschermacht  berufe,  zunächst  als  das  Motiv  ihres  tragischen 
i  Schicksals,  ihres  Todes,  durch^den  eben  die  Vermählung  mit  Hämon 
unmöglich  werden,  und  sie  das  ihr  und  ihrem  Geschlecbte  blühende  Loos 


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152  Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

des  Herschertnms  vermeiden  solle.  Insofern  aber  dies  die  fromme 
Kämpferin  rettende  Geschick  von  Kreon  nicht  in  dieser  Absicht  ihr 
bereitet  werde,  sondern  ein  grausames  Unrecht  seines  über  sittliches 
Pflichtgebot  und  göttliche  Ordnung  blind  sich  erhebenden  tyrannischen 
Eigenwillens  sei,  strafe  Kreon  durch  sein  Unrecht  sich  selbst  in  den 
natürlichen  Folgen  desselben,  dem  Tode  seines  Sohnes  und  seiner  Gat- 
tin. So  habe  die  durch  Hämon's  leidenschaftliche  Liebe  vom  Dichter 
charakterisierte  Verlobung  einen  mehrfachen  Zweck :  den  Tod  der  Heldin 
als  eine  Notwendigkeit,  ihn  so  als  die  noch  einzige  Bettung  aus  dem 
sie  erwartenden  Herschertum  erscheinen  zu  lassen,  und  zugleich  dem 
in  liebloser  Verblendung  alle  sittlichen  Bande  zerreiszenden  Herscher- 
mute seine  Selbstzüchtigung  zu  bereiten.  Hierbei  gebe  diese  Verlobung 
dem  Schicksale  der  schuldlos  sterbenden  Antigone  auch  seinen  sittlichen 
Gesichtspunkt  und  tragische  Schönheit.  Dies  sei  der  poetische  Zweck. 
Die  unbesiegbare  Neigung  Hämon's,  welche  den  Tod  als  Lösung  des 
verhängnisvollen  Bandes  notwendig  mache,  und  wodurch  zugleich  das 
Unrecht  Kreon's  gegen  Antigone  auch  seinen  Sohn  und  ihn  treffe,  sei 
der  diesem  und  dem  Hauptzwecke  dienende  tragische  Affect.  Dasz  die- 
ser Teil  der  Composition  die  Mitte  und  den  Nerv  der  gesamten  tragi- 
schen Handlung  bilde,  wird  nach  Beurteilung  der  entgegenstehenden 
Ansicht  weiter  ausgeführt.  Der  Tod  der  Antigone,  welcher  die  Beru- 
fung eines  solchen  Charakters  zur  Herschermacht  hindere  und  zugleich 
als  ein  glückliches  Loos  vom  Dichter  betrachtet  sei,  schliesze  einerseits 
den  Gedanken  einer  Strafe  und  Schuld  gänzlich  aus ;  andererseits  werde 
in  dieser  Conception  des  Dichters  die  mit  einem  solchen  Charakter  ver- 
einigte Macht  und  Willensungehundenheit  des  Herschertnms  als  Uehel 
und  Gefahr  angeschaut  und  gefürchtet.  Dieser  Gesinnung  der  Compo- 
sition gemäss  stelle,  das  Drama  als  seinen  Grundgedanken  dar:  Das 
Unglücksloos  des  Herschertnms  durch  Verführung  des  menschlichen 
Willens  zur  Ungesetzlichkeit ,  welchem  Schicksale  gegenüber  die  fromme 
das  Leben  opfernde  Gegenwehr  und  Abwehr  als  ein  glückliches  und 
erhabenes  Geschick  erkannt  werde.  Wie  nun  die  Fabel,  die  Handlung 
der  Tragödie  in  ihren  einzelnen  Teilen  und  im  Ganzen  den  hier  berühr- 
ten Gedanken  zur  dramatischen  auf  Gemüt  und  Gesinnung  wirkenden 
Anschauung  bringe,  wird  später  gezeigt,  und  zunächst  die  Betrachtung 
des  Todes  der  Antigone  wieder  aufgenommen  und  geprüft,  ob  und  wie 
das  im  vierten  Epeisodion  nun  sich  erfüllende  Schicksal  der  Jungfrau 
mit  der  Bedeutung  dieses  Todes  als  eines  schönen  und  rettenden,  das 
Gemüt  befriedigenden  Looses ,  sowie  mit  ihrem  Charakter  und  der  Ge- 
sinnung der  Tragödie  in  Uebereinstimmung  bleibe,  und  ob  zugleich 
auch  hier  die  Beziehung  auf  den  verhängnisvollen  Ehebund  mit  Hämon 
festgehalten  werde.  Die  Betrachtung  des  Strafurteils  im  vierten  Epei- 
sodion gebe  der  Verurteilten  jene  Gemütsstimmung  zu  dem  Entschlusz, 
der  Gewalt  und  Schmach  des  ihr  von  Kreon  zugedachten  Looses  durch 
freiwilligen  Tod  zu  entgehen.  Hiermit  kommt  der  Verf.  zu  der  Frage, 
wie  der  Dichter  Sinn  und  Gemüt  der  Antigone  über  die  natürliche  Furcht 
des  Todes  erhebe  und  sie  bestimme,  mit  eigener  Hand  ihr  Leben  zu 
enden;  durch  welche  innere  Befreiung  von  Kreon's  Gewalt  der  Kampf 
die  Rollen  wechsele  und  Kreon  in  die  vergeltende  Macht  seines  Opfers 
gegeben  werde.  Nachdeni  nun  zunächst  gezeigt  ist,  wie  die  psycholo- 
gische Motivierung  vornehmlich  Gemüt  und  Gefühl  der  sterbenden 
Heldin  über  den  natürlichen  Schmerz  des  Todes  erhebe  durch  das  höhere 
Interesse  ihrer  Liebe  und  Blutstreue,  wird  alsdann  auch  die  active 
Seite  der  Motivierung  betrachtet,  die  Erhebung  und  Schärfung  des  Mu- 
tes und  Willens  zu  dem  Entschlüsse  des  freiwilligen  Todes.  Das 
eine  Moment  sei  die  fremde  und  empörende  Gewaltverfügung  über  die 
Seele  der  Heldin,  das  andere  ihr  solch  unwürdigen  Zwang  nicht  dul- 
dender Hochsinn  und  willensstarker  Charakter,   womit  sie  die  Unter - 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen.  153 

werfung  ihres  Willen«  and  Looses  anter  fremdes  Maehtgebot  mit  ent- 
rüsteter and  trotzender  Seele  von  sieh  weise.  Bei  diesem  Charakter, 
dieser  Willensempörung  und  todesmutigen  Gesinnung  sei  so  die  rasche 
Selbstbefreiung  der  Heldin  aus  'solchem  Grabeshaus'  eine  psycholo- 
gische Notwendigkeit.  Am  Schlüsse  der  Abhandlung  gibt  uns  dann  der 
Verf.  einen  Ueberbliek  über  den  ganzen  Plan  der  Compositum:  fDes 
Staates  wie  das  eigene  Heil  oder  Unheil  ist  die  Gesetzlichkeit  oder 
Ungesetzlichkeit  des  Herscherwillens.  Wo  dieser  die  sittliche  Ordnung 
und  in  ihr  die  Wohlfahrt  des  menschlichen  Lebens  stört  oder  bedroht, 
ist  ihm  in  der  abwehrenden  Macht  des  Sittengesetzes  seine  natürliche 
Strafe  Torbestimmt,  welche  Vorbestimmung  aber  jeder  erst  durch  eige- 
nes Wollen  und  Handeln,  durch  Verleugnung  oder  Wahrung  jenes  Sit- 
tengesetzes erfüllt  oder  vermeidet.  Unsere  Tragödie  bringt  dieses  innere 
Fatam ,  den  das  Sittengesetz  befehdenden  Herscherwillen  (allgemein  die 
unbotmäszige  Willensnatur)  zur  tragisch  rührenden  un<T  warnenden  An- 
schauung. Kreon  mit  seinem  selbstischen  Eigenwillen  ist  Träger  eines 
solchen  Herschersinnes  und  der  Ausdruck  dieses  sein  ungerechtes ,  lieb- 
los und  hartnäckig  geltend  gemachtes  Verbot  der  Bestattung  des  Poly- 
neikes,  sowie  die  grausame  Bestrafung  des  ebenso  unbeugsamen,  der 
Gesetz-  und  Lieblosigkeit  Kreon's  wehrenden  Willens  der  Antigone,  der 
Schwester  des  Todten  und  Braut  seines  Sohnes,  welche  die  Hauptfigur 
des  tragischen  Gemäldes  bildet.  Die  tragische  Bedeutung  aber  und 
innere  Einheit  erhält  das  Drama,  indem  der  Dichter  mit  Kreon's  und 
Polyneikes'  Schicksal  das  Schicksal  der  Antigone  durch  ihre  Berufung 
zu  derselben  jenen  so  verderblichen  Herschermacht  verbindet.  Ohne 
diese  Berufung  und  mit  einem  Charakter  wie  Ismene  ihr  Gegenbild, 
welche  die  Composition  nicht  zum  Herscherloose  bestimmt,  würde. Anti- 
gone in  ihrem  Tode  ein  sittlich  ungerechtfertigtes  und  untragisches 
Schicksal  erleiden,  wie  es  der  Tod  Ismeue's  wäre,  die  das  Schicksal 
der  Schwester  nicht  teilen  darf.  Diese  das  Herschertum  als  Uebel  be- 
kämpfende Gesinnung  der  Handlung  ist  die  innere  Einheit  ihrer  Teile 
(ffpdVuxxTa),  die  dadurch  nicht  verletzt  ist,  dasz  der  zur  Leidenschaft 
gesteigerte  Egoismus  Hämo n 's,  sein  Selbstmord  die  Katastrophe  her- 
beigeführt. Hämon  ist  wie  Antigone  das  Opfer  von  Kreon's  selbstsüch- 
tigem Herschersinne ,  somit  neben  Antigone's  beharrlichem  und  frommen 
Trotze  Kreon,  der  im  Confliote  mit  der  Liebe  des  Sohns  dessen  Recht 
auf  die  Braut  lieblos  seinem  Herscheregoismus  opfert,  der  Urheber  von 
Hämon's  Tod  und  seines  eigenen  durch  diesen  Tod  ihn  strafenden 
Schicksals.  Bei  einer  Selbstverleugnung  hingegen  von  der  einen  oder 
anderen  Seite,  ohne  diesen  Egoismus  der  Handelnden,  der,  wie  bei 
Polyneikes,  so  bei  Kreon  ein  gesetzloser,  auch  bei  Hämon  ungerecht, 
bei  Antigone  aber  ein  dem  Sittengesetze  als  Wehr  dienender  gerechter 
Affect  ist,  wäre  dieser  Gang  und  dieses  Ende  der  Handlung  undenk- 
bar.' —  Diese  höchst  interessante  und  geistreich  geführte  Untersuchung, 
über  deren  Inhalt  und  Resultat  auch  schon  wegen  der  Neuheit  der  Auf- 
fassung Referent  ausführlicher  berichtet  hat,  soll  von  dem  Verfasser 
noch  weiter  fortgesetzt  werden,  und  will  sich  derselbe  in  einer  zweiten 
Abhandlung  mit  der  Aufgabe  befassen,  das  hier  gefundene  Resultat  in 
dem  Zusammenhange  der  sich  gegenseitig  bedingenden  Acte  und  Scenen 
und  in  den  Chorgesängen  als  den  Gedanken  der  Tragödie  nachzuweisen, 
mit  Beigabe  dramaturgischer  Bemerkungen  über  eine  dieser  Auffassung 
entsprechende  Darstellung  dieses  antiken  Drama,  wozu  in  den  Rhyth- 
men und  rhythmischen  Accenten  des  Gedichtes ,  sowie  in  der  Rede  und 
den  Redefiguren,  in  der  'auf  das  Gesamte  berechneten  ,Wendung  und 
Färbung  des  Ausdrucks'  gewissermaszen  eine  Didaskalie  des  Dichters 
überliefert  sei.  —  Als  Anhang  der  Abhandlung  läszt  der  Verfasser  einen 
kritischen  Versuch  zur  Textverbesserung  des"  Prologs  der  Antigone  fol- 
gen; derselbe  betrifft  die  Stelle  V.  23—26)  an  welcher  statt  XPIctak 

W.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  IL  Abt.  1864.  Hft.  3.  11 


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154  Berichte  über  gelehrte  Ansialten,  Verordnungen,  staust.  Notizen. 

gelesen  werden  «oll  xpfaB'  €k,  «et  dasz  ctiv  nicht  mit  Mwj  an  verbinden 
seit  sondern  in  der  Tmesis  stehe  und  au  cfc  gehöre,  somit  euveie  XPIttd 
dasselbe,  was  Sophokles  in  Bezng  auf  denselben  Gedanken  und  das- 
selbe Verbot  Kreon'»  in  Hämon's  Rede  (V.  700)  dnreh  %pr\crfc  tym 
YVubfioc  ausdrücke.  Eine  diese  Tmesis  nachahmende  Verdeutschung 
wäre  etwa:  *ab  das  Rechte  wägend  nach  echtem  Rechte Jund  Gesetz.' 

b.  Ludwigs- Gymnasium,  Dem  Prof.  der  IL  Gymnasialcl.  P. 
Niedermayer  wurde  der  erbetene  Rücktritt  von  seiner  Stelle  ge- 
stattet. In  Folge  dessen  rückte  der  Prof.  der  I.  Gymnasiale^  P.  Lipp 
in  die  II,  Cl.  vor  und  wurde  der  seitherige  Studienlehrer  der  IT.  Cl. 
der  lat.  Schule  Kurz  zum  Prof.  der  L  Gymnasial ol.  befördert.  Die 
Studienlehrer  der  III.,  II.  u.  I.  Cl.  der  lat.  Schule  La  Roche,  Dr. 
Lang  und  Späth  rückten  in  die  nächst  höheren  Glassen  vor,  und  an 
die  I.  Cl.  der  lat.  Schule  wurde  der  bisherige  Studienlehrer  der  U.  Cl. 
der  lat.  Schule  in  Dillingen  Eisele  versetzt  Die  durch  die  Ernennung 
des  Lehramts candidaten  Pusl  erledigte  Stelle  eines  Assistenten  wurde 
dem  Lehramtscand.  Seelos  übertragen.  Lehrerpersonal:  Rector  Prof. 
P.  Höfer  (IV),  die  Professoren  Eilles  (Math.),  Englmann  (III),  P. 
Lipp  (II),  Kurz  (I),  Sattler  (kath.  Rel.  u.  Gesch.),  Preger  (prot 
Rel.  u.  Gesch.),  Be'dat  (Franz.);  die  Studienlehrer  La  Roche  (IV), 
Dr.  Lang  (III),  Späth  (II),  Eisele  (I),  die  Assistenten  Eilles  und 
Seelos.  Lehrer  für  die  ausserordentlichen  Unterrichtsgegenstände: 
Stiftsvicar  Richter  (Hebr.),  Carrara  (Ital.),  Everill  (EngL),  Zim- 
mermann (Zeichnen),  Seubert  (Kalligr.),  Degele  (Gesang),  Schön- 
chen und  Werner  (Musik).  Schülerzahl  des  Gymnasiums:  132  (IV  31, 
III  82,  II  40,  I  29),  der  lat.  Schule:  119  (IV  24,  III  27,  II  30,  I  38). 
Das  Erziehungsinstitut  hatte  117  Zöglinge.  Eine  Abhandlung  ist  dem 
Berichterstatter  nicht  zugegangen. 

c.  Maximilians-Gymnasium.  Das  Lehrercollegium  blieb  un- 
verändert. Der  Lehramtscandidat  Dr.  Spengel  leistete  bei  vorüber- 
gehenden Erkrankungen  Aushülfe.  Lehrerpersonal:  Rector  Prof.  Dr. 
Beilhack  (IV),  die  Professoren  Steininger  (auf  unbestimmte  Zeit 
beurlaubt),  Heumann  (III),  Linsmayer  (II),  Schöberl  (I),  Müller 
(Math.),  Dr.  Fischer  (kath.  Rel.  und  Gesch.),  Preger  (prot.  Rel.  und 
Gesch.),  Boisot  (Franz.);  die  Studienlehrer  Arnold  (IV),  Britzel- 
mavr  (III),  Gebhardt  (II),  Schuh  (I),  Mall  (kath.  Rel.  u.  Gesch.) 
Uhlmann  (Schreibl.),  stellvertr.  Assistent  Kutzer;  P  ach  er  (Gesang), 
Weishaupt  (Zeichnen),  Richter  (Hebr.),  Everill  (EngL),  Carrara 
(Ital.),  Kahl  u.  Werner  (Musik),  Gerber  (Stenogr.).  Schülerzahl  des 
Gymnasiums:  85  (IV  18,  III  24,  H  18, 1  25),  der  lat.  Schule:  214  (IV  35, 
IÜ  45,  II 49,  185).  —  Dem  Jahresbericht  ist  beigegeben  eine  Abhand- 
lung vom  Studienlehrer  Schuh:  (Jeher  den  Joiacisrnus  der  griechischen 
Sprache,  I.  Teil.  44  S.  8.  Der  Verf.  versucht  die  Frage  zu  beant- 
worten, ob  es  endlich  Zeit  sein  dürfte,  die  Aussprache  des  Griechi- 
schen in  den  Gelehrtenschulen  so  zu  lehren,  wie  sie  in  Griechenland 
selbst  gelehrt  wird.  Es  wird  durch  Beweise  dargethan,  wie  die  Aus- 
sprache der  heutigen  Griechen  nicht  gar  besonders  von  jener  der  alten 
abweicht  und  eben  deshalb  den  gleichen  Wohlklang  bewahrt  hat;  fer- 
ner wird  gezeigt,  wie  auszer  diesen  beiden  Eigenschaften ,  der  Rich- 
tigkeit und  dem  Wohlklang,  vor  Allem  das  praktische  Interesse 
selbst  schon  in  unsren  Tagen  auffordert,  die  studierende  Jugend  doch 
so  aussprechen  zu  lehren,  wie  das  Volk  spricht,  dessen  Sprache  man 
erlernt.  Der  Verfasser  widmet  den  einzelnen  Buchstaben  eine  beson- 
dere Betrachtung  und  spricht  A,  von  den  Vocalen,  a)  von  den  einfachen, 
b)  von  den  zusammengesetzten  als  ein  Laut  geltenden  Vocalen  (Diph- 
thongen).   Die  Fortsetzung  soll  im  nächsten  Jahre  folgen. 

16.  Mubk nebst adt].  Im  Lehrerpersonale  traten  im  Laufe  des  Schul- 
jahres nur  die  Veränderungen  ein,  dasz  der  Studienlehrer  Beck  zum 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  statisi.  Notixen.   155 

Professor  der  I.  Gymnasiale!,  in  Kempten  ernannt  und  auf  die  dadurch 
erledigte  Lehrstelle  der  III.  Classe  der  lat.  Schale  dahier  der  Studien- 
lehrer Preu  zh  Bamberg  berufen  wnrde.  Da  jedoch  demselben  gestattet 
wurde,  bis  eum  Schlüsse  des  laufenden  Schuljahre«  auf  seinem  Posten 
in  Bamberg  zu  bleiben,  so  wurde  zuerst  der  Augustiner  P.  Radina, 
alsdann  der  Lehramtskandidat  Hock  als  Verweser  bestimmt.  Lehrer- 
personal:  Studienrector  Prof.  LeitBchuh  (IV),  die  Professoren  P. 
Braun  (III),  P.  Keller  (II),  P.  Merkle  (I),  P.  Wester  (Rel.),  See- 
ber  (Math.  u.  Phys.),  Studienlehrer  P.  Schneeberger  (Assistent  in 
der  IV.  Cl.;  Stellvertreter  desselben  für  die  Geschichte  Studienlehrer 
P.  Ullrich),  F.  Osterberger  (Franz.);  die  Schullehrer  Gerhard 
und  Ungemach  (Musik),-  Bals  (Zeichnen  u.  Turnen);  Lehrer  der  lat. 
Schule:  Prof.  P.W  est  er  (IV),  die  Studienlehrer  Preu  (III),  P.Schnee- 
berger  (II),  P.  Ullrich  (I),  P.  Böhm  (Relig.),  Gerhard  (Kalligr.). 
Schälerzahl  des  Gymnasiums:  74  (IV  17,  III  17,  II  16,  I  26),  der  lat. 
Schule:  97  (IV  27,  III  2^,  II  24,  I  17).  Von  diesen  wurden  60  im  Kna- 
benseminar verpflegt  und  von  dem  Studienlehrer  P.  Schneeborger, 
als  Präfecten  des  Seminars,  unter  Beistand  des  P.  Radina  überwacht. 
—  Dem  Jahresbericht  folgt:  Die. goldenen  Sprüche  des  Pythagoras  ins 
Deutsche  übertragen,  mit  einer  Einleitung  und  Anmerkungen  versehen 
von  dem  Studienlehrer  P.  Schneeberger.    11  S.   4. 

17.  Näubuhö  a.  d].  Am  Anfange  und  im  Laufe  des  Schuljahres  er- 
gaben sich  mehrere  Veränderungen  im  Lehrerpersonale.  Der  bisherige 
Lehrer  der  IV.  Classe  der  Lateinschule  Studienlehrer  Dr.  Gerlinger 
wnrde  an  die  erledigte  Lehrstelle  der  IV.  Cl.  der  lat.  Schule  in  Dillin- 
gen versetzt.  In  Folge  dessen  rückten  die  drei  folgenden  Studienlehrer 
vor,  und  wurde  zum  Studienlehrer  der  I.  Classe  der  seitherige  Assistent 
am  Ludwigs-Gymnasium  in  München  Pusl  ernannt.  Ferner  wurde  der 
bisherige  Lehrer  der  IV.  Gymnasialciasse  Prof.  Kemmer  auf  die  Lehr- 
stelle der;  IV.  Gymnasialcl.  in  Bamberg  berufen  und  demselben  die  Füh- 
rung des  Gymnasial-Reotorats  daselbst  in  widerruflicher  Eigenschaft 
übertragen,  und  an  dessen  Stelle  der  Prof.  der  IV.  Gymnasialcl.  zu 
Bamberg  Priester  Rom  eis  nach  Neuburg  versetzt;  ferner  wurde  der 
bisherige  Studienlehrer  der  IV.  Cl.  der  lat.  Schule  in  Neuburg  Leickert 
zum  Gymnasialprofessor  der  I.  Cl.  des  Gymnasiums  in  Bamberg  beför- 
dert; die  Studienlehrer  der  III.,  II.  und  I.  Cl.  rückten  vor,  und  zum 
Stadienlehrer  der  I.  Cl.  wurde  der  Studienlebrer  an  der  isolierten  lat. 
Schale  zu  Burghausen  Loh  er  provisorisch  ernannt.  Durch  die  Berufung 
des  Prof.  Kemmer  nach  Bamberg  wurde  auch  die  Lehrstelle  für  die 
franz.  Sprache  erledigt,  welche  dem  Candidaten  des  franz.  Lehramts 
Eichheim  übertragen  wurde.  Lehrerpersonal:  Studienrector  Thum, 
die  Professoren  Romeis  (IV),  Niki  (III),  Mayring(II),  Ratzinger 
(I),  Ducrun  (Math.);  Waldvogel  (kath.  Rel.),  Stadtpfarrer  Walter 
(prot.  Rel.),  Eichheim  (Franz.);  die  Studienlehrer  Loh  er  (IV),  Dai- 
senb erger  (III),  Mehltretter  (II),  Pusl  (I),  Kauszler  (kath.  Rel.). 
Schülerzahl  des  Gymnasiums:  62  (IV  17,  III  13,  II  12,  I  20),  der  lat. 
Schale  106  (IV  29,  III  25,  H  28,  I  23).  —  Dem  Jahresbericht  folgt  eine 
Abhandlung  von  Prof.  Ratzinger:  Schicksale  Neuburg' s  zur  Zeit  des 
30 jährigen  Krieges.  (Vom  Beginne  desselben  bis  zum  Jahre  1634.)  16  S.  4. 
18.  NmsBH*«Bö].  Mit  dem  Beginne  des  Schuljahres  traten  die  Stu- 
dienlehrer Hoffmann,  Wild,  Hartwig,  Krafft  und  Dombart  die 
ihnen  übertragenen  Lehrstellen  an.  Lehrerpersonal:  Rector  Prof.  Dr. 
Heerwagen  (IV),  (Assistent  Ehemann,  Hülfslehrer  Studienlehrer 
Hoff  mann),  die  Professoren  Dr.  Recknagel  (HI),  G.  Herold  (II), 
Dr.  Endler  (I),  Dr.  F.  Herold  (Math.),  prot.  Religionslehrer  des  Gym- 
nasiums Prof.  Dr.  Wolf  fei  und  Prof.  Dr.  Endler,  kath.  Religionsl. 
Prof.  Schmitt,  Cantor  Emmerling  (Gesang),  Häupler  (Schönschrei- 
ben), Schreiber  (Zeichnen),  Krafft  (Stenogr.);  die  Studienlehrer  Prof. 

11* 


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156  Berieb  te  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  staust.  Notizen. 

Dr.  Wolf  fei  (IV),  Ho  ff  mann  (III)  (Hülfslehrer  Assistent  Ehemann), 
Wild  (II),  Hartwig  (I«),  Krafft  (I»>),  Dombart  (Ic).  Schülerzahl 
des  Gymnasiums:  91  (IV  19,  III  20,  H  26,  I  26),  der  lat.  Schule:  299 
(IV  34,  IH  37,  II  45,  I*  öl,  Ib  62,  I«  70).  —  Dem  Jahresbericht  ist 
vorausgeschickt  eine  Abhandlung  vom  Studienlehrer  Dombart:  De 
codicibus  quibusdam  librorum  AugusUnianorum  de  ewitaie  dei  commenialio. 
20  S.  4.  'Augustinianos  de  civitate  dei  libros  typis  et  sumtibns  B.  6. 
Teubneri  propediem  editurus  ad  textum  eorum  emendandum  triam  codi- 
cum  Monacensium  primus  ego  quod  sciam  utor  auxilio,  quos  C.  Halmi, 
clarissimi  bibliothec'ae  regiae  praefecti,  liberalitas  usui  meo  concesait. 
De  quorom  codicum  praestantia,  ne  aut  in  ipsius  edendi  libri  praefa- 
tione  longior  esse  cogar,  quam  naturae  ejus  convenit,  aut,  si  nusqnam 
omnino  uberius  de  ilUs  agam,  temere  videar  eorum  auetoritatem  secu- 
tus  esse,  hoc  libello  paulo  diligentius  disserere  statui.  Hi  codd.  tres 
scripturae  antiquitate,  sinceritate,  pulchritudine  excellunt,  quo  magis 
mirum  videtur,  eorum  varias  lectiones  nondum  enotatas  et  ad  emendan- 
dum textum  horum  librorum  collatas  esse.' 

19.  Passau].  Das  Lehrercollegium  ist  unverändert  geblieben.  Stu- 
dienrector  Dr.  Hoffmann,  die  Professoren  Rott  (IV),  Widmann  (III), 
Liepert  (II),  Schrepfer  (I),  Dr.  Nirschl  (kathol.  Bei.),  Pfarrer 
Bauer  (prot.  Rel.) ,  Lycealprofessor  Hollwerk  (Math.)  f  Lycealprof. 
Ammon  (Physik),  Lycealprof.  Dr.  Anzenberger  (Hebräisch),  Vor- 
hölzer (Franz.),  Lycealprof.  Dr.  Bauer  (Ital.),  Wild  (Steaogr.),  Wag- 
ner (Zeichnen),  Geyer  (Gesang),  die  Aisistenten  Mayenberg  (Tur- 
nen) undBaldi;  die  Studienlehrer  Lei tl  (IV),  Fisch  (III),  Wild  (II), 
Wältl  (I);  Cortolezis  (Kalligr.),  Miloche  (Gesang).  Schülerzahl 
des  Gymnasiums:  112  (IV  24,  III  25,  II  31,  I  32),  der  lat.  Schule:  186 
(IV  44,  III  42,  II  50,  L50).  —  Dem  Jahresbericht  geht  voraus  eine 
Abhandlung  von  Prof.  Liepert:  Aristoteles  und  der  Zweck  der  Kunst. 
29  S.  4.  Die  Aufgabe  vorliegender  Abhandlung  soll  sein,  den  richtigen 
Sinn  der  Stelle  der  Politik  (VHI,  c.  7)  und  damit  eine  klarere  Einsicht 
in  das  Wesen  der  KdOapcic  zu  vermitteln. '  Unter  Anwendung  dieser 
so  gewonnenen  mit  der  Ansicht  von  Bernays  (Grundzüge  der  ver- 
lornen Abhandlungen  des  Aristoteles  über  Wirkung  der  Tragödie)  im 
Wesen  übereinstimmenden  Interpretation  von  KdOapcic  auf  die  Tragödie 
will  der  Verf.  sodann  eine  Berichtigung  der  in  Betreff  des  tragischen 
Mitleids  und  der  tragischen  Furcht  bisher  üblichen  Theorie  versuchen. 
Die  Ansicht  Lessing's,  welcher  gelegentlich  der  Besprechung  der 
KdOapcic  den  Satz  aufgestellt  hat,  dasz  sittliche  Besserung  der  Zweck 
jeder  Dichtung  sei,  hat  ihn  bestimmt,  den  Nachweis  zu  versuchen, 
dasz  die  Dichtkunst  wol  sittliche  Wirkungen  haben  könne,  diese 
aber  nur  zufällig  und  unwesentlich  seien  und  dasz  die  wesent- 
liche Wirkung,  oder  wenn  man  will,  der  Zweck  der  Dichtkunst  und 
somit  der  Kunst  überhaupt  das  Vergnügen  sei.  KdOapcic  sei  die  unter 
angenehmen  Gefühlen  erfolgende  Bethätigung  d.  h.  Befriedigung  irgend 
eines  irdöoe.  Je  nachdem  nun  Aristoteles  die  Sache  vom  philosophisch- 
medicinischen  Standpunkte  sich  betrachte  oder  den  Zweck,  den  der 
Künstler  und  sein  Publicum  sich  gesetzt,  ins  Auge  fasse,  wechselten 
für  eine  und  dieselbe  Sache  die  Bezeichnungen  KdOapcic,  KivrfCic  und 
V)bovr|.  Wende  man  nun  den  aus  des  Aristoteles  Erörterungen  über 
Musik  gewonnenen  Begriff  der  KdOapctc  auf  die  Tragödie  an,  so  werde 
die  viel  besprochene  Stelle  des  Cap.  6  der  Poetik:  bt'  £k£o\)  Kai  cpößou 
irepaCvouca  Tfjv  tüVv  toioötujv  iraOrmdTWV  KdOapciv  zu  übersetzen  sein: 
fDie  Tragödie  bewirkt  durch  die  Erregung  des  Mitleids  und  der  Furcht 
die  Befriedigung  dieser  Affekte',  oder  wie  es  Cap.  14  heiszt:  <Der  Tra- 
gödiendichter hat  die  Aufgabe  durch  Mitleid  und  Furcht  Vergnügen, 
Unterhaltung ,  zu  bereiten9,  womit  man  Poetik  c.  26  vergleichen  könne, 
wo  als  Zweck  der  Kunst  wiederum  das  Vergnügen  bezeichnet  werde. 


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Berichte  aber  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen»  157 

Dasz  die  Kunst  mit  sittlicher  Besserung  nichts  zu  thun  habe,  beweise 
auszer  Anderem  1)  der  Umstand,  dasz  kein  echter  Dichter  bei  der  Wahl 
seiner  Stoffe  von  der  sittlichen  Bedeutung  derselben  eich  abhängig 
mache;  2)  dasz  das  kunstliebende  Publicum  eine  sittliche  Besserung 
vom  Dichter  nicht  erwarte,  und  3)  dasz  die  unbefangene  Philosophie 
von  der  Forderung  sittlicher  Zwecke  regelmässig  Umgang  nehme.  Die 
einzige  Forderung,  die  der  Dichter  an  seinen  Stoff  stelle,  sei  die,  dasz 
derselbe  so  viel  Interesse  biete  als  notwendig  sei ,  um  die  schöpferische 
Kraft  in  ihm  wachzurufen ,  ihn  zu  begeistern ;  dies  aber  vermöge  jeder 
Gegenstand ,  dem  eine  Beziehung  zum  Seelenleben  des  Menschen  gege- 
ben werden  könne ,  d.  h.  Alles  sei  poetischer  Stoff.  Jede  weitere  Eigen- 
schaft des  Stoffes,  also  auch  die  sittliche  Bedeutung  desselben,  sei  dem 
Dichter  qua  Dichter  eine  zufällige  Beigabe.  Der  echte  Dichter  gebe 
uns  ein  interessantes  Stück  Menschengeschichte,  kenne  aber  für  seine 
schöpferische  Thätigkeit  in  Wahrheit  nur  ein  Motiv  und  dieses  sei  Be- 
friedigung seines  schöpferischen  Dranges.  Das  Interesse ,  die  Begeiste- 
rung für  den  Stoff  dränge  ihn  zur  sinnlichen  Darstellung,  zur  |Li(ur)Cic 
desselben,  und  diese  nun  so  wahrheitsgetreu  als  möglich  zu  bewerk- 
stelligen, sei  seine  dichterische  Aufgabe,  sein  dichterischer  Zweck. 
Die  Aufgabe  des  Künstlers  als  solchen  sei  daher  die  Formvollendung. 

20.  Regritsburö].  Das  Lehrerpersonal  erfuhr  folgende  -Verände- 
rungen. Der  Professor  der  Mathematik  und  Physik  Steinberger  wurde 
in  den  Ruhestand  versetzt,  und  an  dessen  Stelle  der  Lehrer  der  Ma- 
thematik an  der  hiesigen  Kreis  -  Landwirtschafts-  und  Gewerbschule 
Huther  ernannt.  Der  Prof.  der  IL  Gymnasiale).  Keger  wurde  auf 
die  Lehrstelle  der  IV.  Gymnasialcl.  in  Eichstädt  und  zugleich  zur  Füh- 
rung1 des  dortigen  Gymnasial-Rectorats  berufen,  und  die  in  Folge  dessen 
erledigte  Lehrstelle  der  II.  Gymnasialciasse  wurde  dem  Professor  der 
I.  Gymnasiale].  Abth.  A.  Seitz  und  die  Führung  der  letztgenannten 
Hasse  dem  Prof.  Beutlhauser  von  Passau  übertragen.  Ferner  wurde 
anter  Genehmigung  der  Verzichtleistung  des  Studienlehrers  Dr.  Spandau 
auf  seine  Lehrstelle  an  der  lat.  Schule  und  der  Bitte  desselben  um  Ge- 
stattung eines  zweijährigen  Aufenthaltes  in  England  die  Lehrstelle  der 
III.  Cl.  Abth.  B.  dem  Studienlehrer  der  IL  Cl.  W eis  z gerb  er  über- 
tragen, dann  auf  die  Lehrstelle  der  IL  Cl.  der  Studienlehrer  in  Kempten 
Pechl  versetzt,  und  der  Stadtpfarrer  Egler  mit  dem  Unterricht  der 
Geschichte  für  die  prot.  Schüler  beauftragt.  Der  für  das  Lehramt  der 
Mathematik  und  Physik  geprüfte  Cand.  Pötzl  erhielt  die  Erlaubnis  zur 
Praxis  an  der  hiesigen  Studienanstalt.  Lehrerpersonal:  Rector  Prof. 
Hinterhuber  (III),  die  Professoren  Kleinstäuber  (IV),  Seitz  (II), 
Beutlhauser  (I*),  Langoth  (Ib),  Huther  (Math.),  Meilinger  (kath. 
Bei.);  Albrecht  (Franz.),  Assistent  Söldner,  Lycealprof.  Dr.  Grimm 
(Hebr.),  Schnitzlein  (Engl.),  Adam'  (Stenogr.),  Stahl  (Zeichnen), 
Bühling  (Gesang),  Zell  er  (Turnen);  die  Studienlehrer  Ob  erndorf  er 
(IV*),  Harrer  (IVb),  Tafrathshofer  (III«),  Weiszgärber  (mb), 
Pechl  (II),  Adam  (I),  prot.  Religionsl.  Prof.  Langoth,  Lecker 
(KalligrJ.  Schülerzahl  des  Gymnasiums:  160  (IV  41,  III  40,  II  40, 
I»  19,  Ib  20),  der  lat.  Schule:  301  (IV*  38,  IVb  34,  IH«  66,  IIIb  29, 
II  76,  I  69).  —  Dem  Jahresbericht  geht  voraus  eine  Abhandlung  von 
dem  Studienlehrer  an  der  aula  Bcholastica  Dr.  Schinhammer:  Die 
Seeschlacht  bei  Lepanto.   14  S.  4. 

21.  Schwbinfurt].  Das  Lehrerpersonal  ist  im  Laufe  des  Schuljah- 
res unverändert  geblieben.  S tudienrector  Prof.  Dr.  Oelschläger  (IV), 
die  Professoren  Dr.  von  Jan  (III),  Dr.  Wittmann  (II),  Dr.  Ender- 
lein (I),  zugleich  Religionslehrer  der  protest.  Schüler,  Hartmann 
(Math.  u.  Phys.);  die  Studienlehrer,  Pf ir seh  (IV),  Zink  (III),  Dr. 
Pfaff  (II),  Schmidt  (I),  Stadtpfarrer  Büttner  (Gesch.  für  die  katb. 
Schüler),   dessen  Stelle  vertretend  Gooperator  Krampf,  Stadtkaplan 


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158  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen. 

Weber  (kath.  Rel.),  Hof  manu  (Zeichnen),  Beck  (Aushülfsl  ehrer  für 
Kalligr.),  Stadtcantor  Schneider  (Gesang.)*  Schülerzahl  des  Gjmna- 
sinms:  46  (IV  7,  III 16 f  II  10,  I  13),  der  lat.  Schule:  94  (IV  27,  III 12, 

II  29,  I  26).  —  Dem  Jahresbericht  folgt  eine  Abhandlung,  von  Prof.  Dr. 
Wittmann:  De  loci*  quibusdam  Livianis.  Die  behandelten  Stellen  sind 
folgende:  Liv.  I.  57,  8  se  intendentibus  wird  erklärt  s=j  quum  Uli  se 
intenderent.  Regiis  juvenibus,  quum  omnes  nervös  contenderent,  con- 
tigit,  ut  primis  tenebris  Romam  pervenirent.  II  13  soll  vor  inviolatam- 
que  ausgefallen  sein  int  ac  tarn,  deditam  =  si  dedita  fuerit  II  22  soll 
vor  ni  matnratum  ab  dictatore  Romano  esset  ergänzt  werden:  et  quae 
auxilia  misissent.  II  24  praevertisse  wird  verändert  in  praeverti  coss 
(i.  e.  consules),  da  posse  keiner  Heilung  bedürfe.  II  28  eNon  iidem 
homines  de  plebe  modo  in  Esquiliis,  modo  in  Aventino  coetus  fecisse, 
sed  divers ae  alia  alio  loeo  separatim  suis  rebns  consuluisse  videntur; 
obaerati,  et  qui  eorum  causam  agebant,  fortasse  in  Esquiliis,  credito- 
res  contra  et  nobilium  si  qui  cum  iis  stabant ,  in  Aventino  habebant 
coocilia.'  II  31  wird  Gronov's  Verbessernng  gebilligt  (quam,  dum  — 
pandunt,  —  firmaverat)  und  ausserdem  parum  apte  geändert  in  parum 
aptis.  II  59  nimiae  =»  ne  nimia  esset  s.  fieret.  HI  51  nach  quo  — 
abissent  soll  ergänst  werden  fnisi  ipsi  eum  magistratum  retinuissent'. 
V  13  wird  oblati  in  oblatos  geändert ,  wozu  reliquias  pugnae  Apposition 
sei.  V  15  ut  (==  ut  primum)  dürfe  nicht  von  quando  getrennt  werden, 
sondern  hänge  mit  demselben  zusammen.  V  21  die  Worte  variis  ter- 
rentium  ac  paventium  vocibus  sollen  nicht  von  complet,  sondern  von 
mixto  abhängen;  =  Clamor  omnia  complet  mulierum  ac  puerorum  plo- 
ratu,  qui  mixtus  erat  variis  terrentium  ac  paventinm  vocibus.  V  28 
wird  verecundia  erklärt  nach  Cic.  de  rep«  V  4.  V  46  wird  comitiis  cu- 
riatis  nicht  auf  das  folgende  revocatus,  sondern  auf  die  Worte  dictator 
extemplo  diceretur  bezogen  =  ut  Camillus  dictator  extemplo  diceretur 
et  comitiis  curiatis  imperium  acciperet.  Die  Worte  revocatus  de  exilio 
jussu  populi  Camillus  sollen  sich  beziehen  auf  die  kurz  vorhergehenden 
Worte  'consensu  oranium  placuit  ab  Ardea  Camillum  aceiri'. 

22.  Spbieb].  Von  Veränderungen  im  Lehrerpersonale  sind  nach- 
stehende anzuführen:  Prof.  Sqh edler,  dem  der  Religions-  und  Ge- 
schichtsunterricht für  die  kath.  Schüler  am  Gymnasium  und  an  der  lat. 
Schule  übertragen  worden  war,  wurde  in  gleicher  Eigenschaft  an  das 
Wilhelms -Gymnasium  zu  München  versetzt.  Bis  zur  Wiederbesetzung 
der  Lehrstelle  versah  der  Priester  Merkel  den  betreffenden  Unterricht. 
Vom  1.  Januar  an  wurde  der  genannte  Unterricht  getrennt,  und  für  das 
Gymnasium  dem  früheren  Pfarrkaplan  Hutmacher  und  für  die  lat. 
Schule  dem  Domvicar  Kuhn  übertragen.  Der  frühere  Assistent  Kep- 
pel  wurde  zum  Studienlehrer  an  der  lat.  Schule  zu  Kirchheimholanden 
befördert,  und  an  seine  Stelle  der  Lehramtscand.  Kusch  ernannt.  Mit 
dem  Anfang  des  nächsten  Schuljahres  wird  Prof.  Sturtz,  zum  Pfarrer 
in  Winnweiler  ernannt,  von  der  Anstalt  scheiden.  Lehrerpersonal: 
Rector  Hofrath  Dr.  v.  Jäger,  Conrector  Prof.  Fischer,  die  Professo- 
ren Schwerd  (Math,  und  Physik),  Osthelder  (IV),  Langer  (III), 
Borfleht  (II),  Dr.  Fischer  (I),  Hutmacher;  Schaller  (Franz.), 
die  Assistenten  Nuseh  und  Schelle,  Zech  (Zeichnen),  W i s z (Musik), 
Mühe  (Stenogr.);  an  der  lat.  Schule:  Subrector  Prof.  Fahr  (IV),  die 
Studienlehrer  Krieger  (III),  Lehmann  (II),  Emmert  (I),  Kuhn, 
Lehmann  (Kalligr. ) ,  Assistent  Schelle  (Math.) .  Schülerzahl  des  Gym- 
nasiums: 111  (IV  32,  III  24,  II  28,  I  27),  der  lat.  Schule:  126  (IV  30, 

III  45,  II  26,  I  26).  —  Dem  Jahresbericht  folgt  eine  Abhandlung  vom 
Lycealprofessor  Dr.  Becker:  Der  Humanismus  in  seiner  Beziehung  z« 
den  Prineipien  der  antik-platonischen  und  der  christlichen  Sittenlehre.  22  S.  4. 
Die  vorliegende  Abhandlung  stützt  sich  auf  die  neulich  bei  Herder  in 
Freiburg  erschienene  Schrift  desselben  Verfassers:  'Das  philosophische 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen.  159 

System  Platon's  in  seiner  Beziehung  zum  christliehen  Dogma*,  in  welcher 
derselbe  die  principielle  Verschiedenheit  der  christlichen  Glaubens-  und 
Sittenlehre  Ton  den  Lehren  des  platonischen  Systems  nachzuweisen  und 
das  richtige  Verhältnis  zwischen  Christentum  und  Piatonismus  klar  zu 
machen  unternommen  hat.  Der  Verfasser  fühlt  sich  gedrungen,  in  die- 
ser Abhandlung,  deren  weitere  Ausführung  ihm  jedoch  aus  Mangel  an 
Zeit  unmöglich  war,  die  Fehler  und  Ueberschreitungen,  deren  sich  der 
Humanismus  in  den  letzten  Jahrhunderten  schuldig  gemacht  habe,  un- 
verholen und  klar  als  solche  zu  bezeichnen. 

23.  Straub  i hg].  Im  Lehrerpersonale  fanden  folgende  Veränderungen 
statt.  Der  Prof.  der  IV.  Qymnasialcl.  Andeltshauser  wurde  auf  sein 
Nachsuchen  in  den  Buhestand  versetzt  In  die  hierdurch  erledigte  Lehr- 
stelle rückte  der  Prof.  der  I.  Qymnasialcl.  Erk  vor,  und  zum  Prof. 
der  I.  Gymnasialcl.  wurde  der  seitherige  Studienlehrer  der  lat.  Schule 
in  Dillingen  Jungkunz  befördert  Lehrerpersonal:  Studienrector  Pro- 
fessor Tauacheck  (III),  die  Professoren  Erk  (IV),  Enzensperger 
(II),  Jungkunz  (I),  Schmidt  (Math.  u.  Phys.),  P;  Pielmair  (kath. 
Rel.),  Pfarrvicar  Braun  (prot.  Rel.),  Port  (Franz.),  Assistent  Hof  er, 
Lämmermeyr  (Zeichnen)*  Aigner  (Gesang),  Weingart  (Stenogr.); 
die  Studienlehrer  Krieger  (IV),  Schedlbauer  (III),  Spanfehlner 
(II)  (auch  Turnlehrer),  Mutzl  (I),  Bergmann  (Kalligr.).  Schülerzahl 
des  Gymnasiums:  66  (IV  9,  III  13,  II 18,  1 16),  der  latein.  Schule:  93 
(IV  18,  HI  24,  II  24,  I  27).  —  Dem  Jahresbericht  folgt  eine  Abhand- 
lung von  Studienlehrer  Schedlbauer:  Von  der  Fortdauer  der  klatsi- 
sehen  Studien  in  den  Mittelschulen.  28  S.  4.  Der  Verfasser  handelt  erst- 
lich von  dem  Zwecke  aller  Bildung  und  der  Gymnasialbildung  im  Be- 
sonderen, untersucht  dann,  oj>  die  Naturwissenschaften  zur  Erreichung 
dieses  Zweckes  geeignet  sind,  oder,  wenn  nicht  diese,  etwa  die  neueren 
Sprachen.  Nach  den  Ergebnissen  dieser  Untersuchung  wird  auseinander- 
gesetzt, welche  Bildung  dagegen  die  alten  Sprachen  geben;  endlich 
werden  die  Bedenken  gewürdigt,  welche  man  gegen  die  Classiker  hat 
vom  nationalen,  politischen  und  religiösen  Standpunkte  aus. 

24.  Wuerzbubo].  In  dem  Lehrpersonale  traten  im  Laufe  des  Stu- 
dienjahres folgende  Aenderungen  ein.  Dom  Studienlehrer  Dr.  Gras- 
berger  wurde  für  das  Wintersemester  der  erbetene  Urlaub  bewilligt 
und  genehmigt,  dasz  dessen  Functionen  als  Lehrer  der  I.  Lateinclasse 
Abth.  A.  von  dem  Assistenten  Klub  er  übernommen  wurden.  Auf  die 
Dauer  dieses  Urlaubs  wnrde  die  Stelle  eines  Assistenten  dem  Lehramts- 
cand.  Schmitt  übertragen,  der  jedoch  auch  nach  dem  Wiedereintritte 
Klüber's  anderweitig  verwendet  wurde.  Dem  tempor&r  quiescierten 
Professor  Dr.  Keller  wurde  der  erbetene  Ruhestand  für  immer  bewil- 
ligt. Nachdem  die  protestantische  Religionslehrerstelle  an  der  Studien- 
anstalt Bayreuth  dem  Stadtvicar  Nägelsbach  mit  dem  Titel  und  Range 
eines  Gymnasialprofessors  übertragen  war,  erhielt  die  hierdurch  an  der 
hiesigen  Lateinschule  erledigte  Stelle  eines  protest.  Religions-  und 
Geschichtslehrers  der  zum  Stadtvicar  ernannte  Fredigtamtscandidat 
Ortloph.  Die  durch  den  Tod  des  Zeichnenlehrers  am  Gymnasium  Hes- 
selbach  erledigte  Stelle  wurde  dem  seitherigen  Schreib-  und  Zeichnen- 
lehrer an  der  lat.  Schule  zu  Grünnstadt  Hügel  übertragen.  Lehrer- 
personal: Studienrector  Ho frath  Dr.  Weidemann  (IV),  die  Professoren 
Weigand  (III),  Schmitt  (II),  Hannwacker  (I),  Vierheilig  (Math. 
u.Phys.),  Steigerwald  (kath.  Rel.  u.  Gesch.),  Stadtvicar  Baum  (prot. 
Rel.  u.  vGesch.),  Dr.  Hostombe  (Franz.),  Assistanten:  Studienlehrer 
Behringer  und  Klüber;  Prof.  Dr.  Reiszmann  (Hebr.),  Eggens- 
berger  (Engl.),  Hügel  (Zeichnen),  Bratsch  (Gesang),  Maier  (Ste- 
nogr. u.  Turnen);  die  Studienlehrer  Alzheimer  (IV),  Behringer  (III), 
Dr.  Gerhard  (II),  Dr.  Grasberger  (I«),  Knierer  (Ib),  Dr.  Stein 
(kath.  Rel.  tr.  Gesch.),  Ortloph  (prot.  Rel.  u.  Gesch.),  Assistent  Hart - 


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160  Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

mann  (Math.),  St  Öhr  (Kalligr.).  Schülerzahl  des  Gymnasiums:  114 
(IV  23,  III  27,  II  35,  I  29),  der  lat.  Schule:  252  (IV  66,  III  54,  1159, 
1*40,  Ib  34).  —  Dem  Jahresbericht  ist  beigegeben:  Uebersetzungsproben 
aus  Lucretius.  Von  Studienlehrer  Dt,  Grasb erger.  24  S.  4.  (In  dem 
Versmasz  der  Divina  Commedia.). 

25.  Zwjubrujccken].  Den  Subrector  Görringer  verlor  die  Anstalt 
durch  den  Tod.  In  Folge  dessen  wurde  die  Führung  der  IV.  Latein - 
classe  dem  temporär  quiescierten  Studienlehrer  an  der  Lateinschule  in 
Speyer  Sand  übertragen,  aber  das  mit  dieser  Stelle  verbunden  gewe- 
sene Subrector at  aufgehoben;  der  Unterricht  in  der  hebr.  Sprache  wurde 
dem  Prof.  Dr.  Ochs  übertragen..  Lehrerpersonal:  Reetor  Prof.  Dr. 
Dittmar  (IV),  die  Professoren  Fischer  (III),  zugleich  Gesanglehrer, 
Butters  (II),  Müller  (I),  Dursy  (Math,  und  Phys.),  Krieger  (prot. 
Rel.  und  Gesch.),  Dr.  Ochs  (kath.  Rel.  und  Gesch.);  die  Studienlehrer 
Sand  (IV),  Kraft  (III),  zugleich  Lehrer  der  Stenogr.  und  Kalligr., 
Oeffner  (II),  Dreykorn  (I),  Koch  (Franz.),  die  Assistenten  Tauber 
und  Heel,  Perzl  (Zeichnen).  Schülerzahl  des  Gymnasiums :  122  (IV  28, 
HI  27,  II  30,  I  37),  der  lat  Schule:  97  (IV  34,  III  17,  II 18,  I  28).  - 
Eine  wissenschaftliche  Abhandlung  ist  dem  Jahresberichte  nicht  bei- 
gegeben. 

Ueber  die  Gymnasien  des  Königreichs  Preuszen  berichten  wir 
nach  den  zu  Ostern  und  Michaelis  1862  erschienenen  Programmen, 
wie  folgt: 

I.  Provinz  Preuszen. 

1.  Bbaunsbebö].  Mit  dem  Anfange  des  Schuljahres  trat  der  Can- 
didat  des  höheren  Schulamts  Löffler  zur  aushülflichen  Dienstleitung 
ein.  Lehrercollegium :  Director  Prof.  Braun,  die  Oberlehrer  Prof. 
Dr.  Saage,  Dr.  Otto,  Dr.  Bender,  t)r.  Funge,  Religioralehrer 
Austen,  die  ordentlichen  Lehrer  Oberl.  Lindenblatt >  Oberl.  Tietz, 
Dr.  Bludau,  Brandenburg,  wiss.  Hülfsl.  Schütze,  Cand.  Löff- 
ler, techn.  Hülfsl  ehr  er  Rohde,  Pfarrer  Dr.  Herrmann  (evang.  Reli- 
gionslehrer).    Schülerzahl:   321   (I*  u.   b  47,   II«  u.  b  57,  HI*  u.  b  84, 

IV  47,  V  42,-  VI  44).  Abiturienten:  15.  Den  Schulnachrichten  geht 
yoraus  eine  mathematische  Abhandlung  vom  Oberlehrer  Tietz:  Ueber 
Transversalen.   24.  S.  4. 

2.  Culm].  An  die  Stelle  der  beiden  ausgeschiedenen  Lehrer  Dr. 
Pior  und  Schillings,  von  denen  der  erster©  an  das  Gymnasium  zu 
Neustadt  W.  Pr.  übergieng,  der  andere  als  Mathematikus  bei  dem  Gym- 
nasium zu  Arnsberg  eintrat,  traten  Dr.  Schulz  und  Schröder  ein, 
der  letztere  für  den  mathematischen  Unterricht.  Dem  Dr.  Peters 
wurde  die  fünfte  ordentliche  Lehrerstelle  definitiv  übertragen.  Lehrer- 
collegium: Director  Dr.  Loz'ynski,  die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Funk, 
Haegele,  Weclewski,  Licent.  Okr6j  (katholischer  Religionslehrer), 
Wentzke,  die  ordentlichen  Lehrer  Oberlehrer  Raabe,  Dr.  Frey, 
Reyzner,  Laskowski,  Dr.  Peters,  wiss.  Hülfslehrer  Rochel, 
Pfarrer  Consentius  (evang,  Religionsl.),  die  Candidaten  Dr.  Schulz, 
Schroeder,  Zeichnenl.  Diugosz,  Gesang].  Trautmann.  Schülerzahl: 
470  (I«  37,   Ib  29,  II«  43,  IIb  43,  III*  50,  IIIbl  30,  UIb*  33,  IV  67, 

V  56,  VI  57,  Vorbereitungscl.  25).  Abiturienten:  33.  —  Den  Schul - 
nachrichten  geht  voraus :  Geschichte  des  Gymnasiums  zu  Culm  während  der 
ersten  25  Jahre  seines  Bestehens,  von  dem  Dir.  Dr.  Lozynski.    75  S.  4. 

3.  Danzio].  Der  Divisionsprediger  Krieger,  welcher  seit  mehre- 
ren Jahren  eine  Hülfslehrerstelle  am  hiesigen  Gymnasium  neben  sei- 
nem Predigtamte  verwaltete,  schied  mit  dem  Schlüsse  des  Schuljahres 
aus,  um  seine  ganze  Kraft  seinem  Hauptamte  widmen  zu  können.  An 
seine  Stelle  wird  mit  dem  neuen  Schuljahre' Dr.  Eich  hörst  treten. 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen.  161 

Dr.  Stein  erhielt  zum  Zwecke  einer  wissenschaftlichen  Reise  nach 
Paris  und  Italien  auf  ein  Jahr  Urlaub;  die  Stellvertretung  wird  der 
Predigtamtscandidat  Bertling  übernehmen.  Lehrercoliegium :  Director 
Engelhardt,  die  Professoren  Herbst,  Hirsch,  Czwalina,  Brand- 
stäter, Boeper,  die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Strehlke,  Dr.  Hintz, 
Dr.  Stein,  Dr.  Bresler,  evang.  Religionsl.  Predig.  Blech,  kath. 
Religionsl.  Dr.  theol.  Redner,  die  Hülfslehrer  Dr.  Lampe,  Dr.  Eich- 
horst, Zeichnenlehrer  Trosohel,  Schreiblehrer  Qohr,  Musikdir.  Mar- 
kall, Elementarlehrer  Wilde.  Schülerzahl:  473  (I  32,  II«  41,  IIb  38, 
III"  41,  II1»>  63,  IV*  60,  IV*  44,  V  61,  Vi  56,  VII  37).  Abiturienten: 
22.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus:  M.  Terenti  Varroni*  Eume- 
nidum  reliquiae.  Rec.  et  adnot.  Roeper.  Partie,  tertia.  42  S.  4.  fHaec 
hahui  de  singulis  hujus  saturae  fragmentis  quae  proponerem,  in  quibus 
id  maxime  agendum  putavi,  ut  emendarem  verba,  aperirem  sententias, 
restituerem  numeros.  Superest  ut  de  universae  conformatione  deque 
fragmentorum  .ordine  dicendum  videatur.  Quae  res  quam  sit  lubrica  ac 
dubitationum  plena,  ut  cum  aliqna  probabilitatis  fidueia  non  modo 
effici  sed  ne  institui  quidem  possit,  cum  in  Vindiciis  primis  ad  versus 
Yahlenum  (Philol.  XV  p.  271  sqq.)  exposuerim,  supersedere  nunc  plu- 
ribus  licet.  Sed  quoniam  aliquem  editor  seeundum  eam  quam  animo 
6uo  inform avit  totius  fabulae  imaginem  quamvis  obscuram  atque  eva- 
uidam  incertamque  facere  tarnen  debet  ordinem  reliquiarum  nullo  or- 
dioe  traditarum,  isque  quem  rejeeto  haud  injuria  Popmano  fecit  Oehle- 
ras  aliquot  locis  falsus  est,  id  quod  intellegitur  divolsis  quibusdam  haud 
dabie  ad  rem  eamdem  pertinentibus,  Vahleni  autem  ordo  et  imperfec- 
tus  est  et  ad  fabulam  parum  credibiliter  exeogitatam  institutus ;  id  qui- 
dem non  eo  infitias  a  Ribbeckio  esse  fragmenta  elegantius  et  cum  ma- 
jori quadam  specie  probabilitatis  digesta,  sed  ita  tarnen  idem  ea  in  re 
noanumqnam  temere  mea  quidem  sententia  et  ad  fidem  faciendam  pa- 
nuo  apte  versatus  videtur  esse,  ut,  meus  mihi  ordo  si  ineundus  sit,  ali- 
qnotiens  discedendum  ab  eo  putem.  Atque  equidem  ita  fere  digesserim 
quae  supersunt:  1,  2,  8,  34,  32  (servorum  inter  se  colloquium  idemque 
narrationis  insequentis  prooemium);  3,  4  (de  cenae  scholasticae  adpa- 
ratione);  6,  7,  5  (de  convivarum  pro  meritis  ordine);  11,  10  (de  cenae 
ad  antiquum  morem  frugalitate) ;  9,  14  (de  intermediis  quibusdam) ;  22, 
21,  19,  33,  23,  25,  31,  30,  24,  26  (de  Stoicorum  aliorumque  philosopho- 
rum  opinionibus  praeeipue  circa  hominum  insaniam);  48,  49,  42,  12,  13 
(de  fine  convivii  et  quibusdam  quae  in  publicum  progressis  evenerunt) ; 
45,  46,  43,  28,  44  (de  ineidente  in  Furias  et  pro  insano  habito);  35, 
38,  36,  37,  39,  40,  41,  47  (de  iis  quae  apud  aedem  Matris  Deum  acci- 
derunt);  16,  17,  27,  20,  15,  18  (de  ineubante  Serapidi);  29  (de  judicio 
Veritatis).  Quem  equidem  ordinem  ita  pono,  ut  et  sciam  quam  ipse 
ineertus  sit  nee  spondeam  semper  me  ejus  tenacem  fore.  Totius  satu- 
rae argumentum  positum  fuisse  in  describenda  varia  mortalium  vel  pro 
Banissimis  habitorum  insania  atque  vecordia,  satis  declarant  fragmenta 
plurima;  sed  inter  ipsam  et  logistoricum ,  qui  inscriptus  fuit  Orestes 
vel  de  insania,  quae  olim  ratio  intercesserit,  praeter  commune  illud 
satararum  ac  logistoricorum  discrimen  hilaritatis  atque  gravitatis  sive 
scenici  generis  ac  didactici  in  tanta  Orestis  reliquiarum  paucitate  ad- 
sequi  vix  quisquam  poterit  aut  definire.' 

4)  Deutsch -Cbohk].  Die  bisherige  wissenschaftliche  Hülfslehrer- 
stelle  wurde  zur  vierten  ordentlichen  Lehrerstelle  erhoben  und  dem 
Candidaten  Andrezejewski  intermistisoh  übertragen.  An  Stelle  des 
bisherigen  Religionslehrers  Ptaszynski  wurde  der  Licentiat  der  Theo- 
logie v.  Laskowski  berufen.  Lehrercoliegium:  Director  Dr.  Peters, 
die  Oberlehrer  Martini,  Prof.  Krause,  Weierstrasz,  Lic.  von 
Laskowski  (Relig.),  die  ordentlichen  Lehrer  Altendorf,  Dr.  Ma- 
lina,  Dr.  Schneider,   Andrzejewski,    techn.  Hülfsl.    Härtung, 


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162  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist  Notizen. 

Prediger  Weise  (evang.  ßel.).  Schülerzahl:  230  (I  ^2,  II  40,  III«  22, 
III b  36,  IV  42,  V  31,  VI  37).  Abiturienten:  7.  —  Den  Schulnachricli- 
ten  geht  voraus:  Ueber  Cäsar**  Bell.  Galt.  VII  23.  Vom  Oberlehrer 
Martini.  16  S.  4.  Der  Verfasser  hat  nur  eben  das  zusammenstellen 
wollen,  was  aus  den  bisherigen  Erklärungsversuchen  dieses  in  vieler 
Beziehung  nicht  leicht  zu  erklärenden  Capitels  seinen  eigenen  Ansich- 
ten am  meisten  entsprach.  Neues  ist  über  diesen  oft  behandelten  Ge- 
genstand nicht  gesagt. 

5.  Elbino].  Mit  dem  Schlüsse  des  Schuljahres  verliesz  die  Anstalt 
Dr.  Sonnenburg,  Lehrer  «der  neueren  Sprachen  in  den  oberen  Clas- 
sen,  um  eine  Lehrerstelle  an  der  Petrischale  in  Danzig  zu  überneh- 
men. Lehrercollegium :  Director  Dr.  Benecke,  die  Professoren  M e tt , 
Richter,  Dr.  Reusch,  Oberl.  Scheibert,  die  ordentlichen  Lehrer 
Lindenroth,  Dr.  Steinke,  Dr.  Heinrichs,  Mnsikdir.  Döring, 
Zeichnenlehrer  Müller.  Schülerzahl:  248  (I  18,  II  24,  III  49,  IV  40, 
V  60,  VI  57).  Abiturienten:  14.  —  Den  Schulnachrichten  folgt  eine 
mathem.  Abhandlung  von  dem  Oberlehrer  Scheibert:  Herleitung  der 
Allgemeingültigkeit  der  Binominal formell  sowie  der  logarithmischen  Funda- 

■  mentalreihe  durch  die  Hauptsätze  aus  der  Methode  der  unbestimmten  Koef- 
ficienten.   20  S.  4. 

6.  Gumbinken].  Während  der  Dauer  des  ganzen  Schuljahrs  hat 
dem  Gymnasium  eine  Lehrkraft  gefehlt,  da  die  durch  des  Prof.  Dr. 
Amol  dt  Beförderung  zum  Directorat  erledigte  zweite  Oberlehrerstelle 
unbesetzt  geblieben  ist.  Erst  vom  October  ab  ist  zur  Wahrnehmung 
der  erledigten  Lehi erstelle  der  Gymnasiallehrer  Hoppe  in  Liegnitz 
berufen  worden.  Lehrercollegium:  Director  Dr.  Arnoldt,  die  Ober- 
lehrer Prof.  Sperling*  Prof.  Dewischeit,  Hoppe,  Gerlach,  die 
ordentlichen  Lehrer  Dr.  Kossak,  Dr.  Basse,  Dr.  Waas,  Dr.  Witt, 
Schwarz,  Lehrer  der  Vorbereitungsciasse  Klein.  Seh  Hl  erzähl :  280 
(I  11,  II  32,  III  52,  IV  47,  V  60,  VI  39,  VII  49).  Abiturienten:  5.  - 
Den  Schulnachrichten  geht  voraus:  Eine  Zusammenstellung  des  Wichtig- 
sten aus  der  Lehre  von  den  hypothetischen  Sätzen  in  der  mustergültigen 
lateinischen  Prosa.  Zweiter  Teil.  Von  Dr.  R.  Basse.  9  S.  4.  (Der 
erste  Teil  dieser  Abhandlung  findet  sich  im  Michaelis-Programm  1861.) 
B.  Abhängige  Bedingungssätze. 

7.  Hohenstkin].  Der  Oberlehrer  Schultz  schied  aus  seiner  bis- 
herigen Stellung  aus,  um  eine  Lehrerstelle  an  dem  evang.  Gymnasium 
zu  Grosz-Glogau  zu  übernehmen.  In  Folge  dessen  wurde  Dr.  Ger- 
vais zum  dritten  Oberlehrer,  Blümel  zum  ersten  ordentlichen  Lehrer 
Defördert,  der  bisher  bei  dem  Gymnasium  in  Thorn  beschäftigte  Leh- 
rer Siebert  als  zweiter  ordentlicher  Lehrer  angestellt  Den  Reli- 
gionslehrer Candidat  Menzel  verlor  die  Anstalt  durch  den  Tod;  in 
seine  Stelle  trat  der  Prediger  Wendland  ein«  Lehrercollegium:  Di- 
rector Dr.  Toppen,  die  Oberlehrer  Dudeck,  Dr.  Krause,  Dr.  Ger- 
vais, die  ordentlichen  Lehrer  Blümel,  Siebert,  Dr.  Heinicke, 
Prediger  Wendland,  technischer  Lehrer  Baldus,  Pfarrer  Kar  an. 
Schülerzahl:  209  (I  26,  II  26,  III  61,  IV  35,  V  43,  VI  29).  Abiturien- 
ten: 13.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus:  Versicherung  von  Erzie- 
hungsgeldern.   Von  Blümel.   36.  S.   4. 

8.  Instbrbubg].  Das  neue  Schuljahr  wurde  mit  der  Einführung  des 
Dr.  Lange  als  dritten  Oberlehrers  eröffnet.  Lehrercollegium;  Director 
Dr.  Kräh,  die  Oberlehrer  Dr.  Schaper,  Fischer,  Dr.  Lange, 
Bachmann,  Preusz,  die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Rumpel,  Dr. 
Schwarzlose,  Dr.  Friedrich,  Dr.  Meiszner,  Dr.  Schaefer, 
Trosien,  Dr.  Wiederhold,  wiss.  Hülfsl.  Koch,  Elementar-  und 
Zeichnenlehrer  Kislatis,  Gesangl.  Metz,  die  Lehrer  der  Vorschule 
Sackersdorff  und  Eggert.  Schülerzahl:  295  (Ig  10,  Ir  10,  ng  20, 
Ilr  36,  Illg  25,  Illr  53,  IVg  17,  IVr  34,  V  50,  VI  40,  Vorschule:  53. 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  staust.  Notizen.  163 

Abiturienten:  6.  —  Den  Schuh) achrichten  geht  voran»:  De  tertio  hexa- 
metri  latini  ordine  cap.  I.  Vom  Oberl.  Dr.  Seh  aper.  26  S.  4.  <Ex- 
ponam,  qua  ratione  de  vi  varietateque  tertii  ordinis  sim  scripturus. 
Incipiam  igitnr  a  voeibus  dactylicis,  elisione  decurtatis,  qaae  in  con- 
finio  quasi  seeundi  et  tertii  ordinis  positae  sunt.  Extrema  autem  pars 
disquisitionis  ea  vocabula  habebit,  quae  cum  natura  antibacchia,  mo- 
losaica,  paeonica,  choriamblca  sint,  elisione  daetylica  fieri  videntur. 
Capitnm  quinqne,  quae  in  media  disputatione  ponentur,  materiam  da- 
bunt  eae  voces,  quae  vel  ipsae  vel  cum  aliis  compositae  justum  tertii 
ordinis  modum  explent  Hamm  exempla  tarn  mtilta  leguntur,  ut  primi 
generis,  quod  voeihus  dactylicis  constat,  non  minus  quinque  millia  in- 
venerim.  Alterum  genus,  quamqaam  longo  intervallo,  huic  tarnen  pro- 
ximum  est;  cum  enim  ex  monosyllabo  longo  et  pyrrhichio  componatur, 
satis  magnae  copulationum  pulcherrimarum  copiae  locum  dedit.  Contra 
tertium  genus  quo  in  genere  trorhaeus  cum  brevi  monosyllabo  conjun* 
gitur,  perpaucas  continet  verborum  copulationes  nee  eas  elegantissime 
facta».  Haec  tria  daotylorum  genera.  Spendet  denique  in  duo  genera 
distribuentur,  quorum  alterum  singula  vocabula,  alterum  bina  compleo- 
tetur.*  Cap.  I.  De  voeibus  dactylicis  et  creticis,  quae  a  sequenti  in- 
ciso  sententiae  vi  sejunetae,  cum  proximis  syllabis,  a  quibus  altera 
hexametri  sedes  ineipit,  synizesi  conjnngnntur. 

9.  Koshiqsbbbo].  a)  Altstädtisches  Gymnasium.  In  dem 
Lehrercollegium  sind  im  Laufe  des  Jahres  folgende  Veränderungen 
eingetreten.  Zu  Ostern  v.  J.  trat  der  dritte  ord.  Lehrer  Dr.  Seh  aper 
aas,  um  die  erste  Oberlehrerstelle  an  dem  neu  errichteten  Gymnasium 
za  Insterburg  zu  übernehmen.  An  die  Stelle  desselben  traten  Dr.  Bu- 
jack,  welcher  schon  seit  Michaelis  1860  an  dem  Gymnasium  beschäf- 
tigt war,  und  Dr.  Eichhorst,  welcher  jedoch  nach  Ostern  d.  J.  aus 
dem  Lehrerkreise  scheiden  wird,  um  in  eine  wissensch.  Htilfslehrerstelle 
an  dem  Gymnasium  zu  Danzig  einzutreten.  An  die  Stelle  des  ans  Ge- 
sundheitsrücksichten ausgeschiedenen  Elementarlehrers  Rosatis  trat 
der  Elementarlehrer  Bier  freund.  Seit  Michaelis  v.  J.  war  auch  das 
Mitglied  des  p&dagog.  Seminars,  Dr.  Koenigsbeck  an  dem  Gymna- 
sium beschäftigt.  An  die  Stelle  des  aus  seiner  Stellung  geschiedenen 
Gesanglehrers  Witt  trat  Cantor  Meissner.  Lehrercollegium:  Director 
Dr.  Ellendt,  die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Möller,  Fatschek,  Schu- 
mann, Dr.  Richter,  die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Retzlaff,  Fabri« 
eins,  Witt,  Müttrich,  die  Schnlamtscandidaten  Dr.  Bujack  und 
Dr.  Eichhorst,  Elena entarlehrei  Bierfreund,  Zeichnenl.  Stobbe, 
Gesanglehrer  Meiszner.  Schfilerzahl:  395  (I  49,  II*  28,  IIb  36,  III« 
42,  IIIb  59,  IV  60,  V  61,  VI  60).  Abiturienten  zu  Michaelis:  2,  zu 
Ostern:  15.  —  Den  Schulnachrichten  ist  vorausgeschickt  eine  Abhand- 
lung des  Oberlehrer  Schumann:  Eine  neue  Tangenlenboussole.  32  8.  4. 

b)  Friedrichs-Collegium.  Der  Sehulamtscandidat  Linke  und 
der  Candidat  der  Theologie  Coli  in  traten  als  wissenschaftliche  Hülfs- 
lehrer  ein,  letzterer  zugleich  als  Gesanglehrer,  der  Elementarlehrer 
Maasz  als  Lehrer  an  der  Vorschule.  Der  Domherr  und  Probst  Dr. 
Wunder  wurde  im  Laufe  des  Winters  an  das  Domstift  nach  Frauen- 
burg versetzt;  der  bis,  dahin  von  ihm  erteilte  Religionsunterricht  für 
die  kathol.  Schüler  wurde  vorläufig  dem  Kaplan  Dr.  Hizler  übertra- 
gen, nachher  hat  denselben  der  Probst  Namszanowski  übernommen. 
Mit  dem  Beginn  des  Sommersemesters  trat  der  Predigtamtscandidat 
Lackner  sein  Probejahr  an.  Oberlehrer  Dr.  Lewitz  wurde  zum  Pro- 
fessor, ernannt.  Lehrercollegium:  Director  Adler,  die  Oberlehrer  Prof. 
Dr.  Lewitz,  Prof.  Dr.  Merlecker,  Lehnerdt,  Dr.  Zander,  die 
ordentlichen  Lehrer  Professor  Dr.  Simson,  Prof.  Dr.  Zaddach,  Dr. 
Hoffmann,  Dr.  Müller,  Dr.  Eckardt,  Prediger  Ebel,  die  wiss. 
Hülfslehrer  Dr.  Linke,  Collin,  Lackner,  teehn.  Hülfsl.  Kreutz- 


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164  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen. 


raus: » 
r  Dr.] 

5.  te  -j 


berger,  die  Lehrer  der  Vorschule  Glage  and  Maasz.  Schälerzahl: 
461  (I  28,  II  39,  III*  44,  HI*  51,  IV*  31,  IV«  41,  V  73,  VI  65,  Vor- 
schule I  54,  II  35).  Abiturienten:  6.  —  Den  Schulnachrichten  geht 
voraus  eine  Abhandlung  von  Dr.  Ho  ff  mann:  lieber  tordierte  Drähte. 
10  S.   4. 

c)  Kneiphöfisches  Stadt-Gymnasium.    An  die  Stelle  des  Dr. 
Bujack,   welcher  eine  Stelle  an  dem  hiesigen  Altstädtischen  Gymna- 
sium übernommen  hat,  ist  der  Prediger  Hanncke  getreten.    Zu  Mi- 
chaelis  sind   zwei  Mitglieder   des   hiesigen   pädagogischen    Seminars, 
Meinertz   und   P e  1  k a ,   dem    Gymnasium   tiberwiesen.     Lehr ercolle -  1 
gium:  Director  Dr.  Skrzeczka,   die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Koenig,  I 
Dr.   Schwidoz,  Dr.  Lentz,   Prof.  Cholevius,  Weyl,   die   ordent-"] 
liehen  Lehrer  Dr.  Knobbe,  v.  Drygalski,  Dr.  Diestel,  Prediger 
Hanncke,  Dr.  Seemann,  Zeichnen-  und  Schreiblehrer  G 1  u  m ,  Musik  -  ' 
director  Pabst     Schülerzahl:  310  (I  37,  II*  32,  II»»  31,  m  61,  IV  60, 
V47,  VI  42).    Abiturienten:  16.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus 
De  verbis  latinae  linguae  auxiliaribus.    Pars  III.    Vom  Oberlehrer 
Lentz.    25  S.  4.    'Agendum  mihi  erit  de  his  verbis:   e**e,  habere 
nere,  fore,  forem,  ireS  —  fQuae  restat  disputatio  de  verbis  foref  foremy 
ire,  eam  quam  proxime  licebit  absolvemus.' 

10.  Kohitz],  In  dem  Lehrereollegium  ist  eine  Veränderung  nicht 
eingetreten.  Dasselbe  bilden:  Director  Dr.  Goebel,  die  Oberlehrer 
Prof.  Wiehert,  Prof.  Dr.  Moiszisstzig,  üowinski,  Dr.  Stein, 
Religionslehrer  v.  Bielicki,  die  ordentl.  Lehrer  Oberlehrer  Haub, 
Heppner,  Karlinski,  Kawczynski,  Barthel,  wiss.  Hülfslehrer 
Gand,  comiss.  Lehrer  Altendorf,  techn.  Hülfsl.  Ossowski,  evang. 
Beligionsl.  Superintend.  Annecke.  Schülerzahl:  319  (t  34,  II  34, 
IH*  36,  HI*  55,  IV  50,  V  63,  VI  57).  Abiturienten:  11.  —  Den  Schul- 
nachrichten geht  voraus:  Diverbii  Aeschylei  seeunäum  ralionem  antithe- 
Hcam  emendati  speeimen.  Scripsit  A.  Lowinski.  20  S.  4.  fAccipe 
nunc  textum  utriusque  sermonis  seeundum  rationem  antitheticam  pro 
virili  parte  a  nobis  emendatum  mementoque  asteriscum  eis  locis  appic- 
tum  esse  quos  ipsi  conjeetura  temptare  ausi  Burnus: 

AIT6AOC. 

Iktov  XlyouV  ftv  Ävöpa  cuKppovdcraTov 
550    äXxrjv  t'  dpiCTOv,  /utavTiv  'Anqpidpewv  Aiöc* 

cO|uioXuitctv  bk  trpöe  irOXatc  tctot^voc 

KOKotct  ßdZ€i  iroXXA  Tuö^uic  ßiav, 

töv  ävöpoqpövTnv ,  töv  iröXctuc  TapdKtopa, 

Macrbcrop'*  äp€UK*  kokoO*  bibdacaXov, 
555    "Eptvtioc  XnTfJpa,  irpöciroXov  Odvou, 

KaKtpv  t'  'Aöpdcrip  Td»vÖ€  ßouXeurVipiov 

xol  töv"  cöv  aüOic  irpöc^opov*  cuXXV|irropa* 

öimTidZovr  **  övo|ma  TToXuv€(kouc  kXOciv,* 

buC€KTdX€CTOV*  TOÖVOfA*  SvöaroOncvoc, 
560    KaXei.  \bfti  bt  toöt'  Sitoc  ötov*  ordnet* 

fl  rotov  Spirov  Kai  Oeolct  irpocquXlc,  , 

xaXöv  t'  dxoücai  xal  X£f€iv  ueöuct^poic, 

iröXiv  iraTpibav  Kai  Bcoüc  toöc  ^yy€v€!c 

iropOetv,  CTpdT€U|Ll,  tiraxiröv  t^ßcßXnKÖra. 
565    KYipdc*  T€  irrrffiv  t(c  Kaxacß&ei  Micrj; 

iraTp(c  te  rata,  efle  äiro  cirouoflc  öopl 

aXoüca,  trifte  coi  Eu^axoc  revricerai; 

tywfe  jliSv  of|  Trivbc  irtavtö  iröXiv,* 

MdVTlC  K€K€U6tl)C  iroX€|uUac  ötrö  x^ovoc. 
570    iiaxu^eO'*  o0k  dTtjuov  tXtrftuj  fxdpov. 

ToiaOe*  6  ndvric  äar(6'  cOtOkujv*  voyöv* 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen.  165 

irdfxaXKOv  xflba*  cf\\xa  ö*  oök  kitf\v  irlpig.* 
oö  irdp  00K€tv  dpicxoc,  dXX*  elvdi  O&ci, 
ßaOeiav  äXoica  cid  qppevöc  Kapirou/acvoc, 
575    8:  fjc  xd  K€Övd  ßXacxdvci  ßouXeujuuxxa. 
xotixip  coqpouc  xe  KdxaOoOc  ävxrjp^xac 
irljiireiv  tiraivuV  ocivöc  de  0€odc  c^ßcu 

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<p€Ü  toO  EuvaXXdccovxoc  öpviOoc  ßpoxote 

Mxaiov  dvopa  Totci  oucccßecxdxoic. 
580    Iv  iravrl  irpdx€i  ö'  £c6'  ö/utiXiac  kqki\c 

xdxtov  oöb£v,  Kapiröc  oö  KOUICX&C 

Äxnc  dpoupav*  Odvaxoc*  txKapirtfcxar 

f{  Ydp  Euv€icßdc  irXotov  cüccßfjc  dvfjp 

vauxaici  Ooüpoic*  Kai  iravoupviac*  xOiroic* 
585    öXwXcv  dv&pwv  cdv  Ocoirxticxtjj  fivei, 

fj  Eüv  iroXixaic  dvopdav,  bteaioc  d>v, 

€xGpo££voic  T6  Kai  Oeuiv  diAvVmoav, 

xaöxoO  KUpf|cac  €utuku>c*  dfpeu^aToc, 

irXr|Y€lc  0coO  jLidcTiTi  iraYKoivip  *od|Lir|. 
590    oötoc  b*  6  jLidvric,  ul6v  OIkXIouc  X^yuj, 

ciO<ppu>v,  ohcaioc,  draOdc,  cöc€ß?|C  dv^p, 

indtac  irpoq>fVrr|C,  dvoctoici  cuixjluycIc 

epacucrÖMOiciv  dvbpdciv  qppevuiv  b(xa* 

xeivoua  iro|umf)v  xtf|v  naxpdv  itöXiv*  noXeW, 
595    Aiöc  6£Xovxoc  EuYKa0€XKuc6f|C€xai. 

öokiXi  \Uv  oOv  cqp€  |lav)6^  irpocßaXetv  iruXatc, 

oöx  the  dOupoc,  oute  Xf|/maToc  KdKT), 

dXX'  oi&€v,  O&c  c<pc  XP^I  xcXeuxfjcai  iidxg, 

ei  Kapiröc  ccxai  Oec<pdxoia  Ao£(ou. 
600    qnXui*  oc  ciYäv  f\  X^Y€iv  xd  Kaipia. 

Öjiuic  b*  €ir*  aöxö>  qpuVra,  AacOlvouc  ß(av, 

4xöpiji*  Ecvov  iruXujpöv  dvxixd£of<i€v, 

T^povxa  xdv  voOv,  cdpxa  b*  r^ßweav  cpOci, 

irobtimcc  öfmjLia,  xelpd  0'  f)*  06  ßpabüvexai 
605    irap'  dcirfboc  yumvuj0£v  dpirdcai  oöpu. 

GeoO  Ö€  oilipdv  €cxiv  cOxuxetv  ßpoxoOc. 

11.  LiTcncj.  Im  Lehrercollegium  sind  im  verflossenen  Schuljahre 
Veränderungen  nicht  vorgekommen,  aber  durch  die  Ueberfüllung  der 
8e eunda   die  Berufung  eines  neuen  Lehrers  vorbereitet.    Lehrercolle- 

,  |ium:  Director  Professor  Fabian»  die  Oberlehrer  Professor  Kostka, 
i  GortzitKa,  Dr.  Horch,  die  ordentl.  Itehrer  Kuhse,  Dr.  Hamzke, 
1  Kopetsc-h,    Oberlehrer  Menzel,   Laves,  Saran,  Pfarrer  Preusz. 

Schülerzahl:   308  (I  35,  II  69,  III«  47,  III»»  46,  IV  51,  V  46,  VI  25). 

Abiturienten:  7.  — -  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine  Abhandlung 

des  Gymnasiallehrer  Kuhse:  Lehre  von  den  Kegelschnitten  in  syniheti- 

tcker  Darstellung.    23  S.  4. 

12.  Mabibnwrbdeb].  a)  Königliches  Gymnasium.  Im  Lehr er- 
collegium  sind  folgende  Veränderungen  eingetreten.  Der  wissenschaft- 
liche Hülfslehrer  Dr.  Wulckow  wurde  nach  Danzig  an  die  Petri- 
schale versetzt;  an  seine  Stelle  trat  provisorisch  auf  ein  Jahr  der 
Candidat  Wieder  hold,  der  am  Schlüsse  des  Schuljahrs  die  Anstalt 
wieder  verliesz,  da  die  Stelle  des  wiss.  Hülfslehrers  in  Wegfall  ge- 
kommen ist.  Der  fünfte  ordentliche  Lehrer  Dr.  Volckmann  ist  an 
das  Rastenburger  Gymnasium  versetzt  worden;  zur  einstweiligen  Aus- 
hülfe ist  der  Predigtamtscandidat  Rohde  eingetreten.  Lehrercolle- 
giam: Director  Prof.  Dr.  Lehmann,  die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Gütz- 


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166  Berichte  über  gelehrte  Anstallen ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

laff,  Prof.  Dr.  Schröder,  Gross  (zugleich  Turnlehrer),  Dr.  Zeysz, 
die  ordentlichen  Lehrer  Reddig,  Henske,  Graeser,  Dr.  Künzer, 
Cand,  Rohde,  Zeichnen-  und  Schreiblehrer  B er endt,  Gesangl.  Cantor 
Leder.  Schülerzahl:  212  (I  17,  II  38,  III«  20,  III1»  39,  IV  28,  V  27, 
VI  43).  Abiturienten:  14.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus:  1) 
Sprachliche  Bemerkungen  über  Lessing.  Erstes  Heft.  Vom  Director  Dr. 
Lehmann.  37  S.  4.  Erster  Abschnitt.  Die  Hülfsverba.  §  1.  Allge- 
meines. §  2.  Auslassung  der  Hülfsverba  haben  und  sein  m  Neben- 
sätzen. §  3.  Auslassung  des  Hülfsverbums  haben  bei  der  Innuitiv- 
Attraction.  §  4.  Auslassung  des  Hülfsverbums  sein,  besonders  bei 
geworden,  werden  und  gewesen.  §  5.  Resultat.  A.  Das  End- 
resultat für  die  Poesie.  B.  Das  Endresultat  für  die  Prosa.  Zweiter 
Abschnitt.  Eine  Attraction  (Trajection)  bei  Relativsätzen.  §  6.  Die 
regelmäszige  Construction.  §  7  Die  Structiir  der  Trajection.  §  8.  Die 
Einleitungen  der  beiden  Nebensätze.  §  9.  Die  Verba  finita  des  regie- 
renden Nebensatzes.  §  10,  Die  Satzstufen  bei  4er  Trajection.  §  11. 
Stilgattungen.  §  12.  Beispiele  bei  Luther  und  Anderen.  §  13.  Ursprung 
und  Zusammenhang.  *  §  14.  Resultat.  Dritter  Abschnitt.  Der  Accn- 
sativ  mit  dem  Infinitiv.  §  15.  Wesen.  §  16.  Die  regierenden  Verba. 
§  17.  Ellipsen  bei  dem  Accusativ  mit  dem  Infinitiv.  §  18.  Die  Satz- 
stufen. §  19.  Entstehung  und  Zusammenhang.  §  20.  Schlnas.  —  2) 
Uebersichten  zur  Chronik  des  Königlichen  Gymnasiums  zu  Marienwerder. 
Zweite  Fortsetzung.    Von  1851 — 1862.    Von  dem  Director. 

b)  Städtisches  Gymnasium.  Dr.  Braut,  vorher  Hülfslehrer 
an  der  Realschule  zu  Elbing,  ist  in  die  dritte  ordentliche  Lehrstelle 
eingetreten.  Für  die  zu  Ostern  bevorstehende  Eröffnung  der  Prima 
hat  das  Patronat  der  Anstalt  für  die  vierte  Lehrstelle  Dr.  Steusloff, 
für  die  fünfte  Just  gewählt  und  die  Genehmigung  beantragt.  Dem- 
gemäsz  wird  das  Gymnasium  mit  vollständigem  Lehrercollegium  und 
mit  sämtlichen  Classen  den  neuen  Jahrescursus  beginnen.  Lehrer- 
collegium: Director  Dr.  Breiter,  die  Oberlehrer  Dörk,  Dr.  Botzon, 
Dr.  Reich  au,  die  ordentlichen  Lehrer  Lastig,  Dr.  Eckert,  Dr. 
Braut,  Lehrer  der  Vorclasse  Look,  Gesangl.  Grabowski,  Lehrer 
der  Vorclasse  Post,  Zeichrfenl.  Naudieth.     Schülerzahl:    278  (H  23, 

III  48,  IV  39,  V  38,  VI  56,  Vorcl.  I  36,  II  38).  —  Den  Schulnachrich- 
ten geht  voraus  eine  Abhandlung  vom  Gymnasiallehrer  Dr.  Braut: 
Euripides  muiierum  osor  nttm  rede  dicatur.  Altera  pars.  Euripides  de 
matrimonio  quid  senser  it.  16  S.  4.  rQuoniam  igitur  vidimus  iis,  quae 
in  fabulis  in  malieres  dicta  reperiuntur,  Euripideum  earum  odium  non 
modo  non  subesse,  sed  impugnari  et  refutari  vel  veterum  poetarum 
cavillationes  vel  aequalium  prava  judicia,  deinde  quae  nihilo  minus 
nonnullae  personae  in  feminas  protulerunt,  proficisci  partim  a  rerura 
conditione,  in  qua  illae  constitutae  fuerint,  partim  ab  earum  *t  ingenio 
et  moribus  pravis,  has  igitür  ob  causas  arbitramur  omnis  hujus  Euri- 
pidei,  quod  ferunt,  odii  muiierum  originem  ducendam  esse  ab  Aristo- 
phane;  qui  quidem  qua  de  causa  illi  id  affinxerit,  alio  loco  demon- 
strare  conabor.' 

13.  Memel].  Das  Lehrercollegium  hat  keine  Veränderung  erlitten. 
Dasselbe  bilden  Director  Gädke,  die  Oberlehrer  Sanio,  Dr.  Paul- 
sen,  Dr.  Schmidt,  Dr.  Storch,  die  ordentl. ' Lehrer  Dr.  Becker, 
Dr.  Genthe,  Waldhauer,  Gerdien,  Graf,  Cantor  Edel,  Lehrer 
der  Vorschule  Rohse.     Schülerzahl:  213  (Ig  4,  Hg  6,  Ilr  5,  III  37, 

IV  37,  V  48,  VI  41,  Vorschule  36).  Die  Prima  ist  erst  mit  Anfang  des 
Sornmersemesters  errichtet.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine 
Abhandlung  von  Dr.  Becker:  Quaestiones  criHcae  de  C.  Suetonii  Tran- 
quillt  de  vita  Caesarum  libris  VIII.  22  S.  4.  (Rothius  demum  ex  lege 
artis  Codices  examinavit  et  praecipue  Memmianum  sequendnm  esse 
statuit.    Sed  quum   quae  ille  vir  doctissimus  de  libris  Suetonianis  dis- 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen.  167 

pntavit,  non  ab  omni  parte  vera  esse  videantur,  diligentius  in  hanc 
rem  inqnirendum  puto,  cum  mihi  libri  praesto  sint,  quorum  notitia  Ro- 
thium  fugit.'  Es  folgt  dann  eine  Classification  der  verschiedenen  Co- 
dices. 'Sequentibus  autem  in*  verbis  qnaestionem  de  libris  mann  scrip- 
tis  sie  instituam,  ut  primo  eos  locos  afferam,  in  quibns  B  (est  Wolfen- 
battelanns  sive  Gudianus  268,  a  viris  doctis  adhnc  prorsus  neglectus, 
qui  aetate  ad  Memmianum  proxime  accedit)  a  Memmiani  scriptnra 
decedens .  cum  seeundae  vel  tertiae  classis  libris  facit,  tum  pluribus 
locis  afferendis  virtutes  yitiaque  seeundae  tertiaeque  classis  et  discri- 
ftiina  earum  demonstrem,  deniqne  pauca  de  singulis  libris  manu  scrip- 
tis  addam.' 

14.  Neustadt  in  westpb.].  Candidat  Dr.  Pior  trat  als  dritter, 
Candidat  Bautenberg  als  vierter  ordentlicher  Lehrer  ein.  Candidat 
Hoffmann  trat  sein  Probejahr  an.  Lehrercolleginm :  Directör  Prof. 
Dr.  Seemann,  Oberl.  Fahle,  Religionsl.  Warncke,  Oberl.  Ma- 
ronski, die  ordentlichen  Lehrer  Samland,  Dr.  Thomaszewski, 
Dr.  Pior,  Rantenberg,  interim.  wiss.  Hülfsl.  Dr.  v.  Maslowski, 
Pfarrer  Lebermann  (evang.  ReL),  Cand.  Hoffmann,  techn.  Lehrer 
Prengel,  Volksschull.  Habowski.  Schülerzahl:  328  (I  13,  II  29, 
IIP  30,  in»»  47,  IV  70,  V  66,  VI  64,  VII  29).  —  Den  Hchulnachrichten 
geht  voran«:  De  vocabulis  Qraects  apud  scriptores  Romanos.  Scr.  Sam- 
land. 30  S.  4.  (Ordinem  disputationis  sie  instituamus,  ut,  quid  de 
vocabulis  Graecis  statuendum  videatur,  in  hac  parte  maxime  e  soriptis 
Ciceronianis  cognosci  possit,  reliquorum  quoque  scriptorum  libris  re- 
spectis,  quos  quidem  perscrutari  nobis  lieuit.'  —  'Quoniam  demonatra- 
tum  est,  vocabula  Graeca  passim  etiam  apud  meliores  scriptores  repe- 
riri,  et  quo  jure  ea  adseiverint,  nunc,  ex  quibus  potissimum  diseiplinis 
dueantur,  explicabimus.'  I.  Philosophica.  II.  Rhetorica.  Grammatica. 
Metrica.  III.  Scenica,  Poetica.  Musica.  (Reliquarum  diseiplinarum 
vocabula  Graeca  diligenter  conquisita  tum  examinare  cogor,  quum 
mnnus  scribendi  ad  me  redierit.' 

15.  Rastbhbübo].  In  Folge  des  Ausscheidens  der  Professoren 
Klnjfsz  und  Dr.  Brillowski  traten  mit  dem  Beginn  des  Winterseme- 
sters zwei  neue  Lehrer  ein,  Dr.  Taubert,  bisher  Lehrer  an  der  Real- 
schule zu  Tilsit,  und  Candidat  Tobien.  An  die  Stelle  des  Candidaten 
Mroczeck,  welcher  wegen  erheblicher  Erkrankung  von  der  Anstalt 
ausscheiden  muste,  trat  der  Predigtamtscandidat  Braun.  Eine  neue 
Veränderung  im  Lehrercolleginm  erfolgte  mit  dem  Schlüsse  des  Win- 
tersemesters, indem  Dr.  W.  Volk  mann  einen  Ruf  an  das  Gymnasium 
in  Thorn  annahm ;  in  seine  Stelle  trat  der  bisherige  ordentliche  Lehrer 
am  Gymnasium  in  Marienwerder  Dr.  Eduard  Volckmann.  Lehrer- 
colleginm: Directör  Dr.  Techow,  Prof.  Kühnast,  Oberl.  Claussen, 
Jänsch,  Dr.  Richter  I,  Richter  II,  Dr.  Rahts,  Dr.  Volckmann, 
Küsel,  Thiem,  Dr.  Taubert,  Tobien,  Braun.  Schülerzahl:  314 
(I  47,  II«  33,  II*  42,  III*  36,  III»»  51,  IV  39,  V  32,  VI  34).  Abiturien- 
ten: 23.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus:  Bischof  Otlö*s  erste 
HeUe  nach  Pommern,  von  Dr.  W.  Volk  mann.     36  S.   4. 

16.  Thor»].  Da  die  wegen  Ueberfüllung  der  Sexta  nötig  gewor- 
dene Teilung  dieser  Classe  eine  neue  Lehrkraft  erforderte,  trat  mit 
Anfang  des  Schuljahrs  Dr.  Schulbach  als  wissensch.  Hülfsl  ehrer  ein, 
gab  diese -Thätigkeit  jedoch  bereits  mit  Anfang  der  Sommerferien  wie- 
der auf.  Der  bisherige  Religionslehrer  Garnisonsprediger"  Braun  - 
schweig  folgte  Ostern  d.  J.  einem  Rufe  als  Prediger  in  Marienwerder; 
an  seine  Stelle  trat  Dr.  Volkmann,  bis  dahin  an  dem  Gymnasium  zu 
Kastenburg  angestellt,  als  ordentlicher  und  evangelischer  Religions- 
lehrer. Den  7.  ordentl.  Lehrer  Rietze  verlor  die  Anstalt  durch  den 
Tod.  Zum  Ersatz  desselben  und  des  ausgetretenen  Dr.  Schulbach 
traten  nach  den  Sommerferien  die  Candidaten  des  höhern  Schulamts 


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168   Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  staust.  Notizen. 

Dr.  El  hinge  r  und  Dr.  Grund  el  ein.  Lehrerkollegium:  Director  Prof. 
Dr.  Passow,  die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Paul,  Prof.  Dr.  Janson,  Prof. 
Dr.  Fasbender,  Dr.  Hirsch,  Dr.  Prowe,  die  ordentlichen  Lehrer 
Oberl.  Dr.  Bergenroth,  Dr.  Brohm,  Fritsche,  Boethke,  Mül- 
ler, Dr.  Winkler,  Butz,  Lewus,  die  Candidaten  Dr.  Ebinger, 
Dr.  Qründel,  Dr.  Volkmann  (ev.  ReL),  Pfarrer  Kästner  (kath. 
Rel.),  die  Zeichnenl.  Voelcker  und  Tempi  in,  Ott  mann  (Tarnen). 
Schülerzahl:  454  (Ig  21,  Ir  3,  Hg  33,  Hr  15,  III«g  27,  IIIbg  23, 
Illr  40,  IVg  35,  IVr  60,  V  75,  VI*  42,  VI»»  39,  VII  51).  Abiturien- 
ten: 7.  —  Den  Schulnachrichten  ist  beigelegt;  The  Shoemaker's  HoHdaf 
or  The  Oentle'CrafL  Nach  einem  Drucke  aus  dem  Jahre  1618  neu 
herausgegeben  von  H.  Fritsche.    67  S.  8.  ' 

17.  Tilsit].  Dr.  Schindler  trat  als  vierter  ordentlicher  Lehrer 
ein.  Den  Oberlehrer  Clemens  verlor  die  Anstalt  durch  den  Tod.  Im 
October  traten  Dr.  Grosse  und  Dr.  Nagel  als  provisorische  Vertreter 
der  fünften  ordentlichen  und  der  letzten  Hülfslehrerstelle  ihr  Lehramt 
an,  so  dasz  jetzt  das  Lehrercolleginm  nach  mehrjährigen  Vaoanzen 
wieder  vollzählig  geworden  ist.  Lehrercollegium :  Director  Prof.  Fa- 
bian, die  Oberlehrer  Dr.  Düringer,  Dr.  Kossinna,  Pöhlmann, 
Medebach,  die  ord.  Lehrer  Schiekopp,  Skrodzki,  Dr.  Fischer, 
Dr.  Schindler,  Dr.  Grosse,  Gisevius,  Rehberg  (Schreiben  und 
Zeichnen),  Cantor  C ollin  (Gesang),  Dr.  Nagel.  Schülerzahl:  344 
(I«  17,  Ib  14,  II«  24,  II»»  27,  III«  33,  III*  39,  IV  44,  V  61,  VI«  47, 
VIb  38).  Abiturienten:  16.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus: 
Schiller  der  gröste  Dichter  der  Nation,  Teil  I,  vom  JÖymnaaiallehrer 
Skrodzki.  22  S.  4.  Der  Verfasser  will  nachweisen,  dasz  Schiller 
vom  historischen  Gesichtspunkt  aus  durch  die  gebildete  öffentliche 
Meinung  und  Kritik  mit  Unrecht  bis  heute  hinter  Goethe  zurück- 
gedrängt worden  ist;  dasz  er  in  seinem  Dich tertum  vom  natürlichen 
Standpunkt  aus  als  geborener,  gleich  eminenter  Dichter 
wie  Goethe  erscheint;  dasz  er  als  dichtender  Künstler,  weil  Sieger 
in  der  höchsten  Kunstgattung,  von  der  Aesthetik  über  Goethe 
gestellt  werden  musz;  dasz  er  endlich  als  nationaler  Culturträger 
bei  ethischer  Betrachtungsweise  als  der  unvergleichliche  Schö- 
pfer und  Fortbildner  der  heutigen  deutschen  Gesittung  dasteht. 
(Fortsetzung  folgt.) 

Fulda.  Dr.  Ostermann. 


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Zweite  Abteilung. 


Seite 

11.  Ueber  Versetzungen.     Vom  Oberlehrer  Dr.  Carl  Kruse  in 
Stralsund 121—128 

12.  Die  sechs  Römeroden  des  Horaz.    Vom  Gymnasialdirec- 

tor  Dr.  Anton  Goebel  in  Konitz 128—134 

13.  Anz.  v.  H.  Hupfeld  u.  F.  Hüzig:  die  Psalmen.     Vom  Pro- 
fessor Dr.  L.  Mezger  in  Schönthal 134—142 

14.  Anz.  v.  G.  Weicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten.    Vom 
Grymnasialdirector  Professor  Dr.  JS.  Kämmel  in  Zittau         142 — 160 

Berichte  über  gelehrte  Anstalten  usw 160—168 

Landshut  (160),  Metten  (161),  München  (161),  Münnerstadt 
(154),  Neuburg  (166),  Nürnberg  (155),  Passau  (166),  Regens- 
burg (167),  Schweinfurt  (167),  Speier  (168),  Straubing  (169), 
Würzburg  (159),  Zweibrücken  (160).  —  Provinz  Preuszen: 
Braunsberg  (160),  Culm  (160),  D  anz  ig  (160),  Deutsch-Crone 
(161),  Elbing  (162),  Gumbinnen  (162),  Hohenstein  (162), 
Insterburg  (162),  Königsberg  (163),  Konitz  (164),  Lyck  (165), 
Marienwerder  (165),  Memel  (166),  Neustadt  i.  W.  (167), 
Rastenburg  (167),  Thorn  (167),  Tilsit  (168). 


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Leipzig, 

Droek  and  Verlag  ron  B.  G.   Tenbner. 
1§B* 


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Zweite  Abteilung: 

för  Gymnasialpädigogik  and  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschluss  der  classischen  Philologie, 
hertvigegefcti  tob  Prefesstr  Dr.  Icriaii  llaslit. 


15. 

Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander  s. 

Eine  Selbstschilderung  des  Greises. 

Mitgeteilt  vom  Gymnasiallehrer  Dr.  Latendorfin  Schwerin. 


Havemann  gebührt  das  Verdienst ,  durch  seife  «Mitteilungen  aus 
dem  Leben  von  Michael  Neander.  Göttinnen  1841'  zuerst  wieder  unter 
uusera  Zeitgenossen  ein  lebhaftes  Interesse  für  den  gefeierten  Humanisten, 
deaLieblingsschüler  Melanchthon's  und  Erben  seines  pädagogischen  Ruhms 
geweckt  zu  haben.  Die  Hoffnung  freilich,  die  er  in  der  Widmung  seiner 
Schrift  an  das  Lehrercollegium  zu  Ufeld  ausspricht,  es  werde  die  Jubel- 
feier der  alten  Klosterschule  (1844)  zugleich  durch  ein  würdiges  biogra- 
phisches Denkmal  ihres  berühmtesten  Meisters  verherlicht  werden,  ist 
nicht  in  Erfüllung  gegangen;  jene  Feier  selbst  ist  vielmehr,  wenn  anders 
das  Schweigen  dieser  Jahrbücher  einen  solchen  Schlusz  zuläszt,  entweder 
ganz  unterblieben  oder  hat  zum  mindesten  für  die  Oeffentlichkeit  keine 
bemerkbaren  Spuren  hinterlassen.  Daher  konnte  auch  Raumer  wie  in 
der  älteren,  so  noch  in  der  neuesten  Ausgabe  seiner  Geschichte  der  Pä- 
dagogik (Bd.  I.  1857)  für  das  Leben  von  Michael  Neander  im  wesentlichen 
nur  auf  dieselben  Quellen  und  Hülfsschriften  zurückgehn,  die  bereits 
Havemann  in  seinen  Mitteilungen  zu  Grunde  gelegt  hatte. 

Um  so  notwendiger  erscheint  es,  und  zugleich  als  Ausgleichung 
eines  alten  tyrechts,  auf  eine  wichtige  Quelle  hinzudeuten,  die  beide 
Männer,  Havemann  vfie  Raumer,  übersehn  oder  vielmehr  nicht  gekannt 
haben,  eine  Quelle  um  so  reiner  und  ergiebiger,  als  sie  die  eigene,  in 
gemütlicher  Redseligkeit  sich  ergehende  Mitteilung  des  Greises  über  die 
Bildung  seiner  Jugend  bietet ;  und  was  wir  noch  höher  anschlagen  möch- 
ten, der  Ruf  der  Härte,  der  trotz  Raumer's  warmem  Eintreten  doch  bis- 
her dem  Vater  Neander's  anhaftete ,  als  habe  er  gewaltsam  in  das  reiche 
geistige  Leben  seines  Sohnes  eingegriffen  und  den  künftigen  grossen  Ge- 
lehrten und  Schulmann  gegen  seine  Neigung  zum  Handelsherrn  bestimmt 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.   1S64.  Hft.  4.  12 

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170  Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander's. 

—  dieser  Ruf  wird  von  nun  an  gründlich  beseitigt  sein ;  selbst  jenes 
rädicale  Mittel ,  mit  dem  er  seinen  Knaben  die  Elemente  der  edlen  Reiterei 
im  Fluge  überwinden  lassen  wollte,  erscheint  jetzt  in  anderer  Beleuch- 
tung  und  kann  nicht  me,hr  s6  leichthin  mit  dem  Prädikat  der  Rohheit  ge- 
kennzeichnet werden. 

Es  ist  nei&lich  nach  Neander's  eigener  Darstellung  ein  entschiedener 
Irtum ,  wenn  man  von  früh  auf  eine  Neigung  zur  gelehrten  Laufbahn  bei 
ihm  voraussetzt;  er  widerlegt  es  mit  steine»  eigenen  Worten,  dasz  er 
keineswegs  'in  Sorau  und  Goldberg  mit  mühereiqhem  Eifer  nach  zer- 
streuten'Goldkörnern  des  Wissens  gegraben  natte'  (Havemann  S.  9);  viel- 
mehr hat  erst  eine  äuszere  Nötigung  ihn  den  Wissenschaften  zugeführt, 
und  auch  so  (was  an  einer  gesunden  Natur  gerade  nicht  befremdet)  ist 
das  lebhafte  Interesse  für  geistige  oder  gelehrte  Thätigkeit  erst  verhält- 
nismäszig  spät  erwacht,  um  dann  allerdings  mit  reichen  und  gereiften 
Früchten  sich  selbst  und  seinen  ungestillten  Drang  und  in  noch  höherem 
Grade  die  Erwartung  seiner  Zeitgenossen  auszufüllen. 

Ich  habe  aber  fast  schon  zu  lange  von  dein  Werth  der  Quelle  ge- 
sprochen ,  die  ein  gutes  Glück  mir  zugewiesen ;  ich  will  sie  wenigstens 
gleich  näher  bezeichnen,  musz  dann  aber  nochmals  die  Geduld  des  Lesers 
beanspruchen,  weil  auch  der  Ort,  wo  jene  Quelle  sich  findet,  ihr  Bereich, 
so  zu  sagen,  kaum  das  Glück  hat,  näher  bekannt  zu  sein. 

lese  ausführliche  Erzählung  Neander's  steht  in  der  Dedicatfon  des 
dritten  Teilt  seiner  Ethice  vetus  an  seinen  Bruder  Jobs.  Diese  Ethik  selbst 
ist  Räumer  für  seine  Pädagogik  nicht  zugänglich  gewesen;  in  der  zweiten 
Auflage  (1846)  vermutet  er  noch  ihre  Übereinstimmung  mit  dem  ähnlichen 
Werke  des  Metanchthon.  Davon  geht  die  neueste  Auflage  ab;  sie  berich- 
tet vielmehr  der  thatsächlichen  Wahrheit  gemäsz ,  dasz  die  Jugend  ihre 
dassischen  Sentenzen  aus  Neander's  Ethice  vetus  haue  schöpfen  können. 
Auszer  dieser  gelegentlichen  Notiz  aber  erwähnt  Raumer  das  Werk  weiter 
nicht;  auch  nidht  in  dem  ausführlichen  Verzeichnis  der  Schriften  Neander's 
in  Beil.  IV. 

Ich  bemerke  nun  zuvörderst,  dasz  mir  von  der  Ethice  vetus  4  oder 
selbst  5  verschiedene  Ausgaben,  darunter  zwei  durch  Autopsie  bekannt 
sind.    Diese  Ausgaben  sind  kurz  bezeichnet  folgende: 

1.  Ethice  vetus  et  sapiens  Michaelis  Neandri  Soraviensis  H  pp.  Isleb. 
Vrban.  Gubisius  1581.  8.  (Exemplar  der  hiesigen  Gymn.-Biblioth.) 
%  —  II  pp.  S.  1.  1585.  86. 
erwähnt  in  Brockhaus'  Antiqu.-Anz.  IV  Nr.  920  mit  dem  beachlenswerthen 
Zusatz :  Fehlt  in  Kopitsch  Lit.  d.  Spr.  —  Enthält  auszer  einer  sehr  reich- 
haftigen  Sammlung  lateinischer  noch  einen  Anhang  deutscher  Sprüch- 
wörter. 

3.  Kopitsch  Lit.  der  Sprichwörter  erwähnt  S.  33  zwei  verschiedene 
Ausgaben ,  gleichfalls  ohne  Ortsbezeichnung  vom  Jahre  1585  und 
86,  und  bemerkt  hinsichtlich  der  ersten,  dasz  die  deutschen 
Sprichwörter  von  Fol.  126  an  in  alphabetischer  Ordnung  Stefan. 
Ans  der  Vergleichung  jenes  Brockhausischen  Exemplars ,  an  dessen  jetzi- 
gen Besitzer,  falls  ihm  diese  Zeilen  zu  Gesichte  kommen,  wir  hierdurch 


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Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander's.  171 

die  betreffende  Bitte  und  Ausfrage  Öffentlich  richten  mochten ,  mtfsz  sieh 
ergeben,  ob  jene  undatierte  Ausgabe  wirklich  von  der  bei  Kopitscb  er- 
wähnten abweicht ,  oder  ob  der  sorgfältige  ZnsamttemteHer  des  antiqua- 
rischen Anzeigers,  der  verewigte  P.  Trömel,  zu  seiner  irrigen  Angabe 
rFefiIt  bei  Koptisch'  nur  dadurch  verleitet  wurde,  das*  er  das  Werk  unter 
der  Rabrik  der  lateinischen  Sprichwörter,  wo  Kopitsch  eine  andere  Aus- 
übe verzeichnet,  vgl.  u.  Nr.  5,  und  nicht  zugleich  bei  den  deutschen 
sachte.  Ferner  steht  zur  Frage,  ob  die  beiden  Ausgaben  bei  Kopitsch 
aioht  auf  ein  Exemplar  zurüokgehn. 

4. p.  I.  fl.  Hl.  in  einem'  fortlaufenden  Bande.  Lips.  M.  Lantzen- 

berger.  1590.  8.  (Exemplar  des  hiesigen  Gymn.) 
5.  —  U  pp.  hieb.  1591.  8.  Kopitsch  a.  a.  0.  S.  310; 
böebst  wahrscheinlich  identisch  mit  Nr.  1,  das  auf  dem  Titel  von  p.  1  die 
Jahreszahl  MDLXXXI,  und  »f  dem  2.  Teile  GiDID  XIXC  ftbrt.     Die» 
letzte  ist  vielleicht  falsch  verstanden. 

Soweit  Aber  die  verschiedenen  Ausgaben  des  Werkes;  wichtiger  ist 
sein  Inhalt.  Hier  ergibt  die  Vergleidrang  der  Ausgabe  von  1581  mit  den 
entsprechenden  Teilen  der  Ausgabe  von  1590,  dasz  diese  beiden  Teile 
spater  kerne  oder  keine  wesentliche  Veränderung  mehr  erlitten  haben ; 
der  dritte  Teil  ist  jedoch  seiner  Dedication  nach  'ex  Ufelda  —  in  ipaa 
pntecoste  (d.  h.  30.  Mai)  Anno  Christi  1585'  später  erschienen.  Es  be- 
dirf  einer  näheren  Untersuchung,  ob  er  auch  in  den  Ausgaben  sich  findet, 
die angebKeii  nur  1  Teile  umfassen,  eine  Untersuchung,  die  wie  alte  ähn- 
ücnea  im  leichtesten  vielleicht  mit  Hülfe  von  Neander's  eigenem  literari- 
sches Naohtaz  in  der  Dombibliothek  zu  Halberstadt  sich  fahren  lflszl 
(t  flavemann  S.  37). 

Der  vollständige  Titel  des  ersten  Teils ,  der  zugleich  den  Inhalt  de» 
Joches  erschöpfend  angibt,  lautet  in  beiden  Ausgaben  übereinstimmend : 
Ethice  vetus  et  sapiens  veterum  Latinorum  sapientum  sive  praecepta  vete- 
rum  sapientuni,  philosophorum,  medicorum,  rhetorum,  historicornni, 
philologorum,   de  virtfttibus,   vitüs,  et  moribus  admonitiones  variae, 
»pieates,  emditae  et  utiles,   de  Omnibus  fere  illis,  quae  in  communi 
|  hominum  vita,  singulis  et  universis  accidere  seient,  descripta,  et  selecta 
!  «  observationibus,  leetionibus  et  notationibus  varüs 
Michaelis  Neandri  Soraviensis 
Pars  prima. 
Florigeris  ut  apes  in  saltibus  omnia  libant, 
Omnia  nos  itidem  depaschnur  aurea  dicta, 
Aurea  perpetua  semper  dignissima  vita. 
Dte  Rückseite  enthält  die  Dedication  Generoso  ac  Nobili  Domino,  Domino 
Henrico  a  Proumis;  darauf  folgt  eine  kurze  Auseinandersetzung,  wie  heil- 
sam und  ehrenvoll  eine  litterarische  Bildung  für  einen  Fürsten  sei  (1581 
^•1;  1590  S.  3 — 5);  dann  Nomina  Autorum,  de  quorum  testimoniis  Ethicae 
veteris  pars  prima1  eonteatta  et  conscripta  est  (1581.  Bl.  2 — 10  incl.  1590 
S.6 — 16);  hieran  schüteszen  sich  die  excerpirten  Stellen  selbst  in  chrono- 
logischer Reihenfolge;  den  Beschlusz  bilden  Aussprüche  der  Juristen  (1581 
*.  11 — W;  1690  S.  17—96).    fa  der  Ausgabe  von  1681  folgt  dann  noch 

12* 

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172  Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander's. 

ein  unbezeichnetes  Blatt,  dessen  Vorderseite  die  Schiuszschrift  Islebii 
Imprimebat  Vrbanus  Gubisius  unter  einer  Stelle  aus  Hiob  XDL   Scio  enim 

quod  Redemptor  meus  vivit [v.  25  ff.]  (des  tröste  ich  mich) 

.trägt. 

Der  zweite  Teil  führt  wiederum  übereinstimmend  den  Titel: 
Ethice  vetus  et  sapiens  veterum  poetarum  Latinorum  et  aliquot  recentio- 
ram  illustrium  descripta  et  selecta  de  notationibus,  observationibus  el 
lectionibus  variis  Michaelis  Neandri  Soraviensis  Pars  Altera.  —  Islebii 
Vrbanus  Gubisius  excudebat.  Anno  CID13XIXC.  Statt  dieser  letzten  Worte 
die  Leipziger  Ausgabe  blosz :  Anno  MDXG.  Darauf  folgen  Nomina  poeta- 
rum, de  quorum  testimoniis  ac  versibus  Ethice  vetus  congesta  et  conscrfpta 
est  (1581  Bl.  2 — 22;  1590  S.  99  — 126).  In  diesem  Quellenverzeicbnis 
werden  zunächst  entsprechend  der  Ordnung  des  Textes  die  griechischen 
Dichter  genannt,  deren  Verse  sich  in  lateinischer  Uebersetzung  bei  den 
Römern  finden;  dann  die  römischen  Dichter,  von  denen  nur  Fragmente, 
endlich  diejenigen ,  von  denen  vollständige  Werke  vorhanden  sind.  Be- 
sonderer Beachtung  ist  aber  der  letzte  Abschnitt  Nomina  poetarum 
aliquot  recentium  illustrium  werth;  ich  hebe  nur  die  Worte 
über  Melanchthon  heraus,  dessen  Excerpte  auch  den  Schlusz  der  Samm- 
lung bilden : 

Restas  Philippus  Melanchthon  (1581:  Melanchton) ,  vir  de  omnium 
doctrinarum  studiis  praeclarissime ,  de  nobis  etiam  seorsim  optime  meri- 
tus ,  omnique  praedicatione  major.  Non  autem  nos  tanti  facimus ,  ut  exi- 
stimemus,  dignum  nos  aliquid  tanlo  viro  posse  dicere.  Nulla  ferent  talem, 
quod  ipse  de  quodam  Veterum  alicubi  scripsit,  secla  futura  virum.  ldeo- 
que  quod  Salustius  de  Carthagine  dixit,  satius  est  hie  silere,  quam  pauca 
neque  illa  pro  merito  et  dignitate  tanti  viri  dicere.  Sicut  in  manibus  ejus 
viri  multi  doctissimi  libri  in  aliquot  tomis  editi.  Epigrainmalum  autem 
ejus  libros  tres  hactenus  vidimus,  neque  ilio  inscio  aut  invito  collectos. 
Inde  non  muita,  sed  tarnen  insignia  quaedam  huc  asscripsimus.  Multi 
equidem  hoc  nostro  novissimo  mundi  aevo  excellentes  et  eruditi  viri,  nisi 
ipsius  vitula  arassent ,  multa  aenigmata  non  explicassent.  Am  Schlusz  der 
Einleitung  rechtfertigt  Neander  die  chronologische  Anordnung  gegenüber 
einer  etwaigen  systematischen  oder  sachlichen  Gruppierung.  Seine  Ex- 
cerpte reichen  in  der  Ausgabe  von  1581  von  Bl.  23 — 88;  1590  von  S. 
127—246. 

Bezeichnend  für  Neander  ist  noch  der  Umstand,  dasz  in  den  beiden 
Teilen  der  Eislebener  Ausgabe  unmittelbar  auf  die  Excerpte  die  Bibel- 
worte folgen: 

Ecclesiast.  cap.  I.  • 

MaraiÖTTic  jAaTaioTTJTUJv  Kai  irdvia  ftaxaiÖTTic 

Vanitas  vanitatum  et  omnia  vanitas. 

Ad  Gorinthios  I  cap.  1. 

c0  KCtuxunievoc  dv  Kupiiu  KttuxdcGuJ.    , 

Qui  gloriatur,  in  Domino  glorietur. 

Den  dritten  Teil  der  Ethik  kenne  ich  nur,  wie  schon  bemerkt, 
aus  der  Leipziger  Ausgabe  von  1590.     Er  führt  hier  S.  247  den  Titel: 


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Aas  dem  Jugendleben  Michael  Neander's.  173 

Versus  veteres  proverbiales  Leonini,  ubi  fere  sententia  ac  doctrina  melior 
est  versu,  praecepta  de  pietate  et  de  vita,  et  moribus  cujusque,  hine 
inde  multorum,  annorum  observatione  atque  notatione  collecti  atque  de- 
scripti,  &c  (sie.  h.  e.  Mich.  N.  Sorav.}.   Tertia  pars. 

Von  S.  248 — 264  folgt  dann  die  unten  vollständig  wiederholte  Dedi- 
cation.  Das  Werk  selbst  besteht  aus  2  Teilen,  den  gereimten  lateinischen 
Sprichwörtern  und  einem  überaus  wichtigen  Anhang  deutscher  Sprich- 
wörter ,  deren  Bedeutung  für  die  heimische  Litteratur  ich  an  einem  an- 
dern Orte  eingehend  darzulegen  mir  vorbehalte.  Bis  jetzt  ist  die  Samm- 
lung weder  bekannt,  geschweige  nach  Gebühr  gewürdigt.  Ueber  beide 
Bestandteile  seines  Werkes  hat  Neander  mit  anerkennenswerther  Ausführ- 
lichkeit gesprochen;  ich  gestatte  mir  hier  nur  noch  die  Bemerkung,  dasz 
manche  der  leoninischen  Verse  schon  in  der  ein  Jahrhundert  älteren 
Sammlung  Proverbia  seriosa  (Hoffmann  von  Fallersleben  Hör.  Belg.  IX) 
ganz  gleichlautend  sich  finden.  Möglich,  dasz  Neander  direct  hieraus 
geschöpft  hat;  vielleicht  und  wahrscheinlicher  benutzte  er  Bebel's  Ueber- 
arbeitung.  Vgl.  Anz.  f.  Kunde  der  deutsch*  Vorzeit  1854.  S.  269.  Die  latei- 
nischen Verse  führen  die  Ueberschrift :  Versus  veteres  proverbiales  Leo- 
nini und  reichen  von  S.  265 — 320;  die  deutschen  Sprichwörter  beginnen 
S.  323  mit  dem  Titel  Veterum  Sapientum  Germanorum  sapientia.  Sie 
reichen  bis  S.  351.  Ebendaselbst  lautet  die  Schluszschrif t :  Lipsiae  impri- 
mebat  Michael  Lantzenberger  Anno  M.D.XC. 

Wie  begeistert  aber  Neander  wie  für  das  classische  Altertum ,  so 
auefiför  die  Sitte  und  Sprache  des  Vaterlandes  war,  in  beider  Beziehung 
ein  würdiger  Zögling  der  Reformatoren,  das  zeigt  vielleicht  am  schla- 
gendsten der  Specialtitel,  den  er  auf  einem  besondern  Blatte  S.  321  den 
deutschen  Sprichwörtern  vorangestellt  hat.    Er  lautet : 

Veterum  Sapientum  Germanorum  sapientia.  sive  sententiae  prover- 
biales, de  omnibus,  quae  in  communi  hominum  vita  fere  solent  aeeidere, 
ita  temperata  simplici  illa  brevitate  singularum,  ut  nüülominus  non 
minus  sit  doctrinae  atque  sapientiae  in  illa  simplicitate ,  atque  est  in  Pia- 
tonis, et  reliquorum  Graecorum  et  Latinorum  sapientum  praeeeptis  et 
sapienter  dictis,  cum  unum  aliquando  proverbium  Germanicum  tribus 
verbis  complectatur  euneta,  quae  in  omnium  Philosophorum  libris  sapien- 
ter et  erudite  fuerunt  tradita  et  praescripta. 

Nach  Erledigung  dieser  notwendigen  Vorbemerkungen  gehe  ich  nun- 
mehr unmittelbar  zu  der  erwähnten  Dedication  über.  Ich  teile  dieselbe 
nachstehend  vollständig  mit ,  ohne  durch  irgend  welche  Zwischenbemer- 
kungen dem  Leser  die  Freude  zu  stören,  die  ihm  ihr  offener  Ton  bereiten 
wird,  und  ebensowenig  bedarf  es  für  den  gegenwärtigen  Kreis  meiner 
Leser  einer  besonderen  Hervorhebung ,  dasz  durch  die  ausführliche  Schil- 
derung Neander's  nicht  blosz  auf  sein  eigenes  Leben  ein  neues  Licht  fällt, 
sondern  auch  die  Sitten-  und  Bildungsgeschichte  jener  bewegten  Zeit  in 
mehr  als  einer  Hinsicht  einen  erwünschten  Aufschlusz  findet. 

Schwerin,  Dec.  1863.  Friedrich  Latendorf. 


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17%  Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander**. 

OptilBo  atque  integerrime  viro,  ngenia  et  industria  praestanti  \\ 
Neandro,  fratri  suo  dilecto 

S.D. 

Narre  tibi  modo,  carissime  frater,  el  qnidem  nunc ,  cum  aetaj 
ritamea  iocipit  decünare  ad  vesperum,  particulam  legendulae  yitaemi 
£am  yero  tu  audies  benigne,  etiamsi  notam  tibi  narro  fabulam. 

Cum  puer  arihuc  stolidus  domi  in  patria  discerem  literas ,  adeo 
exosas  habebam,  ut  si  esset,  qui  Ufas,  quacunque  de  causa  mihi  pra 
caret,  lapides  lequi  Yideretur,  qui  mihi  cerebrum  excuterent, 

Ac  illa  de  caussa  quotiescumque  post  exactas  horas  antemeridiq 
domum  e  ludo  redirem,  interea  ratioaes  et  caussas  aliquaa  excogitai 
et  reperirem  [ita,  s.  die  äh&L  Coaatr.  S.  364  dtceret  kurz  vor  den  4 
sehen  Warten]  aliquando  quaseunque  friuolas  etlam  neque  magni  [ 
mentt  et  precii,  nonnunquam  etiam  longius  acoersitas,  ae  ad  lecü* 
pomeridiana*,  quae  (S.  249)  qnandoque  meliores  atque  utiliores  o 
antemeridianis,  in  ludum  redirem.  Ac  plerumque  perfeci,  ne  üloc  redii 
omnia  transformans  meme  in  mjracula  rernm ,  quod  apud  Poötam  die 

Neque  semper  illa  res  labore  aliquo  magno  mihi  constabat, 
parentes  dqmi  in  peconomia,  foris  etiam  in  procuratiane  suarum  r 
libenter  et  felicitef  mea  opera  uterentur,  in  mercatura  et  alibi  ut 
primogeniti,  cum  nequedam  aobole  auetiore  et  numerosiore  esseol 
strueti  et  aueti ,  ut  illo  nomine  aliquando  a  ludo  abesgem  mensem 1 
grum,  et  $1  quando  eodem  redirem  subinde  iniquior  praeeeptoribu 
literis  fierem,  et  discendi  cupiditas  sensim  et  pedetentim  tota  langt; 
marcescens  et  prorsus  fere  extineta  in  me  delere tur,  cum  studia 
totjens  tum  prirato  et  afleetato  meo  studio  quodam  singulari,  tum  e 
oecupationibus  paternia  perpetuq  oecupata  interpellarentnr  adeo,  ut 
lue  quantumvis  non  magnus  über  tunc  praelegeretur,  quem  ego  a  princi 
pip  ad  finem  usquePraeceptorem  enarrantem  audire  atque  dUcere  posseo 

In  aueupio  adhaec  omnia  etiam  bene  multum  tempus  parum  nobis  re 
(S.  250)  cte  ponebatur,  cum  amor  ad  illam  rem,  quod  eüamnum  me 
minjsse  potes  frater  optime,  a  primo  satu  non  modo  a  patre  filiorus 
amantissimo ,  sed  avis  etiam ,  imo  et  atavis  usque  nobis  inditus,  fuisset. 

Ac  quotiescumque  nunc  animo  reputo ,  quam  dulce  tunc  fuerit  a 
quam  jueundum  mihi  evenerit  semper,  totos  ibi  dies  aliquando  occupai 
praesertim  autumni  tempore,  saepe  mihi  in  mentem  venit,  quod  in  vetei 
Rhythmjco  disticho  vere  et  sapienter  dkitur: 

Dum  canibus  cervus  capitur,  PhÜomelaque  niso, 
Cum  voJat  aeeipiter,  quasi  tunc  sumus  in  Paradiso. 
*     Ut  trahit  sua  quemque  voluptas,  quae  hominis  Paradisus  est,  quo 
modo  in.  veteri  verbo  rite  dicitur :  des  Menschen  last  ist  sein  Himmelreich 

Item  soleo  multotiens  recordari  etiam  alterum  fersuip,  qui  crebr 
in  scholis  usurpari  et  reehqri  solet: 

Per  pisces,  per  aves  multi  pariere  scholares, 

Quompdq  etiam  tunc  cursus  meorum  studiorum  vel  illa  unica  etiai 
de  caussa  saepe  valde,  multumque  interturbabatur. 

Amicis  nostri  studiosis  et  amantibus,  riris  eruditis  et  excellentibus 


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t  Aus  dem  Jugendfeben  Michael  Neander's»  175 

ipsts  eliam  nostrac  schöbe  alumnis  recito  (S.  25!)  nonnunquam*  cum 
illius  aetatis  et  memoriae  tempora  cum  nostris  praesentibus  confero,  ubi 
nostri  adolescentes  moribus  nunc  multo  sunt  deterioribus  et  corruptio~ 
ribus,  quod  ptorumque  libro*  meos,  quibus  tunc  utebamur,  si  quando 
contingeret  Interesse  praelectionibus  et  exercitiis.  publicia,  dum  dimitte* 
bantur  domum  scholasticf,  retro  scamnum  temere  abjecerim,  et  intra 
mensem  plerumque  domum  ad  parentes  non  retulerim,  autumni  praeser- 
Um  tempore,  cum  aves  pleraeque  maximks  agminibus  turmatim  per  dies 
aliquot  Septentrione  relicto ,  ubi  per  aestatem  substiterant ,  ad  Australes 
sive  meridionales  et  temperatiores  regiones  revolant,  cum  ad  aucupium 
nostrum  postdimissionem  e  ludo  propererem,  quod  in  horto  ludo  literario 
propinquo  fere  feticiter  exercebamus  ac  inde  magnam  et  stupendam  fere 
avium  vim  captam  iftde  domum  ferebamus,  et  tarnen  nihilominus,  etiamsi 
post  longius  intervallum  tandem  in  ludum  redirem,  semper  libros  r$tro 
scamnum  projectos,  ac  si  in  cista  bene  clausa  deposuissem,  integres 
sartosque  et  tectes,  quod  dicitur,  reperirem,  cum  contra  hac  nostra  - 
aetate,  proh  dolor,  ubique  locorum  accidat.  eaque  sit  deploratae  pueri- 
tiae  et  adolescentiae  (S.  263)  effrenis  improbitas  ut  ne  quidem  calamus 
tuto  consistat,  si  in  ludo  alicubi  deponas  ad  unum  momentan),  nisi  cu- 
stodem  adhibeas. 

Recte  itaque  et  vouvcxövtwc  et  vere  baiMOvhuc  sapieatissimus 
Seaeca,  peotus  ca&tissimum  atque  iniquissimum  improbis  moribus  üb»  I 
de  beneficiis:  Hoc  majores  nostri  questi  sunt,  hoc  nos  quertmur,  hoc 
posteri  nostri  querentur,  eversos  esse  mores,  regnare  nequitiam,  in  de- 
lerius  res  humanas  et  in  owne  nefas  labi.  Qui  vero  nos  sequeatur,  me- 
liores  nos  esse  et  fuisse  prohabunt« 

Ac  tametsi  a  studiia  animo  essem  semper  alieno  et  a  discendo  Ute* 
ras  non  vulgari ,  sed  singulari  et  praecipuo  quodam  more  abhorrerem  et 
beatos  praedicarem  eos  pueros,  qui  de  volunUte  parentum  ad  alias  artes 
animum  adjungebant,  id  tarnen  dedi  interea  operam  sedulo,  idque  studui 
studiose  semper  efficere,  ut  operam  meam  et  sedulitatem,  ubi  opus  fuit, 
praeceptoribus  luculenter  probarem  et  laudem  adhaec  etiam  aliquam  in- 
genii  atque  industriae  siugularis  ab  Ulis  reportatam  haberem,  ac  oaussas» 
Uli  aliquas  habereut,  cur  me  discipulis  aliquibu*  nostris  praeponendum 
esse  judicarcnt,  ac  in  Comoediis  Terentianis  inpublico  recitandis,  (S.  253) 
agewüs  et  exhibendis  mihi  fere  seinper  praecipuae,  difliciliores  et  lafcorio- 
riores  partes  darentur  et  demandarentur,  et  non  modo  popujaribus  tunc 
nostris,  sed  etiam  exteris.,  qui  fere  ex  vicinis  urbibus  spectatum  ludo* 
scenicos  accurrehant,  nolum  carumque  et  suspiciendum  me  redderem. 

Veruntamen  odium  ülud  maqnum,  quod  contra  literarum  studia  toto 
pectore  complexus,  inter  viscera  penitius  jampridem  admisissem,  alere 
atque  fovere  interea  non  destiti,  cum  omnia  potius  perpeti  atque  susti- 
aere  tunc  minore  molestia  ao  faciliore  negotio  posse  me  existimajrem, 
quam  coeptam  secj  negUgentissime  continuatam  studiortun  telam  etiam 
deinceps  persequi  et  pertexendo  ad  incrementum  aliquod  non  poenitendum 
perducere. 

Seque  repugnabant  tum  pertinacius  optimi  parentes  voluntati  et 

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176  Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander's. 

cupiditati  ejus  filii,  cujus  opera  animadvertebant  uti  sedomi,  forisque 
in  Oeconomia,  mercatura  et  alibi  cum  successu  non  infeliciter,  sed  cum 
lucro  et  emohimento  non  aspernando. 

Ac  illa  de  caussa  quia  me  applicare  animum  volebant  ad  eas  artes, 
quas  Uli  tenebant,  quas  lucrosas  esse  cogno-  (S.  254)  verant,  equitare 
me  discere  volebant  rem  et  artem ,  quae  futuro  mercatori  apprime  neces- 
saria  esset,  qm  cogeretur  quandoque  mercium  variarum  caussa  longiora 
itinera  facere,  quae  equo  citius  atque   facilius  quam  pedibus  confici 


Eam  vero  equitandi  artem  eo  ego  eventu  discere  et  periclitari  cöepi, 
ut  sinistrum  brachium  ex  eqüo  uno  anno  bis  sed  in  diversa  brächii  parte, 
cum  vixdum  bene  coaluisset,  frangerem,  ut  ita  invitissimus  volensque 
et  ndlens  contra  etiam ,  quam  decreverant  parente^  dulcissimi ,  Iiteras 
discere  et  ad  illas  desperatis  rebus  et  consiliis  nostris  eversis  redire  co- 


Acpater  cum  sua  me  frustrari  consilia  intelligeret,  indignabundus 
aliquotiens  exprobrando  aliquid  diceret,  Apage  te  cum  tuo  brachiö  totiens 
fractö ,  dimitte  mercaturam ,  et  abi  aliquo  in  Monasterium :  Nur  in  ein 
Kloster  mit  dir ,  du  taugest  in  die  Welt  nicht. 

Cum  vero  Dep  ita  visum  fuisset,  et  contra  voluntatem  meam  ad  Iite- 
ras discendas  a  parentibus  Witebergam  mitterer ,  ac  ego  repugnante  tota 
mea  natura  omnibusque  corporis  et  animi  viribus  reclamantibus  illic  con- 
sisterem  (S.  255)  et  manerem  primum  fere  annum  nihil  discendo ,  et 
sumptus  paternos  non  recte  ponendo ,  totum  otiando  et  aves  capiendo 
consumerem ,  praesertim  cum  ego  ad  illam  rem  ibi  etiam  magistrum  sor- 
titus  essem  improbum ,  cui  commendatus  fueram ,  cui  illo  nomine  carus 
fui  et  acceptus ,  quod  et  ille  fere  eo  esset  in  Iiteras ,  quo  ego  animo ,  et 
studiis  quibus  ego,  ipse  etiam  deditus  esset. 

Donec  tandem  exacto  primo  anno  miserescente  et  benedicente  do- 
mino,  et  cor  novum  mihi  dante  praeter  opinionem  et  expectationem 
meam  ormaem  tanta  discendi  cupiditate  incensus  subito  flagrare  inciperem, 
ut  existimarem  omnia  mihi  discenda,  legenda  et  perlustranda ,  nihilque 
librorum  indiscussum  mihi  relinquendum ,  quin  imo  ea  etiam  excutienda 
mihi  esse,  quae  indoctus  aliquis  olim  et  barbarus  Monachus  docuisset  et 
scripsisset. 

Ac  cum  post  aliquot  annos,  cum  vires  ingenii  aliquando  docendo 
alios  essent  periclitandae,  erudienda  Juventus  mihi  traderetur,  et  animad- 
verterem  omni  doctrina  opus  esse  et  lectione  varia  atque  multiplici ,  qui 
se  in  illo  munere  vel  mediocriter  probare  vellet ,  quod  nunc  stolida,  insi- 
piens ,  deses  et  remissa  ju  -  (S.  256)  jpentus  neque  animadvertit  neque 
persuaderi  sibi  facile  patitur,  ac  ego  tum  primum  sentirem,  quam  mihi 
esset  curta  supellex ,  coepi  quanto  potui  studio ,  quantum  occupationes 
Spartae  laboriosae  patiebantur ,  discere  et  excutere  non  modo ,  quae  He- 
braei ,  Graeci  atque  Latini  veteres  elegantes  et  eruditi  classici  in  omni 
döctrinarum  genere  auctores  sapienter  dixerunt,  scripserunt  et  tradiderunt, 
sed  etiam  illos  libros  perlustrabam ,  quorum  formidanda  et  stupenda 
agmina  in  Monasteriorum  bibliothecis  deposita  ac  plerumque  pulvere 


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Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander's.  177 

situque  plena  et  obsita  reperiebantur ,  sermonistarum  inquam,  summi- 
starum,  sententiariorum ,  Longobardistarum ,  Occistarum,  et  id  genus 
similium  voluminum  et  Gommentariorum  insipidorum  et  fere  ligneorum 
et  stramineorum ,  in  quibus  fere  nihil  praesertim  cum  scriptura  ibi  expli- 
canda  veniret,  quod  mentem  lectoris  vel  levissime  afficere  et  pulsare 
posset. 

Ac  tarnen  nihil  erat  in  illo  iibrorum  genere,  quod  ego  stupenda 
laborum  tolerantia  et  incredibili  cognoscendi  amore  omnia  inflammatus 
non  percurrerem  et  aspicerem,  et  unde  non  aliquid  (S.  257)  excerptum 
ad  usus  aliquos  describerem  et  annotarem,  non  raro  animo  reputans, 
quod  de  Plinio  Historiae  mundi  scriptore  illo  admirabili  proditum  est, 
existimare  videlicet  et  dicere  solitum  fuisse,  nullum  esse  tarn  mal  um  li- 
brum,  in  quo  non  aliquid  boni  insit,  et  qui  non  alicubi  prosit,  doceat  et 
erudiat  suum  Iectorem,  quomodo,  ut  quod  sentio  dicam,  monuerunt  non 
raro  me  etiam  illi  tenebricosi  et  barbari  scriptores ,  ut  piorum  majörum 
nostrorum  miserandam  vicem  deplorarem ,  et  contra  huic  nostri  aetati 
gratularer  de  luce  ilia  doctrinarum  omnium ,  in  qua  nos  nihil  tale  meri- 
tos ,  imo  contrarium  meritos :  ex  indebita  tarnen  misericordia  et  stupenda 
bcmitate  propitius  Deus  nihilominus  constituisset  per  vasa  ilia  sua  electa 
Hagnum  Lutherum  et  Philippum  Melanchthonem  utrumque  OeefeeXov 
ftvbpa. 

Inter  alia  autem ,  quae  tunc  e  coeno  illo  et  stercore  Monastico  et 
barbaro  colligebam,  excerpsi  etiam/ si  qui  occurrerent  versus  veteres, 
quos  Leoninos  dicunt ,  et  superiori  aetate  multum  usurpatos ,  adeo  uf  illo 
versuum  genere  etiamnum  reperiantur  scripta  ampla  volumina,  ubi  do- 
ctrina  et  sententia  fere  ipso  versu  est  melior« 

S.  258.  Horum  plurimos  reperiebam  in  eorum  praecipue  libris  et 
commentariis ,  qui  commentaria  conscripsissent  in  Alexandrum  et  id  ge- 
nus ejus  temporis  Grammaticos  alios ,  quorum  commentaria  et  expositio- 
nes  maxime  id  genus  Leoninis  abundabant,  quod  pro  consuetudine  ejus 
infelicis  aetatis  solenne  Ulis  commentatoribus  barbaris  esset,  plerasque 
regulas  Grammatices  illo  versuum  genere  explicare. 

Neque  paucos  suppeditabant  Commentaria  in  Gatonis  disticha ,  libel- 
lum  quamvis  parvum ,  tarnen  adeo  luculente  scripta ,  ut  magnitudine  sua 
ipsa  lere  biblia  superarent. 

Ministrabant  etiam  hujus  generis  aliquid  Lexica  Monachorum  bar- 
bara,  ipsisquev  nominibus  aliquando  prodigiosa  et  formidanda. 

Ejus  autem  classis  et  generis  fuerunt  Gatholicon ,  Vade  mecum ,  Ra- 
pianus  totum,  Breviloquus,  Mammotrectus  et  similia  similibus  porten- 
tosis  et  prodigiosis  nominibus  horribilia  Commentaria  multa  alia. 

Et  offerebant  se  praeterea  tunc  hie  etiam  illi,  qui  tau  Ahythmico 
barbaro  carmine  ex  professo  poemata  integra  de  moribus,  de  virtutfbus 
et  vitiis  composuerunt. 

S.  259.  Ac  de  horum  numero  fuerunt  inter  multos  aJios ,  quorum 
etiam  nomina  non  amplius  memini,  Querulus  Rapularius,  Alanus,  ut  sua 
ferebant  tempora,  vir  non  indoctus,  ac  illo  nomine  inter  suo  s  clarus,  qui 
Urnen  obmutuisse  scribitur,  cum  aliquando  in  magna  hominum  frequentia 

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178  Ans  dem  Jugendleben  Michael  Leanders, 


* , 


concio  ipsi  fuisset  habenda,  quod  etiam  Doctorr  Keysfersbergio,  cujus 
scripta  pietate  et  spiritu  plena  adhuc  eitant,  Argentinae  accidisse  meme- 
ratur,  Bernhardus  Palpanista,  Bernhardus  Sylvester,  pauper  Henricus, 
qui  adeo  pauper  fuisse  proditur,  ut  cum  papyrus  deesset,  versus  suos 
in  veteri  et  aitrlto  pellitio  describere  cogeretur.  Inter  versus  ejus  cete- 
ros  hie  commendatur : 

Hospite  ne  careas  hoste  carere  voleits. 

Aesopus  praeterea  Moralizatus,  Tobias  carmine  olim  in  Monasteriis 
redditus  et  commentario  illustratus,  florum  fasciculus,  morum  liber,  Re- 
gimen Salernitanum ,  Margarita  Poetica,  Margarita  Philosophica,  facetus 
et  floretus  et  plures  hujus  officiuae  Poetae  alii. 

Huc  addimus  etiam  Iuris  utriusque  veteres  non  admodum  eruditos 
interpretes,  cum  intelhgeremus  hie  quoque  alieubi  reperiri  noslris  rebus 
aecommoda. 

S.  260.  Ac  adjuverunt  nos  praeterea  amici  viri  aliquot  magni,  eru- 
diti  et  clari  Pabritii  nostri  Georgius,  Jacobus  et  Andreas,  piae  sanetaeque 
memoriae  et  quidam  alii ,  ubi  quisque  quod  potuit  eonquirere  contulit, 
quod  Uli  quoque  mirifice  delectarentur  isto  versuum  genere ,  quod  qui- 
dem  tametsi  barbarum  videretur  esse :  tarnen  et  gratia  quadam  peculiari 
non  careret,  et  doctrinam  fere  semper  contineret  non  deteiriorem  üs 
dictis,  versibus  et  sententüs,  quae  ab  Homero,  Hesiodo,  Piatone,  Ari- 
stotele  et  Xenophonte ,  et  aliis  Graecorum  daduchis  essent  tradita ,  sed 
orationis  genere  multo  splendidiore  et  elegantiore. 

Ac  £ötes  meminisse,  frater  optime  et  dilecte,  quod  jam  olim  ante 
annos  puto  viginti  quatuor,  si  recte  memini,  cum  tu  pietatem  et  literas 
a  nobis  disceres ,  non  mediocrem  talium  versuum  syllogen  binc  inde  coa- 
gesserim ,  et  quod  illam  cum  tui  nominis  mentione  in  publicum  aliquando 
vellem  edere:  Ea  tarnen  res  dilata  fuit  baclenus,  cum  circa  aüa  oecupare- 
mur ,  unde  existimabamus  plus  utilitatis  ad  studiosam  juventutem  redi- 
turum.  Grevit  vero  interea  illa  nostra  sylloge  non  brevi  accessione 
locupletata. 

S.  261.  Ac  quia  nos  eunetamur,  alü  etiam  äoeti  viri  nostri  amantes 
et  studio^i,  et  quorum  conatus  etiam  e  nostris  notationibus  adjuvimus 
aliquid  interea  loci  hie  navarunt,  ita  tarnen,  ut  caussas  ego  non  habeam, 
cur  nostras  quoque  syllogas  adolescentibus  studiosis  invidere  et  aliquando 
tandem  promissis  tibi  jam  olim  factis  stare  non  debeam ,  et  quidem  ante- 
quam  mihi  aliquid  humanitus  aeeidat,  et  Deus  de  statione  nos  pro  de- 
mentia et  misericorde  sua  voluntate  decedere  jubeat. 

Tametsi  pagellae  sunt  atqüe  opella  non  magni  momenti  confeeta: 
tamen  de  versibus  tantum  max.  numero  selectissimis,  cum  ubique  et  sem- 
per hactenus  dederim  operam  sedulo,  ut  xpTJci^ia  Kai  Kexapic^va  Kai 
yXukott|ti  Tivl  (sie)  iraVToiqt  fieMUTjütlva  studiosis  adolescentibus  scri- 
berem  et  dicerem,  et  äpjmevoc  essem  fytoiujc  Heivoici  Kai  qpiXoic  äctoic, 
quod  apud  veterem  sapientem  Ptätam  facere  jubemur. 

Ac  spero  operam  hanc  meam  et  studiosis  adolescentibus  et  tibi  ante 
omnia  placituram. 

Tradidi  itaque  nuper  syllogen  hanc  nostram  Typographo,  et  jussi 


r 


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Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander's.  179 

cum  omnibus  id  genus  versuum  cupidis  et  sludiosis  communem  facere. 
Id  vero  in  se  (S.  262)  munus  non  ille  recepit  invitus,  quod  existimaret/ 
gratum  se  hie  quoque  factunim  omnibus  nostrarum  lucubrationum  slu- 
diosis, qui  hactenus  cupide  emissent  ac  libenter*  legissent  pierosque  no- 
stros  libellos  9  quibus  nomen  nostrum  fuisset  praescriptum. 

Adjunxi  vero  cum  Leoninis  Ulis  nostris  etiam  veterum  sapientum 
Germanorum  Proverbia  sive  sententias  sapientes  et  jueundas  de  omnibus, 
quae  in  communi  vita  inter  singulos  et  uuiversos  solent  aeeidere. 

Plurima  horum  collegi  et  descripsi  ex  ore  et  vulgi  sermonibus ,  ubi 
plurimum  et  frequenter  usurpantur,  quotiescumque  res  ferunt  et  occasio- 
nes.  Alia  etiam  undeeunque  descripta  huc  adjunxi  de  multis  potiora  deli- 
geas.  Alicubi  etiam  iocos  admiscui ,  ut  et  lectorem  detinerem ,  tu  etiam 
näheres,  quod  rideres  nonnunquam. 

Vellem  te  colligere  multa  id  genus  dieta  alia,  cum  in  aliis  terris  alia 
usurpata  reperiantur,  et  in  nostra  Harcynia  non  frequententur ,  neque 
Dialecti  ratione  similem  gratiam  alibi  obtinent. 

Utrumque  libellum  tum  Leoninorum  versuum ,  tum  etiam  Proverbio- 
rum Germanicorum,  ut  amice ,  fraterne,  ne-  (S.  263)  que  gravate  ad- 
mittas  et  aeeipias  mei  in  te  amoris  et  studii  testificationem  amicam  et 
fraternam ,  peto  a  te  amanter  et  studiose. 

Salutem  opto  plurimam  fratri  Andreae,  Cos.  Georgio,  item  et  tibi 
tuaeque  domui.  Reverendo  item  viro  et  uostri  amanti  et  studioso  Dn.  M. 
Petro  Streubero  viro  erudito,  sapienti  et  diserto  Pastori  et  Doctori  ficcle- 
me  Soraviensis  et  vicinarum  Ecclesiarum  inspectori  sedulo.  Ejus  etiam 
syinmistis  viris  piis  et  eruditis.  Reverendo  etiam  et  docto  viro  Dn.  Hiero- 
nymo  Vrsino  Theologo  et  Pastori  amico  nostro  veteri  et  olim  eorundem 
studiorum  aemulo  et  socio. 

Horum  omnibus  piis  preeibus ,  quas  efficaces  et  potentes  hactenus 
deprehendi  multotiens  in  infirmitatibus  deploratis,  in  tentatioaibus  ma- 
gnis  et  periculis  etiam  praesentibus  me  denuo  ac  de  novo  commendo. 

Deus  vos  omnes  sospites  et  incolumes,  diuque  superstites  ser- 
vassit   Amen. 

Ex  Ilfelda ,  in  qua  -doceo  hactenus  juventutem  pietatem ,  artium  et 
linguarum  eruditarüm,  historiarum  omnium  aetatum,  Physices  etiam  et 
aliarum  rerum  utilium  et  necessaxiarum  pariter  o-  (S.  264)  mnibus  studia 
aqnos  triginta  quinque  continuos,  inter  infirmitates  innumeras,  et  adver- 
sationes  omnis  generis  multiplices ,  in  ipsa  pentecoste,  Anno  Christi  1585. 

Deum  oro,  ut  etiam  deineeps  diu  prodesse  juventuti  me  sinat  do- 
cendo  pariter  et  scribendo  utilia.  Verum  Tautet  Seoö  tv  TOUVOtct  K€iiai. 

Ei  vero  omnipotenti  et  misericordi  Deo  me  et  vos  quoque  omnes 
fratres ,  amicos  et  omnes  nostri  studiosos  commendo. 

T.  frater 
Michael  Neander. 


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180  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

16. 

Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 


An  Herrn  Professor  Dr.  Hermann  Masius. 

Bei  Gelegenheit  der  letzten  Philologenversammlung  versprach  ich 
Ihnen  zu  Dresden  einen  baldigen  Beitrag  zur  Ihrer  Abteilung  der  f  Jahr- 
bücher'; schon  damals  beabsichtigte  ich,  die  von  Herrn  Dr.  H.  J.  Heller 
in  Berlin  begonnene  Untersuchung  'Die  antiken  Quellen  von  Goethe's  ele- 
gischen Dichtungen9  in  ihrer  Haltlosigkeit  darzustellen ,  doch  wollte  ich 
den  Ankläger  erst  seine  lange  Rede  vollenden  lassen ,  ehe  ich  Einspruch 
dagegen  erhöbe.  Jetzt,  wo  das  eilfte  Heft  den  Schlusz  der  Hellerschen 
Beweisführung  gebracht ,  will  ich  das  Jahr  nicht  zu  Ende  gehen  lassen, 
ohne  mein  Wort  gelöst  und  meine  Pflicht  gegen  Goethe  erfüllt  zu  haben, 
den  ich  von  Heller  so  arg  misdeutet  und  verkannt  sehe. 

Der  allgemeinen  Stimme,  welche  die  römischen  Elegien  und  die 
elegischen  Dichtungen  Goethe's  überhaupt  für  die  frischesten  und  eigen- 
tümlichsten, aus  vollster  Seele  geflossenen  Dichtungen  hält,  tritt  Heller 
mit  der  wunderlichen  Behauptung  entgegen,.  Goethe  habe  sie  aus  Stellen 
der  römischen  Elegiker,  die  er  in  Rom  übersetzt,  zum  geringsten  Teile 
aus  einzelnen  in  Rom  aufs  Papier  geworfenen  eigenen  Versen  in  Weimar 
zusammengeleimt ,  sie  seien  ein  zusammengekittetes  Mosaik.  Von  der 
reichlichen  Stellensammlung  in  Uebersetzungen ,  die  vorläufig  nur  einer 
Kunstübung  gedient,  habe  Goethe  das  meiste  zu  diesem  Zwecke  Dienliche 
zu  den  Elegien  benutzt ,  die  abgefallenen  Späne  und  Schnitzel  seien  zu 
den  andern  Gedichten  desselben  Versmasses,  namentlich  zu  den  "Venediger 
Epigrammen ,  verwandt  worden.  Man  denke  sich  Goethe  und  eine  solche 
Manipulation !  Aber  was  kümmert  dies  Herrn  Heller !  er  tritt  uns  mit  den, 
wie  er, glaubt,  unwiderleglichsten  Beweisen  in  den  Händen  entgegen, 
wobei  er  sich  freilich  die  Sache  auf  seine  Weise  erleichtert  hat,  indem  er 
das ,  was  bisher  von  Viehoff  und  dem  Unterzeichnelen  für  die  Aufhellung 
der  Elegien  und  Epigramme  geschehen  ist,  ganz  und  gar  übersieht.  In 
meinen  Erläuterungen  zu  Goethe's  lyrischen  Gedichten  würde  er  gefunden 
haben ,  dasz  von  mir  die  wirklich  nachweisbaren  Benutzungen  der  römi- 
schen Elegiker  gewisz  zum  allergröszten  Teile ,  um  nicht  zu  sagen ,  voll- 
ständig ,  verzeichnet ,  dasz  der  dichterische  Faden  überall  nachgewiesen 
ist  und  einzelne  Angaben  über  die  Entstehung  der  Elegien  und  Epigramme 
sich  finden ,  welche  er  nicht  ungestraft  vernachlässigen  durfte. 

Doch  gehen  wir  gleich  zur  Sache  über.  Heller  fürchte  nicht,  dasz 
wir  über  Nebensächliches  mit  ihm  hadern  wollen,  nein  wir  greifen  gerade 
seine  Hauptbeweise  an,  um  zu  zeigen,  dasz  sie  ganz  haltlos  sind.  Schon 
bei  der  zweiten  Elegie  beruft  er  sich  (S.  357)  mit  besonderem  Vertrauen 
auf  die  aus  Properz  'beinahe  völlig  sinngetreu  übersetzten'  Verse  : 

Eh'  an  die  Fersen  lockten  wir  selbst ,  durch  gräszliche  Thaten , 
Uns  die  Erinnyen  her,  wagten  es  eher  des  Zeus 

Hartes  Gericht  am  rollenden  Rad  und  am  Felsen  zu  dulden , 
Als  dem  reizenden  Dienst  unser  Gemüt  zu  entziehn. 


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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte.        '      181 

Bei  der  vierten  Elegie  seihst  bemerkt  er,  diese  Verse  seien  fast  wörtlich 
aus  Properz  II,  16,  29  übersetzt: 

Tunc  me  vel  tragicae  vexetis  Erinnyes  et  me 

Inferno  damnes,  Aeace,  iudicio, 
Atque  inter  Tityi  volucres  mea  poena  vagetür, 
Tumque  ego  Sisyphio  saxa  labore  geram. 
Und  nun  höre  man :  eEs  könnte  zweifelhaft  sein,  ob  Goethe  mit  den  Wor- 
ten 'hartes  Gericht  am  Felsen  zu  dulden',  nicht  vom  Prometheus  habe 
sprechen  wollen.  Der  Hinblick  auf  die  angezogene  Stelle  des  Properz 
nimmt  jede  Ungewisheit  weg,  und  zwingt  die  Worte  des  deutschen  Dich* 
ters  auf  Sisyphus  zu  deuten.  Auch  beweist  es  die  ältere  Lesart  dieses 
Verses ,  'an  rollenden  Rädern  und  Felsen',  in  welcher  'rollenden'  auch  zu 
'Felsen'  gehören  soll  (?)'.  Hiernach  musz  Heller  'das  rollende  Rad'  auf 
den  Tityos  bezogen  haben,  von  dessen  Strafe  auf  oder  am  Rade  mir  nichts 
bekannt  ist.  Das  'rollende  Rad'  geht  deutlich  auf  Ixion.  Wie  sehr  die 
betreifende  Sage  Goethe  bekannt  war,  beweist  die  Datierung  eines  Briefes 
an  Herder :  'Gegeben  vom  Rade  Ixion's  den  20.  Februar  1785.'  Man 
könnte  demnach  wol  an  die  Stelle  des  Tibull  I,  3,  74  von  dem  schnell 
sich  drehenden  Rade  des  Ixion  (äjuiruE  bpOjUac  bei  Sophokles)  denken, 
wie  bei  Prometheus  an  Hör.  II,  13,  37.  38,,  müste  man  nicht  annehmen, 
Goethe  habe  aus  Pomey's  Pantheon  mythicum  und  vielfachen  Erwähnungen 
in  altern  und  neuern  Pächtern  die  bekanntesten  Sagen  des  Altertums  zu 
wol  im  Gedächtnisse  gehabt,  als  dasz  ihm  dabei  jedesmal  eine  bestimmte 
Stelle  eines  Dichters  vorschweben  müste.  Geht  nun  das  rollende  Rad  auf 
Ixion,  so  ist  auch  nicht  der  geringste  Grund  gegeben,  'das  harte  Gericht 
des  Zeus  am  Felsen'  auf  den  Sisyphos  statt  auf  den  am  Felsen  festge- 
schmiedeten Prometheus  zu  beziehen.  Welche  Aehnlichkeit  bleibt  nun 
zwischen  den  Stellen  des  Properz  und  unseres  Dichters?  Properz  wünscht 
alles  nach  des  Aeakos  Urteil  von  den  Erinnyen  zu  dulden ,  die  Strafe  der 
Geier  gleich  Tityos  und  das  Steinwälzen  gleich  Sisyphos,  sollte  er  die  Ge- 
liebte vergessen.  Goethe  wollte  lieber  die  gräszlichsten  Thaten  begehn, 
welche  die  Erinnyen  heranlockten ,  ihm  die  von  Zeus  über  Ixion  und  Pro- 
metheus verhängten  Strafen  zuzögen,  als  dem  Glücke  der  Geliebten  zu  ent- 
sagen. Und  da  wagt  Heller  von  fast  wörtlicher  Uebersetzung  zu  sprechen  I 
Goethe  führt  den  Begriff  der  schrecklichsten  Thaten,  Properz  den  der 
ärgsten  Strafen  aus,  wobei  die  zufällige  Uebereinslimmung  neben  der  viel 
gröszern  Abweichung  ganz  verschwindet.  Somit  ergibt  sich  die  von  Hel- 
ler als  von  ihm  entdeckt  hervorgehobene  'Verschmelzung  einer  völlig 
selbständigen  und  einer  fast  wortgetreu  aus  den  Alten  übersetzten  Stelle' 
als  selbstgefällige  Täuschung.  Aber  Heller  beruhigt  sich  hierbei  noch 
nicht.    Die  Worte  Goethe's: 

Als  dem  reizenden  Dienst  unser  Gemüt  zu  entziehn , 
sollen  nachgebildet  sein  dem  Properzischen  Vers  in  derselben  Elegie :  - 

Posset  servitium  mite  tenere  tuum, 
wobei  völlig  übersehen  ist,  dasz  der  Göelhesche  Vers  ganz  entspricht  dem 
voraufgehenden:  Es  bleiben  unsre  Gebete, 

Unser  täglicher  Dienst  &ner  besonders  geweiht. 

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182  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

Und  bei  Goethe  ist  öut  vom  Dienste  einer  Gottheit,  nicht  von  einer  Dienst- 
barkeit unter  einer  Geliebten  die  Rede.  Heller  aber  bildet  sich  ein ,  seifte 
Sache  so  gut  gemacht  eu  haben,  dasz  er  triumphierend  fortfährt:  'ich 
werde  am  Schlusze  des  ganzes  Abschnitts  auf  diese  Stelle  noch  einmal 

.  zurückkommen.  Ich  werde  auf  sie  bei  meinem  Nachweise  der  Ent- 
stehungsart der  römischen  Elegien  ein  besonderes  Gewicht  legen,  um  zu 
zeigen,  dasz  Goethe,  wie  diese  vier  aus  Properz  übersetzten  Verse,  so 
eine  ganze  Anzahl  ähnlicher  entweder  rein  übersetzter  oder  nur  nach- 
geahmter Steilen  bereits  vorrätig  liegen  hatte,  ehe  er  zur  Ausarbeitung 
seines  Gedichts  schritt/  Wir  finden  hier  nur  den  ersten  groszen  Irtum 
Hellers ,  der  sich  eine  'Genauigkeit  der  Nachbildung'  in  den  Kopf  setzt, 
von  welcher  sieh  auch  keine  Spur  zeigt.  Eben  so  völlig  unhaltbar  ist  die 
weitere  Folge ,  hätte  Goethe  die  Verse  in  der  Erinnerung  nicht  auf  dem 
Papier  in  seinen  Materialien  vor  sich  gehabt,  so  wlre  es  unbegreiflich, 
dasz  er  diese  von  der  Geliebten  des  Properz  gesagten  Verse  auf  seine 
Göttin  Gelegenheit  angewandt  hätte;  dies  wäre  vielmehr  nichts  weniger 
als  auffallend,  wenn  sie  ihm  als  besonders  ansprechend  im  Gedächtnisse 
vorgeschwebt  hätten.  Doch  Heller's  ganze  Ausführung,  womit  er  bewei- 
sen will,  diese  vier  Verse  müsten  schriftlich  Goethe  vorgelegen  haben,  ist 
so  unklar  und  haltlos,  dazu  ohne  alle  Bedeutung,  da  überhaupt  von  einer 
Nachbildung  gar  keine  Rede  sein  kann,  dasz  wir  dieselbe  auf  sich  beruhen 
lassen  wollen;  nur  noch  die  Bemerkung  sei  uns  gestattet,  dasz  wir 
nicht  entdecken  können,  was  den  Dichter  an  den  vier  Properzischen  Ver- 
sen so  angesprochen ,  dasz  er  sie  in  freier  Weise  übersetzt  haben  sollte, 
wogegen  sie  in  unserer  Elegie,  wie  Heller  selbst  zugestehen  musz,  ganz 
passend  stehen,  aus  dem  Zusammenhang  hervorwachsen. 

Allen  Begriff  willkürlicher  Zurechtstellung  übersteigt  es  aber,  wenn 

4  Heller  zu  der  schönen  Dichtung  von  der  Göttin  Gelegenheit  die  Quelle  in 
der  römischen  Göttin  Fors  sieht  und  in  dem  Ovidischen :  Audentem  Fors- 
que  Venusque  iuvant.  Von  welcher  ganz  andern  Natur  sind  de r  Zu  f  a  11 
und  "die  Gelegenheit?  Wir  haben  hier  eine  ureigene  Goethesche  Er- 
dichtung, ähnlich  jener  herrlichen  Stelle  in  der  iphigenie  (IH,  l)  von 
der  Er  füll ung,  der  'schönsten  Tochter  des  grösten  Vaters*.  Schwerlich 
dachte  Goethe  hierbei  an  den  griechischen  Kotipöc.  Bei  des  Ausonius 
simulaernm  Occasionis  et  Poenitentiae  von  Phidias  vermutet  Malier 
(Archaeologie  399,  8  Anm.  3)  eine  Verwechslung  mit  Lystppos.  Heller 
weisz  von  allem  diesem  nichts,  sondern  sagt  nur:  *Ifo  Romer  kannten 
eine  Occasio  dea  nicht.'  Dagegen  f sieht  er  sogleich',  dasz  Goethe  ans 
dem  audentem  iuvant  den  schönen  Vers  gemacht  hat:  cGern  ergibt  sie 
sich  nur  dem  raschen ,  thätigen  Manne',  den  freilich  des  Dichters  eigener 
Acker  nicht  getragen  haben  kann!  Die  Verwandlungen  des  Proteus 
kannte  Goethe  ohne  Zweifel  aus  der  Odyssee ,  die  der  Thetis  wol  aus  sei- 
ner Jugendlectüre  des  Ovidius  oder  aus  seinem  Pomey.  Gelegentlich  sei 
bemerkt,  dasz  Heller  seine  Beziehung  des  deren  auf  Proteus  und  Thetis 
schon  bei  mir  finden  konnte  >  dasz  Goethe  den  Ausdruck  *  Wachende  (statt 
an  Wachenden)  fliegt  sie  vorbei',  eben  so  wenig  nach  dem  lateinischen 
tardos  praetervolat  gebildet  hat,  als  im  'Faust'  (B.  II,  89.  123):  'Heut 


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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Reckte.  188 

sind  wir  ihn  vorbeigereist*,  'Spazier  ein  Stündchen  lang  dem  Spiegelglas 
vorüber*  aus  fremdem  Sprachgebrauche  stammt1),  dasz  auch  das  könne 
'verwandelte  List'  für  Mistige  Verwandlung9  keineswegs  Nachahmung  zu 
sein  braucht.  Wenn  er  am  Ende  gar  zur  hübschen  Beschreibung  seines  nor- 
dischen Mädchens  wenigstens  'die  Wortfassungr  aus  romischen  Dichtem 
genommen  haben  soll,  so  begreift  man  nicht,  wie  man  im  Ernst  eine 
solche  Unmündigkeit  dem  Dichter  zuschreiben  kann,  der,  wie  J.  Grimm 
treffend  sagt,  königlich  in  der  Sprache  waltete.  Von  ähnlichen  ganz  wun- 
derlich angenommenen  Uebertragungen  aus  den  römischen  Elegikern  findet 
sich  gar  manches,  worauf  wir  nicht  widerlegend  eingehen ,  um  das  Be- 
deutendere hervorzuheben.  Auch  würden  wir  viel  zu  thun  haben,  woll- 
ten wir  jedes  Nicht-  und  Misverständms  rügen,  das  unser  blosz  auf 
Entlehnungen  lauernder  Heller  sich  hat  zu  Schulden  kommen  lassen.  Nur 
scheint  es  uns  denn  doch  gar  zu  sorglos,  wenn  dieser  sich  nicht  die 
MQhe  gab  in  eine  Topographie  Roms  zu  sehn,  ob  es  wirklich  einen  Ort 
Vier  Brunnen9  m  Born  gab,  was  er  in  unserer  Erläuterung  finden  konnte, 
sondern  ganz  angescheut  den  schlechten  Einfall  äuszert,  dem  Dichter 
hätten  dabei  die  quattuor  balnea  aus  Martial  vorgeschwebt.  Von  der 
Trefflichkeit  der  schönen  sechsten  Elegie,  worin  die  Qualtro  fontane  vor- 
kommen, hat  Heller  keine  Ahnung;  doch  krönt  er  sein  MisversUtndnis 
durch  die  Bemerkung  über  die  herfichen  Schluszverse: 

Dunkel  brennt  das  Feuer  nur  augenblicklich  und  dampfet , 
Wenn  das  Wasser  die  Glut  stürzend  und  jähliugs  verhüllt; 

Aber  sie  reinigt  sich  schnell,  verjagt  die  trübenden  Dampfe, 
Neuer  und  mächtiger  dringt  leuchtende  Flamme  .hinauf. 
Das  soll  das  Horazische  ex  fumo  dare  hteem  (Gegensatz  von  fumum  ex 
fulgore  dare)  sein.  Behüte  Gott!  Es  bezeichnet  die  von  Wasser  Über- 
schüttete Flamme,  die  später  aus  eigener  Kraft  wieder  mächtig  empor- 
lodert, und  ist  ein  treffliches  Bild  der  durch  falsche  Beschuldigungen  der 
Geliebten  erkälteten,  aber  durch  die  herzliche  Stimme  des  so  treuen  wie 
innigen  ihm  ganz  gewidmeten  Mädchens  wieder  feurig  entflammten  Liebe. 
Aber  mit  dem  äinen  Misverständnisse  nicht  genug,  fügt  Heller  ein  noch 
viel  weiter  reichendes  hinzu.  Unglücklicher  Weise  erinnert  er  sich  der 
Aeuszerung  Goethe's  in  den  Briefen  aus  Rom  über  Tischbein,  dir,  da  ihm 
die  fast  gänzliche  Entäuszerung  der  Leidenschaft  in  seiner  'Iphigenie' 
kaum  zu  Sinne  gewollt,  diese  Leidenschaftslosigkeit  durch  ein  artiges 
Gleichnis  zu  bezeichnen  gesucht;  er  habe  nemlich  diese  Dichtung  einem 
Opfer  verglichen,  dessen  Bauch,  von  einem  sanften  Luftdruck  nieder- 
gehalten, an  der  Erde  hinziehe,  indessen  die  Flamme  freier  nach  der  Höhe 
zu  gewinnen  (gelangen?  oder  die  Höhe  zu  gewinnen?)  suche,  und  Tisch- 
bein habe  dies  auch  sehr  hübsch  und  bedeutend  gezeichnet.  Es  ist  offen- 
bar, dasz  dies  auch  nicht  das  Allergeringste  mit  jenem  schönen  Gleichnisse 
des  Dichters  zu  thun  hat.  Aber  was  ist  Heller  nicht  alles  möglich?  'Es 
ist  kaum  eine  Frage',  schreibt  er,  'dasz  Tischbein  durch  diese  Zeichnung 


1)  Anderes  kann  er  in  den  deutschen  Wörterbüchern  untlr  vorbei, 
vorüber  und  den  damit  zusammengesetzten.  Zeitwörtern  finden. 


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184  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

den  Vers  des  Horaz  hat  illustrieren  wollen  (!?!).  Wer  die  Worte  Tisch 
bein's  mit  den  Schluszstropheo  (?)  der  Elegie  vergleicht,  wird  in  Ver- 
suchung geraten  zu  glauben ,  dasz  die  Aeüszerung  des  Künstlers  Goethe 
bedeutend  und  geistreich  genug  vorgekommen  sein  musz,  um  sie  unmittel- 
bar nach  seiner  Unterredung  mit  ihm  in  Verse  zu  gieszen  —  Verse ,  für 
welche  Goethe  späterhin,  wenngleich  in  nach  anderer  Richtung  abgelenk- 
ter Bezugnahme,  hier  eine  Verwendung  fand.  Sind  diese  Voraussetzun- 
gen richtig,  so  ist  von  diesen  vier  Versen  aus,  mit  Benutzung  des  oben 
angeführten  Properzischen  Gedichts,  die  Erfindung  der  ganzen  Elegie  er- 
folgt.' Das  gemeinte  Properzische  Gedicht  ist,  n,  19,  wo  der  Dichter  sei- 
ner Gynthia  vorwirft,  dasz  sie  einem  aus  Ulyrien  eben  zurückgekehrten 
Prätor,  der  Ehre  und  der  reichen  Geschenke  wegen,  den  Vorzug  gebe 
und  ihn  selbst  deshalb  vernachlässige.  Aber  gerade  von  der  Hauptsache 
der  Elegie,  von  der  Verteidigung  der  Geliebten  und  von  der  Grundlosigkeit 
des  Verdachtes ,  ist  bei  Properz  keine  Spur,  und  welches  Recht  haben 
wir  für  den  hier  vorausgesetzten ,  auf  falsches,  durch  seinen  eigenen  Be- 
such veranlasztes  Gerede  hin  gemachten  Vorwurf  der  Treulosigkeit  der 
Geliebten  jene  Properzische  Elegie  als  Quelle  zu  betrachten?  Bei  Herrn 
Heller  ist  freilich  alles  leicht.  Goethe  hatte  den  Anfang  jener  Properzi- 
schen Elegie,  der  ihm,  man  sieht  nicht  warum,  so  besonders  gefallen, 
ins  Deutsche  übertragen ;  er  fand  auch  in  seinen  Papieren  jene  eine  Aeüsze- 
rung von  Tischbein  wiedergebenden  Verse,  und  hieraus  schweiszte  er  die 
Elegie  zusammen ,  indem  er  noch  andere  Stellen  benutzte.  Wunderlich 
wäre  es ,  wenn  nicht  manche  näher  oder  entfernter  an  Goethesche  Verse 
anklingende  Stellen  sich  in  den  römischen  Elegikern  fänden,  ja  man  kann 
auch  zugeben,  dasz  einzelnes  unbewust  auf  den  Dichter  eingewirkt,  wie 
wenig  dies  auch  zu  behaupten  steht.  Aber  man  lese  die  ganze  aus  Einern 
Gusse  flieszende  Goethesche  Elegie  und  sage  sich,  welchen  Namen  eine 
solche  absonderliche  Herleitung  und  Zusammenstoppelei  verdiene! 

Auf  diesem  abschüssigen  Boden   fortschreitend,  vermutet  Heller 
gleich  weiter,  das  Schluszdistichon  der  siebenten  Elegie: 

Dulde  mich,  Juppiter,  hier,  und  Hermes  führe  mich  später, 
Cestius'  Mahl  vorbei ,  leise  zum  Orcus  hinab , 
sei  in  Rom  an  dem  Tage"  entstanden,  wo  der  Dichter,  wie  er  schreibt, 
bei  der  Pyramide  des  Cestius  und  Abends  auf  dem  Palatin  gewesen.  Man 
begreife,  wie  Goethe,  damals  noch  vielfach  im  elegischen  Masze  denkend, 
an  den  Juppiter  Capitolinus  sich  wendend,  in  die  obigen  Worte  ausge- 
brochen sein  könne ,  die  allerdings  fürs  erste  nur  seine  Sehnsucht  nach 
einem  längern  Aufenthalt  in  Rom  ausgedrückt  haben  würden,  (auch  der 
Wunsch  hier  zu  sterben  sollte  nichts  anderes  sagen!?),  die  aber,  Abends 
gleich  zu  Papier  gebracht  und  in  den  Sammlungen  aufbewahrt,  mit  einer 
etwas  veränderten  Beziehung  des  Adverbiums  hier  den  Keim  des  ganzeji 
Gedichts  abgegeben  hätten ,  zu  dem  nachher  nur  vereinzelte  Aussprüche 
der  Elegiker  in  eine  entferntere  Mitwirkung  getreten  seien.  So  läszt'sich 
Heller  durch  seine  selbstgeschaffenen  Irlichter  in  die  bodenlosesten 
Sümpfe  verlocken!  In  der  vierten  Elegie  glaubt  er  den  Bestand  einer 
Materialiensammlung  übersetzter  Stellen  bewiesen  zu  haben  (wir  sahen, 


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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte.  185 

wie  verunglückt  der  Beweis  sei),  daraufnimmt  er  an,  eine*  Aeuszerung 
Tischbein's  habe  Goethe  rin  Verse  gegossen9  und  eben  dort  aufgeschrieben 
(wir  haben  die  Unmöglichkeit  gezeigt) ,  und  nun  erhalten  wir  auch  einen 
eigenen  in  elegischer  Form  ihm  entfahrenen  Ausruf  Goethe's ,  den  er 
Abends  zu  Papier  gebracht.  Wenn  der  Dichter  am  Schlüsse  den  Wunsch 
ausspricht ,  in  Rom  zu  leben  und  zu  sterben ,  so  ist  nichts  natürlicher, 
als  dasz  er ,  den  die  alten  Götter  hier  überall  umschweben ,  der  sich  ganz 
in  das  alte  römische  Leben  eingelebt,  der  ihre  Dichter  und  Geschicht- 
schreiber eifrig  gelesen  hat,  diesen  Wunsch  in  ein  Gebet  an  den  höchsten 
römischen  Gott  kleidet  und  hier  der  Gegend  bei  der  Pyramide  des  Gestius 
als  der  Begräbnisstätte  der  Protestanten  gedenkt  mit  Benutzung  der  Vor- 
stellung von  dem  Seelengeleiter  Hermes.  Wie  schade,  dasz  Heller  sich 
nicht  erinnerte,  Goethe  habe  Mitte  Febrror  1788  sein  Grab  bei  der  Pyra- 
mide des  Gestius  gezeichnet!  Dasz  der  Ausruf:  *Dichter,  wohin  ver- 
steigest du  dich?'  auch  zugleich  darauf  deutet,  dasz  er  hier  auf  der  Höhe 
des  Gapitolinischen  Berges  sich  auf  einmal  auf  den  griechischen  Olymp 
versetzt  fühlt,  merkt  Heller  nicht,  ebensowenig,  dasz  jene  griechische 
Vorstellung  noch  so  sehr  nachklingt,  dasz  er  am  Schlüsse  statt  des  fiter- 
cur  den  griechischen  Hermes  nennt.  Wer  nicht  erkennt ,  dasz  in  dieser 
Elegie  alles  aus  einem  Gusse  ist,  dasz  Anfang  und  Ende  auf  das  tref- 
fendste zusammenstimmen  und  das  Hervorwachsen  des  ganzen  Gedichtes 
aus  den  beiden  Schluszversen  eine  Monstrosität  wäre,  mit  dem  ist  in 
dichterischer  Beurteilung  nicht  zu  rechten.  Von  einzelnen  wunderlich 
angenommenen  Entlehnungen  will  ich  nicht  reden,  auch  darauf  nicht  - 
näher  eingehen,  dasz  die  r  weichen  Gesänge9  der  Nacht  längst  aus  Goethe's 
eigenen  Aeuszerungen  eine  bessere  Deutung  gefunden  als  aus  Tibull's 
Schilderung  der  ely  sei  sehen  (nicht  elysäischen)  Gefilde. 

Wenn  Heller  die  achte  Elegie  recht  schwach  findet,  so  wollen  wir 
mit  ihm  darüber  nicht  rechten,  da  er  sogar  den  schönen  bildlichen  Schlusz : 

Fehlet  Bildung  und  Farbe  doch  auch  der  Blüte  des  Weinstocks, 
Wenn  die  Beere,  gereift,  Menschen  und  Götter  entzückt, 
so  unverantwortlich  misversteht,  dasz  Goethe  die  Geliebte  nur  schätze, 
weil  sie  zu  den  genieszbaren  Waaren  gehöre,  da  der  Ausdruck  doch  offen- 
bar nur  sagen  will ,  auch  die  unscheinbare  Weinblüte  lasse  eine  so  her- 
liche Entwicklung  nicht  erwarten,  wie  niemand  an  dem  Kinde  habe  den 
Reiz  ahnen  können,  zu  welchem  die  Geliebte  sich  jetzt  entfaltet.  Eben 
so  roh  misdeutet  er  den  Schlusz  der  neunten  Elegie : 

Denn  vor  andern  verlieh  der  Schmeichlerin  Amor  die  Gabe , 
Freude  zu  wecken,  die  kaum  still  wie  zu  Asche  versank. 
Wie  in  aller  Welt  kann  eine  der  widerwärtigsten  Ovidischen  Elegien,  die 
von  etwas  ganz  anderm  handelt  (111, 7),  beweisen,  was  Goethe  hier  unter 
dem  Wecken  der  Freude  versteht!  dies  kann  nur  das  Gedicht  selbst, 
das  Heller's  Deutung  zurückweist.  Der  Kürze  wegen  verweise  ich  auf 
meine  Erläuterungen.  Aber  Heller  enthält  sich  freilich  auch  nicht,  bei 
den  nichts  weniger  als  üppigen ,  durch  die  ganze  Darstellung  gebotenen 
Zügen  d6r  fünften  Elegie  die  freche  Nacktheit  Ovid's  heranzuziehen ! 

Endlich  bei  der  zehnten  Elegie  kann  er  sich  nicht  enthalten ,  ob- 

H.  Jabrb.  f.  Phil.  u.  Pftd.   II.  Abt.    1864.   Hft.  4.  13 

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186  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

gleich  hier  dazu  am  wenigsten  die  Veranlassung  war,  mit  den  bisher 
n*eb  gesparten  Beweisen  hervor zurwken,  dasz  Goethe  wirklich  in  Rom 
eine  grössere  Anzahl  Stellen  aus  den  Elegikern  übersetzt  habe.   Und  hier 
erwarten  wir  ihn,  am  sein  Kartenhaus  umzublasen.    Wenn  Goethe*  den 
Gedanken  ausdrucken  wollte:    *Die  ruhmvollste»  Helden,  die  jetzt  im 
Grabe  ruhen,  wurden  gern  für  ein  Ständchen  Liebesgenusz  die  Hälfte 
ihres  Ruhmes  nur  geben9,  so  ist  nichts  natürlicher,  als  dasz  er  hier  ein- 
zelne dieser  Helden  nennt ,  und  wird  man  es  nur  passend  finden,  wenn 
er,  da  er  sich  im  nendrn  Rom  denkt,  aber  umweht  von  den  Erinnerungen 
des  Altertums,  neben  zwei  alten  Helden,  Alexander  und  Cäsar,  zwei 
neuere y  Heinrich  IV.  von  Frankreich  und  Friedrich  II.  von  Preuszen,  her- 
vorhebt, die  beide  von  ihremjfolke  den  Namen  des  Groszen  erhielten. 
Man  kann  aus  dieser  Nennung  Aiedrich's  II.  vorab  keinen  andern  Schlusz 
ziehen,  als  dasz  die  Elegie,  woran  auch  sonst  niemand  zweifeln  wird, 
nach  dessen  Tode  geschrieben  worden.    Aber  Heller?  Goethe  schreibt  am 
19.  Janaar  1787,  fünf  Monate  nach  Friedrichs  Tode:    'So  hat  denn  der 
grosse  König,  dessen  Ruhm  die  Wek  erfüllt,  dessen  Thaten  ihn  sogar 
des  katholischen  Paradieses  wert  machten  (vgl.  Goethe  B.  23,  135),  end- 
lich auch  das  Zeitliche  gesegnet,  um  sich  mit  seines  Gleichen  im  Schatten- 
reiche zu  unterhalten.    Wie  gern  ist  man  still,  wenn  man  einen  solchen 
zur  Ruhe  gebracht  hat!'  Heller  meint  nun,  cdieAehntichkeit  des  Gedankens* 
in  dieser  Aeaszerung  cmit  einer  der  Beziehungen  des  Anfangs  der  Elegie* 
springe  sofort  in  die  Augen ,  so  dasz  man  augenblicklich  auf  die  Ver- 
mutung verfalle ,  die  Elegie  sei  um  dieselbe  Zeit  geschrieben.    Worin  be- 
steht aber  die  Aehnlichkeit  als  darin,  dasz  alle  genannten  Helden  gestorben 
und  also  im  Orcus  sind?    Nicht  einmal  von  einem  Zusammenleben,  viel 
weniger  von  einer  Unterhaltung  Friedriche  mit  den  andern  Heroen  ist  die 
Rede..    Nach  diesem  ganz  eigentümlichen  Beweise  wird  noch  erwähnt,  in 
dem  allgemeinen  Thema  dieser  Elegien  sei  zu  wenig  eine  Stelle  für  Frie- 
drich gewesen ,  als  dasz  Goethe  sich  zu  einer  spätem  Zeit  eben  hierbei 
an  ihn  erinnert  haben  sollte»    Im  entschiedensten  Gegensatze  hierzu  musz 
ich  behaupten,  dasz,  wenn  Goethe  ruhmgekrönte  Helden  zu  nennen  ver- 
anlaszt  war,  wie  es  hier  der  Fall  ist,  ihm  gerade  keiner  näher  lag  als 
der  vor  kurzem  verstorbene  grosze  Preuszenkönig.     Es  ist  der  Fall  aber 
hier  ein  ganz  besonderer,  wie  Heller  aus  meinen  Erläuterungen  hätte 
sehen  kennen.  Denn  höchst  wahrscheinlich  spielt  die  Etegie  auf  das  Wort 
Friedriche  in  einem  Briefe  an  Voltaire«  an :  Un  instant  de  bonheur  vaul 
mille  ans  dans  Thistoire.  Nun  erschienen  diese  Briefe  erst  im  Jahre  1788. 
eDes  alten  Königs  nachgelassene  Werke  machen  mir  gute  Tage',  schreibt 
Goethe  am  31.  October  1788  an  Herder.    Und  in  das  folgende  oder  zweit- 
folgende Jahr  gehört  unsere  Elegie.    Heiler  aber  fährt  fort:  'Nun  kommt 
jedoch  eine  andere  Betrachtung  hinzu,  welche  jene  Vermutung  zur  Wahr- 
scheinlichkeit erheben  möchte',  und  er  geht  dann  zum  Beweise  über,  dasz 
Goethe  wirklich  eine  Sammlung  übersetzter  Stellen  aus  den  Elegikern  zu 
Rom  angelegt  Folgen  wir  ihm  denn  auch  hier  in  seine  Irgänge ! 

Zunächst  beruft  er  sich  auf  die  bekannte  Thatsache,  dasz  fremde 
Kunstwerke  produktiv  auf  Goethe  wirkten,  oder,  wie  er  weniger  be- 


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Geethe'a  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte.  187 

zeichnewbaagt,  der  Dichter  habe  fes  vorgezogen,  nachbildend  oder  fther- 
setzend  sie  zu  seinem  ganzen  Eigentum,  zu  seinem  eigenste**  Gut  zu 
machen.  Es  war  dies  kein  Wille ,  sondern  innere  Nötigung ,  nur  muaz 
man  eigenüiehe  Ueberaetzungen  hier  ferne  halten,  dfe  er  für  gewisse 
Kreise  machte,  wie  etwa  eine  anakreontische  Ode  für  Frau  von  Stein, 
oder  um  den  Charakter  einer  Wahlweise  andern  vorzuführen,  wie  den 
Marlakischen .Klaggesang  oder  die  neugriechischen  Lieder,  »der  zur  Mit- 
teilung für  rKunst  und  Altertum9,  wie  die  UeberseUmgen  aus  Byron  und 
Manaoni.  Eine  eigentliche  Uebersetzung  lieferte  er  auch  nicht  vom  hohen 
Liede,  das  ihn  im  Derbst  1775  beschäftigte,  sondern  er  suchte  hier  die 
ursprünglichen  herlichen  Liebeslieder  herzustellen.  Wenn  nun  Heller 
meint,  mit  einer  Art  Notwendigkeit  sei  vorauszusetzen,  das*  Goethe  sich 
der  romischen  poetischen  Litteratnr  des  Augusteischen  Zeitalters  auf 
gleiche  Weise  bemächtigt  haben  werde,  so  behaupten  wir  dagegen,  dasz 
ihm  in  Italien  der  lateinische  Ausdruck  zu  lieb  und  heimisch  war,  als 
dasz  er  ihn  in  die  deutsche  Sprache  hätte  umsetzen  seilen.  Wenn  er  kurz 
vor  seiner  Abreise  nichts  Lateinisches  mehr  lesen  konnte,  weil  schon 
dieser  Laut  die  Sehnsucht  nach  Italien  in  seiner  Brust  schmerzlichst 
weekte,  welche  Freude  muste  ihm  in  Italien  der  Klang  (lieser  hier  einst 
heimischen  Sprache  wefikeji!  Wissen  wu;  ja  von  ihm  selbst,  welche  Lust 
ihn  erfüllte,  als  am  Gardaaee  der  erste  lateinische  Vers: 

Fluctihus  et  fremitu  resonans  Benace  mariuo, 
ihn  lebendig  wurde.    Und  als  er  in  Weimar  zurück  war ,  war  ihm  dieser 
Kiang  so  lieb,  dasz  er  ihn  nicht  gegen  den  deutschen  vertauschen  mochte. 
Sa  schreibt  er  an  den  in  Italien  weilenden  Herder:  fMit  welcher  Rührung 
ich  des  Ovid's  Verse  oft  wiederhole,  kann  ich  Dir  nicht  sagen: 

Cum  subit  illius  noctis  tristissima  imqgo, 
Quae  mihi  supremum  tempus  in  urbe  fuit.9 
Uad  wäre  dies  nicht,  so  hätte  doch  Goethe  nichts  ferner  gelegen  als  ein- 
zelne kleine  Bruchstücke  zu  übersetzen,  wir  müsten  wenigstens  doch  an- 
nehmen, dasz  er  gan%e  Gedichte  übertragen  hätte.  Widerstrebt  schon 
eine  Auswahl  besonders  ansprechender,  aus  dem  Zusammenhange  gerisse- 
ner Verse  seinem  für  das  Ganze  einer  Dichtung  so  empfänglichen  Sinne, 
so  konnte  er  es  noch  weniger  über  sich  bringen,  solche  kleine  Späne  zu 
übersetzen,  was  Kellers  Einbildung  allein  ihm  zumuten  durfte. 

Doch  hat  derselbe  gleich  einen  zweiten  Beweis  hervorgesucht,  mit 
dem  es  um  nichts  besser  steht.  Goethe  bemerkt,  ohne  die  Kenntnis  des 
'Versuches  einer  deutschen  Prosodie9  von  Moritz  würde  er  nicht  gewagt 
haben,  die  Uphigenie'  in  lamben  zu  übersetzen;  der  Umgang  mit  dem 
Verfasser,  besonders  während  seines  Krankenlagers,  habe  ihn  nach  mehr 
darüber  aufgeklärt  Sun  meint  Heller,  zur  'Iphigenie'  habe  Goethe  die 
Aeuszerungen  von  Moritz  nicht  besonders  benutzen  können,  da  in  Rom 
daran  nicht  viel,  mehr  zu  thun  gewesen,  und  sie  schon  *  während  Moritzens 
Krankheit  in  zwei  Exemplaren  vor  ihm  gelegen9.  Das  ist  eine  gerao>a|i 
falsche  Behauptung:  erst  nach  der  Heilung  des  Armes  von  Morit?,  dem 
Goethe  vierzig  Tage  über  die  Neuesten  Dienste  geleistet,  lagen  die  beiden 
Exemplare  vor ,  und  Goethe  hat  auf  die  Verse  seiner  'Iphigenie'  zu  Rani 

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190  Goethe' s  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

treten  ist?  Im  zweiten  Teil  der  Ital.  Reise  S.  $98  Mit  Goethe  uns  selbst 
die  von  ihm  in  Rom  niedergeschriebtehe  Uebersetzung  zwtfer  Stellen  ehttr 
Ovidlschen  Elegie  mft,  dasz  er  aus  Ovfd  die  Ver&e  übertragen  frabe*  s'e&st 
angebend: 

Wandelt  von  jener  Nacht  Wir  das  traurige  Bild  in  iler  Seele, 
Welche  8te  letzte  für  mich  ward  in  der  RÖfnlschen  Stadt, 

Wiederhol'  ich  die  Nacht,  wo  des  fheuren  s'O  viel  mir  zurtickblieh, 
GWität  vorii  Äuge,  mir  noch  jetzt  e&e  Thräne  herab.  — 

Und  schon  ruhten  bereits  dte  Stimmen  fter  Menschen  und  Hunde; 
Luha,  sie  lenkt*  in  der  flöh*  nächtliches  Rossegesßann. 

Zu  ihr  schaut'  ich  hinan,  sah  dann  capitolische  Tefflpel, 
Welchen  umsonst  so  nfeh  unsere  Laren  gegrenzt.  — 
Die  Verse  stellen  bei  0vid  Tr.  1,  3,  1—24.  27.  90.    Würde  Jemand  be 
haupten  wollen,  dasz  dies  die  einzigen  UebersetzungsversucJhe  Goethes  in 
Rom  gewesen  sfrid?' 

Ja,  wenn  man  es  nicht  besser  wüste  und  Heller's  Behauptungen 
Glauben  schenken  müste!  Wo  in  aller  Welt  sögt  Goethe,  es  sei  fliese 
Üeberfcetzung  *von  ihm  in  Rom  niedergesefcrfebeft'  worden?  Diesfc  Be- 
hauptung beruht  auf  Unwahrheit.  Eher  verzeiht  nian  6s  Heller ,"  dasz  ihm 
unbekannt  war,  dasz  nicht  feofethe,  sondern  Riemer  die  Verse  im  Jahre 
1829 -zu  Weimar  übersetzt  hat,  obgleich  eiwe  so  kecke  'Verkündigung 
eine  sorgfältige  Prüfung  verdient  hätte.  Möge  flßller,  «und  nebenbei  so 
mancher,  der  dreist  über  Goethe  abspricht ,  sich  hieran  «ein  Beispiel  neh- 
men, dasz  genaueste  Kenntnis  d£s  weitreichende*!  Abbiefös  der  Odethe- 
litteratur  iihtater  eine  gute  Sache  Ist,  wetfh  tofan  mitsprechen  WM. 

Im  Frühjahr  1829  schlosz  "Goethe  den  'zweiten  Aufenthalt  in  Rom* 
nach  Erwähnung  seines  letzten  nächtlichen  Umganges  durch  dfe  Statft  mit 
folgenden  Worten  ab :  *  Alles  Massenhafte  tnffcht  einen  eigenen  'Eiiidruck, 
zugleich  als  e'rfnAeh  tfnd  Tafszlicb,  und  in  Solchen  Uing^ngen  zog  ich 
gleichsam  ein  unübersehbares  Summa  Summäfttm  meines  ganfcen  Aufent- 
haltes. Dfesfes  rn  aufgeregter  Seele  tief  utfd  grosz  einbänden,  Erregte 
eine  Stimmung,  die  itfh  heroisch-elegisch  nennen  darf,  wW&T*s9iöh  ab  poc- 
tisriher  Form  e*ine  riegle  ztfsammenbÜden  wollte.  tJÄd  'wie  söfttfe  mir 
gerade  in  sollen  Augenblicken  Övid'sEfegtfe  nicht  bis  GeÄärihttiis  zui^öök- 
kehren,  der,  auch  verbannt-,  in  ehler  MtfflÄhacht  Rom  verlassen  sollte! 
Dum  (cum)  röptetö  noctem !  seine  Rfickerintifefting,  weit  hinten  am  schwar- 
zen Mefere ,  hn  trauet  -  und  jammervollen  Zustande ,  kam  fcrir  nicht  •aus 
dem  Sinn,  Idh  wiederholte  das  'Gedicht,  das  mir  teilweise  genau  im  Ge- 
dächtnis hervoTstieg,  aber  mich  wirklich  an  eigener  Produktion  irre  wor- 
den liesz  und  hinderte ,  die  auch,  später  unternommen,  nietiiafs  zu  Stande 
kömtoten  konnte.9  Auf  der  letzten  Seide  Stellen  dann  för  sich-,  jene  aöht 
Verse  init  Weglassung  von  V.  4  utid  5 ,  'tiüd  tinter  einöm  Striche  die  acht 
lateinischen  Vtfrse  vollständig.  l)asz  Goethe  fcfeihe  in  Roni  niedergeschrie- 
bene U&ersetfeung  der  Ovjdischen  Verse  besasfc  und  die  von  ihm  gegebene 
von  Riemer  statinht,  dessen  Hülfe  4r  auch  sonst  bei  ähnlichen  Oölfegen- 
heften  in  Anspruch  nahm ,  möge  Heller  einem  Briefe  des  Dichters  an  Rie- 
mer glauben ,  abgedruckt  in  den  von  Riemer  1846  herausgegebenen  zu 

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Geethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte«  101 

wenig  beachteten  'Briefen  von  und  an  Goethe'  (S.  230  f.)  Geethe  schreibt 
diesem  am  2.  April  1829:  'Verzeihen  Sie  ein  eigenes  Ersuchen,  oder  viel- 
mehr eine  wunderliche  Zumutung.  Ich  bedarf  einer  deutschen  metrischen 
Ueberseizung  bekommender  sechs  Ovidischen  Verse,  finde  aber  hiezu 
weht  den  mindesten  rhythmischen  Anklang  in  Meinem  ganzen  Wesen. 
Mochten  Sie  mir  damit  ausheilen ,  so  geschähe  mir  ein  besonderer  Ge- 
falle.' Dasz  gerade  jene  Verse  aus  Trist.  I,  3  gemeint  seien  und  wozu 
Goethe  sie  benutzt,  deutet  eine  Anmerkung  JUemer'a  an. 

Bei  der  nach  Goethe  s  Hinscheiden  erschienenen  Ausgabe  der  Werke 
wurde  jener  ScUusz  des  zweiten  polnischen  Aufenthalts  von  den  Worten 
an  'Dieses  in  aufgeregter  Seele'  bis  'kommen  konnte'  in  folgender  Weise 
umgestaltet,:  efiei  meinem  Abschied  empfand  ich  Schmerzen  einer  eigenen 
Art.  Diese  Hauptstadt  der  Welt,  deren  Borger  man  eine  Zeit  lang  ge- 
wesen, ohne  Hoffnung  der  Rückkehr  zu  verfassen,  gibt  ein  Gefühl,  das 
sich  durch  Worte  nicht  fiberliefern  läszL  Niemand  vermag  es  zu  teilen, 
als  wer  es  empfunden.  Ich  wiederholte  mir  Ovid's  Elegie,  die  er  dichtete, 
als  die  Erinnerung  eines  ähnlichen  Schicksale  ihn  bis  ans  finde  der  be- 
wohnten Erde  verfolgte.  Jene  Distichen  wälzten  sich  zwischen  meinen 
Empfindungen  immer  auf  und  ab',  worauf  dann  die  Ueberseizung  jener 
vier  Distichen,  und  auletzt  .ein  ganz  neuer  Bericht  über  die  Weiterreise 
folgt.  Auch  hier  deutet  kein  Ausdruck  darauf  hin,  dasz  .diese  Ueber- 
seUvng  in  Bern  gemacht  worden,  sondern  Heller  hat  dies  zu  seinem 
Zwecke  daraus  ohne  weiteres  gefolgt;  wie  irrig,  ergibt  eich  ans  dem 
Mitgeteilten. 

In  der  eilften  Elegie,  die,  einzelne  Ausdrücke  abgerechnet,  mit  den 
Gedichten  der  römischen  Elegiber,  naoh  Heller  selbst,  so  viel  wie  gar 
nichts  zu  schaffen  (hat,  glaubt  .er  doch  einen  in  Rom  geschriebenen  Kern 
zu  entdecken,  memlich  Vens  d— 10.  Er  scheint  hier  anzunehmen,  .zu  fast 
allen-,  auch  den  initibt  .aus  «den  römischen  JSlegÜDern  hergenommenen  Ele- 
gien sei  der  'Kern'  eu  lom  geschrieben  worden.  Wie  .aber  beweist  er 
hier  die  Zusammenfügung  aus  verschiedenen  Teilen?  Durah  das  wunder- 
lichste Mißverständnis  des  trefflieben  Anfanges  der  Elegie: 

Euch,  o  Grazien,  legt  die  wenigen  Blätter  ein  Dichter 
Auf 'den  reinen  Altar,  Knospen  der  Rosen  dazu. 

Und  er  fchut  es  getrost.  Der  (Künstler  freuet  dich  seiner 
Werkstatt,  wenn  sie  um  ihn  immer  ein  Pantheon  pcheint. 
Hier  verrät  sich  dem  unbefangen  Blickenden,  meint  Heller,  der  Leim, 
dem  es  nioht  gelungen  sei,  den  Spalt  «zwischen  den  aneinandergebrachten 
Teilen  völlig  zu  verdecken!  'Aufs  allerbeste  .angesehen,  (behalten  die  bei- 
den Sätze:  J)Eueh^  ihr  Grazien,  bringe  ich  mit  wenigen  Blättern  und 
Rosenknospen  d.  h.  mit  diesen  euoh  (zukommenden  Elegien  (vertrauensvoll 
mein  Opfer  dar.  2)  loh  freue  mich  (übenhaupt),  wenn  in  (meiner  Küustler- 
werkätatt  um  .mich  immer  eine  ganze  Götterversammlung  zu  sein  scheint 
(die  ich  ehren  kann)',  selbst  nach  .Hinzufügung  der  in  Klammern  einge- 
schlossenen Worte  etwas  Unvermitteltes,  und  man  vermag  von  dem  einen 
zun  andern  nur  durch  einen  Sprung  zu  gelangen:'  Aber  wie  konnte  der 
nichter  em  so  schülerhaftes  Mißverständnis  voraussehn,  wie  ahnen,  das/. 


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192  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

ein  gebildeter  Leser  übersehn  werde,  mit  den  Wroten  fder  Künstler 
freuet  sich'  hebe  ein  Vergleich  an,  welcher  prosaisch  freilich  lauten  müste : 
'So  freut  sich  der  Künstler.'  Der  Dichter  spricht  seine  Freude  aus  über 
die  ihm  gelungenen  Elegien ,  die  er  mit  derselben  LusJ  vor  sich  sieht, 
wie  der  Bildhauer  seine  Götterstatuen ,  da  sie  nicht  allein  der  Liebe,  son- 
dern auch  dem  wahren  dichterischen  Geist  entsprungen  sind;  wie  die 
Grazien  auf  die  Kunstvollendung  deuten ,  so  die  Rosen  auf  die  Freuden 
der  Liebe.  Wenn  Heller  den  Uebergang  'Und  er  thut  es  getrost'  matt 
und  bedeutungslos  findet,  die  folgenden  Worte  für  eine  trockene  Beschrei- 
bung erklärt ,  um  aus  der  Ungleichheit  des  Tones  einen  neuen  Beweis  für 
die  Vereinigung  ungleichartiger  Teile  zu  einem  Ganzen  herzuleiten,  so 
mag  er  das  hei  sich  verantworten.  Und  nun  fügt  er  quasi  re  bene  gesta 
bedeutsam  hinzu:  'Wenn  nun  in  der  nach  Jahren  entworfenen  Liste  der 
Goetheschen  Schriften  am  Ende  des  vierzigsten  Bandes  angegeben  wird : 
1788.  'Dichtet  die  römischen  Elegien'.  1790.  'Redigiert  die  römischen 
Elegien',  so  wird  man  sich  aus  dem  Vorhergehenden  und  anderteils  aus 
oben  eingestreuten ,  teils  noch  folgenden  Bemerkungen  eine  Vorstellung 
machen  können,  welche  Arbeit  der  Redaction  selbst  nach  dem  aus  vielen 
in  Rom  gesammelten  Materialien  hergestellten  vorläufigen  Entwurf  noch 
dazu  gehörte ,  um  die  Elegien  in  die  uns  vorliegende  Form  zu  bringen.' 
Wir  aber  nehmen  von  dieser  Aeuszerung  und  einer  andern  S.  358  Act, 
dasz  Heller  ganz  unverantwortlicher  Weise  von  der  Entstehung  der  römi- 
schen Elegien  nichts  weiter  wüste,  obgleich  er  sich  leicht,  und  wäre  es 
aus  meiner  Erläuterung  gewesen,  die  er  wol  auf  der  königlichen  Biblio- 
thek nicht  vergebens,  wie  Benfey  auf  der  Göttingischen  gesucht  haben 
würde ,  sich  eine  viel  richtigere  Ansicht  von  der  Entstehungszeit  hätte 
bilden  können.  Jeder  Kundige  weisz,  dasz  jenes  chronologische  Ver- 
zeichnis am  Schlüsse  der  Werke  völlig  unzuverlässig  ist.  Wie  äuszert  sich 
Goethe  selbst  darüber?  Die  Stellen  hätte  er  im  Verzeichnis  von  Musculus, 
wenn  er  sie  sonst  nicht  kannte,  leicht  finden  können.  B.  25,  154  sagt 
er,  die  Elegien  und  die  Epigramme  fielen  in  die  Zeit  eines  glücklichen 
häuslichen  Verhältnisses ,  das ,  wie  wir  wissen ,  am  13.  Juli  1788  begann, 
also  nach  der  Rückkehr  von  Rom.  Damit  steht  nicht  in  Widerspruch, 
wenn  er  in  den  'Annalen'  unter  dem  Jahre  1790  bemerkt:  'Angenehm 
häuslich-gesellige  Verhältnisse  gaben  mir  Mut  und  Stimmung  die  römi- 
schenElegien  auszuarbeiten  und  zu  redigieren.  DieVenetianischen 
Epigramme  gewann  ich  bald  darauf.'  Diese  Stelle  erwähnt  Heller  ge- 
legentlich S.  462,  aber  er  deutet  natürlich  das  Ausarbeiten,  das  hier 
vom  Dichten  steht,  auf  seine  Weise;  doch  fehlt  es  nicht  an  andern,  der 
Zeit  der  Entstehung  viel  näher  liegenden  Zeugnissen,  zu  denen  der  Brief- 
wechsel Goethe's  mit  Karl  August  neuerdings  mehrere  bedeutende  hin- 
zugefügt hat.  Heller  wüste  von  allem  diesem  nichts,  obgleich  es  ihm 
darum  zu  thun  war,  die  Art  der  Entstehung  der  Elegien  zu  entdecken. 
Zunächst  sei ,  auch  zu  Widerlegung  dessen ,  was  Heller  über  den 
Namen  römischeElegien  sagt,  hier  bemerkt,  dasz  in  der  noch  er- 
haltenen Handschrift  der  Titel  lautet:  Erotica  Romana,  worin  die 
Liebe  als  eigentlicher  Gegenstand  deutlich  bezeichnet  wird.     Mit  Bleistift 


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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte.  ,  193 

setzte  Goethe  dafür  später  Elegien.  Rom  1788,  wo  die  Jahrszahl  dar- 
auf hindeuten  soll,  dasz  er  damals  in  Rom  gewesen.  Als  er  aber  1791 
die  dreizehnte  Elegie  in  der  deutschen  Monatsschrift  abdrucken 
liesz,  gab  er  dieser  die  Bezeichnung  Rom  1789,  wo  1789  freilich  auf 
einem  Irtum  beruht,  insofern  er  damals  nicht  mehr  in  Rom  war.  Das 
erste  uns  erhaltene  Liebeslied  auf  Christiane  Vulpius  fällt  Ende  October 
1788 ,  aber  es  ist  nicht  in  elegischem  Masze  geschrieben.  Gleich  darauf 
musz  das  zweite  der  Besuch  entstanden  sein,  das  in  demselben  Vers- 
masze  gedichtet  ist,  worin  er  zu  Rom  Amor  als  Landschaftsmaler 
geschrieben.  Ueberhaupt  ist  keines  der  in  Italien  entstandenen  Ge- 
dichte in  Hexametern  oder  Distichen  verfaszt.  Die  Mahnung  von  Moritz 
scheint  ihn  damals  von  diesen  Maszen  ganz  abgehalten  zu  haben.  Das 
erste  elegische  Gedicht,  welches  er  in  Weimar  dichtete,  ist  das  Süsse 
Sorgen  überschriebene ;  denn  er  sandte  diese,  schon  im  folgenden  Jahre 
in  seinen  Gedichten  gedruckten  Verse  mit  der  Bezeichnung  'eines  Eroti- 
kons*  am  16.  November  1788  an  den  Herzog  Karl  August.  Sind  auch  etwa 
diese  zwei  Distichen  aus  römischen  Elegikern  geflossen  und  in  Rom  ent- 
standen? Wer  möchte  eine  solche  Behauptung  wagen,  obgleich  sie  not- 
wendige Folge  von  Heller's  Annahme  sein  würde.  Erst  im  Frühjahr  1789 
scheinen  die  ersten  Elegien  gedichtet  zu  sein ,  nachdem  des  Dichters  Ver- 
hältnis zu  Christiane  Vulpius  in  die  Oeffentlichkeit  gedrungen  war.  Dem 
Herzog,  der  sich  am  1.  April  nach  Aschersleben  begeben  hatte,  schreibt 
Goethe  den  9. :  'Knebel  hat  eine  Elegie  des  Praperz  recht  glücklich  über- 
setzt Die  Frauen  sagen :  ich  könne  sie  gemacht  haben ;  da  sie's  aber  auf 
den  Charakter  und  nicht  aufs  poetische  Verdienst  nehmen,  so  ists  nicht 
sehr  schmeichelhaft.  Ich  liege  ihm  sehr  an ,  dasz  er  zu  übersetzen  fort- 
fahre und  die  Erotika  den  schonen  Herzen  nahe  lege.  Ich  leugne  nicht, 
dasz  ich  ihnen  im  Stillen  ergeben  bin.  Ein  paar  neue  Gedichte  sind  dieser 
Tage  zu  Stande  gekommen;  sie  liegen  mit  den  andern  unter  Raphael's 
Schädel  (von  dem  er  einen  Abgusz  aus  Rom  mitgebracht  hatte) ,  wohin 
das  Cahier  in  meinem  Schranke  durch  Zufall  kam,  und  nun,  um  des  Omi- 
nösen willen,  da  bleiben  soll.  Moritz  amüsiert  diese  Combination  gar 
sehr'.  Er  hatte  Moritz  dies  mitgeteilt  und  eben  eine  Antwort  von  ihm 
erhalten.  Der  Herzog  scheint  jene  frühern ,  wol  erst  im  März  geschrie- 
benen Elegien  (Erotika)  gekannt  zu  haben.  Nach  der  Rückkehr  des  Her- 
zogs wird  Goethe  diesem  seine  neuen  Elegien  vorgelesen  haben,  auch 
wol  diejenige,  die  er  am  Schlüsse  des  Briefes  verspricht.  Diese  ist  eine 
der  beiden,  welche  beim  Abdrucke  unterdrückt  worden,  aber  in  der  Hand- 
schrift noch  vorhanden  sind.  Dem  Herzog,  der  am  4.  Mai  nach  Berlin 
reiste,  schreibt  er  am  12.:  'Die  schöne  Zeit,  die  mich  früh  ins  Thal  lockt 
und  recht  zum  Müssiggang  einlädt,  hat  mich  auch  abgehalten  Ihnen  zu 
schreiben,  besonders  da  alles  um  uns  ganz  stille  ist,  die  Empfindungen 
sich  wenig  und  die  Begebenheiten  gar  nicht  regen.  —  Von  den  Eroticis 
habe  ich  Wielanden  wieder  vorgelesen,  dessen  gute  Art  und  antiker  Sinn, 
sie  anzusehen ,  mir  viel  Freude  gemacht  hat.  Bald  habe  ich  Hoffnung, 
dasz  diese  kleine  Sammlung  sowol  an  Poesie  als  Versbau  den  Nachfolgern 
manches  wegnehmen  werde.9     In  den  nächsten  Monaten  findet  sich  keine 


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194  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

Erwähnung  der  Elegien.    Am  23.  Juli  begab  sich  Goethe  nacb  Eisenaob, 
von  wo  er  am  2.  August  an  Herder  schreibt :  *  Einige  Erotika  sind  gear- 
beitet worden.'    Von  Ruhla  aus  äuszert  er  aqht  Tage  später:   'Die  Frag- 
mentenart erotischer  Späsze  benagt  mir  besser.     Es  sind  wieder  einige 
bearbeitet  worden.'   Mute  September  ging  er  nach  Jena.  Acht  Tage  spä- 
ter meldet  er  an  Knebel  von  Weimar  aus:  'Leider  sehe  ich  beim  Aus- 
packen meiner  Papiere,  dasz  mir  die  f  am  ose  n  Pop  in  en  fehlen.  Wahr- 
scheinlich habe  ich  sie  auf  Deinem  Tisch  liegen  lassen.    Bringe  sie  mir 
mit,  und  schreibe  das  Gedicht,  ich  bitte  dich,  nicht  ab.'     Unier  den  fa- 
mosen Popinen  versteht  er  höchst  wahrscheinlich  die  fünfzehnte 
Elegie,  die  demnach  wol  in  Jena  gedichtet  sein  könnte.  Den  20.  November 
meldet  er  dem  Herzog:  'Wenn  Ihre  träume,  von  denen  Sie  mir  schreiben, 
von  heroisch  philosophischem  Inhalte  sind,  so  sind  ^e  meinigen  gegen- 
wärtig höchstens  erotisch  philosophisch,  und  folglich   auch  nicht  die 
unangenehmsten.     Wie  sie  dereinst  in  der  lOln  Elegie  meiner  immer 
wachsenden  Büchlein  ersehen  werden.'     Ist  die  Bezeichnung  4er  101a 
Elegie  auch  wol  launig  übertrieben,  so  deutet  sie  doch,  wie  die  'immer 
wachsenden  (Büchlein'  auf  eine  viel  gröszere  Zahl  von  Gedichten  hm,  als 
uns  erhalten  ist.     Freilich  könnte  man  bei  der  Ungenauigkeit  des  Ab- 
drucks jenes  Briefwechsels  leicht  zweifeln,  ob  die  Zahl  101  nicht  atff  fal- 
scher Lesung. oder  Druckfehler  beruhe.  Am  folgenden  (».•Februar  berich- 
tet er  dem  Herzog,  er  habe  auch  wieder  die  liebe  zu  pflegen  angefangen; 
gestern  sei  das  erste  Erotikon  in  diesem  Jahre  zu  Papier  gekommen.  Vor 
der  Mitte  März  reist  er  der  Herzogin  Mutter  nach  Venedig  entgegen.  Von 
hier  schreibt  er  am  3.  April  an  Herder :  cMeine  Elegien  sind  wol  zu  Ende; 
es  ist  gleichsam  keine  Spur  dieser  Ader  mehr  in  mir.     Dagegen  bringe 
ich  Euch  ein  Buch  Epigramme  mit,  die,  hoffe  ich.,  nach  dem  Leben 
schmecken  sollen.'   Und  denselben  Tag  berichtet  er  dem  Herzog :  'Meine 
Elegien  haben  ihre  höchste  Summe  erreicht ,  und  das  Büchlein  möchte 
geschlossen  .sein.    Dagegen  bring'  ich  einen  libellus  epigrannnatum  mit 
zurück,  der  sich  Ihres  Beifalls,  hoff'  ich,  erfreuen  soll.'   Am  1&.  sendet 
er  an  Herder  ein  Blatt  Epigramme,  den  4.  Mai  ist  das  Büchlein  auf  100 
angewachsen ,  und  er  hofft  die  Reise  werde  wol  noch  eines  und  das  an- 
dere geben.     'An  meinem  Büchlein  Epigrammen  schreibe  ich  ab',  meldet 
er  am  1.  Juli  dem  Herzog.   'Es  sind  viele  freilich  ganz  local,  und  können 
nur  in  Venedig  genossen  werden.'    Am  9.  ist  das  Büchlein  zusammenge- 
schrieben ,  doch  kann  er  es  noch  nicht  aus  der  Hand  geben.     Auf  der 
gleich  darauf  angetretenen  Reise  nach  Schlesien  gab  es  wieder  viele  Epi- 
gramme, von  denen  nur  wenige  gedruckt  sind;  eine  Anzahl  angedruckter 
von  Goethe' s  eigener  Hand  besitzt  die  herliche  Sammlung  des  um  Goethe 
hochverdienten  Buchhändlers  Salomon  Hirzel  in  Leipzig;  ein  Distichon 
daraus  steht  in  Grimm's  Wörterbuch  unter  dem  Worte  E  i  1  f  t  e.   Auch  das 
Jahr  1792  brachte  noch  einige  Epigramme. 

Wir  haben  nach  dem  Mitgeteilten  den  vollständigsten  Beweis ,  >dasz 
die  Elegien  aus  dem  vollen  frischen  Leben  vom  Frühjahre  1789  bis  zum 
Frühjahre  1790  geschöpft  sind ,  dasz  der  reizende  Liebesgenusz  sie  dem 
Dichter  eingeflöszt.     Dieser  unbestreitbaren  Thatsache  gegenüber  stellt 


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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Hechte.  195 

sich  die  Annahme ,  Goethe  habe ,  ehe  er  eine  Liebesetegie  geschrieben, 
sich  die  Begeisterung  aus  seinen?  übersetzten  Stellenhefte  geholt ,  in  ihrer 
unendlichen  Lächerlichkeit  dar.  Die  Beweise,  die  Heller  noch  einmal 
S.  493  f.  zusammenstellt,  haben  wir  in  ihrer  völligen  Haltlosigkeit  er- 
kannt ,  und  von  der  Handhabung  seiner  Methode ,  um  den  Kitt  und  Leim 
nachzuweisen,  so  sattsame  Proben  gegeben,  dasz  wir  nicht  nötig  haben 
weiter  auf  seine  Bemerkungen  Ober  die  folgenden  Elegien  so  wie  auf  die 
am  Anfang  stehenden  einzugehen.  Auch  hier  hat  er  nur  den  Dichter  zu 
seinem  Zwecke  mißverstanden,  wie  eine  Vergleichung  mit  unsern  Erläute- 
rungen ergeben  wird.  Goethe  hat  freilich  die  römischen  Elegiker  im  Sinne 
gehabt,  und  daraus  sind  manche  bewuste  und  u'nbewuste  Anklänge  ge- 
flossen ;  das  ist  fängst  erwiesen ,  ehe  Heller  die  Sache  bis  zur  Lächerlich- 
keit fibertrieb.  Goethe  versetzte  sich  bei  der  Darstellung  des  Liebeslebens 
ganz  nach  dem  neuern  Born ,  wo  ihm  neben  der  Gegenwart  die  grosze 
Vergangenheit  lebhaft  erschien ,  und  wenn  neben  den  alten  Göttern  und 
dem  alten  Leben  auch  Andeutungen  der  neuesten  Zeit  sich  finden ,  so  ist 
dies  nichts  weniger  als  ein  misklingender  Ton ,  vielmehr  vergegenwärtigt 
dies  ans  gerade  den  Dichter  als  Sohn  dieser  Zeit.  Dasz  Goethe  sich  von 
einem  Knaben  bedienen  läsfct,  ist  ein  Zug,  der  dem  Dichte*  besonders 
angemessen  sehien ;  in  Wirklichkeit  war  es  freilich  seht  Diener  Götz ,  der 
ihn  in  seinem  Gartenhause  bediente  und  wol  lange  Zeit  allein  von  dem 
süszen  Geheimnis  wnste.  Am  Kaminfeuer  daselbst  liesz  er  es  sich  wol 
behagen. 

Erweist  sich  nun  die  von  Heller  vorausgesetzte  Entstehung  der  Ele- 
gien als  efae  bare  Unmöglichkeit,  so  folgt,  dasz  alle  Schlösse,  welche 
derselbe  hieraus  für  die  Venediger  Epigramme  zieht ,  völlig  haltlos  sind. 
Diese  sind  so  weit  entfernt  aus  den  unbenutzt  gebliebenen  Spänen  des 
Hellerschen  Materialienheftes  entstanden  zu  sein ,  dasz  sie  ganz  ans  dem 
Leben  geflossen  sind ,  wie  die  oben  angezogenen  Aeuszerungen  Goethe's 
selbst  zeigen.  Heiler  hat  'auch  hier  bei  manchen  eine  Unterlage  in  den 
Elegikern  gesucht,  meist  aber  eben  so  unglücklich  als  bei  den  Elegien. 
Dasz  einzelnes  aus  den 'römischen  Dichtern  genommen  ist,  kann  nicht  be- 
zweifelt werden.  So  habe  ich  selbst  toerefes  bei  Epigr.  26  auf  Hartial 
IV,  60,  bei  33  auf  Hart.  XI,  3  verwiesen.  Cei  andern  ist  es  möglich,  dasz 
ein  unbewuster  Anklang  den  Dichter  geleitet  hat.  So  kann  man  es  nicht 
ganz  unwahrscheinlich  finden,  was  Heller  als  unbestreitbar  hervorhebt, 
dasz  in  £ßigr.  81 : 

Wenn  auf  besehwörlietien  Reisen  ein  Jflngftng  zur  Liebsten  sich  windet, 

Hab*  er  dies  Bachlein:  es  ist  reizend  und  trostfech  zugleich. 
Und  erwartet  dereinst  ein  Mädchen  den  Liebsten ,  sie  »hake 

Dieses  Büchlein,  und  mir,  kommt  er,  so  werfe  sieVweg, 
beim  zweiten  fasticboti  die  Worte  des  Prtfperz  mitgewirkt  haben  (fH,3, 19): 
Ut  tuus  in  scrfmno  iactetirr  saöpe  libellus,  quem  legat  expectans  sola  puella 
virtnn.     Aber  es  übersteigt  allen  Begriff,  wenn  Heller  behauptet,  das 
erste  Distichon  sei  cnach  Martial  1 ,  3  dazu  verfaszt' : 

Qbi  tecum  cnpis  esse  meos  ubicumque  libeltos , 
Et  cornftäs  'kmgae  quaeris  habere  viae. 


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196  -    Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

Musz  ja  nach  Heller  gar  der  Vers  (2) : 

Da  gesellten  die  Musen  sich  gleich  zum  Freunde, 
aus  dem  Properzischen  (III,  1,53):  At  Musae  comites,  stammen,  und 
der  Name  Phüarchos  (65)  durch  den  Namen  Phileros  bei  Jlart.  1,  43  ver- 
anlaszt  sein !  Durch  die  Annahme  vorauszusetzender  üebertragungen  ist 
Heller  auch  zu  seiner  fabelhaften  Deutung  von  Epigramm  29  gekommen, 
womit  er  vor  drittehalb  Jahren  in  der  Vossischen  Zeitung  debütierte,  wo 
Gruppe,  von  Löper  und  der  Unterzeichnete  ihm  gleich  entgegentraten, 
während  Abeken  ihm  beistimmte.    Das  allbekannte  Epigramm  lautet: 

Vieles  bah'  ich  versucht,  gezeichnet,  in  Kupfer  gestochen, 
Oel  gemalt,  in  Thon  hab'  ich  auch  manches  gedruckt, 

Unbeständig  jedoch,  und  nichts  gelernt  und  geleistet; 
Nur  ein  einzig  Talent  bracht'  ich  der  Meisterschaft  nah: 

Deutsch  zu  schreiben.    Und  so  verderb'  ich  unglücklicher  Dichter 
In  dem  schlechtesten  Stoff  leider  nun  Leben  und  Kunst. 

Heller  meint,  der  Dichter  deute  hiermit  auf  den  Stoff  der  folgenden  Epi- 
gramme ,  die  sich  auf  das  gaukelnde  Kind  Bettine  beziehen.     Aber  wie 
viele  Epigramme  stehen  zwischen  diesem  uud  dem  ersten  Bettinen  be- 
treffenden (77) ,  das  seine  Einleitung  in  sich  trägt !    Und  wie  ist  es  mög- 
lich, dasz  der  Dichter  Bettinen,  die  er  mit  solcher  rührenden  Bewunde- 
rung betrachtet ,  den  schlechtesten  Stoff  zu  einem  Gedichte  nennen  und 
sich  bedauern  soll,  dasz  er  in  einem  solchen  Stoffe  Leben  und  Kunst 
verderbe.   Müste  es  dann  nicht  auch  notwendig  '  m  i  t  dem  schlechtesten 
Stoff9  heiszen  ?  Und  wie  kann  der  Dichter  sagen,  er  verderbe  damit  Leben 
und  ftunst?    Denn  die  von  Heller  gegebene  Beschränkung  des  'Lebens' 
auf  die  in  Venedig  verbrachten  Tage  ist  neben  der  allgemeinen  Bezeich- 
nung 'Kunst*  und  bei  dem  eben  so  allgemein  gefaszten  'ich  unglücklicher 
Dichter*  nicht  möglich.  'Und  so'  soll  'mit  Hinblick  auf  diese  Epigramme, 
besonders  auf  die,  welche  sogleich  folgen  werden',  gesagt  sein.    Aber  es 
kann  nur  auf  das  unmittelbar  Vorhergehende  bezogen  werden ;  s  o  kann 
nur  heiszen  a u f  d i e s e  (eben  genannte)  Weise  oder  hierdurch  (durch 
das  eben  Genannte),  wie  Heller  sich  überzeugen  wird,  wenn   er  die 
reiche,  ihm,  wie  es  scheint,  unbekannte  Beispielsammlung  bei  Lehmann 
'Goethe's  Sprache  und  ihr  Geist*  S.  257  Jf.  vergleicht.     Dasz  und  so  auf 
die  vorhergehenden  oder  die  folgenden  oder  auf  diese  Epigramme  über- 
haupt gehe,  ist  reiu  unmöglich,  da  der  Epigramme  in  unserm  Gedichtchen 
gar  nicht  gedacht  ist.     Woher  sollte  dem  Leser  eine  Ahnung  kommen, 
dasz  es  gerade  auf  die  Epigramme  gehe,  besonders  da  es  thöricht  wäre, 
wollte  der  Dichter  sich  als  bedauernswürdig  mit  solchem  Nachdruck  be- 
zeichnen ,  weil  er  in  diesen  Tagen  Epigramme  mache ,  die  so  wenig  ihm 
unbehaglich  waren,  dasz  diese  frische  Production  ihm  wohl  that     Und 
wozu  der  Gegensatz  aller  der  Künste ,  in  denen  er  sich  bisher  versucht, 
gegen  die  Dichtkunst  und  zwar  die  Dichtkunst  in  trivialen  Epigrammen, 
wie  man  Heller  glauben  soll?   Es  kann  keinem  Zweifel  unterworfen  sein, 
dasz  hier  die  Sprache  im  Gegensatz  zum  Kupfer,  Oel  und  Thon  steht,  uud 
der  'schlechteste  Stoff9  gerade  die  deutsche  Sprache  ist,- deren  Goethe 

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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte.  197 

sich  bedient.  Aber,  ruft  Heller,  diese  können  nie  Stoffe  genannt  werden. 
Goethe  nennt  die  Mittel  der  Darstellung  nie  S  to  f  f ,  sondern  nur  Ma  terie, 
Material.  Zu  dem  von  ihm  beigebrachten  Beispielen  fugen  wir  hinzu 
IXIf,  16. 26.  29  ('der  Materie,  in  welcher  er  arbeitet').  336.  Aber  ist 
nicht  Stoff  gerade  der  edlere  Ausdruck  für  Materie?  Und  was  liegt 
Au/fallendes  darin,  dasz  Stoff,  wie  das  Lateinische  materies,  das 
Französische  m  a  t  e  r  i  a  u  x ,  das  englische  matter,  selbst  unser  Materie, 
sowol  den  darzustellenden  Gegenstand  als  die  Darstellungsmittel  bezeich- 
net? Heller  ist,  wie  sonst,  auch  hier  gleich  mit  seiner  entschiedenen  Be- 
hauptung bei  der  Hand.  Stoff  sage  Goethe  im  Sinne  von  Material 
nur,  wo  er  von  gewebten  Zeugen  oder  von  chemischen  Präparaten 
spreche.  Und  doch  lesen  wir  XXX,  292:  eDie  mechanische  (Behandlung* 
des  Künstlers)  zuletzt  wäre  diejenige,  die  durch  irgend  ein  körperliches 
Organ  auf  bestimmte  Stoffe  wirkt ,  und  so  der  Arbeit  ihr  Dasein ,  ihre 
Wirklichkeit  verschafft.9  Nicht  weniger  gehört  hierher  die  Stelle  XXXU, 
221 :  'Der  geistreiche  Mensch  knetet  seinen  Wort#toff ,  ohne  sich  zu  be- 
kümmern, aus  was  für  Elementen  er  besteht.'  Die  letztere  Stelle  führt 
auch  Heller  an ,  meint  aber ,  da  sei  das  Wort  in  einer  unmöglich  zu  ver- 
kennenden Zusammensetzung  so  gebraucht.  Aber  an  unserer  Stelle  ist 
der  Ausdruck  durch  den  gegebenen  Gegensatz  so  unverkennbar,  dasz 
von  Klopstock  und  Schiller  herab  bis  auf  den  sprachgewaltigen  J.  Grimm 
niemand  ihn  anders  verstanden  hat.  Und  meint  Heller,  Goethe  habe  auch 
'Materie'  oder  ^Material9  notwendig  da  sagen  müssen,  wo  Vers  und  Würde 
des  Ausdrucks  das  leidige  Fremdwort  verbieten?  Und  wenn  er  einen 
Widerspruch  darin  sieht ,  dasz  Goethe  der  Meisterschaft  in  der  deutschen 
Sprache  sich  rühmt  und  diese  dennoch  den  schlechtesten  Stoff  nennt, 
so  erklärt  sich  dies,  wenn  es  anders  einer  Erklärung  bedarf,  aus  Epi- 
gramm 77: 

Einen  Dichter  zu  bilden,  die  Absicht  war'  ihm  (dem  Schicksal)  ge- 
lungen , 
Hätte  die  Sprache  sich  nicht  unüberwindlich  gezeigt. 
Freilich  behauptet  Heller,  diese  Stelle  habe  mit  Epigramm  29  nichts  zu 
thun ,  und  die  letztere  Aeuszerung  thue  Goethe  in  Bezug  auf  die  feste 
Technik  und  die  genaue  Versmessung  der  gerade  darin  so  strengen  Römer. 
Was  ah#r  Goethe  an  beiden  Stellen  im  Auge  hat,  verrät  eine  von  mir 
früher  beigebrachte  Aeuszerung  aus  dem  Januar  1786,  wo  er  die  deutsche 
Sprache  barbarisch  nennt  im  Gegensatz  zum  wolklingenden  Italieni- 
schen. Heller's  Gegenbemerkung  S.  311  f.  bemüht  sich  vergebens,  diesen 
Beweis  zu  entkräften.  In  dem  launigen  Unmut,  der  ihn  zu  Venedig  er- 
faszte,  konnte  der  Dichter  wol  bedauern,  dasz  er  seine  Werke  in  der 
spröden  und  harten  deutschen  Sprache  schreiben  müsse,  worin  er  sich 
zur  Meisterschaft  emporgeschwungen,  ohne  aber  ihre  natürliche  Härte 
geschmeidig  machen  zu  können.  So  erhält  auch  das  und  so  seine  rechte 
Deutung.  Da  er  sich  die  deutsche  Sprache  zum  Darstellungsmittel  gewählt, 
so  ist  er  verdammt  in  dieser  Zeit  und  Kunst  zu  verlieren,  da  es  ihm  nie 
gelingen  wird,  in  dieser  harten  Sprache,  von  der  Karl  August  sagte,  sie 
Hinge  gar  zu  häufig  wie  Hagel,  der  an  die  Fenster  schlage,  ein  rein 

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198  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

wolklingendes  Werk  zu  schaffen.    Wodurch  aber  Heller  eigentlich  ver- 
anlaszt  worden,  das  29. Epigramm  so  ganz  abweichend  zu  fassen,  hat  er 
erst  später  verraten.    Er  glaubt  nemlich,  Goethe  habe  zwei  Ovidische 
Stellen  ausgedrückt,  Am.  III,  1,  25.  26  und  16: 
Materia  premis  ingenium:  cane  facta  virorum: 

Haec  animo,  dices,  area  digna  meo  est.  — 

0  argumenti  lente  poeta  tui. 
Um  eine  solche  Nachahmung  auszuspüren,  muste  er  freilich  den  *  schlech- 
testen Stoff'  ganz  absonderlich  fassen.  Aber  ist  es  denn  zu  verkennen, 
dasz ,  wenn  Goethe  die  Würde  des  Stoffes  im  Sinne  gehabt  halte,  er  dann 
nicht  die  Uebungen  >in  andern  Künsten,  sondern,  wie  Ovid,  tragische 
Stoffe  in  Gegensatz  dazu  gestellt  haben  würde?  Und  wäre  auch  wirklich 
das  Epigramm  im  Hellerschen  Sinne  zu  fassen ,  was  uns  der  Gipfel  der 
Ausdeutung  scheint,  warum  soll  der  Gedanke,  dasz  er  in  Venedig  leider 
mit  niedrigen,  seiner  unwürdigen  Epigrammen  seine  Zeit  vertreibe,  not- 
wendig aus  Ovid  stanimen!  War  etwa  Goethe  so  gedankenleer  und 
stumpf,  dasz  nicht  einmal  ein  solcher  nichts  weniger  als  bedeutender 
Gedanke  in  ihm  selbst  aufsteigen  konnte !  Aber  Heller  wird  noch  lächer- 
licher, wenn  er  in  Epigramm  48  die  launige  Aeuszerung,  er  werde  bald 
die  Könige  und  Grosaen  der  Erde  besingen ,  wenn  er  ihr  Handwerk  besser 
begreife,  die  aus  dem  Gegensatz  daselbst  notwendig  hervorgegangen,  aus 
dem  Ovidischen  cane  facta  virorum  herleitet,  obgleich  bei  den  römischen 
Dichtern,  Horaz  mit  eingerechnet,  der  Gegensatz  des- leichten  Liebesliedes 
zum  hohen  epischen  und  tragischen  Gesänge  so  ungemein  häufig  hervor- 
tritt, so  dasz  in  dieser  Beziehung  Goethe  freilich  eine  Erinnerung  an  jene 
Dichter  im  allgemeinen  vorschweben  mochte.  Damit  aber  ja  Goethe  aus 
jenem  Ovidischen  Distichon  alles  Mögliche  wie  die  Biene  aus  der  Blume 
gesogen  haben  soll,  musz  ihm  das  area  in  den  Versen  der  späten 
Elegie  Hermann  und  Dorothea  bei  dem  Lobpreise  Fr.  A.  Wolfs  vor- 
schweben , 

der,  endlich  vom  Namen  Homeros 

Kühn  uns  befreiend,  uns  auch  ruft  in  die  vollere  Bahn, 
"obgleich  seit  Klops tock  der  Vergleich  mit  der  Rennbahn  so  ungemein 
häufig  ist.  Allein  lür  Heller  ist  dies  die  völligste  Gewisheit,  da  er  Goe- 
the's  Verfahren  beim  Niederschreiben  seiner  Elegien  durchschaut  hat. 
'Unter  den  vielen  Merkwürdigkeiten  des  dichterischen  Schaffens  Goethe's 
ist  die  Abfassungsart  der  Gedichte  in  elegischem  Masze  eine  der  über- 
raschendsten/ Ja  die  von  Heller  ersonnene  ist  nicht  allein  überraschend, 
sondern  unbegreiflich ,  auch  in  Bezug  auf  die  Elegien.  Bei  diesen  aus  dem 
frischen  Leben  geflossenen ,  rasch  hervorströmenden  Spässen  soll  er  vor- 
her immer  in  das  Hellersche  Materialienbueh  geschaut  und  die  noch  nichl 
benutzten  Späne  hervorgesucht  haben ! ! 

Aber  solche  Späne  hat  er  auch  zu  seinen  spätem  Elegien  noch  be- 
nutzt, da  sie  anderwärts  noch  nicht  hatten  verwendet  werden  können. 
Was  Heller  in  dieser  Beziehung  über  die  Elegie  Euphrosyne  bemerkt, 
ist  der  Rede  gar  nicht  werta.  Hier  hat  er  wenigstens  Viehofs  Erklärung 
im  f Archiv'  benutzt;  dasz  dieser  und  der  Unterzeichnete  die  lyrischen 


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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte,  199 

Gedichte,  und  darin  auch  die  elegischen,  ausführlich  erläutert  haben, 
war  ihm  ein  Geheimnis.  Dasz  der  Anfang  der  Elegie  Amyntas  durch 
theokrit  veranlaszt  sei,  was  sich  unzweifelhaft  ergibt,  ist  ihm  entgangen, 
da  ihm  meine  Erläuterungen  unbekannt  waren,  worin  ich  zuerst  dies  be- 
merkt; dagegen  bringt  er  anderes  bei,  was  gar  nicht  zutrifft.  Die  darauf 
folgende  Vergleichung  der  abweichenden  Lesarten  der  Elegien  in  den 
(Horen9  hätte  sich  Heller  ersparen  können ,  wäre  ihm  nicht  unbekannt 
geblieben,  dasz  die  sämtlichen  Varianten  nicht  allein  des  ersten  Abdrucks, 
sondern  aller  Ausgaben  längst  vollständig  gegeben  sind.  Nur  die  ur- 
sprünglichen Lesarten  in  der  noch  vorhandenen  Handschrift  sind  bisher 
beinahe  ganz  unbekannt  geblieben.  Von  den  zwei  ausgelassenen  Elegien, 
der  zweiten  und  dritten ,  scheint  Heller  keine  Ahnung  zu  haben. 

Sind  wir  unserm  wunderliche«  Chorizonten  bisher  mit  Bedauern 
gefolgt,  so  ergreift  uns  bitterer  Unwille  über  die  Leichtfertigkeit,  womit 
derselbe  unsere  beiden  grossen  Dichter  seiner  leidigen  SpQrsucht  zu  Ge- 
fallen sich  gegenseitig  aufziehen  läszt.  Schiller's  Gedicht  die  Antike 
an  einen  Wanderer  aus  Norden  im  neunten  Stücke  der  'Hören' 
1795  soll  auf  Goethe,  und  namentlich  auf  seine  daselbst  im  sechsten 
Stücke  gegebenen  Elegien ,  gemünzt  sein.  Es  ist  dies  eine  der  plattesten 
Albernheiten.  Schiller  soll  seinen  treuesten  Mitarbeiter  an  den  'Hören', 
von  dessen  Beiträgen  er  alles  hoffte,  in  dessen  inniger  Freundschaft  er 
sich  beglückt  fühlte,  in  den  'Hören'  selbst  angezapft,  er  soll  auf  Elegien 
gestichelt  haben ,  die  er  doch  für  das  frischeste  Erzeugnis  der  Goethe- 
sc/mnMuse,  für  ein  wahres  Juwel  unserer  Litteratur  hielt,  er  soll  Goethe 
dk  Grobheit  ins  Gesicht  geschleudert  haben* 

Ewig  umsonst  umstrahlt  dich  in  mir  Joniens  Sonne ; 
Den  verdüsterten  Sinn  bindet  der  nordische  Fluch, 
er  soll  von  der  Antike  die  bittere  Frage  an  ihn  thun  lassen : 
Aber  bist  du  mir  jetzt  näher  und  bin  ich  es  dir? 
da  er  doch  bald  darauf  in  denselben  'Hören'  von  Goethe  drucken  liesz, 
in  ihm  wirke  die  Natur  getreuer  und  reiner  als  in  irgend  einem  andern, 
und  er  entferne  sich  unter  den  modernen  Dichtern  vielleicht  am  wenig- 
sten von  der  sinnlichen  Wahrheit  der  Dinge ,  da  er  doch  zu  derselben  Zeit 
ihm  persönlich  zugestand ,  dasz  es  ihm  in  hohem  Grade  gelungen ,  seine 
Anschauung  zu  generalisieren  und  seine  Empfindung  gesetzgebend  zu 
machen,  und  ihm  mehr  als  irgend  einem  der  Neuern,  griechischen  Geist 
zuschrieb.  Hätte  Heller  sich  nur  die  Mühe  genommen,  etwa  ViehofTs  Er- 
läuterung des  Gedichts  nachzuschlagen,  so  wäre  er  vor  solchem  unver- 
zeihlichen Irtum  bewahrt  geblieben.  Aber  er  häuft  einen  Irtum  auf  den 
andern,  meint,  Goethe  hätte  dem  Freunde  diese  Aeuszerung  nicht  übel 
nehmen ,  auch  im  schlimmsten  Falle  die  zu  den  'Hören1  zugesagten  Bei- 
träge nicht  füglich  zurückziehen  können ,  ohne  eine  Ahnung  von  der  ein- 
zigen Innigkeit  dieses  Bündnisses  zu  haben.  '  Und  welches  Misverständnis 
des  gar  nicht  zu  mißdeutenden  Gedichtes  verrät  sich  in  der  Aeusserung, 
Goethe  habe  fühlen  müssen ,  dasz  die  statuenartige  Nacktheit  der  Antike, 
welche  er  in  den  römischen  Elegien  zur  Schau  getragen,  sich  wieder 
unter  den   modernen  Gesellschaftsfrack  hatte  bergen  müssen?    Als  ob 


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200  Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte. 

irgend  von  der  Nacktheit  der  Antike  hier  eine  Andeutung  sich  fände? 
Zudem ,  fährt  Heller  fort ,  sei  immer  die  Deutung  auf  Winkelmann  offen 
geblieben.  Wenn  man  aber  die  'nordischen  Wanderer'  nennen  sollte,  auf 
welche  das  Gedicht  unmöglich  gehen  könne ,  so  wären  an  erster  Stelle 
gerade  Winckelmann  und  Goethe  aufzufuhren.  Der  Anfang  des  Gedichtes 
deutet  entschieden  auf  einen  Reisenden,  der,  ehe  er  nach  Italien  gekom- 
men ,  über  das  Meer  gefahren ;  Goethe's  Fahrt  nach  Sicüien  darauf  zu 
beziehen,  geht  schon  deshalb  nicht,  weil  dieser,  um  die  Antike  zu  sehn, 
nicht  erst  nach  Sicüien  überzufahren  brauchte.  Wenn  endlich  Heller 
meint,  die  acht  letzten  Verse  habe  Schiller  später  weggelassen,  um  die 
Beziehung  auf  Goethe  gänzlich  hinwegzuräumen ,  so  ist  dies  ein  leerer 
Einfall.  Wer  Schillert  Gedichte  kennt,*  weisz,  da'sz  er  von  den  in  das 
Jahr  1795  fallenden  die  allermeisten  bei  der  Aufnahme  in  die  Gedicht- 
sammlung bedeutend  abgekürzt  hat ,  um  die  Breite  derselben  zu  tilgen. 

Wie  Heller  Schiller's  Antike  auf  Goethe  deutet,  mit  demselben 
Leichtsinn  behauptet  er,  drei  der  in  Schiller's  Musenalmanach  abgedruck- 
ten Epigramme  habe  Goethe  auf  Schiller  gemünzt.  Die  Frage,  warum 
Goethe  diese  Epigramme  beim  Drucke  nicht  weggelassen ,  erledigt  er  auf 
leichte  Weise.  rIch  denke,  es  lag  so  etwas  nicht  in  Goethe's  Eigentüm- 
lichkeit. Ein  misbilligendes  Urteil  über  einen  Mann  oder  über  eine  frühere 
oder  spätere  Richtung  desselben,  möchte  er  später  noch  so  sehr  sein 
Freund  geworden  oder  es  früher  gewesen  sein,  glaubte  er  nicht  unter- 
drücken oder  vorenthalten  zu  dürfen.'  Woher  mag  denn  unser  Heller  wol 
diese  Eigentümlichkeit,  welche  Goethe's  Charakter  und  Verstand  schmäh- 
lich entstellen  würde,  erkannt  haben?  Etwa  aus  Goethe's  spätem  Aeusze- 
rungen  über  Schiller,  wo  er  berichtet,  dasz  ihm  Schiller's  Jugenddramen 
zuwider  gewesen?  Aber  diese  Bemerkung  forderte  dort  der  Zusammen- 
hang, und  Schüler  selbst  verwarf  diese  wilden  Ausbrüche  seiner  Jugeud. 
Ein  bitteres  Wort  gegen  einen  Freund  ohne  Not  drucken  zu  lassen,  einen 
solchen  Cynismus  der  Wahrheit  Goethe  zuschreiben  heiszt  nichts  als  sein 
edles  Bild  leichtfertig  verunglimpfen.  Und  welcher  Art  sind  die  Epigramme, 
welche  Goethe  gegen  Schüler,  den  innig  verbundenen  Freund,  in  dessen 
eigenen  Musenalmanach,  Heller's  Eingebung  zufolge ,  hat  drucken  lassen? 
(33)  Sämtliche  Künste  lernt  und  treibt  der  Künstler ,  zu  jeder 

Zeigt  er  ein  schönes  Talent,  wenn  er  sie  ernstlich  ergreift. 
Eine  Kunst  nur  treibt  er,  und  wül  sie  .nicht  lernen:  die  Dichtkunst. 

Darum  pfuscht  er  auch  so ;  Freunde ,  wir  habens  erlebt.  — 
(65)  Niemand  liebst  du,  und  mich,  Philarchus,  liebst  du  so  heftig. 

Ist  denn  kein  anderer  Weg,  mich  zu  bezwingen,  als  der?  — 
(78)  'Mit  Botanik  gibst  du  dich  ab?  mit  Optik?  Was  thust  du? 

Ist  es  nicht  schönrer  Gewinn,  rühren  ein  zärtliches  Herz?'  < — 
Ach,  die  zärtlichen  Herzen!  Ein  Pfuscher  vermag  sie  zu  rühren; 

Sei  es  mein  einziges  Glück,  dich  zu  berühren,  Natur! 
Goethe  müste  ein  Lump  und  ein  Narr  gewesen  sein,  wenn  er  so  etwas, 
von  dessen  Unwahrheit  er  schon  früher,  und  vor  allem  jetzt,  überzeugt 
sein  muste,  gegen  den  Freund  hätte  drucken  lassen.   Schiller  hat  sich 
nie  an  Goethe  angedrängt,  wie  sehnlich  er  auch  seine  Bekanntschaft 

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Goethe's  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte.  201 

wünschte;  ja  in  der  Zeit,  wo  er  auf  diese  besonders  hingewiesen  war, 
schrieb  er  die  freimütige  Beurteilung  des  Egmout  Vor  jene  Epigramme, 
die  frühestens  1790  entstanden,  fiel  die  persönliche  Bekanntschaft  beider. 
Schiller  war  schon  mit  seinem  Don  Garlos  hervorgetreten,  den  auch 
Goethe  unmöglich  als  Pfuscherei  bezeichnen  konnte;  seine  Götter  Grie- 
chenlands und  seine  Künstler  deuteten  gleichfalls  auf  die  entgegen- 
gesetzte Richtung.  Und  seit  1794  war  Goethe  überzeugt ,  dasz  sie  beide 
auf  dasselbe  Ziel  mit  gleichem  Ernst  hinsteuerten.  Hatte  Heller  nur 
irgend  eine  Ahnung  von  dem  wirklichen  Verhältnisse  gehabt  und  sich  die 
damalige  Litteratur  vergegenwärtigt,  so  würde  er  wol  gewust  haben, 
welche  ganz  andere  Leute  Goethe  bei  den  Pfuschern  im  Sinne  hatte.  Epi 
gramm  65  ist  ein  Gegenstück  zu  64,  und  schwerlich  auf  eine  bestimmte 
Person  zu  deuten.  Vor  solchen  Deutungen,  wie  die  Hellerschen,  verhüllen 
sich  deutsche  Gründlichkeit  und  Rechtlichkeit. 

Fragen  Sie,  verehrtester  Herr  Professor,  aber  zum  Schlüsse,  ob 
ich  denn  der  weitläufigen  Hellerschen  Abhandlung  gar  kein  Verdienst  zu* 
schreibe,  so  antworte  ich,  das  eines  groszen  belehrenden  Irtums. 
Auch  ist  es  mir  sehr  lieb,  dasz  Heller  ganz  von  Herzen  sich  über  die 
Sache  ausgesprochen,  und  wir  endlich  wissen,  worauf  denn  seine  schon 
im  Jahre  1861  verkündeten  Enthüllungen  beruhen.  Von  den  beigebrachten 
Parallelen  mögen  einzelne  ihren  Werth  haben,  kaum  eine  oder  die  andere 
von  ihm  zuerst  gegebene  wirft  auf  den  Dichter  und  die  Gedichte  selbst 
irgend  Licht.    Das  Meiste  steht  geradezu  auf  dem  Kopfe. 

Zu  dieser  Ausführung  sah  ich  mich  durch  meine  Kenntnis  der  Sache 
verpflichtet.  Leider  treten  in  der  Goethelitteratur  so  manche  unreife 
Erzeugnisse  zu  Tage,  denen  man  ihr  Treiben  legen  musz,  selbst  auf  die 
Gefahr  hin,  mit  dem  Vorwurfe  belohnt  zu  werden,  es  sei  einem  nichts 
rechL  als  was  man  selbst  gefunden  habe ,  oder  mit  andern  ahnlichen  von 
Pedantismus ,  Trockenheit ,  Vergötterung ,  die ,  wenn  sie  auch  der  Wahr- 
heit zuwider  laufen,  doch  bei  den  Unkundigen  ihres  Zweckes  nicht  ver- 
fehlen. Nur  genauestes  Erforschen  aller  noch  so  kleinlich  scheinenden 
Einzelnheiten  fördert  die  Wissenschaft.  Wer  könnte  hiervon  mehr  durch- 
drungen sein,  als  Sie?  Aber  bei  Goethe  und  Schiller  macht  sich  der 
Dilettantismus  breit,  daneben  sogenanntes  philosophisches  Gerede,  das 
sich  anmaszt  höher  zu  slehn  als  wirkliche  sorgfältige  Begründung ,  als 
ob  es  schwer  hielte,  wollte  man  sich  dazu  hergeben,  eben  so  leichtfertig 
zu  radotieren,  wie  jene  das  grosze  Wort  führenden  Herren.  Dasz  es 
nicht  so  leicht  sei  über  Goethe  zu  urteilen,  sondern  gründliche  und  um- 
fassende Kenntnis  dazu  gehöre,  davon  wird  auch,  denke  ich,  die  vorlie- 
gende Zurückweisung  eines  der  wunderlichsten  Misverständuisse  Zeugnis 
geben.  Sie,  hochverehrtester  Herr,  werden,  dieser  abgenötigten  Darstel- 
lung der  Wahrheit  gern  eine  Stelle  einräumen. 

Köln  am  31.  Dec.  1863.  Mit  ausgezeichneter  Hochachtung 

Ihr  ganz  ergebenster 
H.  Dünt&er. 


IC.  Jahrb.  f.  Phtl.  n.  PM.   II.  Abt.   1864.  Hft.  4.  14 

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202  Amor  und  Psyche. 

II. 

Amor  und  Psyche. 

Mit  Ausnahme  des  Hohenliedes,  jener  duftigsten  Blüte  des  Orients, 
gibt  es  vielleicht  keine  Schrift,  weder  in  alter  noch  in  neuer  Zeit,  die  so 
viele  verschiedene  Auffassungen  erfahren  hat,  als  die  Geschichte  von 
Amor  und  Psyche,  welche  wir  aus  den  Metamorphosen  des  Ap pu- 
le jus  kennen,  der  sie  wahrscheinlich  aus  griechischen  Quellen  (Aristo- 
phontes  u.  A.)  geschöpft  hat.  Es  mag  dies  einerseits  in  der  philosophisch- 
poetischen  Haltung  des  ganzen  Romanes  liegen,  den  man  etwa  teine 
Verheimlichung  der  Mysterien  bezüglich  ihres  moralischen  Einflusses'  nen- 
nen könnte,  und  auch  die  Mythe  selbst  erinnert  oft  genug  an  die  grie- 
chischen Mysterien  (man  denke  nur  an  die  in  allen  Weihungen  herschende 
heilige  Drei  und  vergleiche  damit  den  dreimaligen  Besuch  der  Schwestern, 
die  drei  Aufgaben,  welche  Psyche  auf  der  Erde  erhält,  die,  wie  die  drei 
Blendwerke ,  welche  sie  in  der  Unterwelt  verlocken  wollen ,  auch  sonst 
an  die  in  alle  Mysterien  gehörigen  Prüfungen  erinnern);  andrerseits  konnte 
bei  dem  nach  Form  und  Inhalt  abenteuerlich  verschlungenen  Märchen 
schon  der  Name  Psyche,  welcher  den  entpuppten  Schmetterling  und 
somit  die  von  den  Banden  des  Leibes  erlöste,  frei  sich  emporschwingende 
Seele  bezeichnete  (Aristot.  Hist.  Anim,  V,  c.  19.  Plut.  Symp.  II,  3,  636), 
in  Verbindung  mit  Amor,  dem  Gott  der  Liebe,  leicht  zu  der  Annahme 
führen ,  dasz  hinter  dem  Bilderschmucke  des  Märchens  eine  tiefsinnige 
Allegorie  verborgen  sei.  Ist  es  doch  überhaupt,  wie  irgendwo  S&hlegei 
sagt,  'eine  misliche  Sache,  ein  Märchen  Erwachsenen  vorzutragen.  Diese 
haben  meist  schon  zu  viel  im  Kopfe,  um  sich  einem  ganz  unbefangenen 
Spiele  der  Phantasie  hinzugeben.  Sie  können  sich  nicht  vorstellen,  dasz 
es  mit  dem  bioszen  einfältigen  Märchen  gethan  sei ;  sie  allegorisleren, 
sie  deuten  es ,  weil  sie  meinen ,  es  müsse  durchaus  noch  etwas  dahinter 
stecken.' 

So  wurde  denn  auch  hier  viel  allegorisiert  und  gedeutet.  Die  drei 
Töchter  z.  B.  sind  nach  Creuzer:  das  Fleisch,  der  freie  Wille  und  der 
Geist;  nach  Carus:  die  Bewustlosigkeit ,  das  Weltbewustsein  und  das 
Selbstbe wustsein.  Nach  Andern  werden  darunter  sogar  die  drei  Natur- 
reiche verstanden.  Thorlacius  (Opusc.  Acad.  1  339)  findet  in  der  Ge- 
schichte ein  Bild  von  den  Gefahren  der  ehelichen  Treue,  Hirt  (Abh.  der 
Berl.  Akad.  v.  1816)  und  nach  ihm  Bauer  (Symbolik  II  2,  234)  versteht 
unter  Psyche  die  menschliche  Seele ,  die  in  einem  Kerker  gebannt ,  von 
zwei  Eroten  (dem  oöpdvioc  und  dem  TrdvbrijLioc  —  Plat.  Symp.  VIII  4 
ed.  F.  A.  Wolf)  umgeben  istf  A.  G.  Lange  (verm.  Sehr.  u.  Red.  J832 
S.  142)  sieht  cin  Eros  den  Genius,  den  man  als  den  Weltschöpfer  be- 
trachtete ,  dein  die  Natur  unterthan  ist ,  der  die  Geister  und  die  Herzen 
bindet;  in  Psyche  die  menschliche  Seele,  wie  sie  durch  eigene  Schuld, 
durch  verderbliche  Leidenschaft,  Sinnlichkeit  und  Selbstsucht  von  jenem 
Verbände  der  Geisterwelt  losgerissen ,  mit  sich  selbst  entzweit,  doch  von 
Sehnsucht  nach  jenem  höchsten  Schönen ,  das  nur  in  Gott  ist ,  und  rin- 


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Amor  und  Psyche.  203 

geod  um  jeden  Preis  nach  dem  höchsten  Gute  des  innern  unvergänglichen 
Friedens  duldet,  arbeitet,  zagt,  hofft,  verzweifelt  und  durch  alles  dieses 
bewährt  und  geläutert  eingeht  in  den  Wohnsitz  der  ewigen  Götter ,  zu 
himmlischer  Verklärung/  Aehnlich  hat  schon  Herder  die  Mythe  aufge- 
faszt;  er  findet  in  der  Geschichte  der  Psyche  f  den  vielseitigsten,  zartesten 
Roman,  der  je  gedacht  ward,  über  den  schwerlich  etwas  Höheres  auszu- 
denken sein  möchte.'  Herrn.  Paldamus  dagegen  (Rom.  Erotik  S.  94  u. 
95)  vermag  wegen  der  Unwürdigen  Situation ,  in  der  die  Geschichte  er- 
zählt  wird,  wegen  des  unedeln  Charakters  der  Psyche  usw.  cin  dieser 
Fabel  nichts  als  ein  buntes  Härchen  zu  sehen,  in  welchem  eine  sarka- 
stische Tendenz  (die  Persiflage  der  weihlichen  Neugier)  unverkennbar  ist' 
und  macht  darauf  aufmerksam,  dasz  der  Name  Psyche  eben  so  sehr  an 
das  zu  Appulejus  Zeiten  besonders  gebräuchliche  'lascive'  Zwt\  Kai  Yuxfi 
(luv.  Sat  6  9  195)  erinnere. 

Welcher  Ansicht  nun  immer  man  sich  zuwenden  mag,  ob  man  darin 
eine  Geschichte  der  verirrten,  ringenden  und  endlich  wieder  zu  ihrem 
Urquell  zurückkehrenden  Seele  erblickt  oder  blosz  ein  buntes  Märchen 
ohne  tieCern  Sinn  und  weitem  Zweck  —  soviel  musz  wol  Jeder  zugeben, 
dasz  die  Geschichte  einen  ganz  eigentümlichen,  unwiderstehlich  fesseln- 
den Mi  hat,  und  so  ist  sie  denn  von  jeher  ein  Gegenstand  des  lebhaf- 
testen Interesses  gewesen  und  von  Dichtern,  Malern  und  Bildhauern  wie- 
derholt zur  künstlerischen  Darstellung  gebracht  worden. 

Leider  kenne  ich  von  den  verschiedenen  Bearbeitungen,  welche 
J.  Ch.  Elster  in  seiner  (lateinischen  und  deutschen)  Uindichtung  der 
'Fabel'  anführt,  nur  zwei:  die  von  Wieland  und  von  Ernst  Schulze. 
Der  übrigen  konnte  ich  aller  Nachforschungen  ungeachtet  nicht  habhaft 
werden.  Bekanntlich  liesz  Wieland  die  mit  groszer  Begeisterung  begon- 
nene Arbeit  später  liegen,  so  dasz  sie  Fragment  geblieben  ist.  Wenn 
aber  der  Spruch  ex  ungue  leonem  seine  Richtigkeit  hat,  so  würde  unter 
seiner  Feder  aus  dem  Märchen  —  schwerlich  zu  Gunsten  desselben  — 
etwas  ganz  Anderes  als  die  Erzählung  des  Appulejus  geworden  sein. 
Zwar  kennt  E.  Schulze  —  damals  ein  Jüngling  von  18  Jahren  —  nichts 
Höheres,  als  die  Eleganz  des  gefeierten  Wieland  ('Du  Meister  in  der  Kunst 
zu  malen,  Du,  dessen  Blicken  sich  die  Grazien  enthüllt,  0  Wieland  male 
jetzt  des  Liebesgottes  Bild!*  usw.),  unstreitig  aber  hat  er  sein  Vorbild, 
von  welchem  er  enur  einen  Ton  der  süszen  Harmonie'  sich  verliehen 
sehen  möchte,  an  Zartheit  und  Anmut  bei  weitem  übertrafen.  Ist  seine 
Bearbeitung  auch  nicht  überall  frei  von  dem  nachteiligen  Einflüsse  des 
damaligen,  eben  durch  Wieland  verbreiteten  Geschmackes  (z.  B.  fMan 
honte  damals  noch  der  Treue  süsze  Pflicht,  In  keinem  Wörterbuch  stand 
schon  das  Wort  Kokette;  Und  wenn  man's  drin  geseh'n,  ich  wette, 
Es  wäre  Närrin  übersetzt9  usw.),  so  ist  sie  doch  wieder  so  reich  an 
heblichen  Schilderungen  und  empfiehlt  sich  durch  einen  so  melodischen 
Zauber  der  Sprache,  dasz  ich  es  mir  nicht  versagen  kann,  wenigstens 
eine  Stelle  der  reizenden,  wenig  mehr  gelesenen  Dichtung  hier  mitzu- 
teilen: 

14* 


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204  Amor  und  Psyche. 

Betäubt  vom  wonnigen  Genusz 
Sank  in  des  Siegers  Arm  die  Schöne.  • 

Ein  süszes  Schmachten  folgt.  Nur  leise  Liebestöne 
Und  mancher  sanftgeraubte  Kusz 
Verkünden  ihre  Lust.   Wie  eine  reine  Quelle 
Vom  Felsenhang  sich  schäumend  niedergieszt, 
Doch  plötzlich  wieder  sanft  durch  ihre  Ufer  flieszt 
Und  nur  zuweilen  noch  aufhüpfend  mit  der  Welle 
Des  Randes  Blumen  netzt ,  so  schmolz  der  Wonne  Glüh'n 
In  süsze  Ruh'.   0  welche  Seligkeilen 
Empfand  Psycharion !    Ein  neues  Leben  schien 
Sich  reizend  vor  ihr  auszubreiten, 
Ein  schön'res  Leben ,  wo  ein  ew'ges  Frühlingsgrün 
Der  Seele  lacht ,  wo  in  dem  Strom  der  Zeiten 
Die  Jahre  wol ,  doch  nie  die  Freuden  flieh  n, 
Wo  nie  der  heit're  Aether  trübe 
Und  nie  die  Flur  verödet  ist, 

Wo  man  so  schnell  das  Leid ,  doch  nie  die  Lust  vergiszt, 
Das  Leben  der  beglückten  Liebe. 
Was  die  Bearbeitung  von  Elster  betrifft,  die  'nach  Art  der  bekannten 
Mythe  vom  Raube  der  Kora'  episch  gehalten  ist,  so  hat  der  Verfasser 
sich  'die  Freiheit  genommen ,  einige  Scenen  eigner  Erfindung  einzulegen 
und  einige  passende  Mythen  von  neuem  einzuführen.'  So  wird  im  zwei- 
ten Buch  die  Geschichte  von  Diana  und  Endymion  eingeflochten ,  im  drit- 
ten wird  an  die  Stelle  des  Thurmes ,  der  bei  Appulejus  Psyche  belehrt, 
wie  sie  den  Gefahren  der  Unterwelt  entgehen  könne,  Mercur  gesetzt;  in 
das  fünfte  wird  die  Mythe  von  Porös  und  Penia  (Plat.  Symp.  XXIII  5  ed. 
Fr.  A.  Wolf)  verwebt  u.  s.  f.  Die  Form  der  lateinischen  Bearbeitung 
ist  gefällig,  die  Hexameter  flieszend,  so  dasz  man  sie  auch  wegen  dieser 
Vorzuge  mit  Vergnügen  liest.  Weniger  gelungen  ist  die  deutsche  Über- 
setzung, welche  sich  häufig  nicht  zu  der  Höhe  eines  nrsprüuglich  deut- 
schen Gedichts  erheben  will.  Es  liegt  eben  auch  in  dem  Märchen  des 
Appulejus  ein ,  wenn  ich  so  sagen  darf,  romantisches  Element ,  das  dem 
classischen  Hexameter  nicht  ganz  günstig  erseheint ,  wiewol  eine  Probe 
von  der  Umdichtung  eines  Ungenannten  in  Wolfs  poetischem  Hausschatz 
(1844  S.  676)  für  die  gegenteilige  Ansicht  spricht.  Beispielshalber  lasse 
ich  die  schönen  Schluszverse  folgen : 

Zephyr,  der  freundliche  Gott,  er  war  es,  von  Eros  gesendet. 
Leis  umfaszt  er  das  Weib  und  sanft  am  Felsen  hinunter 
Gleitend  trug  er  ins  Thal  in  weichen  Armen  die  Holde. 
Schmeichelnd  küszl  er  die  Wang'  ihr;  dann  läszt  auf  blumigen  Rasen, 
Unten  im  dämmernden  Schatten  des  Thals,  er  nieder  das  Mädchen: 
Alles,  wie  ihm  geheiszen,  vollbracht'  er,  dann  schwebt  er  von 

dannen. 
Aber  die  Jungfrau  ruht  am  Fusz  der  schirmenden  Eiche. 
Und  mit  labendem  Weh'n  entgleitet  Schlummer  den  Schatten, 
Schlieszet  leis  ihr  Aug*  und  löst  ihr  die  Heblichen  Glieder. 


Amor  und  Psyche.  205 

Wie  denn  auch  sei  —  als  ich  vor  mehreren  Jahren  zum  ersten  Male 
das  phantasiereiche,  farbenprächtige  Märchen  näher  kennen  lernte, 
fühlte  ich  mich  von  dem  zauberischen  Dufte  dieser  Wunderblume  in  dem 
Grade  entzückt,  dasz  ich  nicht  umhin  konnte,  den  Versuch  zu  machen, 
sie  auf  deutschen  Boden  zu  verpflanzen.  Es  schienen  mir  dabei  die  selt- 
sam wechselnden  Scenen  und  Bilder  auch  eines  gewissen  Wechsels  der 
Einkleidung  zu  bedürfen,  und  so  webte  sich  mir,  wie  die  Blumen  zu 
einem  bunten  Teppich,  gleichsam  von  selbst  Lied  an  Lied,  bald  in  die- 
sem, bald  in  jenem  Ton  und  Rhythmus  —  ähnlich  wie  inFouque"s 
poetischer  Erzählung  fDie  Eroberung  von  Norwegen9  oder  in  TegneVs 
Frithiofssage.  Erst  später  lernte  ich  die  oben  genannten  Umdichtungen 
kennen ,  und  somit  hat  meine  Bearbeitung  wenigstens  das  Verdienst  ganz 
selbständig  zu  sein.  Bezüglich  des  Inhaltes  habe  ich  wenig  geändert,  hie 
und  da  höchstens  etwas  erweitert  oder  verkürzt,  wie  es, eben  die  Form 
eines  lyrischen  Epos  zu  fordern  schien ,  meine  Nachdichtung  sollte  ein 
treues  Abbild  der  Erzählung  des  Appulejus  sein,  auf  die  Gefahr  hin  auch 
seine  Fehler  zu  teilen.    Was  den  Versbau,  namentlich  den  Reim,  an-  ' 

langt ,  so  werden  Kritiker  Manches  darin  finden ,  was  sie  nach  den  heut- 
zutage wol  allzu  hoch  gespannten  Anforderungen  verurteilen  müssen. 
Doch  hatte  mein  bescheidenes  opusculum  das  Glück,  trotz  dieser  Mängel, 
von  zwei  deutschen  Dichtern ,  Joseph  von  Eichendorffund  Justi- 
nus  Kerner  sehr  anerkennend  beurteilt  zu  werden,  und  vielleicht  mag 
auch  die  kecke  Freiheit  der  Märchenform  gewisse  Licenzen  des  Stiles 
entschuldigen.  Uebrigens  habe  ich  mir  seitdem  selbst  in  der  Handhabung 
des  Reimes  engere  Kreise  gezogen,  ohne  mich  so  zu 'beschränken,  wie  es 
viele  unserer  jetzigen  Kritiker  wollen,  denen  auch  Uhland's  Autorität 
in  dieser  Hinsicht  nicht  mehr  genügt  Sed  jam  ultra  depsydram,  quod 
dicitur.  En,  ipsa  carminis  quaedam  specimina!  Tu  vero,  candide  lector, 
fave  hisce  versiculis  qualibuscunque! 


I. 

Die  Königstochter. 

Es  war  in  einem  Land  ein  Konig  — 
Mit  Allen  leichtlich  streiten  möcht'  er 
An  Glanz,  doch  gegen  seine  Töchter 
Galt  all  sein  Schatz  ihm  klein  und  wenig. 

Und  zweie'  von  den  Töchtern  schienen, 
Ob  schön,  doch  ird'schem  Lob  erreichbar; 
Die  jüngste  strahlt1  ein  unvergleichbar, 
Göttlich  Gebild  an  Wuchs  und  Mienen. 

Es  war,  als  ob  in  ihr  Gythere, 
Die  sanft  vom  Wellenthau  umflossen 
Dem  blauen  Meeresschoosz  ensprossen, 
Mit  Menschen  sichtbarlich  verkehre. 


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206  Amor  und  Psyphe. 

Und  freudig  scholl's  von  Mund  zu  Munde, 
Wie  jetzt  beglückt  die  Erde  trage 
Das  schönste  Wunder  aller  Tage  — 
und  weit  und  weiter  drang  die  Kunde. 

Und  statt  zu  Cypria  zu  beten 
Wollt*  Alles  nun  die  Jungfrau  ehren ; 
Mit  Opfergaben,  Kränzen,  Chören 
Sah  man  das  Volk  vor  sie  nur  treten. 

In  Paphos,  in  Cythera  stunden, 
In  Guidos  leer  der  Gottin  Tempel  — 
Der  Schönheit  glorreichstes  Eiempel 
Allein  in  Psyche  schien  gefunden. 


V. 

Die  Vermählung. 

Auf  blühender  Au 

Benetzt  vom  Tbau 

Die  Holde  lag  in  Schlummer, 

Und  da  sie  erwacht 

Vom  Traume  sacht, 

Getröstet  war  rar  Kummer.     • 

So  sonnig  die  Luftf 

So  womig  der  Duft* 

Im  Haine  luftig  rauschet 

Und  blinket  heil 

Ein  silberner  Quell  — 

Sie  steht  und  schaut  und  lauschet. 

Sieh!  dort  erhebt 

Ein  Schlosz  sich  und  strebt 

Hinauf,  wo  die  Lüfte  blauen ; 

Nicht  Menschenfleisz, 

Nur  Göttergeheisz 

Vermochten  solch  Schlosz  zu  bauen. 

Von  Edelgestein 

Untf  Elfenbein 

Der  Kuppel  Wölbung  blitzet: 

In  güldenem  Glanz 

Der  Säulen  Kram 

Den  Bau  umschlinget  und  stützet. 

Gethier  und  Wild 
Im  buntesten  Bild 


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Amor  und  Psyche.  207 

Die  Wände  zieret ,  die  reinen ; 

Das  Estrich  strahlt 

Vielfältig  bemalt 

Von  flimmernden,  schimmernden  Steinen. 

Von  Golde  der  Saal, 

Die  Kammern  zumal, 

Die  Hallen,  dje  Worten  von  Golde, 

Sie  leuchten  als  ob 

Die  Sonne  darob 

Ihres  Lichtes  sich  schämen  sollte. 

Und  rechts  und  links 

Wie  blinket  rings, 

Wie  blendet  der  Schätze  Gefunkel! 

Rubin  hier  lacht, 

Dort  glitzern  Smaragd, 

Demant,  Hyacinth  und  Karfunkel! 

Und  Psyche  zagt 

Und  staunet  und  wagt 

Doch  endlich  hinein  sich,  dreister, 

Und  um  sie  flirrt's 

Und  flinunert's  und  wirrt's 

Wie  webende,  schwebende  Geister. 

Es  grflszt  so  traut 

Mit  süszem  Laut  — 

Unsichtbare  Stimmen  flüstern  — 

Und  wie  es  lockt, 

Der  Odem  ihr  stockt 

Und  stürmet,  so  bange,  so  lüstern. 

Es  grüszt  so  traut: 

'Du  süsze  Braut, 

Und  willst  du  nicht  ruh'n  auf  dem  Mühfe? 

Es  ladet  so  fein 

Zum  Schlummern  ein 

Des  Abends  labende  Kühle. 

Wie'n  duftiger  Traum 

Weht's  durch  den  Raum 

Hit  süszen ,  schmeichelnden  Hauchen  — . 

Die  Welle  schwillt 

So  zärtlich,  so  mild  — 

Willst  drein  die  Glieder  nidht  tauchen? 


Und  siehst  du,  wie  hier 
In  festlicher  Zier 


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208  Amor  und  Psyche. 

Die  Tafel  Früchte  besetzen? 

Es  perlet  50  rein 

Im  Glase  der  Wein  — 

Und  willst  du  nicht  dran  dich  erletzen?9 

Und  sfisz  verwirrt 

Die  Bezauberte  irrt 

Und  weisz  nicht  was  sie  erküre, 

Ob  dem  schwellenden  Pfühl, 

Ob  der  Welle  so  kühl, 

Ob  den  Früchten  der  Vorzug  gebühre. 

Und  weil  sie  noch  wählt 

Und  sinnt  und  sich  quält, 

Da  sind  ihr  die  Sinne  zerronnen  : 

Es  schlieszet  zur  Ruh' 

Das  Auge  sich  zu 

Von  Schlummers  Fäden  umsponnen 

Sie  träumet  und  ruht; 

Es  schäumet  die  Fluth, 

Und  heftiger  tönt  ihr  Geräusche 

Und  wecket  sie  bald  — 

Und  die  Wog'  umwallt 

Liebkosend  die  Brust  ihr,  die  keusche. 

Den  süszen  Leib 

Das  herrliche  Weib 

In  den  kühligen  Fluthen  badet, 

Dann  setzt  sie  sich  frisch 

Und  frei  an  den  Tisch, 

Der  mit  würzigem  Dufte  sie  ladet. 

Und  isset  und  trinkt  — 

Und  horch!  es  erklingt 

In  Tönen,  bald  leisen,  bald  kecken, 

Zur  Flöte  Gesang 

Und  Zitherklang  — 

Wo  mag  sich  der  Sänger  verstecken? 

Wohin  sie  auch  schickt 

Das  Aug',  sie  erblickt 

Nicht,  dem  sich  die  Töne  entschwingen; 

Aus  Luft  gewebt, 

Der  Luft  entschwebt 

Erhebt  sich  das  Klingen  und  Singen. 

Das  Spiel  verstummt;  — 
In  Nacht  vermummt 


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Amor  und  Psyche.  209 

Die  Hallen  liegen,  die  langen; 

Lautlos  die  Nacht : 

Die  Jungfrau  wacht 

Und  zittert  in  bangem  Verlangen. 

Horch!  lind  und  ieis 

Ein  Ton!   Und  heisz 

Und  kalt  durchrinnt's  ihr  die  Glieder. 

*WiIlst  ruh'n  bei  mir, 

Süsz  Liebchen,  hier? 

Dich  lieb'  ich  —  und  liebst  du  mich  wieder?' 

Und  wollustig  traut 

Liebflüsternder  Laut 

Und  Küssen  und  Kosen  und  Kosten  — 

Und  wie  er  kam, 

Der  Bräutigam 

Enteilt  —  und  es  dämmert  im  Osten. 


XII. 

Das  entschleierte  Geheimnis. 

Einsam  trauert  Psyche  und  alleine, 

Doch  im  Busen  Furiengewühl ; 

Ob  ihr  auch  mit  schaurig  hellem  Scheine 

Winkt  das  festgesteckte  blut'ge  Ziel : 
Wie  die  Welle  wankt 
Dennoch  sie  und  schwankt 

In  der  streitenden  Gefühle  Spiel. 


Was  sie  keck  jetzt  eilt ,  verschiebt  im  nächsten 
Augenblicke  wieder  scheue  Wahl  — 
Wie  sie  wagt!  erzittert!  wie  zum  höchsten 
Gipfe)  wachsend  steigt  des  Herzens  Qual! 

In  demselben  Leib 

Haszt  das  arme  Weib 
Ach!  das  Unthier  und  —  liebt  den  Gemahl. 


Doch  wie  mählig  nun  der  Abend  sinket 
Hat  sie  in  dem  heiszen  Kampf  gesiegt : 
Und  die  Lampe  strahlt,  das  Messer  blinket  — 
Und  die  Nacht  ist  da :  in  Schlaf  gewiegt, 

Dem  noch  süszen  Spiel 

In  die  Arm'  er  fiel, 
Schon  der  Gatte,  tiefer  athmend,  liegt. 


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210  Amor  und  Psyche. 

Sachte  richtet  bald  sich  auf  die  Wache, 
Zitternd  sie  den  Odemzügen  lauscht  — 
Und  dann  rasch  empor!  Die  sonst  so  Schwache 
Scheinet  jetzt  von  wilder  Kraft  berauscht; 

Sie  ergreift  den  Stahl 

Und  das  Licht  zumal  — 
All  ihr  Wesen  ist  wie  umgetauscht. 

Zu  der  That  sie  schreitet  ohne  Säumnis  — 
Aber  wie  beim  ersten  Strahl  des  Lichts 
Aufgehellt  erscheinet  das  Geheimnis, 
Sieht  sie  —  ach !  sie  sieht ,  und  siebet  nichts  — 

Kaum  dem  Aug'  sie  traut, 

Wie  sie  ruhend  schaut 
A  m  o  r '  n  glaazumstrahlten  Angesichts. 


Todtenbiasz  sinkt  auf  die  Kniee  die  Arme, 
Gegen  ihre  Brust  den  Stahl  gekehrt  — 
Doch  ob  es  der  Schönheit  sich  erbarme, 
Gleitet  aus  der  Hand  das  fromme  Schwert. 

Also  schreckenmüd 

Sie  vor'm  Bette  kniet, 
All  ihr  Sinn  zerschlagen  und  verstört. 


Aber  wie  sie  dann  die  göttlichschönen, 
Himmlischhellen  Züge  öfter  schaut, 
Fühlet  in  der  Brust  ein  weiches  Tönen, 
Milden  Frieden  fühlt  die  Götterbraut. 

Wie  die  Wang'  ihm  blüht 

Purpurüberglüht! 
Wie  das  Haupt  ihm  von  Ambrosia  thaut! 


Wie  der  Locken  lieblich  Wogen  schweifet 
Um  des  liljenweiszen  Nackens  Saum! 
Wie  sich ,  sanft  von  Perlenthau  bereifet, 
Um  die  Schultern  schmiegt  der  Schwingen  Flaum! 

Wie  der  Athem  mild 

Seinem  Mund  entquillt! 
Wie  er  lächelt,  als  in  losem  Traum! 


Also  liegt  er  linde  hingegossen, 
Ros'ge  Gluth  den  zarten  Leib  durchhaucht, 
Wie  der  schönsten  Göttin  er  entsprossen, 
Ist  in  Schönheit  ganz  er  selbst  getaucht  — 

Und  am  Bett  umher 

Blinkt  des  Gottes  Wehr, 
Erst  zu  süszen  Wunden  noch  gebraucht. 


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Amor  und  Psyche.  211 

Aufgelöst  in  seliges  Beschauen 
Staunet  sie  —  und  so  in  trunknem  Spiel 
Greift  sie  nach  den  Pfeilen  >  ohne  Grauen, 
Deren  gflldner  Sehein  dem  Aug>  gefiel. 

Doch  der  Pfeil,  gespitzt, 

Leicht  den  Finger  ritzt, 
Dasz  ein  rother  Tropfen  niederfiel. 

Vollends  nun  zum  Liebesgott  in  Liebe 
Ist  ihr  wonnetaumelnd  Herz  entbrannt, 
Und  mit  lechzend  wolktstheiszem  Triebe 
Küsset  Mund  sie  ihm  und  Stirn  und  Hand; 

Dasz  er  nicht  erwacht, 

Hat  sie  kaum  noch  Acht, 
Ganz  durchlodert  von  der  Flammen  Brand. 


Aber  ach  in  ihres  Herzens  Wallen 
Wanket  sie  und  —  ob  von  Neid  verführet? 
Ob  der  Lampe  selbst  der  Gott  gefallen, 
Dasz  sie  ihn  zu  küssen  Sehnsucht  spürt?  — 

Ach  sie  zittert,  bebt  — 

Und  ein  Tropfen  schwebt 
Und  des  Schlafers  rechte  Schulter  rührt 


Arge  Lampe,  keckste  aller  kecken  1 
Dasz  dich  treffe  ew'ge  Dunkelheit! 
Must  noch  deines  Herren  Leib  beflecken, 
Da  du  sein  Geheimnis  schon  entweiht? 

Du,  die  Menschenhand 

Bildend  nur  erfand, 
Bringst  dem  Gotte,  ach,  solch  Herzeleid!  — 

Aus  dem  Schlaf  geschreckt  vom  Lager  hebet 
Der  Gebrannte  sich  in  raschem  Sprung  — 
Sieht  den  Treubruch  trauernd  und  entschwebet 
Schweigend  himmelan  in  leichtem  Schwung. 

Aber  mit  ihm  fliegt 

Psyche,  angeschmiegt 
In  verzweifelter  Umklammerung. 

Doch  nicht  lang  kann  sie  sich  schwebend  halten 
Und  sie  sinkt  zur  Erde  müd  und  matt  — 
Und  ist  Amor  ihr  auch  ungehalten, 
Dennoch  ward  er  ihrer  noch  nicht  satt: 

Schnell  vom  hohen  Raum 

Zum  Gypressenbaum 
Fliegt  er,  wo  ihn  decket  Blüth1  und  Blatt. 


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212  Amor  und  Psyche. 

Und  er  klagt  in  schmerzenvollem  Tone : 
*Gute  Psyche ,  ach  du  weist  es  nicht, 
Wie  ich,  dir  zu  leih'n  die  Götterkrone, 
Schwer  verletzte  meine  Sohnespflicht. 

Paphia,  ergrimmt, 

Hatte  dir  bestimmt 
Zum  Gemahl  den  allerschlecht'sten  Wicht. 


Aber  ich ,  zur  Rache  ausersehen, 
Ward  statt  Rächer  —  Bräutigam  vielmehr. 
Ach,  jetzt  büsz*  ich  leider  mein  Vergehen, 
Büsze  meine  heisze  Liebe  schwer. 

Der  sonst  Andre  schosz, 

Ach,  ich  selbst  genosz 
Meiner  Pfeile  Schmerzen  nur  zu  sehr. 


Ja,  zur  Gattin  must'  ich  dich  erkiesen, 
Dasz  ich  dir  ein  Ungethüm  erschien', 
Dasz  du  mit  dem  scharfen  Messer  diesen 
Nacken  trennen  wollt'st  vom  Haupte  kühn! 

Und  ich  warnte  dich 

So  herzinniglich! 
Doch  gehorchte  nicht  dein  blöder  Sinn. 


Aber  jene  falschen  Ratherinnen, 
Deren  frevle  Zunge  dich  bethört, 
Meiner  Rache  soll'n  sie  nicht  entrinnen! 
D  i  r  sei  meine  Nähe  nur  verwehrt !'  — 

Sprach's  und  sich  entschwang  — 

Und  die  Hände  rang   r 
Psyche ,  noch  den  Blick  nach  ihm  gekehrt. 


Aber  höher  hub  er  sich  und  höher; 
Bis  sein  holdes  Bild  ihr  ganz  entschwand, 
Und  im  Herzen  ward  ihr  weh  und  weher, 
Und  sie  stürzt  sich  von  des  Ufers  Rand  — 

Doch  der  Strom  mit  Lust 

Nimmt  sie  an  die  Brust, 
Trägt  hinüber  sie  zum  Blumenstrand. 

Heinrieh  Stadelmann. 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen.  213 

Berichte  aber  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  statistische 
Notizen,  Anzeigen  von  Programmen, 

(Fortsetzung  von  S.  168.) 


Die  von  den  Abiturienten  bearbeiteten  Themata  zum  deutschen 
Aufsatz  waren  folgende: 

1.  Braunsberg.  1)  Ob  wol  die  Hoffnung  für  den  Menschen  auch 
eine  Quelle  von  Uebeln  sein  könne?  2)  Res  adversae  admonent  reli- 
gionis. 

2.  Gulm.  1)  Welche  Bedeutung  haben  die  Worte:  'Mit  Gott  für 
König  und  Vaterland?/  2)  Welche  Gedanken  werden  in  mir  rege  bei 
dem  Ausruf:  'Was  wird  die  Zukunft  bringen?' 

3.  Danzig.  Inwiefern  kann  man  die  Dichter  Lehrer  der  Mensch- 
heit nennen? 

4.  Deutsch-Crone.  'Was  verlangt  die  Wissenschaft  von  ihrem 
Jünger?'  Reflexionen  eines  Jünglings,  der  sich  der  Wissenschaft  wid- 
men will. 

6.  El  hing.  1)  Welches  sind  die  Ursachen  der  Todesfurcht? 
2)  Nicht  der  ist  auf  der  Welt  verwaist,  |  Dessen  Vater  und  Mutter 
gestorben;  |  Sondern  der  für  Herz  und  Geist  |  Keine  Lieb1  und  kein 
Wissen  erworben.    Rückert. 

6.  Gumbinnen.    Der  Uebel  größtes  ist  die  Schuld. 

7.  Hohenstein.  1)  Alles  Grosze  in  der  Weltgeschichte  ist  von 
Einzelnen,  nicht  von  der  Masse,  ausgegangen.  2)  Um  welche  Zweige 
der  Litteratur  hat  Lessing  sich  vornehmlich  verdient  gemacht? 

8.  Insterburg.  1)  Non  omnia  apud  priores  meliora.  2)  Quod 
adest  memento  componere  aequus. 

9.  Königsberg,  a)  Altstadt.  Gymn.  1)  Welche  Bedeutung  hat 
für  das  Wol  und  die  Würde  des  Menschen  seine  Arbeit?  2)  Held  und 
Dichter. 

b)  Friedrichs  -  Collegium.  1)  In  dir  ein  edler  Sclave  ist,  dem  du 
die  Freiheit  schuldig  bist.  2)  Die  Werthschätzung  des  menschlichen 
Lebens:  wodurch  dieselbe  bewirkt,  erhöht,  verringert  werden  könne. 

c)  Kneiphöfisches  Stadt-Gymnasium.  1)  Hoffnung  und  Mäszigung, 
euch  verehr1  ich  auf  einem  Altäre,  [Jene  nur  wecket  die  Kraft,  diese 
nur  sichert  den  Sieg.  (Nach  Herder.)  2)  Und  ich  weisz  nicht,  was 
es  frommt,  |  Aus  der  Welt  zu  laufen.  |  Magst  du,  wenns  zum  Schlimm- 
sten kommt,  ]  Auch  einmal  dich  raufen«    Goethe. 

'10.  Konitz.  'Mens  sana  in  corpore  sano',  der  beste  aller  irdi- 
schen Wünsche. 

11.  Lyck.  1)  Warum  sind  so  Viele  mit  ihrer  Lage  unzufrieden? 
2)  Ein  edler  Mensch  kann  einem  engen  Kreise  |  Nicht  seine  Bildung 
denken;  Vaterland  |  Und  Welt  musz  auf  ihn  wirken.  Ruhm  und  Tadel  | 
Musz  er  ertragen  lernen.  Sich  und  andern  |  Wird  er  gezwungen  recht 
zu  kennen.  Ihn  |  Wiegt  nicht  die  Einsamkeit  mehr  schmeichelnd  ein.  | 
Es  will  der  Feind  —  es  darf  der  Freund  nicht  schonen;  |  Dann  übt 
der  Jüngling  streitend  seine  Kräfte,"]  Fühlt  was  er  ist  und  fühlt  sich 
bald  ein  Mann. 

12.  Marienwerder.  Königl.  Gymn.  1)  Wie  erwirbt  man  sich 
Vertrauen?  2)  Ein  rechter  Baum,  der  seine  guten  Früchte  trägt,  f 
Der  wünscht  nicht  seine  Blüte  sich  zurück,  |  Und  wem  ein  männlich 
Herz  in  seinem  Busen  schlägt,  |  Seufzt  nicht  mit  Wehmut  nach  der 
Kindheit  G\jjck. 

13.  Rastenburg.  1)  Woher  kommt  es,  dasz  sich  die  Menschen 
durch  das  Unglück  Anderer  so  selten  warnen  lassen?    2)  Der  werde 


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214  Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  stallst.  Notizen. 

nie  von  dir  erlesen,  |  Der  nie  sein  eigner  Freund  gewesen.  |  Wer  blosz 
sein  eigner  Freund  gewesen,  j  Der  werde  nicht  von  dir  erlesen. 

14.  Thorn.  1)  Welche  Berechtigung  hat  neben  der  sittlichen  und 
der  wissenschaftlichen  Ausbildung  die  körperliche  und  die  gesellschaft- 
liche? 2)  Läszt  sich  in  den  homerischen  Gedichten  und  dem  Nibelun- 
genliede die  Verschiedenheit  der  Völker  und  Himmelsstriche,  unter 
welchen  diese  Dichtungen  entstanden,  an  bestimmten  Kennzeichen 
nachweisen? 

15.  Tilsit.  Dem  Unglück  ist  die  Hoffnung  zugegeben,  Furcht  soll 
das  Haupt  des  Glücklichen  umschweben,  denn  ewig  wanket  des  Ge- 
schickes Wage. 

Die  von  den  Abiturienten  bearbeiteten  Themata .  zum  lateinischen 
Aufsatz  waren  folgende: 

1.  Braunsberg.  1)  Alcibiadem  in  rebus  gerendis  cupiditatjbus 
magis  quam  patriae  commodis  inservisse.  2)  Virgilianum  illud:  fTu 
ne  cede  malis,  sed  contra  audentior  ito'  quibus  maxime  temporibus 
Romani  re  comprobaverint,  historiae  teste  docetur. 

2.  Culm.  1)  Rebus  adversis  fortium  virorum  animos  non  vinci  sed 
augeri  rebus  Romanorum  et  Graecorum  probetur.  2)  Poetae  yirtutis 
praecones  sunt. 

3.  Danzig.  Aristides  Atheniensis  quibus  rebus  de  patria  sna  et 
de  universa  Graecia  bene  meruerit,  exponatur. 

4.  Deutsch-Crone.  Quo  jure  illud  dictum  sit:  Cedant  arma  to- 
gae,  concedat  laurea  laudi. 

6.  Elbing.  1)  Darius  *ex  quas  res  ante  bellum  Persicum  gesse- 
rit,  exponatur.  2)  M.  Furium '  Camillum  merito  alterum  Romulum  esse 
appellatum. 

6.  Gumbinnen.  Aristotelis  illud:  Oö  iravxdc  dvopöc  cp^peiv  ctixu- 
Xiav  illustretur  exemplis  ex  rerum  graecarum  et  romanarum  historia 
delectis. 

7.  Hohenstein.  1)  Quam  mobilis  sit  aura  popularis  exemplis  ex 
Totere  memoria  petitis  demonstretur.  2)  Saepe  tueri  bona  quam  pa- 
rare  difficilius  fuisse  ex  populorum  annalibus  demonstretur. 

8.  Insterburg.  1)  Solon  et  Lycurgus  inter  se  comparantur.  2) 
Cicero  et  Demosthenes  inter  se  comparantur. 

9.  Königsberg,  a)  Altstadt.  Gymn.  1)  Hippias  Athenis,  Roma 
Tarquinius  expulsus.    2)  De  Agrippa  et  Maecenate. 

b)  Friedrichs-Collegium.  1)  Quibus  civium  virtutibus  magna  facta 
sit  respublica  Romana?  2)  De  Horatio  antiquae  yirtutis  Romanae  lau- 
datore. 

c)  Kneiphöfisches  Stadt- Gymnasium.  1)  Num  recte  dixerit  Solon, 
neminem  ante  mortem  dici  posse  beatum.  2)  Quo  animo  cives  ingra- 
tae  patriae  injurias  ferre  deceat. 

10.  Konitz.  In  Sulla  secuta  est  honestam  causam  non  honesta 
victoria. 

11.  Lyck.  1)  Öur  Caesar  in  Gallia,  terra  magna  et  frequenti, 
vincenda  nunquam  visus  est  esse  timore  affectus,  ad  Rubiconem  hae- 
sitans  substitit?  2)  Quibus  rebus  impediti  Graeci  in  unam  quandam 
civitatem  coalescere  non  potuerunt? 

12.  Marienwerder.  Königl.  Gymn.  1)  Mithridates  felieitate  Bul- 
lae, yirtute  Luculli,  magnitudine  Pompeji  debilitatus  et  fractus  est. 
2)  De  admirabili  senatus  populique  Romani  in  rebus  adversis  fortitu- 
dine  et  constantia. 

13.  Rastenburg.  1)  Quibus  maxime  rebus  factum  sit,  ut  loci 
natura  et  moribus  disjuncti  Graeci  continerentur.  2)  De  Thrasybulo 
libertatis  Athenarum  vindice. 

14.  Thorn.  1)  Quam  vim  locorum  natura  in  res  GraeHorum  publi- 
cas  exercuerit,  exponatur.    2)  Quomodo  factum  est,  ut  Athenienaium 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten  ,  Verordnungen ,  staust.  Notizen.  215 

expeditio  Sieiliensis  et  ipsa  irrita  esset  et  longe  majori«  calamitatis 
causa  fieret? 

16.  Tilsit  Bis  ex  eodem  municipio  salutem  orbi  imperioque  Ro- 
mano esse  missam. 

Provinz  Westphalen  1863. 

1.  Arnsberg].  Zum  Ersatz  für  den  als  Oberlehrer  an  das  Gymna- 
sium zu  Rheine  berufenen  Gymnasiallehrers  Dr.  Temme  trat  als  pro- 
visorischer Lehrer  der  Candidat  Schillings  in  das  Collegium  ein,  der 
bisher  am  Gymnasium  zu  Culm  mit  der  Erteilung  mathematischen,  phy* 
sikalischen  und  französischen  Unterrichts  betraut  gewesen  war.  Der 
Candidat  Wittler,  der  sein  gesetzliches  Probejahr  beendet  hatte,  er- 
teilte Aushülfe.  Der  bisherige  wissenschaftliche  Hülfslehrer  Dr.  Brie- 
den  wurde  als  fünfter  ordentlicher  Lehrer  definitiv  angestellt.  Lehrer- 
kollegium: Director  Dr.  Ho  egg,  die  Oberlehrer  Pieler,  Kautz,  Lay- 
mann,  die  Gymnasiallehrer  Noeggerath,  Dr.  Schürmann,  Hake 
(zugleich  Religionslehrer),  Schillings  (pro vis.),  Dr.  Brieden,  techn. 
Lehrer  Harturfg,  Candidat  Wittler,  evang.  Religionslehrer  Pfarrer 
Bartelsmann.  Schtilerzahft  226  (I  33,  II  68,  III  61,  IV  33,  V  21,  VI  80). 
Abiturienten:  18.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine  Abhandlung 
des  Directors  Dr.  Ho  egg:  De  aliquot  Horatii  carminibus  commentatio. 
20  S.  4.  Non  tarn  id  egi,  ut.nova  proferrem,  quam  ut,  quae  recte  a 
viris  doctis  disputata  vidsrentur,  probarem,  interpretationes  contra  mi- 
nus idoneas  conjecturasqüe  infirmas  refutarem.  Die  behandelten  Stel- 
len sind:  I  1;  2,  35—40;  7. 

2.  Bielefeld].  Gymnasium  und  Realschule.  In  dem  Lehrercolle- 
gium  traten  im  Laufe  des  Schuljahrs  folgende  Aenderungen  ein.  Als 
Lehrer  trat  ein  Cr  am  er;  mit  Neujahr  trat  Oberlehrer  Bertelsmann 
in  Ruhestand;  zu  Ostern  trat  ein  Candidat  Meier,  definitiv  angestellt 
wurde  Lehrer  Reibstein.  Lehrercolleginm :  Director  Dr.  Schmidt, 
Prof.  Hinzpeter,  Prof.  Jüngst,  Oberl.  Collmann,  G.-L.  Rüter, 
Wortmann,  Dr.  Lüttgert,  Dr.  Rosendahl,  Cramer,  Reibstein, 
Schröter,  katholischer  Religionslehrer  Pfarrer  Plant  holt,  Candidat 
Meier.  Schülerzahl  des  Gymnasiums:  159  (I  6,  II  14,  III  40,  IV  20, 
V  62,  VI  37),  der  Realschule:  68  (I  1,  H  11,  III  32,  IV  24).  Abitu- 
rienten: 11  (vom  Gymnasium)  und  3  (von  der  Realschule).  Den  Schul- 
nachrichten geht  voraus  eine  Abhandlung  des  Dr.  Lüttgert:  Mytholo- 
gie, Glauben,  Cultus  der  Griechen  und  Römer,  vom  Standpunkte  des  Chri- 
stentums aus  betrachtet.  26  S.  4.  Der  vorliegende  Aufsatz,  ursprüng- 
lich ein  Vortrag  zum  Besten  des  Gustav- Adolph- Vereins  gehalten,  hat 
den  Zweck,  solche  Leser  zu  belehren,  die  mit  den  Resultaten  der  my- 
thologisch-antiquarischen Forschung  unbekannt  sind.  Es  ist  dem  Ver- 
fasser darum  zu  thun,  in  der  Religion  der  Alten,  die  in  die  drei  Be- 
griffe der  Mythologie,  des  Glaubens  und  des  Cultus  zerlegt  ist,  die  ur- 
sprüngliche Offenbarung,  also  die  Aehnlichkeit  zwischen  der  christlichen 
Religion  und  ihrem  heidnischen  Gegenbilde  nachzuweisen,  also  dem 
Gottesbewustsein  in  den  heiligen  Sagen  der  Alten,  ihren  Gottesdiensten 
usw.  nachzugehen. 

3.  Bbilon].  Gleich  nach  dem  Beginn  des  Schuljahrs  trat  der  Can- 
didat des  höhern  Schulamts  Berthold  als  prov.  Lehrer  in  das  Colle- 
gium ein,  wodurch  die  Lücke  wieder  ausgefüllt  wurde,  welche  durch 
den  Austritt  des  jetzigen  Oberlehrers  Peitz  zu  Büren  entstanden  war. 
Der  Gymnasiallehrer  Weber  erhielt  die  nachgesuchte  Quiescierung; 
für  dessen  Stelle  ist  der  geistliche  Schulamtscandidat  Mette  gewonnen. 
Lehrercollegium:  Director  Dr.  Schmidt,  die  Oberlehrer  Becker,  Dr. 
Kudolphi,  Dr.  Kirchhoff,  die  Gymnasiallehrer  Leinemann, 
Franke,  Dr.  Kemper,  Berthold,  Harnischmacher,  Mette. 
Schülerzabl:  273  (I  67,  II  84,  III  56,  IV  26,  V  23,  VI  17).    Abiturien- 


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216  Berichte  Aber  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  staust.  Notizen. 

ten:  21.  —  Ben  Schalnachrichten  gehen  voraas:  Bemerkungen  des 
Oberlehrers  Becker  über  die  pr&videntieUe  Bedeutung  der  Stadt  Alexan- 
dria. 16  -S.  4.  Die  Aufgabe ,  welche  sich  der  Verfasser  gestellt  hat, 
besteht  in  der  Beantwortung  der  Frage:  Welche  Dienste  sollte  das  von 
Alexander  in  Aegypten  erbaute  Alexandrien  späterhin  dem  Christentum 
leisten  nach  den  Rathschlüssen  der  göttlichen  Vorsehung.  Um  diese 
Frage  beantworten  zu  können,  macht  er  zuvor  klar,  was  Alexandria 
war  während  der  drei  ersten  Jahrhunderte  seiner  Gründung  bis  zu  der 
Zeit,  wo  der  Evangelist  Markus  von  Rom  her  kam  und  zuerst  in  Ale- 
xandria den  Samen  des  Christentums  ausstreute.  Dieses  wird  nach  den 
drei  Seiten  hin  im  Einzelnen  betrachtet:  Alexandria  war  1)  die  gröste 
Handelsstadt  der  damaligen  Welt;  2)  Sitz  der  Wissenschaften  und 
Sammelplatz  aller  Gelehrsamkeit;  3)  Sitz  eines  philologischen  und  re- 
ligiösen Synkretismus,  der  in  der  Geschichte  ohne  Beispiel  sein  dürfte. 

4.  Bübgstbinfuat].  Das  Lehrercollegium  des  Gymnasiums  Arnol- 
dinum, besteht  aus  folgenden  Mitgliedern:  Director  Ro>dewald,  die 
Oberlehrer  Heuermann,  Kysaeus,  Schütz,  Klostermann,  die 
Gymnasiallehrer  Orth,  Dr.  Kleine,  Viefhaus,  Da  Banning,  -die 
Hülfslehrer  Dr.  Es ch mann,  Lefholz,  Candidat  Natorp.  Schäler- 
zahl (den  Classen  I — IV  gehen  4  Realclassen  parallel) :  107.  Abiturien- 
ten des  Gymnasiums:  4,  der  Realschule:  3.  Den  Schulnachrichten  geht 
voraus  eine  Abhandlung  des  Oberlehrers  Schütz:  Ueber  Segurs  hi~ 
stoire  de  Napple*on  et  de  la  grande  arme'e  p^ndant  l'anne'e  1812.  1  TL 
34  S.  4.  Der  Verfasser  erzählt  zuerst  das  Leben  und  die  litterarische 
Wirksamkeit  Segurs,  führt  dann  die  bedeutenderen  Werke  über  den 
russischen  Feldzug  auf,  die  vor  Se'gur  erschienen,  berichtet  über  die 
Kritiken,  die  Segur  erfuhr,  am  ausführlichsten  und  feindlichsten  von 
Gourgand,  vergleicht  dieselben  mit  dem  Werke  Segurs,  charakterisiert 
dasselbe  nach  seiner  formellen  und  materiellen  Bedeutung  und  wendet 
sich  im  2.  Abschnitt  zur  Prüfung  des  historischen  Gehalts.  Die  Fort- 
setzung soll  in  einem  späteren  Programm  erscheinen. 

5.  Corsfbld].  Mit  dem  Beginne  des  Schuljahrs  übernahm  Dr. 
Wennemer,  bisher  Lehrer  an  dem  Coli egium  Augustinianum  zu  Gaes- 
donk,  die  durch  den  Tod  des  Oberlehrers  Dr.  Teipel  erledigte  dritte 
Oberlehr  erstelle,  die  demselben  einstweilen  provisorisch  auf  ein  Jahr 
übertragen  war.  Der  Schulamtscandidat  Bockhorst  beendigte  sein 
Probejahr.  Die  interimistische  Fortführung  des  durch  den  Tod  des 
Zeichnenlehrers  Marschall  unterbrochenen  Unterrichts  übernahm  der 
Gymnasialgesanglehrer  Koch.  Lehrercollegium:  Director  Prof.  Dr. 
Schlüter,  die  Oberlehrer  Prof.  Rump,  Hüppe,  Dr.  Wennemer 
(prov.  geistl.  Oberlehrer);  die  ordentlichen  Gymnasiallehrer  Oberlehrer 
Buerbaum,  Bachoven  von  Echt,  Esch,  t)r.  Huperz,  Dr.  Sche- 
rer, wiss.  Hülfslehrer  Dr.  Lenfers,  evangel.  Religionslehrer  Hofpre- 
diger Dr.  Boelitz,  Gesanglehrer  Koch,  Schulamtscandidat  Terbrüg- 
gen.  Schülerzahl:  129  (1*  16,  Ib  16,  II»  21,  Ilb  14,  IH«  17,  III»»  12, 
IV  16,  V  8,  VI  10).  Abiturienten:  12.  —  Eine  wissenschaftliche  Ab- 
handlung ist  dem  Jahresbericht  nicht  beigegeben. 

6.  Dortmund],  Gymnasium  und  Realschule  I.  Ordnung.  Der  Re- 
ligionslehrer Pfarrer  Kerlen  gieng  ab;  an  seine  Stelle  trat  Pfarrer 
Köhler.  An  Stelle  der  Kapläne  Schiigen  und  Manegold  traten 
die  Kapläne  Schulte  und  Gödde.  Gymnasiallehrer  Jenner  gieng 
an  die  höhere  Bürgerschule  zu  Solingen.  Quinta  wurde  in  2  Cötus  ge- 
teilt, in  Folge  dessen  zwei  neue  Lehrerstellen  gegründet  sind;  so  tra- 
ten als  Lehrer  und  Hülfslehrer  ein  Cand.  Radebold  von  der  höhern 
Bürgerschule  zu  Schwelm,  Cand.  Dr.  Sachs  und  Cand.  Schmidt. 
Sexta  soll  auch  in  zwei  Cötus  geteilt  und  eine  neue  Lehrerstelle  ge- 
gründet werden.  Der  Bau  des  neuen  Gymnasialgebäudes  ist  begonnen. 
Lehrercollegium:  Director  Dr.  Hildebrand,  die  Oberlehrer  Dr.  B,öh- 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  staust.  Notizem  217 

me,  Voigt,  Dr.  Gröning,  Dr.  Junghaus,  Varnhagett,  Schramm, 
die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Natorp,  Wez,  Radebold,  Dr.  Sachs, 
ßokohl,  Mosebach,  die  Hülfslehrer  Bode,  Schmidt,  evangelische 
Religionslehrer  Pf.  P rühmer  und  Köhler,  katholische  Religionsleh- 
rer  Probst  Wiemann,  Capläne  Schalte  and  Gödde.  Schälerzahl: 
323  (I  23,  II  14,  UI  29,  IV  82,  V  66,  VI  65,  Ir  5,  Ilr  18,  Illr  26, 
IV r  46).  Abiturienten  des  Gymnasiums:  12,  der  Realschale:  1.  —  Die 
wissenschaftliche  Abhandlang  fehlt. 

7.  Güeteesloh].     Gymnasium.     Dr.  Renner  trat  als  Hülfslehrer 
ein.    Lebrercollegium :  Director  Dr.  R u m p e  1 ,  die  Oberlehrer  Schatt- 
ier, Scholz    I,   Dietlein,   die    Gymnasiallehrer   Dr.   Petermann, 
Scholz  II,  Muncke,  Dr.  Vorreiter,  Goecker,  Hülfslehrer  Pastor 
Braun,  Röttig,  Dr.  Renner.    Schülerzahl:  187  (I  43,  II  46,  III  32, 
IV  24,  V^3,  VI  19).    Abiturienten:  5.  —  Den  Schulnachrichten  geht 
voraus  eile  Abhandlung  des  Director  Dr.  Kumpel:   Ueber  Wesen  und 
Bedeutung  des  Wunders.    26  S.    4.     (Ursprünglich  ein  Vortrar  in  der 
Versammlung  des  Gustav-Adolph  -Vereins  zu  Bielefeld  gehalten!)    Wun- 
der, definiert  der  Verfasser,  sind  besondere  Thaten  und  Werke  Gottes 
als  besondere  "und  ausz erordentliche  Offenbarungen  des  lebendigen  all- 
mächtigen Gottes,   um  den  Glauben  im  Menschen  zu  erwecken  und  zu 
stärken,  um  überhaupt  das  Reich  Gottes  auf  Erden  zn  gründen,  zu  er* 
halten,  zu  fördern  und  auszubreiten.    Der  persönliche  Glaube  ist  schon 
ein  Wunder,   eine  auszerordentliche  Offenbarung  Gottes  im  Menschen« 
Dayon  sind  die  Wunder  der  heiligen  Schrift  dem  Wesen  nach  nicht 
verschieden.     Die  Wunder   sind   normal,    sie   geschehen    überall,   wo 
lebendiger  Glaube  vorhanden  ist.    Die  Ueb  erwindun  g  der  Feinde  des 
Christentums  im  Laufe  der  Geschichte  ist  ein  deutliches  Wunder.    Das* 
aber  die  Wunder  nicht  ungleich  mehr  gewirkt  haben,  das  kommt  daher, 
dasz  man  nachher  ihr  inneres  Wesen  ignoriert  uud  die  Thatsachen  als 
aas  der  natürlichen  Kraft  des  Menschen  hervorgegangen  ansieht;   in 
das  Geheimnis  des  Wunders  werden  nur  die  eingeweiht,  welehe  daa 
Geheimnis   des  Glaubens   kennen,     Die  Leugnung  der  Wunder  hängt 
zusammen  mit  der  Leugnung  des  persönlichen  Gottes.    Ganz  nichtig  ist 
der  Einwurf  gegen  die  Wunder,  dasz  durch  dieselben  die  von  Gott  ge- 
gebenen Naturgesetze  umgestoszen  würden;  greift  doch  jeder  Mensch 
stündlich  in  die  Naturgesetze  ein,   ohne  dasz  sie  gestört  werden.    Die 
Einwendungen  gegen  die  Wunder  gehen  auch  nicht  vom  Verstände  aus, 
sondern  vom  Willen.    Sie  sind  seiner  Zeit  auch  vorgebracht  gegen  das 
Wunder  der  Franckeschen  Stiftungen.    Ein  ähnliches  groszes  Wunder 
ist  in  unseren  Tagen  die  Erneuerung  des  christlichen  Glaubens,  die 
dadurch  hervorgerufenen  Werke.    Es  ist  aber  verkehrt,  in  der  Not  auf 
Gottes  Wunder  rechnen  und  die  Hülfe,  die  er  auf  ordentlichem  Wege 
in  unserer  Kraft  oder  des  Andern  Beistand  darbietet,  verschmähen  zu 
wollen;  auch  die  natürliche  Ordnung  ist  Gottes  Werk. 

8.  Hamm].  Das  Lebrercollegium,  in  welches  der  nene  Lehrer 
Weiand  eintrat,  bilden  folgende  Mitglieder:  Dir.  Dr.  Wendt,  Prof. 
ßempel,  Prof.  Dr.  Stern,  Oberl»  Dr.  Schnelle,  die  Gymnasiallehrer 
Dr.  Heraus,  Oberl.  Hopf,  Dr.  Reidt,  Dr.  Behrns,  Brenken, 
Weiand,  evang.  Religionsl.  Pf.  Platzhoff,  kath,  Religionsl.  Caplan 
Trippe.  Schülerzahl:  174  (I  11,  H  21,  IH  86,  IV  24,  V  30,  VI  52). 
Abiturienten:  6.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine  Abhandlung 
des  G.  L.  Dr.  Reidt:  Themata  zu  mathematischen  Arbeiten  für  Schüler. 
24  S.    4. 

9.  Hbbpobp],  An  die  Stelle  des  Gymnasiallehrers  Nieländer,  der 
nach  Landsberg  gieng,  trat  Arendt.  Die  Leitung  der  neu  eröffneten 
Vorschule  übernahm  Norrmann  von  Berlin;  Religionslehrer  Pastor 
Kleine  schied  aus.    Lehrercolleginm:  Dir.  Dr.  Wulfert,  die  Oberl. 

N.  Jahrb.  f.  Phll.u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  4.  15 


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218  Bericht*  iber  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen. 

?ik>&  Df\  Hälseher,  Dr.  K noch e,  Dr.  Mark  er,  die  Gymnasiallehrer 
©tri,  Dr*  Fab er ,  Arendt,  Haase,  e.vang.  Religionslehrer  Deck. 
Heising,  Norrmann.  Schülerzahl:  129  (I  11,  H  14,  IH  27,  IV  24, 
V  26,  VI  28).  Abiturienten:  5.  —  Den  Schulnaehrichten  geht  voraus 
eine  Abhandlung  des  Oberlehrer  Dr.  Knoche:  Untersuchungen  über  det 
Prokluf  Dwdottos  Gommentar  zu  Euklid1  e  Elementen.  22  S.  4.  .Der  Cem- 
njentar  des  Proeins  zum  ersten  Buch  des  Euklid  ist  seit  der  edit 
princ,  der  Heryagiana  von  1533,  nicht  wieder  gedruckt;  den  Text  be- 
zeichnet der  Verfasser  als  verdorben  und  lückenhaft.  Eine  lateinische 
Uebersntzung  erschien  1560  von  Fr.  Barooius  zu  PadUa,  werthvoll  durch 
die,  zugefügten  Figuren;  die  Lücken  der  Hervagiana  hat  Barecius  nicht 
'  ergänzt  (bis  auf  eine),  und  seine  Ha*,  sind  daher  ebenfalls  mangelhaft 
gewesen  oder  er  hat  mit  der  Berufung  auf  dieselben  die  Leser  ge- 
täuscht. Die  Schreibart  des  Proclua  ist  oft  von  ermüdender  Breite. 
Sein  Werk  ist  hauptsächlich  Cbmpüation  und  für  die  Gescnichte  der 
Mathematik  in,  dieser  Hinsicht  nicht  unwichtig,  er  hat  aber  auch  eigene 
Zusätze  geliefert,  die  sieh  nachweisen  lassen.  Die  Bedeutsamkeit  der 
Schrift  istt  aber  nicht  in  ihrem  mathematischen,  sondern  in  ihrem  philo- 
sophisch-theologischen Teile  zu  suchen;  die  mathematischen  Grundbe- 
griffe seilten  ihm  nur  für  seine  philosophischen  Deduetionen  dienen, 
daher  hat  er  die  CT©*x*ia  später  nicht  fortgesetzt. 

IQ.  Mjhpkn].  Gymnasium  und  Realschule.  An  die  Stelle  das  ver- 
storbenen Director»  Wilms  trat  Dr.  Gandtner  vom  Gymnasium  zu 
Greifswald»  Lehrercollegium:  Director  Dr.  Gandtner,  die  Oberlehrer 
Zirllmer,  Dr«  Dornheim,  JDtr.  Güthling,  Schütz,  Haupt,  die 
Gymnasiallehrer  Quapp,  Freytag,  Dr.  Grosser,  Meyerheim, 
jt-niebe,  Candida*  Klöne,  kath.  Religionslehrer  Pastos  Dieckmann. 
Schüteraahl:  268.  (I  9,  II  22,  III  &9,  IV  19,  V  61,  VI  31,  Ir  8,  II r  21, 
IHr  3,7,  IV r  31).  Abiturienten:  2.  —  Den  Schulnachrichten  geht  vor- 
aus %  JDte  Elemente  der  analytischen  Gemometrie,  für  den  Schulunterricht 
bearbeitet.    Von  Director  Dr.  Gandtner.    44  S.    8. 

11.  MirstffTsa}.  Mit  dem  Anfange  des  Schuljahres  verliesz  die 
Anstalt  Dr.  Grosfeld,  um  als  Director  die  Leitung  des  neu  errichte- 
ten Gymnasiums  au  Rheine  zu  übernehmen.  In  die  durch  dessen  Aus- 
scheiden erledigte  ordentliche  Lehrerstelle  wurde  der  erste  Oberlehrer 
am  Gymnasium  zu  Kempen,  Dr.  Bo.hle,  berufen.  Mit  dem  Anfange 
des  Schuljahres  verlies&en  ferner  die  Anstalt,  die  bisherigen  Candddaten 
Horstman,  um  zu  Vreden,  Berthold,  um  zu  Brilon,  Broekhues, 
um  zu  Essen  als  Hülfsiehret  einsutreten.  Gandidat  Dr.  Offenbeck 
trftt  mit  dem  Anfange  des  Schuljahres  als  aushelfender  Lehrer,  die 
Kandidaten  Dur.  Hechel  mann  und  Gudermstn*  zur  Abhaltung  de» 
Probejahres»  bei  der  Anstalt  ein.  Die  bisherigen  Hülfslehrer  Worm- 
$iß,k\  Um4  Hülsenbeek.  wurden  zu  ordentüehen  Lehrern  ernannte 
Den  Hülfslehrer  Dr.  Kern  per  verlor  die  Anstalt  durch  den  Tod.  Die 
Oberlehrer-  Dr.  Fuisting  und  Lau  ff  sind  zu  Professoren  ernannt,  wor- 
dene I^efoerenllegium:  Dir.  Dr.  Schultz,  die  Professoren  Welt  er, 
Dr*  Bon  er,  Dr.  Fuisting,  Lauf f,  die  Oberlehrer,  Dr.. Mid de ndorf, 
kölscher,  Dr,  Schipper,,  Dr.  Grüter,  Hesker,  Dr.  Offenberg, 
die  Gymnasiallehrer  Dr.  Salzmann,.  Löhker,  Prof.  Dr.  H$sius, 
Dr.  Tücking,  Oberi.  $r.  Bohle,  DrÄ  Schmorbuseb,  Halbeisen, 
V^ormstaiU  Suis  enb  eck,  Bisping  (Gesang),  Auling  (Zeichnen), 
-Pfarrer  I^ütt^.e\  (a.vang,  Religiottsie.hr er),  Dr.  Dfyekhoff,. Dr..  Focke, 
Dr.  Offenbeck,  die  Candidaten  Stahlschmidt,  Lucas,  Krasz* 
$r.  Hechelm,ann,  Gudersaann.  Schüierza&b  677  (I*  50.,  I*  64, 
H»  79,  IIb  76*  HI»  110,  IIIb  32,  IV  61,  V  81,  VI  15,  überall  Abteilung 
i  und  2)..  Abiturienten:  59..  —  Dem  Jahresbericht  ist  vorausgeschickt 
eine  AbJ*andtung  vo&  dem  Qftertahfter  Dr«  Schippen:  Die  Aufwandt, 
bei  den  alten  Gidechen.    14  S.    4..    Gegenstand  der  Betrachtung  ist,  den 


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J»fÄ*teüber  gelehrte  Anstalten  *  Verordnungen,  Statist.  Notizeö.  21 d 

Ursprung  der  Autonomie,  ihre  allgemeine  Anerkennung  und  ihre  eln- 
fluszreiche  Geltang  bei  den  Hellenen  nachzuweisen. 

12.  Padebbobn].  Dem  ersten  Oberlehrer  Prof,  Dr.  Lessmann  ist 
auf  sein  Nachsuchen  die  Versetzung  in  den  Rahestand  Bewilligt  wor- 
den. Die  Candidaten  Schallau  and  Luke  traten  das  gesetzliehe 
Probejahr  an.  Die  erledigte  erste  Oberlehrerstelle  wurde  durch  -Artf~ 
rücken  der  Oberlehrer  und  durch  Beförderung  des  dritten  ordentlichen 
Lehrers  Dr.  Otto  zum  6«  Oberlehrer  Wieder  besetzt;  die  nachfolgenden 
ordentlichen  Lehrer  rückten  in  die  nächsten  Stellen  auf  und  die  8. 
ordentliche  Lehrerstelle  wurde  dem  Hülfslehrer  Hövel mann  verliehen« 
Die  zweite  Hülfslehrerstelle  wurde  dem  Candid.  Dr.  Hester  verliehen. 
Den  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Gundolf  verlor  die  Anstalt  dureh  den  Tod. 
Lehrercollegium:  Director  Professor  Dr.  Ahlemeier,  die  Oberlehrer 
Schwubbe,  Dr.  Fe'aux,  Bäumker,  Dr.  Wernecke,  Dr.  Otto,  die 
ordentlichen  Lehrer  Oberlehrer  Dieckhoff,  Schuth,  Dr.  Oiefers, 
Grimme,  Dr.  Volpert,  Hörlrng,  Hülsenbeek,  Hövelmann, 
Böttner  (evang.  Kel.),  die  Hülfslehrer  Dr.  Tenekhoff,  Dr.  Hester, 
die  Candidaten  LÖns,  Dt,  Grautegein,  Gesangl.  Spanke,  Schel- 
fere (Zeichnen  u.  Schreiben).  Schülerzahl:  507  (I«  63,  Ib  50,  II*1  28, 
II«*  27,  IIb*  32,  11*^29,  in«1  36,  III««  34,  III»»  63,  IV  42,  V  56, 
VI  53).  Abiturienten:  60.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine 
Abhandlung  vom  Oberlehrer  Dr.  Fe'aux:  Üeber  Dreiecks 'Zeichnungen* 
20  S.    4. 

13.  Rbckjlinghausen].  Das  Lehrercollegium,  in  welchem  im  ver- 
flossenen Schuljahre  eine  Veränderung  nicht  stattgefunden  hat,  bilden: 
Director  Dr.  Hölscher,  die  Oberlehrer  Prof.  Oaspers,  Hohoff, 
Puning,  die  ordentlichen  Lehrer  Undinck,  Dr.  Nelkens,  Banck, 
Dr. Richter,  Cand.  Stelkens,  Feldmann  (Gesang),  Busch  (Zeich- 
ne?). Schülerzahl:  140  (I  42,  II  31,  III  26,  JV  12,  V  12,  VI  IT). 
Abiturienten:  22.  —  Eine  wissenschaftliehe  Abhandlung  ist  nicht  bei- 
gegeben. 

14.  Soest],  Dr.  Wetzel  trat  als  Probelehrer  ein,  der  evang. 
Religionsl.  Pf.  Daniel  geht  ab;  für  eine  neue  Lehrstelle  ist  Cändidat 
Dr.  Hoche  aus  Zeitz  berufen.  Lehrercollegium:  Director  Dr.  Jor- 
dan, die  Oberlehrer  Professor  Koppe,  Dr.  Duden,  Vorwerck,  die 
Gymnasiallehrer  Sohenok,  Steinmann,  Dr.  Legerlotz,  Grone- 
meyer,  Cand.  Dr.  Wetzel,  katholischer  Heligionsl.  C aplan  Hasse. 
Scflülerzahl:  216  (I  21,  H  29,  in  40,  IV  44,  V  46,  VI  36).  Abiturien- 
ten: 10.  —  t)en  Schulnachricnten  geht  voraus  die  Abhandlung  des  Dr. 
Legerlotz:  Die  sogenannte  epische  Dehnung  und  Verkürzung  bei  Homer. 
20  S.  4.  Auch  im  Schulunterricht,  sagt  der  Verfasser,  dürfe  nicht  die 
irrige  Vorstellung  aufkommen,  als  sei  der  epische  Dialekt  eine  durch 
Dichterwillkür  aus  dem  Atticismus  geschaffene  Sprache;  der  Schüler 
müsse  erkennen,  dasz  gerade  für  die  älteste  Zeit  die  Annahme  einer 
besonders  stärken,  wenn  auch  organischen  Umgestaltung  der  Sprache 
am  mindesten  statthaft  sei.  Nicht  ästhetische,  noch  metrische  ■  noch 
musikalische  Rücksichten  hätten  die  angebliche  Dehnung  und  Verkür- 
zung hervorgerufen;  jene  Wandlungen  seien  vielmehr  nach  bestimmten 
Gesetzen  geschehen,  die  erst  durch  Vergleichung  anderer  Idiome  er- 
kannt sind.  Dieselben  will  der  Verfasser  in  einer  spätem  Abhandlung 
nachweisen. 

15.  WabehöobfJ.  Der  Schulamts  -  Cändidat  Zumlob  trat  ein,  um 
das  vorgeschriebene  Probejahr  abzuhalten.  Der  Cand.  prob.  Kemper 
blieb  nach  Ablauf  seines  Probejahrs  als  Hülfslehrer  an  der  Anstalt 
thätig.  Lehrercollegium:  Director  Dp*  Lucas,  die  Oberlehrer  Dr. 
Combrinek,  Banse,  die  ordentl.  Lehrer  Dr.  Hillen,  Dr.  Peltzer, 
Dr.  Erdtmann,  Theissing,  Frese,  die  Hülfslehrer  Dr.  Ooebbel, 
Kempen,    Cändidat  Zum  loh,   Helmke   (Zeichnen  und   Sehreihen), 

15* 


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220  Berichte  über  gelehrte  Anstalten*  Verordnungen,  Statist«  Notiieiu 

Pfeiffer  (Gesang).  Schülerzahl!  292  (I»  60,  I»»  47,  II*  25,  H>>  50, 
III«  29,  IIIb  23,  IV  23,  V  25,  VI  10).  Abiturienten:  44.  —  Den  Schul- 
nachrichten  gebt  voraus  eine  Aahandlung  des  wissensch.  Hülfslehrers 
Dr.  Goebbel:  De  Theocriti  Idyll.  I.  II.,  Bionis  Epitaphü  Adonidis, 
Moschii  Epitaphü  Bionis,  Virgilii  Eclogae  VIII,  ratione  strophica. 
30  S.    4. 

Themata  der  Abiturientenarbeiten  für  den  deutschen  Aufsatz. 

1.  Arnsberg.  1)  Nichts  ist  dem  Geiste  süszer  als  das  Licht  der 
Wahrheit.    2)  Grosze  Männer  gehören  allen  Zeiten  und  Völkern. 

2.  Bielefeld.  1)  Wodurch  ist  Schiller  der  Lieblingsdichter  des 
deutschen  Volkes  geworden?  2)  Hoffnung  und  Furcht  in  ihrem  heil- 
samen Einflusz  auf  den  Menschen. 

3.  Brilon.  fDem  Guten  nur  sind  seine  Güter  wahrhaft  gut;  Ein 
Quell  des  Unheils  werden  sie  dem  Bösen.' 

4.  Burgstein  fürt.  Vergleich  des  peloponnesischen  und  dreiszig- 
j ährigen  Kriegs  nach  Ursachen,  Verlauf  und  Folgen. 

5.  Coesfeld.    rLust  und  Liebe  sind  die  Fittige  zu  groszen  ThateiL* 

6.  Dortmund.  Augustus  Verdienste  um  die  Wolfahrt  des  Römer- 
reichs. 

7.  Gütersloh.  1)  Was  ist  von  dem  Ausspruch  des  Horaz  zu  hal- 
ten t  Quid  sit  futurum  cras,  fuge  quaerere.  z)  Warum  ist  kein  deut- 
scher Flusz  so  sehr  gefeiert  als  der  Rhein? 

8.  Hamm.  Ueber  die  Ursachen  und  Veranlassungen  der  Kreuz- 
züge. 

9.  Herford.  1)  Hannibal  und  Mithridates.  2)  Des  Lebens  Mühe 
läszt  uns  allein  des  Lebens  Güter  schätzen. 

10.  Minden.    Iphigenia  im  Widerstreit  zweier  Pflichten. 

11.  Münster.  1)  Wozu  fordert  uns  der  Gedanke  an  die  kurze 
Dauer  unseres  irdischen  Daseins  auf?  2)  Begeisterung  ist  die  Sonne, 
die  das  Leben  befruchtet,  tränkt  und  reift  in  allen  Sphären. 

12.  Paderborn.  Die  sittliche  und  politische  Erniederung  oder 
Erhebung  und  Höhe  eines  Volkes  bedingt  entsprechende  Phasen  sei- 
ner Litteratur.  Aus  der  Natur  der  Sache  und  aus  der  Geschichte  der 
Griechen,  Römer  und  Deutschen  nachzuweisen. 

13.  Recklinghausen.  Gang  der  Handlung  in  Schill er's  Drama 
'Wallenstein'. 

14.  Soest.  Welche  Ursachen  führten  um  die  Mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts die  Umgestaltung  der  deutschen  Poesie  herbei? 

15.  Warendorf.  1)  Würdigung  der  Licht-  und  Schattenseiten  der 
Buchdruckerkunst.  2)  Warum  ist  es  gut,  so  wenig  als  möglich  Be- 
dürfnisse zu  haben? 

Themata  der  Abiturientenarbeiten  für  den  lateinischen  Aufsatz. 

1.  Arnsberg.  1)  Est  hoc  commune  Vitium  in  magnis  liberisque 
civitatibus,  ut  invidia  gloriae  comes  sit.    2)  Res  publica  Romana  cala- 

>  mitatibus  acceptis  majores  habuit  animos,  quam  rebus  secundis. 

2.  Bielefeld.  1)  Illud  Sallustii  fet  hello  et  pace  darum  üeri 
licet'  exempüs  ex  historia  Romana  repetitis  demonstretur.  2)  Quibus 
rebus  Hannibal  victus  esse  videatur? 

3.  Brilon.  Unius  viri  virtute  saepe  niti  summam  rei  publicae  sa- 
lutem. 

4.  Burgsteinfurt.  Quibus  rebus  Hannibal  r eportatis  tot  victoriis 
decedere  Italia  coactus  sit. 

5.  Coesfeld.  Quanto  patriae  amore  Graeci  et  Romani  Suerint, 
ezemplis  demonstretur. 

6.  Dortmund.    Exponatur,  cur  Plato  se  dis  gratias  agere  dixerit, 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen.  221 

quod  Graecas  potius  quam  harbarus,  quod  Athenieusis,  qnod  tempore 
Periclis  natus  ait. 

7.  Gütersloh.  1)  Horatii  illud  vnil  sine  magno  Tita  labore  dedit 
mortalibos'  exemplis  illastretor.  2)  Lnxnriant  animi  rebus  plernmqne 
secundis  Nee  facile  est  aequa  commoda  mente  pati. 

8.  Hamm,  De  ratione  belli,  qnamPericles  in  administrando  hello 
Feloponnesio  secntus  sit,  disseratnr. 

5.  Herford.  1)  Quam  vera  sit  T.  Livii  sententia,  populum  Roma- 
num  in  rebus  adversis  admirabiliorem  fuisse,  quam  in  rebus  secundis. 
2)  Probat  historia,  asperis  rebus  gentes  magis  oorroborari,  quam  rebus 
;  secundis. 

10.  Minden.    Ea  fuit  romana  gens,  quae  victa  quiescere  nesciret. 

11.  Münster.  1)  Quanta  superbia  et  perfidia  atque  erudelitate 
Eomani  tertio  bello  Macedonico  confecto  in  ezteras  nationes  civitates- 
jqne  eint  grassati,  aliquot  exemplis  ostendatur.  2)  Illud  Com.  Nepotis 
(Magnae  saepe  res  non  ita  magnis  eopiis  sunt  gestae'  exemplis  ex  hi- 
rtoria  antiqua  petitis  ostendatur.  ' 

12.  Paderborn.  Alexander  Magnus  Asiam  expugnat  eamque  grae* 
eis  artibus  aperit. 

13.  Becklinghausen.  Fabiorum  ad  Cremeram  clades  cum  La* 
eedaemoniorum  in  Thermopylis  nece  confertur. 

14.  Soest.  Quibus  temporibus  quibusque  rebus  oivitas  Athenien- 
tinm  maxime  floruerit. 

15.  Warendorf.  Qua  via  ac  ratione  Romani  tot  populos  vali- 
durimos  sub  suam  potestatem  redigere  redaetosque  retinere  potuerint. 
2)  C.  Julius  Caesar  cum  Alexandra  Magno  comparatus. 

'  Rheinpro-vinz  1862. 

1.  Aachen].  In  dem  Lehrercollegium  hat  keine  weitere  Verände- 
rung stattgefunden,  als  dasz  der  Stiftsvicar  Fuchs,  nachdem  er  zum 
Pfarramte  befördert,  seine  Stellung  als  zweiter  Religionslehrer  aufge- 
geben hat  Der  Religionsunterricht  in  den  beiden  unteren  Classen  ist 
«fem  Caplan  Bechern  übertragen  worden.  Lehrercollegium:  Director 
Br.  Schön,  die  Oberlehrer  Dr.  Klapper,  Prof.  Dr.  Oebeke,  Dr. 
Barelsberg,  Dr.  Renvers,  Religionslehrer  Spielmaus,  die  ordent- 

,Üchen  Lehrer  Oberl.  Dr.  J.  Müller,  Ch.  Müller,  Bonn,  Körfer, 
Syrrfe,  Dr.  Milz,  Pfarrer  Nänny  (Hülfsl.  für  evang.  Rel.),  Vioar 
Bechern  (kath.  Rel.),  Schreiblehrer  Schmitz,  Gesanglehrer  Baur, 
Zeichnenlehrer  Neidinger,  Turnlehrer  Ren  sing;  Schülerzahl:  386 
(160,  H  99,  III  69,  IV  56,  V  63,  VI  60).  Abiturienten:  31.  —  Den 
Schulnachrichten  ist,  vorausgeschickt:  Ueber  den  Unterricht  im  Deutschen 
auf  den  Preuszischen  Gymnasien,  von  Prof.  Dr.  Oebeke.  26  S.  4.  Der 
Verfasser  stellt  sich  zunächst  die  Frage,  welche  Erfolge  bis  jetzt  kraft 

j  der  neuen  Einrichtung  an  den  Preusz.  Gymn.  in  jenem  Fache  erzielt 
worden  seien;  ob  das  Ergebnis  den  Berechnungen  des  Planes  entspro- 
chen und  eine  würdige  Frucht  so  viel  verwendete  Zeit  und  Arbeit  be- 
lohnt habe.    Aber  hier  stosze  man  vielfach  auf  unerfreuliche  Aeusze- 

|  rangen  über  Unzulänglichkeit  der  Leistungen;  man  höre  verstimmende 

^Klagen  von  gewichtigsten  Zeugen,  von  kundigen  und  glaubwürdigen 
Fachmännern;  man  lese  die  rügenden  Erlasse  der  vorgesetzten  Unter- 
richtsbehörden usw.  Daher  werde  man  sich  der  Pflicht  nicht  entschla- 
gen können,  genauer  nachzuforschen,  ans  welchen  Ursachen  denn  die 
hohen  Erwartungen,  welche  sich  an  die  Neu -Ordnung  des  deutschen 
Unterrichts  knüpften,  noch  nicht  so  in  Erfüllung  gegangen  sind;  ob 
etwa  von  Anfang  an  das  Ziel  des  Strebens  unrichtig  bestimmt  worden, 
oder  ob  die  Methode  an  Unzweckmäszigkeit  und  Verkehrtheit  leide. 
Der  Verf.  faszt  dann  nach  dem  offen  liegenden  Befunde  die  Mangel 


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222  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  staust  Notizen! 

und  Gebrechen  des  deutschen  Unterrichts  an  den  Gymnasien  dahin  zu- 
sammen, dasz  man  zuerst  eine  klare  und  bändige  Erklärung 
über  das  Ziel,  sodann  eine  gesunde,  folgerichtige  Methode 
vermisse,  und  bezeichnet  dann  selbst  als  das  Ziel:  *  grammatisch  be- 
gründete Kenntnis  des  Neuhochdeutschen,  Verständnis  der  Hauptgat- 
Siragen  der  prosaischen  und  poetischen  Kunstformen,  nähere  Bekannt- 
schaft mit  den  bedeutendsten  Schriftstellern  und  Werken  der  National- 
litteratur,  insbesondere  der  classischen  neueren,  Einführung  in  die 
Kenntnis  der  historischen  Entwiekelung  der  deutschen  Sprache  durch 
Uebungen  im  Mittelhochdeutschen,  Richtigkeit  und  Gefälligkeit  in 
schriftlichen  und  mündlichen  Darstellungen  aus  dem  der  gereiften 
.Gymnasialbildung  entsprechenden  ethischen  und  wissenschaftlichen 
Ideenkreise.'  Der  Verfasser  geht  dann  auf  diese  Einzelheiten  genauer 
ein  und  erklärt  sich  zuerst  für  und  über  das  Betreiben  der  deut- 
schen Grammatik  an  den  Gymnasien;  behandelt  dann  dia  schon 
öfter  erhobene  Streitfrage,  ob  eine  förmliche  Stillehre  für  die  Schüler 
zu  gründlicher  Belehrung  teils  bei  den  eigenen  schriftlichen  Versuchen, 
teils  bei  der  Prüfung  und  Beurteilung  fremder  Darstellungen  aufzu- 
nehmen sei,  oder  ob  unter  Umgehung  einer  zusamenhängenden  Unter- 
weisung über  die  dabin  gehörigen  Punkte  aufklärende  Bemerkungen 
über  die  Hauptstücke  gelegentlich  einfließen  zu  lassen,  genügen 
könne  und  angemessener  sei»  Dem  Verf.  erscheint  eine  Stiilehre,  die 
wolbedacht  in  der  bescheidenen  Begrenzung  auf  das  leicht  Faszliche 
und  praktisch  Brauchbare  sich  hält'  und  an  die  Leetüre  und  Aufsätze 
zwanglos  sich  anschlieszt,  nicht  nur  zulässig,  sondern  geboten.  Frei- 
lich dürfe  dabei  kein  Anspruch  auf  eine  logisch  -psychologisch  -meta- 
physisch -  ästhetisch  durchgeführte  Systematisierung,  wie  z.  B.  rin  dem 
Organismus  der  Stil-  oder  Aufsatzlehre  von  K.  F.  Rinne9  hervortreten, 
sondern  die  einfachen  Regeln  "seien  mitzuteilen ,  die  aus  den  Meister- 
werken' durch  Betrachtung  und  Zergliederung  abgeleitet,  jedermann 
leicht  nachweisbar  und  durch  die  Jahrhunderte  bestätigt  seien.  Der 
Verfasser  geht  dann  zu  dem  Lehrstoff  im  Deutschen  für  die  ersten 
Gymnasialclassen  über  und  räumt  hier  der  Literaturgeschichte  einen 
bevorzugten  Platz  ein.  Indes  sei  hierbei  gewis  als  ein  Misgriff  zu  rü- 
gen, wenn  diese  Gegenstände  «in  gelehrter  Ausführlichkeit  sich  über 
sämtliche  Perioden  —  die  früheren  wie  die  späteren  —  verbreitend 
vorgenommen  würden.  Für  die  nähere  Betrachtung  sei  daher  eine  be- 
sonnene Auswahl  bei  Beschränkung  auf  das,  was  wahrhaft  geistig  be- 
deutsam und. wirksam  gewesen,  durchgängig  in  allen  Abschnitten  zu 
treffen,  damit  Raum  gewonnen  werde  für  eine  reichhaltigere  Behand- 
lung der.  Classiker  des  letzten  Jahrhunderts  nach  den  Abstufungen  ihres 
Verdienstes.  Und  hier  sei  vor  Allem  am  meisten  darauf  zu  sehen,  dasz 
die  Schüler  durch  eigenes  Studium  der  geeigneten  Werke  in  den  Geist 
Und  die  wesentlichen  lebensvollen  Ideen  unserer  grossen  Schriftsteller 
tiefer  eindringen,  um  mit  Klarheit  und  Begeisterung  der  Errungen- 
schaften dieser  Meister  und  Vorbilder  in  deutscher  Art  und  Kunst  sich 
bewußt  zu  werden.  —  Hinsichtlich  der  Streitfrage,  ob  das  Altdeutsche 
und  Mittelhochdeutsche  in  den  Kreis  der  Lehrgegenstände  des  Gymna- 
siums aufzunehmen  sei,  entscheidet  sich  der  Verf.  dahin,  dasz  die  Ein- 
reihung des  Mittelhochdeutschen  durchaus  zu  befürworten  sei. 
Das  Verständnis  und  die  Aneignung  des  Althochdeutschen  würde  viel 
Arbeit  und  Zeit  kosten,  während  zudem  die  Ausbeute  für  die  Jugend- 
bildung wenigstens  nur  gering  sein  könne.  Schon  die  drohende  Ueber- 
bürdung  also  verbiete  das  Altdeutsche  zu  den  schon  vorhandenen  La- 
sten unsern  Schülern  aufzuzwingen.  Die  Erlernung  des  Mittelhoch- 
deutschen dagegen  sei,  zumal  binnen  den  hier  zu  steckenden  Grenzen, 
leicht  zu  bewältigen  und  bringe  einen  sonst  nirgendsher  zu  beschaffen- 
den Gewinn.    Es  gebe  für  das  grammatische  Studium  unserer  Sprache 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen  *  Statist*  Notue».  223 

vielfach  neuen,  anregenden  Stoff;  ei  gewähre  einen  erweiterten  Ein- 
blick in  die  Ursprüngliche  Bildsamkeit  derselben  in  Wort  und  Wendung 
nnd  erschliesze  jetzt  verschüttete  Schächte  des  ehemaligen  Ausdruaks- 
reichtums;  und  was  mehr  werth  sei  aU  das,  es  führe  uns  ein  in  die 
Zanberweh  jener  ureigenen,  morgenfrischen  deuteohen  Poesie,  wovon 
in  der  Schule  besonders  die  epische  heranzuziehen  «ei,  die  wahrhall 
wie  ein  Heilbad  zur  Läuterung  und  Kräftigung  der  krankhaften  Ver- 
künstelung  dieser  Zeiten  uns  erhalten  scheine.  —  Weiter  hin  wird  noch 
daran  gemahnt,  das«  auch  die  metrischen  Studien  im  Deutschen  auf 
unsera  Gymnasien  eine  besondere  Beachtung  verdienen,  und  beklagt, 
dasz  im  Allgemeinen  wenigstens  denselben  nicht  die  gebührende  Sorg- 
falt gewidmet  zu  werden  scheine.  Der  Gewinn  werde  schon  sehr  hoch 
anzuschlagen  sein,  wenn  in  den  beiden  unteren  Ciasseti  4er  Sinn  und 
das  Versiändnls  der  Knaben  für  Masz,  Wollaut,  Harmonie  der  Verse 
im  Allgemeinen  an  den  Gedichten ,  die  erklärt  und  auswendig  gelernt 
werden,  geweekt  und  geübt  werde;  wenn  darauf  in  den  mittleren  Claasea 
die  Einführung  in  die  eigentliche  deutsche  Prosodie  folge  und  dazu  die 
gebräuchlichsten  einfacheren  und  leichteren  Versarten  im  troehäisohen 
nnd  iambischen  Rhythmus  vorgenommen  würden ;  wenn  in  den  Seeunden 
sodann  die  Einprägung  der  daktylischen,  anap&stisehen  und  choriam- 
bischen V^tsb  nebst  den  kunstvolleren  iambischen  Strophen  angeschlos- 
sen werde;  wenn  in  den  Primen  endlich  die  Lehre  über  die  sapaaische 
und  alkäische  Strophe  nach  Bau  nnd  Wesen  sieher  gefasst  werde.  Die 
praktischen  Uebungen  aber,  welche  den  theoretischen  Auseinander- 
setzungen zur  Seite  gehen,  dürften  keinen  andern  Zweck  verfolgen, 
als  eben  nur  eine  gründliche  Einsicht  in  die  Gestaltung  det  Verse  zu 
vermitteln  und  demgemäsz  nur  in  der  Wiederherstellung  aufgelöster 
Mnsterverse  bestehen,  bei  welcher  jedoch  durch  Vertauschung  oder 
Auslassung  von  Wörtern  nach  geeigneter  Abstufung  die  Selbstthltigkeit 
der  Schüler  verschiedentlich  in  Anspruch  zn  nehmen  sei,  und  allenfalls 
in  Übersetzungen  und  freien  Kachbildungen  von  griechischen  und  rö- 
mischen Originalen.  Zu  selbständigen  Versuchen  aber  in  metrischen 
Darstellungen  dürften  allein  die  wirklich,  mit  Dtchtertalent  begabten 
veranlasst  werden.  — -  Bei  den  schriftlichen  Und  freien  Arbeiten*  auf 
welche  mit  allem  Fug  der  grSste  Nachdruck  und  Werth  gelegt  werde, 
scheinen  dem  Verf.  noch  einige  fernere  Massnahmen  Bedürfnis  #a  sein* 
um  die  Ertragsamkeit  derselben  zu  sichern  und  zu  erhöhen»  Es  müsse 
nemlieh  dabei  überhaupt  auf  das  Strengste  der  stufenmäsaige  Fort» 
schritt  von  dem  Leichteren  zum  Schwereren  beobachtet  und  in  allen 
Classen  müsten  den  Schülern  passende  Muster  für  die  auferlegten  Ver- 
suche vorgezeigt  und  erläutert  werden.  Sodann  müsse  von  den  mannig- 
faltigen Darstellungsformen  die  Beschränkung  auf  die  einfachen  Haupt» 
formen  für  die  Durchübung  als  Regel  Beobachtet  werden.  Also  sei  für 
die  untere  Stufe  die  schlichte  Erzählung  und  Beschreibung  anzusetzen, 
für  die  mittlere  dieselben  reicher  und  ausgebildeter  nach  Inhalt  und 
Sprachform  und  dazu  die  Schilderung  nebst  Erklärung  von  leichten 
Sprichwörtern  und  Sprüchen,  für  die  Sekunda  die  Betrachtung,  die 
einfache  wie  die  vergleichende,  und  Charakterbilder,  für  diejPrima  die 
historische  und  didaktische  Abhandlung  und  die  Chrie.  In  der  Wahl 
der  Stoffe  für  die  Bearbeitung,  namentlich  für  den  freien  Aufsatz,  lasse 
sich  immer  noch  eine  genauere  Sichtung  und  bestimmtere  Absteckung 
des  nutzbaren  Feldes  vermissen.  Dasz  Vertrautheit  mit  dem  Gegen» 
stände  der  Aufgabe  die  stets  sich  von  selbst  verstehende  Bedingung 
sei,  darin  stimmten  allerdings  alle  Meinungen  überein?  allein  wie  weit 
eben  dieser  Erkenntniskreis  des  Gymnasiasten  sich  erstrecke»  darüber 
^giengen  die  Urteile  gar  sehr  auseinander,  fast  ins  Nebelgraue.  — 
BchlieszHoh  fügt  der  Verf.  noch  ein  kurzes  Wort  hei  über  die  deut- 
schen Sprechübungen,  Declamationen  und  sogenannten  freien  Vorträge. 


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224  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen. 

2.  Bkdbubq],  '(Rheinische  Bitter -Akademie.)  Mit  dem  Ende  des 
Wintersemesters  schied  der  Religionslehrer  Brackmann,  zum  Ober- 
pfarrer in  Schieiden  ernannt,  ans  seiner  bisherigen  Stellung;  in  seine 
Stelle  trat  Stapper,  zuletzt  Caplan  ad  S.  Lambertum  in  Düsseldorf. 
Lehrercollegium :  Director  Roeren,  Religionsl.  Stapper,  die  Oberl. 
Becker,  Blase,  die  ordentl.  Lehrer  Noel,  Dr.  Wiel,  Schroeder, 
die  commissarischen  Lehrer  Dr.  Lücke-n,  Dr.  Koenen.  Den  Turn- 
unterricht leitete  Dr.  Lücken.  Anzahl  der  Zöglinge:  40  (I  10,  II  9, 
III  12,  IV  5,  Vorbereitungsol.  4).  Abiturienten:  4.  —  Den  Schulnach« 
richten  geht  voraus:  Observationes  in  Orphei  Argonauiica.  P.  III.  Scri- 
psit  Dr.  Wiel.  25  S.  4.  Die  emendierten  Stellen  sind  folgende:  V.  31, 
218,  260,  261,  236,  314,  382,  405,  423,  427,  442,  588,  594,  642,  848,  849, 
851,  920,  922,  934,  936,  962,  979,  980,  982,  984,  986,  1076,  1081,  1129, 
1290. 

3.  Bonn].  Im  Lehrerpersonale  haben  folgende  Veränderungen  statt- 
gefunden. Zu  Ostern  folgte  der  evang.  Religionslehrer  Prof«  Diestel 
einem  Rufe  als  ordentlicher  Professor  an  der  Universität  Greifswald. 
Seine  Stelle  wurde  dem  Predigtamtscandidaten  Sänger  interimistisch 
übertragen.  In  Folge  der  Trennung  der  Sexta  in  zwei  Cötus  wurde 
der  am  Aposteln -Gymnasium  zu  Cöhi  beschäftigte  Candidat  des  höhe- 
ren Schulamts  Grundhewer  zur  Aushülfe  dem  hiesigen  Gymnasium 

*  zugewiesen.  Zur  Abhaltung  des  gesetzmäszigen  Probejahrs  waren  im 
verflossenen  Schuljahre  seit  Michaelis  die  Schulamtscandidaten  Brühl, 
Desclabissao  und  Sturm  thätig.  Der  erstere  wurde  bereits  zu  Ostern 
an  das  März  eilen- Gymnasium  zu  Cöln  versetzt,  die  beiden  anderen  lei- 
steten Aushülfe  am  hiesigen  Gymnasium.  Dem  ersten  Oberl.  Rem acly 
wurde  das  Prädicat  Professor  erteilt.  Lehrercollegium:  Director  Prof. 
Dr.  Schopen,  die  Oberlehrer  Professor  Remacly,  Freudenberg, 
Zirkel,  Qiesen,  kath.  Religionslehrer  Dr.  Dubelmann,  die  ordentl. 
Lehrer  Oberl.  Werner,  Kneisel,  Oberl.  Dr.  Humbert,  Sonnen- 
berg, Dr.  Binsfeld,  Dr.  Strerath,  die  evangelischen  Religionslehrer 
Pfarrer  Wolters  und  Sänger,  die  commissarischen  Lehrer  Sassel 
(kath.  Rel.),  Grundhewer,  Sommer,  Dr.  Küppers,  Dr.  Deiters, 
Leber,  Winz,  Gesanglehrer  Lützeler,  Zeichnenlehrer  Philippart. 
Schftlerzahl:  364  (I«  27,  Ib  18,  II  *  34,  II»»  36,  III»  25,  IIIb  24,  IV*  33, 
IVb32,  V*  30,  Vb  29,  VI»  37,  VI»  39).  Abiturienten:  27.  —  Den 
Schulnachrichten  geht  voraus:  Observationes  Lurianae.  P.  III.  Scr.  J. 
Freudenberg.  16  S.  4.  Die  behandelten  Stellen  sind  folgende:  19, 
18  wird  emendiert  violaium  hospitii  foedus.  I  34,  6  Roma  ei  ad  id  apta 
potissimum  visa.  I  58,  5  Quo  terrore  cum  elusisset  obstinatam  pudici- 
tiäm  velut  victrix  libido.  II  52,  3  Ea  renm  oppressit.  III  39  in.  ven- 
tum  in  curiam  esse,  III  50  sub  fin.  quanto  visu  quam  auditu  indigniora 
potuerint  videri.  IV  17,  7  plebe  tribunisque  ejus  anni.  IV  27,  4  Ita 
quattnor  exercitus  totidem  munimenta,  planitie  in  medio  non  parvis 
modo  excursionibus  ac  proeHis  sed  vel  ad  explicandas  utrimque  acies 
satis  patente,  habebant.  IV  31,  9  et  Justitium  indietum.  V  17,  10  statt 
coeptae  —  sopitae.  V  40  extr.  reUgiosum  ratus.  VI  11,  3  solum  eum  in 
magistratibus  solitum  apud  exercitus  .esse.  VI  14,  2  intuenti.  VI  24,  10 
Optimum  visum  est  nee  in  fluctuantem  etc.    VII  34,  15  Sub  haec  omnia 

—  perlustravit.  VIII  9,  9  sq.  Conspeetus  ab  utraque  acie  aliqnanto 
augustior  humano  habitu  visns.  VIII  37 ,  ß  ut  si  Capitolium  atque  arx. 
etc.  IX  7J,  6  Iam  Romae  etiam  subinde  infamis  clades  erat.  IX  10,  3 
Postumius  orrmium  in  ore  erat.  IX  24,  11  tela  et  annatos  ostendere  ar- 
cem.  X  2,  9  statt  altero  itinere  —  ulteriore  itinere.  X  13,  4  haud  qua- 
quam  pari  certamine  =  haud  quaquam  simili,  h.  e.  aeque  levi  certa- 
mine  atque  in  hello  proximo,  a  On.  Fulvio  composito.  X  38,  1  Dilectu 
per  omne  Samninm  habito  nova  lege  et  qui  juniorum  non  convenisset 

—  quique  injussu  abisset,  caput  Iovi  sacratum  erat.    X  39,  7  altera 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen.  225 

eastra,  quae  XX  milium  spatio  aberant,  absentig  collegae  consilia  om- 
oibafl  gerendis  inserebani  rebus,  intentiorque  Camlina  —  in  Aqoiloniam 

—  quam  ad  Com.  —  erat,  hoc  est:  Carvüiani  milites  abaentia  collegae 
consilia  omnibns  rebus  gerendis  immiscebant,  neqne  quidquam  niai  Pa- 
pirü  consiliorum  ratione  habita  incipiebant. 

4.  Clevb].  Mit  dem  Schloaz  dea  Winterhalbjahrs  verlies  die  An- 
stalt der  Candidat  des  höheren  Schul-  und  evangelischen  Predigtamts 
Döring,  um  eine  ordentliche  Lehreratelle  an  dem  Gymnasium  zu  We- 
sel zu  übernehmen.  An  seine  Stelle  trat  Candidat  Rothert.  Lehrer-. 
collegium:  Director  Dr.  Probst,  die  Oberlehrer  Dr.  Feiten,  Dr. 
Schmied  er,  Dr.  Hundert,  die  ordentlichen  Lehrer  Jacob,  Dr. 
Tillmanns,  Hülfsl.  Rothert,  kath.  Religionslehrer  Dr.  Schölten, 
die  Elementarlehrer  Oxe*  und  MÖnnichs,  Gesanglehrer  Mnsikdirector 
Fiedler,  Zeichnenlehrer  Kreisbaumeister  Geiszier.  Schülerzahl  im 
Sommer:  131  (I  11,  II  17,  HI  25,  IV  14,  V  30,  VI  34).    Abiturienten:  4. 

—  Den  Schulnachrichten  ist  vorausgeschickt:  MisceUanea  critica  e  Xe- 
nophonte.  Scr.  Dr.  Tillmanns.  16  S.  4.  Die  emendierten  Stellen 
sind:  Hiat.  gr.  I  1,  28;  I  6,  5;  I  6,  21;  I  7,  27;  II  ?,  20;  II  3,  27; 
II  4,  38;  III  5,  22;  IV  7,  5;  V  1,  15;  V  2,  7;  VI  1,  4;  VI  4,  17;  VI  4, 
20;  VII  2,  4;  VII  2,  8;  VII  2,  18,  19.  Cyr.  exp.  IV  2,  19.  Cyr.  inst. 
I  3,  11;  V  2,  17.    Comment.  II  1,  30. 

5.  Coblknz].  Aenderungen  in  dem  Lehrercollegium  sind  während 
des  verflossenen  Schuljahres  nicht  eingetreten.  Dasselbe  bilden:  Dir. 
Dominicas,  Religionslehrer  Schubach,  die  Oberlehrer  Prof.  Flock, 
Dr.  Boymann,  Happe,  Stumpf,  die  ordentiL  Lehrer  Klostermann, 
Dr.  Montigny,  Dr.  Baumgarten,  Dr.  Maar,  Dr.  Steinhausen, 
Dr.  Torrn  Walde,  Dr.  Conrad,  Hülfslehrer  Stolz,  evang.  Religions- 
lehrer  Rector  Troost,  die  commissarisehen  Lehrer  Dr.  Langen,  Dr. 
Worbs,  Maurer,  Dr.  Verbeek,  Hülfslehrer  für  evang.  Religion, 
finnkel,  Zeichnenlehrer  Gotthard,  Gesanglehrer  Mand,  Candidat 
des  höheren  Schulamts  Dr.  Schlüter.  Schülerzahl  im  Sommer:  414 
(I»  17,  I*  13,  II«  17,  II*  46,  III1  38,  IIP  37,  IV1  40,  IV*  35,  V1  34, 
V*  37,  VI*  62,  VI*  49).  Abiturienten:  17.  -  Den  Schulnachrichten 
geht  voraus:  Geschichte  des  Goblenzer  Gymnasiums*  Erster  Teil.  Die 
Geschichte  der  Stiftung  des  Coüegiums  S.  J.  1580—1599.  Von  Director 
Dominicas.     35  S.    4. 

6.  Duisburg-].  Gymnasium  und  Realschule  1.  Ordnung.  Mit  dem 
Beginne  des  Schuljahrs  wurde  der  Reallehrer  Dr.  Krümme,  bisher  an 
der  Realschule  in  Siegen,  in  sein  Amt  eingeführt.  Für  den  in  der 
Centralturnanstalt  in  Berlin  abwesenden  Lehrer  der  Vorschule  Werth 
leistete  der  Schulamtscandidat  Grube  als  interimistischer  Lehrer  Aus- 
hülfe. An  die  Stelle  des  in  Ruhestand  getretenen  Prof.  Hüls  mann 
trat  der  zum  Religionslehrer  des  Gymnasiums  ernannte  Gymnasiallehrer 
and  Candidat  theol.  Hamann,  bisher  an  dem  Gymnasium  in  Anclam. 
Lehrercollegium:  Director  Dr.  Eichhoff,  die  Oberlehrer  Professor 
Können,  Dr.  Liese  gang,  Dr.  Lange,  die  Gymnasiallehrer  Ha- 
mann, Dr.  Wilms,  Dr.  Foltz,  Schmidt,  die  Reallehrer  Oberlehrer 
Fischer,  Dr.  Krumme,  Klanke,  Dr.  Meigen,  Hülfslehrer  Dick- 
haus, ordentlicher  Lehrer  K.  Werth,  Zeichnenlehrer  Knoff,  Caplan 
Gaillard,  Lehrer  der  Vorschule  R.  Werth.  Schülerzahl  (im  Som- 
mer): a)  des  Gymnasiums:  143  (1 15,  II  27,  in  21,  IV  20,  V  29,  VI  31); 
b)  der  Realbschule:  58  (I  7,  II 16,  III 17,  IV  18);  c)  der  Vorschule:  39. 
(1.  Abt.  17,  2.  Abt.  22.)  Abiturienten:  5.  —  Den  Schulnachrichten  geht 
voraus  eine  Abhandlung  des  Oberlehrers  Liesegang:  De  XXIV  /Ha- 
itis rhapsodia  dissertatio.  Pars  prior.  21  S.  4.  fNon  alienum  mihi  est 
Visum  postrema  Iliadis  rhapsodia,  in  qua  jam  veter  es  Uli  Alexandrini 
multis  rebus  sunt  offensi,  accuratius  perquisita  exponere,  quibus  in  re- 
bus a  ceteris  Iliadis  rhapsodiis   abhorrere  existimanda  sk.'  —  fSi  in 


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226  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist  Notizen. 

multis  rebus  iisque  parvis  hanc  rhapBodiam  ab  antiquioribus  Iliadie 
partibus  abhorrere  demonstravero,  eam  ab  homeriea  aetate  atque  anti- 
quiorum  illorum  vatum  ingenio  et  indole  alienam  esse  statuemus.' 

7.  Duebbn].  Die  durch  die  Trennung  der  Prima  notwendig  ge- 
wordene Aushülfe  im  Unterrieht  wurde  durch  den  Schul  amiscandidaten 
Dr.  Stahl  geleistet,  welcher,  nachdem  er  bis  dahin  am  Gymnasium  zu 
Münstereifel  als  commissarischer  Lehrer  beschäftigt  gewesen  war,  in 
gleicher  Eigenschaft  dem  hiesigen  Gymnasium  zugewiesen  wurde.  In 
die  durch  den  Tod  des  G.  L.  Hagen  erledigte  3.  ordentliche  Lehrer- 
stelle rückte  Dr.  Sdne'chaute,  in  des  Letzteren  Stelle  Dr.  Ranpen 
auf;  die  dadurch  erledigte  5.  ordentliche  Lehrerstelle  wurde  dem  bisher 
commissarisch  beschäftigten  Schulamtacandidaten  Fisch  übertragen. 
L ehre rc olle gium:  Director  Dr.  Meiring,  die  Oberlehrer  Elvenich, 
Ritzefeld,  Dr.  Schmitz,  die  ordentf.  Lehrer  Esser,  Ciaessen, 
Dr.  Se'ne'chaute,  Dr.  Rangen,  Fisch,  die  Hülfslehrer  Dr.  Busch, 
Dr.  Stahl,  Pfarrer  Reinhardt  (evang.  Rel.),  Zeichnen!.  Sommer, 
Gesangl.  Jonen.  Schülerzahl:  189  (I«  16,  I*  27,  II»  18,. II*  19,  III 83, 
IV  34,  V  19,  VI  23).  Abiturienten:  16.  —  Den  Schulnachrichten  geht 
voraus  eine  Abhandlung  von  G.  L.  Dr.  Rangen:  Des  Pyrrfos  Zug  nach 
Italien.     18  S.    4. 

8.  Duesbbldobf].  Mit  Anfang  des  Schuljahrs  sind  die  Schulamts- 
candidaten  Dr.  Hülsmann  und  Dr.  Hünnekes  zur  Deckung  des  durch 
fortdauernde  Abwesenheit  des  2.  ordentl.  Lehrers  Kirsch  und  durch 
Teilung  der  Quinta  entstandenen  Mehrbedarfs  an  Lehrkräften  zu  einst- 
weiliger Thätigkeit  an  dem  Gymnasium  berufen  worden.  Der  2.  ord. 
Lehrer  Kirsch  ist  aus  seinen  amtlichen  Verhältnissen  mit  der  gesetz- 
lichen Pension  entlassen  worden.  Zu  Anfang  des  Schuljahrs  ist  der 
Schulamtscandidat  Dübbers  und  nach  Ostern  der  Schulamtscandidat 
Lichtschlug  zur  Ableistung  des  Probejahrs  eingetreten,  Dr.  Herbst 
wird  mit  Ende  des  Schuljahrs,  da  er  zum  Pfarrer  der  lutherischen  Ge- 
meinde in  Nymwegen  gewählt  worden  ist,  aus  der  Stellung  eines  evan- 
gelischen Religionslehrers  des  Gymnasiums  ausscheiden.  Lehrerkolle- 
gium: Director  Dr.  Kiesel,  die  Oberlehrer  Grashof,  Religionslehrer 
Krahn,  Marcowitz,  Dr.  Schneider,  Dr.  Uppenkamp,  die  ord. 
Lehrer  Dr.  F rieten,  Kaiser,  Dr.  Kühl,  Houben,  Hülfsi  Stein, 
die  Candidaten  Dr.  Hülsmann,  Dr.  Hünnekes,  Zeichnen!.  HoJt- 
hausen.  Schülerzahl:  304  (I  16,  II«  19,  Hk  33,  III  39,  IV  43,  V«  39, 
V»>  39,  VI»  88,  VI*  88).  Abiturienten:  7.  —  Den  SchulnAchrichten 
geht  voraus  eine  Abhandlung  des  Religionslehrers  Krahn:  lieber  Evan- 
gelium Johannis  II  1—1%.     13  S.    4. 

9.  Ebbbfeld].  Mit  dem  Beginn  des  Schuljahrs  wurde  Dr.  Schnei« 
der,  der  sein  Probejahr  am  Friedrich -Wilhelms -Gymnasium  in  CÖln 
abgehalten  hatte,  als  6.  Lehrer  eingeführt.  Candidat  Drinhaus,  der 
mit  dem  Beginn  der  Herbstferien  v.  J.  aus  seiner  Stellung  am  Gym- 
nasium ausgeschieden  war,  um  in  Musze  sich  für  das  FacuU&tsexamen 
vorzubereiten,  erlag  einer  rasch  verlaufenden  Gehirnkrankheit.  Am 
Schlüsse  des  Schuljahrs  verliesz  der  Gymnasiallehrer  Dr.  Vogt  die  An- 
stalt, um  einem  Rufe  als  Director  des  Gymnasiums  zu  Corbach  zu  fol- 
gen. In  Folge  dessen  wurden  die  ordentlichen  Lehrer  Grosch  und 
Dr.  Schneider  in  die  4.  und  5.  Stelle  befördert,  und  in  die  erledigte 
6.  Lehrerstelle  wurde  der  Schulamtscandidat  Dr.  Kluge  in  Wetzlar  zu 
provisorischer  Aushülfe  für  das  Winterhalbjahr  berufen.  Lehrercolle- 
gium:  Director  Dr.  Bouterwek,  die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Clausen, 
.Prof.  Dr.  Fischer,  Dr.  Völker\  die  ordentl.  Lehrer  Dr.  G.  Petri, 
Dr.  A.  Petry,  Dr.  Crecelius,  Grosch,  Dr..  Schneider,  Gesang- 
und  Schreiblehrer  Kegel,  Caplan  Rumpen  (kath.  Rel.),  Dr.  Wiecke 
(math.  Hülfsi.),  Zeichnenlehrer  Bramesfeld.  Schülerzahl:  277  (I  22, 
H«  16,  H»»  24,  III«  21,  III»»  28,  IV  44,  V  60,  VI  35,  Vorschule:  27). 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  staust.  Notizen.  827 

Abiturienten:  5»  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine  Abhandlung 
de*  CK  L.  Dr#  Fe  tri:  Deber  die  Publie  Schpols  in  England,  verglichen  mit 
den  deutschen  Gymnasien,    29  S.    4. 

20.  Emmerich].  Dem  Sohnlamtscandidaten  Dr.  Hörling,  der  vor- 
her in  Cpln  aein  Probejahr  abgehalten,  wurde  eine  commissarische 
Beschäftigung  übertragen,  nachdem  Dillenburg,  der  seit  1859  eine 
gleiche  Beschäftigimg  gehabt  hatte,  mit  dem  Schlosse  des  vorigen 
Schuljahrs  ausgetreten  war.  Mit  dem  Schlüsse  des  Wintersemesters  i 
trat  Dr.  Hörling  wieder  aus  seiner  Stellung  aus,  um  an  das  Progym- 
nasium zu  M.- Gladbach  überzugeben.  Dafür  wurde  dem  Schulamts- 
candidaten  Dr.  Schlüter",  der  bis  dahin  am  Gymnasium  in  Coblenz 
gearbeitet  hatte,  eine  com  missarische  Beschäftigung  am  hiesigen  Gym- 
nasium überwiesen.  Lehrercollegium :  Director  Nattmann,  die  Ober- 
lehrer Dederich,  Hottenrott,  Knitterscheid,  Religionslehrer  Dr. 
Richters,  die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Havestadt,  Dr.  Gramer, 
Dr.  Ehlinger,  Cand.  Dr.  Schlüter,  evang.  Pfarrer  Uhlenbruck 
(Rel.),  Zeichnenlehrer  Sweekhorst.  Schülerzahl:  182  (I  12,  II  21, 
III  21,  IV  19,  V  26,  VI  33).  Abiturienten:  4.  —  Den  Schulnachrichten 
geht  voraus  eine  Abhandlung  des  Oberlehrers  Hottenrott:  Wem  stand 
im  Römischen  Staate  das  Recht  der  Besteuerung  und  die  Verfugung  über 
die  Staatsgelder  zu?  16  S.  4.  In  einer  Abhandlung  des  Programms  von 
1855  hat  der  Verfasser  zuerst  nachgewiesen,  dasz  in  dem  Abgaben-  und 
Besteuerungswesen  bei  den  Römern  vier  Perioden  zu  unterscheiden  und 
anzunehmen  «sind,  $ann  die  wesentlichsten  Einnahmen  und  Ausgaben  zu- 
sammengestellt, in  vorliegender  hat  er  den  Gegenstand  wieder  aufge- 
nommen und  die  Frage  zu  beantworten  gesucht:  wem  stand  im  Römi- 
schen Staate  das  Recht  der  Besteuerung  und  die  Verfügung  über  die 
Staatsgelder  zu,  und  zugleich  mit  ihr  die  Beamten,  welche  bei  dem 
Finanzwesen  vorzüglich  thätig  und  wirksam  waren,  und  deren  Functio- 
nen besprochen  und  die  verschiedenen  Gassen  nebst  ihren  Hauptein- 
nahmen aufgeführt. 

11*  Essen].  Mit  dem  Beginne  des  Schuljahres  trat  Brockhues  als 
ins*.  Hülfsl ehrer  ein.  Die  Gandidaten  Rachel  und  Sohröder  hielten 
ihr  Probejahr  ab.  Lehrercollegium:  Director  Dr.  'Top hoff,  die  Ober- 
lehrer Buddeberg  (zugleich  Religionsl ehrer  für  die  evang.  Schüler), 
Litzinger,  Mühlhöfer,  Seemann,  die  ordentl.  Lehrer  Achtern- 
bosch, Seek,  Dr.  Anton,  tenDyck,  wies.  Hülfslehrer  Brockhues, 
Kratz  (Rel.  für  die  kath.  Schüler),  Zeichnen-  und  Schreib!.  Steiner, 
Gesangl.  Helfer,  die  Gandidaten  Rachel  und  Schröder.  Schüler- 
zahl: 266  (I  28,  II»  27,  n*  86,  IH  46,  IV  30,  V  51;  VI  48).  Abiturien- 
ten: 12.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus:  Nachrichten  über  die  hö- 
heren Schulanstalten,  'welche  in  Essen  vor  der  Vereinigung  derselben  zu  dem 
jetzigen  Gymnasium  (1819)  bestanden  haben,  zusammengestellt  von  dem 
Director..   16  S.    4. 

12.  Kempen],  Beim  Schlüsse  des  vorigen  Schuljahres  trat  aus  dem 
Lehrereollegium  der  erste  Oberlehrer  Dr.  Bohle,  berufen  an  das  Gym- 
nasium zu  Münster.  In  Folge  dessen  rückte  der  Oberlehrer  Dr.  GanSz 
in  die  erste  Oberlehrerstelle  auf.  In  die  2.  Oberlehrerstelle  wurde  Dr. 
Grotemeyer,  bisher  am  Progymnasium  zu  Dorsten,  berufen.  Lehrer- 
collegium: Director  Dr.  Schürmann,  die  Oberlehrer' Dr.  Gansz,  Dr. 
Grotemeyer,  Fischer,  die  ordentl.  Lehrer  Dr.  Stolle,  Gramer, 
Uebert,  wiss.  Hülfslehrer  Hecker,  Zeichnenl.  Ferlings,  Gesangl. 
Grobben.  Schülerzahl:  137  (I  24,  II  31,  III  25,  IV  15,  V  19,  VI  23). 
Abiturienten:  12.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine  Abhandlung 
des  Director  Dr.  Schürmann:  De  Ss.  Basüio  et  Gregorio  Nazianzeno 
litter arum  antiquarum  studiosis.  Pars  I.  16  S.  4.  I.  Quomodo  Basilius 
et  Gregorius  adolescentes  in  studiis  litterarum  antiquarum  sint  versati. 
IL,  Quomodo  Ss.  Basilius   et  Gregorius   litterarum  antiquarum  studia, 


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228  Kurze  Anzeigen  und  Mtscellen. 

quibus  adolescentes  delectati  »int,  postero  tempore  commendaverint.  A. 
Litterarum  antiquarnm  studia  cor  et  quomodo  eolenda  sint,  ex  scriptis 
Basilii  ostenditur. 

(Fortsetzung  folgt.) 
Fulda.  ^«  Ostermann. 


Kurze  Anzeigen  und  l^iscellen. 

V. 
Nekrolog. 

Das  Gymnasium  zu  Erlangen  verlor  bereite  beim  Beginn  des  vorletzten 
Schuljahrs  durch  den  Tod  einen  seiner  ältesten  und  verdientesten  Leh- 
rer Professor  Dr.  Karl  Schäfer.  Er  war  ein  Sohn  des  durch  seine 
Ueb  er  Setzung  der  Pliniusbriefe  bekannten  und  als  Schulmann  hoch  ge- 
achteten Consistorialraths  und  Rectors  Schäfer  zu  Ansbach ,  wo  er  am 
22.  Mai  1800  geboren  wurde.  Der  kenntnisreiche  Vater  erfüllte  des 
Knaben  mit  der  Liebe  zu  den  Studien  des  Altertums  und  weckte  durch 
sein  Vorbild  die  Lust  am  pädagogischen  Wirken  in  seiner  Seele.  Wenn 
der  Verewigte,  wie  er  gerne  that,  bei  den  Erinnerungen  aus.  diesen 
Jahren  der  Kindheit  verweilte,  schilderte  er  oft  mit  lebhaftem  Danke 
den  wurdevollen  ernsten  Vater,  der  ihn  und  die  Brüder  in  strenger 
Schlichtheit  erzog.  Von  1808  bis  1817  war  er  der  Schüler  des  Ans- 
bachischen Gymnasiums,  das  durch  seines  Vaters  kräftige  Leitung,  so- 
wie durch  die  Wirksamkeit  tüchtiger  Lehrer  in  grosser  Blüte  und  ver- 
dientem Ansehen  stand.  Nachdem  er  dasselbe  mit  Auszeichnung  absol- 
viert hatte,  widmete  er  sich  an  der  Universität  Erlangen  zwei  Jahre 
lang  dem  Studium  der  Rechte;  im  Jahre  1819  aber  begab  er  sich  nach 
München,  um  sich  in  dem  ein  Jahr  vorher  von  Thiersch  begründeten 
philologischen  Seminar  für  das  Schulfach  auszubilden,  da  —  so  drückte 
er  sich  selbst  später  aus  —  seine  frühere  Vorliebe  für  dasselbe  aufs 
neue  erwacht  war.  Dort  benutzte  er  eifrig  den  Unterricht  von  Thiersch, 
der  ihm  viel  Wolwollen  schenkte ,  dem  er  auch  sein  Leben  lang  Wie 
größte  Verehrung  und  Treue  bewahrte.  Als  er  im  Jahre  1821  die  Prü- 
fung für  das  Gymnasisllehramt  mit  sehr  günstigem  Erfolge  bestanden 
hatte,  erhielt  er  ein  Staats-Reisestipendium,  so  dasz  er  die  Universität 
Leipzig  besuchen  konnte.  Indem  er  hier  bei  Spohn,  an  welchen  er  sich 
besonders  anschlosz,  und  G.  Hermann  hörte,  bereicherte  er  sich  mehr 
und  mehr  mit  den  Schätzen  gediegenen  Wissens.  Am  10.  Oct  1822, 
also  gleich  nach  seiner  Rückkehr  von  Leipzig,  wurde  er  zum  Lehrer 
am  Gymnasium  in  Erlangen  ernannt.  Vierzig  Jahre  blieb  seine  Thä 
tigkeit  demselben  gewidmet,  und  er  hat  es  Verdient,  dasz  diese  Lehr- 
anstalt mit  Dankbarkeit  seiner  gedenkt.  Von  unteren  Classen  allmäh- 
lich in  höhere  aufgerückt,  bekleidete  er  seit  1838  die  Lehrstelle  der 
III.  (zweitobersten)  Gymnasialciasse,  in  welcher  er  durch  geschmack- 
volle Anleitung  zum  deutschen  und  lateinischen  Stil,  durch  höchst  sorg- 
fältige Erklärung  des  Horaz,  Demosthenes,  Isokrates  und  anderer  Auto- 
ren den  Unterricht  zu  einem  sehr  fruchtbaren  machte.  Mit  besonderer 
Liebe  übernahm  er  seit  Jahren  in  der  IV.  (obersten)  Gymnasiaklasse 
die  Leetüre  des  Sophokles.  Eifrig  beachtete  er,  wie  aus  seinen  Ge- 
sprächen zu  erkennen  war,  alle  wissenschaftlichen  Erscheinungen» 
welche  seine  Lieblingsschriftsteller  betrafen.  Unter  den  Programmab- 
handlungen des  Gymnasiums  erschienen  von  ihm  1829:  Observstiones 


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Personalnotizen.  229 

ad  aliquot  Demosthenis  loeos;  1834:  Ueber  Biögraphieen  überhaupt,  und 
die  Plutarchischen  insbesondere,  als  Grundlage  des  ersten  historischen 
Unterrichts;  1839:  Ueber  die  Aufgabe  des  Uebersetzers.  Welches  Ver- 
trauen das  Staatsministerium  in  seine  Kräfte  setzte,  zeigt  der  Umstand, 
dasz  ihm  dreimal  zu  verschiedenen  Zeiten  Bectorate  von  Gymnasien 
zugedacht  waren;  er  lehnte  jedesmal  dankend  ab,  da  er  in  Erlangen 
su  bleiben  wünschte.  Am  1.  Jan.  1857  wurde  ihm  von  Sr.  Maj.  dem 
Könige  das  Ritterkreuz  I.  Classe  des  Verdienstordens  vom  hT  Michael 
verliehen.  Während  seines  langen  Aufenthalts  in  Erlangen  griff  er 
auch  in  viele  Verhältnisse  der  Einwohnerschaft  thätig  ein,  namentlich 
als  Förderer  gemeinnütziger  und  mildthätiger  Vereine,  und  nie  verhei- 
rathet  stillte  er  aus  eignen  Mitteln  manche  drückende  Not.  Viele  Stu- 
dierende fanden  an  ihm  einen  wolwollenden  Berather  und  Gönner,  vie- 
len blieb  er  auch  nach  Beendigung  ihrer  Studien  einfluszreicher  Helfer. 
Eine  Krankheit,  die  ihn,  während  der  letzten  Berbstferien  befiel,  machte 
so  rasche  Fortschritte,  dasz  er  am  30.  Sept.  1862  derselben  erlag  und 
seine  Bestattung  die  erste  Handlung  war,  welche  im  abgelaufenen  Schul- 
jahr Lehrer  und  Schüler  des  Gymnasiums  vereinigte.  Das  Gymnasium 
wird  ihm  als  einem  Lehrer,  der  die  Interessen  der  Schulanstalt  stets 
mit  gröstem  Eifer  vertrat,  der  von  inniger  Liebe  zu  seinem  Berufe  er* 
füllt  war  und  zahlreiche  Schüler  treu  heranbilden  half,  immer  ein  ehren- 
volles Andenken  erhalten. 


Personalnotizen. 

(Unter  Mitbenutzung  des  'Centralblattes'  von  Stiehl  und  der  *  Zeit- 
schrift für  die  Österr.  Gymnasien'.) 


Ernennungen,  Beförderungen,  Versetzungen,  Auszeichnungen. 

Agte,  H.,  als  ordentlicher  Lehrer  am  Progymnasium  zu  Schrimm  an- 
gestellt. 

Bellermann,  Prof.  Ferd.,  Landschaftsmaler,  erhielt  den  rothen  Adler- 
orden IV  Kl. 

Bernhardt,  Dr.,  als  ordentlicher  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Sorau  an- 
gestellt. 

Bormann,  Provinzial-Schulrath  zu  Berlin,  erhielt  den  rothen  Adler* 
orden  III  Kl.  mit  der  Schleife. 

Bouterwek,  Dr.,  Director  des  Gymnasiums  zu  Elberfeld,  als  'Profes- 
sor* prädiciert. 

Brüggemann,  Dr.,  Geh.  Ober-Reg.-Rath  zu  Berlin,  erhielt  den  Stern 
zum  rothen  Adlerorden  II  Kl.  mit  -Eichenlaub. 

Busch,  Dr.,  ord.  Professor  an  der  Universität  Bonn,  erhielt  den  rothen 
Adlerorden  IV  Kl. 

Bussmann,  Dr.,  als  ordentlicher  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Hamm 
angestellt. 

v.  Daniels,  Dr.,  Obertribunalrath  u.  ao.  Professor  an  der  Universität 
Berlin,  erhielt  den  rothen  Adlerorden  II  Kl.  mit  Eichenlaub. 

Dorn  er,,  Dr.,  Oberconsistorialrath  u.  ord.  Professor  an  der  Universität 
Berlin,  erhielt  den  rothen  Adlerorden  III  Kl.  mit  der  Schleife. 

Döring,  bisher  Gymnasiallehrer  zu  Wesel,  zum  ord.  Lehrer  an  der 
Realschule  in  Barmen  berufen. 

Eggert,  Dr.,  ordentl.  Lehrer  am  Pädagogium  zu  Jenkau,  zum  'Ober- 
lehrer' befördert. 


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230  Persinalnotizeti. 

fettge  *,  Dr,,  Direetor  des  Gymnasiums  au  Ostrowe,  erhielt  den  rothen 
Adlerorden  IV  Kl. 

Freudenberg,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Bonn,  als  'Profes- 
sor' prädieiert. 

Frey,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zttj     v 

FriSuider,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  GymJ  al*  Oberlehrer'  prädieiert, 

nasium  zu  Elbing  ' 

Graefe,  Dr.,  Privätdooent,  zum  ao.  Prof.  in  der  med.  Fac.  der  Univ. 

Halle  ernannt. 
Grunert,  T>T.y  ordentl.  Professor  an  der  Univ.  Greifswald,  erhielt  den 

rothen  Adlerorden  IV  Kl. 
Hoff  mann,    Dr.,    als   Adjunct  am  Joachimsthalsehen  Gymnasium  zn 

Berlin  angestellt. 
Hoffmann,  Dr.  Paul,  zum  Professor  des  röm%  und  Kirchenrecht»  an 

der  Rechtsakademie  zu  Pressburg  berufen. 
Hopf,  Dr.  Ki,  ao.  Professor  in  Greifswald,  zum  Oberbibliothekar  der 

Königlichen  und  Universitätsbibliothek ,  und  zum  ord.  Prof.  in  der 

philos.  Fac.  an  der  Univ.  Königsberg  berufen. 
Jagielski,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Trzemeszno,  als  ord.  Lehrer 

am  Gymnasium  zu  Ostrowo  angestellt. 
Joachim,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Dortmund  angestellt 
Kram  er,  Dr.,  Prof.  u.  Director  der  Franckeschen  Stiftungen  in  Halle, 

erhielt  den  rothen  Adlerorden  in  Kl.  mit  der  Schleife. 
Kolter,  Dr.,  als  Lehrer  an  der  höhern  Bürgerschule  zu  Rheydt  an- 
gestellt. 
Krönig,  Dr.,  Oberlehrer   an   der   königl.  Realschule   zu  Berlin,   als 

'Professor'  prädieiert. 
Laban d,  Dr.,  Privatdocent  in  Heidelberg,    zum  ao.  Professor  in  der 

jur.  Fac.  der  Univ.  Königsberg  berufen» 
Landfermann,  Dr.,  Geh.  Reg.-Rath  u.  Provinzial-Schulrath  zu  Cob- 

lenz,  erhielt  den  rothen  Adlerorden  III  Kl.  mit  der  Schleife. 
Lehnert,  Dr.,  wirkl.   Geh.  Ober-Reg.-Rath  u.  Unterstaatsseeretär  im 

Ministerium  der  geistl.  Angelegenheiten,    erhielt    den    Stern   zum 

rothen  Adlerorden  II  Kl.  mit  Eichenlaub. 
Lipschitz,  Dr.,  ao.  Prof.  an  der  Univ.  Breslau,  zum  ord.  Prof.  in  der 

philos.  Fac.  der  Univ.  Bonn  ernannt. 
Lucas,  Dr.,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Rheine  angestellt. 
Mandel,  Kupferstecher,  Professor  zu  Bertin,  erhielt  das  Ritterkreuz 

des  belgischen  Leopoldordens. 
Meinike,  Dr.,  Director  des  Gymnasiums* 

zu  Prenzlau,  f  erhielt  den  rothen  Adlerorden 

Menzel,  Drt,  ord.  Professor  am  Lyceumt    IV  Kl. 

zu  Braunsberg  ' 

Mylius,  SehAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Stolp  angestellt. 
Neumann,  Dr.,  Geh.  Reg'.-Rath  u.  Professor  an  ßtet  Univ.  Königsberg, 

erhielt  den  rothen  Adlerorden  II  Kl.  mit  Eichenlaub. 
Petermann,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Gütersloh,  als  'Ober- 
lehrer' prädieiert.. 
Radlkofer,  Df.  L.,  ao.  Professor,  zum  ord.  Professor  der  Botanik  an 

der  Univ.  Mönchen  ernannt. 
v.  Recklinghausen,  Dr.,  erster  Assistent  bei  dem  pathol.  Institut  in 

Berlin,  zum  ord.  Professor  in  der  med.  Fac.  der  Univ.  Königsberg 

berufen. 
Beb  er,  Dr.,  Privatdocent,  zum  ao.  Professor  in  der  philos.  Fac.  der 

Univ.  München  ernannt. 
Reichert,  Dr.,  Geh.  Medie.Rafh  u.  ord.  Professor  an  der  Univ.  Berlin, 

erhielt  den  rothen  Adlerorden  IV  Kl. 


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Personalnotizen.  231 

Richter,  SchAC,  als  wiss.  Hülfslehrer  an  der  Bealiohttle  zu  Barmen 

angestellt.  % 

Scheiding,  SchAC,  als  ordentlicher  Lehrer  am  Gymnasium  au  Stolp 

angestellt. 
Schmidt,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Progymnasium  zu  Trarbaeh,  als  r Ober- 
lehrer9 prfidicieri  » 
Schmidt,  Dr.,  Director  am  Gymnasium  in  Brilon,  als  Director  an  das 

Gymnasium  au  Paderborn  versetzt. 
Schmitt,  Dr.,  Director  am  Gymnasium  zu  Weilburg,  zum  Oberschul- 

rath  ernannt. 
Schömann,  Dr.,  Geh.  Reg.  Bath  u.  arcL  Professor  in  der  phUos.  Fac. 

der  Univ.  Greifswald,    zum  Bitter  des  Ordens  pour  le  me'rite  für 

Wissenschaften  und  Künste  ernannt. 
Schubarth,  Dr.,  Geh.  Reg.-Bath  u.  ao.  Professor  in  der  philo«.  Fac. 

der  Universität  Berlin,  erhielt  den  rothen  Adlerorden  II  Klasse  mit 

Eichenlaub. 
Schulz,  Beruh.  Augustin,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Conitz 

angestellt. 
Schweitzer,  Dr.,  Geh.  Reg.-Bath  und  Provinzial-Schulrath  zu  Cöln, 

erhielt  den  preusz.  Kronenorden  II  Kl. 
Sommerbrodt,  Dr.,  Director  des  Friedrich  -Wilhelm  -  Gymnasiums  zu 

Posen,  erhielt  dem  rothen  Adlerorden  FV  Kl. 
Stahl,  Dr.,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  au  Apeetem  in  Com  an- 
gestellt. 
Stauder,  Dr.,  Oberlehrer  bei  dem  Gymnasium  an  Mari  eilen  in  Cöln, 

als  Director  des  Gymnasium«  zu  Emmerich  berufen. 
Tappe,  SchAC,  als  ord«  Lehrer  aa  der  königstädtischen  Realschule 

zu  Berlin  angestellt. 
Waizsäcker",  Dr.,  Privatdocent,  zürn  ord.  Professor  der  Geschichte 

an  der  Univ.  •  Erlangen  ernannt. 
Witte,  Dat.  Herrn.,  ao.  Professor,  zum  ord.  Professor  in  der  jur.  Fac. 

der  Univ.  Greifswald  ernannt 
Witte f  Dr.  K.,  Geh,.  Justizrath  und  ord.  Professor  der  Bechte  an  der 

Univ.  Halle,  erhielt  daa  Ritterkreuz  I  Kl.  des  baltischen  Terdienst- 

ordens  vom  h.  Michael. 
Wohl  er,  Dr.,  Obet-Medic.-Raih  u.  ord.  Professor  zu  Göttingen,  zum 

Bitter  den  Ordens  pour  le  me'rite  für  Wissenschaften  und  Künste 

ernannt. 
Zirkel,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu. Bonn,  als 'Professor*  präctieiert. 

In  Ruhestand  getreten! 

Brohra,  Dr.,  ordentl.  Lehrer  am  Gymnasium  und  der  Realschule  zu 

Thorn, 
Knick,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Neustettin. 
Krön  ig,  Dr.,  Oberlehrer  u.  Professor  an  der  königl.  Realschule  zu 

Berlin. 
Schweitzer,  Dr.,  Geh.  Beg.-Bath  u.  Provinzial-Schulrath  zu  Cöln. 
Starke,  Dr.,  Director  des  Gymnasiums  zu  Neuruppin. 

Gestorben: 

Bock,  Regierungs-  und  Schulrath  zu  Gumbinnen,  starb  am  20  Jan. 

Calame,  Alex.,  geb.  zu  Vevay  1814,  starb  im  Süden  Heilung  für  seine 
erschütterte  Gesundheit  suchend,  zu  Mentone,  im  Fürstentum  Mo- 
naco, am  21  März.  (Einer  der  grösten  Landschafter,  Mitbegründer 
der  neueren  Genfer  Schule.) 

Dietzel,  Dr.  Gust,  ord.  Prof.  des  röm.  Rechts  zu  Kiel,  starb  im  April. 


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232  Personalnotizen. 

Ebert,  Oberlehrer  am  Gymnasium  211  Stargard,  starb  am  24.  Januar. 
F landriii,  Hippolyte,    geb.   1815  zu  Lyon,    starb  im  März  zu  Rom. 

(Einer  der  namhaftesten  franz.  Maler,  Schüler  von  Ingres.) 
Gartz,  Dr.,  ao.  Professor  in  der  philos.  Fac.  der  Univ.  Halle,  starb 

am  31  Janaar.  * 

y.  Geib,  Dr.  Gust.,  Professor  des  Strafrechts  und  Senior  der  Juristen- 

facultät  zu  Tübingen,  starb  am  23  März, 
y.  Genczik,  Dr.  Aug.,    durch  seine  Reisen  in  Afrika  bekannt,   starb 

am  27.  April. 
Gerkrath,  Dr.,  ao.  Professor  in  der  philos.  Facultät  des  Lyceums  zi 

Braunsberg,  starb  am  1.  Jan. 
Gerling,  Dr.  Christian  Ludw.,  Geh.  Hofrath  u.  ordentl.  Professor  dei 

Mathem.,  Physik  u.  Astronomie  an  der  Univ.  Marburg,    starb  aa 

16.  Jan. 
Hase,  Dr.  Karl  Benedict,  geb.  1780  in  Suiza,  starb,  84  Jahr  alt,  aa 

21  März  zu, Paris,  als  Mitglied  des  Instituts  und  Director  der  kak 

serlichen  Bibliothek,  an  welcher -er  bereits  lfc04  auf  Befehl  Napfi 

leon*s  des  ersten  Consuls  angestellt  ward. 
Hoff  mann,  Dr.  Andr.  Gottlieb,  Geh.  Kirchenrath,  Senior  der  thes| 

Fac.  an  der  Univ.  Jena,  starb  am  16.  März,  geb.  zu  Welbslebei 

1796. 
Eahlert,  Dr.  Aug.,   Professor  der  neueren  Littefatur  an  der  Univei* 

Breslau,  ebenda  am  6  März  1807  geb.,  starb  am  29  März.  (Syste« 

der  Aesthetik.    Schlesiens  Anteil  an  deutscher  Litteratur.    Fein« 

sinnige  Kunstnovellen.) 
Piegsa,  Dr.,  Oberlehrer  und  Professor  am  Gymnasium  zu  Ostrow« 
Ploner,  Jos.,  emer.  Professor  am  Gymnasium  zu  Innsbruck,  starb  aa 

9  Februar. 
Rubino,  Dr.,  Professor  der  Geschichte  zu  Marburg,  starb  am  1(X  AprS 

das.  (Gegner  Niebuhr's). 
Sachs,  Dr.  Mich.,  Rabbinats-Assesor  zu  Berlin,  starb  am  SU  Januas 

(Auf  dem  Gebiete  der  hebr.  Sprachforschung  eifrig  thätig.) 
Steinacker,  Dr.  Wilh.  Ferd.,  Appellationsrath,  Domherr  u.  ord.  Pr» 

fessor    der   Jurisprudenz    an    der   Universität   Leipzig,    starb 

14  März. 
Tölken,  Dr.,  Geh.  Reg.-Rath,  Professor  u.  Director  der  Antiquar.  Ab» 

teilung  des  Museums  zu  Berlin,  starb  am  17  März'  daselbst,  im  79 

Lebensjahr. 
Zip 8 er,  Dr.  Christian  Andr.,  starb  zu  Neusohl  in  Ungarn  am  20  Febr^ 

80  Jahr  alt  (fder  Nestor  der  ungar.  Naturforscher'). 


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Zweite  Abteilung. 


Seite 

15.  Aus  dem  Jugendleben  Michael  Neander's.     Vom  Gymna- 
siallehrer Dr.  F.  Latendorf  in  Schwerin 169 — 179 

16.  Goethe's   elegische  Dichtungen   in  ihrem  Rechte.     Vom 
Bibliothekar  Prof,  Dr.  H.  Dünizer  in  Köln 180—201 

17.  Amor  und  Psyche.     Vom  Studienlehrer  Dr.  H.  Stadelmann 

in  Memmingen 202—212 

Berichte  über  gelehrte  Anstalten  usw 213 — 228 

Arnsberg  (215),  Bielefeld  (215),  Brilon  (215),  Burgsteinfurt 
(216),  Coesfeld  (216),  Dortmund  (216),  Gütersloh  (217),  Hamm 
(217),  Herford  (217),  Minden  (218),  Münster  (218),  Paderborn 
(219),  Recklinghausen  (219),  Soest  (219),  Warendorf  (219), 
Aachen  (221),  Bedburg  (224),  Bonn  (224),  Cleve  (225),  Co- 
blenz  (225),  Duisburg  (225),  Düren  (226),  Düsseldorf  (226), 
Elberfeld  (226),  Emmerich  (227),  Essen  (227),  Kempen  (227). 

Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.    V.  Nekrolog 228 — 229 

Personalnotizen 229—232 


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Leipzig, 

Druck  and  Verlag  von  B.  G.  Teubner. 
1864. 


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BBS 


Zweite  Abteilung: 

für  Gymnasialpädagogik  and  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschlusz  der  classischen  Philologie, 
herausgegeben  tm  Prtfesstr  Dr.  lerian  Mastis. 


18. 

Noctes»  scholasticae. 


2. 
Pfußoherei,  Handwerk  und  Kunst  im  Unterricht. 

Es  hat  mich,  ich  will  es  offen  bekennen,  jedesmal  eiskalt  Oberläufen, 
wenn  ich  über  einen  Lehrer  das  harte,  mitleidslose,  vernichtende  Urteil 
habe  hören  müssen,  er  betreibe  sein  Lehramt  handwerksmäszig. 
Gehört  es  denn,  habe  ich  da  oft  bei  mir  gedacht,  so  notwendig  zn  dem 
Wesen  des  Handwerks,  dasz  es  mechanisch,  geistlos  getrieben  werde? 
Ist  mit  ihm  eine  rechte  Liebe  zur  Jugend,  zur  Wissenschaft,  zu  der  Thä- 
tigkeit  und  dem  Berufe  selbst  so  durchaus  unvereinbar?   Oder  ist  das 
Lehren  wirklich  eine  Sache,  bei  welcher  eine  handwerksmäszige  Tätig- 
keit absolut  verwerflich  wäre?  Ich  selbst  hatte  von  dem  Handwerk  stets 
grosz  gedacht  und  die  echten  Meister  des  Handwerks  hoch  in  Ehren  ge- 
halten; ich  hatte  auch  gelesen,  \\ie  in  andern  geistigen  Gebieten,  z.  B. 
der  bildenden  Kunst,  der  Musik,  ja  selbst  der  Poesie,  mancher  ehrbare 
Meister  erstanden  sei ,  dessen  Leistungen  sich  zum  Kunstwerk  erhoben 
hätten;  ich  hatte  es  daher  selbst  meine  unausgesetzte,  gröste  Sorge  sein 
lassen ,  mir  im  Lehrfach  ein  Analogon  von  handwerksmäsziger  Tüchtig* 
keit  anzueignen,  und  sollte  nun  von  dem,  worauf  ich  den  bessern  Teil 
meines  Lebens  und  Strebens  verwendet,  so  misachtend  sprechen  hören? 
Wie  mich  das  befremdet ,  gewurmt ,  zu  dieser  und  jener  Vermutung  ge- 
bracht hat,  kann  ich  kaum  mit  Worten  sagen.    Entflieh  habe  ich  mich 
entschlossen  meine  Gedanken  hierüber  zu  sammeln ,  zu  ordnen  und  zu 
verwerten,  um  mich  vor  mir  selbst  zu  Ehren  zu  bringen  und  auch  andere 
auf  das  Handwerk  hinzuweisen  als  auf  etwas,  dessen  sie  nicht  nötig 
haben  sich  zu  schämen.    So  sind  die  folgenden  Worte  entstanden;  ich 
kann  versichern,  dasz  ich  mich  lange  mit  diesen  Fragen  herumgetragen 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  n.  Pid.  II.  Abt.  1864.  Hft.  5  u.  6.  16 

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234  Noctes  scholasticae. 

habe  und  meine  Gedanken  nicht  würde  veröffentlicht  haben ,  wenn  ich 
nicht  dächte,  dasz  sie  doch  vielleicht  hier  und  da  auf  fruchtbaren  Boden 
fallen  könnten. 

Goethe  hat  vor  Zeiten  einmal  gesagt,  es  verhalte  sich  die  Pfuscherei 
zum  Handwerk  wie  der  Dilettantismus  zur  Kunst.  In  unserm  Schulfache 
fällt  der  Dilettantismus,  soll  ich  lieber  sagen  Gottlob  oder  leider?  hinweg. 
Denn  unsere  Thätigkeit  ist  nicht  so  angethan,  dasz  sie  eine  leichte,  hei- 
tere und  genuszreiche  Beschäftigung  darböte  und  so  die  Liebhaberei  reizte; 
eben  so  wenig  aber  ist  dasProduct,  welches  sie  zu  gewinnen  strebt, 
geeignet,  durch  Ostentation  sich  bei  der  Menge  Gunst  zu  erwerben. 
Es  bleiben  uns  also  nur  die  drei  Rubriken  der  Pfuscherei,  des  Hand- 
we  r  k  s  und  der  Ku  n  s  t  übrig,  unter  welche  wir  uns  schon  gefallen  lassen 
müssen  eingeordnet  zu  werden.  Man  wird  natürlich  nicht  an  dem  Aus- 
druck Handwerk  mäkeln  dürfen ,  indem  man  das  Handwerk  auf  diejenige 
Thätigkeit  beschränkt,  welche  ein  £pYOV,  nicht  aber  eine  irpä&C  «zum 
Ziele  und  Zwecke  hat;  uns  ist  es  hierbei  nicht  um  dieses  Product  der 
Thätigkeit ,  sondern  um  die  Beschaffenheit  der  Thätigkeit  selber  zu  thun, 
und  so  dürfen  wir  wol  den  Begriff  des  Handwerks  im  weiteren  Sinne  ge- 
brauchen, um  so  eher  als  wir  das  Handwerk,  auch  im  Lehrfache,  mit 
groszer  Hochachtung  betrachten.  Denn  wie  es  in  der  Mitte  steht  zwischen 
erbärmlicher  Pfuscherei  und  der  vom  Himmel  stammenden ,  zum  Himmel 
strebenden  Kunst,  in  sich  selbst  solide  und  tüchtig,  seiner  selbst  gewis, 
Achtung  gebietend  und  verdienend,  selbst  die  Voraussetzung  der  Kunst, 
die  ohne  die  Basis  des.  Handwerks  sich  ins  Phantastische  und  Nebelhafte 
verlieren  wurde ,  so  kann  «5  auch  dem  Lehrer  nur  zur  Ehre  gereichen, 
wenn  man  ihn  in  aller  Weise  einen  Schulmeister  nennen  möchte. 

Es  haA  offenbar  lange  gedauert ,  ehe  man  es  zu  der  Idee  des  Hand- 
werks —  ich  spreebe  von  dem  Handwerk  überhaupt  —  gebracht  hat. 
Wie  viele  Schritte  haben  gethan  werden  müssen  von  der  Zeit  ab,  wo  der 
einzelne  in  roher  Wqise  allen  seinen  Bedürfnissen  zu  genügen  suchte,  bis 
zu  der  Zeit,  wo  das  Handwerk  sich  ausgebildet  und  zu  Ehren  hinangear- 
beitet hatte!  Das  Handwerk  ist  nicht  eine  Frucht,  welche  mühelos  dem 
Menschen  in,  den  Schosz  herabgefallen  ist,  sondern  das  Resultat  eigener, 
mühevoller  und  langwieriger  Arbeit.  Ueberblicken  wir  nur  einmal  den 
Weg,  welcher,  hat  zurückgelegt  werden  müssen,  ehe  die  Frucht  des  Hand- 
werks gezeitigt  worden  ist. 

Das  Handwerk  beginnt  mit  einer  durch  irgend  ein  Bedürfnis  veran- 
lassten Thfti&keit,  welche  der  Mensch  für  den  Zweqk  des  eignen  Lebens 
übernimmt;  diese  Thätigkeit  ist  eine  sich  wiederholende  und  zwar  eine 
sich  mit  einer  gewissen  Regelmäszigkeit  wiederholende;  aus  einer  ein- 
maligen und  zufälligen  entwickelt  sich  kein  Handwerk,  bie  Wiederholung 
einer  gleichartigen  Thätigkeit  gibt  für  diese  eine  gröszere  Gewandtheit 
und  ein  Bewußtsein  über  die  Art,  wie  diese  Arbeit  am  leichtesten,  rasche- 
sten und  sichersten  auszuführen  sei.  Wenn  andere,  von  gleichem  Be- 
dürfnisse getrieben,  diesem  Bedürfnisse  in  anderer  Weise  nachkommen, 
so  wird  dadurch  daß  Nachdenken  erweckt,  welcher  von  den  vielen  Wegen, 
die  alle  zu  demselben  Ziele  fahren ,  der  bessere  und  beste  sei ;  ist  dieser 


Noctes  scholasticae.  285 

Weg  erkannt,  so  werden  bald  alle  andern  Wege  aufgegeben  and  nur  der 
eine  anerkannt  beste  betreten  und  verfolgt  werden,  und  diejenigen,  wel- 
che ihn  noch  nicht  kennen ,  welche  aber  von  seinem  Vorhandensein  ge- 
hört haben,  sich  von  den  seiner  Kundigen  über  ihn  unterrichten  lassen. 
Sie  werden  dies  um  so  mehr  thun,  je  mehr  die  Zahl  der  Bedürfnisse 
steigt  und  je  complicierter  jedes  einzelne  Bedürfnis  wird  d.  h.  je  mehr 
Bedürfnisse  in  dem  einen  Bedürfnisse  zugleich  mit  eingeschlossen  sind 
und  befriedigt  sein  wollen.  Allein  auch  dies  wird  bald  nicht  mehr  ge- 
nügen. Trotz  jenes  Unterrichts  wird  doch  die  Notwendigkeit  eintreten, 
dasz,  damit  jedem  einzelnen  Bedürfnisse  in  möglichst  hohem  Grade  Genüge 
geschehe,  die  Arbeit  sich  teile  und  nicht  mehr  jeder  für  sich  allein,  son- 
dern einer  für  viele  und  viele  für  einen  arbeiten.  Die  Organisation  der 
Arbeit  hat  begonnen.  Mit  der  Goncentration  der  Thatigkeit  auf  einen  be- 
stimmten Kreis  vervollkommnet  sich  diese  Thatigkeit  mehr  und  mehr;  das 
Bewustsein  über  sie  wird  klarer,  die  Technik  sicherer  und  gewandter, 
die  Werkzeuge  künstlicher  und  schwerer  zu  gebrauchen;  es  ist  nunmehr 
nötig,  dasz  die  Thatigkeit  auf  einem  förmlichen  Erlernen ,  auf  langer  und 
accurater  Uebung  beruhe.  Der  Laie,  welcher  diese  Arbeit  nicht  auf  sich 
nimmt,  kann  nicht  mehr  das  Gleiche  leisten  wie  der  'Gelernte5.  Es  wäre 
Vermessenheit,  wenn  er  mit  dem  rivalisieren  wollte,  der  sich  sein  Können 
hat  so  sauer  werden  lassen  müssen.  Um  diesem  Eindringen  zu  wehren, 
schiieszen  sich  diejenigen,  welche  an  Tüchtigkeit  einander  gleich  stehen 
und  überdies,  da  sie  auf  diese  Tüchtigkeit  ihre  Stellung  im  Leben  grün» 
den,  auch  durch  gleiches  Interesse  verbunden  sind,  an  einander  und  eben 
so  nach  auszen  hin  ab:  es  bildet  sich  ein  Stand  mit  bestimmter  Organi- 
sation, in  bestimmten  Formen,  mit  bestimmten  Gebräuchen,  in  und  au 
denen  sich  die  Standesgenossen  als  solche  erkennen. 

Ich  wüste  in  der  That  nicht,  dasz  der  Weg,  auf  dem  sich  allmählich 
eine  Technik  des  Unterrichts  und  ein  Lehrerstand  gebildet  hat,  von  dem 
wesentlich  verschieden  wäre,  auf  dem  sich  jedes  Handwerk  entwickelt 
hat.  Allerdings  ist  das  Bedürfnis,  welchem  durch  die  Thatigkeit  des  Leh- 
rers genügt  werden  soll,  ein  aus  der  geistigen  Natur  des  Menschen  ent- 
sprungenes; allerdings  sind  die  Mittel,  deren  sich  der  Lehrer  bedient, 
wieder  mehr  geistige;  abgesehen  hiervon  aber  ist  der  Gang,  auf  dem  diese 
Thatigkeit  des  Lehrers  zu  immer  gröszecer  Vollkommenheit  gelangt  ist, 
doch  der  gleiche,  wie  der  oben  angedeutete.  Der  Unterricht  beginnt  in 
sehr  einfacher  und  roher  Empirie ,  gelangt  nach  und  nach  zum  Bewust- 
sein über  ein  dabei  einzuhaltendes  Verfahren ,  gewinnt  durch  Abstractiod 
gewisse  Regeln,  welche  dabei  befolgt  werden  müssen,  erreicht  mit  Hülfe 
dieser  Regeln  eine  sichere  Technik,  welche  sich  dann  traditionell  erhält 
und  immer  mehr  vervollkommnet ,  und  wird  so  zu  einem  Geschäfte  — 
ich  würde  sagen  Kunst,  wenn  uns  dieser  Ausdruck  nicht  in  Zweideutig- 
keiten verwickelte — ,  welches  nicht  mehr  der  erste  beste  ausüben  kann, 
sondern  nur  derjenige,  welcher  es  wirklich  auf  regelrechte  Weise  gelernt 
hat.  Wir  sind  über  die  Grundsätze  der  allgemeinen  Didaktik  der  Alten 
besser  unterrichtet  als  über  das  technische  schulgerechte  Verfahren ;  aber 
auch  was  das  letztere  anbetrifft,  so  können  wir  doch  in  einzelnen  Teilen 

16* 

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236  Noctes  scholasticae. 

des  Unterrichts,  wie  in  der  Grammatik  und  in  der  Rhetorik,  sehr  deut- 
lich beobachten,  wie  diese  Disciplinen  sich  in  einer  Art  von  Continuitäl 
fortbildeten  und  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fortpflanzten,  wie  man  an 
dem  Bewahrten,  durch  Erfahrung  Erprobten  festhielt,  fast  mit  Pedanterie, 
und  hieran  anknüpfte,  wie  man  eine  Abneigung  hegte  gegen  absolut 
neue  Wege  und  dafür  lieber  am  Traditionellen  besserte  und  flickte,  bis 
man  sich  dabei  in  Kleinigkeiten  verlor.  Wenn  man  die  Rhetoren  der 
Byzantiner  verfolgt,  so  wird  man  das  Gefühl  haben,  dasz  man  sich  gam 
auf  dem  Boden  des  Handwerks  befindet.  Sie  nehmen  denselben  Gang,  voi 
dem  sie  je  länger  um  so  weniger  abweichen ;  sie  haben  bis  auf  Kleinig- 
keiten die  einmal  herkömmlichen  Definitionen,  oft  selbst  die  nemlichei 
Beispiele,  an  denen  sie  ihren  Schülern  ein  Progymnasma  klar  machen; 
sie  glauben  schon  etwas  Groszes  geleistet  zu  haben,  wenn  der  spätere  ai 
der  Definition  der  früheren  ein  Wort  ändert,  hinzufügt  oder  wegläszt; & 
haben  auch  ihre  Stichworte,  an  denen  sie  sich  als  Handwerksgenoss« 
erkennen.  Und  in  dieser  meinetwegen  beschränkten  Sphäre,  in  diesen 
immerhin  geistlosen  Treiben  sind. sie  mit  einer  Treue  und  Gewissenhaftig- 
keit thätig,  welche  jeden  Beobachter,  der  hierfür  ein  Herz  hat,  mit  wahi 
rer  Rührung  erfüllen  musz.  Die  Definition  Goethe's ,  das  Handwerk  setze 
voraus,  dasz  irgend  eine  Fertigkeit f  nach  Regeln  gelernt,  auf  die  be- 
stimmteste Weise  nach  der  Vorschrift  und  unter  dem  Schutze  des  Ge- 
setzes geübt  werde ,  gilt  auch  in  der  letzten  Bestimmung  völlig  von  dei 
Art  und  Weise ,  wie  von  den  Rhetoren  und  von  den  Grammatikern  di( 
Praxis  des  Unterrichts  geübt  wurde. 

Es  sind  also  diese  beiden,  Regeln  und  Technik,  welche  d* 
Handwerk  constituieren ;  wir  werden  diese  beiden ,  Regeln  und  Technik 
auch  von  jedem  Lehrer  zu  fordern  berechtigt  sein ;  wir  werden  sich«, 
wenigstens  den  Lehrer,  der  diese  beiden  wirklich  besitzt  und  nach  und, 
mit  ihnen  seine  Arbeit  treibt,  als  einen  Mann  betrachten,  der  sein  Fad 
versteht,  wenn  wir  auch  einräumen,  dasz  es  einzelne  Lehrerpersönlichkeit« 
geben  könne,  welche,  auch  ohne  jene  beiden  Requisite,  als  Lehrer  Tüeb 
tiges  geleistet  haben.  Ein  eigentlicher  Lehrstand  vollends,  in  sich  abgfr 
schlössen ,  ist  nicht  zu  denken  ohne  eine  solche  ihm  speciell  eigentüm- 
liche Erworbenschaft  an  Regeln  und  Technik,  man  müste  denn  glauben 
dasz  eine  Anzahl  Leute,  die  ein  und  dasselbe  Geschäft  treiben,  aber jedä 
nach  seiner  eigenen  Manier,  sich  für  ein  Ganzes  zu  halten  berechtigt  wäre 

Und  doch  scheint  es,  als  ob  man  dieser  strengen  Zucht,  wie  man  ä 
früher  besessen  und  geübt  hat,  wie  sie  das  Handwerk  überall  fordert 
jetzt  ohne  Schaden  entbehren  zu  können  meine.  Zwar  offen  ausgesprochei 
hat  man  diese  Geringschätzung  nicht;  gleichwol  ist  sie  kaum  zu  bezwei- 
feln. Wir  wüsten  nicht,  dasz  die  Behörden  von  dem  angehenden  Lehrer 
den  Nachweis  forderten,  dasz  er  sich  pädagogisch -methodisch  zu  bilden 
gesucht  habe.  Die  jungen  Leute  selber  zieht  es  eher  zu  allen  andern  aN 
diesen  Studien.  Das  Probejahr ,  welches  in  Preuszen  so  weise  angeordnet 
war,  ist  bei. dem  herschenden  Mangel  an  Lehrern  halb  illusorisch  gewor- 
den, da  wir  sehr  froh  sein  müssen,  nur  Lehrer  zu  bekommen,  wenn  sie 
auch  vom  Unterrichten  noch  so  gut  wie  nichts  verstehen.  Die  Folge  davon 


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Noctes  scholasticae.  237 

ist,  dasz  die  Zahl  der  technisch  wohlgeschalten  und  tüchtigen  Lehrer 
äuszerst  gering  ist,  und  dasz  wir  sehr  froh  sein  müssen,  wenn  wir  Leh- 
rer besitzen,  welche  entweder  von  einem  natürlichen  Tacte  geleitet  das 
Rechte  treffen  und  thun  oder  von  ihrer  Jugend  her  ein  Ideal  mitbringen, 
welches  sie  fest  im  Auge  behalten  und  in  ihrer  eigenen  Thätigkeit  dar* 
zustellen  suchen.  Es  ist  das  alles,  wir  leugnen  es  nicht,  recht  schön 
und  löblich,  ersetzt  aber  immer  nicht  die  Techne  und  die  technische  Zucht, 
und  es  gelten  in  dieser  Beziehung  noch  heut  wie  immer  die  goldenen 
Worte,  welche  Aristoteles  im  Eingange  zu  seiner  Rhetorik  zum  Lobe  der 
Techne  und  über  die  Mangel  und  Unsicherheit  der  Hezis  gesagt  hat.  Es 
wird  natürlich  immer  einzelne  Lehrer  geben ,  welche  ohne  Theorie  und 
System,  ohne  technische  Zucht  und  Schulung  im  Unterricht  und  in  der 
Erziehung  Vollendetes  leisten ,  wie  dies  ohne  Zweifel  Wolf  in  Osterode 
geleistet  hat,  welche  nicht  nach  vorgeschriebenen  Regeln  arbeiten,  son- 
dern in  bewuster  und  bewustloser  Genialität  von  innen  heraus  streben  und 
schaffen ;  aber 

1)  ist,  was  diesen  hervorragenden  Genien, möglich  war,  nicht  für 
den  Lehrstand  als  Gesamtheit  möglich; 

2)  werden  eben  deshalb  von  Zeit  zu  Zeit  solche  Männer  der  Welt 
geschenkt,  damit  sie  ein  ganz  in  Regeln  untergehendes  und  darin  erster- 
bendes Geschlecht  wieder  beleben  und  kräftigen,  und  eine  Oisciplin  in 
neue  Bahnen  einlenken ; 

3)  sehen  wir  doch  auch  bei  ihnen  eine  Unsicherheit  und  ein  Hin-  und 
Herschwanken  der  Ansichten  und  Meinungen ,  so  dasz  es  z.  B.  schwer 
sein  dürfte,  aus  Wolf  s  Aeuszerungen ,  wie  er  sie  zu  verschiedenen  Zeiten 
gethan  bat,  ein  System  Wolfischer  Pädagogik  und  Didaktik  zu  entwerfen 
—  womit  ich  natürlich  nichts  zum  Nachteil  Wolfs  gesagt  haben  will. 
Im  Gegenteil  finde  ich  es  nur  natürlich ,  dasz  ein  so  hoher  und  reicher 
Geist  den  Standpunkt  wechsele ,  von  dem  aus  eine  Sache  zu  betrachten 
ist,  um  die  Fülle  tiefer  und  wahrer  Gedanken,  welche  aus  seiner  Seele 
hervorquillt ,  ans  Licht  zu  fördern  und  uns  kleinen  Geistern  nutzbar  zu 
machen.  Was  aber  einem  Wolf  natürlich  ist,  wird  für  uns  zu  einem  Feh- 
ler und  zu  einer  Schwäche. 

Fragen  wir  uns  nun,  woher  diese  Misachtung  der  Technik  stamme, 
so  ruht  sie 

1)  entweder  auf  dem  guten  und  frommen  Glauben ,  es  werde  sich 
mit  dem  Unterricht  schon  von  selber  machen ,  auf  der  Vorstellung  also 
von  dem  Unterrichten  als  einer  leichten  Sache ,  zu  der  es  keiner  besonde- 
ren Schulung  und  keiner  speciellen  Lehrzeit  bedürfe.  Es  ist  das  freilich 
eben  so  weise ,  wie  wenn  man  einen  Knaben ,  der  nie  schwimmen  gelernt 
hat,  in  tiefes  Wasser  werfen  wollte,  in  der  Meinung,  das  Schwimmen 
werde  sich  von  selber  machen.  Freilich  macht  es  sich  auch,  aber  wie? 
und  mit  welchem  Schaden  für  die  Schule?  Manche  Lehrer  bleiben  in 
Folge  dessen  immer  Anfänger  und  Lehrlinge;  andere,  die  besseren,  tüch- 
tigeren, arbeiten  sich  heraus  und  kommen,  indem  sie  durch  eigene  Mis- 
griffe  lernen  oder  das  gute  Verfahren  anderer  beobachten,  endlich  auf 
festen  Boden ;  aber  wie  lange  dauert  dies !  wie  müssen  sie  mühsam  herum« 


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238  Noetes  scholasticae. 

tappen,  ehö  sie  den  rechten  Weg  finden!  Wie  gehen  ihnen  selbst  oft 
schöne  Jahre  ihres  Lebens  darüber  verloren,  welche  besser  hätten  ange- 
legt werden  können,  wenn 'sie  von  vorn  herein  den  rechten  Führer  ge- 
fanden  hätten!  Ich  spreche  hier  aus  eigenster,  schmerzlichster  Erfahrung 
und  weisz  wias  ich  sage :  mit  meinem  Herzblute  habe  ich  es  bezahlen 
müssen,  was  ich,  wenn  mir  nur  jemand  einen  leisen  Wink  hätte  geben 
wollen,  leichteren  Kaufs  gewonnen  haben  würde.  Kommt  dann  später 
gar  der  Hochmut  hinzu,  nichts  mehr  zu  bedürfen,  oder  eine  falsche 
Scham,  nicht  mehr  bei  einem  andern  in  die  Schule  zu  gehen,  so  ist  alles 
verloren  und  der  Lehrer  qua  Lehrer  für  die  Zeit  seines  Lebens  verdorben. 
Wie  gesagt  also ,  das  Unterrichten  macht  sich  eben  nicht  von  selber. 

2)  Noch  andere  knüpfen  ihre  Hoffnungen  an  die  besonders  für  den 
Unterricht  organisierte  Persönlichkeit;  wenn  diese  vorhanden  sei,  so  ge- 
linge das  Lehren  auch  ohne  Technik;  wenn  sie  nicht  vorhanden  sei,  sei 
doch  alle  Technik  umsonst.  Leider  haben  wir  nicht  die  Möglichkeit,  uns 
diejenigen  Persönlichkeiten,  welche  wir  etwa  gebrauchen  könnten,  im 
Lande  auszusuchen ,  und  andrerseits  haben  diese  besonders  begabten  Na- 
turen nicht  immer  die  Neigung  sich  dem  Lehrfache  zu  widmen.  Mir  selber 
sind  gar  viele,  die  ich  für  diesen  Beruf  gewonnen  zu  haben  glaubte,  so- 
bald sie  mir  aus  den  Augen  waren,  wieder  abgesprungen  und  andere 
Wege  gegangen.  Wir  sind  einmal  auf  eine  Mehrzahl  von  Lehrern  ange- 
wiesen ,  bei  denen  jene  Genialität  nicht  vorauszusetzen  ist.  Sollen  diese 
nun  darum  ihren  Lebensberuf  verfehlt  haben?  sollen  sie  bei  Seite  gescho- 
ben und  gegen  andere  Begabtere  zurückgesetzt  werden?  soll  dies  der  Lohn 
für  vieljährigen  treuen  Fleisz  sein ,  mit  dem  sie  sich  zu  ihrem  Lebens- 
berufe vorbereitet  haben?  Im  Gegenteil;  hat  Lessing  gesagt,  dasz  die 
Kritik  ihm  etwas  sei,  was  dem  Talent  oder  Genie  nahe  komme,  so  mei- 
nen wir,  dasz  eine  gute  Schulung  jene  Genialität  im  Lehrfache  so  gut 
wie  ersetzen  könnte,  allerdings  nicht,  um  Neues  zu  schaffen,  wol  aber,  um 
das  gute  Alte  anzuwenden  und  zu  verwerten,  um  die  Schüler  zu  treuer 
1  Arbeit  anzuhalten,  um  gründliche  Kenntnisse  zu  geben,  um  diese  oder 
jene  Disciplin  mit  Sicherheit  einzuprägen  und  das  Gelernte  in  strenger 
Zucht  zu  üben,  um  einen  Grund  zu  legen  in  Gesinnung  und  in  Kennt- 
nissen, auf  dem  nachher  andere  mit  Zuversicht  fortbauen  können.  Zu  dem 
allen  braucht  man  keine  glänzenden  Talente.  Auch  der  mäszig  Begabte, 
auch  der  minder  Gelehrte  kann  Gutes ,  ja  Vorzügliches  leisten ,  wenn  er 
sich  in  einer  Sphäre  erhält,  die  nicht  über  seine  Kräfte  hinausgeht,  und 
wenn  /jene  Technik  bei  ihm  vorhanden  ist ,  welche  uns  leider  mehr  und 
mehr  abhanden  kommt.  Er  setzt  sich  kein  hohes  und  fernes  Ziel ,  aber 
er  weisz,  was  er  will  und  was  er  kann,  und  er  wird  dies  erreichen;  er 
hat  bereits  manchen  guten  Schritt  vorwärts  gethan ,  während  andere  noch 
mit  sich  selber  im  unklaren  sind ,  wohin  sie  ihren  Blick  richten  sollen ; 
er  experimentiert  nicht  hin  und  her,  denn  er  kennt  die  Wege,  welche  er 
einschlagen,  die  Klippen,  welche  er  vermeiden,  die  Mittel,  welche  er 
wählen  musz;  er  ist  auf  alles,  was  ihm  begegnen,  was  ihn  in  seiner 
Thätigkeit  hemmen  oder  stören  kann,  im  voraus  gefaszt  und  weisz,  wie 
er  diese  Hemmungen  zu  beseitigen  hat;  jedes  seiner  Worte  ist  wohl  er- 


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Nöctes  scholasticae.  289 

wogen,  jede  seiner  Handlungen  wohl  berechnet;  für  jüngere  College« 
wird  er  ein  VorbHd,  dem  Director  ist  er  ein  Halt  und  eine  Stütze,  die 
Schüler  blicken  auf  ihn  mit  Ehrfurcht,  das  Publikum  ehrt  ihn,  wie  es 
jeden  ehrt,  der  sein  Fach  versteht.  Wenn  ich  die  Wahl  hStte,  würde  ich 
diesen  in  sich  sichern,  klaren,  technisch  vollendeten  Lehrer  dem  glänzen- 
den Talente,  das  dieser  Schulung  entbehrte,  weit  vorziehen.  Man  spricht 
mir  von  geistreich  und  genial ;  ich  liebe  das  Solide  und  Gediegene ,  wel- 
ches die  Fracht  und  Folge  einer  tüchtigen  Technik  ist. 

S)  Es  lftszt  sich  jedoch  noch  eine  andere  Ursache  entdecken ,  durch 
welche  die  Technik  des  Unterrichts  in  Nisachtung  und  Verfall  gekommen 
ist,  und  hierbei  will  ich  einige  Augenblicke  verweilen. 

In  den  protestantischen  Schulen  Deutschlands  hat  ebenso  wie  in  den 
Schulen  der  Jesuiten,  quos  tarnen  honoris  causa  nomino,  die  Technik  im- 
mer im  Vordergrund  gestanden.  Die  groszen  Paedagogen  des  16.  nnd  17. 
Jahrhunderts,  wie  Trotzendorff,  Sturm  und  Neander,  die  Ratichius  und  Arnos 
Comenius  haben  hierin  ihre  eigentliche  Grösze  gehabt.  Nun  I9szt  sich  gar 
nicht  in  Abrede  stellen,  dasz  diese  Technik  leicht  ins  Mechanische  hinab- 
führt, wie  dies  bei  den  Technikern  der  Byzantiner  und  des  Mittelalters 
überhaupt  der  Fall  gewesen  ist.  Man  kann  es  in  den  Geschichten  der 
deutschen* Schulen,  deren  wir  ja  eine  so  grosze  Zahl  und  so  vortreffliche 
besitzen,  genau  verfolgen,  wie  dieser  Mechanismus  bald  nach  dem  eigent- 
lichen Reformationszeitalter  eingetreten  ist.  Dies  hat  denn  in  den  Augen 
manches  einsichtigen  nnd  ernsten  Mannes  die  Technik  überhaupt  in  Mls- 
credit  gebracht,  und  man  hat  gesucht  sie  durch  ein  anderes  den  Geist 
wirklich  und  tief  bildendes  Element  zu  ersetzen.  Bald  ist  es  die  reale 
Welt  gewesen,  auf  welche  man  das  Auge  hinlenkte,  bald  das  Religiöse, 
bald  die  Zwecke  und  Bedürfnisse  des  praktischen  Lebens;  vor  allen  Dingen 
aber  hat  man  das  Studium  der  Alten  zu  beleben  gesucht.  Zwar  war  dies 
Studium  nie  aus  den  deutschen  Schulen  ganz  verschwunden;  vielmehr 
hatte  es  den  Mittelpunkt  des  Jugendunterrichts  gebildet;  jetzt  aber  drang 
man  auf  ein  Eindringen  in  den  Geist  des  Altertums ,  auf  ein  Sichdürch- 
dringen  mit  diesen  Elementen ,  auf  eine  Art  von  geistiger  und  sittlicher 
Wiedergeburt  aus  den  Werken  der  Alten.  Kurz  die  Philologie,  welche 
Wolf  in  die  Schulen  einführte,  war  doch  wesentlich  etwas  anderes,  als 
was  Ernesti  und  Gesner  darunter  verstanden  und  dabei  erstrebt  hatten. 
Wolf  war  nicht  blosz  gegen  die  Paedagogik,  welche  Trapp  vertrat,  son- 
dern auch  gegen  die  Philosophie,  wie  Oberhaupt  gegen  alles,  was  nicht 
im  Bereich  der  Philologie  lag,  mit  Verachtung  erfüllt  nnd  übertrug  diese 
Verachtung  auch  auf  seine  Schüler.  Seit  Wolf,  kann  man  sagen ,  ist  die 
alte  Technik  aus  unsern  Gelehrtenschulen  mehr  und  mehr  verschwunden 
und  das  Interesse  an  der  Didaktik  überhaupt  immer  geringer  geworden. 
Die  Form  des  Unterrichts  ist  von  dem  Inhalt  desselben  verschlungen 
worden,  ohne  dasz  dieser  Inhalt  eine  neue  Form  aus  sich  erzeugt  hätte. 
Und  dies  ist,  wenn  man  sich  nicht  täuschen  will,  der  Zustand,  in  dem 
wir  uns  noch  heut  befinden,  ein  Zustand,  dessen  man  sich  unmöglich 
erfreuen  kann.  Die  Wiederbelebung  des  classischen  Altertums  hat  eine 
wohlausgebildete  Didaktik  zur  Folge  gehabt,  in  welcher  z.  B.  unter  Sturm 


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340  Noctes  scholasticae. 

mit  der  allergrösten  Sicherheit  gearbeitet  wurde.  Eben  so  ist  auch  der 
Reform  des  Unterrichts ,  ab  deren  Vertreter  wir  Arnos  Gomenius  betrach- 
ten, eine  positive  Technik  gefolgt.  Die  Philanthropen  haben,  was  man 
auch  von  ihnen  sagen  möge,  gewuszt,  was  sie  wollten,  und  dies  ihr  Ziel 
mit  Festigkeit  erstrebt.  Wir  können  nicht  das  Gleiche  sagen  weder  von 
August  Hermann  Franke  noch  von  Friedrich  August  Wolf.  So  grosz  und 
herlich  beide  dastehen ,  so  haben  «ie  doch  selbst  das  Technische  hinten- 
angesetzt und  auch  unter  ihren  Schulern  niemand  gefunden,  der  diese 
Seite  ergänzend  hinzugefügt  hätte ,  obwol  es  nur  einfach  naturgemäsz  ist, 
dasz  eii|e  neue  Wissenschaft ,  und  die  Philologie  Wolfs  war  eine  neue 
Wissenschaft,  oder  eine  neue  pädagogische  Richtung  auch  Talente  er- 
weckt, welche  diese  pädagogische  Richtung  ins  Leben  einzuführen  oder 
jene  Wissenschaft  lehrbar  zu  machen  suchen. 

Und  dies  ist  allerdings  der  Punkt,  welcher  bei  dieser  Frage  vor- 
nemlich  ins  Auge  zu  fassen  ist :  die  Vereinigung  dieser  beiden ,  der  Wis- 
senschaft und  der  Methode,  eine  Vereinigung,  in  welcher  beide  ihre 
Schranke,  eben  so  aber  auch  einen  Impuls  zu  Leben  und  Energie  haben, 
so  dasz  diese  Reschränkung  nicht  zu  einer  Abschwächung ,  sondern  viel- 
mehr zu  einer  inneren  Kräftigung  dient.  Denn  die  wissenschaftliche  Be- 
wegung erhält  neue  Schwungkraft,  indem  sie  praktische  Wirksamkeit 
gewinnt;  die  Technik  aber  und  die  Methode  werden  vor  Erstarren  im  Me- 
chanischen geschützt,  indem  der  Strom  der  Wissenschaft  durch  sie  hin- 
durchgeleitet wird.  Die  Schule  namentlich  ist  der  Ort,  wo  diese  Ver- 
bindung am  leichtesten  und  glücklichsten  vollzogen  wird.  Es  gehört  zu 
ihrem  Wesen ,  dasz  beide  Factoren  zugleich  in  ihr  vorhanden  sind ,  wenn 
auch  das  Verhältnis  der  Mischung  je  nach  Zeit  und  Person  ein  verschiede- 
nes und  ein  wechselndes  sein  kann.  Diejenigen  also,  welche  vor  der  tech- 
nischen Richtung  eine  Resorgnis  hegen ,  besitzen  in  dem  stetigen  wissen- 
schaftlichen Studium  ein  hinreichendes  Sicherungsmittel.  Der  Leher, 
welcher  in  der  Wissenschaft  lebt,  wird  nie  Gefahr  laufen  im  Mechani- 
schen zu  erstarren. 

Ist  denn  aber  in  der  That  das  Unterrichten  eine  so  schwere  Sache, 
dasz  es  dafür  einer  speciellen  Schulung  bedürfte,  wie  sie  bei  dem  Hand- 
werk gefordert  wird? 

Rei  einem  jeden  Unterricht  finden  sich  drei  Momente  veinigt : 

1)  der  zu  lehrende  Gegenstand; 

2)  der  zu  unterrichtende  Schüler; 

3)  der  unterrichtende  Lehrer. 

Der  Zweck  des  Unterrichts  ist,  Nr.  1  und  2  mit  einander  zu  vereini- 
gen; der  die  beiden  bis  dahin  noch  getrennten  Vereinigende,  Vermittelnde 
ist  ,der  Lehrer.  Wenn  Object  und  Subject  nun  von  Natur  so  angethan 
wären,  dasz  sie  einen  natürlichen  Zug  zu  einander  empfänden,  wie  der 
Magnet  das  Eisen  an  sich  zieht,  so  bedürfte  es  entweder  überhaupt  keines 
Lehrers,  oder  es  würde  doch  die  Function  des  Lehrers  zu  einem  Minimum 
herabsinken;  er  brauchte  nur  still  zu  halten,  um  mühelos  den  Gegenstand 
zu  dem  Schüler  hinüberzuleiten.  Nun  aber  sind  jene  beiden  zunächst  oft 
sehr  spröde ,  ja  feindselig  gegen  einander.   Der  Gegenstand  stellt  sich  als 


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Noctes  scholasticae.  241 

viel  zu  schwer  für  die  Fassungskraft  des  Knaben  dar  und  entmutigt  ihn 
von  vorn  herein;  er  hat  überdies  oft  so  wenig  Lockendes  an  sich; 
andrerseits  zieht  den  Knaben  seine  wahre  Neigung  zu  ganz  andern  Gegen- 
ständen hin ,  als  die  zu  lernenden  sind.  Der  Lehrer  ist  es  nun ,  der  das 
sich  so  Widerstrebende  zu  einander  hinlenken  und  in  eins  zusammen- 
flieszeu  lassen  soll.  Seine  Aufgabe  ist  da  eine  viel  compliciertere  als  die 
der  einfachen  Mitteilung.  Hier  gilt  es,  die  Abneigung  des  Knaben  zu  über- 
winden, ihn  aus  seiner  Trägheit  und  Passivität^ufzurütteln,  seinen  Willen 
in  Bewegung  zu  setzen,  seine  geistigen  Kräfte  zu  reizen,  ihn  zu  einer 
Sammlung  seiner  selbst  zu  nötigen  und  darin  festzuhalten,  das  Pflicht-» 
gefühl  in  ihm  zu  erwecken,  Denken  und  Nachdenken  in  ihm  hervorzurufen : 
alle  diese  Sachen  machen  sich  eben  nicht  von  selbst :  der  Lehrer  musz  es 
vielmehr  wissen ,  wie  er  sich  dabei  zu  verhalten ,  was  er  dazu  zu  thun 
hat,  und  musz  darin  eine  Uebung  besitzen,  welche  ihres  Erfolges  sicher 
ist,  so  weit  man  überhaupt  auf  diesem  Gebiete  des  Erfolges  sicher  sein 
kann.  Es  gilt  zugleich,  das  Object  zu  fassen  und  ihm  eine  Seite  abzu- 
gewinnen, von  welcher  aus  es  dem  Knaben  nicht  mehr  weder  als  zu 
schwierig  noch  als  reizlos  erscheine,  den  Gegenstand  sich  allmählich  im- 
mer mehr  entfalten ,  seinen  Inhalt  nach  und  nach  aufthun  zu  lassen ,  den 
Gegenstand  einem  jeden  Lebensalter  gerade  von  der  Seite  zu  zeigen, 
welche  der  geistigen  Passungskraft  adäquat  ist.  Das  alles  ist  sehr  schwer. 
Und  wenn  sich  hieraus  allgemeine  Regeln. und  Methoden  der  Didaktik  er- 
geben ,  so  kommt  hierzu ,  dasz  jeder  einzelne  Lehrgegenstand  eine  beson- 
dere Didaktik  hat,  dasz  eine  besondere  Technik  erforderlich  ist,  um  ihn 
zweckmäszig  zu  behandeln.  Die  Religion  kann  nicht  gelehrt  werden  wie 
die  Mathematik;  die  Allen  sprachen  nicht  wie  die  Neueren,  ja  in  den  Alten 
wieder  darf  der  Dichter  nicht  gelesen  werden  wie  der  Prosaiker,  und 
unter  den  Dichtern  nicht  Homer  wie  Sophokles,  Horaz  wie  Virgil.  Eben 
so  ist  das  Lebensalter  zu  beachten.  Der  Sextaner  und  Quintaner  hat  an  der 
Geschichte  etwas  anderes  als  der  Quartaner  und  Tertianer,  und  den  obe- 
ren Klassen  soll  und  musz  die  Geschichte  wieder,  etwas  anderes  sein.  Es 
sind  andere  geistige  Kräfte,  welche  hier  und  dort  für  eine  und  dieselbe  Dis- 
cipliu  in  Anspruch  genommen  werden.  Eine  Nichtbeachtung  dieses  Unter- 
schiedes verdirbt  den  ganzen  Unterricht.  So  wächst  hinter  der  allgemei- 
nen Didaktik  die  specielle  her.  Und  der  Irtum  ist  für  den  Irrenden  nicht 
so  leicht  zu  erkennen;  es  ist  eine  seltene  und  glückliche  Begabung,  des 
Falschen  an  sich  selbst  bald  inne  zu  werden.  Vielmehr  ist  das  Gewöhnliche, 
dasz  man  vom  rechten  Wege  weiter  sich  entfernt ,  dasz  man  sich  tiefer 
und  fester  in  eine  falsche  Richtung  verrennt  oder  aber  von  Extrem  zu 
Extrem  überspringt.  Da  bedarf  es  denn  wol  einer  leitenden  Hand,  wel- 
che, Erfahrung  und  Rationelles  verbindend,  den  rechten  Weg  zu  wählen 
und  zu  führen  gewohnt  ist.  Es  ist  nicht  schwer  den  Techniker  von  dem 
Naturalisten,  den  geschulten  und  gelernten  Lehrer  von  dem  rohen  Empi- 
riker zu  unterscheiden.  Man  weisz  auf  den  ersten  Blick ,  wen  von  beiden 
man  vor  sich  hat.  Jedes  Handwerk  hat  gewisse  Handgriffe,  an  denen  man 
den  erkennt,  der  das  Handwerk  regelrecht  gelernt  hat;  der  Unterricht  hat 
und  bedarf  gleichfalls  solcher  Handgriffe,  welche  zur  Technik  gehören. 

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242  Noctes  scholasticae. 

Es  thut  mir  leid ,  dasz  ich  hier  nicht  in  das  Einzelne  'weiter  eingehen 
kann. 

Es  giht  natürlich  der  Methoden  viele,  wie  der  Wege  viele  nach  Rom 
fuhren :  nur  dasz  ein  Be  wüst  sein  über  die  Methode  da  sei ,  nur  dasz  jeder 
die  technische  Vollendung  in  seiner  Methode  besitze.  Die  alten  Innungen 
forderten  auch,  dasz  jeder,  bevor  er  Meister  werde,  seine  Wanderung 
mache  und  sich  in  der  Welt  umsehe;  wer  hält  den  Lehrer  ab ,  sich  gleich- 
falls umzusehen  und  zu  tarnen,  wie  andere  die  Sache  angreifen?  Das 
Handwerk  hat  einen  Geist  der  Tüchtigkeit ,  der  Rechtschaffenheit  in  sich 
«und  ein  Streben,  welches  in  die  Kunst  hineinreicht;  auch  für  den  wacke- 
ren Lehrer  kann  es  keine  gröszere  Freude  in  der  Welt  geben,  als  Neues 
zu  lernen  und  sich  in  seinem  Berufe  zu  vollenden.  Ich  erwähne  dies  nur, 
um  denen  zu  begegnen ,  die  etwa  in  unserer  Technik  etwas  geistig  Be- 
schränktes und  Kümmerliches  zu  sehen  glauben  könnten. 

Doch  wir  haben  vorher  allzukühn  den  Pfuscher  und  den  sein  Hand- 
werk verstehenden  Meister  einander  gegenübergestellt ;  wir  werden  auch 
hier ,  wie  überall  im  Leben ,  zu  dem  alten  Worte  Heraclit's  des  Dunkelen 
zurückkehren  müssen,  dasz  alles  fliesze,  dasz  auch  Entgegengesetztes  sich 
mit  einander  verbinde  und  mische ,  dasz ,  was  begrifflich  auseinanderzu- 
halten sei,  im  Leben  zusammenfliesze.  Oder  sollen  wir  den  Pfuscher 
nennen,  der  in  unbefangenem  Glauben  an  die  flacht  und  Wirksamkeit  der 
Sache,  an  die  Kräfte  der  eigenen  Person ,  an  die  Lernbegier  der  Jugend, 
es  verschmäht  nach  trockenen  Regeln  sich  umzusehen  oder  in  einer  schein- 
bar geistlosen  Weise  das  Werk  anzugreifen,  welchem  er  mit  beiszester 
Liebe  seines  jungen  Herzens  sich  geweiht  hatte?  Sei  das  doch  ferne  von 
uns.  Und  gelingt  ihm  zumal  seine  Arbeit,  ohne  die  Unterstützung,  wel- 
che uns  langes  Studium  und  anhaltende  Uebung  darbietet,  warum  sollten 
wir  uns  dieser  seiner  Arbeit  nicht  freuen  und  ihn  als  einen  der  unsern 
begrüszen?  Wer  ist  also  der  eigentliche  Pfuscher,  und  woran  unterschei- 
den wir  ihn  von  jenen  strebenden  Naturen?  Das  erste  Kennzeichen  ist, 
dasz  er  schlechte  Arbeit  liefert,  namentlich  eine  Arbeit,  der  man 
das  Unsolide  ansieht ;  das  zweite,  dasz  er  lügnerisch  und  trügerisch  dieser 
seiner  Arbeit  einen  äuszeren  Schein  zu  geben  sucht,  durch  den  jene 
Fehler  verdeckt  werden;  das  dritte,  dasz  er  den  Weg  kennt,  auf  dem  er 
zur  Tüchtigkeit  kommen  könnte,  die  Mühen  und  Anstrengungen  dieses 
Weges  aber  scheut.  Das  ist  aber  eben  das  Verächtliche  an  diesen  Pfuschern, 
dasz  sie  die  Zeit,  welche  die  Natur  selbst  dem  Menschen  zur  Lehrzeit  be- 
stimmt hat,  unbenutzt  lassen  und  vergeuden  und  dann  dem  ehrenwerthen 
Arbeiter  Goncurrenz  machen  wollen.  Und  das  ist  das  Gefahrliche,  dasz 
sie  die  Ehre  und  Geltung  des  Handwerks  untergraben,  indem  sie,  wenn 
ihnen  ihr  Treiben  gelingt,  auch  andere  auf  ihre  Bahn  verlocken,  denen 
aber,  welche  in  ihrem  Fache  tüchtig  werden  möchten,  die  Sache  verlei- 
den. Wer  soll  z.  B.  noch  dem  theologischen  Studium  all  seine  Kraft  und 
alles  Streben  seiner  jungen  Seele  weihen,  wenn  er  etwa  ausgediente  und 
invalide  Schulmänner  als  Rivalen  neben  sich  sieht?  und  wer  soll  sich  zum 
Schuldienst  mit  ganzer  Seele  vorbereiten,  wenn  er  junge  Theologen  mit 
leichterer  Mühe  und  ohne  besondere  Kenntnisse  in  dieselbe  Laufbahn  ein- 


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Noctes  scholasticae.  243 

treten  sieht?  Mit  Recht  richtet  sich  in  allen  Fächern  der  Widerwille  der 
strengen  Fachgenossen  gegen  diese  Eindringlinge ,  wobei  wir  gern  zu- 
gestehen, dasz  in  diesen  Eindringlingen  wol  auch  grosze  Talente  schlum- 
mern, welche  Zierden  des  Standes  werden,  in  dem  sie  ursprünglich  als 
Fremde  betrachtet  wurden. 

Wie  nun  der  Weg  nach  der  Seite  der  Pfuscherei  hin  meist  sehr  be- 
lebt ist,  so  ist  umgekehrt  die  Strasze,  welche  zur  Kunst  hinaufführt, 
einsam  und  verlassen .  Denn  dort  hinab  zieht  den  Menschen  die  natür- 
liche Neigung  zur  Ruhe,  zur  Bequemlichkeit  und  zum  Genusz;  hier 
hinauf  lassen  ihn ,  den  Schulmann  zumal ,  nur  selten  einmal  die  Arbeiten 
des  Berufes ,  die  Sorge  um  das  tägliche  Brod  und  tausend  Dinge ,  welche 
nicht  erwähnt  sein  wollen ,  die  sehnenden  Blicke  richten.  Und  doch  gibt 
es  auch  in  unserm  Fache  eine  Höhe,  welche  wir  als  Kunst  bezeichnen 
können,  und  wie  in  der  bildenden  Kunst  es  nicht  an  ehrbaren  Meislern 
des  Handwerks  fehlt,  welche  in  freier  schöpferischer  Kunst  das  Höchste 
erreicht  und  Vollendetes  geleistet  haben ,  so  hat  es  auch  dort  nicht  an 
Männern  gefehlt,  welche  wir  auf  jener  lichten  Höhe  thronen  sehen.  Ich 
denke  nicht  an  jene  Genien  der  Wissenschaft,  welche  aus  den  Räumen 
der  Schule  hervorgegangen  sind,  wie  uns  einen  solchen  neulich  das  Leben 
Ritter's  vor  Augen  gestellt  hat,  wie  wir  es  früher  an  Gesner,  nament- 
lich aber  an  Wolf  kennen  gelernt  hatten,  sondern  an  die  Männer,  welche 
innerhalb  ihres  ursprünglichen  Lebensberufes  sich  zur  Kunst  erhoben 
haben.  Ais  solche  betrachte  ich ,  um  einige  Namen  zu  nennen ,  unter  den 
älteren  Trotzendorif,  Michael  Neander,  Sturm,  Arnos  Comenius,  unter 
den  neueren  vor  allen  andern  Pestalozzi  und,  wenn  ich  auch  einen  fast 
vergessenen  und  verschollenen  nennen  darf,  den  vortrefflichen  Flaltich, 
dessen  wir  an  einem  andern  Orte  verdienteste  Erwähnung  zu  thun  ge- 
denken. 

Suchen  wir  jedoch,  anstatt  uns  in  vage  Lobreden  zu  ergehen,  das- 
jenige festzustellen ,  worin  sich  ein  Fortschritt  vom  Handwerk  zur  Kunst 
ausspricht. 

Erstens  nun  macht  sich  die  Kunst  wieder  frei  von  den  Regeln ,  auf 
welchen  das  Handwerk  ruht. 

Es  ist  dies,  ich  weisz  es  sehr  wohl,  ein  kühnes  und  gewagtes  Wort, 
jedoch  nicht  kühner  als  was  der  Herr  einstens  gesprochen :  ich  bin  nicht 
gekommen ,  das  Gesetz  aufzuheben ,  sondern  es  zu  erfüllen.  Einige  Bei- 
spiele werden,  denk  ich,  deutlich  machen,  was  ich  meine.  In  der  Gram- 
matik «iner  Sprache  ist  eine  Anzahl  von  Regeln  enthalten,  welche  der- 
jenige ,  der  diese  Sprache  erlernen  und  verstehen  will ,  inne  haben  müsz : 
niemand  kann  von  ihrer  Erlernung  dispensiert  werden ,  so  wenig  als  der 
zukünftige  Arzt  von  der  genauesten  Kenntnis  der  normalen  Teile  des 
menschlichen  Körpers.  Und  doch,  wie  viel  weichen  die  allen  Autoren, 
um  uns  auf  sie  zu  beschränken,  von  diesen  Regeln  ab!  wie  oft  dispen- 
sieren sich  Thucydides ,  wie  oft  Caesar  von  den  Gesetzen ,  welche  doch 
gleichsam  den  innern  Bau  der  Sprache  bilden  und  ihre.  Eigentümlichkeit, 
ihren  Charakter  bestimmen !  Derjenige ,  welcher  jetzt  diese  Sprachen  zum 
Ausdruck  seiner  Gedanken  gebrauchen  wollte,  würde,  wenn  dies  einem 


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244  Noctes  scholasticae. 

höheren  Zwecke  entspräche,  innerhalb  einer  gewissen  Schranke  gleich- 
falls hierzu  berechtigt  und  vielleicht  genötigt  sein.  Die  lebendige  Sprache 
macht  sich  eben ,  ohne  jene  Gesetze  aufzuheben ,  frei  von  ihnen ,  indem 
sie  dieselben  dem  Gedanken  unterordnet.  Selbst  Cicero,  der  normalste 
aller  römischen  Autoren,  hat  dergleichen  gethan  und  in  einer  Weise 
gegen  die  Grammatik  pecciert,  die  uns,  wenn  wir  nicht  zufällig  wüsten, 
dasz  es  eben  Cicero  wäre,  mit  Entsetzen  erfüllen  moste.  In  ähnlicher 
Weise  verhält  es  sich  mit  den  Gesetzen  der  Moral.  Der  wahrhaft  sittliche 
Mensch  erkennt  dieselben  eben  sowol  an,  wie  er  sie  als  solche,  von  denen 
er  sich  nicht  mehr  gebunden  fühlt,  hinter  sich  zurückläszt  und  aus  dem 
tiefen  sittlichen  Grunde  seines  Innern  heraus  denkt  und  handelt.  Es  ist 
kein  bildender  Künstler,  der  nicht,  um  einen  höheren  Zweck  zu  erreichen, 
sich  von  den  Regeln  der  Kunst  gelegentlich  entbunden  und  eben  hierin 
als  wahrhaften,  frei  schaffenden  Künstler  erwiesen  hätte.  Das  Lehramt, 
welches  freie ,  lebensvolle  Persönlichkeiten  vor  sich  und  somit  immer  mit 
zum  Teil  unberechenbaren  Factoren  zu  thun  hat,  ist  um  so  mehr  berech- 
tigt, sich  unter  gewissen  Umständen  von  den  allgemein  geltenden  Grund- 
sätzen des  Unterrichts,  von  den  anerkannten  Regeln  einer  bewährten 
Technik  zu  emancipieren ,  namentlich  aber  in  der  sittlichen  Behandlung 
der  Schüler  Wege  zu  gehen,  welche  weit  von  der  Heerstrasze  abgehen. 
Hier  hat  ein  Schüler  sich  schwer  vergangen ;  der  normale  Gang  der  Dis- 
ciplin  fordert  seine  Entfernung  von  der  Schule,  und  es  ist  vielleicht  der 
Moment ,  wo  dieser  Schüler  durch  Nichtbestrafung  sich  und  den  Seinen 
würde  erhalten  worden  sein ,  der  nun  dem  Verderben  preisgegeben  wird. 
Dort  ist  ein  Schüler  durch  keines  der  gewöhnlichen  Zuchtmittel  zum  Fleisz 
zu  bringen;  du  wirfst  vielleicht  die  Strafen  bei  Seite,  ziehst  ihn  an  dich 
heran,  gewährst  ihm  dein  Vertrauen  und  der  Knabe  ist  umgewandelt. 
Beim  Unterricht  verhält  es  sich  eben  so.  Es  last  sich  gar  nicht  sagen, 
wie  ein  Unterricht  zu  behandeln  sei ;  je  nach  der  Person  des  Lehrers ,  je 
nach  dem  allgemeinen  Geist  und  Ton  der  Classe  nimmt  er  ein  anderes 
Gepräge  an;  ich  könnte  mir  wol  denken,  dasz  ich  beim  geschichtlichen 
Unterricht  nach  den  Umständen  jetzt  das  Gedächtnis,  jetzt  das  Gemüt, 
jetzt  die  Reflexion ,  jetzt  die  Speculation  für  mich  in  Anspruch  nähme. 
Hier  steht  der  Lehrer  bereits  auf  dem  Boden  freier  künstlerischer  Thätig- 
keit;  die  Technik  liegt  hinter  ihm  und  kann  ihn  nicht  fesseln,  auf  neuen 
Wegen  dem  Ziele  zuzustreben.  Ranke  hat  in  einem  seiner  ersten  Werke 
einmal  Maximilian  den  Ersten  mit  einem  Jäger  verglichen ,  der  alle  Wege 
versucht,  dem  Wilde,  das  er  jagt,  nahe  zu  kommen;  dies  Bild  paszt  auch 
auf  uns  Lehrer,  auf  Lehrer  freilich  nur,  welche,  nachdem  sie  eine  strenge 
Schule  durchgemacht,  nunmehr  die  Fesseln  der  Schule  abgestreift  haben 
und  in  freier  originaler  Weise  zu  Werke  gehen. 

Wenn  überhaupt  weder  das  Allgemeine  für  sich  allein  das  Geltende 
ist  noch  das  Individuelle  für  sich  allein,  sondern  dies  das  Ziel  alles  Stre- 
bens  ist,  dasz  das  Individuelle  zum  Allgemeinen  erhoben  und  in  diesem 
Allgemeinen  das  Individuelle  .wiedergeboren  und  so  als  ein  Neues  erhalten 
werde ,  so  haben  wir  auch  in  unserm  Lehrfache  diesen  ewigen  Prozesz 
anzuerkennen.     Die  Erziehung  und  der  Unterricht  beginnen  mit  indivi-  . 


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Noctes  scholasticae.  245 

dueller  Thätigkeit ,  mit  subjectiven  Versuchen ;  das  Bedürfnis?  zu  erziehen, 
zu  unterrichten  ist  da;  jeder  sucht,  so  gut  er  es  kann,  nach  seiner  Weise 
diesem  Bedürfnis  nachzukommen;  so  bildet  sich  eine  Empirie  und,  indem 
sich  die  Frage  nach  dem  Warum  mit  der  Empirie  verbindet,  die  ars, 
Wissen  um  die  Gründe  und  ein  Können  in  sich  vereinigend ;  aber  auch  hier 
läszt  ein  innerer  Trieb  den  Lehrer  nicht  ruhen ;  das  Individuelle  drängt 
sich  wieder  an  ihn  heran  und  fordert  Anerkennung;  es  ist  doch  schliesz- 
lich  das  Persönliche,  was  in  diesem  Bingen  beider  Momente  den  Sieg 
davonträgt.  So  verschlingen  sich  nun  diese  beiden  Bichtungen  in  einan- 
der, und,  um  es  kurz  zu  sagen ,  das  eben  ist  die  wahre,  hohe  und  gött- 
liche Kunst  in  Unterricht  und  Erziehung,  beide  in  lebendiger  und,  was 
dasselbe  besagen  will,  harmonischer  Vereinigung  zu  pflegen  und  zu  för- 
dern. Denn  nur  wo ,  im  Körper  wie  im  Geiste ,  diese  Harmonie  stattfindet, 
findet  wahrhaftes ,  gesundes  Leben  statt.  Und  hier  haben  wir  ein  Krite- 
rium, an  dem  wir  erkennen  können,  auf  welcher  Stufe  der  Lehrer  stehe. 
Wenn  der  Pfuscher  weit  diesseits  des  Allgemeinen  steht,  die  Technik  da- 
gegen im  Besitz  dieses  Allgemeinen  ist,  so  strebt  die  Kunst  wieder  zum 
Individuellen  zurück,  um  die  Harmonie  zwischen  beiden  herzustellen. 
'  Doch  ich  schweige  hiervon ;  denn  um  diesen  Gegenstand  würdig  zu  er- 
fassen ,  bedürfte  es  eines  platonischen  Geistes ;  mir  bebt  die  Hand ,  dasz 
ich  ihn  auch  nur  zu  berühren  gewagt  habe. 

Endlich  aber  ist  es  die  Kunst ,  welche  für  einen  Kreis  der  Thätigkeit 
neue  Bahnen  schafft.  Es  ist  nicht  blosz  von  dem  Dichter  gesagt,  dasz  er 
geboren  werde,  sondern  auch  von  dem  echten  Künstler,  aber  die  Art  und 
Weise,  wie  dieser  geborne  Künstler,  dieser  «ingeborene  Genius  an  das 
Licht  treten ,  ist  nicht  die  gleiche.  Hier  ist  bei  einem  Künstler  wie  bei 
einem  Manne  der  Wissenschaft  gleich  das  erste  Werk,  welches  sie  der 
Welt  schenken,  ein  Werk,  welches  ihren  göttlichen  Beruf  bekundet;  bei 
andern  arbeitet  der  Genius  im  Süllen  und  in  der  Verborgenheit ,  bis  er 
spät,  dann  aber  eben  so  entschieden,  eben  so  anerkannt,  licht  hervor- 
tritt. Es  ist  mit  diesen  Heroen  der  Kunst  und  der  Wissenschaft  wie  mit 
den  Helden  der  Weltgeschichte.  Im  Lehrfache  bringt  es.  die  Natur  der 
Thätigkeit  und  die  Beschaffenheit  der  äuszeren  Verhältnisse," in  denen  wir 
leben ,  mit  sich ,  dasz  es ,  wenn  auch  der  schöpferische  Gedanke  früh  in 
der  Seele  ersteht,  doch  vieler  Jahre  bedarf,  um  diesen  Gedanken  zur  Klar- 
heit und  zu  Wirkenskraft  zu  bringen.  Ich  sage  'den  Gedanken9;  denn 
auch  hier  ist  es  wie  in  allen  andern  geistigen  Gebieten,  nicht  das  Viele, 
sondern  das  Eine,  aus  dem  das  Grosze  geboren  wird.  Ein  Gedanke  hat 
Friedrich  den  Groszen  zu  dem  gemacht,  was  er  geworden  ist;  ein  Ge- 
danke hat  uns  die  Sturm,  die  Arnos  Gomenius,  die  Franke,  die  Wolf, 
die  Pestalozzi  gegeben.  Diesen  Gedanken  haben  sie  zum  Teil  viele  Jahre 
in  sich  getragen  und  langsam  zur  Beife  gezeitigt,  bis  ihre  Stunde  gekom- 
men war  und  der  Buf  an  sie  erging ,  ihn  nunmehr  vor  der  Welt  zu  offen- 
baren. Sie  haben  ihn ,  ihrer  selbst  innerlich  gewis  und  darum  stets  voll 
freudigen  Mutes,  festgehalten,  wie  unsicher  auch  ihre  Lage,  wie  kum- 
mer-  und  schmerzensvoll  auch  das  Loos  ihres  Lebens  war.  Umhergetrieben, 
heimatlos ,  mit  Not  und  Sorgen  kämpfend  haben  sie  doch  nicht  von  ihm 

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246  Die  Form  der  hebräischen  Poesie. 

gelassen«  Aus  diesen  Gedanken  ist  dann  neues  Leben  in  das  erstorbene 
Gebein,  in  eine  erstarrende,  sich  verknöchernde  Technik  gekommen,  und 
es  sind  neue  Principien  gewonnen,  welche,  anfangs  im  Kampfe  mit  den 
herschenden,  doch  durchgedrungen  sind  und  sich  später  selbst  mit  die- 
sen vereinigt  haben  zu  einem  neuen  volleren  Strome.  Nun  kann  allerdings 
nicht  jeder  von  uns  ein  Franke  oder  Pestalozzi  sein,  und  es  wäre  schlimm 
um  uns  bestellt,  wenn  jeder  das  könnte  oder  möchte;  aber  das  können 
doch  auch  wir,  im  Kleinen  schaffen,  im  Einzelnen  Neues  anbahnen,  Mate- 
rial anhäufen,  aus  dem  der  rechte  Baumeister,  wenn  er  erscheint,  viel- 
leicht ein  und  das  andere  zu,  seinem  Bau  auswählen  könnte.  Und  dies  ist, 
hiermit  will  ich  schlieszen,  der  Zweck,  zu  dem  ich  selbst  diese  und 
andere  meiner  nächtlichen  Gedanken  in  Worte  gefaszt  und  hier  mitge- 
teilt habe.  *** 


19. 

Die  Form  der  hebräischen  Poesie. 


Die  Untersuchungen  über  die  metrischen  Formen  der  hebräischen 
Poesie  können  noch  nicht  als  abgeschlossen  angesehen  werden.  Die  ange- 
stellten Versuche  der  verschiedensten  Art  haben  allerdings  bis  jetzt  kei- 
nen Erfolg  gehabt,  und  man  hat  sich  ziemlich  allgemein  damit  begnügt, 
es  geradezu  auszusprechen ,  dasz  eine  metrische  Form  in  der  Weise  der 
alten  oder  auch  neueren  Sprachen  in  der  .hebräischen  einmal  nicht  vor- 
handen sei,  und  dasz  Alles,  was  von  Rhythmus  in  der  Poesie  dieser 
*  Sprache  zu  finden  wäre,  sich  nur  auf  den  sogenannten  Parallelismus 
beschränke.  Gleichwol  sind  noch  viele  Fragen  zu  beantworten  geblieben, 
warum  und  wie  die  liebräische  Sprache  zu  dieser  eigentümlichen  rhyth-* 
mischen  Form  mit  Ausschlusz  aller  andern  gelangt  sei ,  ob  diese  schon 
ursprünglich  gewesen  oder  sich  erst  später,  und  im  letzten  Falle,  wo- 
durch sie  sich  später  gebildet  und  welche  metrische  Form  die  ursprüng- 
liche gewesen  sei. 

Folgende  Blätter,  welche  eine  Lösung  dieser  Fragen  versuchen, 
dürften,  wenn  sie  auch  nicht  den  Gegenstand  erschöpfen,  doch  Material 
und  Antrieb  zu  weiter  gehenden  Forschungen  darbieten. 

Erstes  Kapitel. 
Natürlicher  Charakter  der  hebräischen  Sprache. 

Sl. 

Die  hebräische  Sprache  eine  Natursprache. 
Die  hebräische  Sprache  musz  in  ihrer  ältesten  Zeit  recht  rauh  und 
hart  gelautet  haden.    Auch  ohne  nähere  Kenntnis  der  Sprache  würde  man 


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Die  Form  der  hebräischen  Poesie.  *  247 

dies  aus  der  niederen  Ctilturstufe  und  den  eigenen  Wohnsitzen,  welche 
die  Hebräer,  ein  umherwanderndes  Hirtenvolk,  in  ihrer  Vorzeit  einge- 
nommen haben,  von  selbst  sehlieszen.  Bei  einem  Volke,  das  in  Wüsten 
und  unwirtbaren  Gebirgsgegenden  aufgewachsen,  dessen  Gehör  an  die 
dumpfwiderhallenden  Wüstentöne  und  an  das  Gebrüll  und  Geschrei  wilder 
Thiere  und  Raubvögel  gewöhnt  war,  würde  man  keine  besonders  wohl- 
tönende  und  melodisch  gebildete. Sprache  voraussetzen.  Eine  nähere  Be- 
trachtung der  Sprache  selbst  zeigt  dieses  aber  ganz  unwiderlegbar.  Viele 
Laute,  namentlich  die  Kehllaute,  welche  ein  volles  und  starkes  üeffnen 
der  Sprächorgane,  ein  tiefes  und  rauhes  Aussioszen  des  Hauches  erfor- 
dern, sind  für  culli Wertere  Völker  fast  gar  nicht  aussprechbar.  Der  grosze 
Reichtum  naturnachahmender  Laute,  in  welchen  schon  der  Verfasser  der 
Genesis  die  treue  Nachahmung  der  Natur  selbst  wiedererkannte,  die  fast 
regelmäszige  Verwendung  dieses  sinnlich  naturnachahmenden  Elements 
zur  näheren  Bezeichnung  und  weiteren  Entwicklung  des  Begriffes,  end- 
lich das Ueherwiegen  des  consonantischen  Elementes,  wie  wir  bald  sehen 
werden,  zeigt  eine  mit  dem  Naturleben  noch  ganz  zusammenhängende 
und  auch  in  den  feineren  begrifflichen  Bestimmungen  noch  von  derselben 
abhängige  Sprache.  Aus  tiefer  Brust  und  voller  Kehle  und  überhaupt 
aus  harten  un ausgebrauchten  Sprachorganen  hervortönend ,  klang  sie, 
wie  Eliha's  Worte  Im  Buche  Hiob  (32 ,  18  usw.)  sie  nicht  besser  bezeich- 
nen konnten. 

Der  Rede  bin  ich  voll, 

Mich  drängt  der  Odem  meiner  Brust; 

Es  gährt  in  mir,  wie  der  zugestopfte  Most, 

Der  neue  Schläuche  zerreist. 

Reden  will  ich,  dasz  Luft  mir  werde, 

Meine  Lippen  aufthun  und  antworten. 

'Wenn  diese  Lippen  sich  aufthaten ,  sagt  Herder  (Geist  der  Hebräischen 
Poesie  S.20),  ward  es  gewis  lebendiger  Laut,  Bild  der  Sprache  im  Athen) 
der  Empfindung.9  Es  waren  aber  sicherlich  auch  die  Sinne  durchdrin- 
gende und  erschütternde  Töne,  die  als  Jehova's  Stimme  zum  Donner  an- 
schwollen, welcher  die  Wälder  entblättert  und  die  Wüste  erzittern  läszt 
(Psalm  29,  8  u.  s.  f.).  Ein  rechtes  Bild  von  den  gewaltigen  Tönen  der 
Sprache  gibt  uns* vorzüglich  das  Buch  Hiob  in  seinen  unübertrefflichen 
Schilderungen  der  Thierwelt  und  des  Natur-  und  Wüstenlebens.  Gerade 
die  Treue  der  Naturnachahmung  hat  sie  vorgeschritteneren  Völkern  ganz 
unnachahmbar  gemacht,  so  dasz  diese  Dichtung  vvol  einzig  in  ihrer  Art 
bleibt.  So  erweist  sich  die  hebräische  Sprache  in  Allem  als  eine  wahr- 
hafte Natursprache. 

S2. 

Verhältnis  des  consonantischen  Elementes  zum  vocalischen. 

Die  ganze  Anlage  der  semitischen  Sprachen  überhaupt  und  vorzüg- 
lich der  hebräischen  zielt  darauf  hin,  das  consonan tische  Element  der 
Sprache  zum  hergebenden  und  das  vocaliscbe  zum  dienenden  zu  machen. 


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248*  Die  Form  der  hebräischen  Poesie. 

Während  in  den  indoeuropäischen  Sprachen  die  Vocale  ebenso  zum  Stamme 
gehören  wie  die  Gonsonanten  und  nicht  selten  sogar  der  Fall  eintritt, 
dasz  Voeale  für  sich  die  Stammsilbe  ausmachen  (man  vergleiche  i-re, 
i-£voti,  i  in  eijii,  8  in  iruii,  öui,  t&to  usw.),  in  unzähligen  aber  die 
Vocale  in  Verbindung  mit  Gonsonanten  den  Stamm  bilden,  so  zeigen  die 
semitischen  Sprachen  den  eigentümlichen  Trieb,  stets  Stämme  aus  drei 
Gonsonanten  zu  bilden;  die  zur  Aussprache  derselben  unentbehrlichen 
Vocale  aber  gehören  weder  zum  Stamm,  noch  sind  sie  unveränderlich. 
Diese  erscheinen  vielmehr  ganz  vom  Charakter  der  Stammconsonanteo 
abhängig,  so  dasz  mit  deren  Zusammenziehung,  Schwächung  oder  Ver- 
doppelung (in  den  contract. ,  quiescent. ,  quadrilitt.),  mit  der  Anhängung 
von  Bildungsbuchstaben  (praefix.  und  suffix.),  mit  dem  Fortrucken  des 
.  Accents  die  Vocale  sich  stets  verändern ,  ja  sich  sogar  nach  dem  Organ, 
mit  welchem  die  Gonsonanten  ausgesprochen  werden  (in  den  verb.  und 
nom.  guttural.)  sich  richten  müssen.  In  diesem  Vorwalten  zeigt  sich 
recht  deutlich  das  Streben  der  semitischen  Sprachen,  in  den  stärkeren, 
die  Organe  härter  treffenden  Lauten,  als  in  den  feinem,  weicheren  Voca- 
len  sich  vernehmen  zu  lassen.  Dieses  ist  auch  wol  der  Grund,  dasz  ab- 
weichend von  den  indogermanischen  Sprachen  die  Bezeichnung  der  Vocale 
in  den  semitischen  in  der  ältesten  Zeit  ganz  gefehlt  hat  oder  nur  sehr 
mangelhaft  gewesen  ist.  Denn  es  braucht  wol  nicht  erst  auseinander- 
gesetzt zu  werden,  dasz  die  zahlreichen  Vocalzeichen,  welche  unsere  ge- 
druckten Codices  zeigen,  der  ältesten  Zeit  ganz  fremd  gewesen  sind. 

§3. 

Das  Verhältnis  der  hebräischen  Sprache  zu  den  anderen  semitischen 
und  vorzüglich  der  arabischen. 

Von  den  semitischen  Sprachen  ist  bekanntlich  die  hebräische  am 
frühesten  zur  Ausbildung  gelangt,  wenigstens  liegen  in  dieser  die  ältesten 
Denkmäler  verzeichnet  vor  uns.  Dasz  die  hebräische  Sprache  in  der  älte- 
sten Zeil  viel  härter,  ursprünglicher  und  auch  volltönender  als  die  ara- 
bische gelautet  habe ,  dürfte  schon  aus  der  einfachen  Vergleichung  der 
Alphabete  beider  Sprachen  hervorgehen.  Die  Mehrzahl  der  arabischen 
Gonsonanten  ist  nemlich  dadurch  entstanden,  dasz  die  ursprünglich  harten 
Gonsonanten,  wie  sie  sich  im  Hebräischen  vorfinden,  vielfache  Erweichun- 
gen und  Abschleifungen  erlitten ,'  so  dasz  für  deren  Bezeichnung  beson- 
dere Buchstaben  notwendig  waren. 

Noch  viel  deutlicher  zeigt  sich  dieser  Unterschied  beider  Sprachen 
beim  Vergleich  der  Sprachstämme  und  deren  Formationen.  Erstlich  zeigt 
sich  die  ursprünglich  gröszere  Weichheit  der  arabischen  Sprache  darin, 
dasz  die  Vocale  viel  regelmäsziger  und  in  einem  weit  gröszeren  Umfange 
zur  Bezeichnung  von  Flexionsbildungen  gebraucht  werden.  Im  Arabischen 
werden  die  Passiva  von  neun  Gonjugalionen  durch  bloszen  Vocalwechsel, 
vorzüglich  durch  Veränderung  des  hellen  a  in  das  dumpfe  «  bezeichnet; 
zahlreiche  Pluralformen  der  Nomina  und  Adjectiva  bestehen  blosz  in  der 
Umbildung  der  Vocale.    Im  Hebräischen  ist  wol  auch  die  Anlage  dazu 


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Die  Form  der  hebräischen  Poesie.  249 

vorhanden,  und  ist  auch  z.  B.  in  der  Bildung  der  Passiva  von  PMfl  und 
Hiphil  ein  Anfang  hiermit  gemacht  worden,  doch  war  die  Neigung  zu 
consonantisch  härteren  Bildungen  zu  überwiegend,  so  dasz  das  Hebräische 
hierin  dem  Arabischen  sehr  nachsteht. 

Zweitens  zeigt  sich  die  Grundverschiedenheit  des  Hebräischen  vom 
Arabischen  in  dem  Gesetze  der  Silbenbildung.  Im  Hebräischen  gilt  das 
eigentumliche  Gesetz  der  Silbenlänge,  d.  h.  jede  Silbe  musz  ,lang, 
entweder  durch  einen  Vocal  gedehnt  oder  durch  Position  geschärft  sein, 
so  dasz  es  eigentlich  nur  lange  Silben  gibt.  Denn  schwerlich  wird  man 
noch  das  Sch'wa  Mobile  als  kurze  Silbe  bezeichnen  wollen,  da  es  seinem 
Wesen  nach  mit  dem  zunächst  folgenden  Gonsonanten  zum  nächsten  Vocal 
gehört;  z.  B.  ketol  (2  Pers.  sing,  imperat.  Kai.)  k'tol  ausgesprochen  wer- 
den musz. 

Wie  ganz  anders  ist  die  Silbenbildung  in  der  arabischen  Sprache, 
die  nicht  im  entferntesten  an  dieses  Gesetz  gebunden  ist  und  hierin  den 
freiesteu  Spielraum  hat.  Das  hebräische  Kalal,  welches  aus  zwei  langen, 
einer  gedehnten  und  einer  geschärften  Silbe,  besteht,  lautet  im  Arabi- 
schen Kätälä  und  besteht  aus  drei  kurzen  Silben.  Es  lag  daher  in  der 
Natur  der  arabischen  Sprache,  da  sie  einer  solchen  Mannigfaltigkeit  der 
Silben  sich  erfreute ,  dasz  eine  auf  Abwechslung  von  langen  und  kurzen 
Silben  beruhende  Metrik  entstand,  während  im  Hebräischen,  wo  es  fast 
nur  lange  Silben  gibt,  jede  natürliche  Anlage  zu  einer  solchen  Metrik 
fehlt.  cDas  systema  morarum',  wie  de  Wette  in  seiner  Einleitung  zu  den 
Psalmen  sich  ausdrückt,  'wonach  es  nur  lange  und  und  lauter  gleiche 
Silben  gibt,  macht  kein  Versmasz  nach  Sylbenquantitäten  möglich.' 

Dasz  die  abgeglätteten  und  verschliffenen  Dialekte  des  Aramäischen 
weder  so  ursprünglich  voll ,  noch  so  hart  gelautet  haben ,  um  mit  der 
hebräischen  Sprache  hierin  verglichen  werden  zu  können,  bedarf  wol  kei- 
nes ausführlichen  Beweises.  Auch  erscheinen  die  schriftlichen  Denkmäler 
in  diesen  Dialekten  erst  in  so  später  Zeit  und  unter  dem  Einflüsse  so  vieler 
fremdartiger  Elemente,  dasz  sie  schon  aus  diesem  Grunde  bei  einer  Unter- 
suchung über  die  uralte  hebräische  Poesie  nicht  in  Betracht  kommen 
können.  Dasselbe  gilt  auch  in  gleicherweise  vom  Aethiopischen. 


S  4. 

Welche  metrische  Form  dem  Charakter  der  alten  hebräischen  Sprache 
am  natürlichsten  war. 

Das  eigentümliche  Gesetz  der  Silbenlänge  im  Hebräischen  machte, 
wie  wir  oben  gesehen  haben,  ein  Versmasz  nach  abwechselnden  Längen 
und  Kürzen,  wie  es  selbst  die  arabische  Sprache  hat,  unmöglich.  Dasz 
aber  ein  solches  Gesetz  im  Hebräischen  zur  Geltung  kam ,  weist  wieder 
auf  diß  im  Hebräischen  vorzugsweise  herschende  Neigung  einer  compacten, 
schweren,  wenn  nicht  gar  schwerfälligen  Aussprache  der  Gonsonanten 
hin ,  die  sich  uns  ja  bereits  als  das  herschende  Element  dargestellt  haben. 
Die  Gonsonanten  treten  scharf  und  voll  aus  starken ,  noch  unausgebrauch- 
ten  Organen  in  der  Aussprache  hervor.    Die  sogenannten  Hülfsvocale  in 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  5  u.  ö.  17 

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250  Die  Form  der  hebräischen  Poesie. 

den  Schluszsilben  der  segolata,  oder  zu  Anfang  zweier  mit  Sch'wa  das 
Wort  anfangenden  Gonsonanten  dienen  auch  nur  dazu,  die  Verschletfung 
der  Gonsonanten  zu  verhüten  und  sie  in  der  Aussprache  deutlich  zu  mar- 
kieren.  Die  Vocale  dagegen  bilden  gleichsam  das  dienende  Element  und 
treten  nur  hinzu,  um  die  Aussprache  der  Gonsonanten  vernehmbar  zu 
machen. 

Mit  dieser  Charakteristik  der  Sprache  ist  zugleich  der  Weg  gezeich- 
net, auf  [welchem  die  metrische  Form,  deren  selbst  die  rohesten  und 
ungebildetsten  Sprachen  nicht  entbehren,  im  Hebräischen  zunächst  zu 
suchen  ist,  nicht  in  den  vocalischen,  sondern  in  den  consonantisehen 
Elementen.  Und  dies  führt  uns  auf  eine  metrische  Form ,  die  wir  einst- 
weilen Allitteration  nennen  wollen,  wiewol  diese  Bezeichnung  nur  an- 
näherungsweise der  metrischen  Form  entspricht ,  welche  wir  unter  die- 
sem Namen  in  der  altdeutschen  und  altnordischen  Sprache  verstehen.  Die 
Allitteration  im  Althebräisehen  gleicht  darin  der  altgermanischen ,  dasz 
in  beiden  der  gleiche  Anlaut  der  Stammesconsonanten  der  bedeutenderen 
Worte  im  Verse  als  metrisches  Bindemittel  dient,  während  nach  dem 
eigentümlichen  Charakter  des  Hebräischen  diese  metrische  Form  sich  viel- 
fach anders  gestaltet  und  auch  im  Laufe  ihrer  Fortentwicklung  einen  ganz 
anderen  Weg  eingeschlagen  hat. 

Zunächst  jedoch  wollen  wir  das  Gleiche  in  diesen  verschiedenen 
uralten  Sprachstämmeu  darzustellen  versuchen  und  auch  bei  der  Entwick- 
lung nur  so  weit  verfolgen ,  als  sieh  die  Spuren  gleichen  oder  analogen 
Ganges  nachweisen  lassen. 

§5. 
Vergleichung  des  Althebräischen  mit  dem  Altgermanischen. 

Auch  im  Altgermanischen  begegnen  wir  einer  Sprache,  welche, 
einem  in  Urwäldern  und  unwirtlichen  Ebenen  und  Morästen  hausenden 
Volke  angehörig ,  durch  ihre  rauhen  und  scharfen  Töne  dem  verweichlich- 
lichten römischen  Ohre  fast  schreckenerregend  war.  In  den  Kämpfen  des 
Marius  gegen  die  Ambronen  heiszt  es  unter  Andern :  cDie  Nacht  war  auf 
mancherlei, Weise  furchtbar  und  grauenvoll.  Aus  dem  Lager  der  Deut- 
schen tönte  es  im  wunderlichen  Gemisch  der  Stimmen  herüber  nicht  wie 
Wehklagen  und  Jammern  —  sondern  gleich  einem  dumpfen  Gebrüll  wie 
von  wilden  Thieren ,  dasz  die  Gebirge  umher  und  die  Ufer  des  Stromes 
davon  widerhallten.9  In  Bezug  auf  die  altgermanischen  Kriegslieder  sagt 
Tacitus:  'sie  suchen  vorzüglich  rauhes  Getön  und  gebrochenes  Murmeln 
vermittelst  zum  Munde  gehaltener  Schilde,  damit  der  abprallende  Ton 
voller  und  kräftiger  anschwelle.9  Noch  zur  Zeit  Karl's  des  Groszen  wird 
von  einem  Zeitgenossen  der  Gesang  der  Deutschen  mit  dem  Geprassel 
eines  über  einen  Knitteldamm  dahinrollendeu  Lastwagens  verglichen,  dasz 
Ohr  und  Gefühl  statt  sanft  bewegt,  erschreckt  und  erschüttert  werden. 

Und  in  dieser  naturwüchsigen  Sprache  gab  es  Gesänge,  die  trotz  der 
harten  und  ungefügigen  Formen  sich  durch  ihren  Inhalt  und  ihre  Tiefe, 
—  wenn  wir-  ans  den  geringen  Resten  und  den  späteren  Umbildungen 


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Die  Form  der  hebräischen  Poesie.  251 

einen  Rückschlusz  machen  dürfen,—  über  die  polierten,  zugespitzten 
oder  trockenen  lateinischen  Gedickte  jener  Zeit  ebenso  erhoben,  äs  die 
althebräische  durch  ihre  reine  Natürlichkeit  und  Erhabenheit  unübertroffen 
im  Ausdrucke  der  innigsten  und  höchsten  Gefühle  religiöser  Hingebung 
geblieben  ist. 

Zeigt  sich  in  der  Rauhheit  und  Härte  der  Aussprache  eine  grosze 
Aehnüchkeit  zwischen  dem  Althebräischen  und  Altdeutschen,  —  wie  diese 
wol  überhaupt  zwischen  allen  Ursprachen  auf  der  ersten  Stufe  ihrer  Ent- 
fückelung  in  dieser  Beziehung  natürlich  ist,  —  so  tritt  diese  nicht  we- 
niger in  der  Art  der  Fortpflanzung  des  Gesanges  durch  eine  Reihe  von 
vielen  Jahrhunderten  hervor.  Bei  den  Hebräern  ist  dieses  leicht  erweis- 
bar. Denn  nimmt  man  auch  Moses  nicht  als  den  Erfinder,  der  Schreibe- 
kunst für  sein  Volk  an,  so  reicht  doch  jedenfalls  die  Erfindung  derselben 
nicht  weit  über  sein  Zeitalter  hinauf,  und  dauerte  es  sicherlich  noch  Jahr- 
hunderte —  wie  dieses  in  so  frühen  Zeiten  in  3er  Natur  der  Sache  lag,  — 
ehe  sie  allgemeiner  im  Gebrauche  war.  Noch  ein  Jahrtausend  nach  Moses 
bedeutet  Sopher,  eigentlich  Schreiber,  den  Gelehrten,  den  Schriftgelehr- 
ten, ein  Beweis,  wie  selten  noch  diese  Kunst  war.  Die  Gesänge  der  Israe- 
liten am  rothen  Meere,  die  Weissagung  Jacob's,  der  Gesang  der  Deborah 
und  viele  andere  tragen  ganz  den  Charakter  des  mündlichen  Gesanges, 
welcher  in  der  Tradition  bis  zur  Aufzeichnung  sich  erhalten.  Mündlich 
fortgepflanzte  Gesänge  und  Dichtungen  setzen  eine  gebundene  Rede  vor- 
aus, für  welche  der  begriffliche  Parallelismus  nicht  ausreichen  konnte. 

Wie  bei  den  Griechen  der  Hexameter  vorzüglich  dazu  beitrug,  die 
homerischen  Gesänge  Jahrhunderte  lang  treu  im  Gedächtnis  der  Sänger 
und  des  Volkes  zu  erhalten ,  so  muste  auch  der  Vers  im  Hebräischen  ein 
sinnlich  für  das  Ohr  erkennbares  Band  haben,  welches  ihn  vor  Verwahr 
losung  und  Verfälschung  der  Zeiten  bewahrte.  Ein  solches  metrisches 
Band  aber  konnte  nur  die  Allitteration  sein,  die  sich  gerade  am  deutlich- 
sten auch  in  den  ältesten  Gesängen  zeigt,  wie  wir  sehen  werden,  welche 
sich  hierdurch  Jahrhunderte  lang  in  dem  Gedächtnisse  des  Volks  erhalten 
konnten,  ehe  sie  zur  Aufzeichnung  gelangten. 

In  ähnlicher  Weise  aber  verhielt  es  sich  auch  mit  den  ältesten  Ge- 
sängen der  Deutschen,  welche  nach  dem  Zeugnisse  des  Taeitus  sich  Jahr- 
hunderte lang  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fortgepflanzt  hatten.  Ger- 
man.  II.  Celebrant  carminibus  anliquis,  quodunum  apud  Mos  memeriae 
et  annalium  genu$  est,  Tuisconem  etc. 

Gerade  durch  das  sinnlich  wahrnehmbare  Metrum  der  Allitteration, 
welches  zu  den  von  Taeitus  geschilderten  rauhen  Gesängen  sich  vorzüg- 
lich eignete,  konnten  diese  auch  ohne  Aufzeichnung  sich  erhalten  und 
verbreiten. 

Dasz  auch  bei  den  andern  semitischen  Völkern  ein  solcher  von  Ge- 
schlecht zu  Geschlecht  fortgepflanzter  Gesang  vorhanden  gewesen  sei, 
erfahren  wir  nicht.  Die  alten  Araber  hatten  lange  Geschlechtsregister  von 
sich  selbst  und  auch  von  ihren  Pferden,  aber  von  Gesängen,  welche  ge- 
schichtliche Ereignisse  feiern,  haben  wir  keine  Nachricht. 

Noch  in  einem  dritten  Umstände  gleichen  sich  vorzugsweise  die  alt 

17* 

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252  Die  Form  der  hebräischen  Poesie. 

deutschen  und  atthebräischeri  Gesänge,  dasz  sie  nicht  ausschlieszlich einer 
bevorzugten  Kaste,  wie  der  Druiden  bei  den  celtischen  Galliern,  oder  einer 
Sängerschule,  wie  den  Rhapsoden  bei  den  Griechen,  angehörten,  sondern 
dasz  sie  das  Gemeingut  des  ganzen  Volkes  waren.  Die  alten  Deutschen 
sangen  unter  freudiger  Zustimmung  der  Menge ,  wie  es  denn  auch  die  Ge- 
samtheit des  Volkes  eigentlich  war,  welche  die  Lieder  hervorbrachte. 
Dies  geht  aus  dem  Wesen  der  deutschen  Volksdichtung  von*  selbst  hervor, 
wie  denn  auch  Tacitus  nur  von  einem  gemeinsamen  Gesänge  spricht. 

Aber  auch  bei  den  Hebräern  war  der  älteste  Gesang  ein  gemeinsamer. 
Von  dem  Liede  am  rothen  Meere  heiszt  es  ausdrücklich:  *Da.  sang  Moses 
und  die  Israeliten  dieses  Lied  Gott  zu  Ehren9  (Exodus  XV,  l).  Das  Brun- 
nenlied (Numeri  XXI,  17)  wird  als  ein  Volkslied  bezeichnet,  wie  denn 
selbst  das  Spottlied  daselbst  über  Moab's  Fall  (v.  27  u.  w.  ibidem)  als 
nicht  von  Einem  Dichter  herrührend  bezeichnet  wird.  Den  Gesang  Moses 
(Deuteronom.  XXXII)  musfen  die  Israeliten  insgesamt  lernen  und  singen 
(vgl.  Deuter.  XXXI 19, 22),  was  auf  einen  gemeinsamen  Gesang  hinweist4'). 
-Nicht  selten  begegnen  wir  sogar  einem  singenden  Chor  der  Frauen  (vgl. 
Exodus  XV  20,  21 ;  Iudic.  XI  40;.  1  Samuel.  XVIII  7). 

So  viele  Aehnlichkeit  in  der  Anlage  der  Sprache,  in  der  Art  des  Ge- 
sanges und  dessen  Verbreitung  und  Fortpflanzung  berechtigt  wol  2ur  An- 
nahme einer  in  beiden  Sprachen  ähnlichen  Metrik,  und  nachdem  wir  in 
dein  Geiste  der  Sprache  selbst  die  Begründung  und  durch  Vergleich  ana- 
loger Sprachen  die  Bestätigung  dieser  Annahme  gefunden ,  dürfen  wir  zu 
den  einzelnen  Erscheinungen  selbst  übergehen,  um  auf  analytischem  Wege 
diese  Metrik  in  ihrer  eigentümlichen  Art  nachzuweisen  und  auszuführen. 

8  6. 
Von  den  Spuren  der  Allitteration  in  der  Volkssprache. 

Es  gab  eine  Zeit  in  Deutschland ,  in  welcher  das  Bewustsein  einer 
einstmaligen  schon  vor  einem  Jahrtausend  blühenden  Litteratur  ganz  ver- 
loren gegangen  war.  In  dieser  Zeit  waren  natürlich  auch  die  wenigen 
Reste  der  althochdeutschen  Poesie,  deren  Auffindung  wir  einem  glück- 
lichen Zufall  und  ^deren  Verständnis  wir  dem  emsigen  Forscherfleisze  vor- 
züglicher Gelehrten  verdanken,  gänzlich  unbekannt.  Von  einer  metrischen 
Form  der  Allitteration  hatte  Niemand  eine  Ahnung.  Aber  seitdem  man 
Kenntnis  von  dieser  älteren  Poesie  und  den  sprachverwandten  nordischen 
Dialekten  gewönnen,  fand  man,  dasz  Spuren  dieser  alten  metrischen  Form 
in  der  noch  lebenden  Sprache  in  der  Hinneigung  der  Volkssprache  zu  sol- 
chen Bildungen  sich  vorfinden.  Eine  grosze  Zahl  von  sprichwörtlichen 
Redensarten,  die  schon  längst  gang  und  gäbe  sind  oder  noch  vor  unsern 
Augen  sich  bilden,  sind  oft  allein  aus  dieser  Hinneigung  zu  allitterieren- 
den  Bildungen  hervorgegangen.    Einige  von  ihnen  müsten  uns  sogar  ganz 


*)  Doch  scheint  das  Auswendiglernen* eine  Interpretation  der  spä- 
tem Zeit  zn  sein,  als  der  Volksgesang  verstummt  und  dessen  Wesen 
unverständlich  geworden  war. 


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Die  Form  der  hebräischen  Poesie.  253 

sinnlos  oder  jedenfalls  der  natürlichen  Logik  der  Sprache  widersprechend 
erscheinen,  wenn  nicht  eben  der  Reiz  zu  solchen  Sprachbildungen  ihre 
Entstehung  erklärte,  z.  B.  Kind  und  Kegel,  Nacht  und  Nebel  u.  v.  a. 
Man  erkennt  ebenfalls ,  dasz  die  volksmundartlichen ,  von  gelehrter  Poli- 
tur noch  nicht  beeinfluszten  Dialekte  noch  mehr  hierzu  neigen ,  als  die 
allgemein  recipierte  Schriftsprache.  *) 

Wir  treffen  nun  im  Hebräischen  selbst  in  der  Prosa  eine  Menge  sol- 
cher allitterierenden  Redeweisen ,  die  im  Verhältnis  zu  dem  wenig  um- 
fangreich erhaltenen  Sprachschatz,  welcher  zudem  sehr  wenig  in  der 
eigentlichen  Volkssprache,  sondern  im  Munde  der  gebildeten  Propheten 
oder  Priester  hervortritt,  recht  auffällig  erscheinen  und  zu  dem  Schlüsse 
berechtigen  müssen ,  dasz  in  diesen  ebenso  Spuren  einer  ehemaligen 
allitterierenden  Poesie  sich  erkennen  lassen  als  die  Hinneigung  der  Sprache 
zu  allitterierenden  Bildungen  überhaupt.  Viele  von  diesen  Ausdrücken 
kommen  überhaupt  nur  in  der  allitterierenden  Verbindung  vor,  andere 
sind  auch  für  sich  allein  oder  in  anderer  Verbindung  in  Gebrauch ;  einige 
scheinen  als  vulgär  in  der  Poesie  gemieden,  andere  dagegen  nur  der  Poesie 
eigentümlich  zu  sein**). 

Wir  würden  daher  a  priori,  wenn  auch  keine  allitterierenden  Dich- 
tungen im  Hebräischen  vorhanden  wären  ^  nach  Analogie  der  deutschen 
voraussetzen  dürfen ,  dasz  eine  solche  wol  einmal  vorhanden  gewesen  sei. 
Glücklicherweise  aber  haben  sich  wirklich  bedeutende  Reste  einer  solchen 
erhalten  und  zwar  in  einem  weit  gröszeren  Umfange,  als  sie  uns  im  Alt- 
hochdeutschen erhalten  sind,  die  unsere  Annahme  auf  das  evidenteste  be- 
stätigen. 

8  7. 

Weitere  Vergleichung  des  Altdeutschen  und  Althebräischen  in  Betreff 
des  Entwicklungsganges  der  metrischen  Form  der  Allitteration. 

Ehe  wir  zu  der  speciellen  Untersuchung  und  Darlegung  der  hebräi- 
schen Allitteration  übergehen,  wollen  wir  die  beiden  Ursprachen,  die  so 
viel  Analoges  in  ihrer  frühesten  Culturperiode  darbieten,  noch  eine  Strecke 
auf  ihrem  Entwicklungsgange  verfolgen,  da  sie  auch  hier  viel  Gleich- 
artiges zeigen  uud  sich  gegenseitig  beleuchten. 

Die  Allitteration ,  wie  sie  die  ursprüngliche  metrische  Form  der  älte- 
sten Poesie  ist ,  kann  auch  nur  so  lange ,  als  eben  ein  Volk  und  dessen 
Sprache  auf  der  untersten  Stufe  der  Cultur  sich  noch  befindet,  die  volle 
klare,  und  dem  Inhalte  auch  naturgemäsze  Form  derselben  bleiben.  Nur 
auf  diesem  fast  noch  ungetrübten  Naturzustände  ist  die  Sprache  noch 
mehr  der  sinnbildliche  Ausdruck  der  natürlichen  Wahrnehmung,  als  des 


*)  Aus  dem  hiesigen  Dialekte  ist  mir  aufgefallen:  Kitzekatze  grau; 
lichterloh;  griesgrämig. 

**)  Eine  ziemliche  Anzahl  solcher  allitterierenden  Redensarten,  die 
sich  aber  vielfach  vermehren  lassen,  habe  ich  in  dem  Programme:  De 
allitteratione,  quae  vocatur,  in  sacris  Hebräeorom  literis  usurpata, 
Heidelberg  1859,  zusammengestellt. 


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254  Die  Form  der  hebräischen  Poesie. 

logisch  klaren  Gedankens ,  die  Gonsonanten  haben  noch  ihre  volle  Hlrte 
und  Schärfe,  wie  das  Ohr  gerade  für  die  sinnlich  plastische  Gestaltung 
des  Wortes  noch  nicht  abgestumpft  ist.  Die  Sprache  ist  fn  solcher  Zeit 
auch  viel  reicher  an  Worten  und  Ausdrücken  für  die  Fülle  der  noch  nicht 
abgestumpften  sinnlichen  Wahrnehmung,  wie  auch  andrerseits  der  Inhalt 
der  Dichtung  von  ausserordentlicher  Einfachheit  und  Natürlichkeit  ist. 
Mit  dem  Fortschritte  der  Gultur  und  dem  Beginn  eines  freiem  geistigen 
Lebens  kann  diese  primäre  Form  der  Poesie  als  metrisches  Bindemittel 
nicht  mehr  ausreichen.  Die  Organe  werden  weicher,  die  Aussprache  ver- 
liert ihre  ursprüngliche  Rauhheit,  das  vocalische  Element  wjrd  vorherr- 
schender, der  reichere  und  mannichfaitigere  Inhalt  erfordert  freiere  Be- 
wegung in  der  Darstellung  und  wird  durch  das  Aüitterationsgesetz 
gehemmt,  da  auch  der  grdste  Reichtum  an  alliterierenden  Worten  für 
die  sich  stets  mehr  entwickelnde  Gedankenfülle  bald  erschöpft  ist.  Der 
Versuch,  eine  einmal  überlebte  Form  durch  Kunstmittel  zu  erhalten, 
führt  zu  Erstarrung,  zu  einem  inhaltslosen  Wortgeklirre ,  wie  dies  im 
Altnordischen  wirklich  geschehen  ist.*) 

Sprachen  von  gröszerer  Lebensfähigkeit  sprengen  die  Fessel  der 
beengenden  Formen  und  suchen  neue,  dem  Inhalte  sich  mehr  anschmie- 
gende. Das  Altdeutsche  und  Althebräische  haben  dieses  gethan.  Doch 
werden  solche  Formen  nicht  mit  einem  Male  abgethan,  ebensowenig  als 
die  neuen  auf  einmal  angenommen  werden.  Wie  in  allem  Organiseben 
gibt  es  auch  hier  allmähliche  Uebergäjige.  Von  nicht  geringem  Interesse  ist 
es,  diese  Uebergänge  zu  verfolgen,  die  Ansätze,  welche  der  poetische 
Trieb  der  Sprache  instinetiv  versucht,  das  Alte  abzuschütteln  und  das 
Neue  an  dessen  Stelle  zu  setzen ,  näher  kennen  zu  lernen.  Auch  hier  findet 
sich  viel  Analoges  im  Althebräischen  und  Altdeutschen.  Dieselben  Triebe 
führen  oft  auf  gleiche  Ansätze,  sie  scheinen  auf  eine  Zeit  lang  fast  den- 
selben Gesetzen  zu  folgen,  bis  die  weit  kräftigere  und  lebensvollere 
Sprache  des  Altgermanischen  festere,  ihrem  Charakter  entsprechende 
Bahnen  einschlägt  und  das  Hebräische  weit  hinter  sich  zurückläszt,  weit 
ches,  zu  sehr  in  sich  selbst  gekehrt,  weder  das  Ueberlebte  ganz  über- 
winden ,  noch  über  die  Anfänge  des  Neuangenommenen  hinauskommen, 
wenigstens  es  zum  regelmäszigen  festen  Gesetz  hierin  nicht  bringen  kann. 

Der  Gang  des  Althebräischen  in  gröszern  Zügen  gefaszt  ist  etwa  fol- 
gender. Sobald  in  Folge  der  "Erweichung  der  Sprache  die  einfache  Allite- 
ration als  metrisches  Bindemittel  sich  nicht  mehr  als  zureichend  erwies, 
versuchte  man  durch  Häufung  der  gleichlautenden  Gonsonanten  diese  ver- 
nehmbarer zu  machen.  Es  entstand  die  sogenannte  verstärkte  Allitteralion, 
in  welcher  zwei  oder  gar  mehrere  Gonsonanten  mit  einander  allitterier- 
ten.  Häufig  suchte  man  auch  die  allitterierenden  Gonsonanten  durch 
Gleichheit  der  Vocale  mehr  hervortreten  zu  lassen;  es  führte  dies  eine 
eigene  Assonanz  herbei ,  welche  in  dieser  Uebergangsperiode  stets  zur 
Verstärkung  der  Allitteration  dient  und  nur  in  dieser  Function  ihre  Be- 


*)  Vgl.  WackeraagePs  Geschichte  der  deutschen  NationaUittcr»tur. 
Teil  I.  §  25  S.  45  u.  f. 


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Die  Form  der  hebräische*  Poesie.  255 

deuiung  hat.  Nicht  amders  verhall  es  sich  mit  dem  nicht  seltenen  Reim 
in  gewissen  hebräischen  Dichtungen ,  welcher  keineswegs  als  eine  selb* 
ständige  metrische  Form  angesehen  werden  darf.  Je  weniger  jedoch  der 
Sprachvorrath  zu  solcheti  künstlichen  Bildungen  ausreichte ,  um  so  eher 
moste  man  darauf  kommen,  statt  Worten  mit  alliterierenden  Gonsonaaten 
die  Worte  selbst  zu  wiederholen.  Es  ist  dies,  wie  wir  sehen  werden,  in  der 
ältesten  Dichtung  eine  sehr  beliebte  poetische  Form«.  Diese  Wortwieder- 
holung  ist  nicht  mit  der  sogenannten  Anaphora,  die  auch  nur  am  An* 
fange,  oder  mit  derEpistrophe,  die  nur  am  Schlosse  des  Satzes  steht, 
wie  sie  bei  den  alten  und  auch  bei  modernen  Rhetoren  und  Dichtern  vor« 
kommt,  zu  verwechseln.  Bei  diesen  ist  sie  eine  rhetorische  Figur  und  dient 
der  Emphase  des  Gedankens,  bei  den  Hebräern  ist  sie  ein  metrisches  Binde* 
mittel  der  Halbverse. 

Wie  aber  die  Wiederholung  des  Wortes  einerseits  nach  seinem  con- 
sonan tischen  Elemente  ein  metrisches  Bindemittel  in  den  Halbversen  wurde, 
so  brachte  es  andrerseits  zugleich  noch  ein  geistiges  hinzu,  indem  die 
beiden  Halbverse  durch  den  gleichen  Begriff  des  Wortes  zugleich  nach 
ihrem  Inhalt  zu  einer  Einheit  verbunden  wurden.  Je  mehr  nun  mit  dem 
Fortschritte  der  Gultur  das  begriffliche  Element  in  der  Sprache  über  das 
sogenannte  leibliche  überwog,  um  so  mehr  ftmste  das  geistige  Element, 
welches  in  der  Gleichheit  des  Begriffs  des  wiederholten  Wortes  lag,  vor 
dem  phonetischen  Element ,  welches  in  dem  consonantischen  Werthe  des- 
selben lag,  vortreten  und  als  das  eigentliche  Bindemittel  des  Verses  ange- 
sehen werden.  Statt  das  Wort  selbst  zu  wiederholen ,  welches  zur  Tau- 
tologie und  zu  einer  starren  Form  zu  werden  nahe  war,  welche  noch 
weit  mehr  als  die  Allitteration  selbst  die  freie  Bewegung  und  den  Dichter- 
schwung hemmen  muste;  fing  man  an,  von  dem  Gleichklang  der  Conso- 
nanten  §es  wiederholten  Wortes  ganz  abzusehen.  Das  begriffliche  Element 
hatte  in  der  Poesie  bald  das  leibliche  nicht  nur  überwunden ,  sondern 
ganz  verdrängt.  Einheit  oderWechsel Wirkung  desGedankens 
wurden  allein  das  metrische  Bindemittel  in  der  Poesie;  es  war  der  Ge- 
dankenparallelismus, welcher  einzig  in  seiner  Art ,  rein  begrifflich 
ist  und  des  phonetischen  Elements  ganz  entbehrt. 

So  ist  im  Ganzen  der  Entwicklungsgang  der  metrischen  Form  in  der 
hebräischen  Poesie  von  den  ersten  Anfängen  des  consonantischen  Gleich- 
lauts bis  zur  geistigsten  Form  des  Gedankenparallelismus,  ein  Gang,  wel- 
cher allerdings  erst  zur  vollen  Evidenz  gelangt,  wenn  er  in  den  einzelnen 
Erscheinungen  seine  Bestätigung  findet.  Dieses  werden  wir  in  dem  zwei- 
ten analytischen  Teile  unserer  Abhandlung  zur  Genüge  erkennen. 

Vergleichen  wir  hiermit  noch ,  was  sieh  Analoges  in  der  Entwicklung 
der  altdeutschen  Poesie  zeigt. 

Es  ist  die  gewähnliche  Meinung,  dasz  die  Allitteration  aus  dem  Alt- 
hochdeutschen durch  das  Ankämpfen  der  Geistlichkeit  gegen  die  altheid- 
nischen Gesänge  und  die  mit  ihnen  verwachsenen  poetischen  Formen 
verdrängt  worden  sei.  Man  beruft  sich  auf  Otfried's  eigene  Aussage  in 
der  Vorrede  zu  seinem  Evangelienbuche.  Es  mag  sein ,  dasz  der  von  der 
Geistlichkeit  in   den  Kirchenliedern  gebrauchte  Reim  zum  Verfall  der 


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256  Die  Form  der  hebräischen  Poesie. 

allitterierenden  Form  beigetragen  habe;  der  Verfall  derselben  jedoch  ist 
hierdurch  nur  beschleunigt  worden ;  denn  sicher  ist  es ,  dasz  auch  ohne 
dies  mit  dem  Fortschritte  der  Sprache,  mit  der  Erweichung  der  Conso- 
nanten ,  mit  der  Ablegimg  defr  nur  uncultivierten  Naturvölkern  eigenen 
rauhen  Aussprache  auch  die  metrische  Bindekraft  der  Allitteration  auf- 
hören muste.  Den  besten  Beweis  hiervon  sehen  wir  in  den  beiden  Merse- 
burger Zauberliedern  aus  dem  Anfange  des  lOn  Jahrhunderts,  welche 
doch  sicherlich  heidnischen  Ursprungs  sind.  Hier  treten  schon  alle  die 
Merkmale  des  Verfalls  in  der  Allitteration  uns  entgegen,  welche  wir  im 
Hebräischen  ebenfalls  als  Zeichen  des  Verfalls  der  ursprunglich  reineren 
Allitteration  haben  kennen  lernen.  Auch  hier  tritt  offenbar  das  Bestreben 
ein ,  durch  Wortwiederholung ,  Gleichlaut  der  Vocale ,  Reim ,  die  nicht 
mehr  ausreichende  Kraft  der  Allitteration  zu  ersetzen. 

In  dem  kleinern  Zauberspruch  zur  Lösung  der  Fesseln  eines  Kriegs- 
gefangenen hat  der  erste  Vers  : 

Eins  sazun  Idisi,  sazun  hera  duoder 
die  Wortwiederholung  sazun ,  welche  offenbar  auch  die  Allitteration  ver- 
tritt, die  sonst  im  zweiten  Halbvers  fehlt. 
Im  zweiten  Vers: 

suma  hapt  heptidun ,  suma  heri  lezidun 
dient  ebenfalls  die  Wiederholung  des  Wortes  suma  (sicher  keine  Ana- 
phora) und  der  Reim  zur  Stutze  der  Allitteration.  (Die  Worte  hapt,  hep- 
tidun, die  Verbindung  des  Verbum  mit  dem  Nomen  desselben  Stammes 
als  Object  erinnert  lebhaft  an  die  gerade  im  Hebräischen  so  beliebte  Gon- 
stnictionsweise). 

Der  dritte  Vers: 

suma  clubodun  umbi  cuonio  uuidi 
wiederholt  suma  zur  Anknüpfung  an  den  vorangehenden  Vers  (wir  wer- 
den im  Hebräischen  gerade  derartige  Fälle  in  groszer  Zahl  kennen  Jemen), 
daneben  finden  sich  blosz  zwei  Allitterationsstäbe. 
Der  vierte  Vers  endlich : 

insprine  haptbandun ,  invar  vigandun 
hat  im  ersten  Halbvers  keinen  Allitterationsstab ,  dafür  tritt  der  volle 
Reim  ein. 

Dieselbe  Beobachtung  kann  man  auch  am  zweiten  Zauberliede  ma- 
chen.  Die  beiden  ersten  Verse: 

Wol  ende  Wodan  uuorum  zi  holza 

du  uuart  demo  Balderes  uolon  sin  uuoz  birenkit; 
haben  eine  echte  Allitteration  und  überhaupt  den  Ton  eines  älteren  Liedes, 
wie  denn  auch  schon  Karl  Goedeke  die  Mutmaszung  ausspricht,  dasz  hier 
der  Anfang  eines  alten  in  der  Erinnerung  noch  haftenden  mythischen  Ge- 
sanges zu  einem  nutzbringenden  Zauberliede  herabgezogen  worden  sei. 
Als  nemlich  die  heidnischen  Götter  durch  das  Christentum  verdrängt  wur- 
den ,  liesz  ihnen  der  Aberglaube  noch  eine  gewisse  dämonische  Gewalt, 
die  man  durch  Zauberei  in  Wirksamkeit  setzen  zu  können  glaubte.  So 
wurde  denn  der  Anfang  eines  altheidnischen  Liedes ,  welches  mit  dem 
Zuge  Phol's  und  Wodan's  begann,  und  in  welchem  von  der  Verletzung 


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'  Die  Form  der  hebräischen  Poesip.  257 

tod  Phol's  Pferde  erzählt  wurde ,  zum  Zauberspruche  verkehrt.  Die  sechs 
sich  daran  schlieszenden  Verse : 

thu  biguol  en  Sinhtgunt,  Suna,  era  suister, 
Um  biguol  en  Froa,  Volla,  era  suister 
thu  biguol  en  Wodan,  oheWola  conda 
sose  benrenki,  sose  bluotrenki,  sose  lidirenki 
ben  zi  bena  bluot  zi  bluoda 
lid  ze  geliden  sose  gelimida  sin , 
welche  den  eigentlichen  Zauberspruch  ausmachen,  haben  Wort-  und  Vers- 
wiederholung zur  Verstärkung  der  Allitteration. 

Dieselbe  Neigung,  nebenher  Allitteration  Wortwiederholung,  Gleich- 
heit der  Vocale  und  Reim  eintreten  zu  lassen,  zeigt  sich  schon  im  Anfange 
des  neunten  Jahrhunderts.  Man  vergleiche  die  auf  den  Eber  gedichteten 
Verse  (Göedeke:  deutsche  Dichtung  im  Mittelalter,  S.  20) 

Der  näher  gät  in  litun ,  •ägit  sper  in  situn : 
sin  bald  ellin  ne  lazel  in  u&lin 
und    Imo  sint  füoze.füodermaze, 
imo  sint  bürste  oben  hö  forste , 
linde  zäne  sine  zuu&ifelnige 
und    Sose  su&  snellemo  pegagenet  andremo 
so  uuirdet  sliemo  ftrsniten  sciltriemo. 
In  den  beiden  letzten  Versen  namentlich  tritt  neben  der  offenbaren  Allitte- 
ration ein  entschiedener  Reim  zur  Verstärkung  hinzu. 

Aber  auch  im  Muspilli ,  welcher  der  Aufzeichnung  nach  wenigstens 
schon  dem  9n  Jahrhundert  angehört ,  bricht  neben  häufigen  Assonanzen 
nicht  selten  der  Reim  durch ,  und  wenn  dieses  nicht  in  noch  höherem 
Grade  der  Fall  ist ,  so  liegt  dieses  in  der  Grundlage  der  Dichtung ,  welche 
unzweifelhaft  aus  der  altern  heidnischen  Zeit  noch  herstammt. 

Gehen  wir  jedoch  ein  Jahrhundert  zurück,  so  sind  kaum  Spuren 
eines  solchen  Verfalles  zu  erkennen.  In  dem  Hildebrandsliede  zeigt  sich 
noch  der  ungetrübte  Heldengesang  in  Anschauung,  Sprache  (zeigt  wie 
Homer  noch  keine  strenge  Sonderung  der  Dialekte)  und  Metrum.  Dasz 
Vers  56  und  57,  wie  58  und  59  (Text  nach  Goedeke)  reimen,  kann  nicht 
füglich  als  beabsichtigt  angesehen  werden ;  zufällige  Reime  kommen  ja 
bekanntlich  auch  in  den  antiken  Dichtungen  vor. 

In  dem  Wessobruner  Gebet,  welches  man  auch  in  das  achte  Jahr- 
hundert setzt,  hat  der  erste  Teil  keinen  Reim,  noch  die  andern  bezeich- 
neten Merkmale  des  Verfalls ,  der  letzte  Teil  hingegen  erweist  sich  auch 
schon  hierdurch  als  einen  späteren  Zusatz,  dasz  er  die  Allitteration  durch 
Reim  zu  verstärken  sucht. 

Hiermit  ist  also  in  der  metrischen  Form  der  Dichtung  zugleich  ein 
Kennzeichen  für  die  Zeitbestimmung  der  Abfassung  gegeben,  wie 
denn  auch  im  Hebräischen,  wie  wir  sehen  werden,  hiermit  eine  besondere 
Grundlage  gewonnen  ist,  die  Abfassungszeit  einzelner  Dichtungen ,  na- 
mentlich der  altern  und  jungem  Psalmen  zu  bestimmen. 

Wir  finden  also  in  der  althochdeutschen  Dichtung  des  9n  und  lOn 
Jahrhunderts  denselben  Entwicklungsgang  in  Betreff  der  Allitteration,  wie 


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258  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

in  der  allhebräischen  Poesie.  Allein  von  dieser  Zeit  ab  gehen  die  Dichtun- 
gen beider  Völker  ganz  auseinander.  Während  die  mehr  lyrische,  nach 
Verinnerung  hinstrebende ,  hebräische  Poesie  fast  dithyrambisch  sich  dem 
Zwange  eines  äuszerlich  bindenden  Metrums  entzog,  hat  die  deutsche 
Dichtung  das  mehr  plastische  Element  im  Metrum  bewahrt  und  wie  sie 
selbst  zur  Zeit,  da  die  Allitteration  noch  in  voller  Kraft  war,  regelmäszige 
Hebungen  und  Senkungen  beobachtet  hatte*),  so  hat  sie  selbst  nach  dem 
Verfall  dieselben  behalten. 

Anstatt  der  Allitteration  jedoch  hat  sie ,  da  die  modernen  Sprachen 
überhaupt  mehr,  als  die  antiken,  eines  das  Ohr  mehr  reizenden  (musika- 
lischen) Elements  in  der  Versbildung  bedürfen,  den  Reim  eingeführt,  der 
ihr  nicht  äuszerlich  aufgedrungen ,  wie  Kiopstock  und  seine  Nachfolger 
glaubten ,  sondern  genetisch  durch  Abschwächung  der  Allitteration  ent- 
stehen muste.  Denn  der  Reim  ist  der  notwendige  Ersatz  für  die  abge- 
schwächte Allitteration;  der  Rej)  ist  das  mehr  plastische  Aequivalent  des 
geistigen  Paralleli&mus ;  wie  der  Parallelismus  im  Hebräischen  begrifflich, 
so  verbindet  der  Reim  in  den  modernen  Sprachen  phonetisch  die  einzel- 
nen Versteile  oder  Verse. 

Saarbrücken.  Julius  Ley. 


*)  Wenn  auch  die  Lach  mann  sehe  Annahme  von  vier  Hebungen  in 
der  Halbzeile,  zwei  stärkeren  des  Haupttones  und  zwei  schwächeren 
des  Nebentones,  nicht  ganz  erweisbar  ist,  so  ist  doch  die  Annahme 
von  zwei  Hebungen  selbst  von  Wackernagel  nicht  bestritten  worden. 


20. 

Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungen- 
Strophe  im  MHD  und  NHD. 


Einleitung. 

Die  Strophe,  in  der  das  Nibelungenlied  abgefaszt  ist,  setzt  zu  ihrem 
Verständnis  eine  gewisse  Einsicht  in  die  mittelhochdeutsche  Prosodie  vor- 
aus. Gerade  aber  die  Quantilätsverhältnisse  unserer  heutigen  (=  nhd) 
Sprache  und  die  der  mittelhochdeutschen  (=  mhd)  sind  von  einander 
wesentlich  verschieden;  es  läszt  sich  daher  Art  und  Eigentümlichkeit  der 
mhd  Nibelungenstrophe  vom  NHD  aus  nicht  nachweisen  und  deutlich 
machen. 

Weder  die  neuhochdeutsche  Nibelungenstrophe,  wie  wir  sie 
z.  B.  bei  Unland  und  Chamisso  finden,  reicht  zu  diesem  Zwecke  aus,  noch 
das  dem  mittelhochdeutschen  Vorbilde  sich  annähernde  Schema, 
dessen  sich  die  Uefcersetzer  des  Nibelungenliedes  z.  B.  Simrock,  ferner 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibeluagenstrophe  usw.  259 

F.  Ruckert  in  Lied  Hörn  und  Geibel  in  König  Sigurd's  Brautfahrt  bedienen. 
Das  Schema  Uhland's ,  das  sich  von  der  Versmessung  aller  andern  nbd 
Gedichte  in  den  Hauptpunkten  nur  wenig  unterscheidet,  liesze  gerade  die 
wesentlichen  Eigenheiten  der  mittelhochdeutschen  Strophe  unerklärt ;  im 
andern  Falle  würden"  die  sehr  erheblichen  metrischen  Abweichungen  der 
Uebersetzer  und  der  eben  genannten  Dichter  von  der  herkömmlichen  an« 
tiken  Versmessung  dem  Anfänger  unbegreiflich,  willkürlich  und  als  grobe 
Verstösse  gegen  die  metrischen  Satzungen  erscheinen.' 

Ebenso  wenig  taugen  dazu  kurz  gefaszte  Erklärungen,  wie  sich  de* 
ren  eine  z.  B.  bei  Otto  Marbach  (Nbd  Uebersetzung  des  Nibelungenliedes. 
Leipzig  1860)  S.XLIV  findet.  Dort  ist—  ohne  alle  nähere  Begrün- 
dung —  zu  lesen: 

*Der  Bau  des  Nibelungenverses  ist  nun  folgender:  Jedes  mehrsilbige 
Wort  hat  Eine  oder  (die  zusammengesetzten  Worte)  mehrere  betonte  Sil- 
ben. Nur  diese  betonten  Silben  werden  im  Verse  gezählt, 
die  unbetonten  werden  vom  Dichter  nach  Wahf  (?)  einge- 
schaltet (oder  weggelassen),  wie  es  die  Stimmung  des  Dichters 
mit  sich  bringt* 

Dies  der  Kern  der  ganzen  Erklärung;  das  Wenige,  was  0.  Marbach 
noch  hinzusetzt,  ist  minder  wesentlich;  das  Gitat,  wie  es  hier  steht,  ent- 
hält die  Hauptsache.  Aber  die  grosze  Masse  der  Gebildeten,  ja  gewis 
auch  viele  sonst  sehr  gelehrte  Leute  werden,  ehe  sie  auch  nur  Eine  Zeile 
weiter  lesen,  vornherein  verwundert  fragen:  Wie  in  aller  Well  kommst 
du  dazu,  gegen  alle  Grundgesetze  der  antiken  Metrik,  ganz  gegen  den 
raaszgebenden  Gebrauch  auch  aller  unsrer  eignen  Dichter  eine  solche  Re- 
gel aufzustellen  und  dem  Masze  der  Verse  in  deiner  neuhochdeutschen 
Uebersetzung  des  Nibelungenliedes  zu  Grunde  zu  legen?  Das  heiszt  ja 
nichts  Anderes,  als  die  Thesis  zur  Arsis  bald  setzen,  bald  weglas- 
sen, als  ob  dadurch  nicht  jedes  Masz  des  Verses  von  Grund  aus  zerstört 
wurde?  Noch  auffallender  wird  es  dem  Anfänger  vorkommen,  dasz  das 
Eine  oder  das  Andere  gar  von  der  bloszen  fWahl  und  Stimmung9  des 
Dichters  abhängen  soll. 

Auch  für  Kundige  kann  Marbach's  Erklärung  nicht  geschrieben 
sein.  In  Betreff  der  mittelhochdeutschen  Nibelungenstrophe  ist  sie  zwar 
richtig;  sie  enthält  aber  nichts  Neues,  wäre  also  für  Kundige  überflüssig. 
0.  Marbach  spricht  aber  an  dieser  Stelle  nicht  sowol  von  der  mhd ,  son- 
dern von  der  nhd Nibelungenstrophe,  wie  er  sie  z.B.* selbst  in  seiner  nbd 
Uebersetzung  des  Nibelungenliedes  gebraucht.  Da  dürfte  es  denn  auch 
dem  Kundigen  sehr  zweifelhaft  sein,  ob  das  mittelhochdeutsche  Gesetz 
—  mir  nicbts  dir  nichts  —  auch  ohne  alle  Einschränkung  auf  das  NHD 
auszudehnen  sei  (cf.  unten  den  zweiten  Abschnitt).  Der  Anfänger  aber 
wird  diese  Grundregel  der  mhd -Metrik,  die  nicht  Wosz  seine  eignen  An- 
sichten, sondern  auch  den  zweihundertjährigen  Gebrauch  aller  unsrer 
Dichter  antastet  und  gewissermaszen  über  den  Haufen  wirft ,  für  nnsre 
neuhochdeutsche  Metrik —  ohne  zwingenden  Beweis  —  nimmer- 
mehr annehmen  und  unterschreiben. 

Es  bleibt  daher  nur  die  Wahl  übrig:  man  läszt  die  Sache  links 


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260  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungeustrophe  usw. 

liegen  und  beharrt  bei  seiner  Unkunde  in  der  deutschen,  also  auch  unse- 
rer heutigen  Rhythmik ,  oder  der  Anfänger  —  ob  Lehrer  oder  Schuler  — 
musz  auf  sie  grundlicher  eingehen ,  da  er  sonst  auch  nicht  Eine  Zeile  der 
mhd  Strophe  oder  der  altdeutsch  gemessenen  nhd  Uebersetzungen  des 
Nibelungenliedes  richtig  zu  lesen  im  Stande  wäre. 

Die  mhd  Nibelungenstrophe  ist,  wie  schon  gesagt,  ohne  Kennt- 
nis der  mittelhochdeutschen  Prosodie  in  ihrer  Art  und  Eigentümlichkeit 
nicht  zu  erklären.  Aber  gerade  zwischen  der  Quantität  der  mhd  und  un- 
serer nhd  Sprache  waltet  ein  wesentlicher  Unterschied.  Ein  so  schroffer 
Gegensatz  könnte  nun,  was  sehr  zu  bedauern  wäre,  den  Anfänger,  für 
den  diese  Zeilen ,  wenn  auch  nicht  allein ,  so  doch  vorzugsweise  bestimmt 
sind ,  von  der  Erlernung  des  MHD  eher  abschrecken ,  als  dazu  einladen. 

Es  verlohnt  daher  wol  der  Mühe,  alles  das,  worin  beide  Spra- 
chen wesentlich  übereinstimmen,  in  knappester  Fassung  ein- 
leitend zusammenzustellen.  Der  Anfänger  soll  daraus  ersehen ,  dasz  der 
Abstand  beider  Sprachen  —  mit  Ausnahme  der  Quantität  —  nicht  grosz 
ist,  die  Erlernung  des  MHD  also  vielMühe  und  Arbeit  nicht  in  Anspruch 
nimmt.  Die  Quantitätsverhältnisse  dagegen  wären  dann,  um  die  pro- 
sodische und  metrische  Messung  sowol  der  mittelhoch- 
deutschen, als  auch  der  neuhochdeutschen  Nibelungen- 
strophe gründlich  darzulegen,  eingehender  und  genauer  zu  be- 
sprechen. v 

Uebereinstimmung  des  MHD  und  NHD. 

A)  Aller  deutschen  Sprachen  wesentliches  Kennzeichen  ist:  l)  die 
doppelte  Deklination  des  Adjectivum,  die  starke  und  schwache  und 
2)  die  Bildung  des  Imperfectum  schwacher  Verba  durch  einen 
eigentümlichen  auszern  Zusatz.  Diese  beiden  Kennzeichen  können  natür- 
lich weder  dem  MHD  noch  dem  NHD  fehlen. 

Ad  Nr.  1.  Die  starke  und  seh  wache  Deklination  des  Adjectivum  stimmt 

fast  ganz  überein.  Nur  der  Accusativus  fem.  gen.  ist  in  der  schwachen 
.  mhd  Deklination :  en,  in  der  nhd  aber:  e  z.  B.  die  blind-en :  die  blind-e; 

ferner  hat  die  starke  Deklination  im  Fem.  Sing,  und  im  Neutrum  Plur. 

die  Endung  iu ,  das  Neutr.  im  Sing,  ez ,  z.  B.  mhd  blinder  —  blind-iu 

—  blind-ez;  neutr.  Plur.  blind-iu:  nhd  blinder  —  blind-e —  blind-es; 

neutr.  Plur.  blind-e.   Ebenso :  der,  diu,  daz  =  der,  die,  das;  Neutr. 

Plur.  diu  =  die. 
Ad.  Nr.  2.    Die  Endung  des  Imperfectum  schwacher  Verba  ist  im  Gothi- 

sehen:  ida,  oda,  aida,  im  MHD  und  NHD  ganz  übereinstimmend:  ete. 

B)  Die  Grundgesetze  des  etymologischen  Teils  der  neuhochdeut- 
schen Grammatik  sind:  I)  die  Schwächung  der  Endsilben  zu  E, 
II)  der  Umlaut,  III)  die  Brechung,  IV)  der  Ablaut  und  V)  die 
Lautverschiebung. 

Da  dieselben  Gesetze  auch  im  Mittelhochdeutschen  walten,  so  wird 
auch  der  Anfänger  aus  dieser  Thatsache  sofort  ersehen ,  dasz  ihm  die  Er- 
lernung des  MHD  in  Betreff  der  Deklination,  Gomparation  und  Gonjuga- 


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bie  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenslrophe  usw.  261 

tion  besondere  Schwierigkeiten  nicht  machen  kann.  Dasz  aber  jeder  Se- 
kundaner eines  Gymnasium  Wesen  und  Wirkung  dieser  hochwichtigen 
5  Grundgesetze  seiner  eignen  Muttersprache  genau  kenne,  ist  eine  billige 
Forderung.  Die  folgende  übersichtliche  Vergleichung  des  MHD  und  NHD 
darf  also  wol  mit  Fug  und  Recht  die  Bekanntschaft  auch  des  Anfängers 
mit  diesen  nhd  Grundregeln  voraussetzen.  Ein  Gymnasium ,  auf  das  diese 
Annahme  nicht  paszle ,  hätte  diese  Lücke  im  deutschen  Unterricht  je 
eher  desto  besser  auszufüllen. 

Ad  Nr.  B  IV.  Der  Ablaut,  für  die  gesamte  deutsche  Wortbildung 
das  wichtigste  Grundgesetz ,  verdient  vor  allen  andern  bei  jeder  deutschen 
Sprache  zuerst  Berücksichtigung.  Der  Ablaut  bewirkt  im  Besonderen  die 
Bildung  des  Imperfeclum  starker  Verba;  dies  geschieht  in  beiden  hier 
beredeten  Sprachen,  wie  sich  von  selbst  versteht,  wesentlich  in  der- 
selben Weise.  Die  Unterschiede  sind  entweder  blosz  dialektische,  oder 
Folge  der  veränderten  Quantilätsverhältnisse ,  oder  endlich  veranlasst 
durch  ein  gleich  zu  erwähnendes  mhd  Gesetz. 

Wesentlicher  Unterschied.  - 
Die  nhd  Formel:  ich  ward:  wir  wurden  gibt  das  abweichende  mhd 
Gesetz  für  den  Ablaut  an  die  Hand.  Mit  Ausnahme  Einer  Ablautsciasse 
haben  neinlich  die  starken  Verba  im  MHD  im  Sing,  und  Plur.  Imperfecti 
einen  verschiedenen,  im  NHD  dagegen  einen  und  denselben  Ablaut  mit 
alleiniger  Ausnahme  von:  ich  ward:  wir  wurden. 


Seh 

ema. 

mhd 

nhd 

1)   i  —      a     —  u  —  u  (o) 

i    —     a 

—    a     —  u 

2)   i  —     a     —  ä  —    o 

€  -ä(0; 

)  -  t  (o)  -  0 

3)   i  —     a     —  ä  —    6 

€    —      ä 

—     ä     —  6 

4)  a  —    uo    —  uo  —   a 

a   —     ü 

—     ü     —   a, 

5)   i   —    ei     —   i   —   i 

1)  ei  —    i 

2)  ei  —    ie 

—  i      —    i 

—  ie    —  ie. 

6)  iu  —  ou  (ö)  —  u  —  o 

1)  ie  —     b 

2)  ie  —     ö 

0       —    0 

—  ö     —  ö, 

Bemerkungen  zum  Schema. 

a)  Nur  die  Verba  der  4.  Classe  stimmen  in  beiden  Sprachen  überein ; 
sie  haben  im  Sing,  und  Plur.  Imperfecti  einen  und  denselben  Ablaut  z.  B. 

mhd  ich  wasche  —  ich  wuosch  —  wir  wuoschen  —  gewaschen 
nhd  ich  wasche  —  ich  wusch    —  wir  wuschen    —  gewaschen. 

b)  die  Verbaler  übrigen  5  mhcLClassen  haben  dagegen  einen  dop- 
pelten Ablaut  z.  B. 

1)  iahd  singe  —  sanc  —  wir  sungen  —  gesungen' 
nhd  singe  —  sang  —  wir  sangen  —  gesungen. 

2)  mhd  ich  stii  —  stal     —  wir  sUlen   —  gesloln 

nhd  ich  stehle  —  stahl  —  wir  stahlen  —  gestohlen. 


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262  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

3)  mhd  ich  gibe  —  gap  —  wir  gäben  —  gegeben 
nhd  ich  gebe  —  gab  —  wir  gaben  —  gegeben. 

5)  mhd  ich  blibe    —  bleip  —  wir  bliben   —  gebliben 
nhd  ich  bleibe  —  blieb  —  wir  blieben  —  geblieben 
mhd  ich  wiche   —  weich  —  wir  wichen  —  gewichen 
nhd  ich  weiche  . —  wich   —  wir  wichen  —  gewichen. 

6)  mhd  ich  kriuche  —  krouch  —  wir  kruchen  —  gekrochen 
nhd  ich  krieche  —  kroch    —  wir  krochen    —gekrochen 
mhd  ich  biute  —  bdt  —  wir  buten  —  geboten 

nhd  ich  biete  —  bot  —  wir  boten  —  geboten. 

c)  Die  zweite  Person  Sing.  (mperfecti  starker  Verba  hat  ira  MHD  die 
Umlaut  bewirkende  Endung  e  und  immer  den  Ablaut  des  Pluralis  z.  B. 

mhd.  ich  gap,  du  gaehe,  er  gap       ich  gruop,  du  groebe,  er  gruop 
nhd.  ich  gab,  du  gabst ,  er  gab.      ich  grub  ,  du  grubst ,  er  grub, 
mhd.  ich  gdz  ,  du  güzze,  er  göz      ich  las,  du  iaese,  er  las 
nhd.  ich  gosz,  du  goszt ,  ergosz.     ich  las,  du  last  ,  er  las. 
mhd.  ich  wart,  du  wurde,  er  wart     ich  was,  du  waere,  er  was 
nhd.  ich  ward,  du  wardst,  er  ward,     ich  war,  du  warst ,  er  war. 

d)  In  der  2.  Classe  ist  das  o  des  Participium  noch  nicht,  wie  im 
Nhd.  bei  manchen  Verbis,  ins  Imperfectum  gedrungen ;  z.  B.  mhd.  ich  vihte, 
vaht:  nhd.  ich  fechte,  focht;  mhd.  ich  schir(e)f  schar,  nhd.  ich  schere: 
scfaor. 

e)  Die  zwei  Abarten  des  Ablauts  in  der  nhd.  5.  und  6.  Classe  stam- 
men aus  der  Zeit ,  wo  man  den  älteren  doppelten  Ablaut  des  Imperfectum 
aufgab.  Ein  Teil  der  nhd.  Verba  entschied  sich  nun  durchweg  für  den 
älteren  kurzen  Ablaut  des  Pluralis  (=  i  und  u  =  nhd  o),  ein  Teil  für 
den  langen  des  Singularis.  (=  nhd  ie  und  6). 

Ad.  Nr.  B.  I.  Schwächung  der  Endungen  zu  E.  Nach  diesem  Ge- 
setze müssen  die  meisten  Derivations-Endungen  und  die  der  Deklina- 
tion ,  Comparation  und  Gonjugation  übereinstimmen. 

Die  wenigen  Ausnahmen  sind: 

1)  Die  3.  Pers.  Plur.  Präs.  Indicatfvi;  mhd.  ent:  nhd.  en  z.  B.  sie 
lobent:  sie  loben;  nhd  allein,  sie  sin-d. 

2)  Die  2.  Pers.  Sing,  lmperf.  Indicaüvi  der  starken  Verba;  mhd.  e: 
nhd.  st  cf.  die  Beispiele  unter  Nr.  IV.  c.  vorher. 

3)  Das  Participium  Praes.  mhd.  lob-ende:  nhd.  lob-end. 

4)'  Der  Dativüs  des  Infinitivus  a)  bei  kurzer  Stammsilbe;  mhd.  ze 
sag-ene,  ze  les-ene:  nhd.  zu  sag-en,  zu  les-en.  b)  bei  langer  Stammsilbe; 
mhd.  ze  mld-enne,  ze  schelt-enne:  nhd.  zu  meiden,  zu  schelten. 

5)  Die  wenigen  Abweichungen  der  Deklinationen  des  Adjectivura 
sind  schon  oben  unter  Nr.  A.  angegeben. 

6)  Die  nicht  zahlreichen  Abweichungen  der  Deklination  der  Prono- 
mina sind  im  Besondern  zu  lernen  und  durch  die  Lektüre  zu  befestigen, 
ebenso 

7)  die  der  Zahlwörter. 


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Die  prosmlische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  263 

Ad  Nr.  R II.  Der  Um  1  an t.  NB.  Der  Umlaut  des  kurzen  a  wird  im  Mhd. 
durchweg  mit  e  geschrieben ,  nicht  wie  im  Nhd.  bald  mit  e ,  bald  mit 
a ;  der  Umlaut  des  langen  a  ist  auch  im  Mhd.  =  ae.  Dem  Gesetze 
und  der  Wirkung  des  Umlauts  gemäsz  musz  in  beiden  Sprachen 
übereinstimmen  die  Bildung: 

1)  des  Pluralis  der  Substantiva  z.  B.  kraft,  krefte:  Kraft,  Kräfte; 
luft,  lüfte:  Luft,  Lüfte;  pfluoc,  pfluege  (ph.):  Pflog,  Pflüge;  rat,  reder: 
Rad ,  Räder ;  tal ,  telr :  Thal ,  Thäler. 

2)  der  2.  und  &  Pers.  Präs.  Indicalivi  starker  Verba  z.  B.  verst,  vert  : 
fährst,  fährt;  grebst,  grebt:  gräbst,  gräbt;  slaefest,  slaefet:  schläfst, 
schläft-;  vellest,  vellet:  filllst,  fällt. 

3)  des  Imperfectum  Gonjunctivi  starker  Verba ,  der  immer  den  Ab- 
laut des  Plur.  Indkativi  hat. 

Im  Nhd.  die  einzige  regelrechte  Formel : 

nhd.  er  ward;  sie  wurden;  er  würde;  im  Mhd.  durchweg  so: 

mhd.  er  wart  —  sie  wurden  —  er  würde 

er  gap  —  sie  gäben     —  er  gäebe 

er  baut  —  sie  bunden   —  er  bünde    ' 

er  göz  —  sie  guzzen    —  er  güzze 

er  starp  —  sie  stürben  —  er  stürbe  (nhd.  er  starb :  er  stürbe). 

er  bleip  —  sie  bliben    —  er  blibe. 

NB.  Der  Rückumlaut  ist  beiden  Sprachen  gemeinsam,  im  Mhd. 
aber,  wenn  die  Stammsilbe  lang  ist,  weit  ausgedehnter  z.  B. 

nhd.  ich  nenne  —  nannte  mhd.  ich  kren^e  :  krancte 

sende  —  sandte  hülle  :  hülle 

brenne  —  brannte.  krümme  :  krümmte 

mhd.  ich  sende  —  sante  waene  :  wänte 

stelle  —  stalte  laere  :  lärte 

velsche  —  valschle  hoere  :  hörte 

briune  :    brünte  loese  :  löste 

4)  der  Camparativus.  Hat  die  Endung  im  Ahd.  oro ,  so  findet  im 
Mhd.  kein  Umlaut  statt,  hat  sie  dagegen  iro,  so  steht  der  Umlaut  in  der 
Regel  wie  bei  uns  im  Nhd.  J.  Grimm  zählt  Gr.  3  S.  575  unter  denen,  die 
im  Gegensatz  zum  Nhd.  nicht  umlauten,  folgende  auf:  alter  (senior), 
adelst,  armer  (pauperior),  hoher  (augustior),  kurzer  (brevior),  langer 
(iongior). 

Ad.  Nr.  B.  III.  Brechung.  Die  Brechung  ist  wesentlich  wie  im  Nhd. 
nimmst,  nimmt:  mhd.  nimst,  nimt;  gebierst,  gebiert:  mhd.  gebirsl, 
gebirt;  in  beiden  Sprachen  ist  das  i  also  nicht  gebrochen. 

Ausnahme. 
Die  erste  Person  Praes.  Indicativi  hat  im  Mhd.  i,  im  Nhd.  aber  e*; 
nur:  sitze,  bitte,  liege  —  haben  das  ältere  i.    Das  ganze  Praesens  der 
Meter  gehörigen  Verba  lautet  also : 


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264  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

mhd.  ich  nim(e) ,  nimst    ,  nünt   ;  nemen  ,  nemet ,  neinent 
nhd.  ich  nehme,  nimmst,  nimmt;  nehmen,  nehmt,  nehmen, 
mhd.  ich  schir(e),  schirst ,  schirt ;  scheren ,  schärt ,  scherent 
nhd.  ich  schere,  schierst, schiert;  scheren,  schert,  scheren. 

Ad  Nr.  B  V.  Nach  der  Lautverschiebung  befinden  sich  liquidae,  Spi- 
ranten und  mutae  im  Mhd.  im  Allgemeinen  auf  derselben  Stufe  wie 
im  Nhd. 

Resultat: 

Sind  auch  mancherlei  Einzelnheiten  z.  B.  bei  den,  im  Nhd.  gleich- 
falls vorhandenen,  mhd.  Praelerito :  Praesentibus :  ich  kan,  sol,  mac,  muoz, 
weiz,  darf,  (tar,  touc,  gan,  erban),  ferner  bei  einigen  häufigen  anomabs 
wie  gän,  stän  (gfcn;  sten),  hau,  tuon,  bei  den  zahlreicheren  reduplicie- 
renden  Yerbis,  für  die  wie  im  Nhd.  die  Annahme  Einer  Classe  auch  im 
Mhd.  ausreicht,  endlich  bei 'den  vielfachen  Verschleifungen  der  Silben 
zweier  Wörter  noch  auszerdem  hinzuzulernen  und  festzuhalten,  so  ist 
doch  die  Gleichheit  der  mhd.  und  nhd.  Deklination,  Gomparation  und 
Gonjugation  in  allen  wesentlichen  Punkten  auch  für  den  Anfänger,  der 
die  obigen  Grundgesetze  (I — V)  und  ihre  Wirkung  auf  die  Flexion  schon 
aus.  der  nhd.  Grammatik  genau  kennt,  augenscheinlich  und  bei  einer  so 
weit  gehenden  Ueherstimmung  beider  Sprachen  sind  grosze  Schwierigkei- 
ten bei  Erlernung  des  Mhd.  nicht  vorauszusetzen  und  zu  fürchten. 

Im  Gegenteil  —  das  Mhd.  steht  von  unsrer  heutigen  Sprache  im  We- 
sentlichen so  wenig  ab,  dasz  es  dem  Anfänger  eine  Einsicht  in  den  ur- 
sprünglichen Stand  der  deutschen  Sprache  nicht  eröffnen  kann  und  der 
Lehrer  schon  des  Mhd.  selbst  wegen  genötigt  sein  wird ,  auf  die  beiden 
älteren  Sprachen ,  das  Ahd.  und  das  Goth. ,  Rückblicke  zu  thun.  Es  ist  ja 
eine  Thatsache,  die  nurUnkunde  leugnen  .kann,  dasz  wir  vor  der  gothi- 
schen  Weder  eine  neuhochdeutsche ,  noch  eine  mittelhochdeutsche  Granv 
matik  gehabt  haben.  Die  Grundregeln  der  Grammatik  der  beiden  jüngeren 
Sprachen  fuszen  ganz  auf  der  gothischen  Grundlage.  Ja  die  Beziehung 
beider  ist  so  innig,  dasz  der,  dem  auch  nur  der  Name  der  obigen  mhd. 
und  nhd.  Grundgesetze  (I— V)  auf  die  Lippe  kommt,  immer,  er  mag  dessen 
sich  bewust  sein  oder  nicht,  an  die  beiden  älteren  Sprachen  zurückdenkt ; 
Wort  und  Sache  wären  ja  sonst  ganz  unverständlich. 

In  dieser  Hinsicht  ist  es  wahrlich  nicht  leicht,  über  das  selbstge- 
fällige Behaben  und  die  Uebertreibungen ,  die  Herr  Dir.  Stier  Lehrern, 
deren  Verfahren  er  schwerlich  näher  kennt ,  in  Betreff  der  Behandlung  des 
Altdeutschen  im  Programm  des  Gymnasiums  zu  Golberg  (1863)  zu  machen 
beliebt,  auch  nur  Ein  Wort  zu  verlieren,  ohne  in  denselben  unziemlichen 
Ton  der  Rede  zu  verfallen. 

W.  Wackernagel  und  R.  Raumer  mögen  in  ihrer  Ansicht  irren  und 
mit  ihnen  die  Gymnasial-Lehrer,  die  — ■  gewisz  in  verständiger  Beschrän- 
kung und  mit  steter  Rücksicht  auf  die  Schule  —  das  Ahd.  und  Goth. 
beachtet  wissen  wollen.  Welcher  Gebildete  nennt  das  aber  'Wahnsinn'  ? 
Dann  müste  man  ja  auch  in  den  blosz  auf  das  Mhd.  gerichteten  Bestrebun- 
gen H.  Stier's  eine  'Manie'  erblicken.  Jeder  Kundige  wird  darin  aber  nichts 


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die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  266 

Anderes,  als  eipe  gewisse  Vorliebe,  wenn  auch  eine  sehr  be- 
schränkte, finden  und  die  Sache,  wie  es  einem  Gebildeten  ziemt,  auch 
nur  so  benennen. 

Eins  ist  dabei  unbegreiflich.  H.  Stier  betont  überall  seinen  christ- 
lich-kirchlichen Standpunkt.  Nun  hier  beim  Ulfila  bietet  sich  ihm  ja  die 
schönste,  ganz  nahe  Gelegenheit  dazu  dar.  Der  Lehrer,  der  seinem 
Schäler,  namentlich  dem  künftigen  Theologen  einige  Einsicht  und  Vor* 
berettung  auf  die  Leetüre  Ulfila's  und,  was  die  Hauptsache  ist,  eine 
gewisse  Neigung  und  Vorliebe  für  die  älteste  deutsche  Bibel  vermittelte 
—  auf  welchem  Standpunkte  stünde  der,  wenn  nicht  auf  dem  christlichen? 
Noch  dazu  giebt  es  hier  keinen  Unterschied  zwischen  Katholiken  und  Pro- 
testanten; die  Theologen  beider  Confessionen  sind  in  ganz  gleicherweise 
beteiligt  und  berechtigt. 

Aber  mehr  noch!  Ein  solcher  Lehrer  steht  zugleich  auch  auf  dem 
nationalen  Standpunkte.  Ulfila's  Uebersetzung  ist  ja  nicht  blosz  das  er  st  ß 
Buch  aller  germanischen ,  —  es  ist  überhaupt  das  älteste  Geisteserzeug- 
nis aller  jetzigen  Völker  Europas.  Die  Fremden  mögen  uns  dieses  alte 
deutsche  Buch  beneiden  und  misgönnen;  an  der  deutschen  Schule  aber 
ist  es,  die  Jugend  auf  dieses  heimische  Kleinod,  dem  ja  auch  wir  Gym- 
nasiallehrer unser  Bischen  deutsch  -  sprachliche  Gelehrsamkeit  —  und 
zwar  auch  die  mittelhochdeutsche  —  wesentlich  allein  schulden, 
je  eher  desto  besser  aufmerksam  zu  machen,  um  sie  mit  gerechtem  Stolze 
auf  dieses  nationale  Besitztum  zu  Erfüllen ,  das  wir  vor  allen  Völkern  un- 
sere Erdteils  voraushaben. 


Erster  Abschnitt. 
Die  Unterschiede  des  Mittelhochdeutschen  und  Heuhochd. 

J)  Lexikalische  Unterschiede.  A)  Das  mhd.  Wort  ist  ausgestor- 
ben ;  B)  es*  hat  seine  Bedeutung  verändert. 

Der  Fall  ad  A)  bietet  auszer  bei  Partikeln  keine  Schwierigkeit,  da 
das  blosz  Sache  des  Gedächtnisses  ist;  ad  B)  ist  die  Uebersetzung  oft 
nicht  leicht,  mitunter  sogar  sehr  schwer  zu  treffen. 

NB.  Die  Verschiedenheit  des  Geschlechts  der  Substantiva  in  beiden 
Sprachen  und  das  doppelte  mancher  mhd.  Wörter  ,ist  bei  der  Leetüre  zu 
beachten,  besonders  weil  sehr  viele  Schwankungen  des  genus  über 
Luther  und  die  schlesischen  Dichter  (der  Luft:  die  Luft)  hinaus  noch  bis 
ins  Nhd.  herein  reichen. 

2)  Dialektischer  Unterschied  einzelner  a)  Vokale  und  b)  Conso- 
nanten. 

Ad  Nr.  b  bieten  fast  nur  die  aspiratae:  z  (z),  z  (sz)  und  ph,  pf,  f,  v 
einige  Schwierigkeiten;  die  mhd.  neutrale  Endung  der  Adjectiva  ez  ist 
nhd.  es  z.  B.  blind-ez:  blind-es;  ez:  es;  daz:  das;  nur  nhd.  dasz  =  ÖTl. 

Ad  Nr.  a  stimmen  die  einfachen  Vocale  im  wesentlichen  überein 
(cf.  oben  die  Gesetze  der  Schwächung,  Brechung  und  des  Umlauts). 

If .  Jahrb.  f.  Phil.  o.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  5  u.  6.  18 

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I 
266  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

Diphthonge:  mhd.      nhd.        mhd.     nhd. 
1    —     ei  uo  —   ü 

iu  —  ie,  eu         üe  —   ü  (lang) 
ou  —  au  (6)         (ü  =  au)  z.  B. 
min,  wip:  mein,  Weib;  grife,  lide:  greife,  leide;  biute,  fliuhe:  biete, 
fliehe;  kniu,  niun:  Knie,  neun;  frouwe,  ouge:  Frau,  Auge;  vüere,vüeze: 
führe,  Füsze;  küme,  hüs*  rüm:  kaum,  Haus,  Baum. 
NB.  Eigentümlich  der  mhd.  Orthographie  ist: 

a)  Auslautend  steht  in  der  Begel  Tenuis  statt  der  unaussprechbaren 
Media  z.  B.  grap,  tac,  tdt:  Grab,  Tag,  Tod;  mhd.  und  nhd.  Genitivus  = 
grabes,  tages,  tödes. 

b)  Gemination  des  auslautenden  Gonsonanten ,  die  —  beiläufig  ge- 
sagt,—  gleichfalls  unaussprechbar  ist,  findet  im  Mhd.  nicht  statt  z.B. 
mhd.  began:  nhd.  begann;  kan:  kann;  lam,  al:  lammes,  alles:  nhd. 
Lamm,  all. 

3)  Die  syntaktischen  Unterschiede  beider  Sprachen  z.  B.  die  viel 
freiere  Stellung  des  Attributs  im  Satze,  der  weit  ausgedehntere  Gebrauch, 
des  Genitivus,  des  geschlechtlichen  Pronomen  er,  sie,  ez  für  unser  pos- 
sessivum  cihr%  die  Doppelung  der  Negation  und  manches  andere  verbleibt 
am  besten  der  Leetüre  und  der  an  diese  sich  anknüpfenden  Erklärung. 

4)  Wesentlicher  Unterschied  des  Mhd.  und  Nhd.  in  Betreff  der 
Quantität. 

Mittelhochdeutsche  Prosodie  und  Betonung. 
Der  Unterschied  beider  Sprachen  ist  hier  so  grosz,  dasz  der  Satz 
ganz  richtig  ist:  *Das  Mhd.  ist  in  der  Schrift  unserm  Nhd.  viel 
ähnlicher,  als  es  dem  Klange  nach  wirklich  der  Fall  ist9, 
cf.  Schleicher,  Deutsche  Sprache  S.  166. 

I.  Die  mittelhochdeutschen  Stammsilben.^ 
Länge  der  Stammsilben  A)  natura;  B)  durch  Position. 

A)  Formel:  tujttoc.  Naturlang  ist  a)  jeder  Diphthong;  b)  die  Länge 
einfacher  Vocale  bestimmt:  1)  edie  Analogie  älterer  oder  verwandter  Dia- 
lekte; 2)  die  Thatsache,  dasz  auf  langen  Vocal  auszer  bei  Zusammen- 
ziehungen nie  Doppeleonsonant  folgt  und  3)  Anwendung  mehrsilbiger 
Wörter  in  der  Reimkunst*,  cf.  unten  Formel  tottoc. 

B)  Formel :  töitttoc.  Positionslänge  bezeichnet  die  Doppelconsonanz 
für  alle  Fälle,  auszer  wo  eine  Contraction  stattfindet. 

NB.  Als  Doppelconsonanten  gelten  auch  die  einfachen:  ch,  seh,  pf, ' 
beide  z  (=  nhd.  z  und  sz),  f,  k  und  p,  die  auch  in  den  Texten  oft  ff,  pp, 
tz ,  zz ,  ck  geschrieben  werden. 

Kürze  der  Stammsilben: 

Formel:  tottoc^  die  für  den  Anfänger  wichtigste. 

In  der  Formel :  tÖitoc  liegt  der  Hauptunterschied  der  mittelhoc^? 
deutschen  und  neuhochdeutschen  Sprache.    In  dieser  Hinsicht  musz  der 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  267 

Anfänger,  um  mhd.  Prosa  zu  lesen  und  mhd.  Verse  scandiereu  zu  können, 
nicht  blosz  das,  was  er  in  der  Schule  gelernt,  vergessen,  sondern  auch 
die  von  der  Mutter  überkommene  Aussprache  verleugnen. 

Auch  Schleicher  (deutsche  Sprache  S.  166)  sagt:  tDieDehnung 
aller  Vocale  vor  einfacher  Gonsonanz  ist'  —  im  Gegensatz  zu 
den  älteren  deutschen  Sprachen  —  'das  charakteristische  Kenn- 
zeichen des  Neuhochdeutschen'. 

Mit  andern  Worten :  Wahrend  im  Mhd.  auszer  der  beiden  Sprachen 
gemeinsamen  Formel:  tÖititoc  (=  Positionslänge)  noch  zwei  Quantitäts- 
Formeln  nemlich  1)  tüjitoc  und  2)  tottoc  galten,  gilt  im  Nhd.  für  diese 
beiden  nur  die  Eine  Formel:  tuhtoc,  d.  h.,  alle  mhd.  kurzen  Stamm- 
silben haben  sich  im  Nhd.  vor  Einem  Gonsonanten  in  Längen  verwandelt. 
Wir  besitzen  also  jetzt  zweierlei  Längen;  die  1)  einen  waren  es  schon 
im  Mhd.  und  2)  die  andern  sind  es  erst  im  Nhd.  geworden. 

Ohne  Rücksicht  auf  die  Vocale  in  der  Endung  ist  die  Sache  nicht 
ganz  klar  zu  machen,  siehe  daher  das  Folgende;  vorweg  nur  ein  paar 
Beispiele: 

mhd.  nhd. 

TÖiroc  und  tuotoc  töttoc  in  beiden  Fällen, 

tor  (sprich:  torr)  —  tdre  Thor  1)  porta  2)  stultus, 

malen  (sprich:  maln)  —  malen  malen  1)  molo  2)  pioguo, 

wagen  (=  wag'n)  —  wägen  1)  Wagen  2)  wagen, 

war  (=  warr  =  cura)  —  war  1)  wahr-nehmen  2)  wahr, 

rat  (=  ratt)  —  rät  1)  Rad  2)  Rath, 

ich  var  (==  varr)  —  die  vär  1)  ich  fahre  2)  die  Gefahren, 

sat  (=  satt)  —  sät  1)  satt  2)  Saat,  usw. 

So  sind  im  Mhd.  durch  die  Quantität  und  die  ihr  entsprechende  Aus- 
sprache viele,  in  der  Schrift  den  Buchstaben  nach  gleiche,  aber  dem  Sinne 
nach  nicht  verwandte  Worte  durch  die  Quantität  der  Stammsilbe  noch 
ganz  deutlich  von  einander  geschieden ,  während  sie  jetzt  im  Nhd.  dem 
Laute  nach  ganz  übereinstimmen,  als  wären  sie  wirklich  mit  einander 
verwandt. 

Unorganische  Doppelconsonanz  hat  oft  die  ältere  Kürze  der  Stamm- 
silbe erhalten  z.  B.  sat:  satt;  ich  lide,  wir  liten:  leide,  litten;  ich  snide, 
suiten:  schneide,  schnitten;  der  andere  Fall  aber,  dasz  aus  mhd.  tottoc 
im  Nhd.  tuhtoc  wird ,  ist  der  häufigere. 

II.  Die  Quantität  und  Betonung  der  Endsilben. 
A)  Abstand  des  Mhd.  vom  Ahd. 

Die  Vocale  der  Endsilben  sind  im  Goth.  und  Ahd.  nicht  so  einförmig 
wie  im  Mhd.  und  Nhd.;  neben  den  starklautigen  Vocalen  a,  u,  o  finden 
sich  in  den  altern  Sprachen  selbst  Diphthonge  in  Bildungssilben.  Der 
Wortaccent  der  Stammsilbe  verflüchtigte  aber  später  vom  XI.  Jahrhundert 
ab  die  starklautigen  Bildungssilben  immer  mehr,  so  dasz  sie  sich  im  Mhd. 
gröstenteils  zu  einem  E  verdünnten;  natürlich  findet  dasselbe  auch  im 

18*  ' 


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268  Die  prqsodische  und  metrische  Messung  der  Nibeluugenstrophe  usw. 

Nhd.  statt.  Man  nennt  dies  Schwächung,  von  welchem  Gesetze  schon 
oben  die  Rede  war. 

Diesem  gemäsz  können  die  goth.  und  ahd.  Bildungssilben  in  den 
Worten:  goth.  heil-jan,  salb-ön;  heil-ida,  salb-öda;  ahd.  salb-ön,  zung-un; 
erth-a,  erb-o,  frid-u,  anti  nach  dem  Gesetze  der  Schwächung  in  dermhd. 
und  nhd.  Sprache  nicht  dieselben  Vocaie,  sondern  statt  ihrer  durchweg 
nur  ein  £  haben;  also:  heil-en,  salb-en;  heil-ete,  salb-ete;  Zung-en; 
ßrd-e,  Erb-e,  Fried-e,  End-e. 

Nur  einzelne  Endungen  sind  im  Mhd.  dieser  Einwirkung  des  Wort- 
accents,  d.  h.  der  Verflüchtigung  zu  E  entgangen,  die  jetzt  im  Nhd.  tonlos 
geworden  sind  z.  B.  videl-aere ,  hürn-in ,  kunig-inne :  Fiedl-er ,  hörn-en, 
König-in.  Andere  Bildungssilben ,  die  ursprünglich  selbständige  Worte, 
also  eigentlich  mit  der  Stammsilbe  zusammengesetzt  waren,  haben  sich 
den  älteren  Vocal  erhalten,  z.  B.  heilec-tuom,  Heiligtum;  bos-heit  (heit 
=s  Art  und  Weise),  Bos-heit;  vriunt-lich  (lieh  ==  Leib,  Gestalt),  freund- 
lich, Diet-rich  (=  reich  an  Volk),  Dietrich  usw. 

NB.  Die  Macht  des  Worttons,  seine  zerstörende  Einwirkung  auf  die 
Endungen,  die  im  Mhd.  und  Nhd.  die  Vocaie  der  meisten  Bildungssilben  zu 
E  verflüchtigte,  hat  im  Französischen  noch  energischer  gewirkt;  denn  in 
sehr  vielen  französichen  Worten  ist  von  den  lateinischen  nichts  übrig 
gebbeben  als  die  Tonsilbe  allein ,  während  die  Endungen  ganz  zerstört 
sind  z.  B.  6m,  =  hom-ines,  wobei  die  geschriebene  Silbe:  homm-es, 
nicht  mehr  gesprochen  wird.  cf.  Schleicher  S.  158. 

B)  Abstand  des  Mhd.  vom  Nhd.  in  Betreff  der  Endungen 
mitE. 

1)  Hat  der  Wortton  im  Mhd.  die  starklautigen  Endungen ,  während 
ihm  nur  wenige  Widerstand  leisteten,  allermeist  zu  E  verflüchtigt,  so 
fehlte  ihm  damals  doch  noch  die  Kraft  die  Quantität  der  Stammsilbe  selbst 
zu  zerstören.* 

Ahd.  Worte  von  der  Quantität:  tuhtoc  oder  tottoc  werden  auch  im 
Mhd.  in  gleicher  Weise  gesprochen  und  gemessen  und  wahren  so  der 
Stammsilbe  ihren  ursprünglichen  Lautgehalt.  Im  Nhd.  dagegen  wirkt  der 
Worlaccent  nicht  blosz  auf  die  Endungen  verflüchtigend,  sondern  auch  auf 
die  Quantität  der  Stammsilbe  selbst  und  verwandelt,  wie  schon  gesagt, 
die  mhd.  kurzen  Stammsilben  vor  einfacher  Gonsonanz  (=  tottoc)  in 
lange  (=  tohtoc).  Wo  unorganische  Doppelconsonanz  im  Nhd.  die  ältere 
Kürze  schützt,  macht  sie  diese  wenigstens  positionslang  z.  B.  mhd.  ich 
nim(e):  ich  nehme;  du  nimst:  nhd.  du  nimmst,  er  nimmt.      » 

2)  Ein  zweiter  Unterschied  beider  Sprachen  in  Bezug  auf  Quantität 
und  Betonung  ist  dieser : 

a)  Die  neuhochdeutschen  zu  E  verflüchtigten  Vocaie  der  Endungen 
sind  unterschiedlos  und  können  in  Folge  dessen  im  Verse  fast  nur  als 
Senkungen  gebraucht  werden. 

b)  Im  Mhd.  dagegen  sind  die  E  in  den  Bildungssilben  entweder 
1)  tonlos,  oder  2)  stumm.  Die  erstem  können  daher  unter  gewissen 
Bedingungen  im  Verse  die  Hebung  tragen,  die  andern  nicht,   cf.  unten. 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  269 

Mittelhochdeutsche  Regel  ad  Nr.  B.  2.  b. 
'  Die  mhd.  Regel  in  Betreff  dieser  beiden  Arten  der  E,  der  tonlosen 
und  der  stummen,  wird  durch  die  mhd.  Reimkunst  bestimmt: 

'Folgt  nemlicb  auf  einen  Stammvocal  vor  einfacher  Consonanz  eine 
zweite  Silbe  und  reimen  beide  klingend,  so  ist  a)  der  Stammvocal 
lang,  b)  der  Endvocal  tonlos  (tujitoc);  reimen  sie  aber  stumpf  (==  ein- 
silbig), so  ist  a)  der  Stammvocal  kurz,  der  Endvocal  stumm  (=  töitoc). 

Durch  dieses  Hülfsmittel  der  Reimkunst  ist  auszer*durch  die  andern 
genannten  (cf.  oben  die  mhd.  Formel:  Tiftiroc)  die  Länge  und  Kürze 
mhd.  Stammsilben  der  groszen  Mehrzahl  nach  durch  beweisende  Rei- 
me festgestellt.  Das  Zeichen  a  kennzeichnet  in  guten  Texten  die  For- 
mel: TUJITOC. 

Im  Mhd.  kann  man  also  mit  Hülfe  des  Reimes  auf  die  Quantität  der 
Stammsilbe  und  auf  den  Ton  der  Endsilbe,  ob  diese  nämlich  tonlos,  oder 
stumm  sei,  einen  Rückschlusz  machen.  Im  NfSl.  ist  die  Quantität  der 
Stammsilben  durch  den  Wortaccent  zerstört  und  zugleich  die  E  der  Bil- 
dungssilben völlig  unterschiedlos  geworden ,  so  dasz  von  ihnen  ein  Rück- 
scjilusz  auf  die  Quantität  der  Stammsilbe  nicht  mehr  zu  machen  ist. 

Mittelhochdeutsche  Beispiele,  zu  dieser  Regel: 
Alle  Reime  im  Nibelungenliede  (=N.L)  sind  z.B.  nur  stumpfe.  Kommen 
nui\  darui  auch  Reime  vor  wie:  degen:  siegen;  nemen:  zemen;  sagen: 
klagen;  gehen:  geschehen;  genesen:  wesen,  so  ist  das  die  Formel  TÖiroc 
d.  h.  die  Stammsilbe  ist  kurz  und  das  E  der  Endung  wie  im  Französi- 
schen stumm,  sodasz  wir  verschleift  deg'n:  sleg'n;  sag'n:  klag'n  usw. 
lesen  und  sprechen  müssen. 

Wird  das  stumme  E  nach  mutis  im  Mhd.  ganz  wie  im  Französischen 
geschrieben,  aber  nicht  gesprochen  z.  B.  klagen,  sagen  =  klag'n,  sag'n, 
so  fällt  es  nach  liquidis,  besonders  nach  1,  und  r,  gern  ganz  weg  z.  B.  ich 
schir,  gebir,  nim;  die  sper:  nhd.  ich  schere,  gebäre,  nehme,  die  Speere. 
Ebenso : 

mhd.  Sing,  der  kil    ,  kil-s  ,  kil    ,  kil   ; 

nhd.  der  Kiel,  Kiels  ,  Kiel,  Kiel; 

mhd.  der  kil   ,  kiles  ,  kile,  kil   ; 

nhd.  der  Keil,  Keils,  Keil,  Keil; 

mhd.  Plur.  die  kil,  kil,   kiln,  kil      (==  tottoc)  ; 

nhd.  Kiele,  Kiele,  Kielen,  Kiele  (=  toittoc); 

mhd.  kile   ,  kile  ,  kilen   ,  kile    (=  toittoc); 

nhd.  Keile,  Keile,  Keilen,  Keile  (=  tujttoc). 

Das  Beispiel  soll  zeigen,  dasz  die  mhd.  Quantitätsformel :  töttoc  und 
Tunroc  bei  gleichen  Endungen  gewissermaszen  eine  verschiedene  Decli- 
nation  bewirkt.  Im  ersten  Falle  ist  die  Stammsilbe  kurz  (=  töitoc), 
das  E  stumm.  Da  aber  vor  diesem  stummen  E  die  liquida  1  vorhergeht,  so 
fallt  es  per  syncopen  oder  apocopen  ganz  weg.  Im  zweiten  Falle  ist  das 
E  tonlos  und  wird  beim  Sprechen  nicht  unterdrückt,  die  Stammsilbe  ist 
aber  lang  (=  tujttoc). 

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270  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw 

Früher  —  noch  im  12.  Jh.  —  declinieren  beide  Worte  gleich;  der; 
Unterschied  der  Declination  von  kil  (sprich :  kill)  und  kil  Ist  daher  nur! 
durch  den  Wortaccent  zu  erklären,  der  bei  langer  Stammsilbe  das  £  der, 
Endung  schützte,  bei  kurzer  dagegen  so  hinabdrückte,  das  es  endlich 
stumm  wurde,  cf.  Hahn ,  Mhd.  Grammatik.   S.  17— 19. 

Im  Nhd.  sind  alle  diese  £  unterschiedlos;  auf  die  Stammsilbe  ist  ^eii 
Rückschlusz  mehr  zu  machen ,  in  Folge  dessen  der  Sprachgebrauch  nicH 
so  wie  im  Mhd.  ftst  und  bestimmt,  sondern  schwankend  und  unsichec 
Der  Gebrauch  der  Mutter  entscheidet  zumeist  und  das  eigne  Ohr,  das  data 
einen  harten  Zusammenstosz  von  Gonsonanten  (z.B. Todes,  tödtete;  nicht 
Tods ,  tödtte)  gern  meidet.  Wie  die  Mütter  aber  in  dieser  Hinsicht  veü 
schieden  reden,  so  ist  auch  der  Gebrauch  schwankend  namentlich  bein 
Dativus;  Dichter  setzen  den  Vocal  oft  auch  da,  wo  ihn  der  Prosaiker  am 
stöszt  z.  B.  saget,  klaget  sagt,  klagt. 

NB.  Mittelhochdeutsche  Regel  für  zwei  öder  mehr  £  i 
der  Endung. 

1)  F  o  r  m  e  1 :  töitoc  ;  dann  ist  das  erste  E  s  t  u  m  m ,  das  zweite  l  o  a< 
los  z.  B.  edel,  edeler,  edeles  sprich:  edl,  edler,  edles;  Hagene:  Hagna 
degene:  degne;  leder,  lederes:  ledr,  ledres. 

2)  Formel:  tüjttoc;  dann  ist  das  erste  E  tonlos,  das  zwei« 
stumm  z.  B.  isen,  isenes  sprich:  isen,  isens;  wäfenet:  wälent;  wafeneo 
wäfenn,  wäfen;  michel  (=  Positionslänge),  micheler,  micheles,  michel 
sprich :  michel,  michelr,  michels,  michel.  Die  Regel  für  drei  E  in  Bil&wgi 
silben  ergibt  sich  aus  den  Beispielen  a)  TÖJtoc:  edeleme  sprich:  edlemi 
b)  TUJTTOC:  micheleme:  michelme. 

Dasz  übrigens  auch  im  Mhd.  einzelne  Schwankungen,  die  durch  Vet 
und  Reim  bedingt  waren,  bei  ungenaueren  Dichtern  vorkommen,  ist  vcfl 
selbst  klar.  In  unsrer  heutigen  nhd.  Sprache  sind  der  Schwankungen  ä 
der  Setzung  und  Unterdrückung  dieser  E  durch  syncope  und  apocope  ab< 
so  viele,  dasz  sich  auszer  dem  Rath,  den  harten  Zusammenstosz  von  Goi 
sonanten  zu  meiden,  eine  feste  Regel  nicht  mehr  aufstellen  läszt;  di 
schwankende  Gebrauch  namentlich  der  Dichter  dürfte  jede  Regel  der  Gram 
matiker  zu  Schanden  machen. 

Mittelhochdeutsche  Nibelungen -Strophe, 
(cf.  Max  Rieger  in  der  Küdrün  v.Ploennies,  Simrock  und  Schleicher; 
Deutsche  Sprache  S.  300  ff.) 

Mittelhochdeutsche  Metrik.    Allgemeine  Regeln. 

fMasz  des  Verses  sind  einzig  und  allein  die  betonten 
Silben;  die  nicht  betonten  zählen  nicht9  (cf.  Schleicher  S.  301 
und  oben  0.  Marbach's  Erklärung).  Der  Ton  aber  sinkt  vom  Hochton  und 
Tiefton  bis  zur  Tonlosigkeit  und  zum  Verstummen  der  Silbe.  Mit  andern 
Worten:  Das  Grundprincip  der  deutschen  Rhythmik  ist  nicht  — •  wie  in 
der  antiken  —  die  Quantität  der  Silben,  sondern  ihre  Bedeutung,  ihr  In- 
halt. Je  bedeutsamer  eine  Silbe  ist,  desto  mehr  Nachdruck  legt  der  Ton 
(Accent)  auf  dieselbe ;  je  unbestimmter,  allgemeiner  dagegen ,  desto  ge- 
ringern (cf.  das  Nähere  im  2.  Abschnitt.) 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  271 

Das  paszt  nicht  blosz  auf  die  Stamm-,  sondern  auch  auf  die  Bildungs- 
silben. Denn  warum  haben  im  Mhd.  z.  B.  die  Endungen :  rieh,  lieh,  aere, 
in,  die  im  Nhd.  tonlos  sind,  noch  den  Tiefton?  Offenbar  hängt  das  nicht 
von  ihrer  Quantität,  sondern  von  ihrem  begrifflichen  Inhalte  ab.  Im  Mhd. 
erkannte  man  teils  bei  manchen  dieser  Endungen,  teils  fühlte  man  wenig- 
stens dunkel  den  in  ihnen  liegenden  concreten  Begriff  ( —  rieh  =  reich ; 
lieh  =  Gestalt,  Art).  Ja  man  könnte  diese  Behauptung  sogar  auf  das 
1)  tonlose  und  2)  auf  das  s  tu  mm  e  E  ausdehnen.  Denn  warum  sind  die 
einen  E  tonlos,  die  andern  stumm?  Antwort:  Es  läszt  sich  kaum  ein  and- 
rer Grund  erdenken,  als  weil  im;  Mhd.  das  Gefühl  für  die  concreto  Be- 
deutsamkeit der  letzteren  dem  Redenden  ganz  und  gar  verloren  gegangen, 
während  es  bei  den  tonlosen  Bildungssilben ,  wie  geschwächt  es  auch 
schon  sein  mochte,  doch  noch  vorhanden  war.  Im  Nhd.  ist  auch  die  letzte 
Spur  des  Unterschiedes  der  beiden  E  verschwunden. 

Schleicher's  voranstehenden  Grundsalz  kann  man  auch  so  fassen : 

Der  deutsche  Vers  ist  mehr  eine  Sinn-  als  eine  Laut- 
einheit, deren  Äbrundung  zu  einem  Ganzen  der  Reim  ur- 
eigentümlich vermitteln  hilft   cf.  unten  den  zweiten  Abschnitt. 

Aus  diesem  Grundsatze,  dasz  das  Masz  des  Verses  einzig  und  allein 
die  betonten  Silben  sind,  während  die  unbetonten  nicht  mitzählen,  flieszen 
von  selbst  für  die  mhd.  Rhythmik  diese  Regeln: 

1)  Länge  und  Kürze  der  Silben  (=  tumoc,  xöiroc)  ist  für  das 
Masz  des  Verses  gleichgiltig. 

2)  Die  Anzahl  der  Silben  eines  Verses  ist  (innerhalb  gewisser  Gren- 
zen) beliebig. 

3)  Die  betonten  Silben  heiszen  als  Teil  des  Verses  Hebungen,  die 
unbetonten  Senkungen.  Die  Zahl  der  Hebungen  im  Verse  steht  fest, 
die  der  Senkungen  nicht. 

4)  Steht  die  Senkung  vor  der  ersten  Hebung,  so  heiszt  sie  Auf  takt; 
dieser  kann  stehen  oder  fehlen  und  ist  im  N.  L.  ein-  oder  zweisilbig. 

Natürliche  Folgen  dieser  Regeln  sind: 

a)  Da  die  Verse  keine  bestimmte  Silbenzahl  haben ,  findet  keine  Sil- 
benzählung wie  bei  der  antiken  Metrik  statt. 

Es  gibt  keine  regelmäszig  steigende  und  fallende  Rhythmen,  keine 
Iamben  und  Trochäen.  Die  erste  Hebung  ist  des  Verses  Anfang;  der 
Rhythmus  kann  also  nur  fallend  sein.  Aber  trotzdem  entspricht  dieses 
fallende  Masz  nicht  dem  absteigenden,  antik  gemessenen  Trochäus;  denn 

b)  bei  der  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung  (==  unbetonte  Silben) 
können  die  Füsze  auch  einsilbig  sein,  wodurch  das  regelmäszige  antike 
Masz  des  Trochäus  ganz  zerstört  würde. 

c)  Die  im  N.  L.  immer  einsilbige  Senkung  folgt,  wenn  sie  nicht 
Auftakt  ist,  dicht  hinter  einer  betonten  Silbe  (=  Hebung),  sonst  kann 
sie  eine  Silbe  von  jeder  Betonungsart ,  selbst  eine  mit  dem  Hochton  sein 
z.  B.  Kriemhilt  |  twanc  gröz  |  gäm  |  er  || ,  wo  die  hochbetonte  Silbe 
gröz  in  der  Senkung  steht.  Im  letztern  Falle  musz  aber  eine  hochtonige 
Silbe ,  wie  hier  'twanc',  vorausgehen. 


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272  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

NB.  Wegen  scheinbar  zweisilbiger  Senkungen  im  N.  L.  cf. 
Schleicher  S.  307  und  308. 

Mittelhochdeutsches  Schema  der  Nibelungen-Strophe. 
Neben  den  Hebungen  lassen  sich  die  Senkungen  und  der  ein-  und 
zweisilbige  Auftakt,  da  sie  beide  bald  stehen,  bald  fehlen,  durch] 
Schema  nicht  darstellen;  im  Gegenteil,  um  den  mannichfachen  Wechsel 
aller  Verse,  wie  sie  im  N.-L,  thatsächlich  vorkommen,  auch  in  Betreff 
dieser  beiden  Punkte,  der  Senkung  und  des  Auftakts  erschöpfend  darauf 
stellen ,  dazu  gehörte  eine  sehr  grosze  Zahl  von  Schematis.  Es  bleibt  also 
nichts  übrig,  als  die  Hebungen  allein  zu  bezeichnen: 

Schema, 
(zweimal)  mit  der  stumpfen  Reimformel:  aa, 

.  |  mit  der  stumpfen  Reimformel:  bb. 

Beispiel. 
Dö  —  nam  der  |  herre  J  Dietjrich  [ 

selbe     sin  gejwant  | 
im  —  half  daz  |  er  sich  |  wäf|ent  | 

der  —  alte  |  Hilde |br an  t  | 
dö  —  klagt  |  also  |  sejre  || 

der  —  kref|tige  |  man 
daz  daz  |  hüs  er  |  diez|en  || 

von  —  slner  |  stim|me  bejgan. 
(lu  Strophe  des  letzten  Abenteuers  des  N.-L.) 

NB.  Von  den  Zeichen  in  dem  Beispiele  scheidet  der  Gedankenstrich 
den  Auftakt  von  dem  Versanfange  d.  h.  von  der  ersten  Hebung ;  der  ein- 
fache Strich  bezeichnet  die  Hebungen,  die  entweder  einen  einsilbigen, 
oder  wo  (als  zweite  Silbe)  eine  Senkung  folgt,  einen  zweisilbigenFusz 
ausmachen;  der  Doppelstrich  trennt  die  zwei  Vershälften. 

Erläuternde  Bemerkungen  zu  dem  Beispiele. 

1)  Die  N.-Strophe  hat  4  Langzeilen. 

2)  Je  zwei  Langzeilen  sind  durch  die  stumpfe  (einsilbige)  Reimformel : 
aabb  zusammengehalten  und  zur  Strophe  abgerundet. 

NB.  Alle  zweisilbige  Scbluszworte  von  der  Quantitäts-Formel  xöiroc 
(cf.  oben)  gelten  als  stumpfer  Beim  z.  B.  sagen:  erslagen;  gestriten:  Ter- 
miten; gehaben:  begraben;  lies  verschleift:  sag'n:  klag'n;  gestrit'n:  ver- 
mit'n ;  gehab'n:  begrab'n. 

3)  Jede  Langzeile  hat  einen  Ruhepunkt  in  der  Mitte,  also  zwei  Hälf- 
ten, die  Kurzzeilen  genannt  werden. 

4)  Jede  von  den  4  ersten  Kurzzeilen  der  Strophe  hat  je  4,  jede  von 
den  4  zweiten  Kurzzeilen  je  3  Hebungen  mit  Ausnahme  der  achten,  die, 
weil  sie  die  Strophe  abschlieszt,  in  aller  Regel  4  Hebungen  hat 


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die  prosodischc  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  273 

Nota  bene! 

A)  Max  Rreger>(Küdrün  v.  Ploennies  Leipzig  1853)  nimmt  S.  280 — 281 
für  die  4  ersten  Halbverse  —  gegen  die  Behauptung  unter  Nr.  4  —  blosz 

.  je  3  Hebungen  und  in  Folge  dessen  natürlich  immer  klingenden  Schlusz 
der  ersten  Halbverse  an.  x 

B)  Simrock  (Walther  v.  d.  Vogelweide  I  S.  171  und  Zwanzig  Lieder 
von  den  Nibelungen  S.XI),  Keinrich  Kurz  (Gesch.  d.  deutschen  Litteratur 
S.  27  unten)  und  A.  Schleicher  (Deutsche  Sprache  S.  303  und  namentlich 
304)  nehmen  für  die  4  ersten  Kurzzeilen  im  Gegensatz  zu  Rieger,  wie 
auch  hier  unter  Nr.  4  und  in  dem  vorstehenden  Beispiele  geschehn  ist, 
je  4  Hebungen,  folglich  stumpfen  Versschlusz  der  ersten  Vershälften  an. 

Es  ist  richtig,  die  bei  weitem  gröste  Zahl  der  ersten  Halbverse  geht 
wie  in  unserm  Beispiele :  f wäfent*  —  fs6re'  —  Miezen'  scheinbar  klin-. 
gend,  d.  h.  auf  tonloses  E  aus;  aber  gegen  Rieger  und  für  Simrock  und 
Schleicher  spricht :  .  v 

a)  Es  kommen  erste  Vershälften  im  N.-L.  vor,  die  entschieden 
stumpf  schlieszen;  Schleicher  zahlt  deren  S.  303  etwa  zwölf  auf  z.  B. 

Ger|nöt  und  |  Glsel|her  [| 
wess  ich  |  wer  ez  |  het  ge|tan  jj 
silber  |  gap  man  |  unde  |  wat  || 
do  —  sprach  der  |  alte  |  Hildejbrant  ||.     Auch  der  erste 
Halbvers  in  unserm  Beispiel,  ist  doch  wol  zu  lesen : 
Dö  —  nam  der  |  herre  |  Dietjrtch  ||. 

b)  Wichtiger  noch  ist  der  Fall,  dasz  selbst  die' zweiten  Kurzzeilen, 
die  ja  immer  stumpf  ausklingen  müssen,  bisweilen  auf  das  tonlose  E  aus- 
gehen. Hier  ist  aber  das  tonlose  E  nicht  blosz  der  Trager  der  H&bung, 
sondern  zugleich  auch  des  Schluszreims  der  Langzeile  z.  B. 

ir  —  muoter  |  Uolte'n  | 
baz  der  |  guojten  |. 
diu  —  schif  verjborgjen  | 
zen  —  grözen  J  sorgen. 

c)  Gerade  die  Beispiele  ad  Nr.  b  (cf.  Schleicher  S.  304) ,  in  denen  das 
tonlose  E  Hebung  und  einsilbiger  (stumpfer)  Reim  zugleich  ist,  sind  der 
beste  Beleg,  dasz  im  Mhd.  dieses  E  für  Ohr  und  Gefühl  eine  ganz  andere 
Geltung  gehabt  haben  musz,  als  das  stumme.  Denn  trägt  auch  selbst  das 
stumme  E  nach  ahd.  Art  am  Schlüsse  der  ersten  Vershälften  zuweilen 
ausnahmsweise  die  Hebung  (Schleicher  S.  315) ,  so  ist  es  zum  stumpfen 
Reim  doch  ganz  untauglich. 

Nur  weil  Mai  Rieger  sich  auf  unsern,  den  nhd.  Standpunkt  stellt, 
wo  die  E  der  Bildungssilben  ganz  unterschiedlos  sind,  streubt  sich,  wie 
er  sagt,  sein  Ohr,  die  ersten  Vershälften  mit  stumpfen  Schlüsse  d.  h.  mit 
je  4  Hebungen  zu  lesen. 

Sind  auch  jetzt  diese  E  alle  gleich,  so  musz  doch  in  und  bald  nach 
der  Zeit,  wo  die  ahd.  Endungen  mit  den  starken  Vokalen  a,  u,  o  sich  zu  E 
verflüchtigten  (=  XI.  und  XII.  Jh.),  der  Sprechende  das  gröszere  Ge- 
wicht der  tonlosen  E  gefühlt  und  dies  Gefühl  dadurch  ausgedrückt 


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274  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

haben,  dasz  er  die  tonlosen  E  nachdrücklicher  hervorhob,  als  die  all- 
mählich stumm  werdenden. 

d)  Dasz  die  Worte:  Uo|ten  |:  guo|ten  |;  bor|gen  |:  sorjg&i  |  nicht 
für  zweisilbige  Reime  zu  halten  sind,  was  anzunehmen  der  Anfänger  ge- 
neigt sein  könnte,  versteht  sich  von  selbst;  es  wären  ja  sonst  zweite 
Kurzzeilen  mit  blosz  2  Hebungen ,  während  sie  sonst  immer  3  Hebungen 
haben. 

5)  Zu  Hebungen  sind  nur  betonte;  oder  —  was  ganz  dasselbe 
sagt  —  begrifflich  bedeutsame  Silben  geeignet  (cf.  das  Nähere 
im  2.  Abschnitt). 

Ausnahme:  Das  tonlose  E  als  Hebung. 

a)  Dasz  das  tonlose  E  am  Schlüsse  der  ersten  Vershälften  sehr 
oft  in  der  Hebung  steht  und  bisweilen  auch  am  Schlüsse  der  zweiten ,  ist 
unter  Nr.  4  A  und  B  eben  erwähnt. 

b)  Innerhalb  des  Verses  kann  es  Hebung  sein, 

1)  wenn  die  vorhergehende  lange  Silbe  gleichfalls  Hebung  ist  und 
auf  das  tonlose  E  a)  entweder  noch  eine  Senkung  mit  einem  E  (oder 
der  Artikel) ,  oder  ß)  einfache  Gonsonanz  und  stummes  en  folgen  z.  B. 

ad  b.  1.  o.  im  8.  Halbverse  des  obigen  Beispiels: 

von  —  siner  |  stimjme  bejgan  |. 
diu  —  was  ze  |  San|ten  gejnant  |. 
der  —  hat  mir  |  leilde  ge|tän  | 
vlte|zen  daz  |  bluot  |. 
ad.  b.  l.ß. 

||  den  —  swert  |  grim  |  megen  |  man  |. 

2)  Folgen  auf  tonloses  E  zwei  Consonanten  mit  folgendem  e,  so  kann 
das  tonlose  E  metrisch  als  tieftonig  behandelt  werden,  also  die  Hebung 
tragen  z.  B. 

ze  —  triu|tenne  |  hän.  | 
hie  ze —  werjb^nne  |  gän  |. 

b)  Die  Senkung  kann,  wie  schon  bemerkt,  eine  Silbe  von  jeder 
Betonung  sein.  Bedingungen: 

1)  Eine  Hebung  musz  vor  ihr  stehen; 

2)  sie  musz  einsilbig  sein  cf.  wegen  verschleifter  Silben  zeui;  zer: 
ze  dem ,  ze  der.   Schleicher  307.  - 

7)  Der  Auftakt  ist  im  N.-L.  ein-  oder  zweisilbig  und  kann 
vor  den  ersten  und  zweiten  Kurzzeilen  stehen  oder  feh- 
len z.  B. 

do  — -  nam  der  |  herre  |  Dietjrich  |j  selbe  |  sin  |  gewant  | 

im  —  half  daz  |  er  sich  |  wälfent  ||  der  —  alte  |  Hildejbrant  | 

||  von  —  siner  |  stim|m6  bejgan  |     ' 
Jane  —  dunket  |  sich  von  |  Berjne  ||  der  —  herre  |  Diet|rich  | 

||  ich  ge  —  tar  in  |  harte  |  wol  bejstän  | 
Nu  wer —  was  der  |  üfem  |  schil|de  ||  vor  dem — Wasgen  |  steine  |  saz  j 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  275 

*Der  Anfang  des  Verses*,  sagt  Schleicher,  'ist  freier  in  seinem  Masze, 
als  der  Schlusz,  der  die  Form  des  Verses  am  strengsten  zeigt.' 

Dasselbe  gilt,  wenn  auch  in  andrer  Weise,  selbst  in  der  antiken 
Metrik;  auf  diese  Thatsache  gründet  sich  auch  das  Wesen  des  deutschen 
Auftakts.  Demgemäsz  kann  der  Auftakt  sogar  umgestellt  werden,  d.  h. 
hinter  die  erste  Hebung  treten,  so  dasz  es  den  Anschein  gewinnt,  als  folgte 
(gegen  Nr.  6)  der  ersten  Hebung  eine  zweisilbige  Senkung. 

Nimmt  man  als  Zeichen  des  Auftakts ,  wie  oben  immer  geschehen, 
den  Gedankenstrich,  für  die  Hebung  den  Strich  und  für  die  Senkung  ein 
Sternchen  an,  so  entstanden  folgende  Schemata: 

a)  —  |  *  =  regelmäsziger  ein-  oder  zweisilbiger  Auftakt.,  Durch 
Umstellung  entstehen: 

b)  |  —  t  für  einsilbigen  und 

c)  __  |  —  *  für  zweisilbigen  Auftakt.  Ad  Nr.  a  sind  Beispiele  vor- 
her gegeben. 

ad  b.     Gun  —  ther  den  |  küenen  |  man  | 

Mark  —  gräve  |  Ruede|ger  J 

Kriem  —  hilte  |  höch|zit  | 
ad  c.  do  —  kom  —  en  von  |  Bech|lär|en  || 

der  —  bisch— of  und  I  sine  |  nif|tel||  cf. Schleicher S. 310 u.311. 

Die  feste  Zahl  der  Hebungen  in  der  Kurz-  und  Langzeile,  ferner  der 
die  Langzeilen  zur  Strophe  abrundende  und  einende  stumpfe  Reim  —  das 
war  unverbrüchliches  Gesetz,  an  das  sich  der  Dichter  des  Nibelungenliedes 
gebunden  sah.  Dagegen  gewährte  ihm  das  Setzen  oder  Weglassen  der 
Senkung  und  des  ein-  oder  zweisilbigen  Auftakts,  um  die  Form  seiner 
Gemütsstimmung  ohne  Zwang  immer  genau  anzupassen,  eine  Freiheit, 
welche  unsere  heutigen  Dichter,  die  sich  —  nach  der  antiken  Metrik  — 
an  das  Zählen  der  Silben  im  Verse  ängstlich  binden,  ganz  und  gar  ent- 
behren und  den  mhd.  Dichtern  nur  beneiden  können. 

Dieser  Gegensatz  zwischen  Freiheit  auf  der  einen  und  Gebundenheit 
auf  der  andern  Seite  reizt  von  selbst  zur  historischen  Vergleichung  der 
Vergangenheit  und  Gegenwart. 

Aber  das  Vergangene,  auch  wenn  es  das  eigne  Volk,  die  eigne 
Sprache  beträfe,  verdient  nicht  an  sich  allgemeine  Beachtung;  darin  hat 
H.  Stier  vollkommen  Recht.  Auch  die  oben  gegen  ihn  gerichteten  Bemer- 
kungen in  Betreff  des  Goth.  und  Ahd.  sind  z.  B.  am  allerwenigsten  hervor- 
gegangen aus  einer  dunkeln  Vorliebe  für  das  Alte.  Eine  solche  Vorliebe 
mag  einem  muszereichen  Lehrer  einer  Hochschule  oder  einem  unabhängi- 
gen Freigelehrten  wol  anstehen  und  auch  behagen,  nimmermehr  aber 
dem  Praktiker,  der  der  Jugend  das  Alte  zu  Nutz  und  Frommen  seiner 
Zeit  vermitteln  soll.  Dadurch  jedoch,  dajsz  J.  Grimm  mit  der  gothischen 
im  innigstenBezuge  zugleich  auch  eine  neuhochdeutsche  Grammatik 
geschaffen  hat,  dadurch  ist  die  alte,  fast  vor  anderthalbtausend  Jahren 
ausgestorbene  gothische  Sprache  mit  unserer  lebenden  Muttersprache 
vermittelt  und  ragt  so  regelnd  und  bestimmend  mitten  hinein  in  die  Ge- 
genwart. Darin  und  in  nichts  Anderem  liegt  allein  für  uns  der  hohe  Werth 


276  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

der  gothischen  Sprache  und  die  Notwendigkeit  ihrer  Beachtung  auch  in 
dem  Gymnasium.' 

,  Nicht  anders  mit  dem  Mhd.  Wären  alle  Faden,  die  diese  Sprache 
mit  unsrer  neuhochdeutschen  verbinden,  d  urchgeschnitten  —  wie  Wenige 
besäszen  Lust  und  Zeit  sie  zu  beachten.  Läge  beispielsweise  zwischen 
der  zwanglosen  Freiheit,  mit  der  sich  die  mhd.  Dichter  im  Verse  bewe- 
gen, und  zwischen  der  lähmenden  Gebundenheit  der  heutigen  wirklich  eine 
unausfflllbare  Kluft,  sodasz  der  Versuch,  vom  Mhd.  aus  an  den  diesseiti- 
gen Rand  derselben  zu  gelangen,  vornherein  erfolglos  schiene,  wer  bliebe 
nicht  lieber  da,  wo  er  festen  Fusz  gefaszt,  stehen  und  überliesze  die 
ganze  Geschichte  von  der  mhd.  Versmessung  dem  ersten  besten  Gelehrten 
für  seine  von  der  Gegenwart  sich  abwendenden  Lieblingsbeschäftigungen? 

Wie  es  aber  gekommen,  dasz  unsere  Dichter,  um  die  urdeutscbe 
Freiheit  der  Bewegung  innerhalb  des  Verses  zu  zerstören,  sich  selbst 
fremde  Fesseln  angelegt  und  dem  fremden  Zwange  in  den  letzten  2  Jh. 
widerstandslos  nachgegeben  und  sich  unterworfen  haben ,  bis  endlich  — 
gerade  in  unsrer  Gegenwart  —  einzelne  Dichter  die  Unfreiheit  abzuschüt- 
teln und  ihre  Verse  mit  dem  glücklichsten  Erfolge  wieder  nach  deut- 
schem und  nicht  nach  fremdem  Masze  zu  messen  anfiengen  —  das  zu 
zeigen  ist  der  Zweck  des  zweiten  Abschnitts  dieser  Abhandlung.  Die  fol- 
gende Erörterung  nach  der  vorstehenden  scheint  an  sich  nicht  überflussig, 
ja  fast  notwendig ,  da  man  eine  Geschichte  nicht  in  der  Mitte  der  Erzäh- 
lung abzubrechen ,  sondern  bis  ans  Ende  auszuspinnen  pflegt. 

Aber  noch  ein  anderer  Umstand  ladet  dazu  ein,  Art  und  Wesen  der 
Nibelungen-Strophe  bis  auf  unsere  Tage  zu  verfolgen. 

Gervinus  ist  nicht  abgeneigt,  den  Werth  der  ganzen  mittelhoch- 
deutschen Litteratur  dadurch  ungebührlich  hinabzudrücken ,  dasz  er  sie 
ein  Feld  nennt,  blosz  geeignet,  dasz  sich  auf  ihm  die  Gelehrsamkeit 
tummle.  Was  soll  das  anders  heiszen  als :  Wir  haben  es  hier  mit  einer 
alten,  abgelebten  Zeit  zu  thun,  deren  sie  erfüllender  Inhalt  zwTar  einen 
Gelehrten  interessieren  kann ,  in  dem  absonderliche  Neigung  und  jahre- 
lange Beschäftigung  mit  der  Sache  eine  künstliche  Teilnahme  et  wecken 
—  aber  es  fehlt  der  naturwüchsige  Zusammenhang  jener  todten  Zeit  und 
der  Gegenwart  und  mit  diesem  zugleich  auch  der  Bezug,  der  unmittelbare 
Einflusz  der  mhd.  Dichtung  auf  unsere  neuhochdeutsche. 

Mögen  Andere,  insoweit  sie  es  vermögen,  nach  andern  Richtungen 
hin  diese  Ansicht  des  berühmten  Historikers  widerlegen.  Was  die  mhd. 
und  nhd.  Metrik  anbetrifft,  so  war  sein  für  vergleichende  Geschichte  sonst 
so  scharfes  Auge  entweder  doch  nicht  scharf  genug ,  um  die  Faden ,  an 
welchen  beide  auch  heute  noch  zusammenhängen ,  zu  erkennen ,  oder  er 
hat  sie  gegen  bessere  Einsicht  mit  keckem  Finger  durchgerissen. 

Ganz  abgesehn  vom  Volksliede,  von  einer  groszen  Zahl  lyrischer  Ge- 
dichte im  Tdne  von  Goethe  und  Heyne,  in  denen  die  altdeutsche  Vers- 
messung, wenn  auch  nicht  regelrecht  gehandhabt,  so  doch  unbewust  die 
Fesseln  der  antiken  Metrik  durchbricht,  so  ist  ohne  die  Kenntnis  der  mhd. 
Rhythmik  Niemand  im  Stande,  auch  nur  Eine  Zeile  in  den  nhd«  Ueber- 

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Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.  277 

selznngen  z.B.  Simrock's  undPloennies'  und  in  manchen  Gedichten  Uhland's, 
Goethe's,  Rückert's  und  GeibeJ's  richtig  zu  lesen;  ja  selbst  der  Bau  der 
modernisierten  Nib.-Str.,  wie  sie  in  den  ersten  besten  Gedichten  Uhland's, 
Chamisso's  und  vieler  andrer  vorkommt,  bliebe  ihm  unverständlich.  Waltete 
aber  in  Be2ug  auf  die  Versmessung  nicht  ganz  dasselbe  Grundprincip  wie 
im  Mhd.,  so  auch  heute  noch  in  unsrer  Verskunst,  so  wäre  die  Rückkehr 
der  genannten  Dichter  und  Uebersetzer  zur  altdeutschen  Metrik  ganz  un- 
möglich gewesen;  hier  will  also  das  Neue,  Gegenwärtige  durch  das 
Alte,  Vergangene  erkannt  und  erläutert  sein.  Erwüchsen  endlich, 
wie  ganz  bestimmt  zu  erwarten,  auch  unsrer  Dichtung  der  Zukunft,  na- 
mentlich der  erzählenden  und  lyrischen  Gattung,  aus  dieser  Rückkehr  zum. 
Alten,  d.  h.  zum  Echtdeutschen,  neue,  früher  nicht  geahnte  Vorteile,  so 
wäre  die  oben  angedeutete  Behauptung  von  Gervinus ,  dasz  wir  es  hier 
mit  einer  abgelebten  todten  Zeit,  die  mit  der  Gegenwart  des  Volks  in  kei- 
ner Beziehung  mehr  stünde,  wenigstens  nach  Einer  Richtung  hin  wider- 
legt und,  wie  es  scheint,  beseitigt. 

(Fortsetzung  im  nSebsten  Hefte.) 
Lissa;  Ed.  Olawsky. 


21. 

Rede  über  den  Vortrag  der  Geschichte  in  der  Prima  eines 
Gymnasiums, 

gehalten  bei  der  Stiftungsfeier  des  Gymnasium  Casimirianum 
am  3.  Juli  1863  vom  Oberlehrer  Heinr.  Mutter. 


Der  hochherzige  Gründer  unseres  Gymnasiums  ist  schon  so  oft  bei 
der  Stiftungsfeier,  die  wir  jährlich  begehen,  mit  beredtem  Munde  geprie- 
sen worden,  dasz  ich  mir  wol  erlauben  darf,  heute  nur  auf  eine  Seile 
seines  hohen  Verdienstes  hinzuweisen.  Ich  will  nicht  den  idealen  Sinn, 
den  Eifer  für  die  Wohlfahrt  seiner  Unterthanen  rühmen,  die  den  Enkel 
Johann  Friedrich's  des  Groszmüthigen  bewogen  haben,  diese  Pflanzschule 
christlfcher  Frömmigkeit  und  wissenschaftlicher  Bildung  anzulegen ,  will 
nicht  ausführlich  schildern,  wie  er  durch  die  Sorgfalt,  die  er  seinem  Casi- 
mirianum widmete,  und  die  Opfer,  die  er  ihm  brachte,  28  Jahre  lang 
thatsächlich  bewiesen  hat,  dasz  er  wirklich,  wie  er  öfters  äuszerte,  seine 
zwei  Gymnasien  in  Gotha  und  Coburg  als  die  beiden  Augen  betrachtete, 
durch  die  sein  Herzogtum  erleuchtet  würde.  Nur  an  einen  Teil  seiner 
ebenso  weisen  als  treuen  Fürsorge  für  dieses  Kleinod  seines  Landes  will 
ich  erinnern,  indem  ich  einige  jener  Männer  erwähne,  die  der  fürstliche 
Scholarch  in  den  ersten  Jahren  zu  Lehrern  an  diesem  Musensitz  berufen 
und  durch  viele  Beweise  seiner  Hochachtung  und  Huld  erfreut  hat.  Her- 
zog Casimir,  der  Freund  und  Kenner  gelehrter  Bildung,  wüste,  *dasz 


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278  Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums. 

ohne  taugliche  Professors  bei  diesem  christlichen ,  löblichen  und  nütz- 
lichen Werke  nichts  Fruchtbarliches  geschehen  könne.'    Daher  übertrug 
er  die  Leitung  des  gymnasium  academicum  einem  Manne,  der  durch  zahl- 
reiche Schriften,  durch  seinen  Namen  der  jungen  Anstalt  Ehre  machte, 
dem  Stadtphysikus  und  Gymnasiarchen  Libavius  in  Rothenburg  an  der 
Tauber.   Dieser  vorzügliche  Gelehrte,  ein  eifriger  Vertreter  der  altclassi- 
schen  Medicin  und  zugleich  der  ramistischen  Philosophie,  der  mit  wissen- 
schaftlicher Tüchtigkeit  die  nötige  Energie  und  vieljährige  pädagogische 
Erfahrung  verband ,  hat  unter  mancherlei  Widerwärtigkeiten  die  schwere 
Aufgabe  einer  zweckmäszigen  Organisation  des  Gymnasiums  glücklich 
durchgeführt;  er  hat  durch  seine  Vorträge  und  Disputationen  und  durch 
das  Vorbild  seiner  eigenen  gelehrten  Bestrebungen  wissenschaftlichen 
Sinn  in  der  ziemlich  zuchtlosen  Jugend  zu  erwecken  gewust,  er  hat  mit 
groszem  Eifer  den  akademischen  Charakter  der  ihm  anvertrauten  Schule 
so  viel  als  möglich  zu  verwirklichen  gesucht.    Unter  seinen  Gollegen  war 
der  eifrigste  ein  Mecklenburger,  Namens  Scheffler,  ein  ehemaliger  Lehrer 
der  schola  senatoria,  den  dem  akademischen  Streben  des  Directors  gegen- 
über mit  Entschiedenheit  und  Freimut,  doch  nicht  ohne  innere  Verstim- 
mung, den  pädagogischen  Standpunkt  vertrat,  und  dem  alle  seine  Vor- 
gesetzten das  Zeugnis  gaben ,  dasz  er  ebenso  tüchtig  in  der  Doctrin ,  wie 
in  der  Disciplin  war ,  ja  dasz  allein  um  seiner  treuen  Institution  willen 
Fremde  ihre  Kinder  nach  Coburg  zur  Schule  geschickt.    Sein  tüchtiger 
pädagogischer  Sinn  und  der  glückliche  Erfolg  seiner  Lehrerwirksainkeit 
wurde  auch  von  dem  väterlichen  Patron  des  Gymnasiums  so  sehr  aner- 
kannt, dasz  dieser  zweimal  seiner  Stiftung  zu  Liebe  ihm  die  Erlaubnis 
versagte  einen  Ruf  nach  Hamburg  zu  folgen,  und  dasz  er  ihn  im  Jahre  1616 
zum  Nachfolger  des  verstorbenen  Rectors  Libavius  erwählte.    Doch  die 
beiden  von  mir  erwähnten  Lehrer  des  Casimirianums,  die  sich  gerechten 
Anspruch  auf  ein  dankbares  Andenken  der  späteren  Generation  erworben 
haben,  wurden  von  einem  Gelehrten  überstrahlt,  den  eine  fragmentarische 
Geschichte  unserer  Anstalt  eine  Zierde  Coburg's  für  alle  Zeiten  nennt,  von 
jenem  architheologus ,  der  später  auch  bewirkte,  dasz  während  seines 
Lebens  alle  Universitäten  vor  Jena  die  Segel  strichen,  dem  Verfasser  der 
gelehrtesten  und  berühmtesten  Dogmatik  des  17.  Jahrhunderts  und  der 
meditationes  sacrae,  Johann  Gerhard.    Dieser  bei  aller  dogmatischen 
Pedanterie  doch  wahrhaft  fromme  und  edle  Vertreter  der  lutherischen 
Orthodoxie,  den  man  wegen  seiner  stupenden  Gelehrsamkeit  und  seiner 
fast  unbegreiflichen  schriftstellerischen  Productivität  bewundern  musz, 
wurde  im  Jahre  1616  als  junger  Mann  von  24  Jahren  von  Herzog  Casimir 
zum  Superintendenten  in  Heldburg  und  zugleich  zum  professor  primarius 
des  Gymnasiums  ernannt,  und  obgleich  er  in  dieser  Stellung  schon  vier 
Bände  seines  groszen  dogmatischen  Werkes  und  zahlreiche  andere  Schrif- 
ten verfaszte,  war  doch  auch  seine  praktische  Wirksamkeit  so  vielseitig 
und  eminent,  dasz  sein  überaus  dankbarer  Fürst  jhn  bei  zahlreichen  Be- 
rufungen mit  fast  übergroszer  Zähigkeit  festzuhalten   suchte  und  trotz 
seines  Widerstrebens  ihm  auch  noch  die  höchste  geistliche  Stelle  seines 
thüringisch-fränkischen  Landes  übertrug.    Ich  versage  mir  die  groszen 


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Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.  279 

Verdienste  hervorzuheben,  die  Johann  Gerhard  während  der  Verwaltung 
dieser  geistlichen  Aemter  auf  Anregung  und  zur  innigen  Freude  seines 
fürstlichen  Gebieters  um  unsere  Landeskirche  sich  erworben  hat;  aber 
dasz  er  bei  einer  schwächlichen  Gesundheit  und  einem  praktischen  Amte 
von  groszer  Arbeitslast  doch  noch' Zeit  fand  für  unser  Casimirianum  in 
dem  ersten  Decennium  seines  Bestehens  thätig  zu  sein ,  das  verdient  am 
heutigen  Tage  dankbare  rühmende  Erwähnung.  Der  junge  Ephorus  von 
Heidburg,  der  die  Aufsicht  über  26  Geistliche  zu  führen  hatte,  wanderte 
fast  allwöchentlich  zur  Residenz,  um  an  wichtigen  kirchlichen  und  scho- 
lastischen Beratungen  Teil  zu  nehmen,  und  sein  Urteil  galt  viel,  wenn  es 
sich  um  die  Anstellung  neuer  Lehrer,  um  Fragen  der  Organisation  und 
der  Disciplin  handelte.  Schon  in  Heldburg  hat  er  auch,  wie  es  scheint, 
die  förmliche  Inspection  der  Anstalt  übernommen.  Sein  Hauptverdienst 
aber  war,  dasz  er  durch  theologische  Disputationen,  die  er  alimonatlich 
unter  zahlreicher  Beteiligung  der  Geistlichen  in  der  neugegründeten  Lan- 
desschule hielt,  einen  heilsamen  Einflusz  auf  ihren  Ruf  und  auf  den  Eifer 
der  studierenden  Jugend  übte.  Denn  wie  hätte  der  wissenschaftliche  Geist 
der  cives  Cäsimiriani  nicht  durch  die  gelehrten  Verhandinngen  mit  einem 
Manne  belebt  werden  sollen ,  der  in  seiner  Liebe  zu  den  Studien  einmal 
äuszerte :  'wie  auszer  der  Kirche  kein  Heil,  so  ist  auch  kein  wahres  Leben 
auszerhalb  der  Akademie'.  Seine  Sehnsucht  nach  dem  akademischen  Lehr- 
amte ward  endlich  zum  Segen  der  ganzen  evangelischen  Kirche  und  zum 
Ruhme  der  theologischen Facultät  Jena's  befriedigt,  als  er  im  Jahre  1616 
dem  dritten  Rufe  nach  jener  Universität  folgen  durfte.  Dasz  aber  durch 
sein  Scheiden  das  Band  gegenseitiger  Verehrung  und  Dankbarkeit  zwischen 
ihm  und  dem  edlen  Fürsten  nicht  zerrissen  ward,  das  hat,  um  andere 
Thatsachen  zu  übergehen,  der  gefeierte  Jenenser  Professor  achtzehn  Jahre, 
nachdem  er  eauf  das  Katheder  herabgestiegen'  war,  bewiesen,  da  er  sei- 
nen treuen  fürstlichen  Gönner  nach  dessen  Hinscheiden  durch  eine  akade- 
mische Gedächtnispredigt  ehrte,  die  zwar  seine  Schwächen  nicht  verbirgt, 
aber  zugleich  ein  bleibendes  Denkmal  seiner  Tugenden  und  Verdienste,  ein 
beredtes  Zeugnis  von  der  dankbaren  Pietät  eines  deutschen  Gelehrten  ist* 
Gern  möchte  ich  nun  Euch  auch  noch  erzählen,  wie  der  berühmte  General- 
ephorus  unseres  Landes  in  seinem  lieben  Jena,  geehrt  und  bewundert  wie 
wenige,  aber  auch  unter  mannigfachen  Unfällen  un4  Leiden  einundzwan- 
zig Jahre  lang  die  Pflichten  seines  akademischen  Amtes  erfüllt,  wie  er 
nicht  nur  als  Docent,  sondern  auch  als  Schriftsteller,  als  Rathgeber  der 
Fürsten,  als  Orakel  der  Theologen  einer  unermeszlichen  aufreibenden 
Thätigkeit  sich  unterzieht.  Auch  die  Bedeutung  seiner  Schriften  für  die 
einzelnen  theologischen  Disciplinen  möchte  ich  einigermaszen  schildern 
und  Euch,  lieben  Zöglinge,  ein  Bild  seines  Entwicklungsganges  und  sei- 
nes inneren  Lebens  entwerfen.  Aber  so  angemessen  es  auch  dem  Zwecke 
der  heutigen  Feier  wäre,  wenn  ich  einen  groszen  Gelehrten  und  einen 
Lebenszeugen  unserer  Kirche,  den  wir  zu  den  geistigen  Begründern  un- 
serer Anstalt  zählen  dürfen ,  zum  Mittelpunkt  meines  Vortrags  machen 
würde ,  so  nötigt  mich  doch  ein  inneres  Bedürfnis  und ,  wenn  ich  nicht 
irre,  auch  meine  Lehrerpflicht,  von  den  Erinnerungen,  die  der  heutige 


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280  Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums. 

Festtag  in  mir  erweckt,  Ihre  Aufmerksamkeit  auf  einen  Gegenstand  hin- 
zulenken ,  der  seit  längerer  Zeit  für  mich  besonders  wichtig  und  zugleich 
für  unsere  Gymnasien  von  hoher  Bedeutung  ist.  Als  Lehrer  der  Ge- 
schichte in  der  Prima  unseres  Gymnasiums  fühle  ich  mich  gedrungen, 
bei  der  ersten  Gelegenheit,  die  sich  mir  darbietet,  mich  über  die  Grund- 
sätze auszusprechen ,  naeh  welchen  ich  diesen  Unterricht  zu  erteilen  be- 
müht bin,  diesen  Unterricht,  der  an  sich  so  schwierig  ist  und  überdies 
fast  mehr  als  jeder  andere  einer  festen  allgemein  anerkannten  Methode 
entbehrt,  an  den  gerade  unsere  Zeit  mit  Recht  hohe  Anforderungen  stellt, 
und  der  doch  nach  dem  Zeugnis  vieler  erfahrener  Schulmänner  Sehr  oft 
nicht  die  erwünschten  Resultate  liefert. 

Wollte  ich  die  Aufgabe,  die  ich  mir  stelle,  mit  der  Gründlichkeit 
lösen,  die  dem  wissenschaftlichen  Sinn  ein  Bedürfnis  ist,  so  müsteich 
zunächst  Ihnen  zu  Ihrer  Orientierung  einen  Ueberblick  der  neueren  Ver- 
handlungen über  den  Geschichtsunterricht  auf  Gymnasien  geben ;  ich  müste 
dann  die  Aufgabe  der  früheren  Glassen  in  Beziehung  auf  diesen  Lehr- 
gegenstand zu  bestimmen  suchen,  um  Ihnen  das  Fundament  zu  zeigen, 
auf  welchem  in  der  Prima  weiter  zu  bauen  ist,  und  ich  müste  auch  über 
einige  Vorfragen  mich  mit  Ihnen  verständigen,'  um.  alle  die  Voraussetzungen 
zu  gewinnen ,  auf  denen  meine  Darstellung  ruhen  wird.  Doch  ich  sehe 
mich  genötigt  auf  diese  grundlegenden  Mitteilungen  zu  verzichten  und 
mich  gleich  zu  der  ersten  concreten  Frage  zu  wenden,  die  notwendig  be- 
rührt werden  musz,  zu  der  Frage:  welcher  Teil  der  Geschichte 
in  der  Prima  behandelt  werden  soll?  Ich  kann  auch' diese  nicht 
so  eingehend  und  gründlich  beantworten ,  als  die  Differenz  zwischen  un- 
serer Praxis  und  den  Ansichten  angesehener  Schulmänner  der  Gegenwart 
es  eigentlich  nötig  macht.  Denn  während  der  Lehrplan  unseres  Gymna- 
siums nach  der  ziemlich  allgemein  recipierten  Gliederung  des  Geschichte*  i 
Unterrichts  auf  Gymnasien ,  die  wir  einer  Denkschrift  des  westphälischen 
Schulcollegiums  verdanken ,  auf  der  dritten  Stufe  desselben  eine  univer- 
salhistorische Behandlung  und  zwar  in  dem  zweijährigen  Cursus  der 
Secunda  eine  ausführliche  Darstellung  der  alten ,  in  der  frrima  der  mittle- 
ren und  neueren  Geschichte  verlangt,  haben  sehr  gewichtige  Stimmen  in 
der  neueren  Zeit  sich  dahin  ausgesprochen,  dasz  die  Universalgeschichte 
gar  nicht  in  das  Gymnasium  gehöre  und  dasz  eine  gründliche  Behandlung 
der  alten 'Geschichte  in  der  Prima  den  Schlusz  und  die  Vollendung  unse- 
rer historischen  Unterweisung  bilden  müsse.  Mit  welcher  Entschiedenheit 
diese  Ansichten  geltend  gemacht  werden,  zeigen  z.  B.  die  Worte,  mit 
denen  ein  sehr  tüchtiger  Vertreter  derselben,  der  Director  Campe,  eine 
treffliche  Schrift  über  'Geschichte  und  Unterricht  in  der  Geschichte' 
schlieszt,  die  Worte  'Man  wird  sich  noch  lange  (gegen  jene  Forderungen) 
sträuben,  aber  die  Sache  selbst  wird  sich  Bahn  brechen/  Und  eine  ähn- 
liche Siegeszuversicht  athmen  die  Worte  eines  Becensenten  *) :  'dasz  die 
alte  Geschichte  nach  Prima  verlegt  werde,  scheint  in  der  That  von  so  vie- 
len und  entscheidenden  Gründen  gefordert  zu  werden ,  dasz  der  Wider- 


*)  Jahrb.  für  Philol.  u.  Pädagog.  1860,  V  S.  226. 

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Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.  281 

sprach  dagegen  in  Theorie  und  Praxis  hoffentlich  bald  aufhören  wird/ 
Ich  kann  diese  Hoffnung  nicht  teilen.  Ich  glaube,  dasz  allerdings  eine 
Behandlung  der  alten  Geschichte  in  der  Prima,  durch  welche  die  Resultate 
der  vieljährigen  Beschäftigung  mit  den  Alten  in  ein  Gesamtrcsultat  zu- 
sammengefaszt  werden,  für  das  wirkliche  Verständnis  der  alten  Welt  und 
die  geschichtliche  Bildung  der  Jugend  sehr  vorteilhaft  sein  würde.  Aber 
die  unbestreitbare  Verpflichtung  der  Gymnasien ,  ihre  Zöglinge  auch  mit 
einer  Kenntnis  der  mittleren  und  neueren  Geschichte  zu  entlassen ,  die 
ihrer  sonstigen  geistigen  Bildung  entspricht,  und  zugleich  die  Thatsache, 
dasz  es  bei  der  gröszeren  Ausbreitung  und  Vielseitigkeit  und  dem  tieferen 
inneren  Gehalt  des  geschichtlichen  Lebens  im  Mittelalter  und  in  der  neue- 
ren Zeit  nicht  möglich  ist,  durch  eine  Behandlung  dieser  Perioden  in  einer 
früheren  Glasse  dies  Ziel  wirklich  zu  erreichen ,  sowie  einige  andere  Mo- 
mente, nötigen  uns  nach  meinem  Dafürhalten,  auf  jene  an  sich  wünschens- 
werthe  Ueberweisung  der  alten  Geschichte  an  die  Prima  zu  verzichten 
und  uns  damit  zu  begnügen,  dasz  die  Kenntnis  derselben,  die  unsere 
Schaler  in  diese  Glasse  mitbringen,  hier  durch  die  Leetüre  des  Thucydi-  , 
des  und  Demosthenes,  der  ciceronianischen  Briefe  und  des  Tacitus  erweitert 
und  vertieft ,  dasz  sie  ferner  durch  einen  Ueberblick  über  die  Leistungen 
der  Alten  auf  dem  Gebiete  der  Litteratur  am  Ende  des  Schuljahres  er- 
gänzt und  belebt  und  durch  zweckmäszige  Repetitionen  in  den  Geschichts- 
slanden befestigt  wird. 

Entschiedener  noch  bin  ich  gegen  den  zweiten  Vorschlag,  durch 
welchen  ein  wirklicher  Organismus  unseres  geschichtlichen  Unterrichts 
geschaffen  werden  soll,  gegen  die  Forderung,  dasz  der  Geschichtslehrer 
der  Prima  ebensowenig,  wie  nach  unserem  Lehrplan  der  der  Tertia,  über 
die  vaterländische  Geschichte  hinausgehen,  dasz  also  unsere  Zöglinge  z.  B. 
kein  geschichtliches  Bild  von  Alfred  dem  Groszen  und  Wilhelm  dem  Er- 
oberer, von  der  ruhmreichen  Familie  derMediceer  und  dem  kühnen  Pro- 
pheten von  Florenz ,  oder  dem  Papst  Sixtus  V.,  von  Philipp  IL  und  der 
Königin  Elisabeth ,  von  dem  gewaltigen  Protector  Englands  und  des  Pro- 
testantismus und  von  dem  edlen  groszen  Patrioten  und  Staatsmann  Nord- 
amerikas erhalten,  dasz  sie  nichts  von  einer  magna  Charta,  einer  pariser 
Bluthochzeit  und  einer  unüberwindlichen  Armada  erfahren  sollen.  Im 
Interesse  einer  nationalen  Erziehung  unserer  Jugend  liegt  eine  solche 
scheinbar  patriotische  Beschränkung  auf  die  deutsche  Geschichte  sicher- 
lich nicht.  Denn  die  Weltstellung,  die  unser  Volk  als  das  Central volk 
Europas  seit  länger  als  einem  Jahrtausend  einnimmt,  hat  zur  Folge,  dasz 
ein  Verständnis  seiner  Geschichte  eine,  nicht  unbedeutende  Kenntnis  der 
fremdländischen  zur  Voraussetzung  hat.  Wird  nicht  unsere  Geschichte  als 
ein  Glied  in  ein  gröszeres  Ganze,  in  die  Geschichte  des  europäischen  Völ- 
Wlebens,  eingereiht,  so  kann  man  sich  nur  sehr  ungenügend  die  Ge- 
fahren erklären,  die  im  Laufe  der  Jahrhunderte  unserem  Vaterlande  von 
Osten  und  Westen,  von  Norden  und  Süden  drohten,  kann  man  den  mäch- 
tigen Einflusz  des  Auslands  auf  unsere  Nation  und  wieder  die  grosze  welt- 
lüstorische  Mission  des  deutschen  Volkes  nicht  hinlänglich  verstehen  und 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  5  u.  6.  19 


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282  Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums. 

würdigen.  Und  wie  viele  Erscheinungen  und  Ereignisse  der  fremdländk 
sehen  Geschichte  giebt  es,,  die  zwar  nicht  direct  auf  unsere  heimischen 
Zustände  eingewirkt  haben,  deren  Kenntnis  aber  bewirkt,  dasz  man  die 
Eigentümlichkeit  unserer  nationalen  Entwicklung  oder  die  Tendenzen 
eines  Jahrhunderts ,  den  Geist  irgend  einer  Zeit  und  somit  auch  die  deut- 
sche Geschichte  besser  und  richtiger  erkennt !  Ich  übergehe  noch  andere 
Momente,  um  zu  fragen,  ob  nicht  etwa  doch  gewichtige  pädagogische 
Gründe  die  Ausschlieszung  der  Universalgeschichte  von  unseren  Gymnasien 
rechtfertigen  und  fordern.  Denn  pädagogische  Gründe  sind  wol  die  eigent- 
liche tiefere  Veranlassung  der  Antipathie,  die  der  an  pädagogischer  Er- 
fahrung und  Einsicht  reiche  Verfasser  jener  Schrift  gegen  die  Universal- 
geschichte hegt,  nicht  die  wissenschaftliche  Untersuchung,  die  zum 
Resultate  hat,  dasz  eine  Weltgeschichte  gar  nicht  möglich  sei,  weil  es 
zwar  bestimmte  Völkerindividuen,  aber  keinen  innerlich  gegliederten 
Organismus  der  Menschheit  gebe.  Und  in  der  That,  welchen  Pädagogen 
mitte  nicht  schon  manchmal  ein  gewisses  Grauen  angewandelt  vor  jener 
Weltgeschichte,  die  in  reichem  Schmuck  von  Namen  und  Jahreszahlen  in 
unseren  Lehrbüchern  und  Grundrissen  sich  breit  macht.  Jene  Universal- 
geschichte, die  in  einer  Periode  von  etwa  200  Jahren  zehn  bis  dreizehn 
Staaten  nacheinander  behandelt,  die  auszerdem  eine  ausführliche 
Geschichte  der  Litteratur  und  aller  Künste,  ja  eine  förmliche  Gulturge- 
schichte  als  störenden  Ballast  zwischen  die  allzuzahlreichen  Fragmente 
der  eigentlichen  Geschichtserzählung  einfugt,  die  endlich  auch  noch  in 
den  einzelnen  Abschnitten  häufig  Thatsachen  und  Namen  von  geringem 
Interesse  nur  der  lieben  Vollständigkeit  willen  anführt,  diese  mechanische 
Nebeneinanderstellung,  diese  magazinmäszige  Anhäufung  geschichtlichen 
Materials  ist  nicht  eine  Frucht  der  modernen  historischen  Wissenschaft 
und  gesunder  pädagogischer  Grundsätze;  sie  ist  ein  Werk  und  ein  Denk- 
mal des  scholastischen  Pedantismus.  Die  Universalgeschichte ,  welche  die 
Schule  sich  zu  schaffen  und  zu  lehren  hat,  verdient  allerdings  nicht  ganz 
den  stolzen  Namen.  Sie  faszt  zwar  alle  selbständigen  Glieder  der  euro- 
päischen Völkerfamilie  in  das  Auge;  aber  die  Aufmerksamkeit,  die  ihnen 
geschenkt  wird,  entspricht  ihrer  weltgeschichtlichen  Bedeutung.  Sie 
bleiben  unbeachtet ,  so  lange  sie  nicht  in  den  Gang  der  geschichtlichen 
Bewegung  in  erheblicher  Weise  eingreifen.  Sobald  sie  an  den  gemein- 
samen Interessen  und  Bestrebungen  des  Abendlandes  handelnd  oder  leidend 
Teil  nehmen,  wird  auch  eine  kurze  Uebersicht  ihrer  früheren  Entwicklung 
gegeben.  In  dem  Vordergrund  der  Darstellung  steht  immer  das  Volk,  das 
ah  der  Spitze  der  europäischen  Entwicklung  steht,  dessen  Thaten  und 
Zustände  den  gröszten  Einflusz-  auf  andere  Völker  haben,  und  in  seine 
Geschichte  wird  die  der  übrigen  episodenartig  an  passenden  Stellen  ein- 
gefügt, in  der  Regel  da,  wo  sie  mit  dem  Hauptvolke  in  eine  weHhisto- 
rische  Berührung  kommen,  manchmal  aber  auch  in  einer  Zeit,  wo  ihre 
Zustände  durch  ihren  Contrast  oder  ihre  Analogie  Anlasz  zu  einer  inter- 
essanten Vergleichung  bieten.  Die  Frage,  welchem  Volke  in  jeder  Pe- 
riode der  Vorrang  der  geschichtlichen  Betrachtung  einzuräumen  ist,  läszt 
sich  leicht  entscheiden.   Während  des  Mittelalters,  ja  bis  zum  Ende  des 


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flede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.  283 

Refermationszeitalters  ist  unstreitig  unser  deutsches  Volk  zu  dieser  Ehre 
berechtigt,  wenn  auch  längere  Zeit  der  Herscher  auf  dem  Stuhle  Petri 
die  eigentliche  Hegemonie  in  Europa  besitzt.  Nach  der  Regierung  Karl's  V 
ist  bis  zum  dreiszigjährigen  Krieg  die  Geschichte  Spaniens  diejenige,  um 
welche  sich  die  der  Niederlande  und  Englands,  die  von  Frankreich  und 
von  Deutschland  gruppieren.     Nach  dem  westphälischen  Frieden  möge 
Frankreich  den  Reigen  fahren,  bis  nach  dem  Zeitalter  Ludwig's  XIV  noch 
vor  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  ein  herlicher  deutscher  Held  und 
König  unser  Volk  wieder  in  den  Vordergrund  der  weltgeschichtlichen 
Erzählung  führt.    Wird  durch  die  eben  geschilderte  Gruppierung  der  ver- 
schiedenen Völker  nach  dem  Maszstabe  ihrer  jeweiligen  weltgeschicht- 
lichen Stellung  schon  die  Massenhaftigkeit  des  historischen  Materials  er- 
heblieh gemindert,  so  ist  doch  auch  im  Einzelnen  immer  zu  prüfen,  ob 
Thatsachen  und  Personen,   die  nach  pedantischem  Schulgebrauch   von 
einem  Lehrbuch  in  das  andere  übergehen,  so  viel  objectives  geschicht- 
liches Interesse  besitzen,  oder  auch  so  viel  subjective  Bedeutung  für  die 
Jugend  haben  können ,  dasz  sie  einer  Erwähnung  in  dem  weltgeschicht- 
lichen Unterricht  eines  Gymnasiums  werth  sind.    Nach  meinem  Dafür- 
halten dürften  gar  manche  Potentaten,  die  in  unseren  Schulbüchern  noch 
immer  ihr  kümmerliches  Dasein  fristen,  endlich  aus  unserer  Universal* 
geschichte  mit  ihren  Namen  verschwinden.    Auch  an  Schlachten  werden 
wir  wahrlich  keinen  Mangel  leiden,  wenn  alle  diejenigen  unerwähnt  blei- 
ben ,  die  auf  den  Gang  und  besonders  auf  die  Entscheidung  eines  Krieges 
keinen  bedeutenden  Einflusz  hatten  und  die  ebensowenig  durch  auszer- 
ordentliche  Beweise  von  Talent  und  Heldenmut  die  Teilnahme  der  Jugend 
erwecken  können.   Und  geschieht  etwa  den  Künstlern,  den  Dichtern  und 
Gelehrten  vergangener  Jahrhunderte  Unrecht,  wenn  ihrer  Bestrebungen 
nur  im  Allgemeinen  gedacht,  aber  ihre  genauere  Würdigung  und  die  Auf- 
zählung ihrer  Werke  speciellen  Disciplinen  überlassen  wird?   Die  päda- 
gogische Sichtung  des  traditionellen  Materials  und  jene  Beschränkung  des 
geschichtlichen  Gebiets,   das  wir  mit  unseren  Schülern  durchwandern, 
verschaffen  uns  einen  doppelten  Vorteil.    Sie  räumen  aus  der  historischen 
Darstellung   eine  Menge  gleichgültiger  Notizen  hinweg,    durch  welche 
schon  Mancher  auf  die  sonderbare  Meinung  gekommen  ist,  dasz  die  Ge- 
schichte etwas  Langweiliges  sei,  und  sie  machen  es  möglich,  die  wirk- 
lich wichtigen  und  fruchtbaren  Partien  so  zu  behandeln,  wie  es  der  Auf- 
gabe der  Geschichte  und  dem  Wesen  der  Jugend ,  der  reiferen  besonders, 
entsprechend  ist,  nemlich  mit  einer  gröszeren,  doch  immer  masz vollen 
Ausführlichkeit.    Da  werden  freilich  immer  viele  Windungen  und  Ver- 
schlingungen des  geschichtlichen  Werdens  übergangen,  und  oft  wird  eine 
Reihe  interessanter  einzelner  Thatsachen  nur  durch  einen  zusammenfas- 
senden allgemeinen  Ausdruck  angedeutet.    Aber  im  Ganzen  kann  doch  die 
Erzählung  eine  richtige,  deutliche  Vorstellung  von  wichtigen  Thaten  und 
Begebenheiten,  von  ihrem  Gausalzusammenhang  und  ihrem  inneren  Ver- 
laufe erwecken.     Sie  kann  bei  groszen  weltgeschichtlichen  Situationen 
einen  Augenblick  verweilen ,  kann  einzelne  Züge  bieten ,  die  auf  die  Bil- 
dungsstufe eines  Zeitalters ,  auf  die  Bestrebungen  eines  Jahrhunderts  ein 

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284  Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums. 

helles  Licht  fallen  lassen.  Sie  kann  vor  Allem  den  Lieblingen  der  Jugend, 
groszen  Persönlichkeiten,  auf  die  sie  mit  Staunen,  vielleicht  mit  Bewunde- 
rung und  Begeisterung  blickt,  das  ihnen  gebührende  Recht  zu  Teil  werden 
lassen.  Denn  haben  auch  für  den  Historiker  die  Ereignisse  mehr  Bedeu- 
tung, als  die  Personen,  fesseln  seinen  Blick  besonders  die  objectiven 
Mächte,  als  deren  Vertreter  hervorragende  Menschen  handeln  und  dulden, 
so  ist  es  doch  bei  der  Jugend  zunächst  die  Teilnahme  für  auszerordenl- 
liche  Persönlichkeiten,  die  ihr  Herz  für  die  Geschichte  gewinnt  und 
bei  Vielen  auch  vorhersehend  das  Interesse  an  ihr  lebendig  erhält.  Doch 
unwillkürlich  bin  ich  von  der  Besprechung  der  Frage,  welcher  Teil  der 
Geschichte  in  der  ersten  Ciasse  eines  Gymnasiums  zu  behandeln  sei,  zu 
einer  Schilderung  dieser  Behandlung  selbst  übergegangen.  Gestatten  Sie 
mir,  ehe  ich  darin  fortfahre,  noch  eine  kurze  Betrachtung,  die  uns  bei 
unserem  weiteren  Gange  leiten  soll.  Gar  Mancher  meint  wol,  da§z  die 
Aufgabe  des  geschichtlichen  Unterrichts  auf  dem  Gymnasium  nur  sei ,  ein 
gewisses  Quantum  historischen  Wissens  der  Jugend  beizubringen,  alles 
Weitere  müsse  man  der  Universität  und  besonders  dem  reiferen  Mannes- 
alter überlassen.  Ich  verkenne  nicht  die  Wahrheit,  die  in  der  Behauptung 
liegt,  dasz  das  eigentliche  historische  Studium  Männer  verlangt;  aber  wir 
wollen  doch  nicht  übersehen,  datez  dieses  Studium  auch  Männer  bildet, 
dasz  es  nicht  rathsam  ist,  dem  akademischen  Trieunium  und  dem  späteren 
Leben  zu  viel  zu  überlassen,  und  dasz  die  Schule  jedenfalls  zu  leisten  hat, 
was  ihres  Amtes  ist.  Das  Gymnasium  hat  aber  durch  allen  seinen  Unter- 
richt auf  die  Wissenschaft  vorzubereiten,  und  die  specielle  Erziehung  für 
das  wissenschaftliche  Studium  musz'  zugleich  mit  einer  bildenden  und  er- 
ziehenden Einwirkung  auf  das  ganze  innere  Leben  der  Jugend  verbunden 
sein.  Daraus  ergibt  sich  die  Aufgabe  des  geschichtlichen  Unterrichts.  Er 
soll  allerdings  *ien  Schülern  zunächst  zum  sicheren  Besitz  werth- 
voller  historischer  Kenntnisse  verhelfen;  aber  er  soll  in  ihnen 
auch  ein  lebendiges  Interesse  an  dem  geschichtlichen  Le- 
ben der  Vorzeit  erwecken,  er  soll  ihnen  Anleitung  zur  rech- 
ten Beschäftigung  mit  der  Geschichte  geben,  damit  ihre  späte- 
ren Studien  für  sie  wirklich  fruchtbar  werden,  und  er  soll  endlich  das 
gemeinsame  Ziel  alles  Unterrichts,  die  geistige  und  die  sitttlich- 
religiöse  Bildung  der  Jugend  nie  aus  den  Augen  verlieren. 
Welch  wichtigen  Einflusz  musz  aber  diese  vierfache  Verpflichtung  auf  die 
Darstellung  des  Lehrers  üben!  In  Beziehung  auf  die  historischen  Kennt- 
nisse, die  er  den  Schülern  verschaffen  soll,  verlange  ich  hauptsächlich, 
dasz  sie  wirklich  das  Prädicat  ^historisch*  verdienen,  dasz  also  seine  Mit- 
teilungen in  Bezug  auf  einzelne  Thatsachen,  wie  in  der  ganzen  Auffassung 
geschichtlicher  Ereignisse  und  Personen  möglichst  treu  d.  h.  in  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Resultaten  der  historischen  Wissenschaft  sind.  Daraus 
folgt  natürlich,  dasz  er  sein  Wissen  aus  den  allerdings  sehr  umfangrei- 
chen Werken  unserer  groszen  Historiker  schöpfen  musz ,  die  auf  Grund 
sorgfaltiger  Quellenforschung  uns  ein  kritisch  gereinigtes  Bild  der  Ver- 
gangenheit bieten,  aber  nicht  aus  populären  Geschichtswerken,  aus  Lehr- 
büchern für  Gymnasien  und  höhere  Bürger  -  und  Töchterschulen.    Denn 


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Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.  285 

wie  unzuverlässig  die  meisten  dieser  populären  Bücher  sind,  weisz  Jeder, 
der  bei  den  groszen  Meistern  der  Wissenschaft  in  die  Schule  geht.  Ich 
will  von  vielen  Beispielen  nur  eines  anführen ,  das  allerdings  für  mich  das 
frappanteste  -ist.  Ist  nicht  die  bekannte  Darstellung  des  ersten  Kreuzzugs, 
nach  welcher  der  Mönch  Peter  von  Amiens  als  gottgesandter  Apostel  der 
eigentliche  Urheber,  Gottfried  von  Bouillon,  der  golterwählte  Held,  der 
Allen  überlegene  ruhmgekrönte  Agamemnon  dieses  Zugs  und  der  Nor- 
manne Tancred  ein  Ideal  aller  ritterlichen  und  menschlichen  Tugenden 
ist,  ist  sie  nicht  noch  heut  zu  Tage  in  unseren  Schulbüchern  die  übliche? 
Aber  schon  vor  zwanzig  Jahren  hat  Sybel  in  einer  meisterhaften  Schrift 
auf  Grund  der  echten  zuverlässigen  Quellen  ein  wesentlich  anderes,  wirk- 
lich geschichtliches  Bild  des  ganzen  Kreuzzuges  und  seiner  Hauptpersön- 
lich&eiten  geliefert,  und  in  der  Wissenschaft  gelten  seine  Resultate  ohne 
Widerspruch.  Sollen  nun  die  Schulen,  die  auf  die  Wissenschaft  vorbe- 
reiten, an  der  antiquierten  populären  Tradition  festhalten?  Man  sage 
nicht,  dasz  ja  nicht  so  viel  darauf  ankomme,  wenn  die  Schulhistorie  auch 
nicht  immer  mit  der  Wissenschaft  im  vollen  Einklang  stehe. 'Nein,  es 
gilt  den  geschichtlichen  Wahrheitssinn  in  der  studierenden  Jugend  zu  er- 
wecken und  zu  pflegen ,  sie  zu  gewöhnen,  dasz  sie  auch  bei  ihrer  späte- 
ren Beschäftigung  mit  geschichtlichen  Dingen  vor  Allem  nach  Wahrheit, 
nach  rechter  Treue  in  der  Auffassung  des  Geschehenen ,  des  Wirklichen 
strebt.  Daher  finde  ich  es  auclj  rathsam,  dasz  populäre  Entstellungen 
der  geschichtlichen  Wahrheit  ausdrücklich  immer  als  solche  bezeichnet 
werden. 

Ueber  das  Verfahren,  das  anzuwenden  ist,  um  der  reiferen  Jugend 
Interesse  an  der  Geschichte  einzuflöszen ,  habe  ich  vorhin  schon  Andeu- 
tungen gegeben;  ich  füge  jetzt  noch  einige  Ergänzungen  hinzu.  Die 
Hauptbedingung,  die  der  Lehrer  zu  erfüllen  hat,  um  den  geschichtlichen 
Indifferentismus  aus.  jugendlichen  Seelen  zu  bannen,  ist  jedenfalls  die, 
dasz  er  selbst  ein  lebendiges  sittliches  Und  wissenschaftliches  Interesse 
für  den  Gegenstand  seiner  Vorträge  besitzen  musz.  Nur  wer  selbst  den 
fesselnden  Reiz  des  geschichtlichen  Studiums  empfunden  hat,  kann  Andere 
dafür  gewinnen.  Nur  wer  das  Grosze  bewundern  und  das  Schlechte  has- 
sen, die  Gefühle,  die  ein  Menschenherz  oder  ganze  Nationen  in  längstent- 
schwundener Zeit  bewegten,  jetzt  noch  nachempfinden  kann,  wer  ergrif- 
fen von  den  Ideen,  die  im  Leben  der  Völker  walten,  mit  innerer  Spannung 
und  Bewegung  dem  groszen  Drama  der  Weltgeschichte  folgt,  nur  der  ge- 
winnt es  über  sich,  unter  Leitung  wissenschaftlicher  Forscher  in  geschicht- 
liche Situationen,  in  bedeutende  Persönlichkeiten,  in  einzelne  Ereignisse 
und  in  eine  Reihe  von  Thaten  sich  so  hineinzudenken ,  dasz  er  selbst  ein 
Bild  davon  gewinnt  und  Anderen  eine  lebensvolle  Anschauung  zu  geben 
vermag.  Und  Anschauungen ,  welche  die  Phantasie  der  Jugend  beschäf- 
tigen, regen  zugleich  ihr  Gemüt  und  somit  ihr  Interesse  an ,  zumal  wenn 
innere  Teilnahme  das  erzählende  Wort  beseelt  Freilich  soll  diese  lebens- 
volle Anschaulichkeit  der  Erzählung  nicht  etwa  eine  gleichmäszige  und 
ununterbrochene  sein ;  oft  hat  mit  ihr  die  kürzere  Form  der  klaren  über- 
sichtlichen Darstellung  der  allerwichtigsteu  Facta  zu  wechseln.   Und  dann 

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286  Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums. 

meine  man  nicht  etwa ,  dasz  auf  der  Stufe ,  von  der  wir  reden ,  Alles  er- 
reicht sei,  wenn  man  in  lebendiger  Schilderung  Charaktere  und  Zustände, 
die  Thaten  und  groszen  Conflicte  der  Vorzeit  vergegenwärtigt.  In  streb- 
samen Zöglingen  der  Prima  verlangt  auch  schon  der  denkende  Geist  Be- 
friedigung und  diese  musz  ihm  zu  Teil  werden.  Denn  zur  Wissenschaft 
erzieht  man  ja  besonders  dadurch,  dasz  man  zum  Denken  anregt  und 
darin  übt.  Und  fürwahr  reicher  Stoff  zum  Denken  wird  in  den  histori- 
schen Stunden  den  Schülern  geboten,  wenn  der  Lehrer,  eingedenk  der 
Zwecke,  die  das  Gymnasium  verfolgt,  sie  auch  zu  geschichtlichem  Ver- 
ständnis und  geschichtlicher  Erkenntnis  zu  führen  sucht.  Denn  dasz 
er  hiernach  streben  soll,  ergibt  sich  aus  seiner  Pflicht,  der  Jugend  An- 
leitung zur  rechten  Beschäftigung  mit  der  Geschichte  zu  geben.  Nur  der 
hat  ja  wirklichen  Nutzen  von  historischen  Studien,  der  nicht  bloss  ge- 
schichtliche Facta  weisz,  sondern  sie  auch  versteht,  also  diesubjecti- 
ven  und  objectiven  Kräfte,  deren  Resultate  sie  sind,  ihre  oft  so  weitgrei- 
fenden Wirkungen  und  ihre  innere  Bedeutung  kennt.  Und  nicht  der  wird 
innerlich  bereichert  durch  das  Wissen  von  weltgeschichtlichen  Männern, 
der  blos  Urteile  über  sie  inne  hat,  denen  die  Prämissen  fehlen,  sondern 
vielmehr  nur  derjenige,  der  darnach  strebt,  ihre  Begabung  und  ihren 
Charakter,  ihren  Zusammenhang  mit  ihrer  Zeit  und  den  individuellen  Ty- 
pus ihres  Wesens,  die  Richtung  ihres  Strebens,  die  Motive  ihres  Handelns, 
die  Resultate  ihres  Lebens  zu  erkennen.  Beides  aber,  Thaten  und  Perso- 
nen treten  erst  in  das  rechte  Licht,  wenn  man  über  das  Einzelne  und  Be- 
sondere sich  erhebend  das  Ganze  in  das  Auge  faszt,  dem  sie  angehören, 
wenn  man  in  dem  ewigen  Wechsel  des  Geschehens  die  bald  auf-  bald  äb- 
wärtssteigende  Bewegung  einer  weltgeschichtlichen  Entwicklung  unper- 
sönlicher, zum  Teil  nur  idealer,  Mächte  erkennt.  Schon  diese  flüchtigen 
Andeutungen  zeigen,  wie  schwierig  es  ist,  einen  wichtigen  Abschnitt  der 
Geschichte  zu  verstehen ,  und  kaum  brauche  ich  ausdrücklich  zu  sagen, 
dasz  ich  weit  davon  entfernt  bin,  in  dieser  Beziehung  dem  Unterricht  auf 
einem  Gymnasium  ein  zu  hohes  Ziel  zu  stecken.  Man  möge  bei  dem 
Streben ,  die  Schüler  zu  einem  gründlichen  Verständnis  der  Hauptpartien 
der  mittleren  und  neueren  Geschichte  zu  führen ,  soweit  gehen ,  als  die 
Zeit,  über  die  man  zu  verfügen  hat;  die  Begabung  und  der  Eifer  der 
Classe  und  die  Kenntnisse,  die  man  voraussetzen  darf,  es  gerade  zulassen. 
Aber  die  Tendenz  musz  der  Unterricht  verfolgen,  den  jugendlichen  Geist 
zu  einem  Verständnis  historischer  Facta  zu  erheben  und  an  ein  Streben 
nach  demselben  zu  gewöhnen.  Und  er  kann  ja  wol  auch  ohne  besonde- 
ren Aufwand  an  Zeit  schon  Manches  erreichen ,  wenn  z.  B.  der  Stoff  im- 
mer so  geordnet  wird ,  dasz  die  Schüler  ein  Bild  der  Weltlage  oder  einer 
nationalen  Situation  vor  dem  Eintreten  wichtiger  Ereignisse  gewinnen, 
wenn  bei  der  Auswahl  der  specielleren  Mitteilungen ,  der  biographischen 
Züge  das  objeetive  Interesse  immer  das  überwiegende  ist,  wenn  neben 
den  Hauptbegebenheiten  einer  jeden  Epoche  auch  klar  und  bestimmt  die 
Gegenstände  und  die  gemeinsamen  Bestrebungen  hervorgehoben  werden, 
die  in  ihnen  zu  Tage  treten  usw.  Auch  anregende  Fragen,  welche  die 
geschichtliche  Erzählung  unterbrechen  und  beleben,  können  bisweilen 


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Rede  üb.  den  Vortrag  d.  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.  287 

gute  Dienste  thun,  und  statt  längerer  Reflexionen  gentigen  einige  Bemer- 
kungen, um  die  Eigentümlichkeit  einer  historischen  Erscheinung,  die 
Wichtigkeit  weltgeschichtlicher  Momente,  die  Resultate  vieljahriger  Con- 
flicte  wenigstens  anzudeuten.  Ganz  aber  ist  aus  dem  Gymnasium  das 
Streben  nach  jenem  tieferen  Verständnis  zu  verbannen ,  das  der  Philoso* 
phie  und  der  Theologie  der  Geschichte,  freilich  in  noch  unerreichter 
Ferne,  vorschwebt.  Der  Schule  frommt  nur  eine  praktische  populäre 
Geschichtsphilosophie.  Jene  ewigen  sittlichen  Gesetze  des  Völkerlebens 
sollen  Jünglinge  ebenso  gut,  wie~Zahlen  und  Thatsachen,  durch  den  ge- 
schichtlichen Unterricht  kennen  lernen;  geschichtliche  Erfahrungssätze 
sollen  sie  sich  teils  abstrahieren  teils  in  dem  Vortrag  des  Lehrers  ausge- 
sprochen finden,  Wahrheiten,  deren  Summe  man  als  geschichtliche  Le- 
bensweisheit bezeichnen  kann.  Denn  wahrlich  der  hat  noch  nicht  genug 
Geschichte  gelernt,  der  nicht  aus  ihr  Wahrheiten  gelernt  hat,  die  heute 
noch,  wie  vor  Jahrhunderten  und  Jahrtausenden,  unverbrüchliche  Geltung 
haben,  die  uns  für  unser  eignes  Handeln,  wie  für  die  Betrachtung  des  ge- 
schichtlichen Lebens  in  der  Gegenwart  als  leitende  Grundsätze  dienen 
können. 

Nach  Allem,  was  ich  bis  jetzt  vorgetragen  habe,  können  Sie  wol  er- 
warten, dasz  ich  bei  der  Alternative,  die  in  der  früher  erwähnten  Schrift 
zur  Entscheidung  vorgelegt  wird:  €ob  historisches  Wissen  oder  histo- 
rische Bildung?9  mich  mit  ihrem  Verfasser  für  die  auf  positiven  Kennt- 
nissen ruhende  historische  Bildung  entscheide,  die  von  ihm  treffend  als 
Bildung  durch  die  Geschichte  für  die  Geschichte  bezeichnet  wird.  Ich  ver- 
binde aber  mit  dieser  Bildung  für  die  Geschichte  weniger  hohe  Vorstel- 
lungen, als  der  so  eifrige  Kämpfer  für  eine  bessere  Gestaltung  unseres 
geschichtlichen  Unterrichts.  Denn  während  Campe  die  Schüler  auf  den 
Wegen  der  historischen  Hermeneutik  und  der  historischen  Kritik  dahin 
bringen  will,  dasz  sie  befähigt  und  geneigt  sind,  die  Thätigkeit  eines 
geschichtlichen  Forschers  zu  üben,  habe  ich  nur  das  Ziel  im  Auge,  dasz 
alle  unsere  Schüler  rechte  Freunde  und  Kenner  der  Geschichte  werden. 
Ich  weiche  auch  noch  in  einem  andern  Punkte  von  ihm  ab ,  dem  letzten, 
über  den  ich  mich  auszusprechen  habe.  Er  meint ,  dasz  die  Einwirkung 
auf  die  sittliche  Bildung  der  Jugend  bei  dem  geschichtlichen  Unterricht 
nicht  das  Ziel  eines  bewusten  Strebens  sein  könne ;  sittliche  Bildung  sei 
zwar  die  schöne  Frucht,  aber  nicht  die  Aufgabe  dieses  Unterrichts.  Und 
allerdings  kann  man  nicht  leugnen ,  dasz  die  Hauptquelle  der  sittlich  und 
religiös  bildenden  Kraft,  welche  der  Unterricht  in  der  Geschichte  zu  ent- 
wickeln vermag ,  in  dem  Objecte ,  das  gelehrt  wird ,  in  der  reichen  Fülle 
des  geschichtlichen  Lebens  liegt,  nicht  in  den  Zuthaten,  die  der  Lehrer 
beifügt.  Allerdings  bin  ich  überzeugt,  dasz  meiner  Schilderung  der  histo- 
rischen Vorträge  für  die  reifere  Jugend  ein  wesentliches  Moment  fehlen 
würde , .  wenn  ich  nicht  auch  die  Frage  beantworten  wollte :  wie  soll  im 
Kreise  von  Jünglingen ,  in  denen  gerade  ihr  inneres  sittliches  Leben ,  ihr 
Charakter  sich  gestalten  will,  und  bei  einer  Wissenschaft,  die  mit  der 
sittlich-religiösen  Natur  der  Menschen  in  so  inniger  Beziehung  steht,  und 
deren  Behandlung  sogar  verderblich  wirken  kann,  wenn  sie  von  verwerf- 


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288  Rede  üb.  den  Vortrag  der  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums. 

liehen  Tendenzen  beherscht  wird,  wie  soll  hier  der  Lehrer  seine  Pflicht 
als  Erzieher  erfüllen?  Die  kürzeste  Antwort,  die  ich  auf  diese  Frage  geben 
kann,  ist:  er  soll  mit  dem  Sinne  für  das  Wirkliche,  der  die  Voraus- 
setzung und  die  Frucht  des  geschichtlichen  Studiums  ist,  einen  gesunden 
idealen  Sinn  vereinigen;  aber  nie  darf  er  den  Nebenzweck  zur  Haupt- 
sache machen  wollen.  Also  nicht  eine  geschichtliche  Darstellung  mit  vor- 
wiegend religiöser  Tendenz ,  mit  dem  Streben  erbaulich  zu  wirken ,  da, 
wo  es  sich  zunächst  um  Verständnis  handelt.  Nicht  ein  engherziges  Mei- 
stern groszer  Männer  nach  dem  einseitigen  Maszstab  der  persönlichen 
Moral,  ohne  volle  Erkenntnis  der  realen  Verhältnisse,  ohne  die  Bescheiden- 
heit, die  überhaupt  beim  sittlichen  Urteile  ziemt!  Auch  nicht  ein  Hin- 
arbeiten auf  Erregung  eines  patriotischen  Enthusiasmus ,  auf  Kosten  der 
geschichtlichen  Wahrheit  und  zum  Nachteil  einer  gründlichen  Erkenntnis ! 
Fern  mögen  alle  schönkHngenden  Phrasen  und  Declamationen,  aller  kirch- 
liche und  politische  Parteigeist  der  Schule  bleiben!  Aber  durchdrungen 
von  christlicher  Weltanschauung  und  Gesinnung  wird  derjenige,  der  zum 
wirklichen  Segen  der  Jugend  Geschichte  lehrt,  den  hohen  Werth,  die 
geistige  Macht  des  christlich -religiösen  Lebens  auch  in  unvollkommener 

.  Erscheinung  jederzeit  anerkennen ;  er  wird  bei  der  Erzählung  von  den 
Thaten  und  Schicksalen  der  Menschen  immer  das  providentielle  Walten 
Gottes  voraussetzen  und  er  wird  zu  rechter  Zeit  auch  andeuten,  wie  die- 
ses göttliche  Walten  nicht  nur  durch  einzelne  Fügungen,  sondern  auch 
als  eine  ewige  unwandelbare  sittliche  Weltordnung  sich  offenbart.  Der 
sittliche  Geist,  der  den  Unterricht  beseelen  musz,  wird  sich  auch  ohne 
Reflexionen  äuszern  in  der  freudigen  Anerkennung  edler  hochherziger 
Thaten,  groszer  sittlicher  Charaktere,  wie  in  der  entschiedenen  Verwer- 
fung alles  dessen ,  was  die  Menschenwürde  entehrt.  Er  wird  sich  zeigen 
auch  in  der  Werthschätzung  aller  der  christlichen  Güter,  ohne  deren 
Besitz  ein  Volk  nur  noch  ein  klägliches  Dasein  fristet.  Und  kann  nicht 
auch  der  patriotische  Sinn  eines  Lehrers  der  Geschichte  ohne  Beeinträch- 
tigung der  historischen  Erkenntnis  für  die  Belebung  jener  Liebe  zu  unse- 
rem Volke  und  unserem  Vaterlande  wirken,  die  wol  in  eines  jeden  deut- 
schen Jünglings  Brust  in  unserer  Zeit  sich  regt?  Ja  er  kann  und  soll 
mit  innerer  Wärme  und  Freudigkeit  von  der  einstigen  Herlichkeit  des 
deutschen  Volkes  und  seiner  Erhebung  aus  der  tiefsten  Schmach  in  un- 
serem Jahrhundert,  von  seinen  Groszthaten  auf  dem  Felde  der  Ehren  und 
auf  dem  Gebiete  des  Geistes  und  der  Gultur  erzählen.  Er  soll,  auch  wenn 
er  von  den  traurigsten  Zeiten  unserer  Geschichte  spricht,  doch  wieder  die 

'  unverwüstliche  Lebenskraft  unseres  Volkes  zeigen  und  dadurch  jenes  Ver- 
trauen zu  der  Zukunft  unseres  Vaterlandes  erwecken,  ohne  welches  rechte 
Liebe  zu  ihm  nicht  möglich  ist.  Er  soll  endlich,  um  nur  Eines  noch' her- 
vorzuheben, auch  bei  der  Geschichte  anderer  Nationen  wie  bei  der  eige- 
nen ,  den  Männern  immer  seine  Sympathien  zuwenden,  die  ihr  Leben  dem 
Wohle  des  Volkes  geweiht ,  die  das  vaterländische  und  nationale  Gefühl 
ihres  Volkes  befriedigt  haben. 

Ich  habe  Ihnen  nunmehr  das  Bild  geschichtlicher  Vorträge  in  der 
Prima  des  Gymnasiums  geschildert,  das  mir  vor  der  Seele  steht.   Und 


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Hede  ob.  den  Vortrag  der  Geschichte  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.  289 

nun ,  da  dies  geschehen ,  kann  ich  mich  nicht  des  Gedankens  erwehren, 
wie  schwer  es  doch  eigentlich  ist,  ein  Lehrer  der  studierenden  Jugend  zu 
sein.  Ist  es  doch  schon  eine  überaus  schwierige  Aufgabe,  die  von  mir  auf* 
gestellte  Theorie  einigermaszen  zu  verwirklichen.  Aber  wie  niederschla- 
gend ist  erst  die  Thatsache,  dasz  selbst,  wenn  dies  Einem  gelingen  sollte, 
doch  möglicher  Weise  die  Resultate  des  geschichtlichen  Unterrichts  noch 
ungenügend  sein  können.  Ich  erinnere  Sie  daran,  dasz  die  Geschichte 
eine  Disciplin  ist ,  bei  der  so  viel  als  bei  irgend  einer  andern  geübt  und 
repetiert  werden  musz,  damit  eine  nachhaltige  Wirkung,  ein  wirklich  be- 
friedigender Erfolg  erzielt  werde.  Und  in  der  Prima,  der  Classe,  die  den 
geschichtlichen  Unterricht  des  Gymnasiums  abschlieszt,  sind  ganz  beson- 
ders vielseitige  repetitorische  Hebungen  nötig,  wenn  ihre  Zöglinge  die 
früher  erworbene  Kenntnis  der  alten  Geschichte  nicht  verlieren,  sondern 
eher  bereichern  und  zugleich  das  in  dem  zweijährigen  Gursus  behandelte 
historische  Material  sich  völlig  aneignen  und  wirklich  beherschen  sollen. 
An  solche  Uebungen  freilich,  die,  wenn  sie  recht  betrieben  werden,  auch 
anziehend  und  geistesbildend  sind,  können  nur  diejenigen  Gymnasien  den- 
ken, die  für  den  geschichtlichen  Unterricht  in  der  Prima  drei  Stunden  ver- 
wenden. Doch  ich  verlasse  einen  Gegenstand,  der  wol  Stoff  genug  für 
einen  besonderen  Vortrag  bietet.  Leider  musz  ich  mir  es  auch  versagen, 
Euch,  liebe  Primaner,  noch  zu  zeigen ,  wie  Ihr  durch  Leetüre  und  Privat- 
studium und  gemeinsames  jugendliches  Streben  dazu  beitragen  könnt, 
dasz  Ihr  einen  werthvolien  Besitz,  dessen  vollen  Segen  Ihr  erst  als  Män- 
ner erkennen  werdet,  den  Besitz  einer  tüchtigen  geschichtlichen  Bildung 
Euch  erwerbet.  Aber  Eines  kann  ich  in  dieser  festlichen  Stunde  in  Ge- 
genwart so  vieler  Gönner  und  Freunde  unserer  Anstalt  nicht  unterlassen. 
Es  drängt  mich  mit  der  Anerkennung  des  Eifers,  den  Ihr  an  den  Tag  legt, 
ein  Wort  der  Ermunterung  zu  verbinden,  ein  Wort,  das  ich  zwar  vor 
Euch  ausspreche,  das  aber  eigentlich  einer  der  Meister  unserer  geschicht- 
lichen Litteratur  an  Euch  richtet.  'Die  Wissenschaft  der  Geschichte'  sagt 
der  Historiker  Giesebrecht*)  'möchten  wir  unserer  Jugend  an  das  Herz 
legen  und  das  Studium  derselben  nicht  als  eine  Arbeit  des  Zwanges,  son- 
dern als  den  Gegenstand  freier  liebevoller  Thätigkeit  von  ihr  getrieben 
wissen Denn  es  ruht  ein  groszer  innerer  Segen  auf  demsel- 
ben; es  macht  die  Seele  weit,  das  Herz  fest  und  lehrt  das  Grosze  von 
dem  Kleinen,  das  Bleibende  von  dem  Vergänglichen  scheiden.' 


*)  Vorrede  zur  Geschichte  der  deutschen  Kaiserzeit.  Bd.  I.  S.  XVI. 


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290  Ueber  tteu  Gymnasialzeichnenunterricht. 


Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht 

und  den  darauf  Bezug  habenden  Lehrplan  vom  2.  Oetober  1863. 


Den  Zeichnenunterricht  auf  Gymnasien  und  Realschulen  betreffend 
ist  am  2.  Oetober  v.  J.  eine  Verordnung  des  Herrn  Ministers  der  geist- 
lichen ,  Unterrichts  -  und  Mediciual  *  Angelegenheiten  erschienen ,  welche 
den  Lehr  plan  nebst  erläuternden  Bemerkungen  för  den  Unterricht 
selbst  und  eine  Instruction  für  die  Prüfung  der  Zeichnenleh- 
rer enthält.  Es  ist  selbstverständlich,  dasz  die  beteiligten  Lehrer  sich 
bemühen  werden,  den  neuerdings  an  sie  gestellten  Forderungen  nach 
Kräften  gerecht  zu  werden,  selbst  da,  wo  die  dem  Zeichenunterrichte 
günstigeren  Vorbedingungen ,  welche  man  bei  der  Aufstellung  des  Lehr- 
planes offenbar  im  Auge  hatte,  nicht  vorhanden  sind.  Inwiefern  dies  aber 
für  einen  Teil  der  erstgenannten  Anstalten ,  der  Gymnasien ,  erschwert  ist 
und  worin  hier  die  Abhülfe  zu  suchen  sei,  möge  dem  Unterzeichneten 
gestattet  sein,  in  nachstehenden  Erörterungen  darzulegen ,  die  zum  Teil 
freilich  nur  persönliche  Ansichten  wiedergeben ,  zum  andern  Teile  aber 
sich  auf  mehrjährige,  auf  den  Gebieten  der  Kunst  und  des  Gymnasial- 
unterrichts mit  aller  Scheu  vor  einseitiger  Auffassung  gesammelte  Er- 
fahrungen stützen. 

Dasz  man  bei  der  groszen  Mühe,  die  dem  Gymnasium  überwiesenen 
Lehrgegenstände  in  den  Stundenrahmen  einer  Woche  einzuzwängen,  trotz 
der  mancherlei  Unzuträglichkeiten,  welche  den  Gymnasien  in  früherer  Zeit 
in  diseiplinaracher  Hinsicht  aus  dem  Zeichnenunterrichte  erwachsen,  die- 
sem Lehrgegenstande  noch  immer  seine  Stelle  gelassen,  bat  den  einen 
Grund,  dasz  man  in  ihm  ein  nicht  zu  vernachlässigendes  pädagogisches 
Bildungsmittel  erkennt,  dasz  man  seine  Resultate  als  notwendiges  Erfor- 
dernis derallgemeinenBildung  ansieht.  Das  durch  den  neuen  Lehr- 
plan abgeänderte  Reglement  vom  14.  März  1831  sagt  in  dieser  Beziehung 
unter  1): 

eDer  Unterricht  im  Zeichnen  gehört  zu  den  allgemeinen  Bildungs- 
mitteln und  darf  daher  in  keiner  Schulanstalt  ganz  vernachlässigt 
werden.  Er  hat  den  Zweck ,  das  Auge  des  Knaben  und  Jünglings  zu 
üben ,  die  Dinge  um  ihn  her  in  dem  Charakteristischen  ihrer  Form  be- 
stimmt und  richtig  aufzufassen  ,  die  Fertigkeit  für  die  Darstellung  der- 
selben zu  gewähren,  und  zugleich  den  Sinn  für  die  Schönheit 
der  Formen  zu  beleben  und  auszubilden.  Es  ist  demnach  das 
reine  Naturzeichnen  der  Vorwurf  des  Zeichnenunterrichts  in  den  Gym- 
nasien und  anderen  ähnlichen  Schulanstalten.  Was  darüber  hinausgeht, 
die  Anleitung  und  Ausbildung  des  künftigen  Künstlers, 
liegt  nicht  in  seinem  Bereich,  sondern  bleibt  den  für  diesen 
Zweck  besonders  organisierten  Anstalten,  den  eigentlichen  Kunstschu- 
len, vorbehalten.' 


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lieber  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  291 

Das  Rescript  des  Ministers  d.  G.,  U.  u.  M.-Ang.  vom  24.  Oct.  1837 
sagt  in  derselben  Beziehung  unter  2) : 

'Die  Lehrgegenstände  in  den  Gymnasien ,  namentlich  die  deutsche ,  la- 
teinische   Sprache sowie  die  technischen  Fertig- 
keiten des  Schreibens,  Zeichnens  undSingens machen  die 

Grundlage  jeder  höheren  Bildung  aus  und  stehen  zu  dem 
Zwecke  der  Gymnasien  in  einem  ebenso  natürlichen  als  notwendigen 

Zusammenhange Es  kann  daher  von  diesen  Lehrgegenständen 

auch  keiner  aus  dem  in  sich  abgeschlossenen  Kreise  des  Gymnasial- 
Unterrichts  ohne  wesentliche  Gefährdung  der  Jugendbil- 
dung entfernt  werden ' 

Der  neue  Lehrplan  vom  2.  October  1803  beginnt  mit  den  Worten : 
'Der  Unterricht  im  Zeichnen  gehört  zu  den  allgemeinen  Bildungs- 
mitteln für  die  Jugend  und  ist  ein  integrierender  Teil  des  Lehr- 
planes aller  höheren  Schulen.' 

Nachdem  in  den  angeführten  Äeuszerungen  übereinstimmend  die  all- 
gemeine Bildung  als  letzter  Zweck  des  Unterrichts  hingestellt  worden,  ist " 
am  Schlüsse  der  ersteigerten  sogleich  hinzugefügt , 

'dasz  die  Anleitung  und  Ausbildung  des  künftigen  Künstlers  nicht  in 
seinem  Bereiche  liege'; 

Art.  13  der  'Bemerkungen'  zum  neuen  Lehrplane  sagt  in  dieser  Be- 
ziehung : 

'Der  Unterricht  im  Zeichnen  hat  sich  innerhalb  der  Grenzen  des  der 
Schule  eigenen  Gebietes  zu  halten.  Sie  hat  nicht  die  Aufgabe, 
Künstler  vorzubilden,  sondern  vielmehr,  die  Schüler  in  den  ele- 
mentaren Voraussetzungen  der  Kunst  zu  üben :  im  Verständnisse  der 
Formen,  Sicherheit  des  Blickes  und  Augenmaszes,  Festigkeit  und  Leich- 
tigkeit der  Hand.  Es  kommt  bei  dem,  was  die  Schüler  zeichnen,  we- 
niger darauf  an,  dasz  es  sich  malerisch  ausnehme,  als  dasz  es  cor- 
rect  sei.' 

Dennoch  sagt  Art.  1  des  abgeänderten  Reglements  (s.  oben), 

fDer  Unterricht habe  den  Zweck zugleich  den  Sinn 

für  die  Schönheit  der  Formen    zu  beleben  und   auszu- 
bilden', 
und  Art.  2  der  'Bemerkungen'  : 

rZu  den  Aufgaben  des  Zeichnenunterrichts  auf  höheren  Lehranstalten, 
insbesondere  auf  den  Gymnasien ,  gehört  auszer  der  Uebung  des  Auges 
und  der  Hand  die  Ausbildung  des  Schönheitssinnes  und  des 
ästhetischenUrteils.  Die  Schüler  sollen  durch  planmäszig  gelei- 
tete Uebungen  zugleich  die  charakteristischen  Formen  der  Dinge  auf- 
fassen lernen  und  zu  einem  verständigen  Anschauen  der 
Natur  und  der  Meisterwerke  der  bildenden  Kunst  ge- 
führt werden'; 
ferner  Art.  4  ebendaselbst: 

e Zum  Behuf  der  Bildung  des  ästhetischen  Sinnes 

und  im  Zusammenhange  mit  den  übrigen  Gymnasialstudien  sind  die 
Vorbilder  vorzugsweise  der  antiken  Kunst  zu  entlehnen,  und  auf 


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292  Ueber  den  Gyinnasialzcichnenunterricht. 

den  oberen  Stufen  Gelegenheit  zu  nehmen ,  die  Schüler  nicht  nur  mit 
den  antiken  Säulenordnungen,  sondern  auch  mit  einigen 
Hauptwerken  der  classischen  Sculpturund  Architectur 
bekannt  zu  machen.' 

Indem  man  also  mit  vollem  Rechte  für  die  Schule  einerseits  die  Auf- 
gabe festhält,  dasz  sie  allgemeine  Bildungs-  und  nicht  besondere  Berufs- 
zwecke verfolge,  will  man  doch  ausgesprochenermaszen  andererseits  nicht 
die  Vorteile  unbenutzt  lassen,  welche  für  die  Entwickelung  des  Schülers 
aus  der  Anregung  des  Kunstsinnes  hervorgehen  müssen,  und  gibt  damit 
zunächst  zu ,  dasz  es  sich  beim  Zeichnenunterricht  in  der  That  um  eine 
für  den  Schüler  vorteilhafte  Entlehnung  aus  dem  Gebiete  der  Kunst  han- 
delt; und  ferner,  dasz  dieser  Stoff  auf  die  natürlichste  Weise  durch  die 
Hand  derjenigen  darzureichen  sei ,  welche  auf  diesem  Gebiete  heimisch 
sind,  nemlich  die  Künstler. 

Der  Verwahrung  gegen  einen  einseitig  künstlerischen  Charakter  des 
Unterrichts  hätte  es  kaum  bedurft,  da  gegen  derartige  Bestrebungen  ein 
*  nur  zu  wirksames  Gegengewicht  in  den  diesen  Lehrgegenstand  selbst 
niederhaltenden  Schuleinrichtungen  liegt;  wenn  aber  andererseits  die  oben 
zuletzt  citierten  Anordnungen  geradezu  die  künstlerische  Seite  des  Unter- 
richts herausfordern ,  so  ist  mit  der  Erklärung ,  der  Unterricht  habe  nicht 
die  Aufgabe,  Künstler  vorzubilden,  hauptsächlich  wol  der  bei  Schul- 
männern von  Beruf  häufigen  Besorgnis  Ausdruck  gegeben,  dasz  der  Zeich- 
nenunterricht im  Allgemeinen  die  technische  Ausbildung  der  Hand  zu  sehr 
in  den  Vordergrund  stelle.  Im  eclatantesten  Falle  würde  dieses  Bestreben 
allenfalls  zu  einem  höheren  Grade  mechanischer  Kunstfertigkeit,  doch 
keineswegs  zur  Künstlerschaft  führen,  und  der  Vorwurf  gegen  den  unter- 
richtenden Lehrer  würde  nicht  dahin  zu  formulieren  sein,  dasz  er  das 
Gebiet  der  elementaren  Voraussetzungen  der  Kunst  überschritten  und  das 
der  Kunst  selbst  betreten  habe.  Indessen  sind  die  Schulmänner  von  Be- 
ruf, wenn  sie  zumal  den  in  Rede  stehenden  Lehrgegenstand  eben  nur  zu 
den  'technischen  Fertigkeiten*  gerechnet  wissen  wollen ,  daran  zu  erin- 
nern ,  dasz  das  Auffassungsvermögen  des  Schülers ,  wenn  dies  überhaupt 
nicht  zu  beschränkt  verliehen  ist,  um  so  schneller  reift,  je  dienstwilliger 
sich  die  Hand  zur  bildlichen  Wiedergabe  darbietet.  Die  Unvollkommenheit 
der  bildlichen  Wiedergabe  des  Gesehenen  bekundet  nicht  allein  den  Man- 
gel an  technischer  Fertigkeit;  sie  läszt  zugleich  die  Unvollkommenheit  der 
Wahrnehmung  vermuten.  Andererseits  beruht  die  erforderliche  Xorrect- 
heit'  der  Darstellung  nicht  auf  der  Erfüllung  gewisser  Aeuszerlichkeiten 
allein. 

Das  aus  dem  alten  Reglement,  dessen  Intentionen  zur  Zeit  durch 
das  Blühen  einer  besondern  Methode  begünstigt  zu  sein  schienen ,  in  den 
neuen  Lehrplan  mit  übergegangene  Bestreben ,  den  künstlerischen  Cha- 
rakter des  Unterrichts  durch  eine  Beimischung  geometrischen  Charakters 
zu  paralysieren ,  erklärt  sich  dem  Vorhergehenden  nach  zum  groszen  Teil 
aus  jener  Besorgnis  vor  der  bei  Künstlern  vermuteten  Neigung  zu  künst- 
lerisch-einseitigen Ansprüchen  an  die  Leistungen  ihrer  Schüler;  es  scheint 
auszerdem  aber  auch  auf  einer  gewissen  Nachgiebigkeit  gegen  auszerhalb 


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Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  293 

der  Schulkreise  erhobene  Anforderungen  zu  beruhen,  dasz  der  Gymnasial- 
zeicbnenunterricht  auch  das  geometrische  Zeichnen  umfassen  möge.  An 
sich  sind  diese  Forderungen,  wie  ein  Blick  auf  den  späteren  Studiengang 
der  Schüler  ergiebt,  welche  sich  der  Architcclur  oder  gewissen  anderen 
das  Zeichnen  anwendenden  Berufen  widmen,  vollkommen  berechtigt;  auch 
liegt  die  Verträglichkeit  und  der  gegenseitige  Nutzen  beider  Zweige  des 
Zeichnens  auf  der  Hand.  Wie  das  geometrische  Zeichnen,  welches  wegen 
der  dabei  erforderlichen  mathematischen  Vorkenntnisse  frühestens  in 
Quarta  beginnen  kann,  für  Sexta  und  Quinta,  gewissermaszen  als  Surro- 
gat zur  Ausbildung  der  Hand  und  des  Auges  bis  zum  Eintritt  der  nötigen 
Verstandesreife,  des  Vor  Unterrichtes  im  Freihandzeichnen  bedarf,  so  for- 
dert dieses  bei  dem  zu  einem  gewissen  Zeitpunkte  eintretenden  Unterricht 
in  der  Perspective  die  Dienste  des  geometrischen  Zeichnens.  Nur  können 
beide  Unterrichtszweige  nicht  gedeihen,  ja  sie  beschädigen  einer  den 
andern ,  wenn  sie  in  demselben  Zeitquantum  zugleich  gepflegt  werden 
sollen,  welches  sich  als  kaum  ausreichend  für  die  Förderung  nur  eines 
von  ihnen  erwiesen  hat.  Ueberhaupt  wäre  wol  das  Bestreben,  die  ersten 
Regungen  der  zeichnenden  Thätigkeit  darum  sei  tab  von  ihrer  natürlichen 
Richtung  zu  leiten,  weil  in  dieser  zufällig  zugleich  die  Ausgangspunkte 
für  den  Studiengang  des  spätem  Künstlers  von  Beruf  liegen,  der  Rücksicht 
unterzuordnen ,  dasz  man  durch  die  Bezeichnung  gewisser  Ziele ,  wie  die 
oben  angeführten  Art.  2  und  4  der  'Bemerkungen9  und  die  SS  4  und  5  des 
Lehrplanes  (Freihandzeichnen  nach  Gypsen  bis  zu  ausgeführten  Köpfen 
und  Teilen  des  menschlichen  Körpers),  sie  stecken ,  sich  zugleich  verbind 
lieh  gemacht  hat,  bis  dahin  die  entsprechende  Richtung  des  Unterrichts 
—  und  diese  ist  doch  ohne  Zweifel  die  künstlerische  —  zu  genehmi- 
gen. Es  ist  nur  folgerichtig,  wenn  man  es  vermeidet,  ihr  Wendungen 
zuzumuten ,  welche  ihr  nicht  eigentümlich  sind. 

Ergeben  sich  aus  dem  Vorhergehenden  Endzweck  und  Richtung 
des  Gymnasialzeichnenunterrichls,  so  bleibt  noch  der  einzuschlagende 
Weg,  die  Methode,  zu  erwägen  übrig. 

Wenigstens  über  die  beiden  Momente  ihrer  Aufgabe  mit  den  Päda- 
gogen von  Beruf  einig,  dasz  der  Zeichnen  Unterricht  bei  dem  Schüler  die 
Auffassung  des  durch  den  Gesichtssinn  Wahrnehmbaren  schärfen  und  läu- 
tern und  ihm  Anleitung  geben  müsse  zu  einer  allgemeinverständlichen 
graphischen  Wiedergabe  des  Aufgefaszten,  haben  die  in  diesem  Gegen- 
stande unterrichtenden  Lehrer,  neuerdings  meistens  Künstler,  durch  die 
vielfach  verschiedenen,  aus  den  Schuleiurichtungen  und  namentlich  aus 
dem  Mangel  an  Zeit  zu  Uebungen  erwachseuden  Hindernisse  hindurch,  im 
Ganzen  übereinstimmende  Wege  bis  zu  den  in  SS  4  u°d  5  des  Lehrplanes 
bezeichneten  Zielen  gefunden.  Warum  sie  von  den  in  dem  alten  Regle- 
ment vorgeschriebenen  sofortigen  Uebungen  nach  körperlichen  Vorbildern 
ablassen  musten ,  inwiefern  diese  auch  in  dem  neuen  Lehrplane  vorge- 
schriebenen Uebungen  und  das  frühe  Einmischen  der  Perspective  in  den 
Unterricht  Bedenkliches  an  sich  haben,  ist  nur  verständlich  zu  machen, 
wenn  man  ein  weiteres  Eingehen  auf  die  Technik  des  Unterrichts  gestat- 
ten will. 


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294  Ueber  den  Gymnasiaheiehnenuntenjcht. 

Um  einen  bestimmten  Anhalt  für  diese  Erörterungen  zu  gewinnen, 
erlaubt  sich  der  Verfasser,  seine  eigene  Meinung  über  den  beim  Unter- 
richte am  zweckmäszigsten  zu  befolgenden  Weg  auszusprechen  und  daran 
seine  Bemerkungen  zu  knüpfen. 

Bei  dem  Unterricht  unter  günstigen  Umständen  —  d.  h. 
in  einer  angemessenen  Localität  Schülern  gegenüber ,  die  wenigstens  das 
13.  Jahr  zurückgelegt  haben  und  deren  Anzahl  25  nicht  übersteigt  — 
empfiehlt  es  sich  sehr,  mit  dem  Zeichnen  nach  groszen,  möglichst  ein- 
fachen körperliehenVorbildern  von  vorwiegend  geometrisch-regel- 
mäszigem  Geffige,  wie  sie  sich  in  den  Holzmodellen  der  Dupuisschen 
Methode  darbieten,  den  Anfang  zu  machen.  Das  Auge  solcher  Schüler  ist 
reif  zu  objectiver  Auffassung  des  Gesehenen ,  der  Verstand  hat  den  Unter- 
schied zwischen  der  bekannten  und  der  scheinbaren  Form  schon  selbst 
entdeckt,  das  Formengedächtnis  ist  geübter,  um  das  Gesehene  bis  zur 
Uebertragung  auf  die  Darstellungsfläche  zu  bewahren,  und  die  Hand.hat 
schon  gelernt ,  sich  dem  seine  Richtung  von  auszen  empfangenden  Willen 
unterzuordnen.  Keine  Disciplin  kann  freudiger  anregend  auf  den  Lehrer 
zurückwirken ,  als  der  geistig  reiferen  Schülern  unter  Anwendung  jener 
Methode  zu  erteilende  erste  Zeichnenunterricht. 

Um  die  völlige  Fügsamkeit  der  Hand  zu  vollenden  und  den  Zeichner 
mit  dem  Vorrat  von  technischen  Hülfsmitteln  bekannt  zu  machen ;  bedarf 
es  zu  einem  gewissen  Zeitpunkte  allerdings  der  Zurückführung  des  Schü- 
lers zu  technisch  lehrreichen,  zunächst  in  schraffierter  Manier  ausgeführ- 
ten Vorzeichnungen,  deren  Gegenstand  das  nicht  zu  detailreiche 
Ornament,  später  die  Landschaft  ist.  Es  musz  dabei  mit  groszer  Auf- 
merksamkeit dem  Ausschreiten  sowol  nach  einer  oberflächlichen,  affec- 
tierten ,  als  nach  einer  technisch  peniblen  Darstellungsweise  durch  Aus- 
wahl entgegen  wirkender  Vorbilder  gewehrt  werden.  Das  Zeichnen  nach 
in  schraffierter  Manier  ausgeführten  Vorbildern ,  welche  Gesichtsteile  und 
Köpfe  zum  Gegenstande  haben,  und  Uebungen  mit  dem  Estomp  und  zwei 
Kreiden  haben  sich  hier  anzuschlieszen. 

Nach  Erlangung  einer  gewissen  Sicherheit  in  der  Handhabung  der 
DarstellungsmitteJ  sind  das  plastischeOrnament,  späterhin  Gesichts- 
teile und  Köpfe,  von  farblosem  Stoffe  (Gyps).  als  geeignete  Vorbilder,  und 
namentlich  die  Gypsabgüsse  von  Antiken ,  zu  verwenden.  Sie  bieten  die 
günstigste  Gelegenheit,  den  Sinn  für  die  Schönheit  der  Formen  und  das 
ästhetische  Urteil  des  Schülers  zu  bilden.  Da  sich  dieser  Fähigkeitsstufe 
nicht  alle  Schüler  zugleich  nähern,  bleibt  dem  Lehrer  den  Einzelnen  gegen- 
über die  Zeit  zu  eingehenderen  Erörterungen. 

Dem  Landschaftzeichnen  nach  der  Natur  müssen  jeden- 
falls wenigstens  die  Studien  nach  dem  plastischen  Ornament  und  einige 
Zeichnenübungen  nach  gemalten  Vorbildern  vorangehen;  denn  es  kann  die 
mannichfaltige  und  verwickelte  Form,  wie  sie  der  Baum  darbietet,  erst 
dann  verständig  erfaszt  und  graphisch  verständlich  wiedergegeben  werden, 
wenn  man  die  einfachere  Form  aussprechen  gelernt,  es  kann  der  angehende 
Zeichner  die  Behandlung  der  Farben  der  natürlichen  Landschaft  und  die 
Modifizierung ,  welche  sie  durch  die  Luft  erfahren ,  nur  durch  die  Finger- 

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Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  295 

zeige ,  welche  gute  farbige  und  gezeichnete  Vorbilder  bei  verständiger 
Erläuterung  durch  den  Lehrer  gewähren ,  kennen  lernen. 

Das  Zeichnen  von  Teilen  des  menschlichen  Körpers  und  ganzen  Fi- 
guren ,  welchem  ohnedies  das  Studium  der  Proportionen  und  der  Anato- 
mie des  menschlichen  Körpers  vorangehen  musz,  würde  als  in  den  Studien- 
gang  des  Künstlers  von  Beruf  gehörend  den  Kreis  des  dem  Schulunterrichte 
Erreichbaren  überschreiten  und  hier  von  der  Betrachtung  auszuschließen 
sein ;  ebenso  das  Malen ,  welches  erst  in  ferner  liegenden  Stadien  der  Be- 
fähigung des  Schülers  mit  Aussicht  auf  Erfolg  begonnen  werden  kann. 
Einige  Versuche ,  Landschaften  in  Aquarellmanier  farbig  zu  copieren ,  er- 
scheinen indessen  förderlich,  da  sie  dem  Landschaflzeichnen  nach  der 
Natur  vorarbeiten. 

Wol  aber  wäre,  wenn  sich  der  Schüler  den  im  Nächstvorhergehen- 
den bezeichneten  Stadien  der  Reife  genähert  und  zuvor  noch  mit  dem  Ver- 
fahren der  orthographischen  Projectionsmethode  vertraut  gemacht  worden, 
der  geeignete  Zeitpunkt  gekommen,  an  welchem  das  Studium  der  Per- 
spective, wenigstens  ihrer  wichtigsten  Regeln,  geboten  werden  kann. 

Mit  Absicht  ist  bis  hierher  die  Erwähnung  der  Perspective  unter- 
lassen worden,  da  diese  als  eine  durchaus  nur  mathematisch  zu  begrün- 
dende und  construierend  verfahrende  Projectionsmethode  nur  mit  dem 
Zirkel  und  der  Reiszschiene  in  der  Hand,  nicht  gelegentlich  bei  Uebungen 
nach  körperlichen  Vorbildern  (Holzkörper  u.  dergl.)  gelehrt  und  gelernt 
werden  kann.  Es  ist  ein  lrtum,  an  dessen  Verbreitung  die  früher  sehr 
empfohlene  und  in  gewisser  Beziehung  auch  vortreffliche  Peter  Schmidsche 
Methode  mitschuldig  ist,  dasz,  um  den  Anforderungen  der  Perspective  zu 
genügen,  es  sich  nur  um  ein  möglichst  treues  Hinzeichnen  dessen  handle, 
was  das  Auge  'sieht',  dasz  demnach  der  Schüler  perspectivisch  richtig 
zeichnen  lernen  könne,  wenn  der  Lehrer  ihn  nur  auf  die  scheinbaren 
Verschiebungen  und  Verkürzungen  und  deren  Masze  an  den  natürlichen 
Objecten  'aufmerksam  mache9  und  ihm,  dieselben  ^erkläre'.  Nicht  ein- 
dringlich genug  ist  demgegenüber  darauf  hinzuweisen,  dasz  das  'gesehene' 
Bild  eines  Objectes  auf  Projectionen  auf  den  beiden  kugelförmigen 
Netzhaulßächen  beruht,  das  perspectivische  Bild  aber,  eine  Protection  auf 
der  nie  kugelförmigen,  vielmehr  fast  immer  ebenen  Darstellungsfläche 
ist  *) ,  und  dasz ,  da  die  Aehnlichkeit  beider  Projectionen  nicht  eine  im 


*)  Dem  Nichtmathematiker  ist  dieser  Unterschied  durch  den  Hin- 
weis auf  die  auffallenderen  Beispiele,  etwa  in  folgender  Weise,  zu 
vergegenwärtigen : 

Den  Umrisz  einer  Kugel  nimmt  das  Auge  in  fast  allen  Fällen 
als  einen  Kreis  wahr;  das  perspectivische  Bild  einer  Kugel  ist  aber 
immer  ein  anderer  Kegelschnitt  als  der  Kreis,  wenn  nicht  das  per* 
spectivische  Bild  ihres  Mittelpunktes  in  der  aus  dem  Auge  auf  die 
Bildebene  zu  fällenden  Normalen  liegt.  —  Das  Auge  sieht  ferner  die 
einzelnen  Säulen  einer  zur  Sehrichtung  normal  stehenden  Säulenreihe 
in  einer  nach  der  Seite  zu  abnehmenden  Breite;  die  perspectivische 
Construction  derselben  Säulenreihe  ergibt  aber  notwendig  nach  den 
Seiten  hin  zunehmende  Säulenbreiten  u.  dgl.  m.  —  Bei  der  Fixierung 
des  Auges  in  dem  richtigen  Gesichtspunkte  scheint  die  auf  der  Bild« 


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296  Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht. 

mathematischen  Sinne  ist ,  die  Auftragung  des  perspectivischen  Bildes  auf 
die  ebene  Bildfläche  nicht  einfach  Nachahmung  des  Gesehenen  zuläszt, 
sondern  fernere,  nur  durch  ein  besonderes  mathematisches  Constructions- 
verfahren  erreichbare  Verschiebungen  bedingt.  Die  Erlernung  des  letztem 
setzt  die  Kenntnis  der  Elemente  der  Geometrie  und  der  orthographischen 
Projectiensmethode  voraus,  und  seine  didaktische  Entwicklung  nimmt, 
wenn  nicht  der  Schein  für  das  Wesen  gepflegt  werden  soll,  selbst  für 
die  Anfangsgrunde  so  viel  Zeit  und  ungeteilte  Aufmerksamkeit  in  Anspruch, 
wie  sie  sich  nicht  neben  dem  Freihandzeichnenunterricht,  und  vollends 
in  Schulen,  erübrigen  lassen. 

Dasz  man  den  Schüler  dennoch  vor  dem  Studium  der  Perspective 
nach  plastischen  Vorbildern,  Ornamenten  u.  dergl.  < —  und  hierbei,  soweit 
es  nicht  auf  die  Erlernung  der  Perspective ,  sondern  auf  Schärf ung  des 
Auffassungsvermögens  ankommt,  ist  das  Verfahren  der  Peter  Schmidschen 
Methode  von  bestem  Nutzen  —  zeichnen  läszt,  ist  so  lange  kein  Verstosz, 
als  man  das  Vorbild  so  aufstellt,  dasz  zwischen  dem  scheinbaren  und  dem 
perspectivischen  Bilde  kein  erheblicher  Unterschied  sein  kann. 

Bei  dem  Unterricht  unter  ungünstigen  Umständen,  d.  h. 
um  vorläufig  anderer  Schwierigkeiten  nicht  zu  gedenken,  vor  geistig 
unentwickelten  Schülern  in  groszer  Anzahl ,  ist  es  geradezu  unmöglich, 
den  Anfang  mit  den  Uebungen  nach  körperlichen  Vorbildern  zu  machen, 
gleichviel  ob  diese  der  Dupuisschen  oder  der  Peter  Schmidschen  Methode, 
deren  beider  hiernächst  weiter  Erwähnung  geschehen  soll,  eigentümlich 
sind.  Es  treten  da,  wenn  man  immer  den  nich  t  geometrischen  Zeichnen- 
unterricht im  Auge  behält,  gezeichnete  Vorbilder  an  die  Stelle  der 
körperlichen.  Zuerst  ist  die  gerade  Linie  das  den  Schüler  beschäftigende 
Object;  jedoch  nicht  als  nächst  dem  Punkt  einfachstes  geometrisches  Ge- 
bilde, nicht  in  ihren  verschiedenen  Beziehungen  zu  anderen  geraden  Linien, 
nicht  als  Winkelscheukel  oder  Seite  einer  geometrischen  Figur*),  sondern 
als  einfachstes,  für  die  Anschauung  alle  Mannichfaltigkeit  und  für  die 
Nachahmung  durch  die  Hand  alle  Willkür  ausschlieszendes  Object,  und 
zwar  sogleich  als  Marke  für  eine  körperliche  Kante  oder  für  die  schein- 
bare Grenze  eines  bekannten  Körpers.  Die  ersten  Uebungen  richten  sich 
zugleich  gegen  die  von  dem  Schiefertafelzeichnen  herrührende  Gewohn- 
heit, den  Strich  mit  schwerer  Hand  in  Einem  Zuge  zu  schreiben,  und 
zielen  mit  auf  bedächtige  und  reinliche  Behandlung  des  Papiers  und  des 
Bleistiftes  ab.   Der  Schüler  musz  von  Anfang  an  genau  in  der  Grösze  des 


fläche  construierte  perspectivische  Projection  allerdings  den  scheinbaren 
Umrissen  des  natürlichen  Objectes  völlig  zu  entsprechen.  Beim  Frei- 
handzeichnen kann  man  aber  aus  optischen  wie  aus  räumlichen  Rück- 
sichten das  Auge  nicht  derart  fixieren,  dasz  sich  jene  Projection  von 
selbst  ergibt. 

*)  Auch  die  Dupuissche  Methode  mutet  dem  Anfänger  nicht  Ab- 
stractionen  geometrischer  Gattung  zu.  Sie  stellt  weisze,  sogenannte 
Linienmodelle  vor  eine  schwarze  Tafel  und  verlangt,  dasz  der  Schüler 
mit  correcten  weiszen  Kreidestrichen  auf  schwarzer  Tafel  die  durch 
den  Gesichtsinn  gemachte  Wahrnehmung  kundgebe. 


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lieber  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  297 

ihm  allein  zur  Hand  liegenden  Vorbildes*)  nachahmen,  schmale  und  breite 
Striche  ohne  Aufbietung  der  ganzen  Schwärze  seines  Stiftes  kurz  stri- 
chelnd zusammensetzen.  Die  Vorbilder  müssen  in  dem  Beobachtungskreise 
des  Schülers  liegende  Objecte,  nicht  in  perspectivischer  Projection,  son- 
dern im  geometrischen  Aufrisse  darstellen,  denn  diese  Art  der  Auffassung 
ist  die  der  jugendlichen  Anschauung  nächstliegende.  Auf  häusliche  Uebun- 
gen  ist,  da  deren  Selbständigkeit  nicht  überwacht  werden  kann,  kein 
Gewicht  zu  legen.   Von  Anfang  an  musz  die  vortreffliche,  in  dem  alten 
Reglement  von  1851  erst  für  die  dritte  Zeichnenstufe  hervorgehobene  Regel: 
*  Vergebliche  Versuche  sind  nicht  zu  gestatten;  die  erste  Aufgabe  musz 
gelingen  und  wird  also  nicht  wiederholt.    Der  Schüler  musz  gewöhnt 
werden,  mit  Ueberlegung  zu  arbeiten,  und  darf  daher  nur  mit  Berück- 
sichtigung seiner  Eigentümlichkeit  zu  rascherem  Arbeiten  angetrieben 
werden5 
festgehalten  werden. 

Nachdem  das  Zeichnen  gerader  Striche  bis  zu  dem  Grade  geübt  wor- 
den, dasz  schon  geradliniges  Detail  der  Auffassung  zugänglich  und  der 
Hand  einigermaszen  geläufig  geworden,  kann  zum  Zeichnen  krummer 
Striche ,  jedoch  abermals  in  der  Bedeutung  als  Marken  für  Körperkanten 
oder  -grenzen,  geschritten  werden  und  eröffnet  sich  dafür  weiterhin  ein 
reiches  Gebiet  von  Vorbildern  in  Darstellungen  von  symmetrisch  und  nicht 
symmetrisch  gebildeten  Geräten,  Blättern  und  Ornamentwerk  überhaupt 
Die  Versuche,  Zeichnungen  zu  schattieren,  müssen  erst  dann  zugelassen 
werden,  wenn  hinreichende  Fertigkeit  vorhanden  ist,  ein  nur  in  Umrissen 
gezeichnetes  Vorbild  seinen  Formen  und  seiner  technischen  Behandlung 
nach  einigermaszen  geläufig  nachzuahmen. 

Damit  das  Copieren  nach  Vorlegeblättern  nicht  zu  einer  gedanken- 
losen ,  mechanischen  Beschäftigung  herabsinke  und  den  Schüler  ermüde, 
ist  erforderlich,  dasz  der  Lehrer  die  bei  jedem  Schüler  verschiedene  Be- 
gabung und  Schwäche  mit  schnellem  Blicke  erkenne  und  bei  der  Auswahl 
der  Vorbilder  berücksichtige ;  rechtzeitige ,  erläuternde  Hinweise  auf  die 
Schwächen  der  Auffassung  oder  der  Hand  und  auf  die  von  den  gebotenen 
Vorbildern  dagegen  erhofften  Erfolge,  und  das  Vermeiden  ermüdender 
Wiederholungen  erhalten  den  Schüler  in  der  meist  regen  Zuneigung  zu 
dem  Lehrgegenstande.  Bei  der  durch  gute  Vorlegeblätter  meist  schneller, 
als  durch  das.  Zeichnen  nach  körperlichen  Vorbildern  geförderten  Fertig- 
keit der  Hand  erwächst  dem  Schüler  eine  Zuversichtlichkeit ,  welche  den 
im  Vergleich  mit  den  Ergebnissen  der  Dupuisschen  Methode  etwa  bemerk- 
baren Aufenthalt  in  der  Förderung  des  Auffassungsvermögens  späterhin 
leicht  nachholen  läszt.  In  letzterer  Beziehung  ungünstig  Begabte,  die  sich 
hinsichtlich  der  Auffassungsfähigkeit  gewöhnlich  auch  für  andere  Disci- 
plinen  als  solche  erweisen  und  späterhin ,  wie  zu  Anfang ,  im  Nachteile 
bleiben ,  tragen  wenigstens  die  Vorteile  einer  technisch  gebildeten  Hand 
davon.   Doch  wächst  unter  anregender  Leitung ,  bei  stetem  Hinweis  auf 

*)  Vorzeichnungen  des  Lehrers  an  der  Tafel  begünstigen  bei  vol- 
len Classen  und  bei  unentwickelten  Schülern  Willkürlichkeit 
in  der  Grösze  der  Nachahmung  und  rohe  Handführung. 

N.  Jahrb.  ?.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  5  u.  6.  ^20 

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298  lieber  den  Gymnasialzeichnenunterricht. 

den  dem  gezeichneten  Vorbilde  entsprechenden  natürlichen  Körper,  im 
Allgemeinen  das  Auffassungsvermögen  des  Schülers  zugleich  mit  der  Fähig- 
keit, sich  graphisch  auszudrücken,  und  es  ist  nicht  schwer  zu  erkennen, 
wo  aufdiesemWege  gereifte  Schüler  mit  dem  Studiengange  derer 
zusammentreffen,  welche,  den  weiter  oben  für  den  Unterricht  unter  gün- 
stigeren Umständen  gegebenen  Andeutungen  nach ,  sofort  mit  dem  Zeich- 
nen nach  körperlichen  Vorbildern  beginnen  durften. 

Mit  diesen  Andeutungen  ist  im  Wesentlichen  der  Weg  bezeichnet, 
welchen  nach  der  Ansicht  des  Unterzeichnelen  der  Gymnasialzeichnen- 
unterricht zu  verfolgen  hat,  wenn  er  den  Eingangs  angeregten  Voraus- 
setzungen entsprechen  soll.  Er  ist  breit  genug,  um  der  Individualität  des 
Lehrers  und  der  des  Schülers  den  nötigen  Spielraum  zu  lassen.  Mit  un- 
wesentlichen Abweichungen  ist  er  auch  derjenige,  welchen  der  Unterricht 
in  der  mit  der  K.  Akademie  der  Künste  verbundenen  Zeichnenschule  ein- 
hält. In  dieser  Zeichnenschule  gewährt  die  Akademie  jungen ,  nicht  zu 
unentwickelten  Leuten  den  Unterricht  so  weit ,  als  er  als  ein  Erfordernis 
der  allgemeinen  Bildung  gilt.  An  ihn  vermag  der  Unterricht  für  angehende 
Künstler  von  Beruf  freilich  unmittelbar  anzuknüpfen;  jedoch  wird  mit 
anerkennenswerther  Strenge  das  der  Zeichnenschule  gesteckte  Ziel  fest- 
gehalten, der  Verlockung  in  die  Künstlerlaufbahn  möglichst  entgegenge- 
wirkt, und  der  Uebertritt  in  die  Klassen  der  Akademie  selbst  nur  den- 
jenigen gestattet,  welche  sich  erklärtermaszen  der  Kunst  berufsmäszig 
widmen  wollen  und  zugleich  ihre  Befähigung  dazu  nachweisen. 

Die  Dupuissche  Methode  hat  die  K.  Akademie  bisher  nicht  in  An- 
wendung gebracht,  vielmehr  den  ersten  Unterricht  nur  nach  Vorlegeblät- 
tern zu  erteilen  fortgefahren.  Es  liegt  nicht  in  dem  Zwecke  dieser  Be- 
merkungen, den  Grund  davon  zur  Erörterung  zu  bringen;  nur  möge  hier 
die  Thatsache  selbst  hervorgehoben  sein,  einerseits  zur  Rechtfertigung 
der  oben  für  minder  günstige  Unterrichtsverhältnisse  empfohlenen  An- 
wendung der  Vorlegeblätter,  andererseits  um  die  genannte  Methode  ge- 
legentlich gegen  den  aus  ihrer  Nichtanwendung  Seitens  der  Akademie 
etwa  herzuleitenden  Vorwurf  in  Schutz  zu  nehmen,  dasz  sie  für  den 
ersten  Unterrricht  nicht  wenigstens  dasselbe  zu  leisten  vermöge,  was 
der  Unterricht  nach  Vorlegeblättern  leistet. 

Wer  diese  Methode  je  beim  Unterrichte  angewendet,  wird  ihr  nach- 
zurühmen haben ,  dasz  sie  unter  ihr  entsprechenden  Umständen  wenig- 
stens die  eine  Hälfte  der  aüem  Zeichnenunterrichte  zu  stellenden  Aufgabe, 
das  Auffassungsvermögen  der  Schüler  zu  schärfen,  in  überraschender 
Weise  lösen  hilft.  In  technischer  Beziehung  läszt  sie  zudem  dem  Schüler 
Freiheit  zur  Entwickelung  einer  seiner  Individualität  entsprechenden  Dar- 
stellungsweise, erfordert  aber  eben  wegen  dieses  Vorzuges  einen  umsich- 
tigen, künstlerisch  gebildeten  Lehrer.  Wo  freilich  der  Zeichnen  Unterricht 
in  ungeeigneten  Localen  erteilt  wird  und  ihm  eine  für  die  Methode 
zu  karg  zugemessene  Zeit  gewidmet  ist,  wo  dazu  die  Schülerzahl  eine 
'  verhältnismäszig  zu  grosze  ist,  d.  h.  wo  sie  nicht  nur  die  Zahl  25  son- 
dern sogar  die  Zahl  50  übersteigt,  da  lassen  sich  die  Modelle  nichl 
mehr  in  einer  für  die  Schüler  lehrreichen  und  diese  anregenden  Weise 


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tJeber  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  299 

aufstellen;  sie  stehen  den  vordersten  Plätzen  zu  nahe  und  sind  dabei 
wegen  zu  groszer  Entfernung  von  den  mittleren  Plätzen  schon  von  hier 
aus  unerkennbar ;  dem  Lehrer  gebricht  es  an  Zeit ,  der  Arbeit  jedes  ein- 
zelnen Schülers  nach  Verdienst  durch  Belehrung  und  Aufmunterung  ge- 
recht zu  werden,  der  minder  begabte  Teil  der  Schuler  bleibt  in  der  Fer- 
tigkeit hinter  den  Begabteren  zurück  und  hält  deren  Fortschreiten  auf, 
und  da  führt  diese  Methode,  was  ihr  selbst  wegen  dieser  Umstände  nicht 
zum  Vorwurfe  gereichen  kann,  zu  Miserfolgen,  zu  einer  technischen 
Unerzogenheit  der  Hand  und  zu  einer  Abneigung  der  Schüler  gegen  den 
Lehrgegenstand  selbst.  Wenn  sie  aber  gar,  wie  es  hier  geschehen  ist, 
in  Classen  von  gegen  70  Schülern  Anwendung  findet,  wobei  der  Lehrer, 
während  die  Schüler  bankweise  ihre  Zeichnungen  emporhalten ,  die  Gor- 
recturen  aus  der  Ferne  erteilt,  so  heiszt  das  die  Methode  geradezu  mis- 
brauchen  und  kostbare  Zeit  vergeuden. 

Ganz  dieselben  Schwierigkeiten  stellen  sich  der  Anwendung  der 
Peter  Schmidschen  Methode  beim  Massenunterrichte  entgegen.  Sie  ver- 
mag auszerdem,  wie  die  oben  ausgesprochenen  Bemerkungen  über  die 
perspectivische  Protection  nachweisen,  die  unternommene  Lösung  der 
Aufgabe,  die  Perspective  gewissermaszen  praktisch  zu  lehren,  nicht  zu 
geben,  und  verliert  dadurch  gerade  den  wichtigsten  ihrer  gerühmten 
Vorzüge,  wegen  dessen  sie  zu  ihrer  Zeit  in  Aufnahme  gekommen.  Sind, 
wie  es  der  Fall  zu  sein  scheint ,  bei  dem  in  dem  neuen  Lehrplane  ($  3) 
für  die  zweite  Stufe  vorgeschriebenen  Zeichnen  nach  Holzkörpern  hiermit 
die  Schmidschen  Modelle  gemeint,  so  ist  damit  nur  ein  Teil  der  mit  dem 
Verfall  dieser  Methode  geschwundenen  Schwierigkeiten  für  den  Zeichnen- 
unterricht wiederbelebt. 

Es  ist  ein  Erfahrungssatz ,  dasz  weniger  die  Methode ,  als  die  Indi- 
vidualität des  Lehrers  Erfolge  herbeiführt ,  ja  dasz  eine  unzweckmäszige 
Methode  in  geschickter  Hand  Besseres  leistet,  als  eine  gute  Methode  in 
unglücklicher  Hand.  Auch  in  den /Bemerkungen'  zu  dem  neuen  Lehrplan 
ist  dies  zugegeben.  Bei  der  Beurteilung  des  Werthes  einer  Methode  darf 
man  aber  auch  nicht  auszer  Acht  lassen,  ob  dieselbe  auf  dem  ihr  zuge- 
wiesenen Terrain  auch  die  ihrem  Wesen  entsprechenden  Verhältnisse  vor- 
findet, oder  nicht.  Dem  Gedeihen  der  besprochenen  beiden  Methoden  sind 
aber  innerhalb  der  Gymnasien  alTe  Verhältnisse  ungünstig.  Indem  die 
für  jene  Methoden  allzubegeisterten  Wortführer  dies  zu  übersehen  pflegen, 
sind  sie  gewöhnlich  zugleich  ungerecht  genug ,  um  von  der  für  den  Mas- 
senunterricht übrig  bleibenden  und  natürlichsten  aller  Methoden,  der 
nach  Vorlegeblättern  unterrichtenden,  nur  die  schwachen  Seiten  hervor- 
zuheben, dasz  sie  ein  mechanisches  Nachahmen  des  *  Vorgemachten'  be- 
günstige u.  dergl.  m.  Und  doch  macht  nur  sie  es  möglich,  in  wöchent- 
lich 2  Schulstunden  gleichzeitig  mehr  als  50  gröstenteils  dem  Kindesalter 
noch  angehörige  oder  doch  ihm  noch  sehr  nahestehende  Schüler  dem 
stets  verschiedenen  Grade  ihrer  Fähigkeit  angemessen  zu  unterweisen  und 
den  gesteckten  Zielen  in  der  That  zuzuführen. 
(Fortsetzung  folgt.) 

Berlin.  Otto  Gennerich. 

20* 

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300  Die  höheren  Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen. 

2a. 

Die  höheren  Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen. 


I. 

Wer  seit  einigen  Jahren  regelmäszig  die  Anzeigen  in  den  Zeitungen 
der  westlichen  Provinzen  Preuszens,  besonders  in  der  Köln.  Zeitung 
durchgesehen  hat,  wird  die  in  schneller  Zunahme  stets  sich  mehrenden 
Selbstempfehlungen  der  verschiedenen  höheren  Lehranstalten  nicht  haben 
übersehen  können.  Die  Blüte  der  Reclame,  zu  welcher  sich  die  bekannten 
Namen  der  Gegenwart  aufgeschwungen,  scheint  auch  eine  Anzahl  von 
Curatorien,  Schulvorständen  und  -Vorstehern  nicht  schlafen  zu  lassen; 
vielleicht  findet  sich  ja  irgendwo  ein  Vater,  der  für  seinen  Sohn  nach  der 
Zeitung  eine  Schule  aussucht ,  an  der  für  möglichst  wenig  Geld  und  in 
beschleunigtem  Gange  das  ersehnte  Ziel  der  Berechtigung  zum  einjährigen 
Dienste  erreicht,  wenigstens  versprochen  wird.  Dasz  Vorsteher  und  Un- 
ternehmer von  Privatanstalten  ihre  Institute  möglichst  empfehlen  und 
Schüler,  mögen  sie  sein,  wie  sie  wollen,  anzulocken  suchen,  ist  natür- 
lich; das  Geschäft  bringt  es  einmal  so  mit  sich.  Je  geringer  die  inneren 
Vorzüge  derartiger  Anstalten  in  vielen  Fällen  sind ,  desto  mehr  Veran- 
lassung haben  sie,  sich  nach  Auszen  geltend  zu  machen;  es  handelt  sich 
ja  allein  um  das  Geldverdienen  und  argentum  non  ölet,  sagte  schon  der 
alte  Vespasianus. 

Ganz  anders  liegt  die  Sache  bei  den  oft1  entlichen  Anstalten.  Wol 
mag  es  für  die  eine  oder  andere  unter  ihnen  'eine  Lebensfrage  sein ,  mög- 
lichst viele  auswärtige  Schüler  zu  haben ;  niemals  wird  es  doch  von  ihnen 
auszer  Acht  gelassen  werden  dürfen,  dasz  sie  als  Institute,  die  unter  der 
Autorität  des  Staates  auftreten,  sich  selbst  soviel. Achtung  schuldig  sind, 
um  nicht  auf  die  Linie  der  sogenannten  Freiwilligen-  und  Fähnrichspres- 
sen und  ähnlicher  mit  Dampfkraft  arbeitenden  Fabriketablissements  frei- 
willig herabzusteigen.'  Wäre  es  nun  blosz  Sache  der  betreffenden  An- 
stalten ,  in  welches  Licht  sie  sich  bei  dem  verständigeren  Teile  des  Publi- 
kums durch  ihre  Art  von  Empfehlung  bringen ,  nun  so  könnte  man  sie 
ruhig  der  verdienten  Geringschätzung  und  dem  auch  nicht  ausbleibenden 
Spotte  überlassen;  es  ist  aber  eine  Sache  sämtlicher  höherer  Lehranstal- 
ten und  der  an  diesen  arbeitenden  Lehrer,  auf  Abstellung  einer  Unsitte 
zu  dringen ,  die  dem  ganzen  höheren  Schulwesen  zur  Schande ,  dem  Lehr- 
stande gewis  nicht  zur  Ehre  gereicht.  Dabei  wollen  wir  von  der  Frage 
noch  ganz  absehen,  ob  nicht  die  Autorität  der  betreffenden  Schule  bei 
ihren  eigenen  Schülern  im  bedenklichsten  Grade  bedroht  werden  musz, 
wenn  diese  sehen ,  welchen  Werth  die  Anstalt  auf  ihre  Anwesenheit  legt; 
das  mag  am  Ende  jede  Schule  mit  sich  selbst  abmachen;  es  musz  aber 
immer  wieder  gesagt  werden ,  dasz  unser  Stand  nicht  eher  nach  Auszen 
die  gebührende  Anerkennung  finden  wird,  bevor  er  nicht  sich  selbst  mehr 
zu  achten  gelernt  hat. 

Es  wird  und  kann  Niemand  etwas  dagegen  einzuwenden   haben, 


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Die  höheren  Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen.  301 

wenn  Schulen  den  Beginn  eines  neuen  Cursus,  Aufnahme-  und  Prüfungs- 
tag und  Aehnlicbes  öffentlich  bekanntmachen;  es  ist  das  sogar  in  gewis- 
sem Grade  notwendig ,  da  die  Schulprogramme  der  Natur  der  Sache  nach 
nur  in  die  Hände  Weniger  kommen.  In  den  östlichen  Provinzen  hält  man 
es  im  Allgemeinen  für  ausreichend,  wenn  dergleichen  Bekanntmachungen 
durch  die  Localblätter  erfolgen ;  auch  im  Westen  beschränken  sich  viele 
und  zwar  gerade  die  älteren  Anstalten  auf  diesen  Weg.  Andere  Schulen, 
besonders  die  jüngeren ,  zeigen  auch  durch  die  politischen  Zeitungen  die 
Eröffnung  des  neuen  Cursus  einfach  an ;  wfinschenswerth,  vielleicht  auch 
notwendig,  wird  das  bei  Anstalten  sein,  welchen  sich  seit  längerer  Zeit 
eine  grosze  Anzahl  auswärtiger  Schäler  zuzuwenden  pflegt.  Die  meisten 
Gymnasien  und  vollständigen  Realschulen  lassen  sich  mit  dieser  Art  von 
Veröffentlichung  genügen. 

Daneben  wuchert  nun  aber  in  reichster  Fülle  das  Unkraut  der  eigent- 
lichen Empfehlungen,  deren  rasches  Anwachsen  in  intensiver  und  extensiver 
Beziehung,  besonders  bei  den  kleineren  Anstalten,  man  mit  steigender  Ver- 
wunderung betrachten  musz.  Diese  Empfehlungen  gehen  entweder  aus  von 
dem  Vorsteher  der  Anstalt  oder  von.  dem  Schulvorstand,  Guratorium  u.  dgl. 
oder  von  —  scheinbar  unbeteiligten  —  dritten  Personen  oder  endlich  sie 
erscheinen  anonym.  Die  beiden  ersten  Arten  stützen  sich,  so  verschieden 
auch  die  Ausführung  im  Einzelnen  ist,  meist  auf  dieselben  Gründe;  hat 
ja  doch  auch*  die  Reclame  ihr  System.  Der  erste  Grund  und  der  am  häu- 
figsten und,  wie  es  scheint,  mit  besonderer  Vorliebe  verwendete  ist  die 
'geringe  SchülerzahP ;  es  wird  darauf  aufmerksam  gemacht,  wie  viel 
mehr  die  Schüler  in  kleinen  Gassen  lernen  können  als  in  'überfüllten', 
wieviel  leichter  die  Ueberwachung  sei ,  wieviel  geringer  die  Verführung 
usw.  Daneben  paradiert  als  zweiter  Empfehlungsgrund  regelmäszig  die 
'gesunde  Lage'  und  die  allgemeine  Billigkeit  des  Ortes,  also  auch  det 
Pensionen ,  besonders  in  den  Lehrerhäusern.  Ist  die  Anstalt  katholisch, 
so  wird  auch  nicht  vergessen  zu  bemerken,  dasz  so  und  so  viel  Geistliche 
an  der  Anstalt  beschäftigt  seien.  Ist  die  Schülerzahl  der  betreffenden 
Anstalt  nicht  mehr  so  klein,  dasz  die  Vorteile  der  geringen  Frequenz 
gehörig  anziehen  könnten,  so  musz  die  starke  Frequenz  heran.  Diese  hat 
zuerst  die  ausgezeichneten  Leistungen  der  betr.  Schule  zu  beweisen,  dann 
aber  wird  ganz  regelmäszig  von  der  baldigen  oder  wenigstens  *  in  Aus- 
sicht genommenen'  Erweiterung  der  Anstalt  gesprochen ;  bereits  sei  ein 
neuer  Lehrer  angestellt  oder  dies  solle  baldigst  geschehen;  ein  neues 
Local  werde  man  auch  bekommen,  kurz  die  Anstalt  werde  nach  geringer 
Frist  eine  vollständige  Realschule  oder  ein  Gymnasium  werden,;  wenig* 
stens  sind  ihr  gewisse  Rechte  'in  die  sicherste  Aussicht  gestellt',  beson- 
ders das  Recht  auf  Erteilung  von  Zeugnissen ,  die  zum  einjährigen  Dienst 
berechtigen*).    Wir  mögen  gern  annehmen,  dasz  die  betreffenden  Be- 

*)  Damit  es  nicht  scheine ,  als  könne  nicht  jeder  der  oben  aufge- 
stellten Sätze  belegt  werden,  so  mögen  hier  nur  beispielsweise  einige 
der  einschlägigen  Bekanntmachungen  angefahrt  werden,  die  in  den 
Nummern  der  Köln.  Zeitung  vom  Septbr.  d,  J.  mir  aufgestoszen  sind: 
höhere  Bürgerschule  in  Saarlouis  (K.  Z.  vom  24  Sptbr.) ,  höhere  Lehr- 


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302  Die  höheren  Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen. 

kanntmacher  in  jedem  Falle  wirklich  selbst  die  Hoffnung  hegen,  ihre 
Schule  recht  bald  auf  eine  höhere  Stufe  bringen  zu  können ,  aber  bei  teil- 
weise sehr  genauer  Kenntnis  der  einschlagenden  Verhältnisse  können  wir 
nicht  glauben,  dasz  dieselben  auch  überall  von  der  Möglichkeit  der  Ver- 
wirklichung ihrer  Hoffnungen  überzeugt  sind.  Und  was  wird  aus  den 
Schülern,  die  nun  wirklich  im  Vertrauen  auf  eine  solche  Zeitungsannonce 
sich  einer  solchen  Anstalt  zugewendet  haben?  Haben  die  betreffendes 
Vorstände  auch  wol  bedacht,  dasz  sie  sich,  selbst  wenn  wir  auch  in  allen 
Fällen  den  besten  Willen  annehmen ,  doch  im  Grunde  einer  Unredlichkeit 
schuldig  machen,  indem  sie  die  jungen  Leute,  die  nachher  doch  auf  ein 
Gymnasium  oder  eine  Realschule  gehen  müssen ,  in  den  meisten  Fällen 
um  einen  beträchtlichen  Zeitraum  zurückgebracht  haben  ? 

Ein  ferneres  Mittel,  welches  mit  dem  rechten  Namen  zu  belegen  wir 
gern  jedem  Leser  überlassen ,  ist  die  Eröffnung  von  Aussichten  auf  Sti- 
pendien. Der  Natur  der  Sache  nach  sind  Schulvorstände  nur  selten  in  der 
Lage,  dieses  Zugpflaster  anwenden  zu  können;  dasz  es  aber  vorkommt, 
beweist  eine  Bekanntmachung  des  königl.  kathol.  Gymnasiums  in  Emme- 
rich in  der  Köln.  Ztg.  vom  2.  Oct.  1863,  welche  wörtlich  folgenden  Pas- 
sus enthält: 

*  Auswärtigen  zur  Nachricht,  dasz  der  Betrag  der  im  verflossenen 
Schuljahre  erteilten  Beneficien  aus  den  Stipendienfonds  sich  auf  2300 
Thlr.  belaufen  hat.' 

Unterzeichnet  ist  diese  Bekanntmachung 
Mer  Stellvertreter  des  Directors:  A.  Dederich,  Gymnasialoberlehrer.' 

Es  wäre  überflüssig,  hierzu  auch  nur  ein  Wort  weiter  zu  bemerken, 
als  dasz  das  Gymnasium  in  Emmerich  —  nach  der  Angabe  in  Mushackes 
Schulkalender  —  in  6  Classen  98  Schüler  hat. 

Ueber  die  Reclame  durch  genannte  oder  ungenannte  Dritte  brauchen 
wir  eigentlich  Nichts  hinzuzusetzen;  die  'dankbaren  Eltern'  usw.  haben 
nicht  ohne  Nutzen  bei  Hoffund  Daubitz  ihre  Studien  gemacht*). 


anstalt  in  Kerpen  '(19  Sptbr.),  Progymnasium  in  Siegburg  (17  Sptbr.), 
kathol.  höhere  Bürgerschule  in  Crefeld  (15  Sptbr.) ,  Progymnasium  in 
Jülich  (14  Sptbr.),  höhere  Schule  in  Ahweiler  (3  Sptbr.),  höhere  Schule 
in  Malmedy  (13  Sptbr.),  Progymnäsium  in  Mors  (26  Sptbr.).  Eins  der 
schönsten  Documente  ist  die  Bekanntmachung  der  Schulcommission  von 
Neuwied  in  Nr.  240  der  K.  Ztg.,  an  welcher  der  Rector  der  Anstalt, 
wenn  ein  Schlusz  aus  seiner  späteren  Bekanntmachung  erlaubt  ist, 
keinen  Anteil  hat. 

•)  Zum  Ergötzen  der  Leser  nur  zwei  Beispiele.  1)  Köln.  Ztg.  vom 
18  Septbr.  d.  J.  fDie  höhere  Bürgerschule  zu  Grevenbroich. 
Im  Grevenbroicher  Geschäfts-  und  Unterhaltungsblatte  (weiland  Kreis- 
blatt) veröffentlicht  der  Kaufmann,  Hr.  J.  Fleck,  die  Thatsache,  dasz 
seine  beiden  Söhne,  die  auszer  hiesiger  Bürgerschule  keine  höhere 
Lehranstalt  besuchten,  das  Examen  zum  einjährigen  Militärdienste  mit 
Auszeichnung  bestanden  haben,  und  spricht  dem  Herrn  Rector  Dr. 
Dronke  und  den  Herren  Lehrern  dieser  Schule  seinen  Dank  dafür  ans. 
Wir  glauben,  dasz  es  in  weiterem  Bereiche  zur  Ehre  dieser  Schule 
und  zum  gemeinen  Nutzen  bekannt  zu  werden  verdient,  dasz  zwei  hie- 


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Die  höheren  Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen.  303 

Dies  das  Factische.  Fragen  wir  nun  nach  dem  Grunde  dieses  Un- 
wesens. Es  mag  richtig  sein,  was  oft  behauptet  wird,  dasz  in  einzelnen, 
vielleicht  auch  nicht  seltenen  Fällen  Eitelkeit  der  Patronatsbehörde  oder 
auch  wol  eine  Art  von  Ehrgeiz  von  Seiten  der  Dirigenten  zu  einem  sol- 
chen Heranlocken  auswärtiger  Schüler  verleitet;  noch  richtiger  ist  gewis 
die  Annahme,  dasz  bei  gar  vielen  Anstalten,  besonders  den  kleineren, 
es  für  die  Lehrer  eine  absolute  Notwendigkeit  ist,  durch  Aufnahme  von 
Kostschülern  ihrer  kümmerlichen  Besoldung  nachzuhelfen;  der  wahre 
Grund  liegt  aber  an  einer  andern  Stelle.  Es  ist  nicht  Zufall ,  dasz  seit 
dem  Jahre  1859  allerlei  Progymnasien  und  andere  ähnliche  oder  auch 
höhere  Anstalten  aus  der  Erde  an  Orten  aufgeschossen  sind,  an  denen 
man  das  Bedürfnis  gar  nicht  erwartet  hätte  und  wo  auch  in  der  That  der 
Boden  für  solche  Institute  gar  nicht  vorbereitet  war;  man  darf  nicht  an- 
nehmen, dasz  so  plötzlich  die  Erkenntnis  von  der  Notwendigkeit  einer 
höheren  Bildung  sich  verbreitet  hätte;  der  hauptsächlichste  Grund  liegt 
in  den  Bestimmungen  der  in  jenen  Jahre  erlassenen  neuen  Militärersatz- 
instruction,  besonders  in  den  Paragraphen  über  die  Berechtigung  zum 
sogenannten  freiwilligen  d.  h.  einjährigen  Heeresdienste.  Seit  dort  die 
Forderung  aufgestellt  ist ,  dasz  nur  diejenigen  Schüler  jene  Berechtigung 
haben  sollen,  welche  ein  halbes  Jahr  in  einer. Gymnasial-  oder  Realse- 
cunda  gewesen  sind  oder  die  Abiturienlenprüfung  einer  höheren  Bürger- 


sige  Schüler  unter  34  Geprüften  in  zweitägigem  Examen  am  besten 
bestanden  und  dasz  ihre  Mitschüler  die  Reife  für  die  Secunda  eines 
Gymnasiums  erlangt  haben.  Dies  um  so  mehr,  als  eine  so  bewährte 
Schule,  die  (auszer  dem  Religionsunterrichte ,  der  von  den  hiesigen 
Pfarrern  ertheilt  wurde)  mit  vier  sehr  befähigten  Lehrern  besetzt  ist, 
in  einem  Landstädtchen  ihre  Schüler  besser  zu  überwachen  vermag, 

als  in  gröszeren  Städten  möglich z.'   —    2)  Köln.  Ztg.  vom 

3  Sptbr.  d.  J.  'Köln,  den  1  Sptbr.  1863.  Auf  meiner  diesjährigen  Fe- 
rienreise kam  ich  auch,  von  einem  Freunde  eingeladen,  am  30  August 
nach  Dormagen,  wo  ich  einen  schönen  Genusz  haben  sollte.  Es  be- 
steht dort-  nemlich  seit  zwei  Jahren  eine  auf  Actien  gegründete  höhere 
Bildungsanstalt,  welche  am  81  August  ihr  zweites  Jahr  mit  einer  öffent- 
lichen Prüfung  schlosz.  Die  Anzahl  der  Schüler  war  schon  von  38  auf 
53  gestiegen,  welche  in  vier  Classen  bis  incl.  Tertia  vertheilt  waren. 
Die  Haltung  derselben  war  eine  durchaus  lobenswerthe.  Sowohl  bei 
dem  feierlichen  Gottesdienste,  womit  die  Prüfung  eingeladet  wurde, 
als  vor  und  nach  derselben  erhöhten  die  Schüler  die  Festlichkeit  durch 
einen  schönen  Gesang.  Der  Herr  Rector  Esser,  welcher  die  Anstalt 
leitet,  der  Geistliche  Herr  Lehrer  Eisenbach  und  der  Herr  Lehrer 
Mönch  hielten  die  Prüfung  ab,  welche  sich  über  Griechisch,  Latein, 
Mathematik,  Geschichte  und  Geographie  erstreckte.  Die  Herren  Leh- 
rer wuszten  die  Aufmerksamkeit  und  rege  Teilnahme  der  Schüler  zu 
fesseln,  und  diese  erfreuten  die  Zuhörer  durch  ihre  sicheren  und  rich- 
tigen Antworten.  Der  Unterzeichnete  gewann  die  Ueberzeugung,  dasz 
die  acht  Tertianer,  welche  aus  der  Anstalt  entlassen  wurden,  die  Reife 
für  die  Untersecunda  eines  Gymnasiums  vollständig  erlangt  hatten  und 
bei  fortgesetztem  Fleisze  und  gutem  Betragen  einer  guten  Abiturienten- 
prüfung  entgegen  sehen  können.  Zum  Schlüsse  hielt  der  Herr  Rector 
Egser  eine  Schüler  und  Zuhörer  tief  ergreifende  Rede,  worin  er  die 
einreiszende  Genuszsucht  der  Jugend  als  eine  Hauptursache  der  Ver- 
irrungen  derselben  bezeichnete.    Pjrof.  W.  Caspers.' 


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304  Die  höheren  Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen. 

schule  abgelegt  haben,  seitdem  hat  das  Aufwuchern  angefangen.  'Jede 
kleine  Stadt-  und  Rectoratschule ,  die  früher  mit  Nutzen  und  Erfolg  ihre 
Schüler  bis  Quarta  oder  Tertia  vorbereitete,  musz  jetzt  mindestens  ihre 
Secunda  haben,  womöglich  bis  zur  Universität  führen;  ob  das  Bedürfnis 
zu  der  Erweiterung  da  ist,  bleibt  oft  ganz  und  gar  ununtersucht,  das 
wird  schon  kommen;  meist  liefert  das  Städtchen  selbst  nicht  das  absolut 
-nötige  Material  an  Schülern,  also  müssen  Auswärtige  herbeigeholt  werden, 
mögen  sie  sein,  wie  sie  wollen,  damit  nur  das  Schülchen  existieren  kann. 
Daher  das  Unwesen.  Wie  es  mit  den  Leistungen,  den  Lehrkräften  und 
besonders  den  Dotationen  steht,  wollen  wir  Wer  nicht  untersuchen;  des 
Erbaulichen  und  Ergötzlichen  liesze  sich  darüber  Manches  erzählen. 

Dasz  auch  noch  andere  Motive  wirksam  sein  können  und  wirklich 
sind ,  versteht  sich  von  selbst ;  der  oben  citierte  Fall  des  katholischen 
-Gymnasiums  in  Emmerich  —  gelegen  in  der  nächsten  Nähe  der  für  das 
Bedürfnis  der  Gegend  vollständig  ausreichenden  evangelischen  Gymnasien 
in  Gleve  und  Wesel  —  beweist  das  zur  Genüge.  Stets  ist  aber  eine  der- 
artige Reclame  ein  untrügliches  Zeichen ,  dasz  die  betreffende  Schule  eine 
innere  Berechtigung  zu  bestehen  oder  sich  zu  erweitern  nicht  hat*). 

Wie  dem  Unwesen  zu  steuern,  ist  schwer  zu  sagen;  viel  würde 
gethan  sein ,  wenn  die  Genehmigungen  zur  Gründung  oder  Erweiterung 
solcher  Schulen  erst  nach  dem  wirklich  gelieferten  Nachweise  der  Exi- 
stenzfähigkeit erteilt  wrürden;  auch  würde  es  sich  sehr  empfehlen,  dasz 
die  Provinzialbehörde  alljährlich  den  Beginn  des  Cursus  in  den  höheren 
Anstalten,  den  sie  ja  selbst  festsetzt,  nebst  einem  Verzeichnis  der  be- 
rechtigten Anstalten  veröffentlichte,  aber  freilich  nicht  blosz  in  den  Re- 
gierungsamtsblättern,  die  fast  Niemand  liest,  sondern  in  den  verbreitet- 
sten  politischen  Zeitungen.  Vor  Allem  aber  hat  der  Lehrerstand  die  Pflicht, 
sich  energisch  gegen  eine  Unsitte  zu  verwahren,  welche,  wir  wiederholen 
es,  ihm  selbst  zur  Unehre,  dem  ganzen  höheren  Schulwesen  aber  zum 
grösten  Schaden  gereicht.  p. 


*)  Vergl.  auch  Eil  er  8,  meine  Wanderung  durch's  Leben  Band  VI 
S.  152,  wo  über  die  übermäszige  Vermehrung  der  höheren  Schulen  sehr 
richtig  gesprochen  ist,  wenn  auch  die  Eilerssche  Furcht  vor  tibergro- 
szer  Ausbreitung  der  Bildung  wol  von  nur  Wenigen  geteilt  wird. 


24. 

La  practica  geotnetriae  di  Leonardo  Pisano  secondo  la 
lezione  del  codice  Urbinate  n.  292  deüa  Bibl.  Vat.  —  Zweiter 
Band  der  ScritÜ  di  Leonardo  Pisano  publicati  da  Bald, 
ßoncompagni.   Roma  1862.   4. 

Dasz  alles  unser  Wissen  Stückwerk  ist,  empfindet  bekanntlich  jeder 
Forscher  auf  irgend  welchem  historischen  Gebiete  um  so  mehr,  je  weiter 


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L.  Pisano :  la  practica  geometriae.  305 

er  eindringend  in  die  Tiefen  der  Wissenschaft  sich  den  Grenzen  nähert, 
über  die  hinauszuschreiten  die  mangelhafte  Ueberlieferung  ihm  verbietet. 
Sieht  er  sich  dann  gezwungen  innezuhalten ,  so  wird  er  das  zwar  mit  Be- 
dauern thun,  aber  doch  zum  eigenen  Trost  sich  sagen  können,  dasz  er 
wenigstens  bis  zum  äuszersten  Ziel  des  Möglichen  gelangt  sei.  Ein  ganz 
anderes  Gefühl  des  Unmutes  aber  wird  ihn  beschleichen ,  wenn  er  auf 
seinem  Wege  allenthalben  auf  Verschlossene  Gebiete  trifft ,  von  denen  er 
weisz,  dasz  Menschenhand  und  Menscbenkraft  sie  wol  öffnen  könnte  und 
nur  ihm  gerade  Zeit  und  Mittel  dazu  fehlen.  Das  galt  bisher  und  gilt  noch 
jetzt  in  hohem  Grade  von  der  Geschichte  der  Mathematik  des  KU 
tertums  und  des  frühem  Mittelalters.  Es  ist  unglaublich,  mit  wie  we- 
nigem, was  zufällig  bekannt  war,  man  sich  begnügte,  ruhig  und  selbst- 
gefällig darauf  Hypothesen  baute,  ja  zuletzt  ein  anscheinend  recht  statt- 
liches Gebäude  errichtete  —  und  das  alles,  während  einige  der  wichtigsten 
Quellen  noch  unausgebeutet  im  Staube  der  Bibliotheken  lagen.  Man  wustc, 
dasz  Her  on  nächst  Archimedes  der  bedeutendste  Vertreter  der  angewand- 
ten Mathematik  im  Altertume  gewesen  sei;  und  doch  dachte  niemand 
daran,  seine  uns  noch  erhaltenen  geometrischen  und  stereometrischen 
Werke  zu  veröffentlichen.  Man  citierte  hin  und  wieder  Papp us,  den 
wichtigsten  Sammelschriftsteller  des  4n  Jahrh.  n.  Chr. ,  nach  der  unge- 
nügenden und  unvollständigen  lateinischen  Uebersetzung ;  aber  der  grie- 
chische Text  liegt  noch  zum  guten  Teil  verborgen  in  den  Handschriften. 
Proclus*  Commentar  zum  Euclid  ist  vorhanden,  jedoch  so  gut  wie  un- 
lesbar; kein  Mathematiker  citiert  ihn,  sondern  verweist  lieber  auf  die 
lateinische  Uebersetzung  desBarocius,  die  eigentlich  viel  schwerer  ver- 
ständlich ist  als  der  schön  geschriebene  Originaltext.  Dies  die  hauptsäch- 
lichsten, aber  durchaus  nicht  die  einzigen  Beispiele  aus  der  Litteratur  des 
Altertums.  Nach  dem  Verfall  der  alten  Gultur  waren  es  die  Araber,  die 
der  schon  nahe  zum  Untergang  geführten  Mathematik  sich  annahmen. 
Das  wüste  ein  jeder ,  und  die  Genügsamkeit  über  dieses  Wissen  war  so 
grosz ,  dasz  man  lange ,  sehr  lange  nach  einigen  wichtigen.  Werken  ara- 
bischer Mathematik,  die  noch  im  Original  oder  in  lateinischen  Ueber- 
arbeitungen  vorhanden  sind,  kaum  fragte.  Um  nur  eines  anzuführen,  das 
Buch  der  dreiBrüder  (über  trium  fratrum  de  geotnetria),  welches 
die  interessantesten  Aufschlüsse  für  die  Geschichte  der  Geometrie  gewäh- 
ren musz,  ist  noch  nicht  ediert,  und  doch  ist  es  nicht  etwa  in  unzugäng- 
lichen spanischen  Bibliotheken  versteckt ,  sondern  sehr  nahe  zu  erlangen 
in  einer  Stadt  deutscher  Zunge  und  deutscher  Gelehrsamkeit. 

Zu  solchen  empfindlichen  Lücken  konnte  man  noch  vor  wenigen 
Jahren  eine  der  allerempfindlichsten  hinzuzählen;  man  hatte  über  Leo- 
nardo^ von  Pisa  Werke  nur  spärliche  Kunde  durch  die  Auszüge  Libri's*). 
Das  ist  jetzt  anders  geworden  durch  das  Verdienst  eines  Mannes ,  der  sich 
.damit  einen  glänzenden  Namen  .für  alle  Zeiten  erworben  hat.  Der  Fürst 
Boncompagni,  schon  lange  unermüdlich  darin  thätig,  die  mathernati- 


*)  Vergl.  den  Artikel  'Fibonacci'   von  Gartz  in  der  allgem.  Ency- 
clopädie. 


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306  L.  Pisano :  la  practica  geometriae. 

sehen  handschriftlichen  Schätze  seines  Vaterlandes  an  das  Licht  zu  brin- 
gen ,  veröffentlichte  im  Jahre  1867  den  ersten  Band  der  Scritti  di  Leo- 
nardo Pisano ,  dem  jetzt  vor  kurzem  der  zweite  Band,  die  Practica 
geometriae  und  die  kleineren  Schriften  enthaltend,  gefolgt  ist.  Was  in 
dem  ersten  Teile,  dem  Buche  des  abacus,  Wichtiges  enthalten  ist,  das 
hat  jüngst  durch  Gantor  in  dessen  Mathematischen  Beiträgen  zum  Cul- 
turleben  der  Völker  (Halle  1863)  gerechte  Würdigung  gefunden ;  es  gilt 
daher  die  folgende  kurze  Besprechung  lediglich  dem  zweiten  Teile ,  der 
noch  wenig  in  Deutschland  bekannt  sein  dürfte.  (Schreiber  dieses  erhielt 
das  vorher  noch  von  Niemandem  gebrauchte  Exemplar  der  Berliner  Biblio- 
thek zur  Benutzung,  nachdem  er  an  zwei  andern  groszen  Bibliotheken 
vergeblich  nach  dem  Werke  gefragt  hatte.) 

Die  Bedeutung  von  Leonardo's  Geometrie  ist  nach  zwei  Seiten  hin 
ins  Auge  zu  fassen.  Zuerst  zeigt  sich  nun  für  eine  lange  Rette  von  ma- 
thematischen Werken ,  die  seit  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  er- 
schienen, die  Quelle,  aus  der  sie  direct  oder  indirect  geschöpft  haben. 
Die  Sache  ist  sehr  einfach  die:  Pacioli,  oder  wie  er  sich  lateinisch 
nennt,  Lucas  de  Burgo,  der  in  seiner  Summa  de  arithmetica  geometria 
das  erste  gröszere  mathematische  Druckwerk  veröffentlichte,  hat  sehr 
vieles , t  vielleicht  das  meiste,  wörtlich  aus  Leonardo's  Werken  übersetzt. 
Aus  Pacioli  haben  dann  andere ,  wie  Tartaglia ,  Beisch  (in  der  Mar  gar  Ha 
philosophica)  geschöpft,  und  so  ist  die  ursprüngliche  Quelle  weiter  im- 
mer mehr  getrübt  worden.  Es  ist  nun  mit  einem  Male  die  Notwendigkeit 
beseitigt,  jener  getrübten  Ueberlieferung  von  nur  seeundärer  Autorität 
mühselig  nachzugehen,  nachdem  Leonardo's  Schriften  selbst  vollständig 
vorliegen. 

Weit  wichtiger  aber  ist  die  andere  Frage,  die  sich  an  die  vorliegende 
Practica  geometriae  knüpft ,  die  Frage  nach  den  Quellen,  die  seinerseits 
wieder  Leonardo  benutzte.  Die  Antwort  darauf  kann  kurz  und  schlagend 
gegeben  werden ,  wenn  man  sagt :  Wer  diese  Quellen  vollständig  nach- 
weist, der  hat  zugleich  die  Geschichte  der  praktischen  Geometrie  von  dem 
%  Jahrh.  vor  Chr.  bis  zu  Leonardo's  Zeitalter  ans  Licht  gestellt.  Das  ist 
das  grosze  Problem ,  das  sich  an  das  vorliegende  Werk  knüpft ,  ein  Pro- 
blem ,  an  dessen  Lösung  voraussichtlich  noch  mehrere  Generationen  wer- 
den arbeiten  müssen,  welches  aber  nichts  desto  weniger  doch  endlich  zur 
Klarheit  geführt  werden  wird. 

-  Suchen  wir  in  kurzem  die  nähere  Orientierung  zu  geben.  Eine  Un- 
terweisung in  der  praktischen  oder  angewandten  Geometrie  wollte 
Leonardo  geben,  das  besagt  schon  der  Titel,  das  beweist  das  Werk  selbst 
in  seinen  Hauptteilen ,  wenn  gleich  auszerdem  noch  vieles  Andere  darin 
behandelt  wird.  Gleich  in  der  Vorrede  heiszt  es  (mit  Weglassung  der 
Personalien) :  opus  iam  dudum  ineeptum  taliter  edidi,  ut  hi  qui  seeun- 
dum  demonstrationes ,  et  hi  qui  seeundum  vulgarem  consuetudinem, 
quasi  laicali  more,  in  dimensionibus  voluerint  operari,  super  VIII 
huius  artis  distinetiones ,  quae  inferius  explicantur,  perfectum  inve- 
niant  documentum.  Die  acht  Abteilungen  aber  werden  folgendermaszen 
bezeichnet:    Prima    est,   qualiter    latitudines    camporum   quatuor 


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L.  Pisano :  la  practica  geometriae.  307 

aequales  angulos  kabentium  in  eorutn  longitudines  tripüci  modo  mul- 
tiplicentur.  Secunda  est  de  quibusdatn  regulis  geometricis ,  et  de 
inventione  quadratarum  radicum  in  tantum  quantum  eis,  qui  per 
rationes  solummodo  geometricas  voluerint  operari,  necessarium  esse 
putavi.  Tertia  de  inventione  embadorum  otnnium  camporum  cuius- 
cunque  forma e,  Quarta  de  divisione  omnium  camporum  inter  con- 
sortes.  Soweit  der  eigentlich  praktisch  geometrische  Teil.  Daran  schlieszt 
sich:  Quinta  de  radicibus  cubicis  iuveniendis.  Sexta  de  inventione 
embadorum  omnium  corporum  cuiuscunque  figurae,  quae  continentur 
tribus  dimensionibus ,  seilte  et  long  itud  ine ,  latitudine  et  profunditate. 
Septirna  de  inventione  longitudinum  planitierum  et  inventione  alti- 
tudinum  rerum  elevatarum.  Octava*)  de  quibusdam  subtilitatibus 
geometricis. 

Als  Einleitung  (introduetoria)  ist  vorausgeschickt  eine  Zusammen- 
stellung derjenigen  Euclidischen  Definitionen,  die  für  die  Feldmeszkunst 
von  Wichtigkeit  sind ;  dann  folgt  eine  Uebersicht  über  die  Längenmasze 
und  die  gegenseitigen  Verhältnisse  derselben,  darauf  eine  kurze  Erklärung 
der  Quadratmasze ,  und  hieran  schlieszt  sich  (von  S.  5  an)  die  erste  Ab- 
teilung über  die  Messung  der  Rechtecke,  zu  der  die  zweite  Abteilung 
(§.  18  ff.) ,  die  Lehre  von  der  Auffindung  der  Quadratwurzel ,  gewisser- 
maszen  das  Gegenstück  bildet,  indem  hier  umgekehrt  gezeigt  wird,  wie 
man  von  dem  Quadratmasz  auf  das  Längenmasz  zurückkommt.  Es  ist  also 
diese  zweite  Abteilung  mehr  als  eine  Art  von  Excurs  anzusehen.  Den  wei- 
tern Fortgang  der  eigentlichen  Geometrie  giebt  die  dritte  Abteilung  (S. 
30  ff.),  die  sich  in  ihrem  ersten  Abschnitt  ganz  mit  der  Dreiecksmessung 
beschäftigt  (bis  S.  56) ;  dann  kommen  wieder  Messungen  von  Vierecken, 
und  zwar  der  Reihe  nach  aller  verschiedenen  Arten  derselben;  zuletzt 
Messungen  von  Vielecken  und  Kreisen  (bis  S.  110). 

Wir  setzen  diese  Uebersicht  absichtlich  nicht  weiter  fort,  da  wir 
damit  in  allzu  unbekannte  Gebiete  geführt  werden  würden,  sondern  be- 
gnügen uns  damit  für  den  bisher  besprochenen  Teil  des  Leonardoschen 
Werkes  einige  Andeutungen  zu  geben ,  die  vielleicht  durch  ihre  Neuheit 
überraschen  werden ,  aber  nichts  desto  weniger  auf  sicherer  Grundlage 
beruhen. 

Auch  Hero  von  Alexandria  hat  ein  Werk  über  praktische  Geometrie 
und  Geodäsie  verfaszt,  auch  er  beginnt  dasselbe  mit  einer  Zusammen- 
stellung der  Euclidischen  Definitionen,  auch  er  läszt  dann  eine  Tabelle 
der  Längenmasze  folgen ,  auch  er  lehrt  ferner  in  ausführlichster  Weise 
zuerst  die  Ausmessung  der  Rechtecke,  dann  der  Dreiecke,  dann  der  Vier- 
ecke, dann  der  Vielecke  und  Kreise.  Endlich  auch  Heron  hat  den  Laien 
unterwiesen ,  wie  er  Quadratwurzeln  finden  und  umgekehrt  Wurzeln,  die 
aus  ganzen  und  gebrochenen  Zahlen  bestehen ,  quadrieren  kann.    Fügen 


*)  Die  Handschrift  und  der  Druck  haben  Optava.  Auszerdem 
sind  im  obigen  Gitat  einige  orthographische  Eigentümlichkeiten  der 
Handschrift  (wie  e,  mit  und  ohne  Häkchen,  f ür  ae)  stillschweigend  ge- 
ändert worden. 


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308  L.  Pisano:  la  practica  geometriae. 

wir  nun  noch  das  einfache  Factum  hinzu ,  dasz  der  Anfang  der  Leonardo- 
schen  Geometrie  so  gut  wie  eine  Uebersetzung  der  Heronischen  ist,  dasz 
die  Tabelle  der  Längenmasze,  wenn  auch  dem  Inhalt  nach  natürlich  ver- 
schieden, doch  in  der  Grundform  dieselbe  ist,  dasz  endlich  hei  den  ein- 
zelnen Aufgaben  überall  die  sichersten  Analogien  sich  finden ,  so  wird  es 
wol  nicht  mehr  als  ungereimt  erscheinen ,  wenn  wir  behaupten : 

Die  ursprüngliche  Quelle  von  Leonardo's  Geometrie 
sind  die  Heronischen  Geometrumena. 

Aber  auch  nur  die  ursprüngliche  Quelle,  bei  weitem  nicht  die  di- 
recte.  Das  ist  die  andere,  nicht  weniger  interessante,  aber  noch  weit 
schwierigere  Frage.  Die  Schicksale  der  heronischen  Geometrumena  lassen 
sich  bis  in  das  vierte  Jahrh.  n.  Chr.  verfolgen ,  denn  soweit  reichen  die 
Spuren  späterer  Ueberarbeitungen,  die  an  dem  Werke  vorgenommen  wor- 
den sind.  Auszerdem  wissen  wir,  dasz  Golumella,  die  römischen 
Agrimensoren  und  zuletzt  B o e  t h i u s  ganze  Partien  desselben  Werkes 
in  verkürzter  Form  aufgenommen  haben.  Mehr  noch  würden  wir  wissen, 
wenn  die  Geometrie  des  Johannes  Pediasimos  ediert  vorläge,  denn 
nach  einigen  Andeutungen  von  Venluri  und  Letronne  ist  zu  schlieszen, 
dasz  jenes  Werk  eben  auch  nur  eine  Umarbeitung  von  Heron  ist.  Aber 
alles  das  reicht  noch  nicht  aus,  um  annäherungsweise  die  Quelle  zu  resti- 
tuieren ,  welcher  Leonardo  gefolgt  ist.  Ueber  diese  haben  wir  vielmehr 
Folgendes  anzunehmen. 

Das  schon  mehrfach  erwähnte,  handschriftlich  erhaltene,  aber  noch 
nicht  edierte  Werk  Heron's  ist  eine  rein  praktische  Anweisung  für  die 
Feldmesser.  Es  werden  darin  nur  die  elementarsten  geometrischen  Kennt- 
nisse vorausgesetzt,  es  wird  kein  Theorem  aufgestellt  noch  bewiesen, 
sondern  es  werden  lediglich  angewandte,  in  Zahlen  bestimmte,  Aufgaben 
ausgerechnet.  Aber  darauf  hat  sich  Heron's  Thätigkeit  für  eine  populäre 
Darstellung  der  Geometrie  nicht  beschränkt.  Er  hat  auszerdem  die  Ele- 
mente Euclid's  erklärt,  Vieles  gewis  leichter  und  faszlicher  darzustellen 
versucht ,  auch  einige  neue  Lehrsätze  hinzugefügt.  Diese  zweite  Gattung 
von  Schriften  Heron's  ist  uns  allerdings  verloren  gegangen,  aber  sie  finden 
sich  mehrfach  citiert,  und  durch  besonderen  Glücksfall  ist  uns  gerade 
einer  der  hauptsächlichsten  von  Hero  gefundenen  Sätze  erhalten,  die  Be- 
rechnung der  Dreiecksfläche  als  Function  der  drei  Seilen.  —  Nun  ist  mit 
groszer  Wahrscheinlichkeit  anzunehmen,  dasz  in  den  letzten  Zeiten  der 
selbständigen  griechisch-römischen  Gultur  die  theoretischen  Schriften 
Heron's  mit  dessen  praktischer  Geometrie  in  der  Weise  verschmolzen 
wurden,  dasz  das  neue  Werk  Alles  enthielt,  was  man  von  einem  der 
Geometrie  Kundigen  in  damaliger  Zeit  verlangte.  Die  mathematischen 
Kenntnisse  waren  damals,  im  Allgemeinen  schon  tief  gesunken,  deshalb 
erscheinen  die  geometrischen  Beweise  in  einer  sehr  ausführlichen  und 
weitschweifigen  Form ,  worin  jedes  auch  noch  so  selbstverständliche  Zwi- 
schenglied der  Deduction  umständlich  angegeben  wird;  ganz  im  Gegen- 
satz zu  der  knappen  und  eleganten  Form  der  Euclidischen  und  Heroni- 
schen Beweisführung, 


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£.  Rödiger:  W.  Gesenius'  hebr.  Grammatik.  309 

Welche  Schicksale  nun  bei  dem  Untergang  der  alten  Cultur  dieses 
von  uns  angenommene  Werk  gehabt  hat,  bleibt  vor  der  Hand  ganz  im 
Dunkeln.  Am  nächsten  liegt  naturlich  anzunehmen,  es  sei  ins  Arabische 
übersetzt  worden,  und  Leonardo  habe  es  von  da  ins  Lateinische  über- 
tragen, wie  er  in  seinem  Werk  über  Algebra  dem  berühmten  Mohammed 
ben  Musa  gefolgt  ist  (Gantor  a.  a.O.  S.  352).  Hier  wird  weitere  Forschung 
Vieles,  vielleicht  Alles  noch  aufhellen.  Einen  Hauptanhalt  geben  die  Reihen 
der  Buchstaben ,  die  bei  den  Beweisen  benutzt  werden.  Diese  sind  teils 
rein  griechisch:  a  b  g  d  e  z  usw.,  teils  durch  Einflusz  des  arabischen 
Alphabets  einigermaszen  geändert,  teils  mit  Elementen  des  lateinischen 
Alphabets  versetzt.  Darin  liegt  zugleich  die  dreifache  Scheidung  dessen, 
was  wir  in  dem  Werke  Leonardo's  zu  suchen  haben ,  nemlich  erstens 
solche  Partien ,  die  im  Wesentlichen  getreu  nach  dem  griechischen  Ori- 
ginal erhalten  sind,  zweitens  solche,  wo  ein  arabischer  Bearbeiter  Einiges 
geändert  hat,  drittens  solche,  wo  Leonardo  selbstthätig  eingetreten  ist. 
Dies  die  allgemeinen  Gesichtspunkte,  deren  Richtigkeit  gewis  die  fernere 
Forschung  über  dieses  neu  erschlossene  Gebiet  immer  mehr  bestätigen 
wird.  Mögen  diese  Zeilen  dazu  beitragen ,  das  Interesse  für  die  Unter 
suchung  zu  einem  recht  allgemeinen  zu  machen. 

— n.  — h. 


25. 

Wilhelm  Gesenkt*'  hebräische  Grammatik.  Neu  bearbeitet  und 
herausgegeben  ton  E.  Rödiger ,  Dr.  der  Theologie  und 
Philologie,  ord.  Professor  der  morgenländischen  Sprachen 
an  der  königl.  Universität  zu  Berlin.  19.  verbesserte  und 
vermehrte  Auflage.  Mit  einer  Schrifttafel.  Leipzig  1862, 
Seemann,  gr.  8.  Auch  unter  dem  Titel:  W.  Gesenius'*  hebr. 
Elementarbuch.  Erster  Theil:  hebr.  Gr.  herausgegeben  von 
E.  Rödiger.  19.  Auflage.  Leipzig  1862,  Seemann.  X  u. 
328  S. 

Unser  neuer  Bearbeiter  hat  auch  in  dieser  neuesten  Auflage  im  All- 
gemeinen von  manchen  Anforderungen  an  seine  Grammatik  von  Seiten  der 
stattgefundenen  Besprechungen  abstrahiert.  Es  wäre  für  manche  Schul- 
männer freilich  erwünscht  gewesen,  wenn  bei  den  grammatischen  Ver- 
gleichungen  mehr  auf  solche  Sprachen  Rücksicht  genommen  worden  wäre, 
die  zu  den  Disciplinen  der  höhern  gelehrten  Anstalten  gehören.  Unser  Vf. 
hielt  es  aber  für  nötiger,  die  das  höchste  Studium  betreibenden  Anstalten 
zu  beachten.  —  In  der  Vorrede  wird  bemerkt,  dasz  diese  neueste  Auflage 
wesentliche  Verbesserungen  erfahren  habe.  Hervorzuhebende  Paragra- 
phen sind:  SS  1-  2.  7.  9.  26.  27.  51.  63.  83.  84.  —  Auch  im  Stellenregister 


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310  £.  Rödiger:  W.  Gesenius'  hebr.  Grammatik. 

ist. Manches  hinzugekommen.  Strenger  durchgeführt  ist  diesmal:  'eine 
bestimmte  Umschreibung  hebräischer  Wörter,  auch  der  grammatischen 
Ausdrücke,  wie  Piel  usw.'  Der  Hr.  Vf.  hält  selbst  sein  Buch,  'in  vielen 
inneren  Beziehungen'  für  ein  anderes.  Um  auf  Specielles  einzugehen, 
finden  wir  §  1  die  neuesten  litterarischen  Erscheinungen  für  die  mit  der 
hebräischen  Sprache  verwandten  semitischen  Dialecte  angegeben.  —  Auch 
§  2  'Uebersicht  der  Geschichte'  usw.  enthält  die  neuesten  litterarischen 
Nach  Weisungen.  Mit  Recht  wird  am  Schlüsse  von  §  2  bemerkt ,  dasz  die 
canonische  Litteratur  des  A.  T.  nur  einen  Bruchteil  der  Nationallitteratur 
enthalte.  Referent  würde  den  Nachweis  aus  Flavius  Josephus  und  selbst 
aus  dem  Talmud  entnehmen.  Der  gröste  Verlust  wird  wol  durch  die 
Verbrennung  des  Archivs  in  Jerusalem  unter  Titus  und  durch  den  Bücher- 
brand in  Alexandrien  entstanden  sein. —  §  3.  (Die  grammatische  Bearbei- 
tung der  hebräischen  Sprache'  beschränkt  sich  bis  auf  das  Ende  des  18n 
Jahrhunderts  und  citiert  für  die  Bemühungen  des  19n  Jahrhunderts :  Stein- 
schneiders bibliographisches  Handbuch  für  hebräische  Sprachkunde,  Leip- 
zig 1859.  Auszer  Ewald ,  dem  man  doch  wol  die  ersten  philosophischen 
Forschungen  in  der  hebräischen  Sprache  verdankt ,  kann  Nägelsbach  we- 
gen seiner  neuen  Ansichten  genannt  werden ;  wenn  auch  das  Streben  Beider 
Gesenius'  System,  zumal  seit  der  neuen  Bearbeitung  seiner  Grammatik, 
nicht  zu  verdrängen  vermochte.  —  §  5  ist  die  Gestalt  der  Buchstaben  ge- 
nauer angegeben  und  die  Aussprache  bestimmter  bezeichnet.  Das  griechische 
Alphabet  mit  Beisetzung  der  ältesten  Buchstaben,  eines  Digamma  (Stigma), 
Koppa ,  Sandoricum  usw.  würde  für  Anfänger  eine  passende  Vergleichung 
mit  dem  hebräischen  Alphabet  und  eine  leichtere  Erlernung  desselben  ge- 
statten. Auszer  den  (3)  durch  eine  andere  Figur  sich  unterscheidenden 
Finalbuchstaben  könnten  noch  Vp^  als  1)  der  kleinste  Buchstabe,  2)  der 
mit  der  grösten  Unterlänge  und  3)  der  mit  der  grösten  Oberlänge  namhaft 
gemacht  werden.  §  5.  4)  Abbreviaturen.  Hinzuzufügen  wäre:  'tt  für 
iijh*)  und  'i  für  ^Hfy  desgleichen  ^  für  btf  z.  B.  b^tO*);  auch  bei 
^nirn:  'to1)  =  "^rn.  —  §  7.  Das  Schema  A  ist  vollständiger  angegeben. 
Noch  genauer  wären  die  Beisetzungen  bei  A  (ii)  8.  l\  Ui.  —  §  8.  2  TVH 
rüach,  beizufügen:  nicht  rucha  zu  lesen,  oder,  wie  es  die  jüdischen  Gram- 
matiker wollen ,  fälschlich  Ruwach.  —  g  9  ist  bedeutend  erweitert  und 
durch  reichlichere  Beispiele  mehr  verdeutlicht.  Die  3  Vocalclassen  sind 
auf  das  Anschaulichste  erklärt.  Besonders  ist  bereits  hier  (Mehreres  aber 
§  27)  über  die  Entstehung  des  Segöl  gesprochen.  Ueber  die  Entscheidung 
des  Kamez  und  des  Qame$  chatuph  (wol  besser  Qome$)  wird  wegen  der 
gleichen  Gestalt  auf  S.  29  als  Ursache  hingewiesen.  Noch  könnte  aber 
hier  beigefügt  werden ,  dasz  wir  daher  im  Griechischen  aus  dem  Semiti- 
schen entlehnte  Wörter  finden,  die  bald  mit  <x,  bald  mit  o  oder  uu  ge- 
schrieben sind,  z.  B.  6pduj  =  6pw  von  iian  Raah,  dagegen  ßiumSc  von 
ST733  Bämäh,  £6<poc  von  -pöBf  Zäphön  usw.  S.  38.  *Der  Name  fcttttj 
wird  auch  K^lö  geschrieben'  (gedeutet  unter  Andern  von  Rabbi nowitz  in 
seiner  eigentümlichen  hebräischen  Grammatik  von  a^ti  Ritz,  Loch), 
fer  ist  seiner  Ableitung  und  der  eigentlichen  Bedeutung  nach  zweifelhaft' 
Es  scheint  aber  doch  die  Ableitung  von  «ittj  nichtig ,  als  nicht  völliger 


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£.  Rödiger:  W.  Gesenius*  hebr.  Grammatik.  311 

Vocallaut,  jeder  andern  vorzuziehen  zu  sein.  —  §  10.  2.  Anm.  <(S°wä  chä- 
teph.)  Unter  Nichtgutturalen' usw.  b)  Dieses  geschieht  aber,  wie  auch  die 
Beispiele  zeigen  c3irm  smü)9  mehrenteüs  bei  den  Sibüantibus.  cDas 
Chateph-Kamez  —  für  das  einfache  Schwab  Auch  hier  ist  zu  bemerken, 
dasz  dieses  besonders  bei  den  Sibüantibus  und  dem  *i  stattfindet,  hier 
sogar  bei  Chateph-Patach  und  möge  Ps.  7,  6  citiert  werden,  da  t)^  (wie 
auch  eine  Lesart  lautet)  offenbar  für  tfi-f]  zu  lesen  ist.  —  $  12  und  §  20 
könnten  in  Betreff  des  Dagesch  besser  mit  einander  vereinigt  werden.  — 
§  15.  Da  auch  in  dieser  neuesten  Ausgabe  dem  Wunsche  nicht  willfahrt 
worden  ist,  bereits  hier  die  Penacuten  Formen  zu  nennen,  so  kann  Refe- 
rent nur  anrathen,  bei  einer  neuen  Auflage  wenigstens  die  Paragraphen 
für  solche  Fälle  zu  citieren.  —  Das  sogenannte  KJ^j,  welches  über  80 
Mal,  nach  den  Masorethen,  vorkommen  soll,  halten  ältere  hebräische 
Grammatiker  für  falsche  Lesart.  —  §  17  ist  auch  das  Kgöfi)  (?^ftKä 
ptösil)  der  Punkt  mitten  im  ganzen  Satz  zu  erwähnen.  — ■  Bedeutend 
verbessert  sind  die  §§  26.  27,  besonders  letzterer,  wo  selbst  der  Ueber- 
gang  der  kurzen  Vocale  oder  ihr  Wegfall  durch  verändertes  Silbenver- 
hällnis  deutlicher  veranschaulicht  worden  ist.  —  §  28.  4.  *SiIben  die  mit 
2Consoaanten  schlieszen.9  Passend  wäre  hier  die  vox  memorialis :  p^  ^n© 
na.  —  II.  Hauptteil.  Formenlehre,  oder  von  den  Redeteilen.  S.  75  usw. 
—  §  30.  S.  78.  Vgl.  noch  bei  XFl  treten,  xp^xw  (drücken  desgl.)  — 
S.  86*)  wird  D^p^N  Spr.  20,  31  nach  Hitzig  als  entstanden  aus  trrft$ 
erklärt.  Refer.  stimmt  diesem  insofern  bei,  als  wir  in  jüdischen  Schriften 
für  D^ff^N  auch  D^pfba  finden,  aus  religiösem  Vorurteil,  so  wie  'tt  für 
fiirr  und  Y'a  für  5i\'  —  §  42. 1.  Das  starke  Verbum.  Hier  könnte  die 
Bemerkung  vorangehen,  dasz  ein  solches  Verbum  seine  3  Radicalen  be- 
halten müsse,  mit  Ausnahme  der  verba  l"b  und  n"V,  wo  aber  das  Dagesch 
compensativum  eintreten  musz.  —  Kleinere  Verbesserungen  finden  sich 
§  47  usw.  (Imperfectum).  So  ist  auch  §  51  *Niphal'  der  Charakter  der 
Conjugation  mehr  verdeutlicht.  Desgleichen  finden  wir  auch  §  63,  verba 
primae  gutturalis,  einige  Zusätze  für  ausgenommene  Fälle.  —  §  72.  Verba 
l"*,  7.  Genauer  ist  die  Bemerkung  über  die  Conjugationen  Piel,  Pual, 
Hithpae*l.  S.  140,  1  müste  hinzugefügt  werden:  Dnto,  vgl.  S.  95  Drpü'V 
und  S.  141  ÖFtäJrt.  —  Auch  der  Zusatz  bei  den  Verbis  J-j"b  über  das  ver- 
längerte Imperfectum  (S.  147)  ist  bei  6)  mit  Recht  unter  Bezug  auf  48,  3 
beigefügt  worden.  —  Drittes  Gapitel.  Das  Nomen.  Die  §§  83.  84  ent- 
halten angemessene  Zusätze  und  abgeänderte  Erklärungen.  S.  159 — 162. 
Die  Angabe  der  verschiedenen  Arten  und  Weisen,  die  Formen  aufzuzählen, 
ist  sehr  methodisch.  §  84.  6  ist  aber  hier  zu  citieren  S.  184.  Parad.  II. 
Anmerk.  Der  Zusatz  zu  S.  163,  35  nennt  mit  Recht  mehrere  Quadrilit- 
terae  und  eine  Quinquelittera.  —  Auch  §  85  'von  schwachen  Stämmen' 
sind  die  Beispiele  vermehrt  worden.  —  Die  Paradigmen  der  nomina  mas- 

*)  Fürst  (hebräisches  Handwörterbuch)  erklärt  die  Form  nicht  von 
?Ä,  indem  er  darunter  einen  König,  der  nicht  Widerstand  leistet,  ver- 
steht. Aber  auch  der  König  als  oberster  Richter  kann  Dsffbtt  heiszen, 
z.  B.  Exod.  21,  6. 


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312  £.  Rödiger:  W.  Gesenius'  hebr.  Grammatik. 

culina  sind  unverändert  geblieben.  Die  Form  055gt  (früher  tiäfp)  fehlt 
Auszer  der  Form  *\b)2  dürften  auch  Formen  von  VtiJJ  ^tip  und  fej 
•^öß  z.  B.  bart  "joaunter  a.  ß.  f.  angeführt  werden.  vßei  den  Zahlwör- 
tern ist  wiederum  für  Mehreres  auf  die  Syntax  verwiesen  worden.  — 
Viertes  Capitel.  Von  den  Partikeln.  S.  198.  §  IOO.  3  Ö—  an  Substantiv. 
Hier  kann  auch  djtia  (nach  Fürst)  füglich  angereiht  werden.  Genes.  6, 3 
*  in  Betreff  der  Verirrung^  §  100.  4  die  Punctation  des  n  interrogativum 
ist  näher  erläutert.  —  III.  Hauptteil.  Syntax.  S.  209.  Eine  Aenderung 
des  Bestehenden  findet  sich  im  Einzelnen.  $  108.  3  c,  nomen  rectum  =  ; 
nomen  compositum.  (Der  Kopf  von  Seeb  und  Oreb,  für:  die  Köpfe.)  Das- 
selbe Idiom  findet  sich  auch  im  Deutschen  und  im  Französischen ,  z.B. 
On  fit  couper  la  töte  aux  prisonniers ,  und  z.  B.  Sie  hatten  alle  den  Kopf 
(=  die  Besinnung)  verloren.  —  §  109.  2  wäre  beizufügen  die  Setzung 
des  Artikels  für  das  pronomen  personale,  z.  B.  für  iünöi  ÖtoSrr  das  Leib- 
rosz  des  usw.  Die  neue  Ausgabe  führt  aber  auch  die  ohne  Artikel  ge- 
brauchten dichterischen  Wörter:  Diiin  Mtftö  usw.  an.  Auch  sind  mehrere 
Beispiele  beim  Artikel,  als  abweichend  vom  Deutschen  angeführt.  Ver- 
mehrt sind  auch  die  Beispiele  bei  der  Reclion  des  verbi ,  so  §  118  Accu- 
sat.  2.  —  Im  §  121  sind  immer  noch  Sätze  wie:  '»Stf  d?  ''S?.'^  als  Aus- 
nahmen erklärt.  Streng  genommen  sind  hier  die  pronomina  personalia 
separata  als  indeclinabÜia  zu  betrachten,  die  jeden  Casus  vertreten  kön- 
nen; oder  sie  sind  zu  übersetzen:  Segne  mich,  auch  ich  —  will  den  Se- 
gen. * —  §  125.  Tempora.  S.  240.  Beispiele  vom  Perfectum  und  Imperfec- 
tum  als  Gegensätze.  Nach  Ref.  gehört  auch  ohnedies  eine  solche  Auf- 
fassung wie  in  Ps.  1  hierher.  Der  Mannigfaltigkeit  wegen  wechseln  hier 
Perfectum  und  Imperf.  'jjVfj  usw.  '  Heil  dem  Manne  der  nie  gewandelt 
hat',  ybtvi  *der  stets  Behagen  finden  wird*.  —  Auch  die  §§  133. 135. 
138  sind  durch  hinzugekommene  Beispiele  bereichert:  bei  fcOSi  könnte 
noch  beigefügt  werden,  dasz  Gonstructionen  wie  convenire  und  adire  ali- 
quem  hier  nicht  stattfinden;  also  nur  z.  B.  tp^tt  Kä  usw.  — Kleinere 
Zusätze  finden  sich  bei  der  Syntax  der  Partikeln ,  unter  Andern  §  152. 
Einige  Vervollständigungen  enthalten  die  Parad.  der  Verba.  S.  298.  ftH 
(vielleicht  besser  bbj) ,  das  Parlicip.  med.  o  ist  nicht  beigesetzt.  S.  308 
böj.  S.  312  nö.  Statt  Dn»  lies  Dnn  (s.  oben).  S.  314  ä>7}.  —  Das 
Register  und  selbst  das  Slellenregister  haben  eine  Erweiterung  erhalten. 
—  Da  der  Vf.  durchschnittlich  jedes  dritte  Jahr  eine  neue  Auflage  besor- 
gen musz  und  fortwährend  in  verschiedenen  fremden  Sprachen  Ueber- 
setzungen  von  unserer  Grammatik  veranstaltet  werden,  so  gibt  dieses 
einen  unumstößlichen  Beweis  für  ihre  verbliebene  Brauchbarkeit.  Viel- 
leicht müste  aber  noch  Mehreres  (wiewol  emendiert  zum  Teil)  aus  Ge- 
senius' Lehrgebäude  der  Grammatik  einverleibt  werden,  was  eine  Syntaxis 
ornata  als  Uebergang  zur  Stilistik  bilden  könnte. 

Mühlhausen  in  Thüringen.  Dr.  Mühlberg. 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist  Notizen.   313 

Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  statistische 
Notizen,  Anzeigen  von  Programmen. 

(Fortsetzung  von  S.  228.) 


13.  Koelh].  a)  Friedrich-Wilhelms-Gymnasium.  In  die 
Stelle  des  als  Gymnasiallehrer  nach  Elberfeld  abgegangenen  Dr. 
Schneider,  und.  zugleich  um  die  überfüllte  Quinta  in  zwei  Cötus 
*  zerlegen  zu  können,  wurden  Dr.  Goldschmidt  und  Dr.  Hollander 
als  wissenschaftliche  Hülfslehrer  berufen.  Dem  Gymnasiallehrer  Dr. 
Weinkauff  wurde  der  Oberlehrertitel  verliehen.  Dr.  Benguerel, 
die  Schulamtscandidaten  Konen  und  Dr.  Kette rheit  traten  als  wiss. 
Hülfslehrer  ein.  Lehrercolleginm:  Director  Prof.  Dr.  Herbst,  die 
Oberlehrer  Professor  Hosz,  Prof.  Pfarrius,  Regierungsrath  Grashof 
(evang.  Religionsl.),  Oettinger  (beurlaubt),  Haentjes,  Dr.  Eckerts, 
Feld,  Dr.  Weinkauff,  Peltzer  (kath.  Rel.),  die  ordentl.  Lehrer  Dr. 
Kocks,  Berghaus,  Serf,  die  Hülfslehrer  Dr.  Hollander,  Gold- 
schmidt,  Dr.  Benguerel,  Konen,  Zeichnenlehrer  Nagel,  Gesangl. 
Gerbracht,  Turnlehrer  Angerstein.  Die  Schülerzahl  ist  nicht  mit- 
geteilt. Abiturienten:  29.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus:  De 
caesura  versus  hexametri  poetarum  Latinorum,  quae  est  post  quinti  pedis 
arsim.  Scripsit  Dr.  W.  Kocks.  Particula  prior,  15  S.  4.  'Omnem 
de  hac  caesura  quaestionem  in  duo  capita  distribui,  quorum  priore  ex- 
ponam,  quibus  conditionibus  admittatur,  altero  poetas  versus  hexametri 
Latini  vim  et  naturam  secutos  hanc  caesuram  neglexisse  ostendam.' 

b)  Katholisches  Gymnasium  an  Marzellen.  Der  4.  ordentl. 
Lehrer  Dr.  Charge'  schied  in  Folge  seiner  Ernennung  zum  städtischen 
Schulinspector  aus  seiner  bisherigen  Stellung  aus.  Zu  vorläufiger  Wahr- 
nehmung der  hierdurch  erledigten  Stelle  wurde  Brühl  berufen,  der 
zuletzt  an  dem  Gymnasium  in  Bonn  beschäftigt  gewesen  war.  Der 
Schul amtscandidat  Linnig  wurde  nach  Vollendung  seines  Probejahres 
zu  einer  commiss arischen  Beschäftigung  an  das  Gymnasium  zu  Trier 
berufen.  Dem  Oberlehrer  Pütz  wurde  das  Prädicat  eines  Professors 
verliehen.  Behufs  Abhaltung  des  Probejahres  traten  zu  Anfang  des 
Schuljahres  die  Candidaten  vanHengel  und  Goestrich  ein.  Lehrer- 
colleginm: Director  Ditges,  die  Oberl.  Prof.  Dr.  Ley,  Prof.  Pütz, 
Religionslehrer  Dr.  Vosen,  Dr.  Saal,  Kratz,  Dr.  St  ander,  die 
ordentlichen  Lehrer  Rheinstätter,  Oberl.  Vack,  Oberl.  Schalten- 
brand, Gorius,  Zons,  wiss.  Hülfsl.  Brühl,  die  Probecandidaten 
van  Hengel,  Goestrich,  Schreibl.  Baum,  Zeichnenl.  Dreesen, 
Divisionsprediger  Hunger  (evang.  Rel.).  Schülerzahl  gegen  Ende  des 
Schuljahres:  338  (I«  40,  Ib  33,  II«  30,  IIb  43,  III  62,  IV  39,  V  62, 
VI  49).  .Abiturienten:  38.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine 
Abhandlung  des  Oberlehrers  Kratz:  De  Minervae  interventu  in  Bomeri 
Odyssea.     16  S.    4. 

c)  Katholisches  Gymnasium  an  der  Apostelkirche.  Der 
Schulamtscand.  Dr.  Kortum  trat  sein  Probejahr  an.  An  die  Stelle  des 
nach  Bonn  versetzten  Schulamtscandidaten  Grundhewer  trat  mit  dem 
Beginne  des  neuen  Schuljahres  der  commissarische  Lehrer  Bruders, 
dem  kurz  darauf  die  4.  ordentliche  Lehrerstelle  definitiv  übertragen 
wurde.  Am  Schlüsse  des  Wintersemesters  schied  der  Schulamtscandidat 
Badorff  nach  Vollendung  seines  Probejahres  aus;  mit  dem  Beginne 
des  Sommersemesters  trat  der  Candidat  Niederländer  sein  Probejahr 
an.  Dem  an  der  Anstalt  fungierenden  Candidaten  Conrads  wurde  die 
5.  ordentliche  Lehrerstelle  definitiv  übertragen.    Lehrercolleginm:  Dir. 

S.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Pftd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  5  u.  6.  21 


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314  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

Prof.-  Bigge,  die  Oberlehrer  Dr.  Klein,  Dr.  Spengler,  Kriege- 
rn an  n,  Dr.  E.  Goebel  (jetzt  Gymnasialdirector  in  Fulda),  kath.  ße- 
ligionslehrer  Dr.  van  Ender  t,  die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Wahlen- 
berg,  Dr.  Krausz,  Dr.  Caspar,  Bruders,  Conrads,  evangelischer 
Religionslehrer  Dr.  von  Knapp,  die  Probecandidaten  Badorff,  Kor- 
tum,  Niederländer,  Zeichnenlehrer  Dre es en,  Schreiblehrer  Baum, 
Gesangl.  Kipper,  Turnl.  Angerstein.  Schülerzahl:  285  (I  28,  II»  23, 
IIb  36,  III  41,  IV  46,  V  63,  VI  58).  Abiturienten:  12.  —  Den  Schul- 
nachrichten ist  vorausgeschickt:  De  varia  discrepanimm  in  camdnibus 
Horatianis  scripturarum  origine  et  emendatione.  v  Scripsit  Dr.  J.  Klein. 
22  S.  4.  Der  Verfasser  ist,  wie  er  selbst  sagt  durch  He  im  so  eth  (die 
Wiederherstellung  der  Dramen  des  Aeschylus,  Bonn  1861,  und:  die  in-* 
directe  Ueberlieferung  des  äschylischen  Textes,  Bonn  1862)  auf  die 
Behandlung  dieser  Frage  aufmerksam  gemacht  und  zu  vorliegender  Ab- 
handlung veranlaszt  worden.  Dasselbe  Verfahren,  welches  Heimsoeth 
zur  Wiederherstellung  der  Dramen  des  Aeschylus  angewendet  hat,  will 
der  Verfasser  auch  auf  Horaz  angewendet  wissen.  fAc  primum,  ut 
totius  libri  (Heimsoeth's)  summam  paucis  verbis  complectar,  veterum 
commentariorum  reliquias,  cum  in  librorum  marginibus,  tum  vero  inter 
ipsos  versus  servatas  (quarum  hae  prorsus  adhuc  neglectae  jacebant), 
innumerabilem  scripturarum  antiquiorum  earumque  genuinarum,  sed  in 
codicum  textu  qui  dicitur  jam  diu  corruptarum  multitudinem  nobis  tra- 
dere  ostendit.  Secundo  loco  felicissimorum  hujus  aetatis  in  arte  critica 
conatuum  vestigia  premens  certae  cujusdam  viae  rationisque  fines  de- 
gcribit,  ex  qua  graviorum  illorum,  in  quibus  critica  adhuc  maxime  hae- 
rebat,  mendorum  curatio  petatur,  eorum  quidem  quae  non  sunt  descri- 
bentium  errore  nata,  sed  ex  ea  re  duxerunt  originem,  quod  veterum 
scripta  in  codicibus  per  multa  saecuja  ferebantur  larga  annotationum 
copia  ad  marginem  aut  inter  versus  posita  quasi  saepta  undique  et  ve- 
stita*  Neque  vero  minus  flda  sunt,  quae  tertio,  quarto  quintoque  loco 
posuit,  subsidia  atque  adjumenta,  quippe  quae  in  eo  cernuntur,  ut  pe- 
nitus  perspexerimus  et  metrorum  leges  numerorumque  naturam  et  ra- 
tiones,  et  liberum  illum  quem  dicunt  veterum  in  collocandis  verbis  mo- 
dum,  denique  elocutionem  cujusque  scriptoris  propriam.  Quae  omnia 
cum  subtiliter  et  copiose  enucleavit,  tum  illustribus  emendationum 
exemplis  ad  summam  evidentiam  atque  perspicuitatem  adduxit.'  fSta- 
tim  ad  poetam  Venusinum,  ab  Heimsoethio  quidem  in  Graecis  litteris 
versante  nön  nisi  obiter  in  singulis  locis  adhibitum,  (ut  digito  monstra- 
ret,  omnia  illa,  quae  de  Graecis  docebat,  in  Latinis  quoque  scriptis 
locum  habuisse),  animum  eo  consilio  applicavi,  ut  mendorum  per  multa 
saecula  in  codicibus  natorum  varietatem  ita  distinguerem  ac  separarem, 
ut  turbam  istam  scripturarum  discrepantium  ad  genera  sua  revocarem 
eoqUe  rem  criticam  et  faciliorem  redderem  expeditioremque  et  simpli- 
ciorem  atque  certiorem.  Et  profecto  ne  hodie  quidem  fomnia  illa,  quae 
ex  scriptorum  codicum  collatione  clare  et  ultro  se  ingerunt,  praerepta 
jam  esse  et  anticipata',  id  quod  Bentleus  de  suo  tempore  contendit: 
imo  plurimum  etiam  nunc  ex  codicum  scripturis  recte  intellectis  diju- 
dicatisque  redundare  salutis,  hoc  in  Horatii  quoque  carminibus  in  animo 
est  ostendere.  Etenim  verissime  Heimsoeth  monuit,  veram  error  es  cor- 
rigendi  artem  ex  quaestione  de  errorum  origine  pendere.  Ea  vero 
duplex  potissimum  fuit,  cum  altera  mendorum  pars  ex  calamo  librario- 
rum  a  vero  aberrante  fluxerit,  altera  ex  interpretatione  illa  gramma- 
ticorum,  qui  vejterum  scripta  in  ipsis  libris  manu  exaratis  circumdare 
commentariis  suis  solebant.  Ut  igitur  primum  utriusque  mendorum  ge- 
neris  differentiam  ante  oculos  nobis  ponamus,  apertissima  est  curisque 
saeculorum  praeteritorum  maxime  tractata  opima  illa  atque  varia  erro- 
rum seges,  quae  librariorum  negligentia,  levitate,  inscitia  effloruit. 
Quaecunque  enim  scribendo  propagantur,  cum  negKgentiae  errores  in 
se  recipere  soleant,  tum  accedit,  quod  veterum  libri  Ulis  quidem  |em- 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen.  315 

poribus,  quornm  apographa  ad  nos  pervenerunt,  a  soriptoribns  transcri- 
bebantur  et  reram  antiquarum  et  linguae  et  artis  non  eatis  intelligen- 
tibus.  Ita  errores  tum  negligentia  tum  inscitia  ortos  ubique  in  libris 
manu  seriptis  deprehendimus.'  —  Der  erste  Teil  dieser  für  die  Kritik 
des  Horaz  so  wichtigen  Abhandlung  schliefst  mit  den  Worten:  fQuae- 
cunque  adhuc  attigi  variarum  scripturarum  errorumque  exempla,'ea  ex 
uno  omnes  fluxerunt  fönte,  ex  interpretatione,  quae  in  singularnm  vocunt 
formia,  dictionis  ratione  grammatica  verborumque  collocatione  vertatnr, 
sive  illa  ab  ipsis  grammatieis  profecta  sive,  quod  idem  est  in  hac  causa* 
a  scriptoribus  codicum  grammaticorum  vice  fungentibus.  Atque  si  mihi 
das,  et  facilius  et  certius  eas  discrepantias  dijudicari  eosque  emendari 
error  es,  quornm  Causam  intellexeris  originemque,  non  negabis,  puto, 
tali  qualem  incepi  variorum  interpretationis  generum  compositione  at- 
que comparatione  rei  criticae  opportunam  afferri  posse  lucem.  In  altera 
commentatione  locum  illum  multo  graviorem  fructusque  pleniorem  tra- 
ctabo  de  ipsorum  verborum  sententiarumque  interpretatione,  variarum  falsa- 
rumque  scripturarum  procreatrice.' 

14.  Kbbubnaoh].  Mit  dem  Beginne  des  Schuljahres  trat  Dr.  Hof- 
mann,  nachdem  er  sein  Probejahr  an  dem  Gymnasium  zu  Wetzlar  ab- 
solviert, als  5.  ordentlicher  Lehrer  ein.  Lehrercollegium:  Director 
Prof.  Dr.  Axt,  die  Oberlehrer  Prof.  Grabav,  Prof.  Steiner;  Wasz* 
muth,  die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Dellmann,  Möhring,  0x4,  Dr. 
Linz,  Dr.  Hofmann,  Kaplan  Bourgeois  (kath.  Bei.),  Zeichnenlehrer 
Kauf  fmann.  Schülerzahl:  203  (1 13,  H  37,  HI  35,  IV  34,  V  43,  VI  41), 
Abiturienten:  4.  —  Den  Schulnachrichten  geht  voraus  eine  Abhandlung 
vom  Director  Dr.  Axt:  Die  Heilige  Schrift  das  Buch  der  Bücher  auch  in 
culturMstorischer,  aligemein  wissenschaftlicher  Hinsicht.    68  S.    4. 

15.  Muenstibsifbl].  An  die  Stelle  des  nach  Düren  berufenen  Dr. 
Stahl  trat  aushilfsweise  der  Candidat  A.  Ho  11  er.  Lehrercollegium: 
Director  Katzfey,  die  Oberlehrer  Dr.  Hagelücken,  Dr.  Hoch,  Dr. 
Mohr,  Religionslehrer  Harnischmacher,  die  ordentlichen  Lehrer 
Tr.  Tnisquen,  Gramer,  Thürlings,  die  Oandidaten  Holler  und 
Dr.  Röckerath.  Schülerzahl:  182  (I«  18,  I»»  17,  II*  40,  II»»  43,  HI  23, 
IV  15,  V  8,  VI  18).  Abiturienten:  17.  —  Den  Schulnachrichten  ist  vor- 
ausgeschickt eine  Abhandlung  des  Gymnasiallehrers  Gramer:  jDe  sena- 
tus  Romani  prudentia.  20  S.  4.  fItaque  primum  disseram  de  iis  arti- 
bus,  quibus  senatus  ad  regendum  populum  ac  pleitem  usus  sit,  deinde 
qua  ratione  totum  fere  terrarum  orbem  in  potestatem  suam  redegerit 
exppnam.' 

16.  Neusz],  In  dem  Lehrercollegium  ist  keine  Aenderung  einge- 
treten. Dasselbe  bilden:  Director  Dr.  Menn,  die  Oberlehrer  Dr.  Bo- 
gen, Hemmerling,  Dr.  Roudolf,  Religionslehrer  Dr.  Kleinheidt, 
Dr.  Ahn,  Quosseck,  die  ordentlichen  Lehrer  Waldeyer,  Köhler, 
commiss.  Lehrer  Windhauser,  Musikdirector  Hartmann  (Gesang), 
Schreib-  und  Zeichnenlehrer  Küpers,  Pfarrer  Leendertz  (evangel, 
Rel.).  Schülerzahl:  282  (I  39,  II*  24,  IIb  33,  III  64,  IV  37,  V  46,  VI  49). 
Von  den  auswärtigen  Schülern  sind  47  Pfleglinge  des  erzbischöflichen 
Seminarium  Marianum.  Abiturienten:  18.  —  Den  Schulnachrichten  geht 
voraus  eine  Abhandlung  des  Religionslehres  Dr.  Kleinheidt:  Die 
Wunder  und  ihre  Beweiskraft    16  S.    4. 

17.  Saabbrubckbn].  Nachdem  Kaplan  Wa wer  eine  andere  Bestim- 
mung' erhalten  hstte,  wurde  dem  Kaplan  Riotte  die  Erteilung  des  kath.. 
Religionsunterrichts  übertragen.  Candidat  O.  Petry  wurde  provisorisch 
als  Lehrer  hauptsächlich  des  Französischen  und  Englischen  in  den  Real- 
classen  berufen.  Lehrercollegium:  Director  Peter,  die  Oberlehrer 
Prof.  Dr.Schröter,  Schmitz,  Goldenberg,  die  ordentlichen  Lehrer 
Ihr.  I*ey,  Dr.  v.  Velsen,  Küpper,  Dr.  Becker,  Oberpfarrer  Ilse 
(Bei.) ,  Kaplan  Riotte,  Candidat  Petry,  Zeichnenlehrer  Sehne  bei, 
Lehrer  der  Vorschule  Hollweg.    Schulerzahl:  164  (I  3,  II  13,  III  «7, 

21* 


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316  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen y  Statist.  Notizen. 

IV  16,  V  23,  VI  28,  Vorsch.  64).    Abiturienten:  2.  —  Eine  wissenschaft- 
liche Abhandlung  ist  den  Schulnachrichten  nicht  beigegeben. 

18.  Tbieb].  Im  Lehrercollegium  haben  im  Laufe  des  Schuljahrs 
folgende  Veränderungen  stattgefunden.  Beim  Schlüsse  des  vorigen  Schul- 
jahres schied  Korzilius  aus  seiner  bisherigen  Wirksamkeit  als  erster 
katholischer  Religionslehrer  der  Anstalt,  um  einer  Berufung  in  eine 
Pfarrerstelle  zu  folgen.  Seine  Stelle  wurde  dem  bisherigen  Kaplan  an 
der  Liebfrauenkirche  zu  Coblenz  Stephinsky  zuerst  eommissarisch, 
dann  definitiv  übertragen.  Die  Erteilung  des  evangelischen  Religions- 
unterrichts wurde  dem  neu  ernannten  evang.  Pfarrer  Klein  übertra- 
gen. Zu  Ostern  schied  der  commissarische  Lehrer  Kruse  von  der  An- 
stalt, um  die  ihm  angetragene  Rec torstelle  an  der  neuerrichteten 
höhern  Bürgerchule  zu  Mayen  zu  übernehmen.  An  seine  Stelle  wurde 
der  Schulamtscandidat  L innig  berufen.  Beim  Anfange  des  Schuljahres 
begannen  die  Candidaten  Höffling  und  Petit,  zu  Weihnachten  Cand. 
Viehoff  ihr  vorschriftsmäsziges  Probejahr.  Letzterer  trat  aber  schon 
bald  aus  diesem  Verhältnisse  wieder  aus  und  übernahm  eine  commissa- 
rische Lehrerstelle  an  der  hiesigen  Realschule.  Lehrercollegium:  Dir. 
Dr.  Reisacker,  die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Hamacher,  Dr.  König- 
hoff, Houben,  Flesch,  1.  kath.  Religionslehrer  Stephinsky,  die 
ordentlichen  Lehrer  Dr.  E.  Hilgers,  Oberlehrer  Schmidt,  Fisch 
(2.  kath.  Religionsl.) ,  Blum,  Dr.  Conrads,  Dr.  Fritsch,  Piro,  Dr. 
J.  Hilgers,  Superintendent  Klein  (evang.  Rel.),  die  commissarischen 
Lehrer  Scherfgen,  Dr.  Wolff,  Dr.  Huyn,  Dr.  Wiel,  Straubin- 
ger, L innig,  die  Probecandidaten  Höffling,  Petit,  Schreiblehrer 
Paltzer,  Zeichnenlehrer  Kraus,  Gesanglehrer  Hamm.  Schülerzahl: 
518  (I*  31,  Ib  46,  II«*  31,  II«*  25,  II*1  34,  IIb»  32,  IH1  41,  HP  47, 
IV1  48,  IV*  47,  V1  39,  V8  38,  VI1  29,  VI*  30).  168  Schüler  waren 
Alumnen  des  bischöflichen  Convicts.  Abiturienten:  35.  —  Den  Schal- 
nachrichten geht  voraus  eine  Abhandlung  vom  Dir.  Dr.  Reisacker: 
Der  Todesglaube  bei  den  Griechen,  Eine  historische  Entwicklung,  mit 
besonderer  Rücksicht  auf  Epikur  und  den  römischen  Dichter  Lucrez. 
47  S.    4. 

19.  Wesel].  Aus  dem  Lehrercollegium  schied  G-.  L.  Meyer;  in 
seine  Stelle  trat  als  jüngstes  Mitglied  G.  L.  Döring,  zuletzt  als  wias. 
Hülfsl.  am  Gymnasium  zu  Cleve  beschäftigt.  Lehrercollegium:  Director 
Domherr  Dr.  Blume,  die  Oberlehrer  Prof.  Dr.  Fiedler,  Dr.  Heide- 
mann, Dr.  Müller,  Dr.  Frick,  die  ordentlichen  Lehrer  Dr.  Ehr- 
lich, Tetsch,  Dr.  Richter,  Dr.  Lipke,  Döring,  die  auszerordent- 
lichen  Lehrer  Pfarrer  Sardemann  (evang.  Rel.),  Kaplan  Holt  (kath. 
Rel.),  Gesangl.  Lange,  Zeichnenl.  Düms.  Schülerzahl:  198  (I  17, 
II  22,  ni  38,  IV  33,  V  48,  VI  40).  Abiturienten:  5.  —  Den  Schul- 
nachrichten  geht  voraus :  Das  Wycliffesche  Evangelium  Johannis  im  ßnf- 
hundertsten  Bande  der  Taucknitzer  Collection  of  British  autkor sf  die  Wy- 
cliffesche Bibelübersetzung  und  das  Verhältnis  des  ersteren  zu  der  letzteren. 
Von  Dr.  A.  Richter.    20  S.    4. 

20.  Wetzlar].  Zu  Ostern  schieden  aus  dem  Lehrercollegium  der 
erste  Gymnasiallehrer  Dr.  Kirchner,  welcher  sich  zeitweilig  von  der 
schulmännischen  Wirksamkeit  zurückzog,  der  2.  G.  L.  Dr.  Jäger,  wel- 
cher als  Rector  an  das  Progymnasium  in  Mors  berufen  war,  und  der 
provisorisch  beschäftigte  Candidat  Eben,  der  an  die  höhere  Bürger- 
schule in  Lüdenscheid  gieng.  Durch  die  Berufung  des  Dr.  Gerhard 
von  der  Realschule  in  Siegen,  des  G.  L.  Meyer  vom  Gymnasium  in 
Wesel,  sowie  die  provisorische  Beschäftigung  des  Dr.  Kluge  wurden 
die  Lücken  wieder  ausgefüllt.  Eine  neue  durch  die  Erweiterung  der 
Anstalt  nötig  gewordene  Stelle  wurde  dem  G.  L.  Lücke  übertragen. 
Schülerzahl:  130  (I  8,  II  11,  HI  34,  IV  27,  V  26,  VI  24).  Abiturien- 
ten: 4.  ■■  Den  Schulnachrichten  vom  Director  Lorenz  geht  voraus: 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  staust.  Notizen«  ßl7 

Yuconäxou  Tepacrivou  €lcaYu>tf|  dpi6|nnTlK^  recognovit  et  prae- 
fatas  est  B.  Ho  che.    37  S.    4. 

Themata  für  die  deutschen  Aufsätze  der  Abiturienten: 

1.  Aachen.    Not  entwickelt  Kraft. 

2.  Bedburg.  Wie  gewinnen  wir  am  besten  die  Achtung  unserer 
fitmenschen? 

3.  Bonn.  Ueber  die  Ursachen  der  Unzufriedenheit  der  meisten 
(enschen  mit  ihrer  Lage. 

j.    L  Cleve.     cMein  Freund,  die  goldne  Zeit  ist  wol  vorbei:  |  Allein 

He  Guten  bringen  sie  zurück.'    Goethe  Tasso  II  1. 

\    5.  Co b lenz.    Wer  in  die  Zukunft  schauen  will,  musz  rückwärts 

Wicken. 

6.  Duisburg.  Nichts  hebt  uns  mehr,  als  wahre  Hochachtung  ge- 
pä  grosze  Männer. 

7.  Düren.     Ueber  den  Nutzen  des  Studierens. 

8.  Düsseldorf,    nipdacw  b '  alel  troXXd  oibacKÖ^cvoc. 

9.  Elberf  eld.  Die  Namen  sind  in  Erz  und  Marmelstein  so  wol 
ikht  eingegraben,  als  in  des  Dichters  Liede. 

10.  Emmerich.  Nach  welchen  Gesichtspunkten  sind  die  Menschen 
IQ  schätzen? 

11.  Essen.  Willst  du  dich  selber  ei  kennen,  so  sieh',  wie  die  An- 
lern  es  treiben;  willst  du  die  Andern  verstehn,  sieh1  in  dein  eignes  Herz. 

12.  Kempen.  TvaiGi  cauröv.  Wichtigkeit,  Schwierigkeit  der  Selbst- 
erkenntnis; wie  erlangt  man  dieselbe?  s 

13.  Köln,  a)  Friedrich- Wilhelms- Gymnasium.  1)  Des  Menschen 
wahres  Glück  kommt  nicht  von  Auszen.  2)  In  wie  fern  ist  die  Ent- 
ladung eine  wesentliche  Bedingung  des  Lebensglückes? 

b)  Katholisches  Gymnasium  an  Marzellen.  Lust  und  Liebe  sind  die 
fittige  zu  groszen  Thaten. 

c)  Katholisches  Gymnasium  an  der  Apostelkirche.  Ursachen  und 
Werth  der  Nacheiferung. 

14.  Kreuznach.    Wer  ist  ein  unbrauchbarer  Mann?  Der  nicht  be- . 
fehlen  und  auch  nicht  gehorchen  kann. 

15.  Münstereifel.  Welchen  Segen  gewährt  die  Beschäftigung 
ttit  den  Wissenschaften? 

16.  Neusz.  Selbstprüfung  und  Selbstbeherschung  die  Grundlage 
wahrer  Weisheit  und  Tugend. 

17.  Saarbrücken.  Der  Krieg  auch  hat  seine  Ehre,  der  Beweger 
des  Menschengeschickes. 

18.  Trier.  1)  An's  Vaterland,  an's  theure,  schliesz  dich  an,  das 
Aalte  fest  mit  deinem  ganzen  Herzen.  2)  Das  Glück  eine  Klippe,  das 
Unglück  eine  Schule. 

19.  Wesel.    Was  versteht  man  unter  Genie? 

20.  Wetzlar.  Ueber  den  humanen  Werth  der  gesellschaftlichen 
Umgangsformen. 

Themata  für  die  lateinischen  Aufsätze  der  Abiturienten: 

1.  Aachen.  Quibus  civium  virtutibus  res  publicae  optime  conser- 
iwntar. 

2.  Bedburg,  Postrema  duo  rei  publicae  Bomanae  saeoula  et  plena 
|  gloriae  et  feracia  malorum  fuerunt. 

|      3.  Bonn.    Brevis  enarratio  secundi  belli  Punici. 

4.  Cleve.  Recte  Goethius  dixit,  necem  Caesaris  ineptissimum  fuisse 
'acinus,  quod  unquam  patratum  esset. 

5.  C  ob  lenz.  Verum  esse,  quod  Appius  in  carminibns  ait,  fabrum 
1  W8e  suae  quemque  fortunae. 


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318  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

6.  Duisburg.  Bomam  urbem  Romains  condidit,  Camillus  reatitoit, 
Cicero  servavit. 

7.  Düren.    De  interitn  libertatis  Graeciae. 

8.  Düsseldorf.    Marcet  sine  adversario  yirtus. 

9.  Elberfeld.  Oratio  Caesaris  Germanica  milites  ante  pugnaa 
Idisiavisensem  exhortantis. 

10.  Emmerich.    De  Caesaris  victoria  ex  Pompeianis  reportata, 

11.  Essen.  Recte  Scipionem  apud  Livium  XXVI  41  dixisse,  eaa 
softem  Romanis  esse  datain,  nt  omnibns  magnis  bellis  victi  viciasent 
doceatnr. 

12.  Kempen.  Qnibns  virtutibns  veteres  Romani  eo  tempore,  quo 
maxime  florebat  res  publica,  excelluerint. 

13.  Köln,  a)  Friedrich- Wilhelms-Gymnasium.  1)  Verum  non  es» 
illud  celebratissimum  dictum,  ante  mortem  neminem  esse  beatum  dicen* 
dum,  exemplis  demonstratur.  2)  Quantum  amor  patriae  ad  rem  pubfr 
cam  Romanam  stabiliendam  et  augendam  contulerit,  exemplis  illastratofi 

b)  Katholisches  Gymnasium  an  Marzellen.  Praestantissimos  quo* 
que  homines  civium  invidiae  maxime  fnisse  obnoxios,  doceatur  exempla- 
que  illustretur. 

c)  Katholisches  Gymnasium  an  der  Apostelkirche.  Quo,  major  gto- 
ria,  ea  propior  invidiae. 

14.  Kreuznach.  De  ingeniis  ac  moribus  Septem  regum  Bomano* 
nun  breviter  exponitur. 

15.  Münstereifel.  Illud  Sallustianum:  Concordia  res  paryas  eres- 
cere,  discordia  maximas  dilabi,  memoria  reruni  a  Graecis  gestaram  pro- 
batur. 

16.  Neusz.  Ubi  pro  labore  desidia,  pro  continentia  et  aequitate 
lnbido  atque  socordia  invagere,  fortuna  simul  cum  moribus  imnratatar. 
(Sali.  Cat.  2.) 

17.  Saarbrücken.  Illustrentur  causae,  de  quibus  Livius  bellni 
Punicum  alterum  maxime  omnium  memorabile  dixerit. 

18.  Trier.  1)  Portes  fortuna.  2)  Concordia  parvas  res  crescere* 
discordia  maximas  dilabi,  memoria  rerum  a  Graecis  gestarum  probaten 

19.  Wesel.  Marathonia  victoria  non  exitus  belli,  sed  multomajo- 
ris  causa. 

20.  Wetzlar.  Themistoclis  in  consilio  sOciorum  ante  pugnam  apal 
Salamina  commissam  oratio. 

Fulda.  Dr.  Ostermann. 


Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

VI. 
Aus  Hittelfranken. 


Auch  diese  Blätter  gedachten,  vgl.  1862,  Heft  4  S.  173  ff.,  des  sei 
Christian  Bomhard,  weiland  Rectors  des  Gymnasiums  in  Anabach, 
als  eines  der  ausgezeichneten  Schulmänner  unserer  Zeit.  Gerne  wendet 
sich  die  Seele  aus  dem  Drang  der  wirren  Gegenwart  zurück  und  sucht 
und  findet  Ruhe  in  Betrachtung  des  Bildes  solcher  Manner,  welche,  hoch- 
verdient um  die  Mitwelt,  fortleben  in  uns  als  beugen  der  Wahrheit  mm 
Prediger  der  Weisheit.  Fast  nichts  ist  wirksamer  und  kräftigender  alf 
die  dankbare  Erinnerung;  je  inniger  und  treuer  die  geistige  Erbschaft 
bewahrt  wird,  um  so  sicherer  wächst  das  eigene  Capital  der  Tugend 
und  Erkenntnis. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  319 

So  freut  es  uns,  hier  nachträglich  anzeigen  zu  können,  dasz  die 
Anstalt,  an  der  Bomhard  sein'  Leben  lang  gewirkt  hat,  immer  wieder 
des  seltenen  Meisters  in  Wort  und  Schritt  gedenkt.  Vor  allem  sei  es 
gestattet,  auf  eine  'Memoria  Bomhardii'  hinzuweisen,  welche  der  Gym* 
nasialprofessor  Dr.  RudolfSchreiber  im  Herbstprogramm  des  J.  186S 
veröffentlicht  hat.  Diese  mit  aller  Wärme  und  Verehrung  geschriebene 
'Memoria'  soll  darthun,  um  die  eigenen  Worte  des  Verfassers  zu  ge- 
brauchen: qualis  ille  fuerit  homo  inter  homines,  qualis  literatus  exsti- 
terit  in  eruditorum  numero,  qualis  magister  fuerit  in  discipulorum  coetu. 
Der  einfache  Plan  ist  sorgfältig  in  der  Sprache  durchgeführt,  und  es 
wird  die  Schrift  manchem  Schulmanne  eine  erwünschte  Gabe  sein. 

Eine  cVita  Bomhardii9,  vielmehr  ein  deutsches  Lebensbild  des 
uns  nnvergesslichen  Mannes  gibt  wol  einmal  jener  seiner  Schüler,  der 
ihm  und  seiner  Familie  am  nächsten  verbunden  war,  als  einen  Schmuck 
im  Ehrensaal  deutscher  Lehrer. 

An  diesen  Wunsch  reihen  wir  noch  einen  andern  aus  vollem  Herzen, 
dasz  der  gegenwärtige  Rector  des  Ansbacher  Gymnasiums,  Dr.  Els- 
perger,  dessen  25 jähriges  Rectorat  vor  4  Wochen  in  stiller  Weise 
begangen  wurde,  wieder  so  von  einem  schweren  Leid  erstarken  möge, 
dasz  ihm  die  Schule,  welcher  auch  er  sein  Leben  gewidmet,  noch  lange 
jene  Beweise  der  Dankbarkeit  und  Verehrung  darbringen  kann,  welche 
sie  so  gerne  und  so  freudig  ihrem  viel  bewährten  Lenker  bietet 

München.  Prof.  Thomas. 


VII. 
25jähriges  Amtsjubiläum  des  Rector  Dr.  Elsperger  in  Ansbach. 


Je  bescheidener  die  Feier  selbst  wegen  der  angegriffenen  Gesund- 
heit des  allgemein  verehrten  Mannes  sein  muste,  um  so  mehr  wird  es 
am  Platze  sein,  derselben  in  einer  Zeitschrift  zu  gedenken,  die  für 
Philologie  und  Pädagogik  bestimmt  ist,  welchen  beiden  Elsperger  sein 
Leben  mit  vorzüglichstem  Erfolge  gewidmet  hat.  Die  Liebe  und  Ver- 
ehrung seiner  Amtsgenossen  und  Schüler  fern  und  nah  hatte  sich  zu 
einer  würdigen  Feier  des  30.  Januars  d.  J.  vorbereitet,  als  die  Wieder- 
holung eines  bedenklichen  Anfalles  die  gröste  Schonung  der  Kräfte 
un  ab  weislich  forderte.  So  konnten  also  seine  gegenwärtigen  Schüler 
ihn  nicht  im  festlich  geschmückten  Auditorium  mit  Gesang  empfangen, 
seine  Amtsgenossen  konnten  nicht  ihre  Festgabe,  einen  silbernen  Becher 
mit  entsprechender  Inschrift,  dort  ihm  darreichen,  die  Ernennung  zum 
k.  Schulrath  konnte  nicht  in  feierlicher  Weise  durch  Einhändigung  des 
allerhöchsten  Rescriptes  dort  mitgeteilt  werden  —  nur  3  Collegen  und 
3  Schülern  war  es  gegönnt,  die  herzlichen  Wünsche  auszusprechen,  die 
alle  für  den  theuren  Mann  hegten,  und  die  schriftliche  Begrüszung  der 
Uebrigen  mit  2  poetischen  Gaben  und  dem  Geschenke  zu  überreichen. 
Deputationen  von  Seite  der  Stadt  Ansbach  und  von  den  Studierenden 
zu  Erlangen,  früheren  Schülern  der  Anstalt  zu  Ansbach,  konnten  zum 
Teil  erst  mehrere  Tage  nachher  dem  Jubilar  die  freudige  Teilnahme 
der  von  ihnen  Vertretenen  ausdrücken.  Das  Gymnasium  zu  Erlangen 
sendete  eine  lateinische  Begrüszung,  die  Freunde  und  Verehrer  in  der 
Ferne  sendeten  herzliche  Briefe.  Dies  war  die  Feier  eines  Festes,  an 
dem  laut  aufrichtiger  Dank  ausgesprochen  werden  sollte  für  die  treue 
und  geistvolle  Erziehung  und  Bildung  zur  Reife  für  die  Universität, 
für  die  wolwollendctund  treffliche  Leitung  des  einträchtigen  Zusammen- 
wirkens der  Amtsgenossen,  an  dem  Wünsche  aus  ganzem  Herzen-  dar- 
zubringen waren ,  dasz  die  Gesundheit  des  gleich  edlen  und  bescheidnen 
Mannes  für  eine  lange  Reihe  von  Jahren  noch  kräftig  bleibe,  dasz  er 


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320  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

nicht  ermüden  möge  zu  erziehen  und  zu  leiten  Und  den  Segen  seines 
Wirkens  zu  vermehren.  Es  sei  darum  Dank  und  Wunsch  auch  hier 
ausgesprochen,  denen,  die  Elsperger  kennen,  zur  Freude  und  Genug- 
thuung,  den  Uehrigen,  dasz  sie  von  der  Auszeichnung  des  fein  fühlen- 
den Erklärers  des  Horaz  und  des  vorzüglichen  Lehrers  und  Rectors  die 
verdiente  Kunde  erhalten. 

Ansbach.  G.  Fr. 

vin. 

Ludwig  Döderlein. 

Ludwig  Döderlein*)  wurde  am  19.  December  1791  zu  Jena  geboren. 
Sein  Vater  war  der  bekannte  Theolog,  Kirchenrath  und  Professor  Dr. 
Johann  Christoph  Döderlein ,  seine  Mutter  Eleonore  Rosine  von  Eckardi 
Kaum  ein  Jahr  alt  verlor  er  den  Vater;  die  Mutter  aber  vermählte  sieh 
einige  Jahre  später  mit  Friedrich  Imanuel  Niethammer,  Professor  der 
Philosophie  in  Jena.  1804  folgte  Niethammer  einem  Rufe  als  Professor 
nach  Würzburg.  Dies  gab  Veranlassung  den  13jährigen  Sohn  Ludwig 
zu  einem  Onkel  nach  Windsheim  zu  bringen,  wo  er  das  damals  be- 
stehende Gymnasium  besuchen  sollte.  3  Jahre  später  kam  Döderlein 
auf  die  LandesBchule  Pforta  unter  die  Leitung  von  Ilgen  und  Lange. 
Reif  zur  Universität  kehrte  er  1810  ins  Elternhaus  zurück  nach  Mün- 
chen, wohin  Niethammer  schon  1807  als  Central-Schul-  und  Studienratb 
berufen  war.  Hier  betrieb  er  unter  Thiersch  eifrigst  das  Studium  der 
Philologie ,  wozu  er  sich  schon  früher  entschlossen  und  auch  in  Pforta 
einen  tüchtigen  Grund  gelegt  hatte.  1811  zogen  ihn  die  Namen  Creu- 
zer  und  Vosz  nach  Heidelberg.  Im  Herbste  1813  bezog  er  die  Univer- 
sität Erlangen  und  promovierte  daselbst  im  nächsten  Frühjahre.  Hier- 
auf begab  er  sich  nach  Berlin  zu  Böckh,  Buttmann  und  Wolf,  wodurch 
er  zugleich  mit  einem  Kreise  jüngerer,  nachher  berühmter  Philologen 
in  innigen  Verkehr  kam.  Dort  erhielt  er  1815  ohne  noch  ein  Examen 
bestanden  zu  haben,  unerwartet  einen  Ruf  als  Professor  der  Philologie 
an  die  Akademie  in  Bern.  Er  nahm  den  Ruf  an  und  wirkte  in  Bern, 
bis  ihm  1819  das  Rectorat  des  Gymnasiums  und  eine  ordentliche  Pro-  \ 
fessur  der  Philologie  an  der  Universität  in  Erlangen  übertragen  wurde.  | 
Einige  Jahre  später  erhielt  er  auch  das  Directorium  des  philologischen 
Seminars.  Und  in  dieser  Doppelstellung  blieb  er  fast  bis  an  sein  Ende. 
Am  8.  Nov.  1862  wurde  er  in  Anerkennung  seiner  43jährigen  ruhmvollen 
Thätigkeit  unter  Verleihung  des  Verdienstordens  der  bayerischen  Krone 
seiner  Functionen  als  Rector  und  Professor  des  Gymnasiums  enthoben; 
aber  schon  am  9.  Nov.  des  letzten  Jahres  starb  er  in  Folge  eines  Ge- 
hirnleidens nach  kurzem  Krankenlager  in  einem  Alter  von  nicht  ganz 
72  Jahren. 

Abgesehen  von  den  vielen  Programmen,  Gelegenheitsschriften  und 
sonstigen  kleineren  Arbeiten  bilden  seine  Hauptwerke:  die  Ausgaben 
des  Oedipus  Coloneus,  Taoitus,  Horaz  (mit  deutscher  Uebersetsnng), 
die  lateinischen  Synoymen  und  Etymologien,  das  homerische  Glossar, 
das  lateinische  Vocabularium ,  die  deutsche  Mustersammlung,  die  Reden 
tmd  Aufsätze,  und  die  öffentlichen  Reden.  Zuletzt  beschäftigte  ihn  Ho- 
mer's  Ilias,  von  welcher  die  erste  Hälfte  bereits  im  August  v.  J.  aus- 
gegeben, die  zweite  aber,  da  das  Manuscript  bei  Döderlein's  Ableben 


•)  Freilich  ist  es  schwer  von  einem  so  reichen  Leben  eine  kurse 
Skizze  zu  entwerfen;  indes  da  eine  ausführliche  Biographie,  wie  ich 
höre,  sicher  erwartet  werden  darf,  so  mag  für  den  Augenblick  folgen- 
des genügen. 


* 


Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  321 

teils  schon  in  der  Druckerei  war  teils  ausgearbeitet  vorlag,  demnächst 
erscheinen  wird,  ein  würdiges  Denkmal  des  Entschlafenen. 

Döderlein  hat  sich  zunächst  als  Gelehrter  bekannt  gemacht, 
wenn  sich  auch  genau  genommen  gerade  bei  seiner  Individualität  eine 
strenge  Scheidung  des  Gelehrten  und  Lehrers  vom  Menschen  über- 
haupt kaum  durchführen  läszt.  Denn  er  war  immer  und  überall  der 
gleiche,  und  eben  in  dieser  innigen  und  vollständigen  Harmonie  liegt 
der  Zauber  seines  Wesens.  Reichtum  und  Tiefe  des  Wissens,  Schärfe 
und  Klarheit  des  Denkens,  Schönheit  und  Präcision  der  Darstellung 
sind  Eigenschaften,  die  ihn  vor  Vielen  auszeichnen  und  ihm  unter  den 
Vertretern  der  deutschen  Wissenschaft  für  immer  einen  der  ersten  Plätze 
sichern.  Kein  Teil  der  Altertumswissenschaft  war  ihm  fremd,  jedoch 
verweilte  er  vorzugsweise  bei  den  Schriftstellern  oder  Disciplinen,  die 
seinem  natürlichen  Wesen  am  nächsten  standen.  Horaz  und  Homer, 
Tacttus  und  Thucydides  sind  seine  besondern f Freunde'  gewesen ,  sowie 
Etymologie  and  Synonymik  seine  liebste  Beschäftigung.  Diesen  widmete 
er  seine  Musze,  diese  bilden  den  Mittelpunkt  seiner  regen  und  viel- 
fachen litterarischen  Thätigkeit.  Und  gerade  diese  innere  geistige  Ver- 
wandtschaft zwischen  Döderlein  selbst  und  dem  jedesmaligen  Stoffe,  den 
er  behandelt,  ist  es,  welche  einerseits  den  Leser  fesselt,  andrerseits 
seinen  Werken  den  hohen  Werth  verleiht.  Oder  wäre  es  ihm  sonst 
möglich  gewesen  die  innersten  Gedanken  des  Dichters  zu  erlauschen 
und  als  Ueb  ersetz  er  Meisterwerke  zu  schaffen?  Darum  verlor  er  sich 
auch  bei  der  Interpretation  alter  Schriftsteller  nicht  in  Unwichtiges 
und  Kleinliches ,  benützte  sie  noch  weniger  als  Unterlage  eignen  Witzes: 
er  war  begeistert  für  das  Altertum,  innig  mit  dem  Classiker  verwach- 
sen, liebte  ihn  wie  einen  Freund,  und  suchte  dadurch,  dasz  er  andere 
einen  Blick  in  das  innerste  Wesen  seines  Lieblings  werfen  liesz,  auch 
sie  für  diesen  zu  gewinnen.  Die  Alten  sind  treue  Freunde ,  sagte  Dö- 
derlein öfter,  aber  sie  kommen  uns  nicht  entgegen  und  fallen  uns  auch 
nicht  gleich  tun  den  Hals,  sondern  ihre  Freundschaft  will  erobert  sein. 
Er  hatte  dies  an  sich  selbst  erfahren.  Schon  als  Knabe  von  13  Jahren 
sitzt  er  in  Windsheim  hinter  seinem  Virgil  und  Livius  und  läszt  nicht 
nach,  bis  er  den  Sinn  seines  Autors  richtig  erfaszt  hat.  Wie  viel  mehr 
in  Schulpforte!  Fast  alle  Briefe  an  seine  Eltern  —  und  er  schrieb 
regelmäszig  jede  Woche  —  zeugen  für  sein  ernstes  Studium  und  seine 
Begeisterung  für  die  Classiker.  Neben  Homer  reizt  ihn  besonders  So- 
phokles und  die  Tragiker,  und  es  wurde  damals  schon  mancher  Stoff 
gesammelt  zu  seiner  spätem  Doctordissertation  und  Ausgabe  des  Oedipus 
auf  Kolonos.  Nicht  selten  geht  er  um  2  oder  3  Uhr  Morgens  an  die 
Arbeit:  je  früher  er  aufsteht,  desto  aufgelegter  ist  er  den  ganzen  Tag. 
Und  diese  Arbeitslust  hat  ihn  nie  wieder  verlassen.  Selbst  auf  der 
Beise  war  er  wissenschaftlich  thätig  und  in  Begleitung  seiner  alten 
Freunde.  Er  meinte  auch,  dasz  diese  gerade  deswegen  den  Namen 
Classiker  verdienten,  weil  sie,  je  öfter  man  sie  lese,  desto  besser  ge- 
fallen. Gleichwol  achtete»  er  ernstlich  den  eignen  Fleisz  gering,  rühmte 
jedoch  gern  die  Ausdauer  der  andern.  So  kann  es  nicht  Wunder  neh- 
men, dasz  Döderlein  bei  seiner  Empfänglichkeit  und  Hingebung  den 
edlen  Geist,  welchen  das  Altertum  athmet,  ganz  in  sich  aufgenommen 
hatte,  ja  so  zu  sagen  das  ideale  Altertum  in  ihm  verkörpert  war,  eine 
Erscheinung,  welche  trotz  der  zahlreichen  Vertreter  altclassischer  Stu- 
dien immerhin  zu  den  Seltenheiten  gehört. 

Mit  gleichem  Rechte  konnten  ihn  die  deutschen  Classiker  ihren 
grösten  Verehrer  und  vertrauten  Freund  nennen.  Goethe  und  vor  all^en 
Schiller  kannte  er  wie  vielleicht  Niemand  mehr.  Wie  es  unmöglich 
war  irgend  eine  Stelle  des  Horaz  anzuführen  ohne  dasz  er  fortfahren 
m0110*6'.  ■*>  übernahm  er,  wenn  manchmal  in  kleinerem  Kreise  eine 
Tragödie  von  Schiller  gelesen  wurde,  eine  der  Hauptrollen  und  sprach 
sie,  wenn  es  ihm  einfiel,  auswendig.    Man  vergleiche  nur  die  Bede, 


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322   '  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

welche  er  zur  Feier  von  Schillers  hundertjährigem  Geburtstage  gehal- 
ten hat.  War  es  der  Inhalt,  war  es  die  Form,  die  sie  vor  allen  aus- 
zeichnete und  ihm  hundertfältige  Beweise  der  Anerkennung  und  des 
Dankes  eintrug?  Das  Feuer  der  Begeisterung  für  unsern  deutsehen 
Dichter,  die  Wärme  der  Empfindung  und  die  lebendige  Erfassung  sei- 
nes innersten  Wesens  ist  es,  die  aus  jedem  Worte  spricht  und  Inhalt 
und  Form  die  seltene  Vollendung  gegeben  hat  Und  wie  frühe  erwachte 
diese  Lust  am  Schönen !  Niethammer  stand  in  Jena  in  vielfachem  Ver- 
kehr mit  Schiller,  Goethe,  Fichte,  Hegel  und  Schelling.  Schiller  Belbst 
verrieth,  wie  Döderlein  in  jener  Bede  einmal  sagt,  dem  neugierigen 
zehnjährigen  Knaben  die  Geheimnisse  seines  Arbeitstisches,  in  welcher 
Art  er  die  Geschichte  Tell's  auf  die  Bühne  bringen,  ob  er  den  grausen- 
haften  Apfelschusz  zur  Anschauung  kommen  oder  nur  erzählen  lassen 
werde.  Und  schon  1804  schreibt  Döderlein  an  seine  Mutter:  'Im  Wil- 
helm Teil  kann  ich  nicht  genug  lesen;  vorzüglich  der  schöne  Monolog 
gefallt  mir,  ehe  er  den  Landvogt  erschieszt,  und  des  Landvogts  Bede, 
wie  Teil  schieszen  soll  .... 

Er  rühmte  sich 
Auf  ihrer  Hundert  seinen  Mann  zu  treffen  — 
Jetzt  Schütze  triff  und  fehle  nicht  das  Ziel!' 
Denken  wir  uns  dazu  ein  warmes  deutsches  Herz,  begeistert  für  die 
nationalen  Tugenden  der  Ehre,  Wahrhaftigkeit  und  Treue,  eine  kind- 
lich reine  Seele,  ein  feines  Gefühl  für  Angemessenheit  und  Schönheit 
des  Ausdrucks ,  verbunden  mit  einem  tiefen  Verständnis  der  Regeln  der 
Kunst  und  einer  seltenen  Beherschung  der  Sprache  so  wie  einer  uner- 
müdlichen Sorgfalt  in  der  Ausarbeitung,  so  begreifen  wir,  wie  Döder- 
lein als  Redner  den  Zuhörer  mit  sich  fortreiszen  und  seine  redneri- 
schen Schöpfungen  selbst  auf  eine  Stufe  der  Vollendung  erheben  konnte, 
welche  alle  bewundern,  viele  erstreben,  wenige  zu  erreichen  vermögen. 
Höchstens  könnte  man  bedauern,  dasz  ihn  die  Natur  nicht  mit  einem 
klangvollen  Organe  ausgerüstet  hatte,  so  sehr  auch  der  feine,  ge- 
schmackvolle und  lebendige  Vortrag ,  so  lange  er  sprach,  jenen  Mangel 
vergessen  liesz. 

Ist  es  unter  diesen  Verhältnissen  nicht  geradezu  als  ein  besonderes 
Glück  zu  betrachten,  dasz  Döderlein  auch  den  Beruf  zum  Lehrer  und 
Erzieher  in  sich  fühlte,  und  ihm  in  seiner  Stellung  als  Rector  und 
Professor  auch  reichlich  Gelegenheit  gegeben  war  sein  Talent  zu  ver- 
werthen?  Besasz  er  doch  das  Rüstzeug  eines  Lehrers,  wie  es  nicht 
schöner  sich  denken  läszt,  und  war  in  allem  selbst  das  edelste  Vorbild. 
Er  hatte  die  Lieblichkeit  humanistischer  Bildung  gekostet,  den  ver- 
edelnden Charakter  altclassischer  Sprachen  und  Schriften  erfahren,  und 
war  uneigennützig  genug  den  zarten  Knaben  wie  den  reiferen  Jüngling 
einzuweihen  in  das  Geheimnis  menschlichen  Glückes,  wie  er  es  dem 
Leben  im  Laufe  der  Jahre  abgelauscht  hatte.  Geistvoll  im  Unterrichte 
suchte  er  mit  sicherm  Tacte  den  Stoff  zu  begrenzen  und  in  somati- 
scher Weise  durch  einfache,  lichtvolle  und  allgemein  fesselnde  Be- 
handlung den  Schüler  in  das  Verständnis  einzuführen.  Er  verstand  zu 
fragen  und  verlangte  eine  klare  und  schöne  Antwort.  Gründliches  Ler- 
nen schien  ihnr  unerläszlich,  fern  von  Schein  und  Flitter;  doch  war  er, 
wo  er  s  Ernst  merkte,  auch  mit  weniger  zufrieden.  Daneben  Freiheit 
mit  strenger  Ordnung  und  Zucht,  die  er  gern  löbliche  Pedanterie  nannte. 
Er  war  unerbittlich  gegen  Indolenz ,  Charakterlosigkeit  und  Lüge ,  Un- 
sittiichkeit  und  Gemeinheit.  Wie  überall,  verfolgte  er  auch  hier  das 
schönste  Ziel.  In  Liebe  mit  Schule  und  Schüler  verbunden  empfing  er 
Gegenliebe.  Wie  heute  seine  ältesten  Schüler  sich  mit  Freude  der 
Schulzeit  erinnern,  so  werden  die  jüngsten  noch  in  späten  Jahren  Bei- 
ner in  Treue  gedenken.  Aber  es  war  auch  eine  Lust  den  groszen  Mann 
im  Verkehr  mit  der  Jugend  zu  beobachten,  wie  er  das  Kind  und  den 
Jüngling  gleich  richtig  zu  behandeln,  bald  zu  belehren  bald  zu  begei- 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  323 

fitem,  hier  zu  ermahnen,  dort  zu  lohen,  diesen  aufzurichten,  jenen  nie- 
derzuhalten wüste.  Selbst  die  Strafe  liesz  man  sich  gern  gefallen,  weil 
man  sich  ihm  gegenüber  der  Schuld  bewuszt  war  und  durch  die  nötige 
Sühne  wenigstens  seiner  Achtung  sich  wieder  versichern  wollte. 

Wie  im  Schulzimmer,  so  war  er  im  akademischen  Hörsaale,  wenn 
er  auch  vielleicht  noch  Heber  in  jenem  verweilte,  wie  er  sich  denn 
selbst  öfter  einen  Schulmeister  nannte.  Ausgezeichnet  waren  die 
Vorlesungen  über  die  Theorie  der  redenden  Künste ,  vergleichende  Syn- 
tax der  lateinischen  und  griechischen  Sprache,  Tacitus  und  Thucydides. 
Wie  er  selbst  das  Altertum  nicht  aus  Grammatik  und  Handbuch  ken- 
nen gelernt  hatte ,  so  empfahl  er  stets  eifrigste  Leetüre.  Auch  Studen- 
ten examinierte  er  gern,  um  ihnen  nachher  mit  Rath  und  That  an  die 
Hand  zu  gehen ,  oder  sie  doch  vor  allzugroszer  Sicherheit  zu  bewahren. 
Besonders  waren  es  angehende  Philologen,  zu  welchen  er  sich  hinge- 
zogen fühlte,  und  die,  welche  ihm  näher  standen,  wissen  was  er  ihnen 
war.  Döderlein  liebte  frischen  jugendlichen  Umgang;  er  teilte  gern 
mit  und  suchte,  selbst  durchdrungen  von  der  Heiligkeit,  seines  Berufs, 
dem  Vaterlande  tüchtige  und  würdige  Lehrer  zu  bilden;  und  da  er  mit 
Recht  beim  Unterrichte  auf  Anregung  das  gröste  Gewicht  legte,  so 
muste  gerade  der  persönliche  Umgang  besonders  bildend  sein. 

Dasz  er  in  gleichem  Sinne  als  Rector  die  Schule  nach  Auszen 
und  Oben  vertrat,  bedarf  kaum  der  Erwähnung.  Er  ist  der  eigentliche 
Schöpfer  des  Gymnasiums  in  Erlangen;  er  hat  es  trotz  mancher  Kämpfe, 
welche  er  namentlich  in  der  ersten  Zeit  zu  bestehen  hatte,  zu  seiner 
Höhe  emporgehoben  und  ihm  unter  den  Lehranstalten  Bayerns  eine  her- 
vorragende Stellung  verschafft. 

Ebenso  galt  er  als  Vertreter  der  Universität ,  der  er  im  Leben  eine 
seltene  Zierde  war,  durch  seinen  Tod  aber  eine  unheilbare  Wunde  ge- 
schlagen hat  Als  Professor  der  Eloquenz  sprach  er  im  Auftrage  des 
Senats  bei  jeder  öffentlichen  Feier  und  wohnte  wiederholt  dem  Jubi- 
läumsfeste auswärtiger  Universitäten,  wie  Freiburg,  Greifswald  und 
Jena,  als  Abgeordneter  bei. 

Bei  aller  Verehrung,  Liebe  und  Auszeichnung,  deren  er  sich  von 
allen  Seiten  zu  erfreuen  hatte,  blieb  er  frei  von  Eitelkeit  oder  Ehrgeiz. 
Obgleich  er  allgemein  als  ein  Altmeister  seines  Faches  betrachtet,  von 
mehreren  Akademien  zum  Mitglieds  erwählt,  von  seinem  Könige  zum 
Hofrath  und  Ritter  des  Ordens  vom  heiligen  Michael ,  des  Maximilians- 
ordens für  Kunst  und  Wissenschaft,  und  des  Verdienstordens  der  baye- 
rischen Krone  ernannt  war,  so  führte  er  doch  selbst  seine  Leistungen 
immer  auf  ein  bescheidenes, Masz  zurück  und  verlangte  von  der  Nach- 
welt etwa  nur  das  Zugeständnis,  dasz  er  sich  stets  leicht  habe  über- 
zeugen lassen. 

Döderlein  war  ein  seltener  Mensch,  und  es  will  scheinen  als  ob  er 
gerade  als  Mensch,  wie  er  sich  zeigt  in  der  Familie  oder  imgröszern 
Kreise,  am  höchsten  stehe.  Hier  konnte  er  sein  ganzes  Wesen  ent- 
falten. Ernst  und  Humor  bildet  den  Grundzug  seines  Charakters.  Im- 
mer heiter  konnte  er  leicht  andere  erheitern;  dabei  in  hohem  Grade 
mild  und  gutmütig,  zartfühlend  und  tief  sittlich,  kindlich  fromm  und 
harmlos,  streng  rechtlich  und  gerade.  Selbst  rein  sah  er  die  Welt  nur 
im  reinsten  Lichte  und  urteilt  stets  liebevoll  und  wolwollend  über  an- 
dere, über  sich  aber  scharf  und  streng.  Kein  hartes  Wort  kam  über 
seine  Lippen  oder  durfte  in  seiner  Gegenwart  gesprochen  werden.  Re- 
dete er  ernst,  so  that  er  es,  weil  eine  bittere  Arznei  auch  eine  wirk- 
same wäre,  unterliesz  jedoch  nie  auch  eine  mildernde  Bemerkung  hin- 
zuzufügen und  so  das  Ganze  etwas  angenehmer  zu  machen.  Beredt  im 
Lobe  tadelte  er  selten  und  kurz:  er  war  kein  Sittenprediger.  Am 
liebsten  bediente  er  sich  dann  einer  Sentenz.  Wie  oft  hörte  man  ihn 
sagen: 


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324  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

<Gut  sein,  gut  sein  ist  viel  gethan, 
»  Erobern  ist  nur  wenig; 

Der  König  sei  der  beste  Mann, 

Söust  sei  der  Bess're  König.' 
Oder:  fFromm  sein  ist  ein  schönes  Kleid ;  je  mehr  man  es  trägt,  desto 
besser  es  steht.'  Ueberhaupt  war  er  bei  seiner  Belesenheit  und  Ver- 
trautheit mit  den  Classikern  reich  an  Kernsprüchen ,  und  diese  verfehl- 
ten bei  seiner  Verwendung  nur  in  den  seltensten  Fällen  ihre  Wirkung. 
Wohin  er  kam,  wurde  er  mit  Freuden  empfangen,  wie  er  auch  selbst 
Geseilschaft  liebte  und  suchte.  Stets  geistig  angeregt  und  anregend 
belebte  er  jedes  Gespräch  und  gab  ihm,  ohne  dasz  er  es  suchte,  eine 
geistreiche  Wendung,  die  immer  einen  tieferen  Findruck  zurückliesz. 
Er  hatte  ja  für  alles  und  jedes  Interesse  und  unterhielt  sich  leicht  und 
ungezwungen  mit  Hoch  und  Nieder,  Jung  und  Alt.  Wie  schön  konnte 
er  auch  erzählen.  Mehr  als  einmal  klagte  er  über  die  schnelle  Eisen- 
bahn und  lobte  den  langsameren  Postwagen ,  der  ihm  bei  seinen  vielen 
Reisen  so  manchen  lieben  Freund  gewonnen  hatte.  Und  wer  es  weisz, 
wie  treu  er  Freundschaften  pflegte,  der  versteht  auch  was  das  sagen 
wollte.  Nicht  blos  an  Altersgenossen,  Jugendfreunden,  Lehrern  oder 
Schülern  hing  er  mit  inniger  und  aufrichtiger  Liebe,  nein,  jeder  Tag 
konnte  ihm  einen  neuen  Freund  zuführen,  dessen  Bekanntschaft  er 
wenigstens  durch  einen  gelegentlichen  Besuch  oder  Brief  zu  ehren  und 
zu  erhalten  suchte.  Daher  seine  grosze  und  gewissenhafte  Correspon- 
denz ,  sowie  •  häufige  Veranlassung  zu  Besuchen  und  Reisen.  Und  es 
war  für  ihn  dies  alles  kein  Zeitverlust,  sondern  er  kehrte  vielmehr  von 
diesem  heitern  und  reinen  Lebensgenüsse  immer  neugestärkt  zum  Ar- 
beitstische zurück  und  hat  sich  so  trotz  häufigen  kurzen  Unwohlseins 
bis  in  die  letzten  Tage  eine  Frische  und  Kraft  des  Körpers  und  des 
Geistes  bewahrt,  die  oft  genug  bewundert  wurde.  Erhielt  er  selbst 
Besuch,  so  war  er  dankbar  und  kargte  nicht  mit  der  Zeit.  Er  übte  die 
ausgedehnteste  Gastfreundschaft,  und  es  waren  die  Wochen  zu  zählen, 
in  welchen  kein  Gast  im  Hause  war.  Welchem  Gaste  aber  ist  es  bei 
dem  Wirthe  nicht  wol  geworden?  oder  wer  hat  nicht  das  schönste  Bild 
häuslichen  Glückes  mitfortgenommen?  Döderlein  war  dreimal  verhei- 
rathet  und  hinterläszt  10  Kinder.  In  ihrer  Mitte  stand  er  wie  ein  Pa- 
triarch, und  man  konnte  später  seinem  glänzenden  Auge  die  Freude 
ansehen,  wenn  er  bei  einem  Familienfeste  oder  einer  von  ihm  zufällig 
veranstalteten  Zusammenkunft  wieder  einmal  alle  Seinigen  um  sich  ge- 
schaart  hatte ,  wie  denn  auch  nichts  in  der  zahlreichen  Familie  vorkam, 
obgleich  die  Kinder  fast  alle  längst  selbständig  sind,  um  das  er  nicht 
wüste  oder  befragt  war.  Alle  trug  er  auf  dem  Herzen,  ihr  Wohl  und  Wehe 
beschäftigte  ihn  bei  Tag  und  Nacht;  und  wie  er  selbst  über  eine  Klei- 
nigkeit sich  kindlich  freuen  konnte ,  so  schien  ,es  ihm  das  gröste  Glück 
andern  Freude  machen  zu  können,  selbst  wenn  er  die  Möglichkeit  mit 
Opfern  erkaufen  muste.  Und  wie  jugendlich  zärtlich  und  feurig  liebte 
er  die  Gattin,  so  dasz  man  versucht  war,  die  Ehe  für  einen  fortdauern- 
den Brautstand  zu  halten!  So  schien  es  ihm  Anfangs  auch  unmöglich 
einen  Sohn  als  Missionar  nach  Indien  ziehen  zu  lassen  und  sich  so  für 
immer  von  ihm  zu  trennen;  doch  war  er  zu  sehr  Christ  und  hatte  eine 
zu  grosze  Achtung  vor  der  persönlichen  Freiheit,  um  nicht  schlieszlich 
auch  dazu  seinen  väterlichen  Segen  zu  erteilen.  Mit  unglaublicher 
Pietät  hing  er  seit  den  Tagen  der  frühesten  Kindheit  an  seinen  Eltern, 
vornehmlich  an  seiner  rherlichen'  Mutter,  und  nannte  die  theuern  Na- 
men nie  ohne  Rührung  und  Dank;  und  an  ihm  selbst  hingen  in  treuer 
Liebe  die  Seinigen  und  haben  ihn  mehr  als  verehrt. 

Nun  ist  Döderlein  heimgegangen;  möge  ihm,  dem  Unvergeßzlichen, 
ein  liebendes  und  treues  Andenken  bewahrt  bleiben. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  325 

IX. 

Den  Manen  Ludwig  Döderlein's. 


Auch  er,  auch  er  von  uns  gegangen! 
Der  greise  Meister  mit  den  Wangen, 
Drauf  ew'ger  Jagend  Blüte  lag! 
Der  Mann  mit  seinem  tiefen,  klaren, 
Lebend^en  Aug',  dem  wanderbaren 
Wort,  das  der  Lippe  nie  gebrach! 
Der  Mann  mit  seiner  rahig  lichten, 
ErhaVnen  Stirae,  draus  das  Dichten 
Des  hohen  Denkers  mächtig  sprach! 

Da  seine  Augen  nun  entschliefen, 

Wer  führt,  wie  er,  ans  in  die  Tiefen 

Des  Geistes  ein  der  alten  Zeit? 

Wer  weisz,  wie  er,  die  Lichtgestalten 

Von  Rom  und  Hellas  zu  entfalten? 

Zu  hüllen  so  in  neues  Kleid? 

Wesz  Geist  ist  so  vom  Hauch  des  Schönen 

Durchweht,  wesz  Herz  an  Zanbertönen 

So  reich,  wesz  Mond  ist  so  geweiht? 

An  Deiner  Wiege  stand  die  Mose, 

Verklärter  Meister,  and  zam  Grasze 

Hat  hold  ihr  Antlitz  Dir  gelacht; 

Sie  netzte  Auge  Dir  und  Lippe 

Mit  Götternasz  aus  Aganippe 

Und  hat  Dir  Herz  und  Sinn  entfacht. 

Indesz  die  Andern  mühvoll  ringen 

Durch  dunkle  Schatten,  trugen  Schwingen 

Dich  leicht  empor  zur  hellsten  Pracht. 

"Drum  war  Dein  Werk  so  hoch  gesegnet, 
Drum  fühlte,  wer  Dir  nur  begegnet, 
Von  Dir  sich  wunderbar  entflammt! 
Drum  war  Erwärmen  und  Erheben, 
Drum  war  Begeistern  und  Beleben 
Dein  selt'nes,  einzig  schönes  Amt! 
Sprach  doch  aus  Deines  Auges  Grunde, 
Flosz  doch  von  Deinem  heitern  Munde 
Nur,  was  dem  Göttlichen  entstammt. 

Und  mocht'  auch  wol  die  armen  Seelen 
Dein  kecker  Witz  mitunter  quälen, 
Sie  schufen  selbst  sich  nur  die  Qual; 
Wer  in  Dein  Wesen  je  gedrungen, 
Der  fühlt1  auch  ihn  der  Lieb'  entsprungen  • 
Kein  spitzer  Pfeil,  ein  milder  Strahl! 
Ja,  wer  Dich  recht  erkannt,  der  sagte, 
Ging  er  von  Dir,  dasz  um  ihn  tagte 
Wie  Morgenroth  es  überall. 

Ja  wundersam  und  vielgestaltig, 
Ja  zauberhaft  und  urgewaltig 
Hast  Du  die  Herzen  stets  bewegt; 
Bang  fühlen  drum  das  Herz  wir  klopfen, 
Die  Thräne  heisz  vom  Auge  tropfen, 


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326  Kurze  Anzeigen  und  MisceUen. 

Da  nun  die  kühle  Gruft  Dich  hegt. 
Doch  heilig  bleibt  uns  stets  Dein  Name, 
Und  ewig  lebt  der  edle  Same, 
Den  Du  in  unsre  Brust  gelegt. 

Und  ist  aus  Aethers  leichten  Auen 
Es  Dir  vergönnt  herabzuschauen, 
Verklärter  Geist,  auf  unsre  Nacht: 
Lasz  Dir  den  schlichten  Kranz  gefallen, 
Unwürdig  Dein  wol,  da  die  Hallen 
Der  Zeit  Dein  Ruhm  durchtönt  mit  Macht, 
Unwürdig,  doch  als  frommes  Siegel 
Der  Lieb'  und  Dankbarkeit  dem  Hügel 
Des  theuern  Meisters  dargebracht! 
Memmingen.  Heinrich  Stadelmann. 


X. 

Viro  Doctissimo  et  Illustrissimo  Praeceptori  Dilectissimo 

Dr.  Christophoro  Stephano  Elsperger 

Gymnasii  Onoldini  regimen 

Ante  hos  viginti  quinque  aunos  susceptum  rite  pieque  congratulatur 

'  Henricus  Stadelmann. 


Quid  vuitus  hilares,  quos  videt  undique  i 
Anspacense  hodie  Gymnasium,  volunt? 
Quid  sacraeque  preces  festaque  munera, 
Quae  coetus  pius  exhibet? 

Quid  rursus  citharam  sepositam  diu 
Nostram  sollicitat?  Vir  V enerabilis , 
Custos,  ecce,  scholae  nobilis  inclytae 
Solennem  celebrat  diem, 

Vir,  quem  sancta  fides  nudaque  veritas, 
Quem  constans  gravitas,  quem  sapientia, 
Quem  cura  officii  sedula  traditi 
Late  conspicuum  facit« 

Salve  laeta  dies,  quae  tribuis  duci 
Acris  militiae  debita  praemial 
Quae,  si  vota  mihi  sunt  rata,  vividum 
Spectas  ae  vegetum  seneml 

Heu,  nobis  quod  idem  non  licet!  Hie  proeul 
Discretus  faciem  cernere  candidam, 
Doctor  Care,  Tuam  et  pignora  pectoris 
Grati  ferre  Tibi  vetor. 

Et  quot,  quanta  Tibi  munera  debeo! 
Tu  doctis  coluisti  ingenium  artibus, 
Tu  rectis  animum  moribus,  Optime, 
Finxisti  et  studiis  bonis! 

Ergo  montibus  ac  fluminibus  licet 
Divisus  spatii  rumpere  vineula 
Tentabot  liquidum  gnara  per  aerem 
Ferri  mens  aderit  Tibi 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  327 

Gratantttmque  choro  mixta  preces  pias 
Fandet,  Gare,  et:  Io,  dicet,  honoribus 
Gaude  promeritis ,  Duz  juvenum  bone,  et 
Audi  vota  lubens  mea! 

Virtutis  vigeas  ac  Sophiae  diu 
Cultor,  gymnasii  dulce  decus  Tui, 
Doctarum  columen  praevalidum  artium, 
Firmum  praesidium  domusl 
Memmingae  mense  Januario  1864. 


XI. 
Kurze  theoretisch-praktische  Grammatik  der  neugriechischen  Sprache 
in  ihrem  Verhältnisse  zur  altgriechischen  nebst  einer  Chrestoma- 
thie herausgegeben  von  Dr.  A.  Th.  Peucker.  Breslau  1863. 

Der  Herausgeber  dieser  Grammatik  ist,  so  viel  wir  wissen,  seit 
längerer  Zeit  Lector  der  neugriechischen  Sprache  an  der  Universität 
bu  Breslau  und  hatte  bei  der  Herausgabe  seines  Werkchens,  dessen 
grammatischer  Teil  übrigens  der  Kürze  halber  nur  die  Formenlehre 
enthält,  die  Absicht,  <den  Kennern  des  Altgriechischen  Gelegenheit  zu 
geben ,  sich  wenigstens  eine  oberflächliche  Kenntnis  des  Neugriechischen 
zu  erwerben,  dann  aber  auch  die,  die  sich  mit  demselben  etwas  ge- 
nauer beschäftigen  wollen,  auf  die  dazu  unentbehrlichen  Hülfsmittel 
aufmerksam  zu  machen'  (S.  V  f.).  Zwar  kann  allerdings  die  Gramma- 
tik selbst  (die  nur  58  Seiten  umfaszt)  unmittelbar  blosz  eine  sehr  ober- 
flächliche Kenntnis  der  neugriechischen  Sprache  vermitteln;  indesz  musz 
auch  schon  diese  genügen ,  wenn  sie  zugleich  zur  Erkenntnis  der  nicht 
geringen  Vorteile  führt,  welche  das  Studium  jener  Sprache  im' Allge- 
meinen den  Sprachforschern,  besonders  aber  den  Hellenisten  gewährt. 
Der  Herausgeber  spricht  sich  darüber  im  Vorwort,  nach  des  Pariser 
Hellenisten  Hase  Vorgang,  aus,  und  gewiß  können  namentlich  die  Hel- 
lenisten an  einzelnen  Beispielen,  wie  auch  schon  diese  Grammatik  sie 
ihnen  darbietet,  die  innere  Verwandtschaft  der  neuen  Sprache  mit  der 
alten  hinreichend  kennen  lernen.  Noch  mehr  würde  dies  freilich  auf 
dem'  Gebiete  der  Lexilogie  der  Fall  sein.  Lassen  wir  denn  also  der 
guten  Absicht  des  Dr.  P.  alle  Gerechtigkeit  widerfahren,  so  sind  wir 
doch  der  Meinung,  dasz  die  Ausführung  in  manchen  Beziehungen  zu 
wenig  gründlich  ist,  und  dasz  Manches  —  besonders  in  dem  Verhält- 
nisse der  neugriechischen  Sprache  zur  altgriechischen  —  schärfer  und 
klarer  hätte  nachgewiesen  und  dargelegt  werden  sollen.  Dabei  ist  der 
Herausgeber  teilweise  zu  wenig  selbständig  verfahren,  was  besonders 
auch  von  der  Chrestomathie  gilt,  die,  wenn  nun  einmal  so  etwas  hier 
gegeben  werden  sollte,  wenigstens  durch  ihre  Auswahl  dem  Zwecke 
besser  entsprechen  muste.  Auch  sind  die  dort  mitgeteilten  biographisch- 
litterarischen  Notizen  (eben  so  die  litter  arischen  Angaben:  (Zur  Lite- 
raturgeschichte', S.  VH  f.)  häufig  gar  zu  oberflächlich  und  ungenügend, 
und  die  Auswahl  erscheint  im  Einzelnen  nicht  ganz  gerechtfertigt. 
Warum  sind  z.  B.  die  beiden  Sutsos  gänzlich  übergangen?  In  der  Recht- 
schreibung der  neugriechischen  Eigennamen  fehlt  es  an  der  nötigen 
Consequenz.  Diese  Namen  müssen  notwendig  nach  der  reuchlini  sehen 
Aussprache  behandelt,  also  auch  nach  dieser  geschrieben  werden;  folg- 
lich Korais  (nicht  Koray,  noch  weniger  Coraes),  eben  so  Risos  (nicht 
Rhizo,  vergl.  S.  2  über  die  Aussprache  des  Z),  usw.  Trotz  dem  Allen 
wünschen  wir  der  vorliegenden  Grammatik  wegen  der  guten  Absicht  bei 
ihrer  Herausgabe,    die   sich  durch  sich  selbst  rechtfertigt,    diejenige 


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328  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

Beachtung,  die  sie  immerhin  verdient,  and  dasz  sie  namentlich  den 
Nutzen  gewähre,  den  sie  zu  gewähren  vermag. 

K. 

XII. 
Grundrisz  der  Naturlehre  zum  Behuf e  des  populären  Vortrags  dieser 
Wissenschaft  ausgearbeitet  von  G.  F.  H.  Scholl,  Dekan,  Pfar- 
rer in  Walddorf  bei  Tübingen.  Mit  88  Holzschnitten.  Sechste, 
mit  einem  chemischen  Theil  vermehrte  Auftage.  Ulm  1863,  Ver- 
lag der  Wohlerschen  Buchhandlung.    (190  S.  8).  Preis  16  Ngr. 

Das  Erscheinen  in  sechster  Auflage  zeugt  für  die  Brauchbarkeit 
dieses  ursprünglich  für  den  Unterricht  in  einer  höheren  Töchterschule 
ausgearbeiteten  Leitfadens,  der  besonders  in  Süddeutschland  auch  Ein- 
gang in  zahlreiche  Bürgerschulen  und  Schullehrer-Seminarien  gefunden 
hat.  Zum  Commentar  für  den  Lehrer  kann  die  'gemeinfaszliche  Natur- 
lehre' desselben  Verfassers  dienen,  als  deren  Auszug  die  Ausgabe  des 
Leitfadens  bezeichnet  wird.  Die  Auswahl  des  Stoffes  entspricht  dem 
Zwecke.  Die  Methode  ist  die  in  den  gröszeren  Lehrbüchern  befolgte 
dogmatische ,  nicht  die  von  Crüger  und  Stöckhardt  mit  So  viel  Geschick 
geförderte  heuristische;  der  nach  dem  vorliegenden  Leitfaden  Unter- 
richtende wird  wol  gut  thun,  öfter  nach  der  letzteren  zu  verfahren. 
Einige  Stellen  bedürfen  der  Nachbesserung  l*ei  einer  folgenden  Auflage. 
Solche  sind  unter  andern:  S.  70.  Eine  Convexlinie  (statt  Fläche)  ist 
Hauptbestandteil  unsres  Auges.  —  S.  147  Salmiak  dient  zum  Verzinnen 
(beim).  —  Eisenblech  wird  eine  Legierung  von  Eisenblech  mit  Zinn 
genannt  (Ueberzug  von  Zinn).  —  S.  149.  'Gewisse  Pflanzen  enthalten 
ziemlich  bedeutende  Quantitäten  von  Kali9  (da  eben  nur  von  Kalium- 
oxyd und  dessen  ätzenden  Eigenschaften  die  Rede  war,  'sollte  hier  stehn: 
von  Kalisalzen).  —  Die  Illustrationen  durch  eingedruckte  Holzschnitte 
sind  lobenswerth;  es  fehlen  aber  dergleichen  gänzlich  in  dem  zweiten, 
von  S.  127—182  reichenden  Hauptteile,  welcher  die  Chemie  abhandelt 
S.  153.  fDie  Magnesia  wird  wegen  ihrer  abführenden  Wirkung  in  der 
Heilkunde  gebraucht'  (soll  heiszen:  schwefelsaure  M.,  da  die  kohlensaure 
als  säuretilgendes  Mittel  zur  Anwendung  kommt). 


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Personalnotizen.  329 


Personalnotizen. 

(Unter  Mitbenutzung  des  f Centralblattes »  von  Stiehl  und  der  'Zeit- 
schrift für  die  österr.  Gymnasien'.) 


Ernennungen,  Beförderungen,  Ter« etnvngen ,  Ansneielinnngen. 

Bock"  Seminardirector  in  Münsterberg,  zum  Regierung*-  und  Schuirath 
bei  der  Regierung  zu  Königsberg  ernannt. 

Bode,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Neuruppin,  zum  Director 
des  Gymn.  zu  Herford^  erwählt. 

Born,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Pädagogium  Unser  L.  Frauen  zu 
Magdeburg  angestellt. 

Boysen,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Domgymnasiura  ebendaselbst. 

Brohm,  Prorector  am  neuerrichteten  Gymnasium  zu  Burg,  als  Pro- 
fessor' prädiciert.    ' 

Butz,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Thorn,  in  gleicher  Eigenschaft 
an  der  Realschule  zu  Elbing  angestellt. 

De  de  rieh,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Emmerich,  als  r  Professor' 
prädiciert. 

Dieckmann,  Dr.,  Geh.  Regierungs-  und  Schuirath  zu  Königsberg, 
erhielt  den  pr.  rothen  Adlerorden  II  Cl.  mit  Eichenlaub. 

Dietlein,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Gütersloh,  in  gleicher  Eigen- 
schaft am  Gymnasium  zu  Nenstettin  angestellt. 

Dietsch,  Dr.,  Professor,  Director  des  Gymnasiums  u.  der  Realschule 
zu  Plauen,  erhielt  den  russ.  St.  Annenorden  III  Cl. 

Dörk,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Marienburg,  als  f Professor' 
prädiciert. 

Drosihn,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Göslin,  in  gleicher  Eigen- 
schaft an  das  Gymnasium  zu  Neustettin  versetzt. 

Dworzak,  Dr.,  ao.  Professor  des  röm.  Rechts  an  der  Univ.  Wien,  zum 
ord.  Professor  dieses  Faches  ernannt. 

El sp erger,  Dr.  Professor,  erhielt  bei  seinem  25jährigen  Amtsjubiläum 
als  Rector  des  Gymnasiums  zu  Ansbach  den  Charakter  eines  kön. 
bair.  Schulraths. 

Elvenich,  Dr.,  ord.  Professor  u.  Oberbibliothekar  an  der  Universität 
Breslau,  zum  Geh.  Regierungsrath  ernannt. 

Eyssenhardt,  Dr.  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Friedrichs- Werderschen 
Gymnasium  in  Berlin  angestellt. 

Frick,  Dr.,  Oberlehrer  am  Progymnasium  in  Barmen,  zum  Director 
des  neuerrichteten  Gymnasiums  in  Burg  ernannt. 

Geisenheyner,  Lehrer,  zum  Gymnasial-    \ 

elementarlehrer  am  Gymnasium  I     zu  Herford         lUt 

Groszjohann,    Lehrer,    zum  Lehrer  der    i 
Gymnasialvorbereitungsschule  ' 

Günther,  Dr.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Greifenberg 
angestellt. 

Hirzel,  Dr.,  ord.  Professor  in  der  philos.  Fac.  der  Univ.  Tübingen, 
zum  fcector  des  dortigen  Gymnasiums  ernannt,  unter  gleichzeitiger 
Belassung  in  der  Stellung  eines  ao.  Professors  an  der  Universität. 

Hoche,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Soest,  als  ord.  Lehrer  an  der  Klo- 
sterschule zu  Rossleben  angestellt. 

Hoff  mann,  Dr.  E.  F.,  Kirchen-  und  Schuirath  zu  Leipzig,  erhielt  das 
Ritterkreuz  des  Sachs.  Verdienstordens. 

Hörich,  Hülfelehrer,  als  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Potsdam 
angestellt. 

Kahler,    Licentiat    der  Theologie,    Privatdocent   an  der   Universität 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Pld.  II.  Abt.  1864.  Hft.  5  u.  6.  22 


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330  Personalnotizen. 

Hall«,  zum  ao.  Professor  in  der  evangelisch- theol.  Fac.  der  Univ. 
Bonn  \  ernannt. 

Klo ss,  Dr.  M.,  Director  der  Turnlehrerbildungsanstalt  in  Dresden,  er- 
hielt das  Ritterkreuz  des  nassauischen  Verdienstordens. 

Koch,  Dr.,  Privatdocent,  zum  ao.  Professor  in  der  phil.  Facultät  der 
Univ.  Berlin  ernannt. 

Krohn,  Dr.,  Lehrer  am  Gymn.  zu  Herford,  zum  Gymnasiallehrer  in 
Saarbrücken  erwählt. 

Lämmer,  Dr.,  Subregens  des  bischöfl.  Seminars  zu  Braunsberg,  zum 
ord.  Professor  in  der  theol.  Fac.  des  Lyceum  Hosianum  daselbst 
ernannt 

Leibing,  Dr.,  Lehrer  am  Friedrich -Wilhelms -Gymnasium  zu  Berlin, 
als  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Elberfeld  angestellt. 

Leist,  O.,  SchAC,  als  ordentlicher  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Eisleben 
angestellt. 

LÖher,  Dr.  F.,  ord.  Professor  an  der  Univ.  München,  zum  Vorstand 
des  k.  bairischen  Reichsarchivs  ernannt. 

Maass,  Dr.,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Neubrandenburg,  als 'ord.  Leh- 
rer am  Gymnasium  zu  Potsdam  angestellt. 

du  Mesnil,  Dr.  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Stolp  an- 
gestellt. 

Michelis,  Dr.,  Pfarrer  zu  Albachten,  zum  ao.  Professor  in  der  phil. 
Fac.  des  Lyceum  Hosianum  zu  Braunsberg  ernannt. 

Nicolai,  Dr.,  Lehrer  am  Domgymnasium  zu  Magdeburg,  als  Oberleh- 
rer an  der  mit  dem  Friedrich -Wilhelms*  Gymnasium  verbundenen 
Realschule  angestellt. 

Olshausen,  Dr.,  ao.  Professor  in  der  med.  Fac.  der  Univ.  Halle,  zum 
ord.  Professor- ebenda  ernannt. 

Opel,  Dr.,  Collaborator  an  der  lat.  Hauptschule  zu  Halle,  zum  Director 
einer  dort  begründeten  städt  Vorschule  erwählt. 

Orth,  ord.  Lehrer  an  dem  Gymnasium  und  der  Realschule  zu  Burg- 
steinfurt, zum  *  Oberlehrer'  befördert. 

Pertz,  Dr.,  Oberbibliothekar  an  der  köni gl.  Bibliothek  zu  Berlin,  Geh. 
Regierungsrath ,   erhielt  das  Ritterkreuz  des  österr.  Leopoldordens. 

Pierson,  Dr.,  ord.  Lehrer  an  der Dorotheenstädt.  Realschule  zu  Ber- 
lin, zum  *  Oberlehrer'  befördert. 

Pringsheim,  Dr.,  Privatdocent  u.  Mitglied  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften, zum  ao.  Professor  in  der  phil.  Fac.  der  Univers.  Berlin 
ernannt. 

Ritschi,  Dr.,  Geh.  Regierungsrath,  ord.  Professor  u.  Oberbibliothekar 
an  der  Univers.  Bonn,   erhielt  das  Ritterkreuz  I  Cl.  des  bair.  Ver- 
*   dienstordens  vom  heil.  Michael. 

Röscher,  Dr.,  Hofrath  u.  ord.  Professor  der'prakt.  Staats-  u.  Game- 
ralwissenschaften  an  der  Univ.  Leipzig,  erhielt  den  russ.  St  Sta- 
nislausorden  H  Cl. 

Rose,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Kölnischen  Realgymnasium  zu  Ber- 
lin angestellt. 

Rosenkranz,  Dr.,  Geh.  Regierungsrath  u.  ord.  Professor  der  Philoso- 
phie an  der  Universität  Königsberg,  erhielt  den  russ.  St.  Stanis- 
lausorden  II  Cl. 

Roediger,  Dr.,  ord.  Professor  der  Orient.  Sprachen  an  der  Universität 
Berlin,  zum  ord.  Mitglied  der  phil.-histor.  Classe  der  preusz.  Aka- 
demie der  Wissenschaften  erwählt  und  bestätigt. 

Röttig,  wiss.  Hülfslehrer  am  Gymnasium  zu  Gütersloh,  als  ord.  Leh- 
rer ebenda  angestellt. 

Schiel,  Religionslehrer  an  der  Realschule  zu  Neisze,  in  derselben 
Eigenschaft  und  zugleich  als  Regens  des  Alumnats  am  Gymnasium 
zu  Glatz  angestellt. 


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Personalnotizen.  331 

Sehmalfeld,  Dr.,  Professor  am  Gymnasium  za  Eisleben,  zum  f Ober- 
lehrer' befördert. 
Schmid,  Dr.  K.  A.,  Rector  des  Gymnasiums  zu  Stuttgart,  erhielt  den 

russ.  St.  Stanislausorden  II  Gl. 
Schmidt*  Karl,  Hülfslehrer  am  Pädagogium  U.  L.  F.  in  Magdeburg, 
als  Collaborator  am  St.  Elisabeth- Gymnasium  zu  Breslau  angestellt. 
Schmidt,   Dr.  Moritz,  ao.  Professor  in  der  phil.  Fac.  der  Univ.  Jena, 

zum  ord.  Honorarprofessor  ebenda  ernannt. 
Schmitt,  Dr.,  Oberechulralh  u.  Gymnasialdirector  zu  Weilburg,  erhielt 

den  russ.  St.  Stanislausorden  II  Cl. 
Schmoller,  Dr.,  Finanzreferendar  in  Heilbronn,  zum  ao.  Professor  in 
der  phil.  Fac.  der  Univ.  Halle  ernannt. 

Scholle,  Dr.,  SchAC.,  zum  Oberlehrer  an  der  Dorotheenstädt.  Real- 
schule in  Berlin  befördert. 

Scholz,  Dr.,  Privatdocent,  zum  ao.  Professor  in  der  kath.  theol.  Fac. 
der  Univ.  Breslau  ernannt. 

Scholl,  Dr.  Ad.,  Hofrath,  Professor  und  Oberbibliothekar  in  Weimar, 
zum  fGeh.  Hofrath'  ernannt. 

Schultz,  Dr.  F.  W.,  ao.  Professor  in  der  evang.  theol.  Fac.  der  Uni- 
versität Breslau,  zum  ord.  Professor  ebenda  ernannt. 

Schücking,  Levin,  von  der  Univ.  Gieszen  in  Anerkennung  seiner 
Verdienste  um  den  deutschen  Sittenroman  zum  Doctor  der  Philo- 
sophie creiert  (qui  optime  de  fabula  romanensi  Germanorum  mori- 
bus  et  ingeniis  accommodanda  meritus  est). 

Schwartz,  Dr.  W.,  Professor  u.  Oberlehrer  am  Friedrichs-Werderschen 
Gymnasium  in  'Berlin ,  zum  Director  des  Gymnasiums  in  Neuruppin 
ernannt. 

Simson,  Dr.,  Professor  am  Friedrichs-Collegium  zu  Königsberg,  zum 
Oberlehrer  befördert. 

Stengel,  Licentiat,  als  kath.  Religionslehrer  am  Gymnasium  zu  Co* 
nitz  angestellt. 

Trapmann,  Lehrer,  als  ord.  Lehrer  an  der  Gymnasialvorschule  zu 
Dortmund  angestellt. 

Tyrol,  evang.  Pfarrer  in  Angerburg,  zum  Regierungs-  und  Schulrath 
bei  der  Regierung  in  Gumbinnen  ernannt. 

Uedinck:,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Reck-  \ 

linghausen,  (     zu  Oberlehrern 

Vogel,  Dr.,   ord.  Lehrer  an  der  Dorotheenstädt-  l        befördert. 
Realschule  zu  Berlin, 

v.  Wächter,  Dr.,  erster  Professor  der  Rechtswissenschaft  an  der  Uni- 
versität Leipzig,  Geh.  Rath,  erhielt  den  russ.  St.  Stanislausorden 
I  Classe. 

Weiss,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Thorn,  als  ord.  Lehrer 
an  der  Realschule  zu  Elbing  angestellt. 

Witte,  Dr.,  Geh.  Justizrath  u.  ord.  Professor  in  der  Jurist.  Fac.  der 
Univ.  Halle ,  erhielt  den  preusz.  rothen  Adlerorden  III  Cl.  mit  der 
Schleife. 

Wolff,  Dr.,  Professor  u.  ord.  Lehrer  am  Friedrichs-Werderschen  Gym- 
nasium zu  Berlin,  zum  Oberlehrer  befördert.  / 

Wulfert,  Dr.,  Director  des  Gymnasiums  zu  Herford,  zum  Director 
des  Gymnasiums  zu  Kreuznach  ernannt. 

Zander,  Hülfslehrer  am  Gymnasium  zu  Gütersloh,  als  ord.  Lehrer  am 
Gymnasium  zu  Colberg  angestellt. 

In  Ruhestand  getreten: 

Dieckmann,  Dr.,  Geh.  Regierungs-  und  Schulrath  in  Königsberg« 
Fe  hm  er,  Oberlehrer,  Conrector  am  Stiftsgymnasium  in  Zeitz. 


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332  Personalnotizen. 

Kaiisch,  Oberlehrer,  Professor  u.  Directorialgehülfe  an  der  mit  dem 
Friedrich-Wilhelms -Gymnasium  verbundenen  Realschule  zu  Berlin.  . 

Springerf  Dr.,  k.  k.  Hofrath,  ord.  Professor  der  Statistik  u.  der  Fi- 
nanzgesetzkunde an  der  Universität  Wien. 

Gestorben! 

Ampere,  Jean  Jacques  Antoine,  Professor  der  neueren  Litteratur  am 
College  de  France  zu  Paris,  Mitglied  der  franz.  Akademie  und  der 
Akademie  der  Inschriften  und  schönen  Wissenschaften,  f  27  März, 
63  Jahr  alt. 

Arendt,  Karl,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Herford,  f  2ß  April  in 
Hameln. 

Bloch,  ord.  Lehrer  an  der  mit  dem  Friedrich -Wilhelms -Gymnasium 
verbundenen  Realschule  in  Berlin. 

Foss,  Dr.  Wilh.  Ludw.,  ordentlicher  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Elbing, 
f  28  Februar. 

Haase,  Aug.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Herford,  f  29  März, 
36  Jahr  alt. 

Heinrich,  Albin,  em.  Gymnasialprofessor  zu  Brunn,  starb,  79  Jahr 
alt,  am  5  April  (verdienter  Naturforscher). 

Matthaei,  Oberlehrer,  Mathematiker  am  Gymnasium  zu  Liegnitz, 
t  27  April. 

Meyerbeer,  Giacomo,  preusz.  Generalmusikdirector ,  geb.  5  Sptbr. 
1794,  starb  in  Paris  am  2  Mai. 

Nepilly,  kath.  Schul-  u.  Regierungsrath  bei  der  Regierung  zu  Brom- 
berg, f  30  März. 

Peter,  F.,  Director  des  Gymnasiums  zu  Saarbrücken,  starb  am  3  Mai. 

Petri,  Oberlehrer,  Professor  an  der  Realschule  zu  Barmen ,  f  23  März. 

Richter,  Dr.  theol.  et  jur.,  Geh.  Ober-Regierungs-  u.  Ministerialrat!), 
ord.  Professor  in  der  jur.  Fac.  der  Univ.  Berlin,  starb  am  8  Mai. 
(Kirchenrecht.) 

v.  Ruttenberg,  Freiherr,  starb  am  14  Mai  zu  Wiesbaden.  (Geschichte 
der  deutschen  Ostseeprovinzen.) 

Saichow,  Oberlehrer  an  der  Realschule  zu  Tilsit,  f  3  Mai. 

Schröder,  ordentlicher  Lehrer  an  der  Ritterakademie  zu  Bedburg, 
t  12  April. 

T^reviranus,  Ludolf  Christian,  ord.  Professor  der  Botanik  an  der 
Universität  Bonn,  starb  am  6  Mai,  geb.  18  Sptbr.  1779.  (Pflanzen- 
Physiologie.) 

Tross,  Dr.  Ludw.,  em.  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Hamm,  starb 
70  Jahr  alt,  zu  Homburg  (durch  zahlreiche  philolog.  u.  histor.  Ar- 
beiten rühmlich  bekannt). 

Uhlemann,  Dr.  th.  et  phil.,  Professor  am  Friedrich- Wilhelms- Gymna- 
sium zu  Berlin,  auszerordentlicher  Professor  in  der  theol.  Facultät, 
f  19  April. 

Wagner,  Rud.,  Dr.  med.  et  phil.,  Hofrath  und  ord.  Professor  in  der 
phil.  Facultät  der  Universität  Göttingen,  geb.  zu  Bayreuth  1805, 
starb  am  13  Mai  nach  langem  Leiden.  (Berühmter  Physiolog  und 
Anatom,  ein  Hauptvertreter  der  antimaterialistischen  Richtung.) 

Waitz,  Dr.  Theodor,  ord.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universi- 
tät Marburg,  geb.  zu  Gotha  1821,  starb  am  21  Mai.  (Herausgeber 
von  Aristoteles1  Organon;  ausgezeichneter  akademischer  Lehrer, 
insbesondere  bedeutend  als  Forscher  und  Darsteiler  auf  den  Ge- 
bieten der. Pädagogik,  Psychologie  und  Anthropologie.) 


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Zweite  Abteilung. 


Seite 

18.  Noctes  scholasticae  (2)  von  *** 233 — 246 

19.  Die   Form  der  hebraeischen  Poesie.   Von  Gymnasiallehrer 

Dr.  JLey  in   Saarbrücken 246—258 

20.  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungen- 
strophe (1).     Von  Professor  Ed.  Olawsky  in  Lissa    .     .     .  258 — 277 

21.  Ueber  den  Vortrag  der  Geschichte  in  der  Prima  eines 
Gymnasiums.     Rede  von  Oberlehrer  Muther  in  Coburg     .  277 — 289 

22.  Ueber  den  Gymnasialzeichenunterricht  und  den  darauf 
Bezug*  habenden  Lehrplan  vom  2  Octbr.  1863  (1).  Von 
Otto  Gennerich ,  Zeichenlehrer  und  Geschichtsmaler  in 
Berlin         290—299 

23.  Die   höheren  Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen.  1.  Von  £.  300 — 304 

24.  Anz.   v.   Leonardo  Pisano:    la  practica   geometriae.     Von 

— h  in  — n 304—309 

25.  Anz.  v-  Ei*  Rödiger:  Wilhelm  Gesenius'  hebraeische  Gram- 
matik. I  Teil.  19  Aufl.  1862.  Von  Conrector  Dr.  Mühlberg 

in  Miihlhausen 309—312 

Berichte   über  gelehrte  Anstalten  usw.   von  Dr.  Ostermann  in 

Fulda 313—318 

Köln  ("313),    Kreuznach,  Münstereifel ,  Neusz,  Saarbrücken    . 
(316),  Trier,   Wesel,  Wetzlar  (316),  Themata  der  Abiturien- 
tenaufsätze  C317). 

Kurze  Anzeigen  und  Miscellen 318—328 

Aus   Mittel  franken,   Christ.  Bomhard  betreff,  von  Professor 

Dr.    Thomas  in  München 318 

Amtsjubiläum   des  Rector  Prof.  Dr.  Elsperger  in  Ansbach. 

Von    G.   Fr.  in  Ansbach 319 

Ludwig  JDoederlein 320 

Den  Manen  JDoederleins.    Von  Studienlehrer  Dr.  B.  Stadel- 

mann  in  Memmingen 325 

Festgrusz    an  Rector  Prof.  Dr.  Elsperger.    Von  demselben  326 

Anz.  v.  Th.  JPeucker:  kurze  Grammatik  der  neugriechischen 

Sprache.*      Breslau  1863.    Von  K 327 

Anz    v    H.    Scholl:  Grundrisz  der  Naturlehre.    6  Aufl.     Ulm 

1863.     Von   2 328 

Personalnotizen 329—332 


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Bekanntmachung. 


Mit   Genehmigung   königlicher    Regierung    wird   »I 
dreiundzwanzigste  Versammlung  deutscher  Philologen  u: 
Schulmänner  in  den  Tagen  vom  27.  bis   30.  Septbr.  d. 
in  Hannover   stattfinden,    zu   welcher   das  unterzeichne 
Präsidium   jeden    statutarisch   Berechtigten    hierdurch   e; 
gebenst  einladet.     Indem  dasselbe   die  geehrten  Fachge- 
nossen   auffordert,    beabsichtigte  Vorträge,   sowie    in  de 
pädagogischen  Section  zur  Discussion  zu  stellende  These. 
wo  möglich  bis  zum  31.  August  gefälligst  anmelden  v 
wollen,    erklärt   es   sich   zugleich    bereit,    Anfragen   uu 
Wünsche,  die  sich  auf  die  Theilnahme  an  der  Versammlui: 
beziehen,  entgegenzunehmen  und  zu  erledigen. 

Hannover  den  6.  Juni  1864. 

Das  Präsidium  der  dreiundzwanzigsten  Versammlui . 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner. 

H.  L.  Ahrens.    C.  L.  Grotefend. 


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Zweite  Abteilung: 

für  Gymoasialpädagogik  und  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschluss  der  classischen  Philologie, 
hentisgegeben  tm  Prefesser  Dr.  HerHtn  Mastis. 


26. 

Erlebtes  und  Bewährtes  aus  dem  Gebiete  der  Erziehung. 

(Fortsetzung  von  Jahrgang  1863,  Heft  10,  S.  446  ff.) 


Das  Fremden  der  Kinder. 

Man  wundere  sich  und  klage  nicht  zu  viel,  noch  weniger  kämpfe 
man  gewaltsam  gegen  das  sogenannte  Fremden  der  Kinder  auf  einer  ge- 
wissen Altersstufe.  Nicht  blosz  dasz  die  Erscheinung  als  Keim  der  nach- 
maligen verecundia  des  Knaben  und  Junglings  und  des  pudor  im  Mädchen 
gelten  kann,  so  liegt  darin  auch  ein  Wink  der  Natur,  die  Kinder  in  den 
Jahren,  wo  Solches  stattfindet,  vor  fremder  Berührung  in  so  weit  ferne 
zu  halten,  dasz  man  einesteils  die  Annäherung  an  Unbekannte  nicht  er- 
zwingt, andernteils  Fremde  nicht  zu  sehr  auf  sie  einwirken  läszt.  Die 
Natur  will  offenbar  die  Kinder  in  dieser  Zeit,  vom  zweiten  bis  vierten 
Jahre,  da  sie  am  liebenswürdigsten  sind,  absichtlich  ferne  halten  von  dem 
so  thörichten  und  verderblichen  Gebaren  der  Erwachsenen,  namentlch 
ihrem  Loben  und  Schmeicheln,  indem  sie  durch  dieses  'Fremden*  ein  Ge- 
gengewicht gegen  deren  sonstige  Liebenswürdigkeit  und  ein  Gegengift 
gegen  jene  Giftstoffe  in  ihrer  Umgebung  geschaffen  hat. 

Zugleich  kann  man  in  dieser  sonderbaren  Erscheinung  am  einzelnen 
Menschen,  die  Stufe  ganzer  Völker  sich  wiederholen  sehen.  Oder  wissen 
wir  nicht,  dasz  fast  jedes  Volk  eine  Zeit  durchlaufen  musz,  in  der  ihm 
hospes  und  hostis  gleichbedeutende  Begriffe  sind?  Bei  dem  Kinde  selbst 
aber  ist  dieses 'Fremden'  die  erste  Lebensäuszerung  desjenigen  Abschnitts 
der  geistigen  Entwicklung,  da  das  Selbstbe wustsein  im  Unterschied  von 
anderen  Persönlichkeiten  erwacht.  Gegenüber  von  Sachen  offenbart  sich 
bekanntlich  dieses  Unterscheiden  des  eigenen  Selbst  von  den  Gegenständen 
der  Auszenwelt  nicht  selten  als  Zerstörungstrieb.  Ganz  derselbe  Trieb 
erscheint  uns  gegenüber  von  andern  Personen  als  widerhaariges  Abstoszen 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  n.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  7.  23 


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'    334  Erlebtes  und  Bewährtes. 

des  Fremden,  das  bei  ungezogenen  Kindern  selbst  bis  zum,  Schlagen  derer, 
die  ihm  freundlich  nahen,  sich  steigern  kann.  Je  mehr  aber  eine,  ob  auch 
unliebsame,  Erscheinung  des  Innern  beim  Kinde  oder  heranwachsenden 
Zögling  im  Zusammenhang  >steht  mit  naturnotwendigen  Entwicklungs- 
phasen, desto  mehr  hrft  man  sie  mit  Aufmerksamkeit  zu  beachten  und  mit 
zarter  Hand  zu  behandeln.  Das  gewaltsame  Erzwingen  des  Gehorsams 
ist  in  solchen  Fällen  oft  ein  viel  verkehrterer  Eigensinn  als  der  Eigenwille 
des  Kindes.  Dieser  letztere  wird  vielmehr  durch  Nichts  mehr  zum  Eigen- 
sinn groszgezogen ,  als  durch  ungehöriges  Geltendmachen  unberechtigter 
Ansprüche,  durch  den  Eigensinn  der  Alten.  Allerdings  gehört  genaues 
Aufmerken  und  weise  Umsicht  dazu,  berechtigten  Eigenwillen  des  Kindes, 
der,  wie  im  vorliegenden  Fall,  tiefere  Grunde  hat,  zu  unterscheiden  von 
strafbarem  Eigensinn,  der  gebrochen  werden  musz.  Unter  Anderem 
möchte  ein  Fingerzeig ,  dasz  das  Letztere  nicht  stattfinde ,  dann  gegeben 
sein,  wenn  das  Kind  sich  beharrlich  gegen  Etwas  sträubt,  das  ihm  unge- 
wöhnlicher Weise  Widerwillen  erregt,  während  es  sonst  seinen  Wünschen 
ganz  angemessen  ist  und  mit  seinen  Neigungen  zusammenstimmt.  Eid 
lebhafter  Knabe  von  vier  Jahren  kannte  kein  gröszeres  Vergnügen,  als 
seinen  Vater  auf  einer  Spazierfahrt  zu  begleiten.  Als  nun  aber  einmal 
statt  des  eigenen  e'inen  Pferdes  zwei  vorgespannt  waren ,  gab  .er  auf  jeg- 
liche Weise  seine,  wol  aus  einer  Art  Conservatismus  flieszende,  Abnei- 
gung gegen  das  Mitfahren  zu  erkennen.  Ohne  Not  ihn  dazu  zu  zwingen, 
wäre  ebenso  verkehrt  gewesen,  als  das  Befehlen  von  Liebeszeichen,  wenn 
ein  Kind  gegen  eine  ihm  ganz  fremde  Person  vorerst  zum  Gegenteil  von 
Liebe  und  Vertrauen  geneigt  ist. 

8. 
Quidquid  delirant  reges,  pleotuntur  Achivi. 
Was  in  diesem  Spruch  von  Horaz  mit  Bezug  auf  politische  Verhält- 
nisse so  treffend  bemerkt  ist  und  sich  in  diesem  Gebiet  bis  auf  den  heuti- 
gen Tag  so  oftmals  bestätigt,  ist  gar  häufig  auch  der  Kinder  Loos,  die  der 
Eltern  Thorheft  und  Sünden  zu  büszen  haben.  Wie  gar  nicht  selten  be- 
gegnet es  dem  Lehrer  und  Erzieher,  dasz  er  in  den  Fall  kommt,  den  Sack 
schlagen  zu  müssen,  wenn  er  den  Esel  meint,  die  Zöglinge  tadeln  oder 
strafen  zu  müssen,  während  er  viel  lieber  die  Eltern  am  Kopf  nehmen 
möchte !  Das  Schlimme  ist  nur,  dasz  der  Esel  so  oft  nicht  merkt,  dasz  er 
gemeint  ist,  wenn  man  seinen  Sack  schlägt,  was  auch  sonst  im  Leben 
häufig  genug  vorkommen  soll.  Aber  diese  Sache  hat  auch  noch  eine  an- 
dere Seite,  von  der  aus  sie  Eltern  und  Erziehern  in  ihrem  vollen  Ernste 
aufs  eigene  Gewissen  fallen  musz.  Was  gemeint  ist,  deutet  der  folgende 
Abschnitt  an. 

9. 

Die  Jungen  erziehen  die  Alten. 

Vornweg  sind  die  jüngeren  Kinder  eines  Hauses  treffliche  Zucntmei- 

ster  für  die  älteren  Geschwister.    Die  übrige  Erziehung  kann  in  vielen 

Fällen  nur  abwehrend  wirken,   die, wilden  Ranken   beschneiden,  die 


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Erlebtes  und  Bewährtes.  335 

.  schlimmsten  Auswüchse  beseitigen ;  die  positive  und  'directe  Einwirkung 
geschieht  einesteils  zwar  auch  durch  den  still  arbeitenden  Geist  des  Hau- 
ses und  das  Vorbild  der  Eltern ,  andernteils  aber  und  am  nachdrücklich- 
sten erziehen  so  die  Kleinen  ihre  älteren  Brüder  und  Schwestern,  und 
zwar  in  erster  Linie  zu  den  Grundlugenden  des  sittlichen  Lebens,  zu 
Nachgiebigkeit  und  Geduld,  zu  Liebe  und  Aufopferung.  Schon  darum  hält 
es  so  schwer,  ein  einziges  Kind  für  diese  Pflichten  und  Tugenden  recht 
empfänglich  zu  machen,  wie  es  denn  auch  die  Billigkeit  erfordert,  Einem, 
der  als  der  Eltern  einzig  Kind  aufgewachsen  ist ,  einige  Dosis  Selbstsucht 
zugutzuhalten.  —  Ganz  besonders  aber  wird  Vater  und  Mutter  selbst 
auch  durch  die  Kleinen  erzogen.  Nicht  allein,  weil  mit  jedem  Kind  ein 
neues  Gewissen  ins  Haus  kommt,  durch  die  Pflichten,  die  überhaupt  da- 
durch auferlegt  werden ,  durch  das  Dankgefühl ,  das  uns  diese  Himmels- 
gabe nahelegt,  durch  die  nie  schlafende  allgemeine  Besorgnis,  selbst 
Irgend  welche  Schuld  zu  haben,  wenn  Etwas  versäumt  oder  verfehlt  er- 
scheint; nein  auch  nach  vielen  anderen  Seiten  hin  findet  diese  rückwärts 
wirkende  Zucht  statt.  In  keinem  andern  Verhältnis,  auch  nicht  in  dem 
zwischen  Mann  und  Weib ,  lernt  sich  Selbstverleugnung  so  gründlich  und 
zugleich  so  leicht,  wie  durch  die  Sorgen  und  Mühen  für  die  Kinder.  Auch 
das  Schwerste  wird  da  möglich,  wenn  anders  die  erste  Bedingung  nicht 
fehlt,  die  im  Herzen  wohnende  Liebe  zu  denselben.  Neben  der  Verzicht- 
leistung  auf  hundert  Genüsse  und  eigenwillige  Wünsche  jeder  Art  lernt 
sich  in  dieser  Schule,  was  noch  saurer  eingeht,  die  Entsagung  auf  die 
Ehre  bei  Menschen.  Wie  oft  musz  eine  Mutter,  wenn  sie  die  meist  klei- 
nen, für  Niemand  sichtbaren  und  keinen  sonderlichen  Dank  findenden 
Pflichten  gegen  die  Unmündigen  treulich  erfüllt,  Anderes  liegen  lassen, 
wegen  dessen  sie  hoch  gepriesen  würde  von  den  Menschen,  ja  dessen 
Unterlassung  ihr  selbst  Tadel  und  Misachtung  zuzieht I  Sie  musz  sich 
möglicher  Weise  als  unfreundlich  und  ungastlich,  unästhetisch  und  teil- 
nahmlos für  höhere  Interessen,  für  pedantisch  und  altbacken  ansehen  las- 
sen. Hier  gilts  auch ,  zu  beweisen ,  wie  die  Liebe  Alles  traget  und  durch 
böse  wie  gute  Gerüchte  zu  gehen  vermag.  Eine  poetisch  oder  sonst  wie 
schöpferisch  begabte ,  oder  auch  nur  für  Kunst  und  Litteratur  begeisterte 
Frauennatur  hat  als  Mutter  Gelegenheit  zu  täglicher  Entsagung  und  fort- 
gesetzten Opfern,  von  denen  selten  die  Welt  Etwas  weisz,  durch  die  sie 
aber  sich  mehr  als  durch  alles  schöne  Gerede  als  wahrhaft  gebildet  aus- 
weist. Denn  hier  wie  sonst  oft  bewährt  sich  das  treuliche  Wort  von 
Horaz :  Quanto  quisque  sibi  plura  negaverit ,  ab  Dis  plura  feret ,  oder  das 
noch  kürzere  von  Goethe: -Bildung  ist.  Entsagung.  Dasz  einem  Erzieher 
und  Schulmann  von  der  eben  bezeichneten  Begabung  solche  Opfer  auch 
nicht  erspart  bleiben,  soll  damit  entfernt  nicht  geleugnet  werden.  So 
erziehen  also  Kinder  die  Eltern  und  Erzieher  gewissermaszen  schon  durch 
ihr  Dasein.  —  Wer  aber  genug  Selbsterkenntnis  und  nicht  zu  viel  Eigen- 
liebe besitzt,  findet  leicht  und  oft,  dasz  die  Kinder  wie  im  Guten  so  fast 
noch  mehr  im  Unguten  Abbilder;  meist  sogar  potenzierte  Abbilder  sind 
der  Unarten  des  natürlichen  Menschen  in  den  Eltern,  ein  Satz,  der  dadurch 
nicht  umgestoszen  wird,  dasz  förmliche  Laster  der  Eltern  je  und  je  in 

23* 


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336  >  Erlebtes  und  Bewährtes. 

den  Kindern' das  Gegenteil  wirken,  einen  Abscheu  gegen  das  Böse  hervor- 
rufen und  für  das  Edle  besonders  empfänglich  machen.  Gleichwie  daher 
der  Lehrer  oft  durch  Mängel  im  Wissen,  Können  und  Betragen  seiner 
Schüler  auf  Lücken  und  Fehler  seines  Unterrichts  oder  seiner  Lehrart  ge- 
führt wird,'  so  kann  und  soll  Vater  und  Mutter  ihre  Kinder,  selbst  Erzie- 
her ihre  Zöglinge  als  treffliche  Zuchtmittel  für  sich  selbst  ansehen,  sofern 
ihre  eigenen  Sünden,  sei  es,  dasz  sie  als  schon  besiegle  oder  als  noch  vor- 
handene Feinde  in  ihrem  Innern  wohnen,  an  den  Kindern  ihnen  entgegen- 
treten. Dieser  Spiegel  ist  treu  und  gibt  das  Urbild  oft  heller  und  klarer 
zurück ,  als  Einem  lieb  ist ,  wenn  gleich  die  Züge  manchmal  noch  häsz- 
licher  erscheinen,  und  ob,  wie  gesagt,  mitunter  auch  Altes,  das  bereits 
überwunden  und  abgethan  ist,  zum  Vorschein  kommt.  Somit  läszt  sich 
jener  Ausspruch  Goethe^s  über  Byron:  'werde  Einer  ein  vernünftiger 
Sohn,  wenn  er  einen  solchen  Vater  hat',  gar  wol  auch  umwenden  und 
sagen:  wenn  man  einen  Sohn,  eine  Tochter  so  und  so  hat,  lerne  man 
daran  mehr  und  mehr  ein  vernünftiger  Vater  zu  werden.  —  Bei  besseren 
Naturen  können  überhaupt  manchmal  Fehler,  die  man  sich  gegenseitig  zu 
Schulden  kommen  läszt ,  nachdem  sie  für  den  Augenblick  auseinanderge- 
führt haben ,  doch  zuletzt  wieder  tiefer  und  inniger  verbinden.  Und  so 
kann  es  auch  geschehen,  dasz  ein  vom  Erzieher  begangener  Fehler,  falls 
er  ihn  zur  Busze  führt,  ihm  und  dem  Zögling  zum  Heile  gereicht  So 
hatte  ich  einmal  auf  einzelne  Spuren  hin  einen  Zögling  bei  einem  amt- 
lichen Zwiegespräch  des  selbstgenügsamen  Hochmuts  beschuldigt,  und 
zwar  nicht,  wie  ichs  sonst  gewöhnt  bin,  in  der  Form  der  Ermahnung, 
er  möge  sich  besinnen,  ob  er  diesen  Fehler  nicht  an  sich  habe,  sondern 
in  direct  ausgesprochenem  Tadel.  Bald  aber  wurde  ich  überzeugt ,  dasz 
ich  ihm  zu  viel  gethan ;  er  weinte  dergestalt ,  dasz  er  fast  gar  nicht  mehr 
zum  Wort  kommen  konnte.  Darauf  räumte  ich  unverholen  ein,  es  scheine, 
ich  habe  mich  getäuscht  und  das  könne  mich  natürlich  nur  freuen.  Der 
Junge  schied  getröstet;  doch  muste  ich  befürchten,  es  sei  ein  Stachel  in 
seinem  Herzen,  vielleicht  Bitterkeit  oder  gar  Trotz  zurückgeblieben.  Dem 
war  aber  nicht  so,  und  dies  bewies  mir  thatsächlich ,  wie  wenig  ich  zu 
meinem  Vorwurf  Recht  gehabt  hatte  und  wie  er  besser  war,  als  es  den 
Anschein  hatte.  So  ward  mir  diese  Demütigung  zur  Aufrichtung,  nicht 
allein  sofern  ich  daran  Vorsicht  gelernt  und  derartiges  voreiliges  Urteil 
wol  gründlich  abgelegt  habe,  sondern  auch,  weil  ich  ihm  gegenüber  jetzt 
mich  weit  mehr,  als  früher,  zu  innigerer  Annäherung  geneigt  fühle."  Er 
und  ich  haben  das  Bewustsein  gewonnen,  dasz  man  nunmehr  auf  tieferem 
Grunde  zusammengeführt  sei.  So  ist  der  Segen  von  Sturm  und  Gewitter 
auch  auf  dem  sittlichen  Gebiete  fühlbar  —  und  so  erziehen  die  Jungen 
die  Alten. 

10. 

Humanitätsfitudien  und  Christenglaube. 

Die  Rückkehr  unserer  Zeit  zum  Bekenntnis  und  Glauben  der  Väter 

verspricht,  trotz  allem  Misbrauch,  der  damit  getrieben  wird ,  auch  für  die 

Erziehung  gewinnreich  werden  zu  können,  indem  ein  festeres  Gebunden- 


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Erlebtes  und  Bewährtes.  337 

sein  an  das  Bibelwort  eher  geeignet  ist,  Charaktere  zu  bilden,  als  eine  ob 
auch  tiefgründige  Gefühlstheologie.  Und  dasz  uns  dermalen  Nichts  mehr 
Not  thue,  als  willensstärkende  Erziehungsmittel,  daran  wird  kein  Sach- 
kundiger zweifeln.  Dagegen  hängt  der  mehr  bibelgläubigen  Richtung  meist 
eine  praktische  Einseitigkeit  an,  welche  die  Pädagogik  nicht  unbeachtet 
lassen  darf,  dasz  dieselbe  nemlich  Philosophie  und  Kunst,  insbesondere 
auch  die  Poesie,  oder,  allgemein  gefaszt,  die  Humanitätsstudien  mit  allzu 
mistrauischen  Augen  ansieht  und  schönwissenschaflliche  Leetüre  auf  das 
dürftigste  Masz  beschränkt  wissen  will.  Man  gönnt  vielfach  der  Kunst 
und  Philosophie  nur  um  der  Herzenshärtigkeit  der  Weltmenschen  willen 
und  nur  als  geduldeten  Beisassen  noch  einen  Raum ;  von  einer  Begeisterung 
für  diese  rein  menschlichen  Versuche,  Wahrheit  und  Schönheit  zu  för- 
dern, soll  keine  Rede  sein  dürfen ;  au  mehr  oder  minder  offenen  Warnun- 
gen vor  dem  alten  und  modernen  Heidentum ,  vor  dem  Gultus  des  Genius, 
der  Glassiker  des  Altertums  wie  der  Neuzeit,  läszt  man  es  nicht  fehlen 
und  erweitert  den  Unterschied  zwischen  der  in  diesen  Werken  des  Men- 
schengeisles  harschenden  Weltanschauung  und  dem  christlichen  Glauben 
bis  zu  einer  tiefen  unausfülibaren  Kluft.  Wenn  auch  nicht  Alle  so  weit 
gehen ,  sich  des  Mangels  an  gefeierten  Poeten  der  Neuzeit  und  der  Ab- 
nahme des  Interesses  für  philosophische  Studien  auf  unsern  jetzigen  Hoch- 
schulen zu  freuen  und  dieselben  für  ein  notwendiges  Uebel  zu  halten, 
dem  freilich  ein  wissenschaftliches  Studium  der  Theologie  nicht  auswei- 
chen könne,  so  liegt  doch  manchem  ängstlichen  Gemüt  der  Wunsch  nahe, 
es  möchten  schon  im  Gymnasium  und  auch  auf  der  Universität  dem  freien 
Flug  der  Geister,  so  weit  es  immer  angeht,  Dämpfer  angesetzt,  Präventiv- 
maszregeln  angewendet  werden. 

In  der  That  scheint  es,  ein  christlich  denkender  Erzieher  oder  Vater 
dürfe  vornehmlich  mit  Recht  Bedenken  tragen,  bei  dem  dermaligen  Stand 
der  Din£e  einen  Jüngling  Theologie  studieren  zu  lassen ,  und  könne  den 
Wunsch  nach  wesentlichen  Änderungen  des  Studiengangs  nicht  dringend 
genug  hegen  und  geltend  machen.  Denn  steht  die  Sache  nicht  so ,  dasz 
der  angehende  Theologe  zuerst  an  heidnischer  Kunst  und  Wissenschaft 
groszgezogen  und  dann  in  den  Hörsälen  der  Philosophie  angeleitet  wird, 
geradezu  an  Allem  zu  zweifein,  dasz  ihm  Gott  und  Unsterblichkeit  in 
Frage  gestellt,  sein  anerzogener  Christenglaube  gründlich  zerstört  wird? 
Und  auch  innerhalb  der  theologischen  Wissenschaft  sind  ja  der  Lehrer 
und  Schüler  nicht  wenige,  denen  der  historische  Boden  des  Christentums 
ganz  abhanden  gekommen  ist,  bei  denen  von  der  biblischen  Wissenschaft 
als  dem  Fundament  des  Christenglaubens  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann. 
Der  künftige  Prediger  des  Evangeliums  sieht  sich ,  bevor  er  kaum  weisz 
und  erfährt,  was  der  Lehrbegriff  der  Bibel  und  seiner  Kirche  ist,  eine 
Schrift  des  alten  und  neuen  Testaments  um  die  andere  verdächtigt,  statt 
von  dem  gewaltigen  Inhalt  derselben  sich  erfassen  zu  lassen ,  urteilt  er 
mit  .kritischem  Machtgebot  darüber  ab,  stellt  sich  über  die  Propheten  und 
Apostel,  ja  über  Christus  selbst,  ist  und  wird  Alles  eher,  als  was  die 
christliche  Gemeinde  seiner  Zeit  von  ihm  erwartet  und  erwarten  darf. 
Wollen  wir  auch  im  Vertrauen  auf  die  Macht  der  Bibelwahrheit  und  im 


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338  Erlebtes  und  Bewährtes. 

Hinblick  auf  den  frischen  und  tiefen  Geist,  der  denn  doch  in  neuester 
Zeit  in  der  Theologie  sich  mehr  und  mehr  Bahn  bricht,  absehen  von  diesen 
Ausschreitungen  der  kritischen  Schulen;  das  angedeutete  Bedenken  in  Be- 
treff des  Studiums  der  Humanitätswissenschaften  und  des  philosophischen 
Curses,  durch  den  ja  derzeit  überall  der  Durchgang  zur  Theologie  ge- 
macht wird,  bleibt  jedenfalls  zurück.  Wäre  dies  nicht  etwa  dadurch  zu 
beseitigen,  dasz  der  Gang  der  theologischen  Studien  anders  geordnet 
würde?  Sollte  es  denn  nicht  möglich  sein,  den  angehenden  Theologen 
für  den  Anfang  die  Philosophie  nur  von  ihrer  formalen  Seite  kennen  ler- 
nen zu  lassen ,  ihn  tüchtig  in  Logik ,  Dialektik  und  Rhetorik  zu  schulen 
und  zu  üben ,  sodann  ihn  mit  Geschichte  und  Lehrinhalt  seiner  Bibel  und 
Kirche  gründlich  bekannt  zu  machen,  die  tieferen  philosophischen  Studien 
aber,  bei  denen  die  letzten  und  einschneidendsten  Fragen  des  Menschen- 
geistes zur  Sprache  kommen ,  auf  das  Ende  des  theologischen  Curses  zu 
verschieben?  Und  ganz  in  ähnlicher  Weise  könnte  bei  den  Humanitäts- 
studien überhaupt  verfahren  werden.  Man  sollte  immer  vornehmlich  und 
zuerst  den  guten ,  gesunden  Samen  des  Wortes  Gottes  einstreuen ,  Wur- 
zel schlagen  und  in  Halme  schieszen  lassen  und  nur  daneben  mit  weisem 
Maszhalten  der  Freude  und  Teilnahme  an  Werken  menschlicher  Kunst 
und  Wissenschaft  Raum  gönnen.  —  So  sehr  auch  derlei  Wunsche  nicht 
blosz  wolgemeint,  sondern  gerechtfertigt  erscheinen ,  dennoch  musz  die 
Erfahrung  und  eine  gesunde  Pädagogik  gegen  dieselben  und  gegen  die 
dabei  zu  Grund  liegenden  Principien  mit  allem  Ernste  Einsprache  erheben 
und  nach  andern  leitenden  Grundsätzen  urteilen  und  verfahren.  Vor 
Allem  steht  mir  der  Satz  fest:  eine  jegliche  echte  Poesie,  jedes  wahre 
Kunstprodukt,  alle  redliche  Philosophie  hat  dasselbe  Recht  auf  Existenz, 
wie  eine  gute  That,  wie  ein  Satz  oder  System  des  Glaubens.  Wol  hat 
die  Idee  des  Guten  und  noch  mehr  die  Idee  des  Heiligen  insofern  Etwas 
voraus  vor  dem  Wahren  und  Schönen ,  als  zum  Bestand  der  menschlichen 
Gesellschaft  und  zur  Erreichung  ihrer  letzten  Bestimmung  in  erster  Linie 
erforderlich  ist,  dasz  das  Heilige  und  Gute  als  das  Höchste  anerkannt  und 
angestrebt,  dasz  diesem  Höchsten  sein  Recht  nicht  verkümmert,  sein  Be- 
stand in  keiner  Weise  erschüttert  und  gestört  werden  Auch  das  Schönste 
und  Gröste,  was  menschliche  Kunst  geschaffen  oder  menschlicher  Scharf- 
sinn erforscht  und  erkannt  hat,  musz  in  unserer  Werthschätzung  zurück- 
stehen hinter  einem  edel  gestalteten  Menschenleben ,  in  welchem  durch 
thätiges  Handeln  und  aufopfernde^  Leiden  die  höchsten  Gedanken  und  Be- 
strebungen menschlichen  Geistes  und  Gemütes  sich  verwirklichen.  So 
hoch  wir  die  Kunsterzeugnisse  und  die  wissenschaftlichen  Werke  alter  und 
neuer  Zeit  stellen  und  mit  Freude  und  Bewunderung  an  ihnen  hinauf- 
schauen, herlicher  und  bewundernswerther  bleibt  es  denn  doch,  wenn  ein 
Menschenherz  den  spröden  Stoff  des  natürlichen  Menschen  überwältigend 
sich  selbst  zum  Tempel  des  lebendigen  Gottes  umbilden  läszt  und  in  sich 
selbst  wie  um  sich  her  ein  Gottesreich  im  Kleinen  darstellt,  Ewigkeits- 
gedanken im  irdischen  Gefäsze  zu  Gestalt  und  Leben  bringt.  Ferner 
steht  es  deshalb  fest,  dasz  Frivolität,  Verletzung  des  Heiligen,  Misachtung 
der  ewigen  Gesetze  des  Guten  nie  und  nimmermehr  geduldet  werden  darf, 

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Erlebtes  und  Bewahrtes.  339 

Eine  Kunst  und  Wissenschaft,  die  sich  dessen  schuldig  macht,  ist  ferne 
zu  halten  von  den  Alten  wie  von  den  Jungen.  Dean  die  Ideen  des  Quten 
und  Heiligen  bilden  so  zu  sagen  das  Brod  des  Lebens,  und  so  gewis  man 
den  Landwirt  tadeln  müste,  der  den  Kornblumen  auf  seinem  Acker  so  viel 
Raum  gönnen  wollte,  dasz  dadurch  seine  Früchte  Schaden  litten,  so  ge- 
wis wäre  der  Einzelne  oder  die  Gemeinschaft  zu  tadeln ,  welche  irgend 
eine  Bestrebung ,  ob  sie  auch  mit  der  feinsten  Kunst  und  dem  höchsten 
Scharfsinn  ausgestattet  aufträte,  zum  Schaden  jener  Grundsäulen  mensch- 
licher Ordnung  sich  geltend  machen  liesze.  Aber  das  eben  angeführte 
Gleichnis  von  den  Kornblumen  sagt  andererseits  unzweifelhaft,  dasz  es 
wider  Gottes  Willen  und  Ordnung  gehandelt  ist ,  wenn  man  auf  dem  gei- 
stigen Acker  der  Menschheit  nichts  Anderes  zulassen  will ,  als  das ,  was 
oach  Art  der  Brodfrüchte  nur  eben  unmittelbar  materiellen  oder  sitt- 
lich religiösen  Zwecken  im  engeren  Sinne  dient.  Die  Gyanen  im  Acker- 
felde, die  wilde  Rose  dort  am  Raine,  die  in  die  Lüfte  wirbelnde  Lerche, 
sie  alle  zeugen  laut  von  der  Wahrheit,  dasz  der  Ewige  in  seiner  Gottes- 
welt neben  dem  Notwendigen  auch  das  Schöne  nicht  allein  bietet*  sondern 
auch  gepflegt  wissen  will.  Und  zwar  ist  dadurch  ganz  vornehmlich  auch' 
die  Darstellung  der  heiteren  Seite  des  Lebens  als  Aufgabe  der  Kunst  ge- 
rechtfertigt, und  es  bleibt  dabei:  'Ernst  ist  das  Leben,  heiter  ist  die  Kunst.9 
Und  wir  sprechen  mit  demselben  Dichter :  'dem  prangenden,  dem  heitern 
Geist,  der  die  Notwendigkeit  mit  Grazie  umzogen,  der  seinen  Aether, 

seinen  Sternenbogen,  mit  Anmut  uns  bedienen  heiszt, dem  groszen 

Künstler  ahmt  ihr  nach.' 

Nach  dem  bisher  Bemerkten  sage  ich  also :  Wenn  ein  Kunstprodukt, 
eine  Poesie,  eine  Philosophie  Nichts  enthält,  was  mit  Gottes  Ehre  streitet, 
auch  in  keiner  Weise  die  Gefühle  eines  dem  Guten  und  Heiligen  zuge- 
wandten, Gemüts  verletzt,  habe  man  kein  Recht,  dagegen -Einsprache  zu 
thun,  sondern  es  erwächst  vielmehr  für  Jeden,  der  Zeit,  Kraft  und  Beruf 
dazu  hat,  die  Aufgabe,  sich  dafür  empfänglich  zu  machen,  soweit  die  Um- 
stände es  ermöglichen.  Das  Recht  zum  Widerspruch  und  zur  Verwerfung 
beginnt  erst  da,  wo  von  der  anderen  Seite  die  bezeichneten  Gränzen 
überschritten  werden.  Ein  poetisches  Erzeugnis ,  ein  Schriftsteller  über- 
haupt, gehöre  er  der  alten  heidnischen  Zeit  oder  der  unsrigen  an,  verliert 
sein  Anrecht  auf  Anerkennung  und  wird  bei  allem  Aufwand  von  Geist  und 
Kunst  verwerflich,  wenn  er  die  edelsten  Gefühle  und  Grundsätze  verletzt 
oder  verhöhnt,  wenn  er  z.  B.  der  Unwahrheit  das  Wort  redet,  die  Liebe 
zum  Nebenmenschen,  zum  Vaterland,  die  Grundlagen  des  Rechts  mit 
Püszen  tritt ,  an  dem  heiligen  Institut  der  Ehe  und  der  Familie  rüttelt, 
mittelbar  oder  unmittelbar  darauf  ausgeht,  das,  was  allen  gesitteten  Völ- 
kern als  gut  und  heilig  gilt,  verächtlich  zu  machen  und  zu  untergraben. 
Solche  Leetüre  bleibe  also  ferne,  aber  nicht  blosz  von  der  Jugend,  son- 
dern jeder  Altersstufe.  Es  kann  aber  auch  Manches  an  und  für  sich  viel- 
leicht durchaus  unverwerflich  und  ästhetisch  oder  philosophisch  ganz  und 
gar  gerechtfertigt,  dessen  ungeachtet  aber  pädagogisch  unzulässig,  für 
eine  gewisse  Alters-  oder  Bildungsstufe  unersprieslich,  ja  sogar  gefähr- 
lich sein,  z.  B.  eine  rein  historische  oder  poetisch  erdachte  Schilderung 


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340  Erlebtes  und  Bewährtes. 

eines  schlechten  Charakters ,  einer  schlechten  Zeit.  Wenn  wir  nun  voll- 
kommen zugeben  müssen,  dasz  Vieles  von  unserer  schönen  Lilteratur,  na- 
mentlich Vieles  von  Goethe,  in  diese  Classe  gehöre,  wenn  wir  ferner  auf- 
richtig bedauern  müssen,  dasz  unsere  deutschen  Glassiker  vielfach  mit  den 
Glaubenssätzen  der  Bibel  in  Conflict  geralheu  sind,  so  sind  wir  andererseits 
doch  auszer  Stand,  ganz  feste  Regeln  zu  geben,  was  von  solchen  Schriften 
im  einzelnen  Falle  und  auf  welcher  Altersstufe  es  gelesen  werden  darf.  Man 
kann  wol  sagen:  den  Reinen  ist  Alles  rein  und  umgekehrt:  wo  einmal  die 
Phantasie  verdorben  ist,  da  wird  auch  aus  harmlosem  Stoffe  Gift  gesaugt. 
Aber  wer  und  wo  sind  die  Reinen?  Und  hinwiederum:  kann  man  nicht 
auch  mitunter  zu  viel  böse  Elemente  voraussetzen  und  im  Verbieten  zu 
weil  greifen  ?  Dem  einen  Jungling  mag  man  ohne  Gefahr  selbst  Wieland's 
Oberon  in  die  Hände  geben,  und  Shakspear  gar  ihm  vorzuenthalten,  wäre 
ein  Unrecht;  ein  Anderer  gleichen  Alters  und  scheinbar  in  sittlicher  Bil- 
dung ebenso  reif,  leidet  durch  Einzelnes  sogar  in  Schiller's  Dramen  und 
Gedichten  schon  Schaden.  Das  hat  jeder  Vater,  jeder  Erzieher  im  jedes- 
maligen einzelnen  Falle  mit  sich  auszumachen,  allgemeine  Grundsätze  las- 
sen sich  hier  nicht  mehr  aufstellen.  Je  besser  es  gelingt,  einen  Zögling 
so  zu  leiten  und  so  zu  stimmen,  dasz  er  Natürlichkeiten,  versteht  sich 
ohne  lüsterne  Absichten  gebotene,  zu  ertragen  vermag,  desto  erwünschter 
musz  es  sein.  Die  Zeiten,  da  man  den  Terenz  in  den  Schulen  lesen  konnte, 
waren  besser  daran  und  standen  in  gewissem  Betracht  höher  als  diejeni- 
gen, da  man  für  nötig  fand,  die  Oden  von  Horaz  zu  purißzieren.  Fehlt 
es  nur  nicht  an  fortgesetzter  Wachsamkeit  und  wird  in  jedem  einzelnen 
Falle  umsichtig  erwogen,  was  jetzt  gerade  am  Platze  sein  dürfte,  so 
möge  man  auch  in  Betreff  der  schönwissenschaftlichen  Leetüre  den  Er- 
folg Gott  überlassen  und  bedenken ,  dasz  es  einem  Erzieher  ja  an  Mitteln 
und  Wegen  nicht  fehlt,  in  ungesuchter  Weise  ebenfalls  durch  Bücher, 
vornehmlich  aber  durch  Beispiel ,  Umgang  und  die  guten  Lebensmächle 
der  Gesellschaft  guten  Samen  auszustreuen  und  etwaigem  Gifte  mehr  als 
Ein  Gegengift  zur  Seite  zu  stellen.  Fast  gröszer  ist  die  Gefahr,  es  könnte 
in  unseren  Tagen  durch  das  Zuviel  von  ästhetischer  Leetüre  Nachteil  er- 
wachsen. Namentlich  sind  die  Kinderschriften  mit  romanhaftem  Zuschnitt 
vom  Uebel.  Der  Mangel  an  Selbständigkeit  im  Studium  bei  unserem  her- 
anwachsenden Geschlecht,  worüber  Schulen  und  Behörden  fortwährend 
Klagen  führen,  hat  seinen  Grund  teils  in  der  Zersplitterung  der  lernenden 
und  lehrenden  Kräfte,  teils  und  vornehmlich  aber  in  der  Ueberfütterung 
mit  solch  leichter  Geistesnahrung.  Wissenschaftlicher  Forschungstrieb 
und  sittliche  Kraft  leiden  dadurch  gleich  sehr  Not  Doch  feste  Gräuzlinien 
und  allgemeine  Grundsätze  lassen  sich  in  dieser  Hinsicht  noch  weniger 
aufstellen  und  durchführen.  —  Was  aber  die  genannten  Gefahren  des  phi- 
losophischen Studiums  für  Theologiestudierende  und  die  Gedanken  über 
Abänderung  desselben  betrifft,  so  erscheinen  die  letzteren  bei  genauer 
Erwägung  als  unausführbar,  die  ersteren  aber  als  übertrieben.  Die  philo- 
sophischen Studien  vor  Beginn  des  dogmatischen  Studiums,  nicht  erst 
nach  dem  Abschlusz  desselben  vorzunehmen,  gebietet  schon  das  Eine, 
dasz  ein  Verständnis  der  ganzen  neueren  Theologie  nicht  möglich  ist, 


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Erlebtes  und  Bewährtes.  341 

wenn  man  nicht  zugleich  oder  eigentlich  zuvor  schon  die  ihr  zur  Seite 
gehende  Philosophie  jeder  Periode  kennen  gelernt  hat.  Allerdings  ist  es 
gar  wol  möglich  und  tritt  nicht  selten  ein,  dasz  ein  junger  Theologe  in 
den  philosophischen  Hörsälen  zum  Unglauben  geführt  wird ,  aber  es  ist 
dann  einesteils  seine,  andern teils  der  theologischen  Docenten  Schuld, 
wenn  er  auf  diesem  Standpunkt  verharrt  und  nicht  zu  der  höheren  Wahr- 
heit durchdringt.  Jedenfalls  wird  dadurch  das,  was  oben  über  das  Recht 
menschlicher  Kunst  und  Wissenschaft,  nicht  blosz  geduldet  zu  werden, 
sondern  als  gottgewolltes  Bestreben  und  Werk  zu  existieren,  angedeutet 
worden  ist,  in  keiner  Weise  umgestoszen.  Wenigstens  der  evangelische 
Christ  musz  es,  wenn  er  nicht  ebenso  der  Kraft  der  Wahrheit  seines 
Glaubens  wie  seiner  eignen  Einsicht  ein  Armutszeugnis  ausstellen  will, 
als  eine  innere,  von  Gott  gesetzte  Notwendigkeit  erkennen,  dasz  mensch- 
liche Kunst  und  Wissenschaft  gepflegt,  dasz  namentlich  philosophiert 
werde.  Er  weisz  auch ,  dasz  diesen  Trieben  und  Kräften  des  Menschen- 
geistes zufolge  in  allen  und  nicht  in  den  schlimmsten  Zeiten  der  christ- 
lichen Kirche  zugleich  mit  der  Darlegung  des  Geglaubten  auch  an  der  Wis- 
senschaft des  Wissens  gearbeitet  worden  ist.  Die  edelsten  Geister  haben 
bald  mit  mehr  bald  mit  weniger  Erfolg  gerungen,  und  ringen  fort  und 
fort  darnach ,  Glauben  und  Wissen  zu  versöhnen.  Die  Aufgabe  selbst  ist 
unendlich  wie  alles  Grosze  in  der  Welt.  Dasz  sie  ein  Jünger  der  Wissen- 
schaft während  seiner  Studienzeit  löse ,  hiesze  Unbilliges,  ja  Unmögliches 
verlangen.  Wol  aber  kann  und  musz  zwar  nicht  allen,  aber  doch  den 
wissenschaftlich  begabten  Naturen  zugemutet  werden,  dasz  sie  kennen 
lernen ,  was  von  dieser  und  jener  Seite  behauptet  und  geschaffen,  welche 
Zweifel  erhoben  und  wie  sie  zurückgewiesen  worden  sind.  Aber  erst 
nicht  blosz  historisch  sollen  sie  das  erfahren,  sondern  je  nach  dem 
Masz  ihrer  Kraft  durcharbeiten ,  im  eigenen  Geistesleben  mit  durchkäm- 
pfen, ihre  Ueberzeugung  auf  dem ,  wo lerfor sehten  und  selbstbemessenen 
Grunde  aufbauen.  Ein  Gewährsmann ,  den  auch  die  Glaubigen  in  der  Ge- 
meinde .anerkennen  werden,  Dr.  Tholuck  hat  unlängst  in  kräftigen  Worten 
angedeutet,  wie  ein  Theologe  zur  Philosophie  sich  zu  stellen  hat,  als  er 
einige  Examenscandidaten,  die  sich  Etwas  darauf  zugutthun  wollten,  dasz 
sie  sich  mit  dieser  gottentfremdeten  Wissenschaft  gar  nicht  befaszt  hät- 
ten ,  ganz  treffend  darauf  hinwies,  welch  trauriges  Zeugnis  sie  sich  damit 
selbst  gäben.  Werden  nur  von  den  theologischen  Lehrstühlen  aus,  wie  es 
gegenwärtig  wol  bei  den  meisten  unserer  Hochschulen  gerühmt  werden 
darf,  diese  philosophischen  Bestrebungen  nicht  vornehm  ignoriert,  son- 
dern in  gebührendem  Masze  berücksichtigt,  wird  von  den  theologischen 
Docenten  nachgewiesen ,  wie  über  die  wichtigsten  Fragen  von  Seilen  der 
Speculation  geredet  und  verhandelt  worden  ist,  in  wie  weit  dieselbe 
Wahres  gefunden,  in  wie  weit  Unbefugtes  behauptet  oder  verneint  hat, 
wird  somit  die  Philosophie  weder  als  Herrin  noch  als  Magd ,  sondern  als 
Mitarbeiterin  am  Werke  menschlicher  Erkenntnis,  soweit  Ihre  Kraft  eben 
reichen  mag,  bereitwillig  anerkannt  und  ihr  mit  billigem  Wahfheitssinu 
die  Oränze  ihres  Gebiets  zugeteilt ;  —  wahrlich  es  müste  wunderbar  zu- 
geben ,  wenn  auch  bei  dem  dermaligen  Studiengang  ein  junger  Theologe 


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342  Erlebtes  und  Bewährtes. 

nicht  zu  einem  befriedigenden  Ziele  sollte  gelangen  können.  Zugegeben, 
dasz  der  eine  und  andere,  vorhersehend  kritisch  und  skeptisch  angelegte 
Kopf  es  nicht  zu  dem  Abschlusz  bringt,  der  ihn  befähigte,  mit  redlichem 
Gewissen  vor  die  Gemeinde  zu  treten;  so  fehlt  es  für  Solche  ja  nicht  an 
Auswegen,  die  begonnenen  Bahnen  ohne  Beschwerung  für  ihre  Ueberzeu- 
gungen  weiter  zu  verfolgen  und  darauf  zu  verharren.  Die  Mehrzahl  aber 
wird  jenes  Ziel  erreichen,  vorausgesetzt,  dasz  von  Haus  aus  ein  guter 
Glaubeosfond  vorhanden  ist  und  dasz  der  Studierende  nicht  blosz  mit  dem 
Kopfe  forscht  und  lernt,  sondern  es  an  der  Erkenntnis  seiner  selbst,  an 
der  eigenen  sittlichen  und  religiösen  Fortbildung,  an  Benutzung  der  Mit- 
tel ,  mit  den  Bedurfnissen  und  Erfahrungen  des  Lebens  bekannt  zu  wer- 
den ,  endlich  an  teilnehmendem  Eingehen  in  die  Erscheinungen  und  Le- 
benskräfte seiner  kirchlichen  Gemeinschaft  nicht  fehlen  läszt.-  Ist  das 
Gesagte  wahr  gegenüber  von  der  Philosophie,  so  gilt  es  noch  viel  mehr 
von  den  Humanitätsstudien,  von  menschlicher  Kunst  und  Wissenschaft 
überhaupt. 

11. 
Einige  leitende  Grundsätze  bei  der  Erziehung. 
Ein  zwar  nur  formales  aber  weitgreifendes  Erziebungsprincip  liegt 
in  dem  Satze i>  Behandle  die  Kinder  nie  als  bloszes  Mittel ,  etwa  zur  Be- 
friedigung deiner  Eitelkeit,  oder  um  djesen  und  jenen  Versuch  zu  machen, 
oder  gar  zum  Scherzen  und  zu  noch  schlimmeren  Absichten,  sondern 
immer  als  Selbstzweck.  Gegen  diesen  Spruch  verstöszt  auch  derjenige, 
der  bei  dem  Erziehungsgeschäft  irgendwelchen  äuszeren  Gewinn  sucht 
oder  seiner  Bequemlichkeit  und  sonstiger  Selbstsucht  Raum  gönnt.  .-*■ 
Gegenüber  dem  Geist  unserer  Zeit  ist  darauf  zu  halten,  dasz  der  Erzieher 
teils  für  sich  selbst,  für  die  Erfüllung  seines  Berufs,  teils  für  seine  Zög- 
linge ,  sofern  es  sich  um  die  Fundamente  des  sittlichen  Lebens  derselben 
handelt,  in  erste  Linie  die  Pflichten  der  Gerechtigkeit  stelle,  in  die  zweite 
die  Pflichten  der  Billigkeit  und  erst  zuletzt  die  der  Liebe.  Die  sentimen- 
tale Denkweise  unserer  Tage  dreht  das  Verhältnis  geradezu  um,  stellt 
immerdar  die  Liebespflichten  in  den  Vordergrund,  legt  auf  selbsterwähl- 
tes Gebaren  in  Gefühlen ,  Worten  und  Werken  den  Hauptwerlh.  Gehor- 
sam ist  besser,  denn  Opfer,  das  ist  ein  trefflicher  Satz  auch  auf  dem 
Felde  der  Erziehung.  Mit  anderen  Worten :  auch  das  Kind  sehe  an  uns 
und  lerne  von  uns ,  dasz  treue ,  sich  selbst  vergessende  Pflichterfüllung, 
gewissenhafte  Achtung  des  übergeordneten  Willens,  des  Gesetzes  und  der 
bestehenden  Ordnung,  Berücksichtigung  der  ausgesprochenen  Wünsche 
des  Vaters,  der  Mutter  oder  des  Erziehers  das  Allererste  sei,  was  ihm 
obliege,  während  selbstgemachte  Erweisungen  von  Liebe,  schöne,  ob 
auch  nicht  unwahre,  Worte,  zarte  Gefühle  und  gerührte  Empfindungen 
einen  untergeordneten ,  mitunter  selbst  zweideutigen  Werth  haben.  Zum 
Nachtisch  mag  das  Letztere  zulässig  sein;  die  kräftige,  gesunde  Haus- 
mannskost musz  aber  das  Erstere  bilden.  —  Für  die  Väter  gibt  der  Apo- 
stel Paulus  (Col.  3)  in  einem  schlichten  Wort  eine  treffliche  und  vielbe- 
sagende Weisung,  wenn  er  sagt:  fIhr  Väter,  erbittert  eure  Kinder  nicht, 


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Erlebtes  und  Bewährtes.  343 

auf  dasz  sie  nicht  scheu  werden.9  Denn  ein  Hauptfehler  Ton  Seiten  der 
Väter  in  der  Erziehung  besteht  darin,  dasz  sie  das,  was  sie  sagen 
und  verfugen,  so  oft  nicht  mit  derjenigen  zarten  und  selbstsuchllosen 
Rücksicht  thun,  welche  eine  bessere  Kindesnatur  notwendig -fordert. 
Feste  Gonsequenz  ist  damit  entfernt  nicht  ausgeschlossen ;  diese  erbittert 
an  und  für  sich  nicht,  sondern  nur  die  lieblose,  selbstsüchtige,  eigen- 
willige Form,  in  der  sie  aus  dem  Munde  so  vieler  Väter  kommt;  das  Lau- 
nenhafte, rein  Willkürliche  der  Befehle  oder  Strafen,  das  ists,  was  bitter 
und  scheu  macht.  Im  Gegenteil  zeigen  sich  gutgeartete  Kinder,  wenn  sie 
zwar  strenge  aber  gerecht  gestraft  worden  sind,  bekanntlich  bald  her- 
nach oft  ungewöhnlich  zärtlich,  aufmerksam  und  gehorsam,  gewis  nicht 
blosz  aus  Furcht  vor  neuer  Strafe,  sondern  weil  sie  fühlen,  dasz  man  da- 
durch an  ihrem  besseren  Selbst  gearbeitet,  diesem  zur  Erlösung  verholfen 
hat.  Allerdings  ist  auch  bei  besseren  Kindern,  wenn  sie  festen,  eigenen 
Willen  haben ,  plötzliches  Aufwallen  des  Zornes  und  des  Trotzes  gegen- 
über von  gerechten  Forderungen  gar  nicht  selten;  aber  auch  dieses  ist 
nicht  zu  verwechseln  mit  jenem  Bitter-  und  Scheuwerden,  das  der  Apo- 
stel meint.  Doch  gerade  solche  charakterfeste  Kinder  lassen  erkennen, 
wie  wahr  das  Wort  Kant's  ist,  dasz  es  eines  der  grösten  Probleme  der 
Erziehung  sei,  wie  man  den  gesetzlichen  Zwang  mit  der  Fähigkeit,  sich 
seiner  Freiheit  zu  bedienen,  vereinigen  könne.  Er  stellt  dabei  drei 
Punkte  auf,  die  besondere  Berücksichtigung  verdienen:  frei  sei  das  Kind 
in  Allem,  auszer  in  Dingen,  wo  es  Anderer  Freiheit  beschränken  oder 
sich  selbst  schaden  würde ;  man  zeige  ihm ,  dasz  es,  um  seine  Zwecke  zu 
erreichen,  Anderen  die  ihrigen  lassen  müsse;  es  Jerne  einsehen,~dasz  man 
es  deshalb  erzieht,  damit  es  einst  frei  leben  und  durch  Entwehren  und 
Erwerben  von  Andern  sich  unabhängig  erhalten  könne.  Wer  diese  drei 
Rücksichten  im  Auge  behält,  kann  viel  befehlen  und  strenge  strafen,  kann 
auch  starke  Naturen  unter  den  notwendigen  gesetzlichen  Zwang  beugen, 
ohne  zu  erbittern ;  denn  diese  Grundsätze  flieszen  nicht  aus  Selbstsucht, 
sondern  aus  Liebe,  nicht  aus  launenhafter  Willkür,  sondern  aus  der  Ach- 
tung vor  ewigen  Gesetzen ,  die  dem  Erzieher  und  dem  Zögling  gleicher- 
maszen  gelten. 

12. 
Pädagogische  Antinomieen. 

Lasse  ja  Kleinigkeiten  von  gröszerer  Tragweite  bei  der  Erziehung 
nicht  unbeachtet,  principiis  jobsta.  Aber  mache  doch  nicht  zu  groszes 
Aufheben  davon,  so  lange  du  nicht  sichere  Anhaltspunkte  hast,  um  daran 
ernsteres  Auftreten  dagegen  knüpfen  zu  können,  sondern  warte  ab,  bis 
derselbe  Fehler  sich  in  greifbaren  Erscheinungen  kund  gibt,  was  nie  aus- 
bleibt, wenn  anders  die  Vermutung  richtig  war,  dasz  der  Fehler  tiefer 
sitze.  —  Urteile  und  handle  in  der  Erziehung  sowenig  als  sonst  im  Le- 
ben blosz  nach  dem  Erfolg;  wer  das  thut,  beweist  damit  meist  seine  Un- 
bildung. Und  doch,  wenn  du  dich  dabei  frei  weiszt  von  Zorn  und  Selbst- 
sucht, must  du  gerade  manchmal  beim  Erziehungswerke  die  Rücksicht 
auf  den  Erfolg  vorwalten  lassen,  sofern  ein  schlimmer  Erfolg  dem  Kinde 


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344       Schilling:  die  verschiedenen  Grundansichten  des  Geistes. 

selbst  seiue  Schuld  mehr  zum  Bewustsein  bringt ,  als  da ,  wo  bei  gleich 
groszer  Verschuldung  die  nachteiligen  Folgen  minder  in  die  Augen  fallen. 


2*. 

Die  verschiedenen  Grundansichten  über  das  Wesen  des  Geistes. 
Akademische  Festrede,  gehalten  von  dem  Rector  der  Ludwigs- 
Universität  Dr.  Gustav  Schilling,  ord.  Prof.  der  Phil.  Gieszen 
1863.   4.    Leipzig,  Commission  von  L.  Pernitzsch. 

Wer,  sei  es  zu  seiner  eignen  Belehrung,  sei  es  zum  Behufe  des 
Unterrichtes,  sich  in  der  Geschichte  der  Philosophie  umgesehen  hat, 
weisz,  dasz  trotz  der  jetzt  vorhandenen,  teilweise  vortrefflichen  Hülfs- 
bücher  es  doch  sehr  schwer  ist ,  sich  über  die  Behandlung  eines  und  des- 
selben einzelnen  Gegenstandes  in  den  verschiedenen  Systemen  schnell 
eine  genaue  Kenntnis  zu  verschaffen ,  namentlich  aber  die  vielfachen  Auf- 
fassungsweisen desselben  Gegenstandes  auf  die  wenigen  wesentlichen 
Grundunterschiede  zu  reducieren.  Ein  Hulfsmittel  für  die  Psychologie 
bietet  die  hier  anzuzeigende  Schrift,  welche  auch  für  diejenigen  von 
Wichtigkeit  sein  wird,  denen  sonst  anderweitige  philosophische  Unter- 
suchungen ferne,  die  Fragen  über  das  Wesen  des  Geistes  aber  und  ober 
seine  Vergänglichkeit  oder  Unsterblichkeit  am  Herzen  liegen« 

Der  Vf.  spricht  zunächst  von  dem  psychologischen-Mate- 
rialismus  (S.  4  f.),  und  zwar  in  einer  solchen  Weise,  dasz  uns  zugleich 
in  nuce  eine  Geschichte  des  Materialismus  überhaupt  vorgeführt  wird, 
der  nun  einmal  leider  jetzt  überall  von  sich  reden  macht.  Als  Vertreter 
dieser  Richtung  erblicken  wir  Heraklit,  Empedokles,  Leukipp 
undDemokrit,  Epikur,  den  Verfasser  des  Systeme  de  la  nature*), 
jener  f Bibel  des  Atheismus',  wie  Pristley  sagt,  schlieszlich  Naturforscher 
der  Jetztzeit,  unter  denen  namentlich  Czolbe**)  hervorzuheben  ist,  weil 
dieser  in  Vergleich  mit  Vogt,  Moleschott,  Büchner  usw.  die  Sache  am 
wissenschaftlichsten  behandelt. 

Heraklit  erscheint  als  der  Erste,  der  in  beachtenswerther  Weise 
seine  Lehre  vorn  ewigen  Flusse  aller  Dinge  und  vom  Feuer  als  stofflichen 
und  bewegenden  Principe  auf  den  Menschen  und  sein  geistiges  Sein  und 
Thun ,  ja  selbst  auf  den  Weltgeist  ausdehnte.  Wie  in  allen  anderen  Din- 
gen, so  macht  das  Feuer  auch  im  Menschen  die  Bewegung,  das  Leben 
und  das  Wissen  aus ,  sofern  der  Mensch  ein  Teil  des  Weltganzen  ist  und 


*)  Systeme  de  la  nature  ou  des  lois  du  monde  physique  et  du  monde 
moral  par  feu  Mr.  Mirabaud.     London  1770. 

**)  Neuere  Darstellung  des  Sensualismus.  Ein  Entwurf  von  Hein- 
rich Czolbe.  Leipzig',  Costenoble  1855.  —  Entstehung  des  Selbstbe- 
wustseins.  Eine  Antwort  an  Hrn.  Prof.  Lotze,  von  Heinrich  Czolbe. 
Leipzig,  Costenoble  1856. 


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Schilling :  die  verschiedenen  Grundansichten  des  Geistes.       345 

so  lange  es  aus  der  ihn  umgebenden  Welt  durch  Athmung  und  Sinnes- 
wahrnehmung in  ihm  ein-  und  ausgeht. 

Die  Art  wie  Empedoklesdie  Sinnes  Wahrnehmungen  durch  die  so- 
genannten Ausflüsse  oder  Ausströmungen  und  das  Eindringen  in  die  OeflV 
nungen  anderer  Körper  entstehen  läszt,  ist  völlig  materialistisch.  Wo 
die  Elemente  am  besten  und  vollständigsten  gemischt  sind,  da  ist  nach 
ihm  die  Wahrnehmung  und  Vorstellung  am  vollständigsten;  und  dies  ist 
der  Fall  im  Blute,  namentlich  in  seinem  Sammelplatze,  dem  Herzen, 
welchem  die  Alten  überhaupt  in  ihrer  physiologischen  Psychologie  eine 
gröszere  Wichtigkeit  beilegten  als  dem  Gehirn. 

Bei  den  Atom ikern  Leukipp  und  Demokrit  muste  die  Berücksich- 
tigung der  Qualitäten  der  Elemente  in  Wegfall  kommen  und  an  ihre 
Stelle  die  Gestalt  der  Atome  treten.  Den  kugelförmigen  Feueratomen 
werden ,  als  den  beweglichsten,  die  Functionen  des  Lebens  und  der  Seele 
aufgetragen.  Kommen  bei  der  jeweiligen  Art,  wie  die  Abbilder  der  Dinge 
dem  Seelenleibe  zugeführt  und  schlieszlich  in  ihm  abgedrückt  werden,  die 
Seelenatome  in  eine  mäszige,  richtig  temperierte  Bewegung,  so  wird  die 
Erkenntnis  eine  richtige ;  im  Gegenteile  eine  falsche.  Consequeiiterweise 
ist  hier  das  Wahrnehmen  weder  vom  Denken  noch  vom  leiblichen  Leben 
geschieden  und  durch  den  ganzen  Leib  hindurch  verbreitet.  Es  ist  eine 
weitere  Gonsequenz,  dasz  Leben  und  Empfindung  so  weit  ausgedehnt 
werden ,  als  die  Bewegung  reicht ,  Lebenskraft  und  Beseelung  unbedenk- 
lich in  Thieren  und  Pflanzen ,  ja  auch  im  Reiche  des  Unorganischen ,  ob- 
wol  hier  in  geringerem  Masze  vorausgesetzt  wird. 

Epikur  brachte  es  in  seinem  Anschlüsse  an  die  nur  Genannten 
blosz  zu  einigen  Inconsequenzen ,  die  ihm  durch  Eigentümlichkeiten  der 
psychologischen  Thatsachen  aufgenötigt  wurden. 

Das  ist  der  psychologische  Materialismus  im  Altertum.  Einen  unver- 
hülllen  Ausdruck  erhielt  derselbe  im  vorigen  Jahrhundert  in  dem  vielbe- 
rufenen Pseudonymen  System  der  Natur. 

Nach  dem  System  der  Natur  ist  das  materielle  Gehirn  die  Seele, 
und  die  Seelenvertnögen  oder  Seelenzustande  sind  nur  verschiedene  Arten 
zu  wirken  oder  zu  sein,  die  aus  der  Organisation  des  Körpers  resultieren. 
Das  psychische  Grundvermögen ,  aus  dem  alle  anderen  resultieren ,  ist  das 
Empfinden,  sentiment.  Es  wird  als  ein  präciser  Begriff  des  JEmpfindens 
aufgestellt ,  dasz  es  die  den  Sinnesorganen  eigene  Bewegung  sei ,  in  die 
sie  durch  materielle  Objecte  versetzt  werden  und  die, sich  in  das  Gehirn 
fortpflanzen.  Die  Gehirnbewegung  ist  ohne  weiteres  der  Empfindung 
gleich  gesetzt.  Da  aber  der  Hiatus  zwischen  beiden  doch  zu  auffällig  ist, 
so  wird  die  Unerklärbarkeit  des  Empfindungsvermögens  des  Gehirnes  ein- 
gestanden und  dasselbe  nnr  als  Thatsache  festgehalten ;  dafür  aber  wer- 
den zwei  Hypothesen  zur  Auswahl  angeboten.  Entweder  soll  di6  Empfin- 
dungsfähigkeit eine  Folge  des  Wesens  und  der  Eigenschaften  der  Orga- 
nismen ,  also  das  Resultat  einer  nur  'dem  thierischen  Körper  eigenen 
Anordnung  und  Verbindung  der  Stoffe  sein.  Oder  aber  sie  ist  eine  all-, 
gemeine,  allen  Materien  iuhärierende  Eigenschaft;  nur  dasz  man  dann  die 
active,  lebendige  Sensibilität  von  der  todten,  trägen  (gehemmten)  zu 


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346       Schilling:  die  verschiedenen  Grandansichten  des  Geistes. 

unterscheiden  hätte.  Das  System  hat  also  seinen  Bankerott  selbst  ange- 
zeigt. Die  vorgegebene  Erklärung  des  Empfindens,  überhaupt  des  Bewust- 
seins,  des  Wissens  aus  der  Bewegung  wird  als  mislungen  aufgegeben  und 
das  ganze  Unternehmen  als  unmöglich  anerkannt;  die  Materie,  oder  wenig- 
stens die  Nervenmasse  des  Gehirnes ,  bekommt  dafür  die  Eigenschaft  des 
Empfindens  oder  Bewustseins  als  etwas  Ursprüngliches.  Es  wird  dabei 
nur  das  unschuldige  Kunststuck  gemacht ,  die  physiologische  Reizbarkeit 
der  Nervenmasse  für  das  psychische  Bewustsein  auszugeben;  eine  Trans- 
formation ,  die  durch  die  Zweideutigkeit  des  Wortes  Sensibilität  erleich- 
tert war.  Nachdem  so  das  Gehirn  zu  der  Fähigkeit  des  Empfindens  und 
Wissens  oder  Bemerkens  gelangt  ist,  schreitet  das  System  mit  leichtem 
Schritt  vorwärts,  fertigt  eine  Anzahl  psychischer  Processe  schnell  mit 
Namenserklärungen  ab,  und  ist  später  gar  nicht  mehr  blöde,  dem  Gehirn 
zu  dem  Wahrnehmen  und  Vorsteilen  auch  noch  die  weiteren  Fähigkeiten 
beizulegen  sich  selbst  zu  modiiicieren,  sich  auf  sich  selbst  zu  wenden, 
seine  eigenen  Operationen  zu  betrachten,  die  empfangenen  Wahrnehmun- 
gen und  Vorstellungen  zu  comhinieren,  zu  trennen,  auszudehnen,  einzu- 
schränken, zu  vergleichen,  zu  erneuern  —  kurz  es  endet,  wie.es  ange- 
fangen, mit  Erschleichungen,  und  setzt  einfach  voraus,  was  zu  erklären 
war,  aus  Masse  und  Bewegung  aber  nimmer  erklärt  werden  kann. 

Das  jüngste  Wiederauftauchen  des  Materialismus  befremdet  für  den 
ersten  Augenblick ,  wenn  man  bedenkt ,  dasz  seit  den  Anfängen  bei  Kant 
der  Hauptstrom  der  deutschen  Philosophie  entschieden  idealistisch  ge- 
wesen ist.  Aber  gerade  der  Idealismus  bei  Schelling  und  Hegel  wurde 
namentlich  für  flache  Denker  und  Dilettanten  im  Philosophieren  Impuls, 
wieder  in  das  bequemere  Lager  des  Materialismus  hinüber  zu  gehen. 
Fällt  doch  ohnehin  die  idealistische  Auffassung  der  Welt 
denjenigen  schwer,  die  sich  stets  mit  der  Sinnenwelt  durch 
sinnliche  Wahrnehmungen  beschäftigen.  Je  höher  also  die 
philosophisch  dilet tierenden  Naturforscher  die  Leistungen  der 
modernen  Naturwissenschaft  anschlugen,  um  so  sicherer  hofften  sie  ledig- 
lich mit  den  methodologischen  und  principiellen  Mitteln  der  mechani- 
schen Naturlehre  auch  die  Geisteslebre  aufbauen  zu  können. 

Unter  diesen  zeichnet  sich  Gzolbe  durch  einen  ernsten  wissen- 
schaftlichen und  moralischen  Sinn  aus  und  verdient,  hier  hervorgehoben 
zu  werden.  Zu  der  allgemeinen  theoretischen  Ansicht  des  Materialismus, 
dasz  Empfindung  und  Vorstellung  nichts  anderes  als  räumliche  Bewegung 
(von  Gehirnteileu)  sei,  hat  Czolbe  noch  den  neuen  Gedanken  hinzuge- 
bracht, dasz  eine  gewisse  Form  der  Bewegung  zur  Hervorbringung  des 
Bewuslseius  erforderlich  sei.  Er  läszt  nemlich  in  den  äuszeren  Reizen 
der  Sinnesorgane  die  sinnliche  Qualität  der  Empfindung  schon  vollständig 
vorhanden  sein ,  so  dasz  sich  als,o  von  einem  rothglänzenden  Körper  eine 
fertige  Röthe,  von  einem  tönenden  eine  Melodie  absondere,  um  durch  die 
Sinnesorgane  in  uns  einzudringen.  Doch  sollen  diese  Reize  oder  Sinnesqua- 
litäten wiederum  nichts  anderes,  als  Bewegungen  von  gewissen  Geschwin- 
digkeiten und  Formen  sein ,  die  als  solche  in  Nerven  und  Gehirn  fortge- 
pflanzt werden  —  Behauptungen ,  die  weder  unter  einander ,  noch  mit 


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Schilling:  die  verschiedenen  Grundansichtendes  Geistes.       347 

den  jetzigen  naturwissenschaftlichen  Lehren  stimmen.  Gzolbe  nimmt  dann 
weiter  an,  dasz  das  Gehirn  sich  dazu  eigene,  diesen  zu  ihm  fortgepflanz- 
ten Bewegungen  eine  in  sich  zurücklaufende  Richtung  zu  geben,  und  eben 
diese  rückläufige  kreisende  Form  der  Bewegung  mache  das  Bewustsein 
aus.  Er  erklärt  nemlich  das  Eigene  der  geistigen  Thätigkeit  (die  Bewust- 
heit)  durch  Identität  des  Subjects  und  Objects;  und  diese  Einheit  des 
Zweierlei  findet  er  nur  in  einer  Thätigkeit,  deren  Anfangs-  und  Endpunkt 
überall  zusammenfalle,  d.  h*  in  in  sich  zurücklaufender  Bewegung. 
Kreisen  eine  Menge  solcher  Bewegungen  nebeneinander  im  Gehirne,  so 
soll  dies  die  Einheit  des  Bewustseins  ausmachen.  Seinen  Erklärungen  des 
Selbstbewustseins  oder  Ichs  mangelt  es  entschieden  an  Klarheit.  Nicht 
ohne  Grund  hat  man  jenen  Aufstellungen  entgegen  gehalten,  dasz  nach 
ihnen  viele  gemeinste  Dinge,  die  in  kreisender  Bewegung  sind,  Bewust- 
sein haben  müsten,  und  dasz  das,  was  die  Einheit  des  Bewustseins  aus- 
machen soll,  eher  ein  anschauliches  Bild  seines  Ausein  ander  fallens,  seiner 
Spaltung  und  Getrenntheit  abgeben  würde. 

An  diesem  Verlaufe  des  Materialismus  können  auch  die  blödesten 
Augen  sehen,  was  schon  in  seiner  ersten  Phase  unverkennbar  vorliegt, 
dasz  es  ein  unmögliches  Unternehmen  ist,  aus  der  Materie,  dem  Soliden, 
Ausgedehnten,  Räumlichen  den  Geist  zu  erklären.  Was  wir  als  Materie 
und  mit  ihr  geschehend  denken,  ausgedehnte  Masse,  die  ganz  oder  nach 
ihren  Teilen  in  Bewegung  sein  oder  gerathen  kann ,  in  Bewegungen  von 
verschiedenen  Richtungen  und  Geschwindigkeiten,  das  passt  zum  Bewust- 
sein einer  Empfindung  oder  Vorstellung,  eines  Gefühles,  einer  Begehrung 
so  wenig,  dasz  man  nichts  anderes  als  sinnlose  Worte  spricht,  wenn  man 
sagt :  Bewustsein  ist  räumliches  Nebeneinandersein  von  materiellen  Tei- 
len, oder  es  ist  die  in  sich  zurückkehrende  Bewegung  derselben,  Wissen 
und  Erkenntnis  ist  Anhäufung  von  Massen  oder  Berührung  derselben. 
Wie  das  Auseinander  von  sich  berührenden  Massenteilchen,  wie  die  Ge- 
samtheit der  Aeuszerlichkeiten ,  die  wir  Materie  nennen,  in  das  absolute 
Ineinander  und  die  Qualität  einer  bewusten  Vorstellung,  in  die  reine 
Innerlichkeit  eines  Gedankens  übergehe,  wie  eine  räumliche  Bewegung 
metamorphosiert  werde  in  eine  unräumliche  Empfindung  —  das  nachzu- 
weisen wäre  Aufgabe  des  Materialismus;  mit  kecken  Worten  kann  sie 
aber  nicht  gelöset  werden ;  dergleichen  dienen  nur  dazu,  Unkundigen, 
Denkschwachen  und  Furchtsamen  eine  Zeit  lang  zu  imponieren;  Ueber- 
zeugung  können  sie  niemals  hervorbringen. 

Nicht  der,  nur  untergeordnete,  wissenschaftliche  Werth  der  Rich- 
tung ,  sondern  das  Interesse  der  Gegenwart,  hat  uns  veranlaszt,  über  den 
ersten  Teil  des  Vortrages  ausführlicher  zu  berichten.  Daran  reihe  sich 
zweitens  die  Psychologie  des  cartesianischen  Dualismus ,  d.  h.  die 
Ansicht  von  der  Seele  nach  dem  Dualismus  des  Descartes.  Der  Vf.  geht 
hier  aus  von  Anaxagoras.  Denn  dieser  repräsentiert  bei  den  Alten  den 
Dualismus,  insofern  er  zuerst  den  Geist  den  Homoeomerieen  als  etwas  ge- 
genüber stellt,  das  gänzlich  davon  getrennt,  d.  h.  völlig  geschieden  und 
die  Materie  beherschend  ist.  Allein  Anaxagoras  war  noch  nicht  im  Stande, 
hierbei  von  aller  Vorstellung  der  Räumlichkeit  und  Körperlichkeit  abzu- 


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348       Schilling :  die  verschiedenen  Grundansichten  4es  Geistes. 

sehen ;  denn  trotz  jenem  Freisein  von  Materie  nannte  er  doch  den  Geist 
das  Dünnste  und  Feinste  und  sprach  von  einem  gröszeren  und  kleineren 
Geiste.  Erst'Descartes  druckte  die  Eigentümlichkeiten  dieser  zwei 
Classen  von  Wesen  mit  logischer  Schärfe  aus  und  wüste  sie  in  bestimm- 
ten Gegensalz  zu  bringen.  Das  Wesen  der  Körper  ist  nach  ihm  die  Aus- 
dehnung, die  Natur  der  Geister  ist  durch  räumliche  Prädicate  ganz  und 
gar  nicht  zu  fassen;  sie  sind  immateriell,  und  ihr  Wesen  besteht  im  Den- 
ken oder  Bewustsein.  Mit  dem  Worte  Denken  bezeichnet  aber  Descartes 
keineswegs  das  logische  Denken ;  es  sollte  vielmehr  dies  der  Classenbegriff 
sein  für  alle  geistigen  Vorgänge  oder,  noch  bestimmter,  die  Bezeichnung 
ihrer  allgemeinen  Eigenschaft,  die  Bewustheit.  Diese  Vorgänge  brachte  er 
in  zwei  Classen,  erstens  Wahrnehmen  und  Erkennen,  zweitens  Wollen, 
wovon  nur  das  Letztere  Thätigkeit  der  Seele  sein  sollte,  das  Erstere da- 
gegen, mit  Ausschi usz  des  absichtlichen  Denkens,  ein  Leiden.  Es  bleibt 
aber  im  Unklaren,  woher  denn  das  Leiden  komme,  da  der  Körper  nicht 
soll  auf  die  Seele  einwirken  können.  Ueherdies  fehlt  es  an  einer  Herlei- 
tung dieser  verschiedenen  Modificationen  des  Bewustseins  aus  dem  Grund- 
zustande der  Seele  fast  gänzlich.  Einerseits  wird  zwar  eine  Causalitlt 
zwischen  Leib  uotf  Seele  in  Abrede  gestellt,  und  anderseits  werden  doch 
diese  entgegengesetzten  Wesen  zur  Einheit  des  Menschen  verbunden. 
Nichts  desto  weniger  ist  es  ein  Verdienst  des  Descartes,  dasz  er  das 
organische  Leben  als  einen  Complex  von  mechanischen  Processen  von  dem 
geistigen  absonderte,  wie  überhaupt  die  Unterscheidung  der  körperlichen 
und  geistigen  Erscheinungen  seitdem  als  ein  Zug  der  Wahrheit  gegolten 
hat,  auf  dem  die  Popularität  der  Betrachtung  des  Menschen  nach  Leib 
und  Seele  bis  auf  den  heutigen  Tag  beruht,  deren  historischen  Ursprung 
aber  die  Mehrzahl  der  Gebildeten,  z.  B.  der  orthodoxen  Dogma tiker,  gar 
nicht  mehr  kennt. 

Unter  den  Philosophen  dagegen  ist  der  Erfolg  der  dualistischen  Ge- 
genüberstellung von  körperlichen  und  geistigen  Substanzen  ein  ganz  an- 
derer gewesen.  Dies  führt  uns  drittens  auf  die  Aristotelische  An- 
sicht, die  nichts  anderes  ist  als  ein  Vermittlungsversuch  zwischen  dem 
scharfen  und  ausschlieszenden  Unterschiede  oder  Gegensatze  von  Leib 
und  Seele.  Die  Materie  ist  nach  Aristoteles  nicht  ein  Fertiges,  nicht  ein 
für  sich  bestehendes  Ding,  sondern  blosz  der  Möglichkeit  nach  Etwas,  ein 
Unvollendet-seiendes.  Ebensowenig  ist  die  Form  oder  formbildende  Thä- 
tigkeit (mit  einziger  Ausnahme  der  reinen  göttlichen  Thätigkeit)  etwas 
für  sich  Bestehendes,  sondern  sie  setzt  die  Materie,  den  Stoff,  voraus,  in 
dem  uud  an  dem  sie  sich  verwirklicht.  Zwar  ist  sie  als"  ivipfeia  das 
Vorzüglichere  und  mehr  Seiende  denn  die  Materie.  Aber,  heide  sind 
doch  nur  dem  Begriffe  nach  unterscheidbar;  in  den  vorhandenen  indivi- 
duellen Dingen  sind  sie  eins,  indem  die  Materie  dem  Wachs  vergleichbar 
ist,  welchem  die  Form  ihr  Gepräge  aufdrückt.  Die  Seele  ist  die  sich  selbst 
verwirklichende  Vollendung  des  Leibes,  die  erste  Entelechie  des  orga- 
nischen Leibes  als  eines  solchen.  Auch  dem  Thiere,  ja  selbst  der  Pflanze 
muste  nun  Aristoteles  eine  Seele  zugestehen ,  nur  dasz  die  Menschenseele 
durch  das  vernünftige  Denken ,  den  voöc ,  bevorzugt  ist.   Freilich  konnte 


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Schilling:  die  verschiedenen  Grundansichten  des  Geistes.       349 

es  Aristoteles  nicht  gelingen,  aus  der  Zusammenbindung  so  heterogener 
Energieen  die  Eine  ungeteilte  Seele  des  Menschen  hervorgehen  zu  lassen; 
der  Versuch  einer  Vereinigung  der  organischen  Lebensfunctionen  mit 
dem  bewusten  Geisteslehen  erklärt  und  entschuldigt  sich  aus  q*er  Vieldeu- 
tigkeit des  griechischen  ipuxrj.  Namentlich  bei  der  Unsterblichkeitsfrage, 
wo  Aristoteles  den  voöc  von  dem  sterblichen  Leibe  sondert,  tritt  es  an 
den  Tag,  wie  er  vergeblich  versuchte,  Unvereinbares  zu  vereinigen.  Dies 
und  weitere  Widersprüche  werden  S.  H  hervorgehoben. 

Als  ein  anderweitiger  Vermittlungsversuch  zwischen  der  scharfen  Ge- 
genüberstellung von  Leib  und  Seele  erscheint  viertens  die  spinozisti- 
s  c  h  e  Lehre,  deren  Wesentlichstes  dies  ist.  Es  existieren  nicht  zweierlei 
Arten  von  wahrhaft  subsi stierenden  Wesen,  sondern  nur  Eines  mit  den  be- 
kannten zwei  Attributen,  Denken  und  Ausdehnung,  deren  jedes  der  genaue 
Ausdruck  einer  und  derselben  Substanz  ist.  Deshalb  müssen  sich  Denken 
und  Ausdehnung  entsprechen.  Der  menschliche  Geist  ist  nun  nach  Spinoza 
ein  endlicher  Teil  des  unendlichen  göttlichen  Denkens ,  und  der  mensch- 
liche Leib  ist  ebenso  ein  endlicher  Teil  der  unendlichen  göttlichen  Aus- 
dehnung; aber  man  fragt  bei  ihm  vergebens,  woher  diese  Endlichkeiten 
kommen  in  dem  unendlichen  Meere  von  Unendlichkeiten  der  göttlichen 
Substanz ,  und  schliesslich  besteht,  genauer  zugesehen ,  die  Seele  eigent- 
lich in  einem  Complex  und  einer  Reihenfolge  von  Vorstellungen ,  die  den 
Teilen  und  Veränderungen  des  zusammengesetzten  Leibes  entsprechen. 
Ein  Ich,  das  sich  als  etwas  vom  dem  Körperlichen  Verschiedenes  weisz, 
konnte  Spinoza  nicht  begründen,  wenigstens  nicht  durch  die  Annahme,  dasz 
in  dem  göttlichen  Denken  von  Allem,  was  in  Gott  sei  und  sieb  verändere, 
eine  adäquate  Idee  sei,  folglich  auch  von  der  menschlichen  Seele  und  ihren 
Veränderungen,  diese  Idee  aber  sei  auf  dieselbe  Weise  mit  der  mensch- 
lichen Seele  vereinigt  sei,  wie  diese  letztere  mit  ihrem  Leibe;  so  wäre 
diese  göttliche  Idee  der  Seele,  also  die  Idee  der  Idee  des  Leibes,  auch 
nur  das  einigende  Band  jener  Vorsteliungsmenge ,  die  dem  menschlichen 
Leibe  entspricht ,  nichts  weiter  davon  Verschiedenes. 

Nicht  als  ein  Vermittlungsversuch,  sondern  als  die  Lösung  der  Frage 
nach  der  Causalität  zwischen  Leib  und  Seele  auf  einem  ganz  neuen  Wege 
wird  fünftens  die  monadologische  Philosophie  Leibnitzens  dar- 
gestellt. Dazu  wird  die  r e a  1  i s t i s c h e  Psychologie  Herbart'sin  ihren 
Grundzügen  entwickelt.  Sie  ruht  auf  der  historischen  Grundlage  des 
Leibnitzianismus ,  sucht  aber  die  Psychologie  exaet  methodisch  auszu- 
führen. 

Den  Schlusz  macht  sechstens  die  Fichte-Hegelsche  Psycho- 
logie ,  die  ebenfalls  als  ein  neuer  Weg  zur  Lösung  der  psychologische^ 
Fragen  angesehen  und  kritisiert  wird ,  worauf  wir  als  allgemein  bekann- 
ter nur  hinweisen. 

Die  Art,  wie  hier  die  widerstreitenden  psychologischen  Ansichten 
dargestellt  sind,  wird,  weil  zugleich  gezeigt  ist,  aus  welchen  Gründen 
diese  entgegengesetzten  Ansichten  hervorwachsen ,  auf  den  denkenden 
Leser  keineswegs  den  Eindruck  machen,  als  wäre  die  Geschichte  der  Phi- 

N.  Jahrb.  f  Phil.  u.  P*d.  II.  Abt.  1864.  Hft.  7.  24 


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350*  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

losophie,  in  speeie  der  Psychologie,  nur  ein  Sammelsurium  der  hetero- 
gensten paradoxesten  Meinungen,  sondern  er  wird  den  Vf.  begreifen, 
wenn  er  auf  derartige  nur  allzu  oft  gemachten  Vorwürfe  erwidernd 
sagt :  'den  Kundigen  wird  es  nicht  wundern ,  wenn  der  Philosoph  im  ße- 
wustsein  der  in  seinem  Gebiete  von  jeher  aufgewandten  und  immerfort 
aufzuwendenden  Geisteskraft  und  der  allmählich  erweiterten  und  berich- 
tigten Erkenntnis  entgegnet:  introite!  et  heic  dii  sunt!' 

Vielleicht  befremdet  es  Manchen,  Plato,  Kant  und  Schilling  hier 
nicht  ausdrücklich  berücksichtigt  zu  sehen.  Jedenfalls  kam  es  dem  Vf.  nur 
darauf  an,  die  wesentlichen  verschiedenen  Grundansichten  im  Bereiche 
der  Psychologie  darzulegen ,  wodurch  diese  Auslassungen  motiviert  sein 
mögen.  Trotz  der  Knappheit  der  Behandlung  gewährt  der  Vortrag  mehr 
reellen  Gewinn,  als  manche  weitläufigen  historischen  Darstellungen,  z.  B. 
in  der  jetzt  schon  etwas  veralteten  Geschichte  der  Psychologie  von 
Friedr.Aug.  Garus  (Leipzig  1808) oder  auch  selbst  die  dem  System  der 
Psychologie  von  F  o  r  1 1  a  g  e  (Leipzig  1855)  vorausgeschickte  Geschichte 
der  Psychologie  samt  ihrer  ausführlichen  Litteratur.  Wer  sich  eingehend 
mit  der  Sache  beschäftigt,  dem  rathen  wir  zu  einer  Vergleichung  der 
Schrift  mit  der  Einleitung  von  Volkmann's  Psychologie  (Halle  1856), 
dessen  eingehende  Studien  in  der  Geschichte  der  Psychologie  seine  eigne 
Psychologie  und  seine  Monographie,  Grundzüge  der  aristoteli- 
schen Psychologie  (Prag  1858),  beurkunden. 

Leipzig.  Prof.  H.  FriUsche. 


(20.) 

Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungen- 
Strophe  im  MHD  und  NHD. 

(Fortsetzung  von  S.  277.) 


Zweiter  Abschnitt. 
a)  Die  neuhochdeutsche  Nibelungen- Strophe«. » 
Prosodie. 
b)  Im  Nhd.  ist,  was  oben  beim  Mhd.  zur  Unterscheidung  beider  Spra- 
chen öfter  bemerkt  werden  muste,  von  den  Formeln  l)  tuittoc,  2)  tött- 
TTOC,  3)  TÖiroc,  durch  welche  sich  die  Quantitätsverhältnisse  bequem 
bezeichnen  lassen,  die  dritte  nicht  mehr,  eine  vierte  Formel:  tujttttoc 
(=  Träcxe,  TrpäSic  =  Obst,  Mond)  nur  scheinbar  vorhanden. 

A)  Der  Stammvocal. 
Kegel. 
Für  unsre  nhd.  Sprache  gilt  die  durchgreifende  Regel:  a)  vor  ein- 
facher Consonanz  ist  der  Stammvocal  lang  und  b)  vor  dop- 


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Di&  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  351 

pelter  kurz.  Da  nun  die  Doppelconsonanz  wenigstens  Positionslänge 
bewirkt,  so  fehlen  uns  alle  Naturkürzen  (=  tÖttoc),  welche  die  latei- 
nische und  griechische  uud  auch  die  ältere  deutsche  Sprache  in  sehr 
groszer  Zahl'  besitzt. 

NB.  Diese  Grundregel  der  Quantität  neuhochdeutscher  Wörter  ha- 
ben wir  auch  auf  die  Aussprache  des  Lateinischen  übertragen  und  spre- 
chen jetzt  —  blosz  deswegen  —  die  penultiina  zwei  -  und  die  antepenul- 
tima  dreisilbiger  lat.  Wörter  sehr  oft  grundfalsch  aus  z.  B.  hömo,  döinus, 
mänus ;  hömines ,  mänibus  (den  Händen) ;  fügimus ,  födimus ,  legimus  (= 
Praesens).  Dies  widerspricht  nicht  blosz  den  Quantitätsverhältnissen  der 
lateinischen  Sprache  ganz*  und  gar ,  sondern  erschwert  und  verleidet  dem 
Anfänger  die  ersten  Versuche  in  lateinischer  Versbildnerei  so  lange, 
bis  er  sich  der,  von  Sexta  an  geübten,  neuhochdeutschen  Betonung 
lateinischer  Worte  allmählich  entwöhnt. 

Ausnahmen  von  dieser  Regel. 

1)  Nach  der  Formel  tottoc  sind  in  altdeutscher  Weise  kurz 

a)  die  einsilbigen  Stämme:  bin,  hin,  man,  gen,  weg,  um,  an;  in,  von, 
im,  vom,  zum,  zur,  ab,  ob,  -un,  -zer,  -ver  und 

b)  einzelne  Vollwörter :  Glas,  Grab,  grob,  Tag,  mag,  Wol-lust  (neben  : 
wohl),  bar-fusz  (neben :  baar),  Her-zog  (neben :  Heer) ,  Hoch-zeit  (neben : 
hoch)  u.  a.,  deren  Quantität  aber  mundartlich  schwankt. 

2)  In  Betreff  der  Formel:  tottttoc  gilt  ch  nach  gemeiner,  aber  ganz 
falscher  Regel  meist  als  Doppelconsonant,  und  der  Vocal  ist  daher  kurz 
z.  B.  Sache,  Rache,  sprechen,  Stich,  Loch,  Spruch,  Sucht;  als  einfacher 
dagegen  z.  B.  in:  Sprache, sprach,  stach,  suchen,  fluchen,  in  welchen  Wor- 
ten wir  demgemäsz  den  Vocal  lang  sprechen.  Abgesehn  ferner  von  der  sehr 
schwankenden  Orthographie  in  Bezug  auf  sz  und  ss,  wo  eine  Ueberein- 
slimmung  selbst  zwischen  den  Kundigen  durchaus  noch  nicht  stattfindet, 
ist  folgende  Regel  herkömmlich  und,  wie  es  scheint,  in  der  Dorf-  und 
Stadtschule  und  den  Seminaren  heimisch:  'zu  z  gehört  tz,  zu  sz  aber  ss 
als  Doppelconsonant.'  Demgemäsz  dehnen  sie  .den  Vocal  vor  z  und  sz  und 
sprechen  ihn  kurz  aus  vor  tz  und  ss;  am  Ende  des  Wortes  schreibt  trotz- 
dem die  Mehrzahl  wieder  in  beiden  Fällen  sz  z.  B.  musz ,  muszt ,  muszte 
und  Fusz,  fuszt,  fuszte. 

Dasz  diese  Regel  der  Volksschule  vom  sz  und  ss  auf  historischer 
Grundlage  nicht  ruhe,  braucht  nicht  erst  erwähnt  zu  werden;  aber  die 
Schwankungen  der  Vocale  vor  ch*)  und  sz  und  ss  zeigen,  wie  es  für  die 
Schulkinder  im  zarteren  Alter,  auf  die  es  bei  der  Orthographie  doch  ein- 


•)  'Das  ch  und  auch  das  seh  stellen  physiologisch  einfache 
Laute  dar.  Man  vermeidet  ihre  Gemination  und  schreibt  nach  gedehn- 
ten und  geschärften  Vokalen  (Formel:  Sprache:  Sache;  wuschen:  wa- 
schen =  T&iroc  und  xöiroc)  nur  das  einfache  ch  und  seh.  Dadurch 
tritt  die  Orthographie  aus  ihren  sonstigen  Fugen  heraus',  cf.  die  Kehl - 
kop flaute  von  Dr.  G.  Michaelis  (Berlin  Lobeck.  1863  S.  13),  dessen 
Vorschlag,  das  lateinische  Wort  laryngales  einzuführen,  sich  so  empfiehlt, 
dasz  nur  Pedanterie  sich  dagegen  sträuben  könnte. 

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352  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibeluugenstrophe  usw. 

zig  und  allein  ankommt,-  räthllch  und  fördersam  wäre,  die  langen  Vocale 
auch  im  Nhd.,  wie  dies  im  Mhd.  immer  der  Fall  ist,  durch  irgend  ein 
Zeichen,  wenigstens  in  solchen  zweifelhaften  Fallen  dem  Auge  kenntlich 
zu  machen ,  die  kurzen  dagegen  unbezeichnet  zu  lassen. 

Scheinbare  Ausnahmen  von  der  obigen  Regel. 

1)  Formel:  tüjttttoc;  z.  B.  spart,  schonst,  fährt;  Bart,  Obst,  Pabst, 
Pferd,  Mond  u.  a.  Die  Ausnahme  erklärt  sich  von  selbst  durch  das  deut- 
lichere oder  dunklere  Gefühl  der  syncope  z.  B.  sparet,  schonest,  fähret; 
Baret;  mhd.  obez,  habest,  phaerit,  phaert  (=  mit.  paraveredus) ;  mänöt, 
mänet ,  mänt.   Der  lange  Vooal  verbleibt  also  auch  nach  der  syncope. 

2)  Formel :  tüjttoc. 

Nach  der  obigen  allgemeinen  Regel  ist  im  Nhd.  der  Vocal  vor 
einfacher  Gonsonanz  lang.  Diese  Regel  ist  der  Zahl  der  Worte  nach 
so  durchgreifend,  dasz  kein  triftiger  Grund  ersichtlich  ist,  warum  man 
ohne  alle  Not  darauf  verfiel ,  dem  Schulkinde  die  Dehnung  des  Vocals  vor 
einfacher  Consonanz  in  gewissen  Worten  noch  anderweitig  zu  bezeichnen. 
Und  dennoch  ist  dies  zur  Qual  der  Kinder  geschehn. 

Unnötige  Dehnzeichen. 

a)  Das  E  nach  i;  b)  das  H,  als  bloszes  Dehnzeichen;  c)  die  Doppe- 
lungen: aa,  oo,  ee  z.  B.  wir:  hier:  ihr;  zwar:  wahr;  war:  Haar;  er: 
sehr:  Meer;  los:  Loos;  schone:  ohne;  Gut:  Gluth  (Glüht?). 

Diese  3  Arten  von  Dehnzeichen,  die  sich  —  gegen  die  Formel: 
tüjttoc  —  in  der  nhd.  Orthographie  eingenistet  haben  und  ohne  ge- 
schichtlichen Grund  bald  stehen,  bald  fehlen,  sind  eine  nur  scheinbare  und 
zugleich  unnötige  Ausnahme,  die  übrigens,  wenn  man  die  Länge  des  Vo- 
cals für  zweifelhafte  Fälle  durch  ein  Zeichen  ausdrückte,  sofort  ganz  und 
gar  beseitigt  wäre. 

Sie  sagen  freilich:  Durch  diese  Dehnzeichen  sollen  in  der  Schrift 
gleichlaut  ige,  aber  dem  Sinne  nach  verschiedene  Wörter  von  einander 
augenfällig  gesondert  werden.  Aber  abge sehn  davon,  dasz  diese  Rück- 
sicht bei  vielen  mit  dem  Dehnzeichen  geschriebenen  Worten  gar  nicht, 
statt  deren  vielmehr  blosze  Willkür  obwaltet,  so  ist  dieser  Grund  auch 
an  sich  nicht  stichhaltig.  Der  Römer  bezeichnet  z.  B.  mit  dem  durch- 
weg gleich  geschriebenen  Worte  * sui':  l)ichhabegenäht,  2)  dem 
Schweine,  3)  sein,  seiner  (=  oö),  4)  seines  (=  Possessivum), 
5)dieSeinigen,  ohne  irgend  ein  Misverständnis  zu  befürchten.  —  Wer- 
den aber  ferner  z.  B.  die  Worte:  *war'  und  *  waren'  (==  tüjttoc)  ausz  er- 
halb des  Satzes  gesprochen  oder  geschrieben,  dann  ist  es  völlig  gleich- 
giltig,  ob  das  Schulkind,  das  sie  hört  oder  schreibt,  an  den  Begriff  denkt, 
den  wir  lateinisch  mit  'erat,  erant',  oder  mit  fverus,  veris',  oder  mit 
emerces*  bezeichnen.  Stehen  dagegen  die  beiden  Worte,  gleichviel  ob 
gesprochen  oder  geschrieben,  innerhalb  des  Satzes,  so  ist  eine  Ver- 
wechselung kaum  möglich,  wenigstens  eine  so  grosze  Seltenheit,  dasz 
der  etwaige,  geringe  Nachteil  gegen  die  Qual  und  Not,  die  diese  Dehn- 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  353 

zeichen  dem  Schulkinde  und  dem  Lehrer  machen ,  gar  nicht  ins  Gewicht 
fäUt.  Selbst  Sätze  wie:  'er  behauptete  es  zwar;  es  war  aber  nicht  war'; 
ferner:  die  Waren  waren  damals  theuer,  das  ist  zwar  war;  aber  sei- 
nen Vorteil  müsz  jeder  waren  —  selbst  solche  Sätze  würde  das  deutsche 
Schulkind,  wie  es  dem  römischen  mit  dem  Worte  'sui'  gelungen  ist,  beim 
Lesen  ganz  richtig  auffassen  und  die  Begriffe  der  gleichgeschriebe- 
nen Worte  gewisz  nicht  verwechseln. 

Ueber  diese  Ausnahmen  von  der  Quantitätsformel:  tujttoc,  die  für 
das  Kind  nicht  blosz  unnötig,  sondern  verwirrend  und  höchst  schädlich 
sind,  läszt  sich  kaum  reden,  ohne  auf  die  zur  Zeit  obwaltende  Regellosig- 
keit unsrer  Orthographie  im  Allgemeinen  einzugehen.  Wie  nemlich  in 
vielen  andern  Punkten ,  so  finden  dermalen  auch  in  Betreff  dieser  Dehn- 
zeichen in  den  Büchern  allerlei  Schwankungen  statt;  in  denselben  Worten 
schreiben  sie  die  Einen,  Andere  dagegen  lassen  sie  weg.  Da  sich  die 
Sachlage  unsrer  heutigen  Orthographie  nach  Einer  Richtung  hin  nicht 
wol  besprechen  läszt,  so  wollen  auch  diese  Dehnzeichen  E,  H,  aa,  oo, 
ee  von  einem  allgemeinen  Standpunkte  aus  betrachtet  sein. 

Die  maszgebende  Grundlage  allerOrthographieistder 
Reim;  nach  ihm  schreibt  das  Schulkind  bei  gleichen  Lauten  folgerichtig 
gleiche  Zeichen.  In  den  voranstehenden  Beispielen:  wir:  hier:  ihr; 
zwar:  wahr;  war:  Haar;  er:  sehr:  Mee-r  usw.  hört  und  findet  das 
Schulkind  Reime ;  es  schreibt  daher  —  gemäsz  der  Formel :  tujttoc  — 
die  reimenden  Worte  mit  einfachen  Vocalen.  Statt  nun  das  Kind  des- 
wegen zu  tadeln,  was  jetzt  der  Lehrer  in  der  Volksschule  unzählige  Male 
thut ,  müste  es  dieser  umgekehrt  gerade  loben ,  da  es ,  wenn  auch  unbe- 
wust ,  so  doch  ganz  richtig  auf  dem  Gleichklange  des  Reimes  und  auf  der 
Analogie  fuszt ,  wonach  es  gleiche  Laute  mit  gleichen  Zeichen  schreibt. 
Der  oft  wiederholte,  noch  dazu  ganz  unbegründete  Tadel 
des  Lehrers  —  was  wird  er  bewirken?  Offenbar  das  Ohr  des 
Kindes  für  den  Reim  stumpf  machen ,  seinen  Verstand  in  der  Ausübung 
eines  Grundgesetzes  des  Geistes  irren  und  ihm  endlich  durch  die  vielen 
Ausnahmen  das  Erlernen  der  Orthographie  so  verleiden ,  dasz  nur  die  be- 
gabteren Schüler  darüber  nicht  verdummen ,  von  den  andern  aber  sehr 
viele  bald  nach  der  Schulzeit  die  dem  Ohre  und  der  Analogie  widerstre- 
benden Regeln  ganz  und  gar  vergessen. 

Nach  der  Gründung  der  historischen  deutschen  Grammatik  durch 
J.  Grimm  gewann  man  erst,  wie  in  alle  übrige  Punkte  der  nhd.  Ortho- 
graphie, so  auch  in  die  Natur  dieser  Dehnzeichen  eine  richtige  Einsicht. 
Die  fast  heilige  Scheu  vor  der  hergebrachten  Rechtschreibung  war  auf 
einmal  von  Grund  aus  erschüttert,  denn  nun  lag  es  klar  zu  Tage,  dasz 
Vieles ,  was  man  zeither  für  allein  richtig  und  für  alle  Zeit  maszgebend 
gehalten,  sehr  oft  nichts  weiter  war  als  reine  Willkür.  Dies  paszt  auch 
auf  diese  Dehnzeichen ,  die  für  die  Kinder  wahre  Quälzeichen  sind ,  gegen 
die  Quantitätsformel:  tujttoc  verstoszen  und  ohne  historischen  Grund 
willkürlich  bald  stehen,  bald  fehlen. 

Die  Schwankungen  in  der  Schreibung  der  Dehnzeichen  wurden  nach 
der  gewonnenen  Einsicht  in  ihre  Natur  in  den  Büchern  allmählich  häufiger, 


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354  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

andere  Neuerungen  reihten  sich  an  diese  Schwankungen  an,  bis  endlich 
die  Sache  so  weit  gediehen  ist,  dasz  alleweile  in  Bezug  auf  Orthogra- 
phie ein  thatsächlicher  Gegensalz  besteht  zwischen  Schule  und  Wissen- 
schaft und  zwischen  Lehrern  und  Schriftstellern.  Diese  lehren  und  schrei- 
ben nicht  mehr  übereinstimmend;  die  einen  bequemen  sich  mehr,  die  an- 
dern weniger  an  die  herkömmliche  Schreibweise. 

Wer  aber  soll  diesen  Gegensatz ,  der  namentlich  auch  in  Betreff  der 
Dehnzeichen  E,  H,  aa,  oo  und  ee  in  den  Büchern  offen  zu  Tage  tritt, 
vermitteln  und  ausgleichen? 

Die  Behörden  können  nur  vor  sich  überstürzenden  Neuerungen  war- 
nen, die  möglichste  Erhaltung  des  Herkömmlichen  empfehlen  und  auf  eine 
gewisse  Einheit  in  der  Orthographie  bei  allen  Lehrern  ein-  und  derselben 
Anstalt  dringen.  Da  sie  an  der  dermaligen  Verwirrung  in  der  Recht- 
schreibung durchaus  nicht  schuld  sind,  so  mögen  sie  die  Regelung  denen 
überlassen,  die  die  Verwirrung  angerichtet;  die  Einführung  einer  Staats- 
Ortbographie  ist  zwar  in  Holland  gelungen ,  in  Deutschland  wäre  aber 
der  gleiche  Versuch  gewagter,  in  der  Durchführung  schwieriger  und  im 
.  Erfolge  weit  unsichrer. 

Auf  wessen  Schultern  ist  also  die  Last  und  die  Sorge  für  die  Her- 
stellung einer  einheitlichen  Orthographie  zu  wälzen? 

Die  Schriftsteller  selbst  fallen  natürlich  ganz  auszer  Betracht ;  denn 
wer  will  sie  zwingen  gerade  so  und  nicht  anders  zu  schreiben?  Sicherlich 
bleiben  nur  die  Lehrer  selbst  übrig,  denen  diese  Last  aufzubürden  ist; 
aber  welche? 

Die  Volksschullehrer,  die  die  Sache  am  meisten  berührt,  entrathen, 
um  die  thatsächlichen  Schwankungen  in  den  Büchern  auszugleichen,  der 
unumgänglich  notwendigen  historisch-grammatischen  Kenntnisse.  Einem 
Teile  der  Universitäts-  und  Gymnasiallehrer  hat's  an  gutem  Willen  nicht 
gefehlt.  Sie  haben  Alles  gethan,  was  sie  konnten,  um  die  vielfache  Will- 
kür in  der  althergebrachten  Rechtschreibung  nachzuweisen ,  die  weit  und 
tief  verbreitete  hohe  Verehrung  gegen  dieselbe  mit  Glimpf  und  Schimpf 
anzugreifen  und  die  Qual  offen  darzulegen,  die  durch  sie  den  Schulkindern 
ohne  Not  und  ohne  nachhaltigen  Erfolg  im  Leben  bereitet  wird. 

Aber  die  Sache  selbst  durchzuführen  —  das  ist  nicht  ihres  Amtes, 
auch  nicht  ihrer  Befähigung;  denn  das  ABC  zu  lehren  ist  weder  ihre  Pflicht, 
noch  sind  sie  dazu  genugsam  vorbereitet  und  befähigt.  Beispielsweise  ist 
auch  der  Vorschlag  der  am  13.  Mai  1863  zu  Berlin  versammelten  Gymna- 
siallehrer: cauf  der  Basis  des  Herkömmlichen  die  Einheit  in 
der  Orthographie  herbeizuführen  undder  subjectiv-ratio- 
n eilen  (?)  Methode  mancher  Lehrer  nicht  Raum  zu  geben'  — 
nicht  viel  mehr  als  ein  pium  desiderium  und  wird  an  der  Thalsache ,  dasz 
in  Jen  Büchern  die -Orthographie  überhaupt  und  im  Besondern  in  Betreif 
der  hier  beredeten  Ausnahmen  von  der  Quantitätsformel:  tüjttoc  ins 
Schwanken  gerathen  ist,  auch  nicht  das  Geringste  ändern. 

Alle  Versuche  von  Seiten  der  höheren  Schulen  sind  bislang  mis- 
lungen,  mochten  sie  von  der  historischen  oder  phonetischen  Schule  oder 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  355 

von  denen  ausgehen,  die  sich  vermittelnd  zwischen  beiden  Schulen  be- 
wegen. 

Gymnasiasten  und  Studenten  und  ihre  Lehrer  haben  ja  die  Not  und 
Qual,  die  die  Erlernung  des  ABC  verursacht,  längst  hinter  »ich;  auf  diesem 
Gebiete  können  also  nur  die  helfen,  die  es  vor  Allen  zuerst  angeht  — 
das  sind  aber  wissenschaftlich  gebildete,  mit  der  historisch- 
deutschen Grammatik  vertraute  Seminarlehrer. 

In  dieser  Hinsicht  verdienen  die  Vorschläge  Dr.  Hofifmann's,  Stadt* 
schullehrers  in  Leipzig,  (Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  1861  2.  Abth.  S.  543),  weit 
mehr  Beachtung ,  als  sie,  wie  es  scheint,  zeither  gefunden  haben;  denn 
gehen  sie  auch  zu  weit,  so  kommen  sie  doch  von  einem  wissenschaftlich- 
geschulten  Manne,  der  zugleich  die  Praxis  der  Schule  kennt.  Auch  seine 
Andeutung  wegen  der  Dehnzeichen  E,  H,  aa,  oo  und  ee  und  des  mittel- 
hochdeutschen Gebrauchs,  die  Länge  des  Vocals  in  zweifelhaften  Fäl- 
len durch  irgend  ein  Zeichen  kenntlich  zu  machen,  ist,  weil  sie  dem  Leh- 
rer und  dem  Kinde  sehr  viel  Mühe  ersparte ,  durchaus  nicht  von  der  Hand 
zu  weisen. 

Unter  den  Seminarlehrern  hat  z.  B.  Lehmann  in  Bunzlau  seiner  Zeit 
seine  Teilnahme  dem  Gegenstande  zugewandt;  jetzt  aber  müssen  diese, 
so  scheint  es ,  viele  andere  ihnen  wichtiger  scheinende  Dinge  zu  treiben 
haben;  denn  von  ihrer  heiligen  Pflicht  und  ihrem  schönen  Rechte,  eine 
neue  wissenschaftliche  Grundlage  der  Orthographie  zu  legen ,  haben  sie 
im  Allgemeinen  einen  so  spärlichen  Gebrauch  gemacht,  dasz  ihre  desfalsi- 
gen  Leistungen  in  die  Sache  fördersam  fast  gar  nicht  eingegriffen  haben. 

Fänden  sie  später  mehr  Zeit  und  Lust  zur  Sache,  so  würden  sie  un- 
beirrt durch  Vorurteile  bloszer  Theoretiker,  die  sich  sei  es  auf  den  histo- 
rischen, sei  es  auf  den  phonetischen  Standpunkt  mehr  oder  weniger 
einseitig  stellen,  von  dem  Standpunkte  der  Volksschule  aus  allein  das 
wählen,  was  nach  der  Praxis  in  der  Schule  möglich  ist.  An  den  rastlosen 
Bemühungen  des  Dr.  Michaelis  in  Berlin  um  die  Vereinfachung  der  Ortho« 
graphie  wurden  sie  dabei  fördersame  Beihülfe  und  eine  sichere  Grundlage 
für  ihre  Verbesserung  finden. 

Eins  steht  aber  fest:  Die  höhern  Schulen  und  ihre  Lehrer  können  die 
Sache  nicht  durchführen  —  schon  deswegen  nicht,  weil  sie,  Lehrer  und 
Schüler,  dabei  —  um  so  zu  sagen  —  nicht  mit  Leib  und  Seele  beteiligt 
sind.  Die  Seminarlehrer  werden,  wenn  sie  endlich  einmal,  wie  es  ihre 
Pflicht  ist,  mit  Hand  anlegen,  den  Standpunkt  Dr.  Hoffmann's  (ibidem  S. 
538  Mitte)  einzunehmen  haben;  denn  er  ist  ja  eben  ihr  eigner.  Dieser  will 
nicht  mit  Einem  Schlage  Alles  abmachen;  er  sagt  vielmehr  und  zwar  ganz 
mit  Recht:  fWenn  man  will,  läszt  sich  mit  wenig  Mitteln  sehr  viel  thun, 
sehr  viel  verbessern  mit  wehigen  Veränderungen,  wobei  wir  weniger  den 
Standpunkt  der  Wissenschaft^  als  den  der  Schule  und  demgemäsz  den  des 
gewöhnlichen  Lebens  im  Auge  haben,  so  jedoch,  dasz  gleichzeitig  sowol 
der  Sprachforschung  als  der  Sprachphysiologie  vollständig  Genüge  ge- 
schieht und  Rechnung  getragen  wird.9  Gerade  dies  ist  auch  der  Stand- 
punkt der  Seminarlehrer,  ohne  deren  Beihülfe  die  Sache  im  Groszen  und 
Ganzen  auch  nicht  Einen  Schritt  fortrücken  wird.  Denn  nur  die  Rücksicht 


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356  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

auf  die  Not  und  Qual,  die  die  Erlernung  der  hergebrachten ,  vielfach  will- 
kürlichen Orthographie  Millionen  von  Schulkindern  im  zartesten  Alter 
bereits  verursacht  hat  und  noch  verursachen  wird,  die  Rucksicht  auf 
die  unverantwortlich  vergeudete  Zeit  und  Muhe  des  Lehrers  der  Volks- 
schule und  auf  die  traurige  Notwendigkeit,  dasz  dieser  das  Kind  unzäh- 
lige Male  tadeln  musz ,  wo  er  es ,  weil  es  seinem  Ohre  und  der  Analogie 
Rechnung  trägt,  beloben  sollte;  ferner  die  nahliegende  Gefahr,  dasz  sehr 
viele  Kinder  dabei  verdummen,  und  endlich  die  Thatsache,  dasz  der  Arbeit, 
Muhe  und  Qual  des  Lehrers  und  Schulkindes  der  Erfolg  im  Leben  durchaus 
nicht  entspricht  —  das  ist  der  Standpunkt,  auf  den  sich  Lehrer  und  Be- 
hörden ,  um  die  hochwichtige  Sache  richtig  zu  würdigen ,  stellen  müssen, 
wenn  sie  nicht  alle  Hoffnung  auf  die  Zurückführung  der  Einheit  in  unsere 
Orthographie  kleinmütig  und  voreilig  aufgeben  wollen. 

B)  Der  Vocal  in  den  Endungen. 
Der  Vocal  in  den  Bildungssilben ,  meist  E  oder  I ,  ist ,  wenn  man  so 
sagen  will,  durchweg  kurz;  den  Endungen:  bar,  sam,  haft,  heit  (keit), 
thum  (sal)  hat  das  dunkle  Gefühl ,  dasz  sie  früher  Vollworte  waren ,  ihre 
Länge  erhalten,  cf.  oben  das  Mhd. 

C)  Der  Accent.    * 

cDer  Accent  ist  ursprünglich  und  im  Germanischen  durchweg  geistig 
bedeutsam ;  sein  Wesen  beruht  nicht  in  der  iängereu  oder  kürzeren  Dauer 
der  Silbe,  auch  nicht  in  der  musikalischen  Höhe  und  Tiefe,  sondern  in 
der  Stärke  und  Schwäche  des  Tones,  im  Nachdruck  der  Stimme',  cf.  K. 
W.  L.  Heyse  System  d.  Sprachwissenschaft  S.  214  unten  und  S.  329. 

Weil  nun  jede  Stammsilbe  geistig  bedeutsam  ist,  so  hat  sie, 
gleichviel  ob  sie  lang  oder  kurz  ist,  einen  Accent.  Dieser  kann  entweder 
a)  Hoch  ton,  oder  b)  Tief  ton  sein;  Bildungssilben  aber,  insofern  wir 
sie  als  ursprüngliche  Voll worle  nicht  mehr  fühlen,  sind  c)  tonlos  z.B. 
ad  Nr.  a  Schaf,  schaff;  Heer,  Herr;  wohne,  Wonne;  Gut,  Schutt;  Väter, 
Vetter;  Söhne,  sonne;  Hüte,  Hütte;  ad  Nr.  b.  Hochton  und  Tiefton  z.  B. 
gras-grün,  un-gern,  Haus-rath,  Mark-graf;  ad  Nr.  c.  Hochton  und  Tou- 
losigkeit  z.  B.  Haus-es ,  eis-ern ,  glück-liche.  Hochton  und  Tiefton  z.  B. 
furcht-bar,  hab-haft,  Lab-sal,  spar-sam,  Ho-heit,  Reich-tum.  cf.  eben 
vorher  B. 

NB.  Der  Hoch  ton  auf  Bildungssilben  nhd.  Wörter  verräth  sogleich 
Jen  fremden  Ursprung  der  Endung  oder  des  ganzen  Wortes  z.  B.  Zier-er-ei, 
Heuch-el-ei;  Theolog-ie,  Mus-ik,  Arithmet-ik  (daneben  aber:  Log-ik), 
Al-tar,  reg-ieren,  spaz-ieren;  der  Kaiser  Aug-üst,  im  Monat  Aug-üst  (da- 
neben deutscher  Accent  in  dem  eingebürgerten  Vornamen:  komm  Aug- 
ust!), der  Arzt  Gal-en,  aber  der  deutsche  Romanschreiber  Gäl-en. 

Neuhochdeutsche  Metrik. 
D)  Der  Vocal  im  Verse. 
*Das   regelnde  Princip    für   die  Rhythmisierung  der 
Sprache  (=  Versbildung)  war  auch  im  Altdeutschen  von  jeher 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  357 

der  Ton  (Accent)\  cf.  K.  W.  L.  Heyse  System  d.  Sprachwissenschaft 
S.  334. 

Im  Nhd.  unterscheiden  wir  zwar  noch  Längen  und  Kürzen  d.  h.  vor 
einfacher  Gonsonanz  dehnen ,  vor  doppelter  schärfen  wir  den  Vokal.  D  a 
wir  aber  nur  die  zwei  Quantitätsformeln  tujttoc  und 
töitttoc,  d.  h.  nur  Natur-  oder  Positionslängen  haben,  uns 
aber  die  dritte,  noch  im  Mhd.  vorhandene  Formel  töttoc 
(=  Naturkürzen)  jetzt  ganz  fehlt,  so  ist  der  Unterschied  von 
langen  und  kurzen  Vocalen  für  den  Rhythmus  (—  den  Vers) 
ohne  alle  Bedeutung. 

Mit  andern  Worten:  Das  Versmasz  in  der  deutschen  Sprache  bat 
nicht  sowol  eine  musikalische,  sondern  eine  logische  Grundlage. 
In  Sprachen,  in  denen  das  erste  Princip  waltet,  reihen  sich  die  Silben 
nach  ihrer  verschiedenen  Zeitdauer  —  in  regelmäsziger  Wiederkehr  —  zu 
dem  Lautganzen  an  einander,  das  wir  Vers  nennen.  Der  Rhythmus  deut- 
scher Verse  beruht  aber  nicht  auf  der  regelmäszigen  Wiederkehr  der  Zeit- 
dauer nach  verschiedener  Silben ,  sondern  auf  dem  Nebeneinander  einer 
bestimmten  Zahl  concret  bedeutsamer  Silben,  an  die  sich  min- 
der bedeutsame,  die  blosz  zum  Ausdruck  der  Beziehung  der  Worte 
im  Satze  (=  Endungen)  dienen,  anschlieszen.  Die  Zahl  der  ersteren 
im  Verse  ist  bestimmt,  die  der  letztern  unbestimmt. 

Dieser  rhythmische  Grundsatz  galt  schon  in  den  ältesten  Zeiten.  In 
den  Bruchstücken  des  Hildebrand-Liedes,  dessen  einzig  erhaltene  Hand- 
schrift aus  dem  VIII.  Jh.  stammt ,  besteht  der  Vers  aus  einer  bestimmten 
Zahl  concret  bedeutsamer  Silben;  auszerdem  half  die  Lauteinheit  des  Verses 
Stabreim  bilden.  Durch  diesen,  der  nur  auf  bedeutsame  Silben  fallen 
kann ,  werden  je  2  Stollen  (==  Verse)  so  mit  einander  verbunden ,  dasz  in 
der  Regel  der  erste  zwei,  der  zweite  eine  alliterierte  Silbe  hat.  Wie 
im  Hildebrand-Liede ,  so  gilt  der  Stabreim  als  Versmasz  auch  im  Heliand 
und  den  Edda-Liedern. 

An  die  bedeutsamen  Silben  schlössen  sich  in  dem  Verse  der  unbe- 
deutsamen mehr  oder  weniger  an,  aber  immer  nur  so  viele,  dasz  der 
Stabreim  dem  Ohre  und  die  Bedeutsamkeit  der  Hauptsilben ,  die  beide 
zusammen  das  Versmasz  ausmachten,  dem  Verstände  nicht  verdunkelt 
wurden. 

Das  Ohr  des  Deutschen  ist  jetzt  an  den  vollen,  das  Versganze  ab- 
rundenden Schluszreim  gewöhnt;  der  Stabreim  hat  für  uns  daher 
nicht  mehr  die  Kraft,  die  Einheit  der  zum  Verse  verbundenen  Silben  laut- 
lich auszudrücken.  Das  musz  vor  dem  IX.  Jh.  anders  gewesen  sein.  Das 
Ohr  des  Deutschen  ist  vor  dieser  Zeit  für  den  Gleichklang  der  anlautenden 
Consonanten  oder  Vocale  feiner  und  schärfer  gewesen  und  darum  auch 
geeigneter,  die  durch  den  Stabreim  im  Verse  hervorgehobenen  Silben  als 
solche  herauszuhören,  von  den  andern  zu  scheiden  und  doch  wiederum 
bedeutsame  und  minder  bedeutsame  Silben  als  Ein  Lautganzes  (==  Vers 
=  Stollen  und  Strophe)  aufzufassen. 

Seitdem  uns  Otfried  (IX.  Jh.)  in  seinem  Krist  und  die  spätem  Dich- 
ter, die  ihm  bis  auf  die  Gegenwart  alle  gefolgt  sind,  an  den  vollen  End- 


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358  Die  prosodische  und  metrisch«  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

reim  des  Verses  gewöhnt  haben,  ist,  so  scheint  es,  unser  Ohr  für  die 
Wirkung  des  Stabreimes  stumpfer  geworden.  Wir  hören  die  Alliteration 
in  Versen,  wo  sie  dicht  gehäuft,  aber  regellos  ans  Ohr  schlägt  z.  B.  'Und 
hohler  und  hohler  hört  man's  heulen*  —  lisple  leise, 
lisple  linde';  auch  in  den  gang  und  gäben  Redensarten:  'mit  Mann 
und  Maus',  «über  Stock  und  Stein',  fmlt  Kind  und  Kegel',  cHaus  und  Hof 
fühlen  wir  den  Wohlklang  des  übereinstimmenden  Anlauts  und  würden 
nur  ungern  statt  ihrer  einen  andern  Ausdruck  wählen.  Ein  Dichter  möchte 
aber  kaum  im  Stande  sein ,  den  Stabreim ,  wie  dies  in  den  ältesten  Zeiten 
der  Fall  war,  jetzt  noch  als  selbständiges  Versmasz  zu  gebrauchen ,  regel- 
rechte Stollen  zu  bauen  und  sie  durch  den  Stabreim  zur  Strophe  zu  ver- 
binden.  Fr.  Rückert's  Reimstaben  im  Rojand-Liede : 

Roland  der  Ries  am 

R  a  t  h  haus  zu  Bremen 

Steht  er  im  Standbild 

Stand  haft  und  fest. 
—  ja  selbst  A.  Chamisso's  Lied  von  Thor's  Hammer: 

Was  weder  auf  Erden 

Weisz  irgend  Einer 
•    Noch  hoch  im  Himmel, 

Mein  Hammer  ist  mir  geraubt, 
sind  Spielereien  —  mehr  ein  schönes  Zeugnis  gewandten  Formsinnes,  als 
ein  wirksames  Beispiel,  das  durch  den  vollen  Endreim  längst  verdrängte 
Versmasz  des  Stabreims  in  unsre  Dichtung  wieder  zurückzuführen. 

Anders  verhält  sich  die  Sache ,  wenn  der  um  die  Wiederbelebung 
altdeutscher  Rhythmik  hochverdiente  Simrock  in  seiner  Uebersetzung  der 
Edda-Lieder  (1855)  den  Stabreim  als  Versmasz  gebraucht.  Um  ein  ent- 
sprechendes Bild  von  der  Form  des  Urtextes  zu  geben ,  blieb  ihm  nemlich 
nichts  Anderes  übrig.  Unsre  jetzige  antikejfersmessung  (cf.  weiter 
unten)  hätte  das  Bild  verwischt  und  ganz  und  gar  getrübt;  der  Vollreim 
des  Nibelungen-Liedes  (XIII.  Jh.) ,  und  des  Krist  von  Otfried  (IX.  Jh.)  war 
für  Simrock's  Hauptabsicht  gleichfalls  nicht  tauglich;  er  muste  daher  bis 
zum  Heliand  und  dem  Hildebrand-Liede  (IX.  und  VIII.  Jh.)  zurückgreifen, 
denn  erst  hier  bot  sich  ihm  die  analoge,  urdeutsche  Form  des  Stabreims 
als  Versmasz  dar. 

Die  metrische  Form  dieser  Edda-Lieder  (cf.  Simrock  S.  366)  verdient 
jedenfalls  mehr  Beachtung ,  als  ihr  gezollt  wird.  Denn  abgesehn  davon, 
dasz  derselbe  Reim  und  der  wesentlich  ähnliche  Strophenbau  in  den  älte- 
sten deutschen  Gedichten  (Hildebrand-Lied,  Muspilli)  obwaltet,  ragt  ihre 
metrische  Form  durch  Otfried  und  die  mhd.  und  nhd.  Nibelungenstrophe, 
als  ältestes,  ursprünglich-deutsches  Versmasz,  bis  in  unsreGegen- 
wart  hinein. 

Was  zunächst  den  Gleichklang  des  Anlauts  betrifft,  so  reimen  in  der 
Edda  nicht  blosz  gleiche  Consonanten,  sondern  die  Vocale  gelten  an  sich 
alle  unter  einander  als  reimende  Gleichklänge  z.  B. 

Ei-nst  war  das  A-lter,  ||  wo  Y-mir  lebte  | 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  359 

Hier  reimen  die  vocalischen  Anlaute:  Ei,  A  u.  Y  —  ein  sicheres  Zeichen, 
wie  fein  damals  das  Ohr  für  den  Gleichklang  gewesen  sein  musz. 

Die  Strophe  der  Edda-Lieder,  die  man  ein  'Gesetz'  nennt,  besteht 
aus  4  Langzeilen  oder  8  Halbzeilen  und  ist,  wie  ein  Vorbild  der  otfriedi- 
schen,  so  auch  der  mhd.  und  nhd.  Nibelungen-Strophe.  Die  folgende  Edda- 
Strophe  heiszt  'Fornyrdalag'  z.  B. 

Ihn  mästet  das  Mark  ||  gefällter  Männer; 

Der  Seligen  Saal  ||  be-sudelt  das  Blut. 

Der  Sonne  Schein  dunkelt  ||  im  kommenden  Sommer, 

Alle  Wetter  wüthen:  (|  wiszt  ihr  was  das  bedeutet? 
Bei  Otfried  längert  der  Auftakt,  der  selbst  4  Silben  enthält,  den  einzelnen 
Halbvers ,  und  an  Stelle  des  Stabreims  verbindet  der  volle  Schluszreim  je 
zwei  Kurzzeilen;  in  der  N.-Strophe  endlich  reimen  nicht  mehr  die  acht 
Kurzzeilen  zu  je  zwei  aufeinander,  sondern  je  zwei  Langzeilen  sind  durch 
den  stumpfen  Reim  mit  einander  verbunden. 

Aber  in  den  wesentlichen  Punkten  stimmt  die  Nibelungen-Strophe 
zum  Baue  der  älteren.  Es  ist  daher  anzunehmen,  dasz  der  Dichter,  der 
die  Sagen  von  den  Nibelungen  in  seinem  Geiste  zu  einer  Einheit  verbunden 
und  in  der  Form  des  Nibelungen-Liedes,  wie  wir  es  jetzt  besitzen,  zum 
Ausdruck  gebracht,  die  Strophe  nicht  erfunden,  sondern  die  vorgefundene, 
viel  ältere  zu  seinem  Zwecke  benutzt  und  umgeändert  hat. 

Ein  anderes  'Gesetz'  der  Edda-Lieder  heiszt  'Liodhahättr'  und  be- 
steht aus  6  Zeilen,  wovon  die  erste  mit  der  zweiten  und  die  vierte  mit  der 
fünften  Halbzeile  in  der  eben  bezeichneten  Weise  zu  je  zwei  Langzeilen 
verbunden  sind,  während  die  3.  und  6.  Zeile  gleichsam  Langzeilen  sind, 
die  meist  durch  2,  selten  durch  3  Reimstäbe  verbunden  sind  z.  B. 
Widar  unchWali  ||  walten  des  Heiligthums, 
Wenn  Surturs  Lohe  losch. 
Modi  und  Magni  ||  sollen  Miölnir  schwingen 
Und  zu  Ende  kämpfen  den  Krieg. 
Ist  der  Stabreim  als  regelroäsz*iges  Versmasz  in  unsre  Dichtung  nicht 
mehr  zurückzufahren ,  so  fragt  es  sich ,  ob  vielleicht  der  Prosaiker  durch 
neue  Stabreime,  die  er  wagte,  denselben  angenehmen  Reiz ,  den  die  von 
Jugend  auf  gehörten ,  althergebrachten  entschieden  auf  Aller  Ohr  üben, 
auch  jetzt  noch  hervorzubringen  vermöge.  Nun  in  Dr.  Scherr's  Prosaüber- 
setzung der  Nibelungen  (Leipzig  1860)  werden  z.  B.  'die  Kundigen  die 
vom  Uebersetzer  beabsichtigte  Wirkung  des  Stabreims  an  pathetischen 
Stellen'  leicht  erkennen ,  möglicherweise  durch  den  Gleichklang  auch  an- 
genehm berührt  und  angeregt  werden ;  der  Eindruck  dürfte  aber  'auf  das 
gröszere  Publikum9  geringer  sein,  wenn  er  diesem  nicht  ganz  verloren 
gienge.  Gerade  auf  dieses  gröszere  Publikum  ist  aber  Dr.  J.  Scherr's  ge- 
wagter Versuch,  die  Nibelungen  in  Prosa  zu  übersetzen,  berechnet  — 
ein  Versuch,  der  auch  bei  Kundigen  kaum  dieselbe  ungeteilte  Anerkennung 
finden  wird,  als  die  sachgemäszen,  gelehrten  Bemerkungen  der  Einleitung. 
Ist  irgend  eine  Gattung  der  Prosa  auch  jetzt  noch  geeignet,  Ohr  und  Auf- 
merksamkeit des  Zuhörers  durch  den  Stabreim  anzuregen  und  zu  fesseln, 
so  dürfte  dies  die  rednerische  sein. 


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360  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  NibeluBgenstrophe  usw. 

Als  regelrechtes  Versmasz  hat,  wie  gesagt,  Otfried  (IX.  Jh.)  den 
Stabreim  durch  den  vollen  Endreim  in  seinem  Krist  verdrängt.  Natürlich 
Wieb  er  trotzdem  bei  seiner  Versbildung  an  das  deutsche  rhythmische 
Princip  gebunden,  d.  h.,  sein  Vers  besteht,  wie  später  der  im  Nibelungen- 
Liede,  1)  aus  einer  bestimmten  Zahl  von  concret  bedeutsamen 
Silben ,  an  die  sich  2)  minder  bedeutsame  in  verschiedener  Anzahl 
so  anlehnen,  dasz  dem  Ohre  und  Verstände  des  Dichters  und  Lesers  alle 
zusammen  als  Laut-  und  Sinneinheit  gelten.  Jene  Silben  heiszen  als 
Hauptbestandteile  des  Verses,  auch  im  Krist  Hebungen,  diese  dagegen, 
als  die  unwesentlichen,  Senkungen.  So  enthält  die  Kurzzeile  bei  Ot- 
fried je  4  Hebungen ;  je  zwei  solcher  Kurzzeilen  sind  durch  den  vollen 
Endreim  zur  Langzeile,  je  zwei  Langzeilen  zur  Strophe  verbunden. 

Alles  Wesentliche  ist  also  so ,  wie  es  oben  beim  Mhd.  nachgewiesen 
worden  ist.  Ein  Hauptunterschied  ist  der,  dasz  im  Ahd.  von  den  Bildungs- 
silben mit  den  vollen  Vocalen  a,  u,  o,  i  viel  mehr  die  Hebung  tragen 
konnten ,  als  im  Mhd. ,  wo  der  Laut  dieser  Silben  meist  zu  E  geschwächt 
und  ihre  ursprüngliche  Bedeutung  verallgemeinert  und  ganz  verdunkelt 
ist.  Statt  des  Vollreims  findet  sich  bei  Otfried  hie  und  da  noch  der  Stab- 
reim; der  3te  Fusz  der  Kurzzeilen  ist  meist  einsilbig,  und  der  Auftakt, 
der  in  der  mhd.  N.-Strophe  ein-  oder  zweisilbig  ist,  schwillt  selbst  bis 
zu  4  Silben  an. 

So  stand  die  Sache  im  Ahd.  und  Mhd.  Was  nun  unsre  heutige 
Sprache  betrifft,  so  entlehnte  man  früher  die  rhythmischen  Grundsätze 
aus  der  antiken  Metrik  und  trug  sie  auf  die  deutsche  über,  ganz  unbe- 
kümmert ,  ob  sie  auf  diese  passen  oder  nicht. 

Aber  sie  passen  darauf  gerade  wie's  fünfte  Rad  an  den  Wagen.  Es 
ist  richtig,  der  Wortton  bat  in  der  ZwischenzeiWom  14.  Jh.  bis  zum  16. 
Jh.  die  ursprünglichen  Quantitätsverhältnisse  der  deutschen  Sprache  so 
zerrüttet,  dasz  unsre  Sprache  alle  Naturkürzen  (tÖitoc)  verloren  und  so 
in,  einen  schroffen  Gegensatz  zum  Mhd.  getreten  ist.  Aber  auch  in  andern 
Sprachen  übt  der  Accent  teils  auf  die  Stammsilbe ,  teils  auf  die  Endungen 
einen  zerstörenden  Einflusz ,  so  dasz  diese  merkwürdige  Thatsache  in  der 
deutschen  durch  gleiche  oder  ähnliche  Erscheinungen  in  anderen  Sprachen 
erklärt  wird. 

Unsere  und  die  mhd.  Prosodie  stehen  also  in  schroffem  Gegensatz ; 
nicht  aber  ebenso  die  mhd.  und  nhd.  Metrik.  Sollte  wirklich  auf  unsr  e 
heutige  Metrik  das  antike,  auf  die  ahd.  und  mhd.  Metrik  dagegen  das 
Grundprincip  passen,  welches  oben  beim  Mhd.  angegeben  und  erörtert 
worden  ist,  so  käme  dies  fast  einem  Wunder  gleich,  wäre  beispiellos  und 
durch  analoge  Fälle  in  andern  Sprachen  kaum  belegbar  —  mit  Einem 
Worte:  die  deutsche  Sprache  müste,  wenn  diese  Annahme  richtig  wäre, 
in  wenigen  Jahrhunderten  ihre  Natur  und  ihr  Wesen  von  Grund  aus  ver- 
ändert und  ganz  und  gar  umgewandelt  haben. 

Aber  es  ist  dies  in  der  That  nicht  geschehen.  Sie  sagen  freilich 
nach  der  antiken  Metrik :  die  Silben  der  Wörter  a)  mensS  und  b)  prSces 
verhalten  sich  wie  2  : 1  und  wie  1 :  2  und  meinen  damit  natürlich  das  Ver- 
hältnis ihrer  Zeitdauer  zu  einander.     In  zwingender  Folge  sind  dann  2 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  361 

Kürzen  gleich  Einer  Länge,  ganz  wie  in  der  Musik  zwei  Achtelnoten  einer 
Viertelnote.  Diesen  Fundamen talsatz  der  antiken  Metrik  haben  sie  nun  auf 
die  deutsche  Metrik  übertragen  und  demgemäsz  etwa  unsre  Worte:  a) 
Tisches  und  b]  Gebet  mit  den  lateinischen  a)  mensa  und  b)  preces 
ganz  auf  dieselbe  Linie  gestellt  und  für  die  Silben  aller  4  Worte  ein  glei- 
ches Verhältnis  im  Verse  angenommen. 

Aber  wenn  man  auch  10  solcher  Bildungssilben:  'es'  und  *ge%  wie 
sie  in  diesen  deutschen  Worten  stehen,  neben  einander  stellen  könnte, 
so  wären  sie  nimmermehr  der  Stammsilbe  gleich  und  hätten  im  deutschen 
Verse ,  auch  dem  heutigen ,  keineswegs  dieselbe  Geltung  und  Wirkung 
als  die  Stammsilbe.  Dasz  sich  also  die  Silben  der  beiden  deutschen  Worte 
zu  einander  wie  2  : 1  und  1 : 2  verhielten ,  wie  das  bei  den  beiden  lateini- 
schen der  Fall  ist,  daran  ist  gar  nicht  zu  denken.  Kaum  könnte  ein  Ver- 
gleich mehr  hinken;  denn  das  heiszt  von  dem  Allerverschiedensten  ein- 
und  dasselbe  aussagen. 

Der  Unterschied  beider  Arten  von  Silben  in  den  Worten :  'Hauses  und 
Gebet'  liegt  gar  nicht  in  ihrer  Zeitdauer,  sondern  in  der  Grundver- 
schiedenheit ihrer  Bedeutung.  Die  einen  haben  einen  concreten, 
fest  bestimmtenBegriff,  die  beiden  Bildungssilben  dagegen  einen 
unbestimmt  allgemeinen,  die  einen  haben  den  Hochton,  die  an- 
dern sind  tonlos.  Statt  also  zu  sagen :  die  einen  sind  lang,  die 
andern  sind  kurz,  was  im  Grunde  ganz  sinnlos  ist,  musz  man  die 
einen  Hebungen,  die  andern  Senkungen  nennen.  Dieser  Name  be- 
zeichnet die  Sache  allein  richtig  und  zutreffend ;  denn  nicht  auf  die  Zeit- 
dauer der  Silben  kommt  es  an,  sondern  auf  ihre  Betonung  d.  h.  die  Hebung 
oder  Senkung ,  den  Nachdruck  oder  die  Nachdruckslosigkeit  der  Stimme. 
Der  Accent  selbst  und  das  Masz  seiner  Stärke  hängt  aber  wieder  ab  von 
der  gröszcren  oder  geringeren  Bedeutsamkeit  der  Silben.  Man  kann  also 
diese  Gründregel  aufstellen:  Je  bedeutsamer  eine  Silbe  ist,  desto 
nachdrücklicher  ihr  Ton;  je  nachdrücklicher  der  Ton, 
desto  bequemer  ist  die  Silbe  als  Hebung  im  Verse  zu  ver- 
wenden. Das  paszt  wie  auf  die  altern,  so  auch  noch  auf  unsre  nhd. 
Sprache.  Während  also  das  prosodischeGrundprincip  der  beiden 
Sprachen,  der  mittelhochdeutschen  und  neuhochdeutschen,  völlig 
verschieden  ist,  so  stimmt  das  rhythmische  beider  ganz 
ürberein. 

Gemäsz  dem  obigen  Hauptgrundsatze  der  antiken  Metrik  beruht  der 
lateinisch -griechische  Vers  auf  dem  Zeit  Verhältnis  zwischen  Arsis  und 
Thesis.  Eine  Folge  davon  ist:  regelmäszig  gebildete  Verse  ein-  und  des- 
selben Metrum  müssen  in  den  beiden  altclassischen  Sprachen  gleichviel 
Silben  zählen,  oder,  wenn  dies  nicht  der  Fall  ist,  wenigstens  —  alle 
Silben  zusammengerechnet  —  dasselbe  Zeitmasz  des  Lautganzen  dar- 
stellen. 

Ganz  anders  in  den  deutschen  Sprachen.  Bei  diesen  kommt  es  nicht 
auf  das  Zeitmasz  an,  sondern  auf  den  begrifflich  verschiedenen 
Inhalt  beider  Arten  von  Silben,  die  entweder  als  Hebung,  oder  als  Sen- 
kung dienen.    Die  Folge  ist :  deutsche  Verse  desselben  Metrums  brauchen- 


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362  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

nicht  dieselbe  Zahl  von  Silben  zu  haben ,  noch  das  Zeitmasz  aller  Verse 
desselben  Versmaszes  ein-  und  dasselbe  zu  sein. 

So  lange  dies  rhythmische  Grundgesetz  ungetrübt  in 
der  deutschen  Sprache  waltete,  wie  es  im  Ahd.  und  Mhd.  der 
Fall  war,  konnte  von  steigenden  und  fallenden  Rhythmen, 
regelmäszig  gebildeten  lamben  (Anapästen)  und  Trochäen 
(Daktylen)  natürlich  gar  keine  Rede  sein. 

Nach  dem  Wiederaufleben  der  Wissenschaften  hat  aber  in  die  erörterte 
Eigentümlichkeit  der  deutschen  Metrik  die  lateinisch-griechische  und  im 
Ausgange  des  XVI.  und  Anfange  des  XVII.  Jh.  auch  die  französische  (and 
holländische)  störend  und  verwirrend  eingriffen. 

Bei  dem  damaligen  groszen  Abstände  der  deutschen  Poesie  von  den 
vortrefflichen  Mustern  der  beiden  alten  Völker  war  es  ganz  natürlich,  dasz 
die  deutschen  Uebersetzer  nicht  blosz  den  Inhalt ,  sondern  auch  die  Form 
lateinischer  und  griechischer  Gedichte  genau  und  treu  wiedergeben  woll- 
ten und  endlich  auf  den  Versuch  verfielen,  die  steigenden  und  fallenden 
Rhythmen  der  alten  Glassiker,  die  regelmäszige  Wiederkehr  von  'Arsis 
und  Thesis  nachzuahmen  und  die  Silben  des  Verses  zu  zählen. 

So  trübte  sich  allmählich  das  Gefühl  für  das  echtdeutsche  Grundge- 
setz ,  das  in  einer ,  wenn  auch  nicht  regellosen ,  so  doch  die  frei  es  te  Be- 
wegung gestattenden  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung  im  Verse  bestand 
und  noch  heute  besteht,  immer  mehr,  bis  das  Verständnis  für  dasselbe 
zunächst  den  lateinisch  geschulten  Gelehrten  und  namentlich  den  Dichtern 
der  schlesischen  Periode,  später  aber  dem  ganzen  gebildeten  Teile  des 
Volkes  so  abhanden  kam ,  dasz  man  alle  nach  alter  deutscher  Art  {oder 
wenigstens  ähnlich  gemessene  Verse  (z.  B.  die  Jobsiade ,  Schiller's  Lager 
im  Walienstein)  wegen  ihres  Gegensatzes  zur  antiken  Metrik  Knittelverse 
genannt  hat. 

Zu  J.  Fi  schart's  Zeit  finden  sich  schon  mehr  oder  weniger  regel- 
mäszig gemessene  lamben  und  Trochäen.  Fischart  selbst ,  sonst  ein  Mann 
des  Volks  und  groszer  Kenner  und  Freund  der  Volkssprache,  tritt  hier 
auf  die  Seite  der  Gelehrten  und  rechnet  es  sich  und  dem  deutschen  Volke 
in  seinen  noch  sehr  übel  beräthenen  deutschen  Daktylen  zu  groszer  Ehre 
an,  dasz  nun  auch  der  Deutsche  in  Betreff  der  regelmäszigem  Silbenzählung 
inv  Verse  den  alten  Griechen  und  Latinen  nicht  nachstehe. 

Die  Versuche  der  Uebersetzer  und  der  deutschen  Dichter  in  der  Nach- 
ahmung der  antiken  Metra  wurden  im  XVI.  und  XVII.  Jh.  immer  häufiger, 
bis  Martin  Opitz  das  Ganze  in  ein  System  brachte  und  so  die  deutsche 
mit  der  antiken  Metrik  auszugleichen  den  Versuch  machte.  Dieser  sein 
Versuch  ist  so  vollkommen  gelungen,  dasz  ihm  nicht  blosz  alle  Dichter 
bis  auf  die  Gegenwart  gefolgt  sind,  sondern  dasz'jetzt  die  deutsche  Gram- 
matik alle  Unkundigen  nur  sehr  langsam  von  der  Wahrheit  zu  überzeugen 
im  Stande  ist,  dasz  beim  deutschen  Verse,  auch  dem  heutigen,  an  Längen 
und  Kürzen,  an  Arsis  und  Thesis,  an  steigende  und  fallende  Rhythmen 
im  Sinne  der  Griechen  un,d  Römer  überhaupt  nicht  zu  denken  ist. 
(Fortsetzung  im  nächsten  Hefte.) 

Lissa.  Ed.  Olawsky. 


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Ueber  den  Gymjiasialzeichnenunterricht.  363 

(22.) 

'Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht 

und  den  darauf  Bezug  habenden  Lehrplan  vom  2.  October  1863. 
(Fortsetzung  von  S.  299.) 


Hier  möchte  es  am  Orte  sein ,  aus  der  Zahl  der  dem  Zeichnenunter- 
richte an  Gymnasien  entgegenstehenden  Hindernisse  die  empfindlichsten 
zusammenzufassen. 

Ein  nicht  geringer  Teil  der  Gymnasien  entbehrt  zunächst  der  für 
den  Zeichnenunterricht  erforderlichen  Localilät.  An  sich  durch  Fenster 
mangelhaft  erhellte  Räume,  deren  Dunkelheit  an  trüben  Tagen  durch 
spärliche,  nicht  mit  den  geeigneten  Brennern  und  Gylindern  versehne  Gas- 
lampen nur  insoweit  aufgehoben  ist ,  dasz  allenfalls  die  disciplinarische 
Ueberwachung  der  Schüler  und  die  Erteilung  des  mündlichen  Unterrichts, 
aber  eine  zeichnende  Thätigkeit  für  Lehrer  und  Schüler  nur  mit  äuszer- 
ster  Anstrengung  der  Augen  ermöglicht  ist,  müssen,  weil  ihre  Dimensio- 
nen der  jeweiligen  Schülerzahl  der  Glasse  entsprechen ,  noch  immer  den 
Zeichnensaal  ersetzen,  auf  den  auch  der  neue  Lehrplan  (Bemerkungen, 
Art.  16)  so  groszes  Gewicht  legt.  Zu  diesen  äuszerlichen  Hindernissen 
gesellen  sich  Schwierigkeiten,  welche  das  Wesen  des  Massenunterrichts 
überhaupt  mit  sich. bringt,  die  aber  für  den  Zeichnenunterricht  zum  Teil 
sich  besonders  fühlbar  macheu.  Die  Zahl  der  Schüler  einer  Classe  wächst, 
wie  deren  wissenschaftliche  Reife  dies  zuläszt,  bis  gegen  60,  ja  70, 
so  dasz  dem  einzelnen  Schüler  ein  für  Zeichnen  und  Schreiben  unerträg- 
lich beschränkter  Raum  verbleibt.  Allerhand  Unterbrechungen  des  Unter- 
richts finden  hierin  ihren  Grund ;  zudem  bleibt  dem  Lehrer  wegen  der 
Gedrängtheit  der  Subsellien  und  der  einzelnen  Plätze  ein  groszer  Teil 
hiervon  unzugänglich.  Wenn  so  gefüllte  Glassen  für  andere  Disciplinen 
in  zwei  Abteilungen  geschieden  werden ,  so  pflegen  sie  für  das  Zeichnen 
vereint  zu  bleiben.  Während  für  andere  Disciplin'en  Gleichbefähigte  neben- 
einandersitzen,  ist  für  den  Zeichnenunterricht  die  Glasse  zusammengesetzt 
aus  geübteren,  ungeübteren  und  aus  unbegabten  Schülern,  welche  die 
ersten  Anfänge  kaum  zu  überwinden  vermögen;  jeder  einzelne  verlangt 
für  die  in  Rede  stehende  Disciplin  mit  Recht  eingehende  Berücksichtigung 
seiner  Arbeit  und  seiner  Individualität  zugleich.  Das  Auge  des  Lehrers 
rausz  ihm  eben  zu-  und  der  Gesamtheit  abgewandt  sein  —  doch  musz 
die  Schuldisciplin  gewahrt  bleiben  und  dürfen  hier  und  da  vorkommende 
kindische  Zerstreuungen  dem  Lehrer  nicht  entgehen;  den  Verlust,  wel- 
chen sein  Unterricht  in  der  50  Minuten  währenden  Schulstunde  (deren  das 
halbe  Schuljahr  wiederum  nur  42  zählt)  durch  die  Erfüllung  der  discipli- 
narischen  Pflichten  erleidet ,  musz  er  verschmerzen. 

Erwägt  man  nun,  dasz  der  Zeichnenunterricht  von  dem  Lehrer  nicht 
nur  das  lehrende  Wort,  wie  in  anderen  Lehrgegenständen,  sondern  auch 
Anleitung  durch  die  Hand,  und  von  dem  Schüler  nicht  nur  das 
Wissen  des  Rechten,  sondern  auch  dessen  Uebung,  zunächst  also  eben 


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364  Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht. 

Zeit  fordert ,  welche  diesem  Gegenstande  auf  Gymnasien  so  karg  zuge- 
messen ist,  berücksichtigt  man,  dasz  häusliche  Arbeiten  hier  nicht,  wie 
•in  anderen  Disciplinen,  oder  doch  nur  in  mehrfach  bedenklicher  Weise  das 
befestigen  können,  was  in  der  Schule  selbst  angeregt  Worden,  und  gedenkt 
man  des  Druckes,  welchen  die  Gesamtheit  der  eben  angeführten  hem- 
menden Momente  auf  die  Thätigkeit  des  Lehrers  andauernd  übt,  so  wird 
man  zuzugeben  haben,  dasz  der  Zeichnenunterricht  an  Gymnasien  in  der 
That  mit  erheblicheren  Schwierigkeiten  als  irgend  ein  anderer  Lehrgegen- 
stand zu  kämpfen  hat.  Ihrer  wollen  sich  diejenigen  erinnern,  welche, 
mit  den  Mühen  des  Unterrichts  unbekannt,  geneigt  sind,  die  Schuldan 
etwa  ungenügenden  Erfolgen  ausschlieszlich  der  Methode  oder  dem  Lehrer 
selbst  beizumessen. 

Sieht  man  das  bis  zum  Erlasz  des  neuen  Lehrplanes  als  Reglement 
für  die  Erteilung  des  Zeichnenunterrichts  gültig  gewesene  Miuisterial- 
Rescript  vom  14.  März  1831  ein,  so  begegnet  man  folgenden  Aeuszerungen : 

eAus  den  über  die  Beschaffenheit  des  Zeichnenunterrichts  an  den  Gym- 
nasien erstatteten  Berichten  der  königl.  Provinzial-Schulcollegien  hat 
das  Ministerium  ersehen,  dasz  dem  Gedeihen  dieses  Unter- 
richtszweiges an  vielen  Anstalten  sehr  bedeutende  Hin- 
dernisse imWege  stehen.  Es  musz  freilich  zugestanden  werden, 
dasz  diese  sich  nicht  überall  auf  einmal  beseitigen  las- 
sen, indesz  ist  es  doch  keinem  Zweifel  unterworfen,  dasz  sich  sehr 
viel  noch  erreichen  läszt,  wenn  der  Sache  die  gehörige  Aufmerksamkeit 
zugewendet,  ein  bestimmtes  Ziel  ins  Auge  gefaszt,  und  von  den  Lehr- 
anstalten, vorzüglich  den  Direcloren  und  den  Aufsichtsbehörden  mit 
Beharrlichkeit  verfolgt  wird.  Das  Ministerium  sieht  sich  deshalb  zu 
nachstehenden  allgemeinen  Vorschriften  und  Andeutunger  veranlaszt: 

Hier  folgt  als  Eingang  des  Art.  1  die  oben  zuerst  citierte  Stelle:  cDer 
Unterricht  im  Zeichnen  gehört  usw.* 

Art.  2  beginnt  mit  den  Worten: 
'Es  sind  au  jedem  gröszeren  Gymnasium  für  den  Zeichnenunterricht 
vier  Klassen   einzurichten  und  für  jede  zwei  aufeinanderfolgende 

Stunden  wöchentlich  zu  bestimmen ' 

Die  folgenden  Alinea  3  bis  9  lauten : 

*3)  Wenn  auch  nicht  verlangt  werden  mag,  dasz  alle  Schüler  zur 
Teilnahme  an  dem  Zeichnenunterrichte  anzuhalten,  so  ist  doch  dahin 
zu  wirken,  das,z  künftig  jeder  Schüler  wenigsten  s  den  Cursus 
der  1.  und  2.  Bildungsstufe*)  durchmache. 


*)  Dem  Rescripte  folgt  als  Beilage  I  ein  Lehr  plan,  welcher,  wie 
der  neue  Lehrplan,  vorschreibt,  in  welcher  Weise  der  Unterricht  in 
vier  auf  einander  folgenden  Stufen  zu  erteilen  sei.  Im  Wesentlichen 
stützt  sich  der  alte  Lehrplan  auf  die  zu  seiner  Zeit  blühende  P.  Schmid- 
sche  Methode.  Er  schreibt  für  die  erste  Stufe  sehr  eingehend  den 
Unterricht  in  den  c Elementen  des  Linearzeichnens,  verbunden  mit  der 
Formenlehre',  vor;  für  die  zweite  Stufe:  cdie  Elemente  des  perspecti- 
vischen  Zeichnens  und  der  Schattierung';  für  die  dritte  Stufe:  f aus- 
geführtes Zeichnen  von  Körpern  und  Natnrgegeaständen  (A.  Ausführung 


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Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  365 

4)  Wo  es  irgend  geschehen  kann,  musz  ein  eigenes  Lehrzim- 
mer für  den  Zeichnenunterricht  eingerichtet  werden. 

5)  Es  ist  befjedem  Gymnasium  der  Bedarf  des  zur  Ausführung  des 
Lehrplanes  erforderlichen  Apparats,  der  Vorlegeblätter  usw. 
genau  zu  ermitteln ,  und  die  Anschaffung  derselben ,  wenn  es  bei  man- 
chen Schulen  auch  nur  langsam  und  nach  und  nach  geschehen  kann, 
aus  den  jährlichen  Ersparnissen  oder  sonstigen  dispo- 
niblen Fonds  der  Anstalt  zu  bewirken. 

.6)  Insofern  die  bisher  ausgesetzten  Fonds  zur  Remuneration  für 
die  etwa  vermehrte  Arbeit  der  Zeichnenlehrer  nicht  aus- 
reichen, musz  ebenfalls  darauf  Bedacht  genommen  werden,  dieselben 
aus  den  erwähnten  Mitteln  zu  erhöhen. 

7)  Die  bessere  Ordnung  des  Zeichnenunterrichts  in  den  Gymnasien 
und  höheren  Bürgerschulen  wird  zuverläszig  zur  Folge  haben,  dasz 
künftig  auch  diejenigen,  welch  e  sich  dem  Lehrfache  wid- 
men, diesen  Gegenstand  des  Unterrichts  nicht  mehr,  wie  bisher,  ver- 
nachlässigen werden,  und  indem  sie  sich  für  denselben  befähigen,  sich 
eine  Gelegenheit  mehr  verschaffen,  als  dereinstige  ordentliche 
Lehrer  ihr  Einkommen  durch  die  auszerordentliche 
Uebernahme  von  Zeichnenstunden  zu  verbessern.  Am 
meisten  wird  hierdurch  die  Schule  gewinnen,  weil  sie 
der  Schwierigkeit  überhoben  wird,  die  die  Anstellung 
von  Zeichnenlehrern  für  eine  nicht  bedeutende  Remu- 
neration und  obendrein  solcher,  denen  es  gewöhnlich 
an  allem  pädagogischen  Geschick  gebricht,  mit  sich 
bringt*).    Das  k.  Provinzial-Schulkollegium  hat  die  Schuld irectoren 


nach  Schatten  und  Licht,  a)  einfache,  eben  begrenzte  Körper,  b)  ein- 
fache Körper  mit  krummer  Oberfläche;  B.  fortgesetztes  Zeichnen  mit 
Schattenandeutung,  a)  Conchylien,  b)  lebende  Pflanzen,  c)  Ansichten 
von  Gebäuden,  ganzen  Zimmerseiten  u.  dgl.)';  für  die  vierte  Stufe: 
'Zeichnen  nach  Gyps  und  Copieren  gut  ausgeführter  Zeichnungen  (A. 
Zeichnen  nach  Gyps,  a)  in  Umrissen,  b)  vollständig  ausschattiert;  B. 
abwechselnd  Copieren  gut  ausgeführter  Zeichnungen.  [Der  Anfang  wird 
mit  architectonischen  Verzierungen  gemacht;  dann  wird  zu  Thieren, , 
einzelnen  Teilen  des  menschlichen  Körpers  und  ganzen  menschlichen 
Figuren  fortgeschritten]).'  Aus  einzelnen  an  manchen  Stellen  äuszerst 
praktischen  Andeutungen  erkennt  man  die  Mitwirkung  erfahrener  Zeich- 
nenlehrer an  der  Redaction  des  Lehrplanes;  doch  läszt  derselbe  als 
Ganzes  nicht  verkennen,  dasz  er  das  Product  der  Nachgiebigkeit  einer 
für  den  Massenunterricht  an  sich  unzulänglichen  Methode  gegen  An- 
forderungen ist,  die  aus  den  verschiedensten  Berufsrichtungen  zusam- 
mengetragen werden. 

*)  Hierneben  ist  eines  spätem  Rescriptes  vom  14  Dcbr.  1839,  die 
Prüfung  der  Gandidaten  für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  be- 
treffend, zu  gedenken,  in  welchem  es  sub  8)  heiszt:  fWenn  sich  Gan- 
didaten finden  sollten,  die  für  den  Unterricht  in  den  Naturwissenschaf- 
ten hefähigt  und  zugleich  im  Stande  sind,  den  Zeichnenunterricht  zu 
übernehmen,  und  sich  hierüber  Vorschriften)  äszig  ausweisen,  so  ist  sol- 
ches in   dem  ihnen   zu  erteilenden  Prüfungszeugnisse  ausdrücklich  zu 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  7.  25 


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366  Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht. 

auf  diesen  Punkt  aufmerksam  zu  machen ,  damit  sie  mit  Talent  für  das 
Zeichnen  begabten  Jünglingen,  welche  sich  dem  Lehrfach  zu  widmen 
gedenken,  ihren  Rath  in  dieser  Beziehung  erteilen  können. 

8)  Auch  von  Seiten  der  Schullehrerseminarien  kann  viel  geschehen, 
wenn  dahin  gewirkt  wird,  dasz  diejenigen  Zöglinge,  die  für  das  Zeich- 
nen Talent  haben  und  übrigens  zu  einer  Anstellung  für  den 
Unterricht  im  Schreiben  und  in  den  Realkenntnissen  an 
den  unteren  Glassen  der  Gymnasien  qualifiziert  werden 
mögen,  so  weit  geführt  werden,  dasz  sie  auch  den  Zeichnenunter- 
richt nach  dem  vorgeschriebenen  Plan  erteilen  können. 

9)  Es  bleibt  bei  der  Bestimmung  vom  2.  April  1827*),  nach  welcher 
für  den  Zeichnenunterricht  künftig  nur  solche  Lehrer  angenommen 
werden  dürfen,  welche  ein  Qualificationsattest  von  einer  k.  Kunstaka- 
demie aufweisen  können.  Die  k.  Akademie  der  Künste  hier,  und  die 
k.  Kunstakademie  zu  Düsseldorf  sind  angewiesen ,  die  Prüfung  der  Aspi- 
ranten zu  Zeichnenlehrerstellen  nach  der  hier  in  Abschrift  beigefügten 
Instruction  **)  zu  veranstalten 9 

So  läszt  sich  das  alte  Reglement  aus.  In  seinem  Eingange  findet  sich 
der  älteste  Beleg  für  die  dem  Gedeihen  des  Zeichnenunterrichts  an  vielen 
Anstalten  im  Wege  stehenden  sehr  bedeutenden  Hindernisse.  Mochten  da- 
mals auch ,  wovon  hiernächst  weiter  die  Rede  sein  wird ,  die  Persönlich- 
keiten der  Zeichnenlehrer  selbst  mit  zu  den  Hindernissen  zu  zählen  ge- 
wesen sein,  so  steht  doch  so  viel  fest,  dasz  die  hier  oben  angeführten 
Hindernisse  und  Schwierigkeiten  den  andern  Teil  derselben  bildeten  und 
dasz  diese  bis  heut,  33  Jahre  später,  der  im  Reglement  ausgesprochenen 
Zuversicht  zuwider  noch  nicht  beseitigt  sind. 

Der  Inhalt  des  AI.  2  wurde  durch  ein  späteres  Rescript  vom  24  Oct. 
1837  dahin  modificiert,  dasz  der  Zeichnenunterricht  für  nur  drei  Glassen 
obligatorisch  blieb. 


bemerken,  weil  es  wünschenswerth  ist,  dasz  der  Unterricht 
im  Zeichnen  zugleich  von  dem  Lehrer  in  den  Naturwissen- 
schaften könne  versehen  werden.9 

*)  Dieselbe  lautet:  fUm  zu  bewirken,  dasz  zu  den  Zeichnenlehrer- 
stellen  an  den  Gymnasien  und  hofieren  Bürgerschulen  nur  solche 
Subjecte  gewählt  und  in  Vorschlag  gebracht  werden ,  welche  nicht 
nur  die  erforderliche  Kunstfertigkeit,  sondern  auch  die 
nicht  weniger  nötige  Lehrgeschicklichkeit  besitzen,  will 
das  Ministerium  hierdurch  festsetzen,  dasz  in  der  Regel  von  jetzt  an 
bei  Besetzung  der  gedachten  Stellen  nur  .solche  Candidaten,  die  mit 
einem  genügenden  Qualifikationsatteste  der  hiesigen  k.  Akademie  der 
Künste  versehen  sind,  berücksichtigt  werden,  und  dasz  solche  in  Coii- 
currenz  mit  anderen,  die  ihre  Tüchtigkeit  als  Lehrer  nicht  sonst  nach- 
weisen können,  den  Vorzug  haben  sollen. 

**)  Dieselbe  sagt  unter  f3)  der  Aspirant  musz  im  Stande  sein:  a) 
nach  einem  in  Perspective  gestellten  Gypskopf  eine  schattierte 
Zeichnung  auszuführen;  b)  nach  einem  Vorbilde  einen  säubern  ßisz 
mit  Zirkel  und  Lineal  anzufertigen;  c)  in  einer  mündlichen  Unterredung 
darzuthun,  dasz  er  über  eine  bei  dem  Unterricht  zu  befolgende 
zweckmäszige  Methode  nachgedacht  und  fähig  sei)  sich  dnrch 
Fleisz  und  Uebung  eine  solche  anzueignen.9 


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Ueher  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  367 

Der  Inhalt  des  AI.  3  ist  nicht  zur  Ausführung  gekommen,  dt  die 
Versetzung  der  Schäler  in  die  oberen  (Hassen  nicht  von  ihrer  Reife  im 
Zeichnen  abhängig  gemacht  wird. 

Die  Anordnung  AI.  4  ist  nur  stellenweise  zur  That  geworden. 

Die  in  AI.  5  erwähnten  Anschaffungen  haben  an  massgebender  Stelle 
allerdings  nirgend  Beanstandung  gefunden. 

Hinsichtlich  der  praktischen  Folgen  des  AI.  6  fehlt  es  dem  Verfasser 
an  Belegen. 

AI.  7  und  8  sind  nicht  in  Erfüllung  gegangen.  Es  ist  darin  und  in 
den  daneben  citierten  Erlassen  von  dem  in  Bede  stehenden  Lehrgegen- 
stande gesprochen ,  als  handelte  es  sich  dabei  nur  um  eine  Handtierung, 
die  sich  jeder  Philologe  oder  Physiker  von  einigem  mechanischen  Geschick 
in  seinen  Muszestunden  bis  zu  der  Fähigkeit  aneignen  konnte ,  darin  er- 
folgreicher zu  unterrichten,  als  diejenigen,  welche  den  Gegenstand  als 
ihren  Lebensberuf  behandeln.  Das  Vermögen,  den  Sinn  für  die  Schönheit 
der  Formen  bei  den  Schülern  zu  beleben  und  auszubilden,  stellt  sich 
nicht  bei  der  Abendlectüre  des  Seminaristen  über  Aesthetik  und  den  gol- 
denen Schnitt  ein. 

Der  von  dem  angefügten  'Lehrplane'  für  das  Gedeihen  des  Unter- 
richts, besonders  von  der  Vorschreibung  einer  gewissen  Methode  erhoffte 
Erfolg  ist  ausgeblieben.  Die  Methode  ist  vielmehr,  und  zwar  unter  den 
Augen  der  Herren  Gymnasialdirectoren ,  in  Verfall  gekommen.  Durch  alle 
Schwierigkeiten  hindurch  haben  sich  die  Zeichnenlehrer  die  zum  Ziele 
führenden  Wege  selbst  suchen  müssen. 

Der  Inhalt  der  letzten  AI.  7  bis  9  fordert  auf,  vor  der  Inbetracht- 
nahme  des  neuen  Lehrplanes  noch  der  persönlichen  Stellung  der  Zeichnen- 
lehrer an  den  Gymnasien  zu  gedenken ,  zumal  sich  aus  dieser  selbst  ein 
anderer  Teil  der  dem  Lehrgegenstande  im  Wege  stehenden  Schwierig- 
keiten ableiten  läszt.     . 

Dasz  man  vor  33  Jahren  den  Zeichnenunterricht  als  Gymnasiallehr- 
gegenstand nur  ungern  in  die  Hände  einer  nicht  classisch  gebildeten  Per- 
sönlichkeit legte,  hat  seinen  Grund  unzweifelhaft  in  den  Nachteilen, 
welche  der  Schuldisciplin  fortdauernd  aus  den  Beweisen  mangelhafter 
Bildung  und  den  pädagogischen  Misgriffen  der  damals  für  das  Zeichnen 
sich  darbietenden  Mitarbeiter  erwuchsen.  Wie  man  aber  einerseits  auszerst 
geringe  Anforderungen  an  die  allgemeine  Bildung  und  Berufstüchtigkeit 
dieser  Lehrer  stellte  und  ihrer  in  amtlichen  Erlassen  unverhohlen  als 
'Subjecte'  gedachte,  cwelche  nicht  nur  die  erforderliche  Kunst- 
fertigkeit, sondern  auch  die  nicht  weniger  nötige  Lehrge- 
schicklichkeit besitzen'  müsten,  so  boten  sich  auch  andererseits  nur 
untergeordnete  Kräfte,  meist  Nichtkünstler,  Dilettanten,  geographische 
Kartenstecher,  Organisten  für  die  Zeichnenlehrerstellen  dar.  Die  Ungunst, 
mit  welcher  man  diese  Kräfte  an  den  Gymnasien  mitwirken  sah,  kann 
nicht  Wunder  nehmen;  es  war  aber  nur  eine  durch  die  Geringachtung 
der  Fähigkeit,  welche  die  Erteilung  des  Zeichnenunter- 
richts erfordert,  selbst  herbeigeführte  Lage,  dasz  man  sich  zu  dem 
Wunsche  gedrängt  sah,  diesen  Lehrgegenstand  den  Händen  der  'ordent- 

25* 

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368  lieber  den  Gymnasialzeichnenunterricht. 

liehen'  Lehrer  (Regl.  von  1851)  überhaupt,  und  später  (Rescript  vom  14. 
Decbr.  J839)  denen  der  naturwissenschaftlichen  Lehrer  übergeben  zu 
können. 

Thatsächlich  ist  Jetzteres  nur  in  seltenen  Fällen  geschehen,  und  wol 
nur  zum  Schaden  des  Zeichnenunterrichts.  Auch  wiederholt  der  neue 
Lehrplan  die  derartigen  Verlangen  nicht;  denn  die  in  jedem  Falle  nur 
dilettantenhafte  'Kunstfertigkeit'  des1  naturwissenschaftlichen  Lehrers 
würde  die  Schüler  sofort  ausschliesslich  in  die  Richtung  des  geometri- 
schen Zeichnens,  seitab  von  den  dem  Unterricht  vorgesteckten,'  zum  Teil 
ästhetischen  Zielen  führen  und  schwerlich  den  Erfolg  haben,  dasz  sich 
um  den  Lehrer  eine  4.  Glasse,  ein  Kreis  von  Schülern  der  oberen  Glassen 
schlösse,  zwanglos,  nur  aus  Interesse  für  den  Gegenstand  zusammen- 
getreten. Vielmehr  ist  dieser  Unterricht  seit  der  Mitte  der  40er  Jahre  in 
die  Hände  übergegangen,  welchen  er  seinem  ausgesprochenen  Zwecke  und 
seiner  natürlichen  Richtung  nach  zukommt,  nemlich  denen  der  Künstler 
von  Beruf. 

Wer  die  Leistungen  def  Schüler  vor  dieser  Zeit  kennen  zu  lernen 
sich  die  Mühe  genommen  und  dieselben  mit  den  jetzigen  vergleicht,  kann 
nicht  in  Abrede  stellen,  dasz,  wenn  hier  und  da  auch  die  Individualität 
des  Lehrers  in  einer  gewissen  Einseitigkeit  der  Leistungen  der  Schüler 
sich  wahrnehmbar  macht,  der  Unterricht  im  Ganzen  sich  bedeutend  ge- 
hoben und ,  wo  nicht  unüberwindliche  Schwierigkeiten  entgegenstanden, 
die  vorgezeichneten  Ziele  auch  wirklich  erreicht  hat.  Auch  ist  durch  die 
Wahl  zur  Handhabung  der  Schulzucht  geeigneterer  Persönlichkeiten  den 
früher  beklagten  diseiplinarischen  Unzuträglichkeiten  abgeholfen  worden 
und  damit  der  Grund  zu  der  gegen  diese  Lehrergattung  gerichteten  Un- 
gunst geschwunden. 

Nichtsdestoweniger  hat  dies  die  zu  erwartende  Rückwirkung  auf 
eine  Verbesserung  der  abnormen  Stellung  dieser  Lehrer  zu  den  Gymna- 
sien zu  üben  nicht  vermocht.  Sie  haben  noch  immer  die  Schwächen  ihrer 
Vorgänger  zu  büszen  und  unter  der  bei  Schulmännern  von  Beruf  nicht 
eben  seltenen  Geringschätzung  der  Fähigkeit  zu  leiden,  welche  der  Unter- 
richt im  Zeichnen  Seitens  des  Lehrers  erfordert.  Das  Zeichnen  gehört  in 
diesen  Kreisen  eben  zu  den  'technischen  Fertigkeiten'. 

Wenn  der  Zeichnenunterricht  an  Gymnasien  bei  den  untersten  Stu- 
fen des  Könnens  verweiten  und  bei  den  aus  vielerlei  Gründen  so  nahe  ge- 
steckten Zielen  stehen  bleiben  musz,  so  erfordert  er  doch,  wie  jede  an- 
dere Disciplin,  einen  Lehrer,  dessen  Gesichtskreis  weit  über  diese  Ziele 
reicht.  Wie  viel  Wissen  aber  —  mehr,  als  die  Instruction  zur  Prüfung 
der  Zeichnenlehrer  fordert  —  der  Bildungsgang  eines  das  Lehrfach  be- 
tretenden Künstlers  umfaszt,  und  dasz  er  in  den  Mühseligkeiten  und  in 
der  Länge  dem  Bildungsgange  eines  das  Lehrfach  betretenden  Gelehrten 
mindestens  gleicht,  dasz  auch  deshalb  seinen  Vertretern  an  den  Gym- 
nasien wenigstens  die  äuszerliche  Gleichstellung  mit  ihren  gelehrten 
Gollegen  zukomme  ...  das  haben,  so  viel  dem  Verfasser  bekannt  ist, 
vor  Kurzem  die  königlichen  Kunstakademieen  an  maszgebender  Stelle 
befürwortend  hervorgehoben.     Die  je  nach  der  persönlichen  Ansicht  des 

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Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht.  369 

Einzelnen  mehr  oder  weniger  erhebliche  Wichtigkeit  des  Lehrgegenstan- 
des selbst  darf  diese  äuszerliche  Gleichstellung  nicht  verhindern,  wenn 
derselbe,  wie  im  neuen  Lehrplane,  cein  integrierender  Teil  des  Lehrpla- 
nes aller  höheren  Schulen'  heiszt.  Die  Sonderstellung  der  Zeichnenlehrer 
verfehlt  sogar  nicht,  einen  bemerklichen  Eindruck  auf  die  Anschauungen 
der  Schüler  zu  machen. 

Es  ist  allerdings  billig ,  dasz  diese  Lehrer  gleich  denen  der  anderen 
Lehrgegenstände  eine  Probezeit  zu  bestehen  haben  und  dasz  deshalb 
ihre  Anstellung  vorläufig  auf  Kündigung  erfolge.  Wenn  man  es  aber  für 
zweckmäszig  befunden,  bewährte  wissenschaftliche  Kräfte  durch  feste 
Anstellung  ihrer  Träger  den  Lehranstalten  zu  sichern  und  deren  Eifer 
durch  die  Eröffnung  der  Aussicht  auf  Beförderung ,  Gehaltserhöhung  und 
Pension  anzuspornen,  so  liegt  die  Frage  nahe,  ob  es  auch  billig  sei,  den 
künstlerischen  Mitarbeitern ,  die  sich  durch  eine  Reihe  von  Jahren  be- 
währt, die  feste  Anstellung  und  die  Aussichten  jener  Art  für  immer  zu 
versagen.  Haben  sie  bei  übrigens  ihnen  mit  ihren  Collegen  gleich  zu- 
gemessenen Pflichten  und  Einkünften  nicht  denselben  Anspruch,  wie  jene, 
wenigstens  auf  eine  ihrer  Thätigkeit  entsprechenden  Beteiligung  des 
Staates,  resp.  der  Commune,  an  der  Sicherung  ihrer  Zukunft?  Sollen 
von  allen  Beamten  nur  sie  allein  die  moralische  Zähigkeit  haben ,  die  kei- 
ner Aufmunterung  bedarf?  Musz  sie  die*  ussichtslosigkeit  für  die  nächste 
und  die  fernere  Zukunft  nicht  darauf  hinweisen,  den  erwählten  Künstler- 
beruf vor  Allem ,  das  Lehramt  aber  nur  mit  dem  Grade  von  Hingebung 
zu  pflegen ,  welcher  nach  dem  augenblicklichen  pekuniären  Ertrage  des 
Amtes  zu  bemessen  ist? 

Indem  der  Verfasser  sich  nunmehr  zu  dem  neuen  Lehrplane  selbst 
wendet,  verhehlt  er  sich  nicht  das  Misliche  des  Unternehmens,  Bedenken 
gegen  eine,  voraussichtlich  auf  viele  Jahre  hinaus  als  gültige  Vorschrift 
bestehende  Anordnung  vorgesetzter  Behörden  auszusprechen,  vollends 
wenn  jene  zum  Teil  principieller  Art  sind  und  sich  gegen  die  Verordnung 
im  Ganzen  richten.  Er  hofft  jedoch,  es  werde  dasMasz  der  Freimütigkeit, 
welches  von  der  Wahrhaftigkeit  erfordert  wird,  die  Würdigung  finden, 
worauf  objective  Erörterungen  von  Angelegenheiten  aus  den  Gebieten  der 
Kunst  und  der  Wissenschaften  ein  herkömmliches  Vorrecht  haben.  Dem 
Vorwurf,  dasz  er  bei  dem  bequemen  Negieren  stehen  geblieben ,  glaubt 
er  durch  die  gleich  Eingangs  seiner  Bemerkungen  gegebenen  positiven 
Andeutungen  über  den  Zeichnenunterricht  begegnet  zu  haben. 

Die  gegen  den  Lehrplan  gerichteten  Bedenken  lassen  sich  zum  gro- 
szen  Teil  aus  den  vorhergehenden  Erörterungen  entnehmen.  Zunächst 
erwähnt  derselbe,  das  letzte  Alinea  der  'Bemerkungen'  ausgenommen, 
nichts  von  den  Hindernissen  und  Schwierigkeiten,  welche  dem  Zeichnen- 
unterrichte seit  dem  Erlasz  des  abgeänderten  Reglements  noch  immer  im 
Wege  stehen,  und  sucht  deshalb  auch  die  Förderung  des  Lehrgegenstan- 
des nicht,  wie  es  dem  Verfasser  das  Zweckmäszigere  scheint,  in  Masz- 
regeln ,  welche  jene  Hindernisse  zu  beseitigen  geeignet  wären ,  sondern, 
wie  das  alte  Reglement,  in  der  Aufstellung  eines  Lehrverfahrens.  Indem 
dabei  unbeachtet  geblieben  ist,  dasz  ein  bedeutender  Teil  jener  Hinder- 


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370  Ueber  den  Gymnasialzeichnenunterricht. 

nisse  durch  Vermehrung  der  dem  Zeichnenunterricht  gewidmeten  Schul- 
stunden, sofort  beseitigt  wäre,  wird  diese  Zeitzulage  nicht  allein  nicht 
bewilligt,  sondern  es  werden  dem  Unterrichte,  wie  er  sich  unter  den  be- 
stehenden Verhältnissen  folgerichtig  gestalten  muste,  zu  den  alten  Auf- 
gaben vielmehr  noch  neue  und  zwar  solche  zuerteilt,  deren  gründliche 
Lösung  die  bisher  gewährte  Stundenzahl  allein  erfordern  wurde. 

Wer  die  einzelnen  Sätze  der  5  ersten  §§  durchlieset  und  dabei  gün- 
stige Unterrichtsverhältnisse  voraussetzt,  kann,  wie  dies  ja  auch  die  Gut- 
achten der  drei  k.  Kunstakademieen  und  der  k.  Provinzial-Schulcollegien 
beweisen,  zu  einem  Einverständnis  mit  dem  Lehrplane  gelängen,  weil 
diese  Sätze,  einzeln  für  sich  betrachtet,  völlig  zu  rechtfertigende  Aufgaben 
stellen.  Wer  sich  aber  bei  jeder  Zeile  erinnert  ,*dasz  gröszere  Gomplexe 
dieser  Aufgaben  zugleich,  vor  vollen  Classen  und  in  wöchentlich  zwei 
knappen  Schulstunden  gelöset  werden  sollen ,  dasz  ferner  die  2.  und  3. 
Unterrichtsstufe,  für  welche  schon  die  perspectivischen  Uebungen  vor- 
geschrieben sind ,  die  unreifen  Geister  der  Quinta  und  Quarta  umfassen 
—  der  wird  sich  sicher  den  Bedenken  gegen  die  Ausführbarkeit  des  Lehr- 
planes  anschlieszen ,  zumal  wenn  er  selbst  zu  denen  gehört ,  welche  jene 
Aufgaben  lösen  sollen,  und  wenn  ihm  zugleich  nicht  mehr  als  wöchent- 
lich zwei  Stunden  für  jede  der  dr«  unteren  Classen  beschieden  sind. 

Während  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  der  der  Individualität  der 
Lehrer  zu  gönnende  freie  Raum  (Einleitung  zu  den  'Bemerkungen')  am 
glücklichsten  in  der  Weise  dargeboten  worden  wäre,  dasz  man  nach  einer 
allgemeinen  Charakterisierung  des  Gymnasialzeichnenunterrichtes  als  ei- 
nes die  Erwerbung  der  allgemeinen  Bildung  fördernden  Mittels  nur  die 
Ziele  desselben  für  die  oberste  Gymnasialstufe  eingehend  bezeichnet  und 
die  Ueberwachung  der  dahin  führenden  Schritte  lediglich  der  Aufmerk- 
samkeit der  Herren  Gymnasialdirectoren  überlassen  hätte,  bezeichnet  der 
Lehrplan  in  etwas  kargen  Worten  zwar  diese  Ziele,  weist  aber  dem  un- 
terrichtenden Lehrer  zugleich  die  Schritte  selbst  zu  und  überläszt  ihn 
dann  vor  den  dadurch  neugeschaffenen  Schwierigkeiten*)  sich  selbst  und 
dem  zweifelhaften  Rückhalte,  welchen  bei  der  Verantwortung  der  auf 
dieser  Bahn  unvermeidlichen  Fehltritte  die  'Bemerkungen'  gewähren 
könnten. 

Was  den  in  dem  Lehrplan  in  den  Vordergrund  gestellten  perspecti- 
vischen Unterricht  betrifft,  so  begrüszen  die  beteiligten  Lehrer  jede  Ge- 
legenheit, diesen  Teil  ihrer  Disciplin  weiter  als  bisher  entwickeln  zu 
können,  mit  wahrer  Freude;  denn  er  gibt  das  mathematische  Correctiv 
für  das  auf  die  optische  Wahrnehmung  allein  sich  stützende  unsichere 
Product  des  Könnens  ab.  Wie  aber  die  oben  gemachten,  hierher  gehörigen 
Bemerkungen  erkennen  lassen,  musz  dieses  Correctiv  nachträglich 
geboten  werden,  nachdem  bei  dem  Schüler  das  bewuste  Sehen  und  das 
Auffassungsvermögen  au  einem  gewissen  Grade  der  Reife  gediehen  sind. 


*)  Hierzu  gehört  n.  a.  die  Aufgabe,  vor  durchweg  ungleich  reifen 
Zeichnern,  wie  sie  die  Versetzungen  zusammenbringen,  den  theoreti- 
schen Teil  des  vorgeschriebenen  Unterrichts  zu  absolvieren. 


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'     Ueber  den  Gymnasialzeichnenunlerricht.  371 

Nichtkünstler  sehen  in  den  ersten  bildlichen  Aeuszerungen  des  Sehens  mit 
-Bewustsein  irtümlicher  Weise  die  Anfange  des  perspectivischen  Zeichnens. 
Für  die  Elemente  dieses  Zeichnens,  welche  unbedingt  die  Anwendung 
des  Zirkels  und  Lineals  erfordern  (§  3  des  Lehrplanes),  reicht  die  Fas- 
sungsgabe eines  Schülers  der  2.  Stufe  (Quinta)  bei  weitem  nicht  aus.  Sie 
verlangen  vielmehr  auszer  den  Vorkenntnissen ,in  der  Geometrie,  wie  sie 
allenfalls  ein  Tertianer  hat,  einige  Kenntnis  des  orthographischen  Pro- 
jectionsverfahrens.  Der  Verfasser,  der  dem  Studium  der  Perspective  und 
dem  Unterrichte  darin  einen  nicht  geringen  Teil  seiner  Kräfte  zugewendet 
hat  und  die  ihm  theure  Disciplin  in  jeder  Weise  gefördert  sehen  möchte, 
musz  dem  perspectivischen  Unterricht  auf  dem  Gymnasien  von  vornherein 
jeden  Erfolg  absprechen,  wenn  demselben  nicht  wenigstens  eine  beson- 
dere Stunde  wöchentlich  für  die  aus  den  Schülern  der  oberen  Classen 
combinierte  Zeichnenciasse  gewährt  wird,  nachdem  ihm,  unter  Weg- 
lassung des  perspectivischen  Unterrichts  in  der  Quinta ,  durch  Einrichtung 
einer  Stunde  wöchentlich  in  Quarta  für  den  Uuterricht  in  den  Anfängen 
des  orthographischen  Projicierens  vorgearbeitet  worden.  Diese  letzter- 
wähnte Stunde  würde  zugleich  die  in  §  4  des  Lehrplanes  verlangten 
Uebungen  in  der  Handhabung  von  Zirkel  und  Lineal  gewähren. 

Allerdings  kann  es  bei  der  bisher  beschränkten  Gelegenheit,  den 
Schülern  Anleitung  in  der  Perspective  zu  geben,  vorkommen,  dasz  Schw- 
ier naeh  jahrelangem  Zeichnen  nicht  im  Stande  sind,  einen  Stuhl,  einen 
Tifch,  oder  irgend  einen  körperlichen  Gegenstand  richtig  nachzubilden 
(AI.  3  der  'Bemerkungen'),  doch  ist  der  im  Lehrplan  zur  Vermeidung 
dieses  Uebelstandes  vorgezeichnete  Weg,  zumal  wenn  er  an  der  Hand  der 
Peter  Schmidschen  Methode  betreten  wird,  auszerdem  dasz  er  die  Rieh* 
tung  verfehlt,  impraktikabel.  Wie'  kategorisch  der  Pädagoge  hier  auch 
nötigen  wolle,  die  in  Rede  stehende  Disciplin  läszt  sich  nicht  tyrannisieren. 

Der  Beginn  des  Freihandzeichnens  nach  Vorlegeblättern  ist  in  dem 
Lehrplan  in  die  zweite  Stufe  (Quinta)  gelegt  und  für  dieselbe  Stufe  so- 
gleich die  Ausdehnung  der  Uebungen  bis  zum  Zeichnen  von  Gesichtsteilen 
und  ganzen  Köpfen  in  Aussicht  genommen.  Es  ist  hierzu  zu  bemerken, 
dasz  diese  Zielpunkte  und  insbesondere  die  für  Quarta  (dritte  Stufe)  ge- 
steckten (Freihandzeichnen  nach  Körpern,  insbesondere  nach  Gypsen: 
Ornamente ,  Blattformen ,  Teile  des  menschlichen  Körpers)  auch  nur  an- 
nähernd erreichbar  sind ,  wenn  für  die  technische  Uebung  der  Hand  nach 
Vorlegeblättern  eine  längere  Zeit,  als  der  einjährige  Gursus  in  Quinta 
darbietet,  vorher  aufgewandt  werderi,  und  dasz  deshalb  die  Verlegung  der 
ersten  Anfänge  dieser  Uebungen  nach  Sexta  unerläszlich  scheint.  Was  die 
für  die  dritte  Stufe  (Quarta)  angeordneten  Uebungen  im  Freihandzeichnen 
nach  Teilen  des  menschlichen  Körpers  betrifft,  so  dürfte  es  hier  wol 
beim  Zeichnen  des  menschlichen  Kopfes  sein  Bewenden  haben  müssen,  da, 
abgesehen  von  anderen  Bedenklichkeiten,  die  Darstellungen  von  anderen 
Teilen  des  menschlichen  Körpers,  als  der  Kopf,  selbst  von  Händen  und 
Füszen ,  ohne  vorherigen  Unterricht  in  den  Proportionen  und  der  Anato- 
mie des  menschlichen  Körpers  nur  Monstrositäten  ergeben,  an  deren  Ent- 
stehen eine  öffentliche  Lehranstalt  ihre  Beteiligung  nicht  zugeben  darf. 


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372  Ueber  den  Gymnasialzeichnenunierricht. 

Auch  möchten  diese  Uebungen  überhaupt  wol  das  Gebiet  der  elementaren 
Voraussetzungen  der  Kunst  überschreiten. 

Hinsichtlich  der  in  dem  Lehrplane  für  die  erste  (unterste)  Stufe  vor- 
geschriebenen Unterweisung  in  den  Elementen  der  Formenlehre ,  deren 
Kenntnis  für  den  Zeichnenunterricht  wie  für  andere  Disciplinen  bei  den 
Schülern  in  der  That  unentbehrlich  ist ,  dürfte  an  das  Mihisterial-Rescript 
vom  24.  Oct.  1837  zu  erinnern  sein,  wonach  die  in  die  Sexta  der  Gym- 
nasien eintretenden  Schüler  diese  Kenntnis  aus  der  Vorschule  schon  mit- 
bringen sollen.  Wenn  dies  dennoch  selten  der  Fall  ist,  so  ist  es  allerdings 
der  Zeichnenlehrer,  in  dessen  Unterricht  jene  Kenntnis  am  besten  nach- 
geholt werdeu  kann.  Mit  der  Uebernahme  dieses  Unterrichts  fällt  ihm 
jedoch  eine  Aufgabe  zu,  welche  ihrem  Charakter  nach  in  gesonderten 
Stunden  unter  Anwendung  des  Zirkels  und  des  Lineals  gelöset  werden 
mu$z  und  der  er  sich ,  ohne  seine  eigentliche  Aufgabe  zu  schädigen ,  nur 
in  der  Weise  unterziehen  kann,  dasz  dadurch  nicht  die  gauze  Zeit  des 
Verweilens  der  Schüler  in  Sexta  erfüllt  wird. 

Unzweifelhaft  in  der  Voraussicht,  dasz  die  Summe  der  in  dem  Lehr- 
plane dem  Lehrer  gestellten  Aufgaben  diesen  in  die  nur  desto  gröszere 
Gefahr  bringen  müsse,  nach  keiner  Seite  hin  zu  befriedigen ,  je  gewis- 
senhafter er  selbst  ist,  ist  dem  Lehrplane  eine  Reihe  von  Bemerkungen 
angefügt,  welche  modificieren  wollen,  was  jener  streng  fordert.  Es  ist 
leicht,  ihhen  durchweg  beizupflichten.  Wie  wolmeinend  dieselben  aber 
auch  der  Individualität  und  der  Methode  der  Lehrer  einigen  Spielratm 
versprechen,  so  sind  sie  doch  nur  geeignet,  die  von  den  weiter  oben  er- 
wähnten älteren  Gebrechen  eben  gesundete  Stellung  der  Zeichnenlehrer 
insofern  von  Neuem  zu  gefährden,  als  sie  die  letzteren,  wenn  diese,  den 
'Bemerkungen'  vertrauend,  von  den  Satzungen  des  'Lehrplanes'  abwei- 
chen ,  dem  zu  jedem  Zeitpunkte  und  bei  jedem  etwaigen  Wechsel  der 
Ansichten  an  maszgebender  Stelle  mit  dem  Anschein  von  Recht  zu  erhe- 
benden Vorwurf  aussetzen ,  dasz  sie  nicht  das  Gewünschte  leisten. 

Auszerdem,  dasz  der  Verfasser  hier  am  Schlüsse  zu  bedenken  gibt, 
ob  es  in  Rücksicht  auf  das  Bedürfnis  des  künftigen  Architecten  und  Tech- 
nikers nicht  ernstlich  geboten  scheine,  auch  dem  geometrischen  Zeichnen 
auf  den  Gymnasien  einige  gesonderte  Stunden  anzuweisen,  weiset  er 
noch  einmal  dringend  darauf  hin,  dasz,  um  die  Erfolge  des  künstlerischen 
Freihandzeichneuunterrichtes  zu  beben,  dem  Lehrer  nicht  eine  Methode 
geboten,  sondern  vor  Allem  angemessene  Localitäten  und  einige  Unter- 
richtsstunden mehr  gewährt  werden  mögen.  Das  ist  das  ceterum  censeo 
der  beteiligten  Lehrer. 

AI.  11  und  16  der  Bemerkungen  schneiden  die  Hoffnung  auf  Er- 
füllung dieses  Verlangens  nicht  gänzlich  ab. 

Berlin.  Otto  Gennerich. 


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Ueber  die  verbalendung  -ieren.  373 

28. 

Ueber  die  verbalendung  -ieren. 


Der  gebrauch  der  verben  auf  -ieren f)  erfährt  von  seilen  mancher, 
welche  als  gegner  der  fremdwörter  auftreten,  sehr  viel  Widerspruch; 
aber  gewöhnlich  wird  nur  die  allgemeine  behauptung  ausgesprochen, 
dasz  man  sich  derselben  möglichst  zu  enthalten  bemüht  zeigen  müsse. 
Worin  diese  möglichkeit  bestehe,  ob  die  entbehrlich keit  des  ganzen  aus* 
drucks  oder  der  fremdlautende  wortstamm  vorzugsweise  zu  berücksich- 
tigen sei,  bleibt  meistens  unerörtert. 

Zunächst  kommt  es  darauf  an ,  einem  Vorurteile  zu  begegnen.  Wenn 
nemlich  diese  verbalendung  eine  fremdendung  genannt  zu  werden  pflegt, 
so  ist  diesz  zwar  an  und  für  sich  richtig ;  man  darf  aber  dabei  nicht  ver- 
gessen, dasz  diese  form  schon  im  mhd.  in  einer  zahllosen  menge  von  Bei- 
spielen vorliegt.  Am  nächsten  steht  ihr  die  Substantivendung  -ter, 
welche  gleichfalls  an  entlehnten  Wörtern  auftritt  z.  B.  mhd.  banier,  her- 
senier,  soldier,  böschelier,  schevalier,  un4  manche  verben  auf  -ieren  sind 
eben  von  subst.  auf  -ier  abgeleitet,  wie  furnieren,  barbieren.  Da  nun 
nicht  leicht  irgendwo  solche  subst.,  wenn  sie  überhaupt  noch  bis  in* die 
gegenwart  reichen,  ihres  fremden  Ursprungs  wegen  zurückgewiesen  wer- 
den (vgl.  panier,  revier,  manier);  so  darf  auch  die  endung  -ieren  als 
solche  keineswegs  dem  bereiche  der  deutschen  spräche  entzogen  werden, 
sie  gehört  vielmehr  wie  jene  andere  in  dasselbe  hinein.  Hieraus  folgt, 
dasz  es  insbesondere  sowol  darauf  ankommt,  wie  der  eigentliche  stamm, 
der  mit  dieser  endung  versehen  wird,  beschaffen  ist,  d.  h.  ob  er  in  laut- 
licher hinsieht  unserer  spräche  überhaupt  angemessen  erscheinen  darf, 
als  auch,  wenn  diesz  bejaht  werden  kann,  ob  nicht  etwa  schon  ein  völlig 
ausreichendes  einheimisches  verb  vorhanden  ist.  An  diesen  beiden  bedin- 
gungen  scheitert  wol  die  mehrzahl  von  solchen  Wörtern,  welche  heut- 
zutage in  rede  und  schrift  so  verschwenderisch  ausgeteilt  werden. 

Wenn  ein  fremdwort  bereits  Jahrhunderte  in  der  spräche  verweilt 
hat,  so  ist  es  eine  durchaus  müszige  frage,  ob  seine  stelle  durch  ein 
deutsches  bequem  eingenommen  werden  könne;  auch  der  vollkommenste 
ersatz  wäre  gar  nicht  berechtigt,  dem  längst  eingebürgerten  und  als 
deutsch  geltenden  Worte  den  wag  zu  vertreten.    Daher  versteht  es  sich, 


1)  Dasz  der  diphthong  jedesmal  im  rechte  ist,  nicht  blosz  bei  re- 
gieren  und  spazieren,  sondern  auch  in  den  ganz  entbehrlichen  nnd  zum 
teil  abgeschmackten  beispielen ,  deren  sich  die  moderne  richtung  zu 
bedienen  nicht  verschmäht,  kann  durch  den  Vorgang  im  mhd.,  der 
seine  quelle  im  altfranz.  hat,  vollkommen  überzeugend  bewiesen  wer- 
den. Sodann  aber  bereitet  die  beliebte  absonderung  jener  beiden  Wör- 
ter nur  neue  Verlegenheiten  und  unfolgerichtigkeiten.  Wer  möchte 
z.  b.  neben  barbier,  turnier,  quartier  die  davon  abgeleiteten  verben  mit 
bloszem  i  schreiben?  Zu  barbieren  aber  stimmt  wieder  rasieren,  nicht 
rasiren. 


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374  Ueber  die  verbalendung  -tere». 

dasz  Wörter  wie  regieren*),  spazieren,  furnieren,  der  begründung  nicht 
bedürfen.  Aber  auch  gegen  fallieren,  marschieren,  passieren,  rasie- 
ren ,  studieren ,  summieren  und  viele  andere  ist  nicht  das  geringste  be- 
denken zu  erheben ;  sie  leisten  oft  sogar  durch  ihre  bündige  und  gefällige 
form  der  spräche  einen  wesentlichen  nutzen.  Durch  welchen  anderen 
ausdruck  könnte  z.  b.  fallieren  (ital.  fallire,  aus  lat.  fallere,  woher  auch 
fehlen)  passend  ersetzt  werden?  Ein  bequemes  einfaches  wort  gibt  es  im 
deutschen  nicht,  und  in  den  ebenfalls  gangbaren  schwerfälligen  Verbin- 
dungen 'bankerott'  oder  (konkurs  machen9  ist  das  hauptwort  obendrein 
auch  ein  fremdes.  Fügt  sich  die  endung  an  einen  deutschen  stamm ,  so 
entsteht  ein  ganz  anderes  und ,  genau  betrachtet ,  minder  günstiges  Ver- 
hältnis. Im  mhd.  war  diese  weise  nicht  üblich;  die  Wörter,  welche  sich 
hier  im  12.  und  besonders  im  13.  jahrh.  gebildet  haben ,  wurden  aus  dem 
romanischen  übernommen,  z.  b.  parlieren,  zimieren,  feitieren,  fischieren. 
Später  aber  gab  man  sich  der  bequemlichkeit  hin,  für  die  bezeichnung 
eines  aus  einem  nomen  entwickelten  verhafte griffes  ohne  weiteres  der 
nominalform  die  vieldeutige  endung  -ieren  anzupassen.  Zwar  hätte  dafür 
immerhin  lieber  eine  echtdeutsche  verbalform  eintreten  mögen,  und  die- 
jenigen fälle  sind  zu  tadeln ,  wo»  eine  bereits  vorhandene  deutsche  endung 
gegen  jene  undeutsche  aufgegeben  worden  ist.  Bisweilen  indessen  mochte 
der  umstand,  dasz  ein  zu  demselben  stamme  gehöriges  verb  mit  deutscher 
endung  bereits  vorhanden  war,  die  entstehung  der  form  auf  -ieren  be- 
günstigt haben;  man  vgl.  hausen  und  hausieren,  lauten  nnd  lautieren, 
schatten  (beschatten)  und  schattieren.  Mit  einem  deutschen  oder  doch 
vollkommen  eingebürgerten  stamme  verbindet  sjch  die  endung  auszerdem 
in:  halbieren,  buchstabieren,  kutschieren,  stolzieren,  hantieren  (schjpn 
mhd.),  ausstaffieren. 

Einen  außerordentlich  groszen,  ja  unübersehbaren  beitrag  liefern 
die  vielerlei  technischen  und  terminologischen  ausdrücke,  durch  welche 
in  der  regel  auf  einfachere  weise ,  als  mit  deutschen  mittein  möglich  ist, 
und  oft  sehr  unterscheidend,  mithin  treffend,  besondere  begriffe  der  Wis- 
senschaften und  künste  bezeichnet  werden,  z.  B.  alliterieren,  appellie- 
ren, assimilieren,  applaudieren,  balsamieren,  blokieren,  deklinieren, 
disputieren,  dividieren,  duellieren,  elidieren,  exerzieren ,  fabrizie- 
ren, fixieren,  fungieren,  hospitieren,  instruieren,  inlerpungieren, 
kassieren9),  komponieren,  konjugieren,  kopieren,  kopulieren,  korri- 
gieren ,  kurieren ,  medizinieren,  miniefen  (unterminieren) ,  modellieren 
und  modulieren,  musizieren,  operieren,  orientieren,  parieren4),  pun- 
ktieren, redigieren,  rezensieren,  sondieren,  suspendieren,  urgieren, 
visieren,  zitieren.  Manche  unter  diesen  sind  auch  dem  gemeinen  leben 
nicht  unbekannt,  sowie  andere,  welche  hier  und  überall  gebraucht  .wer- 
den, auf  den  namen  eigentlich  technischer  und  terminologischer  ausdrücke 
entweder  an  sich  keinen  ansprtich  erheben  können  oder  doch  nicht  mehr 

2)  natürlich  aus  dem  lat.  regere.    Suchenwirt  brauchte  r  regnieren ' 
(regnare)  intransitiv;  im  mhd.  galt  richesen  (v.  riche,  reich). 
8)  1)  v.  Kasse  2)  v.  franz.  casser  (quassare). 
4)  in  3  bedeutungen. 


Hager:  hebräische*  Vocabularium.  375 

als  solche  betrachtet  werden;  vgl.  auszer  den  genannten  fallieren  usw.; 
gratulieren ,  frisieren,  einquartieren,  logieren,  interessieren,  polie- 
ren, linieren,  galopieren,  filtrieren*).  Mundarten  bieten  noch  manche 
andere  ausdrucke,  denen  die  Schriftsprache  aus  dem  wege  zu  gehen  pflegt 
oder  eine  andere  form  erteilt,  als:  fingerieren,junkerieren,  sehne  ine- 
rteren ,  maulieren ,  narrieren  (schon  bei  Fischart ,  der  überhaupt  eine 
sehr  reiche  ausbeute  liefert) ,  schantieren  und  ausschündieren ,  drang- 
salieren, meng  eiteren  (mischen),  ramponieren,  rungenieren  (ruiniren), 
figilieren ;  ferner  niederd.  klareren  (im  schiffswesen) ,  fisenUren  (visit.), 
profentiren  (profit.),  nachttoechteriren  (als  Nachtwächter  fungieren), 
garnSren  (holländ.  tuinieren,  den  garten  bestellen). 

Steht  einem  fremdworte  auf  -ieren  ein  anderes  von  gleichem  stamme 
mit  deutscher  endung  zur  seite,  so  ist,  wenn  beide  gelten  sollen  und 
gelten,  die  bedeulung  naturlich  eine  verschiedene ;  vgl.  oben  hausen,  tau- 
ten und  hausieren,  lautieren.  In  solchem  Verhältnisse  befinden  sich 
passieren,  kopulieren,  spendieren,  probieren,  formieren,  modellieren, 
prädizieren,  pressieren,  regulieren,  turnieren,  diktieren,  traktieren 
zu  passen,  kuppeln,  spenden,  proben  (erproben),  formen,  modeln, 
predigen,  pressen,  regeln,  turnen,  dichten,  trachten,  niederd.  dokte- 
rer en  zu  doktern6).  Unverwandt  aber  sind  kieren  (faire  la  cour)  und 
kurieren  (curare).  Blosz  formell  vergleichen  sich  mhd.  tempern,  balse- 
men,  termen  mit  temperieren,  balsamieren  und  lat.  terminare.  Aus 
dem  mhd.  behalten  sind  benedeien  (benedicere),  kasteien  (castigare).  x 

Mülheim  a.  d.  Ruhr.       '  K.  G.  Andresen. 


b)  v.  mlat.  filtrum,  filz. 

6)  Jenes  bedeutet:  sich  mit  kurieren  abgeben,  dieses:  den  doktor 
gebrauchen ,  medizinieren. 


29. 

Hebräisches  Vocabularium  für  die  Primaner-  und  Secundaner 
der  Gymnasien,  sowie  für  Theologiestudirende  zusammen- 
gestellt von  Dr.  A.  Hager,  Lehrer  am  Fridericianum  %u 
Schwerin.   Leipzig,    1863.   81  S.  12. 

Seitdem  die  neuere  Didaktik  sich  so  entschieden  für  ein  planmäsziges 
Vocabellernen  bei  dem  lateinischen  und  griechischen  Unterrichte  ausge- 
sprochen und  zweckmäszige  Hülfsmittel  für  diesen  Unterricht  veranlaszt 
hat,  hat  man  allmählich  (nachdem  schon  vor  50  Jahren  Gesenius  ein  Voca- 
bellernen ex  professo  auch  für  die  hebr.  Sprache  nachdrücklichst  gefordert 
hatte)  auch  die  Notwendigkeit  eines  planmäszigen  Vocabellernens  im  he- 
bräischen Unterrichte  anzuerkennen  angefangen.  Während  einige  Lehrer 
noch  der  Ansicht  sind,  dasz  der  Schüler  zunächst  nur  diejenigen  Vocabeln 
lernen  solle,  welche  in  den  ersten  Uebersetzungsstücken  vorkommen,  z.  B. 


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376  .  Hager:  hebräisches  Vocabularium. 

in  den  ersten  Capiteln  der  Genesis,  verlangen  andere  ein  streng  plan- 
mäsziges  Vocabellernen  wie  im  Lateinischen  und  Griechischen.  Die  An- 
sichten der  Letzteren  weichen  nur  darin  von  einander  ab,  dasz  die  Einen 
von  dem  für  diese  Uebungen  nötigen  Vocabularium  die  sachliche,  die 
Anderen  die  etymologische  Methode  fordern.  Während  Stier  in  seinem 
hebräischen  Vocabularium*)  im  ersten  Hefte  die  Wörter  grammatisch,  in 
dem  zweiten  sachlich  geordnet  hat,  hat  Dr.  Hager,  Lehrer  am  Frideri- 
cianum  in  Schwerin ,  die  etymologische  Methode  angewendet. 

So  wichtig  ein  planmäsziges  Vocabellernen  für  den  Unterricht  im  All- 
gemeinen auch  sein  mag,  so  ist  Ref.  doch  der  Ansicht,  dasz,  da  es  hei  dem 
hebräischen  Unterrichte  ganz  besonders  darauf  ankommt,  die  Schüler 
sobald  wie  möglich  zum  Uebersetzen  vollständiger  Stücke  zu  führen ,  es 
für  die  Anfänger  im  Hebräischen  am  zweckmäszigsten  ist,  wenn  sie  zuerst 
diejenigen  Wörter  auswendig  lernen,  welche  in  den  Sätzen  oder  Stücken, 
welche  sie  zuerst  übersetzen,  am  häufigsten  vorkommen;  für  die  folgenden 
Jahre  würde  Ref.  eine  Auswahl  der  Wörter ,  welche  bei  der  Leetüre  des 
A.  T.  am  häufigsten  vorkommen ,  vorziehen. 

Was  die  Einrichtung  des  fraglichen  Vocabularium  betrifft,  so 
zerfällt  dasselbe  in  82  Abschnitte,  deren  jeder  10 — 15  numerierte  und 
auszerdem  einige  mit  einem  Sternchen  versehene  Vocabeln  enthält.    Der    I 
Verfasser  gieng  von  dem  Gedanken  aus ,  dasz  das  Pensum  der  Secnndauer   j 
für  ein  Jahr  von  circa  41  Schul wochen  das  Auswendiglernen  der  nume-   < 
rierten  Vocabeln  der  82  Abschnitte  (also  20 — 30  Vocabeln  für  jede  Woche),  j 
das  der  Primaner  für  die  Zeit  von  2 — 3  Jahren  die  Repetition  der  schon  * 
gelernten  und  das  Hinzulernen  der  nicht  numerierten  Vocabeln  sein  soll 
Die  Abschnitte  sollen  nicht  streng  der  Reihenfolge  nach  gelernt  werden, 
sondern  das  Gutdünken  des  Lehrers  oder  die  Rücksichtnahme  auf  die  ge- 
rade bei  der  Leetüre  vorkommenden  Wörter  soll  die  jedesmalige  Auswahl 
der  zu  lernenden  Abschnitte  bedingen. 

In  welcher  Weise  der  Verfasser  die  etymologische  Anordnung 
durchgeführt  hat,  ergibt  sich  z.  B.  aus  den  Angaben  der  Wörter,  welche 
in  dem  ersten  Abschnitt  vorkommen;  er  beginnt  mit  t|b«,  t]brr,  5bn, 
t]b* ,  n^n ,  FM ,  TS ,  nn.  Während  in  einzelnen  Abschnitten  der  Grund 
der  Verbindung  und  Aufeinanderfolge  der  Wörter  deutlich  hervortritt, 
sieht  man  bei  anderen  nicht  gleich  ein ,  weshalb  die  Verbindung  stattge- 
funden, z.  B.  Abschnitt  5,  17,  18,  25,  31  usw.  Bei  jedem  Worte  ist  die 
Grundbedeutung  oder  die  am  häufigsten  vorkommende  Bedeutung  ange- 
geben. 

Die  am  Rande  bemerkten  Wörter,  die  nicht  als  Resultate  der  Sprach- 
vergleichung, sondern  als  voces  memoriales  angesehen  werden  sollen,  z.  B. 


*)  Hebräisches  Vocabularium  zum  Schulgebrauch.  Mit  Hinweisun- 
gen auf  die  Lehrbücher  von  Nägelsbach,  Rödiger  und  Seffer  zusammen- 
gestellt von  Gf.  Stier..  Erster  oder  grammatisch  geordneter  Teil.  1.  Ab- 
teilung: Verzeichnis  der  Verba.  2.  Abteilung:  Verzeichnis  der  Nomina. 
Leipzig  1858.  150  S.  Zweiter  oder  sachlicher  Teil.  Mit  einem  An- 
hange Neutestamentlicher  Wörter  und  Namen.    1859.    78  S, 


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Middendorf  u.  Grüter:  lateinische  Schulgrammatiken.  377 

bei  t]bn  Chalif,  bei  nbn  albus,  dXqpöc,  bei  tpü  Tp^qpeiv,  bei  5"t3n  deh- 
uen,  T€lV€lv,  bei  013  ttoOc,  *\*\1  Tp^KClv  usw.  sind  angenehme  und  be- 
lehrende Zugaben.  Der  Druck  ist  im  Ganzen  deutlich  und  scharf,  nur  an 
einzelnen  Stellen,  z.  B.  S.  17,  N.  8,  Z.  2;  17,  13,  2;  33,  12,  2;  73,  10; 
80,  4  vermiszt  man  einzelne  Zeichen  der  Vocale.  Seite  82  findet  sich  ein 
Verzeichnis  der  Druckfehler  (20),  doch  ist  dasselbe  nicht  ganz  vollstän- 
dig; z.  B.  Seite  8,  IX,  3,  3;  9,  12,  2;  9,  9,  3;  25,  12;  40,  12  usw. 
Essen.  %  Buddeberg. 


30. 

1.  Lateinische  Schulgrammatik  für  die  unteren  Gymnasialklassen. 

Erste  Abteilung ,  enthaltend:  die  Elementarlehre,  die  Formen- 
lehre mit  einer  »um  Memoriren  bestimmten  Wörtersammlung 
und  die  Wortbildungslehre.  Zweite  Abt.:  die  Anfangsgründe 
der  Syntax  mit  vielen  deutschen  und  lateinischen  Uebungsätzen, 
sowie  zusammenhängende  deutsche  und  lateinische  Uebungs- 
stücke  zum  Uebersetzen  nebst  einem  deutsch-lateinischen  und 
lateinisch-deutschen  Wörterbu che.  Von  Dr.  Hermann  Midden- 
dorf und  Dr.  Friedrich  Grüter.  Vierte  verbesserte  Auflage. 
Munster,  Druck  und  Verlag  der  Goppenralhscheu  Buch-  und  Kunst- 
handlung.   1863.   XIV  u.  262,  200  S.  8. 

2.  Lateinische  Schulgrammatik  für  die  mittleren  und  oberen  Gym- 

nasialklassen, enthaltend:  die  ausführliche  Syntax,  sowie  die 
Quantitätslehre,  die  Metrik  und  die  bedeutendsten  Eigentüm- 
lichkeiten des  poetischen  Sprachgebrauchs,  nebst  einigen  An- 
hängen. Von  Dr.  Hermann  Middendorf  und  Dr.  Friedrich 
Grüter.  Dritte  verbesserte  Auflage.  Münster,  Druck  und  Verlag 
der  Coppenrathschen  Buch-  und  Kunsthandlung.  1863.  XIII  u.  336 
S.  8. 

Die  Middendorf-  Grütersche  Grammatik  ist  bereits  so  günstig  beur- 
teilt und  an  so  vielen  höheren  Lehranstalten  eingeführt  worden,  dasz 
es  genügt,  hier  nur  mit  ejnem  Worte  anf  das  Erscheinen  der  neuen 
Auflagen  hinzuweisen,  die,  auch  äuszerlich  ganz  angemessen  aasge- 
stattet, unter  der  nachbessernden  Hand  der  Herrn  Verf.  noch  vielfach 
gewonnen  haben.  Auszer  einzelnen  Berichtigungen  usw.  in  dem  ganzen 
Werke  sind  im  ersten  Teile  auf  den  Wunsch  mancher  Lehrer  mehrere 
Uebungsstücke  zum  Uebersetzen  ins  Lateinische  neu  hinzugekommen, 
und  im  zweiten  Xßü  hat  die  Vergleichung  des  Lateinischen  mit  dem 
-  Griechischen  (in  den  Noten) ,  wodurch  die  beiden  Sprachen  gegenseitig 
entschieden  gefördert  werden,  eine  dankenswerthe  Erweiterung  erfahren. 
In  der  Orthographie  sind  die  Forschungen  von  Fleckeisen  u.  A.  sorg- 
fältig benutzt  worden.  —  Ein  Punkt  könnte,  wie  uns  scheinen  will, 
durch  eine  Revision  noch  gewinnen:  der  Ablativ  Singul.  der  Adjectiva 
einer  Endung  (§  46).  Hier  wäre  zunächst  das  secundäre  veteri  zu 
streichen;  denn  clie. bei  weitem  bewährteste  Form  istvetere,  für  welche 
auch  die  correspondierenden  Bildungen  vetera  und  veterum  sprechen. 
Im  Uebrigen  aber  musz  unseres  Erachtens  der  Schüler  sich  daran  ge- 


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378  Personalftotizen. 

wohnen,  auch  in  diesem  Casus  die  Endung  i  als  die  notwendige  zu 
betrachten*),  wovon  sich  einige  Ausnahmen  fänden;  die  Uebereinstim- 
mung  von  i  —  ia  —  ium  ist  ihm  bei  den  mehrgeschlechtigen  Adjectiven 
bereits  geläufig  geworden,  und  in  diesem  Bewustsein  werden  ihn  die 
Ajdjectiva  einer  Endung  nicht  stören,  wenn  wir  die  Regel  etwa  so  fas- 
sen: fWie  die  Adjectiva  dreier  und  zweier  Endungen,  haben  auch  die 
Adjectiva  und  Participia  einer  Endung  im  Abi.  Sing,  regelmäszig  i: 
z.  B.  audax  —  audaci,  ingens  —  ingenti,  memor  —  memori,  par  — 
pari;  doch  gibt  es  einige  Ausnahmen:  1.  Folgende  Adjectiva  haben  im 
Abi.  e:  — '  [hier  wären  nun  die  (zu  memorierenden)  Adjectiva  von 
§  64,  II.  1.  2  mit  Hinzunahme  von  ales,  dives,  über,  vetus  NB.  nebst 
deutscher  Uebersetzung  aufzuführen;  darunter  könnte  eine  An- 
merkung folgen  über  das  assimilierende  'Schwanken'  von  e  zu  i  hin- 
über: z.  B.  divite  —  diviti].  c2.  Die  Participien  auf  ans  und  ens  haben 
im  Abi.  neben  i  auch  die  seltnere  Endung  e,  wenn  sie'  usw.  (S.  39). 
f Anmerkung  2:  Auch  bei  einigen  Adjectiven  findet  sich  nebenbei  die 
Endung  e ;  z.B.  felix  —  f elici  und  seltner  f elice ,  iners  —  inerti  — 
inerte.'  —  Beim  Comparativ  würden  wir  die  Ablativ-Endung  i  in  eine 
Anmerkung  verweisen.  —  Bei  dem  Pronomen  hie  wäre  im  Plural  die 
Femininalform  haec  nachzutragen,  welche  bereits  mehrfach  in  die  Texte 
aufgenommen  ist. 

Mit  diesen  Bemerkungen  möge  das  grammatische  Werk  in  seiner 
verjüngten  Gestalt  bestens  empfohlen  sein! 

Dresden.  Pfuhl. 


•)  Ebenso  darf  man,  nebenbei  bemerkt,  einem  Sextaner  nicht  sagen, 
dasz  das  Wort  dies  im  Singular  ein  Commune  sei;  das  erfährt  der  Schü- 
ler Zeit  genug ,  wenn  ihm  das  Mascul.  in  sueum  et  sanguinem  "' 
gangen  ist. 


Pers.onalnotizen. 

(Unter  Mitbenutzung  des  f  Centralblattes '  von  Stiehl  und  der  f Zeit- 
schrift für  die  österr.  Gymnasien'.) 


Ernennungen,  Beförderungen,  Versetzungen,  Auszeichnungen. 

Altenburg,  SchAC.  am  Domgymnasium  zu  Naumburg,  \ 
Bernhard!,  SchAC.  an  der  Luisenstädtisqjien  Realschule f  als  ordent- 

zu  Berlin ,  '  >  liehe  Lehrer 

B  i  e  r  m  an  n ,  Dr.,  Adjunct  bei  der  Bitterakademie  zu  Bran- 1    angestellt. 

denburg,  / 

Bolze,  Dr.  W.,  ord.  Lehrer  an  der  Luisenstädtischen  Realschule  zu 

Berlin,  zum  f  Ob  erlehr  er'  befördert. 
Bracht,  SchAC.  an  der  Realschule  zu  Aschersieb en,i    j        ■»    Tehrer 
Buchholz,  Hülfslehrer  am  Gymnasium  zu  Cottbus,    >         °    *    11f 
Busch,  SchAC.  an  der  Realschule  zu  Perleberg,         )      angestellt. 
de  la  Croix,  Consistorialrath ,  zum  geh.  Regierungs-  und  vortragenden 

Rath  im  Ministerium  der  geistlichen' usw.  Angelegenheiten  zu  Ber- 
lin ernannt. 
Dahms,  Dr.  SchAC,  als  ord.  Lehrer  an  dem  französ.  Gymnasium  zu 

Berlin  angestellt. 
Ditt rieh,  Pfarrer- in  Bärsdorf,    zum  Regierungs-  und  Schulrath  bei 

der  Regierung  zu  Cöslin  ernannt. 

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Personalnotizen.  379 

Erdmann,  Seh  AG.,  als  wiss.  Hülfslehrer  am  Gymnasium  zu  Witten- 
berg angestellt. 

Eylau,  SchAC.,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Landsberg  a.  d.  W. 
angestellt. 

Fiege,  Elementarlehrer  an  der  Realschule  zu  Perleberg,  als  ordentl. 
Lehrer  an  der  mit  dem  Friedrich -Wilhelms -Gymnasium  zu  Berlin 
verbundenen  Realschule  angestellt. 

Gross,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Spandau,  in  gleicher  Eigenschaft 
an  der  Realschule  zu  Ruhrort  angestellt. 

Gudermänn,  SchAC,  als  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Leobschütz 
angestellt. 

Härtung,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Wittenberg  an- 
gestellt. 

Heibig,  Dr.,  Professor  u.  Conrector  an  der  Kreuzschule  zu  Dresden, 
•  ist  in  Anbetracht  seiner  Verdienste  um  deutsche  Litteratur  u.  Ge- 
schichte yon  der  philos.  Fac.  der  Univ.  Breslau  zum  Ehrendoctor 
ernannt. 

Held,  Dr.,  Privatdocent  und  Licentiat  der  Theologie  in  Zürich,  zum 
ord.  Professor  in  der  evangel.  theol.  Fac.  der  Universität  Breslau 
ernannt. 

Hermann,  SchAC.  an  der  Realschule  zu  Ruhrort,)      ,        «    Lehrer 

Hypitzsch,  SchAC  an  dem  Progymnasium  zu  See-(         ««™*«n* 
hausen,  ;         angestellt. 

Kawerau,  Turn-  und  Hülfslehrer  an  der  Realschule  zu  Perleberg,  als 
ord.  Lehrer  an  der  mit  dem  Friedr. -Wilhelms- Gymnasium  zu  Berlin 
verbundenen  Realschule  angestellt. 

Klapp,  Dr.,  SchAC.  an  dem  Fr.-Wilh.-Gymn.  zu  Posen,  als  ord.  Leh- 
rer angestellt. 

Koch,  Dr.,  ao.  Professor  in  der  philos.  Fac.  der  Univ.  Berlin,  erhielt 
das  Ritterkreuz  vom  k.  belg.  Leopoldorden. 

Langer,  Licentiat,  als  Religionslehrer  am  Gymnasium  zu  Neisse  an- 
gestellt. 

Löns,  SchAC.  an  dem  Gymnasium  zu  Culm,  1   ,        ,    Leh- 

Ludwig,  bisher  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Leob-J  anlest. " 

schütz,  am  kath.  Gymnasium  zu  Breslau,  * 

Marquard,  Waisenhausprediger  und  Lehrer  am  Pädagogium  zu  Zül- 
lichau,  erhielt  den  k.  preusz.  rothen  Adlerorden  IV  Cl. 

Mewes,  bisher  Collaborator,  als  ord.  Lehrer  am  evang.  Gymnasium 
zu  Glogau  angestellt. 

Mittermaier,  Dr.,  ord.  Professor  der  Rechtswissenschaft  an  der  Uni- 
versität Heidelberg,  groszh.  badischer  Geheimrath,  erhielt  das  Com- 
thurkreuz  des  bad.  Friedrichsordens  II  CL 

Ob  er  dick,  bisher  Lehrer  am  kath.  Gymnasium  zu  Breslau,  als  Ober- 
lehrer an  der  Realschule  zu  Neisse  angestellt. 

Reichel,  bisher  Hülfslehrer  an  der  Petri-Realschule ,  als  ord.  Lehrer 
bei  dem  Gymnasium  zu  Thorn  angestellt. 

Ritschi,  Dr.,  ord.  Professor  an  der  Universität  Bonn,  Geh.  Regierungs- 
rath,  ist  zum  Ehrenmitglied  der  philos.-histor.  Classe  der  k.  k.  Aka- 
demie der  Wissenschaften  zu  Wien  ernannt. 

Ruete,  Dr.,  ord.  Professor  der  Medicin  an  der  Univ.  Leipzig,  Geh. 
Medicinalrath,  erhielt  den  k.  preusz.  Kronenorden  III.  Cl. 

Schirrmann,  Hülfslehrer  an  dem  Gymnasium  zu,       ,        ,  T   , 
Schweidnitz,  l  °„'Z?u 

Schröder,  SchAC.  an  dem  Gymnasium  zu  Culm,   '         angestellt. 

S  tapp  er,  als  Religionslehrer  an  der  Ritterakademie  zu  Bedburg  an- 
gestellt. 

Steinhausen,  Dr.,    SchAC,   als  Collaborator  an  der  Realschule  zu 


Brandenburg  angestellt.. 


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380  Personalnotizen. 

Strack,  Dr.,  Oberlehrer  an  der  mit  dem  Friedr. -Wilhelms-Gymnasium 
verbundenen  Realschule  zu  Berlin,  als  r Professor'  prädiciert  und 
zum  stellvertretenden  Director  und  Prorector  dieser  Anstalt  ernannt. 

Tillich,  Dr.,  ordr.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Wittstock,  als  Ober- 
lehrer an  der  mit  dem  Friedrich- Wilhelms-Gymnasium  zu  Berlin 
verbundenen  Realschule  angestellt. 

Volkenrath,  Dr.,  bisher  Lehrer  an  der  Stadtschule  zu  Schwelm,  an 
der  Realschule  zu  Hagen  als  'Oberlehrer'  angestellt. 

Wachsmuth,  Dr.  SchAC,  als  ord.  Lehrer  an  dem  Friedr.-Wilhelms- 
Gymnasium  zu  Posen  angestellt. 

Wackernagel,  Dr.  W.,  ord.  Professor  in  der  phil.  Fac.  der  Univers. 
Basel,  zum  correspondierenden  Mitglied  der  k.  k.  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Wien  ernannt. 

Weise,  bisher  ord.  Lehrer  am  Domgymnasium  zu  Naumburg,  in  glei- 
cher Eigenschaft  bei  dem  Stiftsgymnasium  zu  Zeitz  angestellt. 

Zauritz,  bisher  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Perleberg,  in  glei- 
cher Eigenschaft  an  der  mit  dem  Friedrich- Wilheims-Gymnasium 
zu  Berlin  verbundenen  Realschule  angestellt. 

'Gestorben  s 

Adrian,  Dr.  Joh.  Valentin,  ord.  Professor  der  neueren  Sprachen  und 
Bibliothekar  der  Universität  Gieszen,  starb  im  Juni,  72  Jahr  alt. 
(Zahlreiche  Arbeiten  über  englische  Litteratur  und  engl.  Zustände.) 

Brehm,  Dr.  Christian  Ludwig,  seit  1813  Pfarrer  zu  Oberrenthendorf 
bei  Triptis,  starb,  78  Jahr  alt,  am  23  Juni.  (Der  Nestor  der  deut- 
schen Ornithologen.) 

Cohn,  Dr.  Beruh.,  Privatdocent  an  der  Universität  Breslau,  als  Natur- 
forscher bekannt,  starb  am  17  Juni  zu  Schöneberg  bei  Berlin. 

Cureton,  Dr.,  starb  im  56  Lebensjahre  zu  London.  (Berühmt  als 
gründlicher  Kenner  der  altsyrischen  Sprache  und  als  Herausgeber 
syrischer  Mss.  des  brittischen  Museums.) 

Knapp,  Dr.  Albert,  seit  1846  erster  Stadtpfarrer  an  der  St.  Leonhards- 
kirche  zu  Stuttgart,  geb.  am  25  Juli  1798  zu,  Tübingen,  starb  am 
18  Juni.  (Geistlicher  Liederdichter  voll  frommen  Sinns  and  nicht 
ohne  Kraft  der  Darstellung,  am  meisten  verwandt  mit  Fr.  Ad. 
Krummacher  und  Ph.  Spitta.  'Evangelischer  Liederschatz'.  <Chri- 
stoterpe'.) 

Meisner,  Paul  Traugott,  lange  Jahre  eine  Zierde  des  Polytechnicums 
in  Wien,  starb  im  Juli,  87  Jahr  alt.  (Berühmter  Chemiker;  all- 
gemein bekannt  durch  seine  Luftheizung  usw.) 

Schnitzlein,  Dr.  Eduard,  Prof.  hon.  der  Medicin  an  der  Universität 
Münohen,  geb.  1810,  starb  daselbst  am  21  Mai. 

Seals field,  Charles,  deutscher  Herkunft  und  mit  deutschem  Namen 
Seefeld  oder  nach  anderer  Vermutung  Postel,  angeblich  geb. 
1797  zu  Poppitz  bei  Znaim  in  Mähren,  starb  in  der  Schweiz,  wo- 
hin er  sich  nach  seinen  Weltwanderungen  zurückgezogen,  am 
26  Mai.  (Der  Vater  des  sogen,  geograph.  socialen  Romans.  'Der 
Legitime'.  fDer  Virey'.  fKajütenbuch'  usw.  Länder-  und  Völker- 
tableaux  in  groszartigen  Umrissen  und  im  saftigsten,  kräftigsten 
Colorit.) 

Zech,  Dr.,  ord.  Professor  der  Mathematik  und  Director  der  Sternwarte 
an  der  Universität  Tübingen,  starb  am  13  Juli. 


Druckfehler. 
Im  Aprilheft  (Jugendleben  M.  Neanders)  S.  177  Z.  2  fehlen  hinter 
Occistarum  die  Worte  Thomistarum,  Marialistarum ;    S.  178  Z.  6  v.  u. 
lies  YXuKtirnri  statt  yAuKornTi. 


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] 


Zweite  Abteilung- 


Sei*« 

26.  Erlebtes  und  Bewährtes  aus  dem  Gebiete  der  Erziehung. 
Fortsetzung  von  Jahrg.  1863  S.  445  ff. 333—844 

27.  Anz.  v.  G.  Schilling:  Die  verschiedenen  Grundansiehten 
über  das  Wesen  des  Geistes.    Vom  Prof.  Dr.  H.  Fritzscke 

in  Leipzig 344—350 

(20.)  Die  prosodische  und  metrische  Messung. der  Nibelungen- 
strophe (2).  Vom  Professor  Ed.  Olaweky  in  Lissa  .  .  .  351 — 362 
(22.)  Ueber  den  Gymnasialzeichenunterricht  und  den  darauf 
Bezug  habenden  Lehrplan  vom  2  Octbr.  1863  (2).  Von 
Otto  Gennerich,  Zeichenlehrer  und  Geschichtsmaler  in 
Berlin        363-372 

28.  Ueber  die  Verbal endung  -leren.    Vom  Oberlehrer  Dr.  K. 

G.  Andresen  in  Mülheim  a.  d.  Ruhr 373—375 

29.  Anz.  v.  A,  Hager;  Hebräisches  Vocabularium  für  die  Pri- 
maner und  Secundaner  der  Gymnasien.  Vom  Oberlehrer 
Buddeberg  in  Essen 375—377 

30.  Anz.  v.  H.  Middendorf  und  F.  Grüter:  1)  Latein.  Schul- 
grammatik für  die  unteren  Gymnasialklassen  und  2)  Lat. 
Schulgrammatik  für  die  mittleren  u.  oberen  Gymnasial- 
klassen.    Vom  Professor  Dr.  Pfuhl  in  Dresden    ....    377—378 

^ersonalnotizen 378—380 


Berichtigung. 

Die  Seite  331   dieser  Abteilung  gegebene  Notiz ,  den  Herrn  Professor 
^Dr  Wolff  am  Friedrichs-Werderschen  Gymnasium  zu  Berlin  betreffend, 
>eruht   auf   einem    Irtum  und  ist  dahin  zu  verstehen,  dasz  derselbe  in 
«ine  sogenannte   Oberlehrerstelle  eingerückt  ist. 


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Herrn  Dr.  Rudolph  Westphal  in  Breslai 

Neue  Sandstraase  12,  3  Treppen 

ersuche  ich  hierdurch,  seine  Verpflichtungen  gege: 
mich  unverzüglich  zu  erfüllen,  widrigenfalls  weiter 
Veröffentlichungen  über  seine  Handlungsweise  erfc 
gen  werden. 

LEIPZIG,  10.  August  1864. 

B.  G.  Teubner. 


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Zweite  Abteilung: 

für  Gymnasialp&dagogik  und  die  übrigen  Lehrf&cher9 

mit  Ausschlusz  der  classischen  Philologie, 
herasgegebei  ?§■  Prtfesstr  Dr.  Herain  MtsUs. 


0  (30.) 

Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungen- 
Strophe  im  MHD  und  NHD. 

(Fortsetzung  von  8.  962.) 


In  der  Versammlung  der  Gymnasiallehrer  zu  Berlin  am  13.  Hai  1863 
scheint ,  wie  aus  einem  kurzen  Referate  zu  ersehen  ist ,  Herr  Hdpfner  den 
am  Ende  des  XVI.  und  im  Anfange  des  XVII.  Jh.  unter  dem  Einflüsse  fran- 
zösischer und  holländischer  Dichtung  sich  immer  schneller  vorbereitenden 
Umschwung  der  deutschen  Verskunst  -eingehender  besprochen  zu  haben. 
Als  Wendepunkt,  von  wo  ab  sich  die  deutsche  Metrik  der  lateinisch-grie- 
chischen ganz  anbequemt  hat,  stellt  er  Opitzens  Uebersetzung  des 
Heinseschen  Lobgesangs  auf  die  Geburt  Christi  (1619)  fest. 

Es  liegt  hier  aber  die  Frage  sehr  nahe :  wie  ist  es  gekommen,  dasz  ein 
ganz  verschiedenes  rhythmisches  Grundgesetz  einer  fremden  Sprache,  das 
auf  der  Zeitdauer  der  Silben  im  Verse  beruht,  das  deutsche,  das  in  der 
begrifflichen  Verschiedenheit  und  dem  Tone  der  Silben  des  Verses  wur- 
zelt, innerhalb  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  hat  ganz  verdrängen  kön- 
nen? Antwort:  wie  sehr  der  Schein  auch  dagegen  ist,  das  altdeutsche 
rhythmische  Princip  waltet  auch  heute  noch  in  unsrer  Sprache. 

Der  wolthuende  Reiz  und  die  den  Vers  abschlieszende 
Kraft  des  Reimes,  die  feste  Zahl  der  Hebungen  auf  der 
einen  Seite,  die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung  auf 
der  andern  —  das  ist  der  Kernpunkt  aller  deutschen  Metrik. 

Von  diesen  drei  Hauptpunkten  haben  die  nachahmenden  Uebersetzer 
lateinischer  und  griechischer  Gedichte,  auszerdem  aber  auch  einzelne  uns- 
rer eignen  Dichter  den  ersten  Punkt  in  Betreff  des  Reimes  zum  Teil  fallen 
lassen ,  aber  —  wie  weiter  unten  gezeigt  werden  soll  —  nur  zu  ihrem 
eignen  Nachteil  und  Schaden. 

N.  Jahrb.  f  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  8.  26 


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382  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

Sonst  sind  es  zwei  Thatsachen,  die  den  nhd.  Uebersetzern  und  Dich- 
tern die  Anbequemung  an  die  antike  Rhythmik  ermöglicht  haben :  einmal 
1)  die  althergebrachte  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung 
und  2)  das  unterschiedslose  E  in  den  meisten  Endungen,  cf. 
oben  das  beim  Mhd.  darüber  Gesagte. 

Hat  ad  Nr.  1  der  Dichter  nach  dem  deutschen  Grundsatze  die  Frei- 
heit, die  Senkungen,  oben  weil  sie  keinMasz  syf  labischer  Zeitdauer  sind, 
im  Verse  teilweise ,  ja  ganz  wegzulassen  und  so  einsilbige  Füsze  zu  bil- 
den ,  so  steht  es  ihm  jetzt  andrerseits  ebenso  frei,  sie  zu  setzen  und  zwar 
a)  nach  der  Hebung  und  b)  vor  der  Hebung ,  woraus  sich  dann  die  Nach- 
ahmung der  steigenden  und  fallenden  Rhythmen  und  die  regelmäszige  Zäh- 
lung der  Silben  im  Verse  von  selbst  ergab. 

Nur  daran  bleibt  der  Dichter  auch  jetzt,  wie  früher,  gebunden ,  dasz 
die  Zahl  der  Hebungen  im  Verse  regelrecht  feststeht  und  die  Senkungen 
sich  zu  den  Hebungen  so  verhalten ,  dasz  die  betonten ,  concret  bedeut- 
samen Silben  (=  Hebungen)  vor  den  minder  bedeutsamen  (=  Senkungen) 
hervortreten,  dem  Ohr  und  dem  Verstände  durch  den  gröszern  Nachdruck 
des  Accents  als  solche  bezeichnet  werden  und  so  beiden  den  nötigen  An- 
halt bieten. 

NB.  1)  Des  deutschen  Verses  Anfang  ist  die  erste  Hebung ,  folglich 
sind  ursprünglich  nur  fairende  Rhythmen  möglich;  dies  gilt  z.  B.  auch 
von  der  mhd.  Nibelungen-Strophe.  2)  Der,  dieser  Strophe  gleichfalls 
eigene,  uralte  Auftakt  des  Verses  bot  aber  den  späteren  Dichtern  bei 
ihren  Nachahmungen  antiker  Metra  die  bequeme  Möglichkeit,  auszerden 
fallenden  auch  die  steigenden  Versmasze  der  Alten  nachzubilden. 
3)  Nach  der  mhd.  Metrik,  wenigstens  im  Nibelungen-Liede  ist  die  Senkung 
immer  einsilbig  (cf.  oben  beim  Mhd).  Bei  der  grundsätzlichen  Gleich- 
giltigkeit gegen  die  Senkung  im  deutschen  Verse  ist  es  aber  leicht  er- 
klärlich ,  dasz  später  der  Nachahmungstrieb  der  Uebersetzer  und  Dichter 
diese  Gleichgiltigkeit  weiter  ausdehnte,  so  dasz  man  je  nach  dem  Bedarf 
ein-  oder  zweisilbige  Senkungen  im  Verse  gebrauchte.  So  war  denn 
die  Nachahmung  vollständig  erreicht  und  alle  steigenden  und  fallenden 
Rhythmen  der  Griechen  und  Römer  in  die  deutsche  Sprache  eingeführt; 
denn  Nr.  1  gibt  den  antiken  Trochäus,  Nr.  2  den  antiken  lambus  und 
Nr.  3  den  antiken  Daktylus  und  Anapästus. 

Der  zweite  Umstand,  der  den  nhd.  Dichtern  die  Nachahmung  der 
antiken  Metra  ermöglicht  hat,  ist  aber  d  i  e  Thatsache,  dasz  fast  alle  früher 
starklautigen  Bildungssilben  jetzt  im  Nhd.  ein  unterschiedsloses  E  haben. 
Weder  im  Ahd.,  noch  im  Mhd.  hätte  die  Nachahmung  ebenso  gelingen  kön- 
nen, ja  der  Versuch  wäre  an  sich  zwecklos  gewesen.  Bei  den  vielen 
tonlosen  E  unsrer  Bildungssilben  bieten  sich  aber  jetzt  dem  nhd.  Dichter 
nach  Bedarf  und  Bequemlichkeit  der  Senkungen  für  den  Vers  so  viele  an, 
dasz  er  bei  der  Nachbildung  der  antiken  Thesis ,  mag  das  Versmasz  stei- 
gend oder  fallend,  die  Thesis  ein-  oder  zweisilbig  sein,  nicht  leicht  in 
Verlegenheit  kommen,  kann. 

Diese  beiden,  Thatsachen,  die  übrigens  das  deutsche  rhythmi- 
sche   Grundgesetz    selbst   nicht   berührt    und    in    seiner    wesentlichen 

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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  383 

Geltung  auch  in  der  gegenwartigen  Dichtung  nicht  verändert  haben,  be- 
fähigen die  deutsche  Sprache  vor  den  andern  europäischen  zur  Nach- 
ahmung aller  antiken  Metra.  Ohne  diese  beiden  Thatsachen  wäre  der 
Versuch  Opitzens ,  die  lateinisch-griechische  mit  der  deutchen  Metrik  aus- 
zugleichen, ganz  vergeblich  gewesen.  Warum  er  gelingen  konnte,  ist, 
so  scheint  es ,  nach  der  eben  geführten  Erörterung  von  selbst  klar. 

Der  Reim  ferner  —  und  zwar  von  Uralters  her  die  Alliteration,  vom 
IX.  Jahrh.  ab  der  stumpfe  und  später  auch  der  klingende  Vollreim  am 
Ende  —  eint  und  rundet  den  Vers  zu  einem  Ganzen  ab  und  ist  in  der 
Natur  der  deutschen  Sprache  tief  begründet  und  innig  mit  ihr  verwach- 
sen. Weder  der  bekannte  widersinnige  Vorschlag  Klopstock's ,  noch  alle 
Kunst  altclassischer  Philologen  hat  es  vermocht,  ungereimte  Uebersetzun- 
gen  und  ungereimte  deutsche  Gedichte  volkstümlich  zu  machen  und  ein- 
zubürgern. Mit  dem  ersten  deutschen  Gedicht,  das  die  Fesseln  der 
lateinischen  Sprache  noch  nicht  trägt,  mit  dem  Hildebrand -Liede  taucht 
zugleich  auch  der  Reim  und  zwar  in  der  Form  der  Alliteration  in  unsrer 
Litteratur  auf;  gleiches  Alter  haben  gewis  viele  von  den  prosaischen  foN 
melhafCen  Stabreimen ,  die  wir  auch  heute  noch  so  gern  hören  und  ge- 
brauchen. Den  Stabreim  hat  Otfried  durch  den  vollen  Schluszreim  in  seinem 
Krist  verdrängt,  der  später  im  Mhd.  immermehr  zu  Ansehn  und  hoher 
Blüte  und  teilweise  zu  solcher  Reinheit  gelangte,  dasz  selbst  unsre  form- 
gewandtesten Dichter  darin  einzelne  mhd.  durchaus  nicht  übertreffen.  Wenn 
nhd.  Dichter  später,  verführt  durch  den  Nachahmungstrieb  fremder  Vor- 
bilder, vereinzelt  auch  bisweilen  geneigt  waren,  diesen  Hauptreiz  deut- 
scher Dichtung  zu  gering  anzuschlagen  und  seine  den  Vers  ahschlieszende 
Kraft  zu  verkennen,  immer  griffen  sie  wieder,  wenn  sie  so  recht  von 
Herzen  zu  ihrem  Volke  sprechen  wollten ,  zum  Reime  zurück ,  und  der 
Reim  wird  im  deutschen  Liede  fortklingen ,  so  lange  es  eine  deutsche 
Sprache  gibt.  Denn  wie  die  anmutigen  Schallwellen  des  Echos  in  der  Na- 
tur das  Ohr  auch  des  Erwachsenen. zauberhaft  reizen,  einen  gleichen  Zau- 
ber übt  der  kürzeste  Reimspruch ,  als  Laut  und  Wiederlaut ,  schon  auf 
das  Kind  im  zartesten  Alter  —  neben  dem  geschichtlichen  der  sicherste 
Beleg,  dasz  der  Reim  unsrer  Sprache  ureigentümlich;  denn  das  Ohr  der 
anders  geschulten  Erwachsenen  kann  sich  an  fremde  Klänge  gewöhnen 
und  dadurch  verbilden  —  nicht  aber  das  des  Kindes  und  der  groszen 
Masse  des  Volks.  Von  Goethe's  längeren  Gedichten  z.  B.  ist  offenbar  das 
nationalste  Hermann  und  Dorothea ;  dennoch  ist  es  nicht ,  wozu  es  sonst 
so  sehr  geeignet  wäre ,  Volksbuch  geworden  und  zwar  wesentlich  des- 
wegen, weil  ihm  etwas  fehlt,  was  urdeutsch  ist,  nemlich  der  Reiz  des 
Reim6s  —  für  das  Ohr  des  Volkes  ein  Mangel,  den  ihm  keine  fremde, 
noch  so  künstliche  Form  ersetzen  kann. 

Will  man  nun  trotz  allem,  was  dagegen  spricht,  statt,  wie  man 
sollte,  von  Hebungen  und  Senkungen  des  Verses,  lieber  nach  der 
antiken,  aber  auf  unsre  Sprache  durchaus  nicht  passenden  Ausdrucks 
weise  von  Länge  und  Kürze  der  Silben  reden,  so  ist  die  Regel  für  den 
Vocal  im  Verse  sehr  einfach. 

Alle  Silben  im  Verse  1)  mit  dem  Hochton  und  Tiefton 

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384  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

mag  man  dann  Längen  und  2)  alle  unbetonten  Silben  Kürzen 
nennen,  z.  B.  ad  Nr.  1 :  Haus,  Fall;  matt,  grün;  fällt,  lobt;  jetzt,  gern; 
Haus-rath,  Glücks-fall ;  gras-grün ;  ebenso :  furcht-bar,  selt-sam,  hab-haft, 
Lab-sal,  Nakt-heit;  Reich- tum;  ad  Nr.  2:  Haus-es,  stritt-en,  grösz-er, 
glück-liche. 

NB.  Während  der  sogenannte  rhetorische  Accent  auch  der  tonlosen 
Silbe  den  Ton  verleihen  und  sie  so  im  Verse  zum  Träger  der  Hebung  machen 
kann ,  dienen  das  Pronomen ,  die  Präposition ,  Gonjunction ,  Interjecüon, 
das  pronominale  Adverbium,  wenn  sie  einsilbig  sind,  und  die  Form- 
wörter: hast,  hat,  wirst,  wird,  bin,  bist, ist,  sind  —  im  Verse  bald 
als  Hebung  bald  als  Senkung. 

Wollte^  man  wieder  eine  grundfalsche  Vorstellung  von  der  Sache 
erwecken,  so  dürfte  man  nur  diese  einsilbigen  Formwörter,  wie  es  leider 
selbst  in  deutschen  Grammatiken  geschieht,  nach  der  antiken  Metrik 
cMittelzeiten'  nennen.  Wären  demgemäsz  z.  B.  'auch'  und  'auf*  mit- 
telzeitig, so  müste  man  doch  folgerichtig  z.  B.  'auf  und  chaud'  im 
Lateinischen  auch  für  Mittelzeiten  halten.  Aber  jenes  ist  so  falsch,  wie 
dieses.  Gerade  die  Möglichkeit,  diese  einsilbigen  Form  Wörter  im  deut- 
schen Verse  bald  als  Hebungen,  bald  als  Senkungen  zu  verwenden,  ist 
der  beste  Beleg,  1)  dasz  die  Grundsätze  der  antiken  Metrik  auf  die  deutsche 
durchaus  nicht  passen  und  2)  dasz  alle  Kunst  von  M.  Opitz  und  seinen 
Nachfolgern  und  alle  noch  so  gelungenen  Nachahmungen  der  antiken 
Metra  durch  unsre  Dichter  das  Grundgesetz  der  deutschen  Metrik  von  den 
Hebungen  und  Senkungen  nicht  berührt  und  zerstört  haben. 

Die  zwiefache  Verwendung  der  einsilbigen  Formwörter  im  Verse 
hängt  nemlich  wiederum  durchaus  nicht  von  der  Quantität  ihrer  Silben, 
sondern  von  der  'Silbenposition',  d.h.  von  ihrer  begrifflichen 
Beziehung  zu  den  benachbarten  Silben  im  Verse  ab.  Das  ein- 
silbige Formwort  hat  keinen  so  concret  bedeutsamen  Begriff  als  die 
Stammsilbe  des  Vollwortes;  es  drückt  ja  nur  in  ähnlicher  Weise,  wie  die 
Bildungssilben,  die  Beziehung  und  Verbindung  der  Worte  im  Satze  aus, 
aber  nicht  wie  die  Stammsilbe  des  Vollwurtes  den  concreten  Gegenstand 
oder  die  concrete  Bewegung  im  Natur-  und  Geistesleben. 

Darum  neigt  —  gemäsz  der  'Silbenposition'  —  das  einsil- 
bige Formwort  vor  einer  Hebung,  aber  namentlich  zwischen  zweien 
zur  Senkung  (=  Kürze?),  vor  einer  oder  zwischen  zwei  Senkungen 
dagegen  zur  Hebung  (=  Länge?)  z.  B.  mir  bangt's  (=  ~  -)  und  graut's 
vor  diesem  Mann;  und  mir  (==  ~-)  gehört  die  ganze  Welt;  von  der 

(;=  -  J)  Stirne  heisz;  von  allen  (= )  Dingen  auf  (=  -  -)  der 

Welt;  auf  Gott  (=  --)  und  nicht  (=  --)  auf  meinen  Rath;  nicht 
ver-  (=  -  J)  zagen,  fröhlich  wagen  usw.  Diese  wenigen  Beispiele,  die 
sich  von  selbst  zu  unzähligen  ergänzen,  zeigen,  dasz  es  bei  der  doppelten 
Verwendung  ein-  und  desselben  Formwortes  im  Verse  nicht  auf  seine 
Quantität,  sondern  lediglich  auf  seine  geringere  Bedeutsamkeit  und  seine 
Stellung  zu  den  benachbarten,  begrifflich  bedeutsamen  oder  un be- 
deutsamen, durch  den  Ton  hervorgehobenen  oder  gesenkten 
Silben  ankommt. 


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Die  prosodische  uud  metrische  Messung  der  Nibelungenslrophe  usw.  385 

Die  neuhochdeutsche  Nibelungen -Strophe. 
A)  Die  modernisierte. 

Gleich  im  Eingange  der  Abhandlung  ist  der  Zweifel  ausgesprochen, 
ob  ein  ohneallenBeweis  aufgestellter  Satz,  wie  der  obige  von  Otto 
Marbach,  den  unkundigen  Leser  in  das  Wesen  und  die  Eigentümlichkeit 
der  Nibelungen-Strophe  9  sei  es  der  mhd.,  sei  es  der  nhd.  einzuführen 
geeignet  sei.  Der  Zweifel  erschien  um  so  gerechtfertigter,  einmal  weil 
es  sich  hier  um  .die  grosze  Zahl  der  Gebildeten  handelt,  die  gegen  eine 
blosze,  noch  dazu  allen  ihren  Grundanschauungen  widersprechende  Be- 
hauptung eines  Andern  ihre  Ansicht  zu  wandeln  nicht  gewohnt  sind. 
Dann  sind  die  aus  der  antiken  Metrik  in  die  deutsche  im  Laufe  der  letzten 
zwei  Jahrhunderte  herübergekommenen  Grundanschauungen  so  weit  ver- 
breitet und  unter  Beihülfe  der  Gymnasien  so  fest  eingewurzelt,  dasz  es 
galt,  den  Kern  aus  seiner  Umgebung  herauszuschälen  und  das  deutsche 
rhythmische  Grundgesetz,  das  in  unsrer,  wie  in  der  mhd.  Sprache,  auch 
heute  noch  waltet,  der  fremdartigen ,  antiken  Hülle  zu  entkleiden.  Das 
war  aber,  so  scheint  es,  ohne  Darlegung  der  wesentlichsten  prosodi- 
schen  und  metrischen  Grundregeln  der  mhd.  und  nhd.  Sprache 
nicht  wol  möglich.  Der  hier  betretene  Weg  ist  zwar  länger,  aber  viel- 
leicht führt  er  gerade  deswegen  sicherer  zum  Ziele;  jedenfalls  aber  hat 
er  den  Vorteil ,  dasz  die  folgende  Erörterung  der  Sache  selbst  sich  ganz 
kurz  fassen  läszt. 

Die  Nibelungen-Strophe,  wie  sie  sich  bei  Uhland  (Graf  Eber- 
hard der  Rauschebart ,  des  Sängers  Fluch) ,  bei  Ghamisso  (Abdallah)  und 
Andern  findet,  bietet  auch  dem,  der  mit  der  altdeutschen  Metrik  nicht 
vertraut  ist ,  wenig  Anstosz ;  sie  ist  im  Ganzen  nach  der  antiken  Metrik 
gemessen  und  Hebung  und  Senkung  kehren  —  ohne  einsilbige  Füsze  — 
regelmäszig  wieder.  Nach  altdeutscher  Weise  läszt  sich  die  Strophe  durch 
folgendes  Schema  darstellen : 

III  —  I  I  I  4 mal.  Stumpfe  Reimformel:  aabb. 
Das  heiszt:  Die  Strophe  besteht  aus  4  Langzeilen;  jede  von  diesen  zerfällt 
in  zwei  hier  durch  den  Gedankenstrich  geteilte  Kurzzeilen;  jede  Kurzzeile 
hat  3  Hebungen;  die  ersten  Vershälften  gehen  klingend,  die  zweiten 
stumpf  aus ;  folglich  ist  der  Reim ,  da  nur  die  Langzeilen  auf  einander 
reimen,  durchweg  stumpf. 

Die  Abweichung  der  modernisierten  Strophe  von  der  antiken  Metrik 
zeigt  sich  höchstens  darin,  dasz  Uhland  1)  neben  einsilbigen  auch  zwei- 
silbige Senkungen  verwendet  und  2)  dasz  jede  Langzeile  in  der  Mitte ,  da 
die  erste  Vershälfte  klingend  schlieszt  und  die  zweite  immer  mit  der  Sen- 
kung beginnt,  einen  Einschnitt,  einen  Ruhepunkt  enthält,  der  angenehm 
und  wolthuend  auf  das  Ohr  wirkt  und  der  Strophe  auch  in  dieser  Form 
einen  hohen  Reiz  verleiht.  Der  Grund  dieses  Reizes  liegt  höchst  wahr- 
scheinlich gerade  darin ,  dasz  mitten  im  Verse  ganz  gegen  die  antike 
Metrik  —  Thesis  und  Thesis  —  um  hier  einmal  diesen  Ausdruck  zu  ge- 
brauchen —  auf  einander  stoszen. 

Da  Uhland  die  Senkungen  regelmäszig  setzt,  der  lateinisch-griechi- 

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386  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

sehen  Messung  sich  darin  anbequemend,  so  liesze  sich  für  die  Strophe, 
was  freilich  den  Anfänger  in  der  richtigen  Auffassung  der  Sache  leicht 
irren  könnte,  nach  antiker  Messung  auch  dies  Schema  aufstellen: 

wj.|wjl|wj.|w||  vi|wi|wi|   4mal.  Stumpfe  Reimformel  der 

Langzeilen :  aa  bb. 
NB,  Unland  ist  in  Aller  Händen,  Beispiele  also  überflüssig.  Der 
Ruhepunkt  in  der  Mitte  der  Langzeile  ladet  die  Dichter  aber  von  selbst 
ein,  diese  zu  teilen  und  so  1)  aus  zwei  Langzeilen  eine  neue  Strophe  von 
vier  Versen,  oder  2)  aus  allen  vier  Langzeilen  der  Strophe  eine  neue 
von  acht  Versen  zu  machen.  Der  Reim  wechselt  dann  natürlich  und  ist 
teils  klingend,  teils  stumpf;  im  ersten  Falle  gilt  die  Formel  ab  ab,  im 
zweiten  die  Formel  ababeded.  Endlich  gibt  es  3)  auch  eine  neue 
Strophe  von  vier  Verseng  in  der  nur  zwei  Kurzzeilen  reimen,  während 
die  beiden  andern  ungereimt  sind.  Nr.  3  findet  sich  häufig  im  Volksliede 
und  den  diesem  sich  nähernden  lyrischen  Gedichten  von  Goethe  und  Heine 
und  ihrer  vielen  Nachahmer.  In  dem  häufigen  Gebrauche  der  zweisilbigen 
Senkung  neben  der  einsilbigen  zeigt  sich  die  Gleichgültigkeit  gegen  die- 
selbe (vgl.  oben),  und  diese  hebt  den  Wollaut  und  den  Reiz  der  Form  so, 
dasz  das  Ohr  gerade  dadurch  sehr  angenehm  berührt  wird. 

Beispiele: 

ad  Nr.  1.  Fr.  Rückert.  Die  Gräber  zu  Ottensen. 

Von  Braunschweig  ist's  der  Alte, 
Karl  Wilhelm  Ferdinand , 
Der  vor  des  Hirnes  Spalte 
Hier  Ruh  im  Grabe  fand. 

Fr.  Rückert.   Abendlied. 
Ich  stand  auf  Berges  Halde, 
Als  Sonn*  hinunter  gieng , 
Und  sah  wie  überm  Walde 
Des  Abends  Goldnetz  hieng. 

ad  Nr.  2.  G.  Schwab.  Der  Hirte  von  Teinach. 
Bei  Teinach  lag  ein  Hirte 
Und  schlief  im  grünen  Gras, 
Derweil  sein  Herdlein  irrte 
Und  frische  Kräuter  las ; 
Den  führt  um  ein  Jahrhundert 
Ein  seltner  Traum  zurück; 
Er  stand  und  warf  verwundert 
Ins  Dörflein  seinen  Blick.  *) 


*)  Cf.  Schwab 's  *Mahl  zu  Heidelberg»,    worin  dieselbe  achtzeilitre 
Strophe.  * 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenslrophe  usw.  387 

ad  Nr.  3.  H.  Heine.  Die  Wallfahrt  nach  Kevlaar. 
Am  Fenster  stand  die  Mutter, 
Im  Bette  lag  der  Sohn. 
c  Willst  du  nicht  aufstehn,  Wilhelm, 
Zu  schaun  die  Procession?' 

clch  bin  so  krank,  o  Mutter, 
Dasz  ich  nicht  hör  und  seh; 
Ich  denk'  an  das  todte  Gretehen; 
Da  thut  das  Herz  mir  weh.' 

# 
Du  bist  wie  eine  Blume 
So  hold  und  schön  und  rein : 
Ich  schau  dich  an,  und  Wehmuth 
Schleicht  mir  ins  Herz  hinein. 

Mir  ist  als  ob  ich  die  Hände 
Aufs  Haupt  dir  legen  sollt, 
Betend  dasz  Gott  dich  erhalte 
So  rein  und  schön  und  hold. 

W.  Goethe.  Schäfers  Klagelied. 
Da  droben  auf  jenem  Berge, 
Da  steh  ich  tausendmal 
An  meinem  Stabe  gebogen 
Und  schaue  hinab  ins  Thal. 

Dann  folg'  ich  der  weidenden  Herde, 
Mein  Hundchen  bewahret  sie  mir. 
Ich  bin  herunter  gekommen 
Und  weisz  doch  selber  nicht  wie. 

A.  Ghamisso.  Das  Schlosz  Boncourt. 
Ich  träum*  als  Kind  mich  zurücke 
Und  schüttle  mein  greises  Haupt. 
Wie  sucht  ihr  mich  heim,  ihr  Bilder, 
Die  lang  ich  vergessen  geglaubt. 

Hoch  ragt  aus  schatt'gen  Gehegen 
Ein  schimmerndes  Schlosz  hervor: 
Ich  kenne  die  Thürme ,  die  Zinnen , 
Die  steinerne  Brücke,  das  Thor. 

Zu  diesen  dreierlei  Beispielen  und  zur  Strophe  Uhland's  selbst,  die  ihre 
Grundlage  ist,  wäre  nur  dies  Eine  zu  bemerken,  dasz  für  das  deutsche 
Ohr  der  Rhythmus  viel  gefälliger  klingt,  wenn  man  <Jie  Verse  nicht  nach 
der  antiken  Metrik  iambisch  liest,  sondern  die  Senkung  vor  der  ersten 
Hebung  als  das,  was  sie  ursprünglich,  z.  B.  auch  in  der  mhd.  Nibelungen  - 
Strophe  war,  nemlich  als  Auf  takt  und  in  Folge  dessen  den  ganzen  Vers 
als  fallenden  Rhythmus  auffaszt. 


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388  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

B.  Die  altdeutsch  gemessene  neuhochdeutscheNibelungen- 
(undKudrun-)  Strophe. 

Vorbemerkungen. 
In  Betracht  fallen  hier:  1)  die  feste  Zahl  der  Hebungen;  5) 
die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung  und  3)  der  Auftakt. 

Was  Nr.  2  betrifft,  so  zeigt  sich  in  der  modernisierten  N.-Strophe 
Uhland's  und  ihren  Abarten  die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkungen  nur 
darin,  dasz  einsilbige  und  zweisilbige  im  Verse  mit  einander  wech- 
seln. Auf  irgend  ein  Gesetz  der  antiken  Metrik  ist  dieser  Wechsel  nicht 
zurückzuführen;  im  Gegenteil  solche  Verse  verstoszen  ja  gerade  gegen 
den  Satz  von  Opitz,  dasz  Verse  desselben  Maszes  gleichviel  Silben  ent- 
halten müssen.  Worauf  haben  sich  nun  unsre  Dichter  gestützt,  als  sie 
sich  diese  Freiheit  erlaubten?  Offenbar  nnr  auf  ihr  deutsches  Ohr  und  auf 
ein  dunkles  Gefühl,  dasz  die  Senkungen  im  Verse  Nebensache  seien,  Haupt- 
sache dagegen  die  feste  Zahl  der  Hebungen.  Welcher  Dichter,  durch  ein 
ganz  richtiges  Gefühl  geleitet,  von  dieser  Freiheit,  zweisilbige  unter  ein- 
silbige Senkungen  zu  mischen,  zuerst  Gebrauch  gemacht,  ist  schwer  fest- 
zustellen. Thatsache  ist:  nachdem  Goethe  und  Heine  gerade  in  sehr  be- 
liebten, formgewandten  Gedichten  den  Anfang  gemacht,  sind  ihnen  in 
dem  freiem  Gebrauche  sehr  viele  lyrische  Dichter  nachgefolgt.  Es  geschah 
dies  unbewust;  es  waltete  blosz  das  dunkle  Gefühl  ob,  dasz  die  deut- 
sche Sprache  dem  Dichter  eine  gröszere  Freiheit  gestatte ,  als  nach  den 
aus  der  Fremde  entlehnten  Regeln  Opitzens  erlaubt  schien.  Denn  dieser 
freiere  Gebrauch  ein  -  oder  zweisilbiger  Senkungen  findet  sich  schon  bei 
Dichtern  der  Zeit,  in  welcher  das  altdeutsche  Gesetz  von  den  Hebungen 
und  Senkungen  nicht  bekannt,  vielmehr  die  Regeln  der  antiken  Metrik  masz- 
gebend  waren  vgl.  z.  B.  Goethe's  und  Herder's  'Erlkönig',  'Erlkönigstoch- 
ter',  'das  Kind  der  Sorge9  und  viele  ältere  Gedichte  der  Art. 

Ist  diese  Freiheit  der  nhd.  Dichter,  mit  welcher  sie  zweisilbige  Sen- 
kungen unter  einsilbige  mischen,  im  Grunde  eine  Abweichung  Von  der 
altdeutschen  Versmessung,  wenigstens  von  der  des  Maszes  in  der  mhd. 
Nibelungen-Strophe,  da  in  dieser  in  aller  Regel  nur  einsilbige  Sen- 
kungen vorkommen ,  so  ist  darin  jedenfalls  ein  Fortschritt  zum  Bessern 
nicht  zu  verkennen.  So  dunkel  bei  den  älteren  Dichtern  der  classischen 
Periode  auch  das  Gefühl  war,  das  sie  dabei  leitete,  immer  lag  ihm  die 
echtdeutsche  Regel  von  der  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung  zu  Grunde. 
Die  Folge  war,  dasz  sich  die  Dichter,  namentlich  die  lyrischen,  von  der 
ängstlichen  Sorge  genauester  Silbenzählung  in  Versen  desselben  Maszes 
später  immer  mehr  frei  machten  und  an  eine,  ihnen  durch  das  rhyth- 
mische Grundprincip  unsrcr  Sprache  gestattete,  freiere  Bewegung  ge- 
wöhnten. Da  nun  sehr  viele  von  so  gemessenen  Gedichten  gerade  zu  den 
formschönsten  und  beim  Volke  beliebtesten  gehörten ,  so  musten  sie  sich 
auch  die  Gelehrten,  die  nach  der  antiken  Metrik  und  nach  Opitzens  Regeln 
geschult  waren,  gefallen  lassen  und  fanden  endlich  an  ihnen,  wenn  auch 
zunächst  etwas  widerwillig,  dasselbe  Wolgefallen,  wie  die  grosze  Zahl 
der  Gebildeten. 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  389 

Aber  selbst  die  älteren  Dichter  der  classischen  Periode  (vor  1800) 
sind  noch  einen  Schritt  weiter  gegangen.  Sie  haben  nicht  blosz  zwei- 
silbige Senkungen  unter  einsilbige  gemischt,  sondern,  was  ihnen  nach 
altdeutscher  Messung  frei  steht ,  neben  der  festen  Zahl  der  Hebungen  die 
Senkung  auch  ganz  weggelassen ,  was  gegen  M.  Opitzens  Regeln  schnur- 
stracks verstöszt.  / 

Die  Weglassung  der  Senkung  im  Eingange  des  Verses  in  der  Ballade, 
ja  selbst  im  Drama  ist  bei  Schiller  durchaus  nicht  unerhört.  Die  folgen- 
den Verse: 

'Mit  fremden  Schiffen  reich  beladen 
Kehrt  |  zu  den  heimischen  Gestaden 
Der  Schiffe  mastenreicher  Wald'. 

'Und  die  Ritter 

Se|hen  hinab  |  in  das  wilde  Meer9. 

'Und  ein  Edelknecht 

Tritt  |  aus  der  Knap|pen  zagendem  Chor.' 

'Und  schwarz  aus  dem  weiszen  Schaum 
Klafft  ]  hinunter  ein  gähnender  Spalt 
Grundjlos  als  giengs  |  in  den  Höllenraum.' 

'Und  geheimnisvoll  über  dem  kühnen  Schwimmer 
Schlieszt  |  sich  der  Ra|chen;.er  zeigt  sich  nimmer.' 

'Und  er  ist's  und  hoch  in  seiner  Linken 
Schwingt  |  er  den  Bejcher  mit  freudigem  Winken.' 

'Auf  ihres  eignen  Tempels  Schwelle 

Trotzt  |  er  vielleicht  |  den  Gottern,  mengt  —  \ 

'Besinnungraubend ,  herzbethörend 
Schallt  |  der  Erinjnyen  Gesang.' 

'Und  Stille  wie  des  Todes  Schweigen 
Liegt  |  überm  gan|zen  Hause  schwer.'  — 

'Und  sieh !  in  der  Fürsten  umgebenden  Kreis 
Trat  |  der  Sänjger  im  langen  Talare.' 

'Sterjben  ist  nichts  |,  doch  leben  und  nicht  sehen  (Teil). 

'Soljcher  Gewaltjthat  hätte  der  Tyrann 
Wi|der  die  Frei|e,  Edle  sich  vorwogen'.  (Teil) 

mit  ihren  Abweichungen  sind  ein  Beweis  dafür,  dasz  auchjetzt  noch 
im  deutschen  Verse  nur  dieconcretbedeutsamen  und  eben  deswegen 
betonten  Silben ,  d.  h.  die  Hebungen  zählen ,  während  die  minder 
bedeutsamen  und  eben  deswegen  tonlosen,  als  Senkungen,  stehen 
oder  fehlen  können.  So  unverwüstlich  und  ureigentümlich  ist  dieses 
deutsche  rhythmische  Grundprincip ,  dasz  die  allermeisten ,  trotzdem  sie 
von  Jugend  auf  an  die  antike  Silbenzählung  grundsätzlich  gewöhnt  waren, 
so  gemessene  Verse  gelesen,  auswendig  gelernt  und  in  Geist  und  Herz 


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390  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

aufgenommen  haben,  ohne  an  der  Form  zu  kritteln  und  sich  im  Genüsse 
stören  zu  lassen. 

Die  angedeuteten  Abweichungen  bestehen  natürlich  darin:  Schiller 
hat,  was  ihm  nach  deutscher  Versmessung  frei  stand,  freilich  nur  im 
Eingange  des  Verses  die  Senkung,  weggelassen  d.  h.  einsilbige  Füsze 
gebraucht,  die  nach  der  antiken  Verskunst,  wo  die  Thesis  immer  im 
regelmäszigen  Verhältnis  zur  Arsis  steht,  völlig  unstatthaft  wären. 

Den  Versuch,  Schiller's  'Taucher'  nach  antikem  Masze  zu  lesen, 
musz  man  vornherein  aufgeben ;  die  Verse  sind  eben  nicht  antik  gemessen. 
Wer  wurde  aber  das  schöne  Gedicht  blosz  deswegen ,  weil  die  Griechen 
und  Römer  ihre  Verse  anders  gebaut,  aus  der  deutschen  Litteratur  hinaus- 
stoszen  und  aus  unsern  Schulen  verbannen  wollen?  Ein  pedantischer 
Gelehrter  könnte  freilich  den  Vorschlag  machen ;  aber  das  Volk  wurde  ihm 
heim  leuchten,  und  für  Spott  und  Hohn  hätte  er  nicht  zu  sorgen. 

Die  Strophe  im  'Taucher'  besteht  1)  aus  6  Versen,  von  denen  die 
4  ersten  durch  die  stumpfe  Reimformel  ab  ab  und  die  2  letzten  durch  die 
klingende  c  c  verbunden  sind.  2)  Die  Zahl  der  Hebungen  ist  4 ;  der  zweite 
Vers  hat  meist  nur  3  Hebungen,  aber  ohne  feste  Regel.  3)  Ein-  und  zwei- 
silbige Senkungen  wechseln  mit  einander.  Gerade  dieser  Wechsel  ist 
aber  wolthuend  für  das  Ohr  und  ganz  geeignet,  die  ruhigeren  und  auf- 
geregteren Stimmungen  des  Gemüths,  in  die  der  Hörer  abwechselnd  ver- 
setzt werden  soll ,  passend  und  zutreffend  auszudrücken. 

Fragt  nun  Einer:  wie  in  aller  Welt  soll  ich  den  Taucher  vorlesen? 
Antwort:  Lasz  alle  Regeln  der  antiken  Metrik  bei  Seite  und  lies  gerade 
so,  wie  du  von  der  Mutter  reden  und  betonen  gelernt  hast;  dann  wirst 
du  von  selbst  und  sicher  die  concret  bedeutsamen  Silben  —  die  Hebun- 
gen —  vorklingen  und  die  minder  bedeutsamen  —  die  Senkungen  — 
zurücktreten  lassen.  Die  abwechselnde  Verteilung  ein-  und  zweisilbiger 
Senkungen ,  die  sich  dem  Wechsel  der  Gemütsbewegung  kunstreich  an- 
schlieszt,  und  der  den  Vers  abrundende  Reim  wird  das  üebrige  thun,  um 
des  Zuhörers  volle  Teilnahme  und  rechte  Stimmung  zu  erwecken. 

Von  den  übrigen  Balladen  schlieszt  sich,  was  die  metrische  Form 
betrifft,  die 'Bürgschaft'  dem  'Taucher*  am  nächsten  an.  Schiller  hat 
Tausende  von  Versen  nach  der  antiken  Metrik  regelrecht  gemessen  — 
wer  wollte  also  behaupten,  er  habe  gerade  in  dem  beredeten  Gedicht  aus 
Unkunde  einsilbige  unter  zweisilbige  Füsze  und  zweisilbigeSen- 
kungen  unter  einsilbige  gemischt?  Trotzdem  beruhen  diese  seine  Abwei- 
chungen nicht  auf  klarer  Einsicht  in  die  Sache,  nicht  auf  der  Bekanntschaft 
mit  dem  altdeutschen  Versmasze,  sondern  vielmehr  nur  auf  dem  dunklen 
Gefühle,  dem  sein  Ohr  zustimmte,  dasz  man  deutsche  Verse  so  messen 
könne.  Die  seit  2  Jh.  zurückgedrängten,  fast  verschollenen  Regeln  all- 
deutscher Rhythmik  waren  noch  nicht  wieder  entdeckt  und  festgestellt; 
dies  ist  erst  seit  den  Zwanzigern  unsers  Jahrhunderts  durch  Lacfimann  ge- 
schehen. Beim  Erscheinen  des  Tauchers*  war  gewis  die  grosze  Mehrzahl 
geneigt,  in  so  oder  ähnlich  gemessenen  Versen  fehlerhafte,  oder  gar 
Kiatl4ver$6  zu  finden. 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  391 

Schema  der  nhd.  altdeutsch  gemessenen  Nibelungen-  (und 
Kudrun-)Strophe. 

Im  Gegensalz  zu  Schiller's  und  der  älteren  Dichter  vereinzelten  Ab- 
weichungen von  der  antiken  Versmessung  sind  die  Abweichungen  in  den 
folgenden  Gedichten  von  Goethe,  Unland  und  J.  Kerner  und  in  den  nach 
diesen  stehenden  Strophen  von  Simrock  und  Ploennies  bewust  und  ab- 
sichtlich und  fuszen  auf  der  Kenntnis  der  altdeutschen  Versmessung. 

1)  W.Goethe.  Ein  Gleiches.     2) L. Unland.  DasSchlosz  amMeere. 
(mit  2  Hebungen)  (mit  3  Hebungen) 

Ueber  allen  Wipfeln  Hast  |  du  das  Schlosz  gesehen, 

Ist  Ruh ;  Das  hohe  Schlosz  am  Meer? 

In  allen  Gipfeln  Goljden  und  rosig  wehen 

Spürest  du  Die  Wellen  darüber  her. 

^aum  einen  Hauch;  Der  wind  und  deg  Meereg  Wallen 
Die  Vogelein  schweigen  im  Walde ;     Ga|ben  sie  frischen  K,      ? 

Warte  nur !  balde  Vernahmst  du  aus  hohen  Hallen 

Ruhest  auch  du !  Sai|ten  und  Fe8tgesang? 

Die  Winde  und  Wogen  alle 
Lajgen  in  tiefer  Ruh. 
Einem  —  Klage]  lied  aus  der  |  Halle 
Hört  |  ich  mit  Thränen  zu. 

3)  J.  Kerner.   Die  zwei  Särge. 
Zwei  —  Särge  |  stehen  |  einsam  | 
In  des  —  alten  |  Domes  |  Hut.  | 
König  —  Ottmar  |  liegt  in  dem  |  einen  | 
In  dem  — -  andern  der  |  Sänger  |  ruht.  | 

Der  —  König  |  sasz  einst  |  mächtig  | 
Hoch  —  auf  der  |  Väter  |  Thron;  | 
Ihm  —  liegt  das  |  Schwert  in  der  |  Linken  | 
Und  —  auf  dem  )  Haupte  die  |  Krön.  | 

Alle  drei  Gedichte  stehen  zur  antiken  Metrik  in  vollem  Gegensatze.  Was 
sie  zu  echtdeutschen  macht  und  ihrer  Form  einen  besondern  Reiz  ver- 
leiht, das  ist:  1)  die  den  Vers  abschlieszende  Kraft  des  Reimes;  2)  die 
feste  Zahl  der  Hebungen  und  3)  die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkungen, 
von  denen  die  ein-  oder  zweisilbigen  vor  der  ersten  Hebung  den  Auf- 
takt bilden.  Nr.  2  und  3  sind  nach  dem  Schema  der  zerteilten  N.-Strophe, 
wie  es  oben  bei  F.  Rückert's  Gedicht:  Die  Gräber  von  Ottensen  an- 
gegeben ist ,  gebildet ;  unterscheiden  sich  aber  von  diesem  Schema  durch 
den  freieren  Gebrauch  einsilhiger  Füsze  (vgl.  Nr.  2)  und  des  ein-  oder 
zweisilbigen  Auftakts.  Nur  in  Nr.  1  stehen  regellos  im  ersten  und  dritt- 
letzten Verse  3,  statt  2  Hebungen. 


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392  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

S  im  rock.  Amelungenlied  2.  Teil.   Die  tleib  (Strophe  2  und  3). 
Anrede  der  Frau  Saga  an  den  Dichter. 

Wer  —  soll  zu  |  Ende  |  sinjgen  || 

den  —  deutschen  |  Heldenjsang?  | 
Lasz  —  ab  von  |  andern  |  Dinjgen;  || 

eh  —  dieses  |  dir  ge|lang.  ) 
Wo  —  zu  das  |  irre  |  Stre|ben?  || 

ver  —  liere  |  nicht  dein  |  Wort.  | 
Was  —  ich  dir  |  einge|ge|ben,  || 

das  —  spült  die  |  Wel|16  nicht  |  fort  | 

Die  —  theure  |  Heimat  |  prei|sen  || 

das  —  ist  wol  J  gut  und  |  schön  | 
Doch  —  sollten  |  deine  |  Wei|sen  || 

das  —  Vaterjland  erjhohn;  | 
Ihm  —  hast  du  |  dich  ver|pfli|chtet,  || 

es  —  ist  so  |  grosz  und  |  hehr;  | 
Denkst  —  du  der  |  Jugend  |  Träu|me,  || 

der  —  frühen  |  Ei[de  nicht  |  mehr?  | 

Simrock.   Nibelungenlied.  8.  Abenteuer  Str.  1. 
Von  —  dannen  |  gieng  da  |  Siegfried  || 

zum  —  Hafen  |  an  den  |  Strand  ; 
In  —  seiner  |  Tarn|kap|pe,  (| 

wo  —  er  ein  |  Schifflein  |  fand.  | 
Darin  —  stand  |  unge|se|hen  || 

König  |  Siegmund's  |  Kind;  | 
Er  —  führt  es  |  bald  von  |  danjnen  || 

als  —  ob  es  |  we|ht6  der  |  Wind.  | 

Das  diesen  Strophen  Simrock's  zu  Grunde  liegende  Schema  ist  das  oben- 
stehende der  mittelhochdeutschen  Strophe ;  daher  sind  zur  Bezeich- 
nung 1)  des  Auftakts,  2)  der  Hebungen  und  3)  des  Schlusses  der  ersten 
Kurzzeilen  auch  dieselben  Zeichen  gebraucht.  In  Betreff  der  gleich  folgen- 
den Bemerkung  (Nr.  4.)  ist  vornherein  hervorzuheben,  dasz  das  mhd.  Vor- 
bild der  Strophe  dem  Uebersetzer  acht  Kurzzeilen  mit  gehobenem  ton- 
losem E  in  dem  3.  Fusze  in  groszer  Zahl  darbietet  z.  B. 

des  —  bin  ich  |  eijn£  bejstan  | 

die  —  mine  |  mftjgä  ver| klagen  |  (=  klag'n) 

dar  —  umbe  |  scheljtln  be|gan  | 

an  —  iu  |  sel|b£n  gejnuoc  | 

daz  —  wart  mit  |  sorjg^n  gejtan.  |  (aus  dem  letzten  Abenteoer.) 
Dies  ahmt  Simrock  nicht  blosz  in  der  achten  Kurzzeile  der  obigen  drei 
nhd.  Strophen: 

Idas  —  spült  die  |  Wel|14  nicht  |  fort.  | 
der  —  frühen  |  Ei|d£  nicht  |  mehr.  J 
als  —  ob  es  |  wejhtä  der  |  Wind,  j 

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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  393 

oft  nach,  sondern  auch  in  andern.  Was  man  hierin  der  Kunst  der  Nach- 
ahmung des  Originals,  d.  h.  dem  Uebersetzer  einzuräumen  geneigt  sein 
konnte,  das  wäre  selbständigen  nhd.  Dichtern,  die  von  der  Nibelungenstro- 
phe Gebrauch  machten,  in  solcher  Ausdehnung  kaum  gestattet.  Ein- 
silbige Füsze  verwendet  nach  ungefährer  Berechnung  Simrock  weniger, 
als  Ploennies,  bei  dem  sie  sich  mit  der  besten  Wirkung  gar  nicht  selten 
finden;  z.  B.  bei  Simrock: 

Achtes  Abenteuer.  Langzeile  2. 
In  —  seiner  |  Tarn|kap|pe  || 
Von  |  preis|werthen  |  Hel|den|| 

von  —  groszer  |  Kühnjheit.  |  usw. 

Allgemeine  Bemerkungen  zu  den  3  vorstehenden  Strophen 

Simrock's. 

1)  Man  wird  geneigt  sein,  erste  Vershälften  von  der  Art  wie: 
Von  —  dannen  |  gieng  da  |  Siegjfried  I  oder: 

Den  —  Schulmeister  |  Niemand  |  sah  |  (8.  Abent.  Str.  2) 
mit  4  Hebungen  zu  messen  und  wie  im  Mhd.  so  auch  im  Nhd.  stumpfen 
Versschlusz  für  sie  anzunehmen.  Aber  welches  auch  die  Ansicht  Simrock's 
sei,  erste  Vershälften  von  der  Art,  dasz  sie  auch  unser  Ohr  als  4mal 
gehoben  zu  erkennen  im  Stande  wäre,  bilden  in  seiner  Uebersetzung 
eine  solche  Minderzahl,  dasz  man  sie  für  Ausnahmen,  die  dreimal  ge- 
hobenen ersten  Kurzzeilen  wegen  ihrer  groszen  Ueberzahl  dagegen  für 
die  Regel  halten  musz. 

Oben  sind  zwar  gegen  Rieger  mit  Simrock  und  Schleicher  für  die 
ersten  Vershälften  der  mhd.  Strophe  stumpfer  Schlusz  und  folglich  4 
Hebungen  angenommen  worden;  aber  im  Mhd.  berechtigt  dazu  der  Unter- 
schied des  tonlosen  und  stummen  £  —  ein  Gegensatz ,  der  im  Nhd.  bei 
unserm  unterschiedlosen  E  der  Bildungssilben  ganz  wegfällt.  Unser  Ohr 
sträubt  sich  entschieden  dagegen,  die  E  amSchlussedesVersesals 
Träger  der  Hebung  zu  hören  und  zu  dulden. 

2)  Der  Reim.  Aus  demselben  Grunde  sind  Schluszreime  der  Lang- 
zeile, wie  sie  bei  Simrock  im  8.  Abenteuer  vorkommen,  z.  B.  gelegen: 
pflegen;  Leben:  ergeben;  gekommen:  genommen;  Scharen:  fahren;  pfle- 
gen: Degen  und  andere  in  andern  Abenteuern  für  klingende  und  nicht, 
wie  im  Mhd.,  für  stumpfe  Reime  zu  halten. 

Hier  (ad  Nr.  1  und  2)  hört  die  Nachahmung  des  Mhd.  auf,  und  wir 
müssen  den  ganz  veränderten  Quantitätsverhältnissen  unsrer  Sprache  und 
unserm  Ohre  die  gebührende  Rechnung  tragen.  Nach  dem  Vorgange  Sim- 
rock's gebraucht  auch  0.  Marbach  oft  Reime  der  bezeichneten  Art  —  aber 
ebenso  unberechtigt;  denn  die  mhd.  Formel  TÖTTOC  ist  zur  nhd.  TUttTOC 
geworden. 

3)  Der  ein-  oder  zweisilbige.  Auf  ta  \i9  den  Simrock,  Ploennies  und 
andere  Uebersetzer  nach  mhd.  Art  gebrauchen ,  iiat  etwas  äuszerst  Wohl- 
klingendes und  dadurch,  dasz  er  wie  vor  der  ersten,  so  vor  der  zweiten 
Kurzzeile  bald  steht,  bald  fehlt,  bald  einsilbig,  bald  zweisilbig  ist,  bietet 


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394  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

er  dem  nhd.  Uebersetzer  und  Dichter  die  bequemste  Möglichkeit,  sich 
frei  und  unbeengt  zu  bewegen  und  die  Form  dem  Inhalt,  das  Wort  der 
Gemütsstimmung  genau  anzupassen.  Seine  Wirkung  auf  das  Ohr  ist  so 
wolthuend  und  reizend,  dasz  man  geneigt  sein  könnte,  die  modernisierte 
Strophe  Uhland's  lieber  ebenso  zu  lesen,  was  schon  oben  angedeutet 
wurde.  Der  Auftakt  bei  Uhland  unterschiede  sich  von  dem  Auftakt  in  der 
mhd.  Strophe  freilich  dadurch,  dasz  er  1)  nur  einsilbig  ist  und  2)  —  ohne 
Ausnahme  vor  allen  ersten  und  zweiten  Vershälften  regelmäszig  wieder- 
kehrt. Dadurch  dasz  man  die  erste  Senkung  bei  Uhland  als  Auftakt  faszt, 
wird  der  Rhythmus  fallend ,  für  das  deutsche  Ohr  angenehmer  und  klingt 
heimischer  z.  B. 

Es  —  stand  in  alten  Zeiten  ||  ein  —  Schlosz  so  hoch  und  hehr  | 

Am  —  Ruheplatz  der  Todten  ||  da  —  pflegt  es  still  zu  sein  | 

Ab  —  dallah  lag  behaglich  ||  am  —  Quell  der  Wüste  und  ruht.  | 

Von  - —  Braunschweig  ist's  der  Alte, 
Karl  —  Wilhelm  Ferdinand. 

Am —  Fenster  stand  die  Mutter, 
Im  - —  Bette  lag  der  Sohn. 

Du  —  bist  wie  eine  Blume 

So  —  hold  und  schön  und  rein. 

Zwei  —  Särge  stehen  einsam 
In  des  —  alten  Domes  Hut. 
4)  Das  E  der  Bildungssilben  als  Hebung.  Die  8.  Kurzzeile 
hat,  gleichsam  als  Abgesang,  bei  Simrock  wie  in  der  mhd.  Strophe  in 
aller  Regel  4,  die  übrigen  7  Vershälften  je  3  Hebungen.  Unter  Nr.  1  ist 
schon  bemerkt,  dasz  den  ersten  Vershälften  auch  4  Hebungen  zu  gestatten 
sind ,  dann  müssen  sie  aber  so  gebaut  sein ,  dasz  auch  wir  mit  unserm 
Ohre  sie  heraushören;  unser  tonloses  E  taugt  aber  am  Schlüsse  des 
Verses  nicht  mehr  zum  Träger  der  H&bung.  Es  fragt  sich  aber,  ob  das 
E  nicht  innerhalb  des  Verses  dazu  tauglich  wäre?  Oben  stehen 
mhd.  Verse  wie: 

von  —  slner  |  stimjme  be|gan  | 
diu  —  was  ze  |  San|ten  ge|nant. 
Simrock  wagt,  dies  nachahmend,  z.  B.  im  8.  Abenteuer  (vgl.  auch 
vorher) : 

I  als  —  ob  es  |  weh|te  der  |  Wind  | 
Albejrich  der  |  kühne  j 

ein  —  wil|de>Ge|zwerg  | 
Ihr  —  dient  euch  |  bis  zum  |  Tode  || 

so  —  sprach  der  |  listjige  |  Mann  | 
Er  —  schonte  |  seiner  [  Leute^JJ 

wie  —  ihm  die  |  Tu|gend  ge|bot  [ 
Darum  |  sollt  ihr  ]  zieren  || 

mit  —  gutem  |  Staa|te  den  |  Leib.  | 

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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  395 

In  Betreff  der  Verwendung  der  einsilbigen  Formwörter  zur  Hebung  und 
Senkung  ist  oben  der  sogenannten  'Silbenposition',  eines  gerade 
für  die  deutsche  Metrik  sehr  wichtigen  Gesetzes,  Erwähnung  geschehen. 
Auch  hier  bei  diesen  E  innerhalb  des  Verses  dreht  es  sich  um  dasselbe 
Gesetz.  Ob  nemlich  Bildung ssilböh  mit  E  oder  I  zur  Hebung  geeignet  sind, 
hängt  lediglich  von  den  benachbarten  Silben  im  Verse  ab.  Nur  wenn  diese 
ebenso  bedeutungs  -  und  tonlos ,  oder  noch  fluchtiger  sind ,  als  die  Bil- 
dungssilbe, dann  mag  der  Dichter  die  Bildungssilbe  zur  Hebung  verwen- 
den, wenn  nicht,  nicht.  Natürlich  gilt  hier,  wie  schon  gesagt,  der 
Spruch  des  Hüraz:  conceditur  Hcentia  poetis  sumpta  pudenter;  aber  es 
ist  nicht  leicht  —  das  mhd.  Vorbild  vor  Augen  und  in  Gedanken  —  im 
nhd.  Verse  dabei  Mißbrauch  zu  meiden. 

Wie  sich  auch  jetzt  unser  durch  die  antike  Metrik  verwöhntes  Ohr 
an  deutsche  Klänge  leicht  gewöhnt,  und  was  ein  Dichter  heute  noch  wagen 
und  auf  gut  Glück  unserm  Ohre  bieten  darf,  das  zeigt  ferner  Arndt's 
Blücherlied.  Dieses  beliebte ,  auch  historisch  wichtige  Gedicht  ist  trotz 
seiner  abweichenden ,  zum  Teil  gewagten  Messung ,  die  übrigens  seiner 
nationalen  Absicht  und  seinem  Erfolge  gar  keinen  Abbruch  gethan  hat, 
der  Erwähnung  und  Beachtung  wol  werth.  Die  4.  und  die  letzte ,  sieges- 
muthige  Strophe  lautet: 

Er  —  hat  den  |  Spruch  ge|halten  [| 

als  — -  Krieges|ruf  erjklang.  | 
Hei  —  wie  der  |  weisze  |  Jüngling  [| 

in  —  Satjtel  sich  |  schwang,  | 
Da  ist  |  er's  ge|wesen ,  |J 

der  —  Kehr|aus  gejmacht,  | 
Mit  —  eijsernem  |  Besen  || 

das  —  Land  |  rein  gejmacht  |. 

Drum  —  blaset  |  ihr  Trom|peten  || 

Hu  —  sa|ren  he|raus  | 
Du  —  reite  |  Herr  Feld|marschall  [| 

wie  —  Sturm  |  wind  im  |  Saus  | 
Du  —  reit  dem  |  Glück  entgegen  ]| 

zuni  —  Bhein  und  |  übern  |  Bhein !  | 
Du  —  alter  |  tapfrer  |  Degen  [] 

und  —  Gott  soll  |  mit  dir  |  sein.  | 

Liest  man  mit  Beachtung  des  Auftakts  diese  beiden  Srophen ,  unbeküm- 
mert um  die  Begeln  der  antiken  Versmessuhg ,  als  fallenden  Rhythmus 
ganz  so ,  wie  es  die  von  Jugend  auf  gewohnte  Betonung  der  Silben  ver- 
langt, so  wird  das  Ohr  an  dem  Masze  wenig  Anstosz  nehmen.  Die  Sen- 
kung in  diesen  beiden  Strophen  ist  regelrecht  einsilbig ;  die  8.  Kurzzeile 
hat  nicht  wie  in  der  mhd.  Strophe  und  bei  Simrock  4,  sondern  gegen  die 
Regel  blosz  3  Hebungen.  Die  Abweichungen  des  Maszes  betreffen  auszer- 
dem  l)  die  etwas  gewagte  Auslassung  der  Senkung  und  2)  die  kühne  Ver- 
wendung des  tonlosen  E  in  Bildungssilben  zur  Hebung,  z.  B.  ad  Nr.  1. 


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;    f  396  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

Da  —  ward  der  |  alte  |  Blücher  (| 

ein  —  Feld|mar|schall  |, 
wo  3  Hebungen  ohne  alle  Senkung  neben  einanderstehen,  wie  in  dem 
mhd.  Verse: 

dö  |  sprach  |  Si|frit  |. 

ad  Nr.  2.         I  in  —  Satjtel  sich  |  schwang  | 
I  Hu  —  sajren  he|raus  | 
Mit  —  ei|s£rnem  |  Besen  || 
Dasz  —  Taujsende  |  liefen  [| 

gar  —  hajstigen  |  Lauf  usw. 

Die  altdeutsch  gemessene  neuhochdeutsche  Kudrun- 
Strophe. 
Aus  den  folgenden  2  Strophen  der  *  Widmung*  an  W.Grimm  vor  der 
Kudrun  von  Ploennies  wehen  uns  echtdeutsche  Klänge  an,  und  wahrlich 
kein  deutscher  Dichter  brauchte  sich  ihrer  zu  schämen  und  die  ansprechen- 
de, echtdeutsche  Form  abzulehnen. 

Wo  in  |  wilden  {  Kampfes  || 

rastjlosem  [  Drang  | 
Mit  der  —  deutschen  |  Kraft  die  [  Woge  || 

um  die  |  Erde  |  rang,  | 
Da  —  reiften  |  gute  |  Recken ;  [| 

Speerjschaft  und  |  Steuer, 
Mäner|  streit  und  |  Minne  || 

war  den  |  Degen  j  über  |  alles  |  theuer.  | 

So  —  hört  im  |  deutschen  |  Liede  (| 

Mären  |  wunder (sam:  | 
Wie  —  König  |  Hettels  |  Botschaft  || 

zum  —  Jren|  lande  |  kam  | 
Mit  —  rothem  |  Goldgejschmeide;  || 

das  —  rieth  der  |  kluge  |  Frute ;  | 
Doch  —  Recken  |  barg  der  |  Schiffe  |  Bauch  [] 

die  —  kauften  |  Hagens  |  Kind  mit  |  rothem  |  Blute  | 

Das  Beispiel  ergibt  für  die  Kudrun  folgendes  Masz  : 

1)  Die  Strophe  besteht  aus  4Langzeilen,  von  denen  die  zwei 
ersten  stumpf,  die  zwei  letzten  klingend  reimen. 

2)  Jede  Langzeile  hat  2  Kurzzeilen.  Die  4  ersten  Vershälften 
schlieszen  klingend;  von  den  4  zweiten  geht,  wie  eben  gesagt,  die  erste 
und  zweite  stumpf,  die  dritte  und  vierte  klingend  aus. 

3)  Hebungen.  Die  4  ersten  Kurzzeilen  haben  je  3,  seltener  4  He- 
bungen, von  den  4  zweiten  Kurzzeilen  haben  die  drei  ersten  je  3,  die 
vierte  (=  letzte  der  Strophe)  5  Hebungen. 

NB.  Der  oben  beim  Mhd.  angeregte  Zweifel,  ob  die  4  ersten  Kurz- 
zeilen stumpf  oder  klingend  ausgehen ,  d.  h. ,  3  oder  4  Hebungen  haben, 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  397 

berührt  das  Nhd.  nicht;  denn  da  am  Schlüsse  des  Verses  unser  E  in 
Bildungssilben  die  Hebung  nicht  tragen  kann,  müssen  wir  die  ersten 
Kurzzeilen  mit  dem  auslautenden  E  für  dreimal  gehoben  betrachten. 
Anders  verhält  es  sich  mit  ersten  Vershälflen,  die,  wie  die  7.  in  der 
vorstehenden  zweiten  Strophe,  wirklich  4 mal  gehoben  sind.    Der  Vers: 

«Doch  —  Recken  |  barg  der  ]  Schiffe  |  Bauch*  || 
stimmt  ganz  zu  dem  obigen  von  Simrock : 

*Den  —  Schiff|meister  |  Niemand  |  sah  ||  ; 
beide  Verse  haben  auch  im  Nhd.  4  Hebungen  und  gleichen  ganz  den  mhd. 
Versen  : 

silber  |  gab  man  |  unde  |  wät  [| 

dö  —  sprach  der  |  alte  |  Hilde|brant  [| 

4)  Die  Senkungen.  Ihre"  besondere  Bezeichnung  in  dem  Beispiele 
wäre  überflüssig ,  Tia  sie  sich  als  solche  neben  den  durch  den  Strich  |  be- 
zeichneten Hebungen  immer  von  selbst  ergeben.  Sie  1)  stehen  teils,  in 
andern  Versen  fehlen  sie,  immer  passend,  gewandt  und  wollautend.  Statt 
der  einsilbigen  Senkung  gestattet  sichPloennies  2)  die  zweisilbige,  aber  nur 
unter  gewissen  Beschränkungen. 

1)  II  *rast|losem  |  Drang'  |  2)  Auf  —  blutigem  |  Ufer|sande  || 

[[  fSpeer|schaft  und  Steuer'  ||.         ||  Die  —  gute  |  Kunde  verjnahm  | 

cf.  die  *  Widmung'. 

5)  Der  Auftakt'ist  ein-  oder  zweisilbig  und  steht  oder  fehlt  vor 
den  ersten  und  zweiten  Kurzzeilen  z.  B. 

So  —  hört  im  |  deutschen  |  Liede  || 

fMären  |  wunderjsam'  | 
Wie  —  König  |  Bettels  |  Botschaft  || 

zum  —  Jren|lande  |  kam.  | 
Mit  der  —  deutschen  |  Kraft  die  |  Woge  | 

um  die  |  Erde  |  rang  |. 

Uebersetzer  wollen  ein  Bild  geben  auch  von  der  äuszern  Form  des  Urtex- 
tes; darum  paszt  für  die  Uebersetzung  der  Nibelungen  nur  die  eine,  für 
die  der  Kudrun  nur  die  andre  Strophe.  Wras  aber  die  Nachahmung  beider 
Strophen  durch  unsre  nhd.  Dichter  betrifft,  so  empfiehlt  sich  diesen  die 
Nibelungen-Strophe  mehr,  als  die  andere.  Einmal  ist  sie  —  wenn  auch 
in  modernisierter  Form  —  durch  Uhland  schon  heimisch  gemacht 
und  eingebürgert  —  dies  ist  für  den  nhd.  Dichter,  der  sich  ihrer  bedient 
und  sie  altdeutsch  messen  will,  gewis  ein  groszer  Vorteil;  denn  er 
findet  den  Grund  schon  gelegt ,  auf  dem  er  weiter  bauen  kann.  Dann  ist 
die  mhd.  N.-Strophe  an  sich  einfacher  und  volkstümlicher,  als  die  andere, 
die  sich  erst  aus  ihr  entwickelt  hat.  Besonders  erscheint  die  achte  Kurz- 
zeile der  N. -Str.  mit  ihren  4  Hebungen,  gleichsam  als  Abgesang  der  Strophe, 
gefälliger,  als  dieselbe  Kurzzeile  in  der  Kudrun-Strophe,  deren  5  Hebun- 
gen zu  den  übrigen  Kurzzeilen  mit  3  Hebungen  nicht  in  richtigem  Ver- 
hältnisse stehen  und  den  Schlusz  schleppend  machen.  Eins  dagegen 
empfiehlt  die  Kudrun-Strophe  unsern  Dichtern  zur  Nachahmung  —  nem- 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  8.  27 

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398  Shakspeare  als  Schulschriftsteller. 

lieh  der  Wechsel  des  stumpfen  und  klingenden  Reimes.  Die/Widmung* 
vor  Ploennies  Kudrun,  richtig  hetont  vorgelesen,  macht  z.  B.  selbst  noch 
auf  Primaner  den  vorteilhaftesten  Eindruck,  obgleich  ihr  Ohr  durch  die 
antike  Versmessung  schon  ganz  und  gar  verbildet  und  für  die  d  e  u  t  s  c  h  e 
stumpf  geworden  ist.  Davon  kann  sich  jeder  Lehrer,  der  den  Versuch 
machen  will ,  leicht  überzeugen. 

(Fortsetzung  im  nächsten  Hefte.) 
Lissa.  Ed.  Olawsky. 


31. 

Shakspeare  als  Schulschriftsteller. 

Eine  Schulrede. 


Die  dreihundertjährige  Jubelfeier  eines  Dichters,  dessen  Werke  in 
der  Weltliteratur  Epoche  machen  und  wol  für  kein  Volk,  selbst  nicht 
für  das  britische ,  von  so  groszer  Bedeutung  geworden  sind ,  wie  für  das 
unsrige ,  eine  solche  Jubelfeier  gibt  der  deutschen  Schule  Anlasz  zur  Er- 
wägung einer  ebenso  wichtigen  als  wenig  besprochenen  pädagogischen 
'Frage. 

Das  englische  Volk  wird  seinen  Dichter  durch  Denkmale ,  Festzüge 
und  Spiele  feiern,  die  deutsche  Bühne  wird  Shakspeare's  Andenken  durch 
die  Aufführung  seiner  Meisterwerke  huldigen.  Soll  auch  die  deutsche 
Schule  dem  britischen  Genius,  dem  unsre  Lilteratur  so  unendlich  viel  ver- 
dankt, ihre  Verehrung  erweisen? 

Sie  vermöchte  das,  auch  nachdem  ihr  die  Bühne  abhanden  gekom- 
men ist,  auf  welcher  noch  vor  einem  halben  Jahrhundert  ihre  Zöglinge 
sich  versuchten,  sie  könnte,  ohne  alles  Festgepränge,  dem  Dichter  eine 
Anerkennung  darbringen,  die  schwerer  wiegt,  als  eherne  Standbilder  und 
Festspiele,  sie  könnte  ihm  eine  Ehrenstelle  in  der  Walhalla  einräumen, 
in  deren  schlichtem  Räume  die  geistigen  Heroen  das  höchste  Recht  der 
Unsterblichkeit  genieszen,  sie  könnte  ihn  zum  Schulschriftsteller  er- 
nennen. 

Soll  und  kann  nun  der  britische  Jubilar  in  Deutschland  diese  hohe 
Ehre  genieszen,  die  ihm  in  den  meisten  Schulen  seines  Heimatlandes  nicht 
vergönnt  ist,  soll  er,  gleich  den  groszen  Dramatikern  des  Altertums, 
von  der  Schule  als  Classiker  im  Sinne  der  Erziehung ,  als  einer  der  Dich- 
ter anerkannt  werden,  denen  der  erhabene  Beruf  anvertraut  ist,  als  Füh- 
rer der  Jugend  zum  Wahren,  Schönen  und  Guten  zu  wirken? 

Vor  hundert  Jahren,  als  die  erste  deutsche  Uebersetzung  Shakspeare's, 
die  Wielandsche,  erschien  und,  wie  Goethe  berichtet,  Verschlungen, 
Freunden  und  Bekannten  mitgeteilt  und  empfohlen  wurde',  hat  wol  man- 
cher deutsche  Schulmann,  schon  ehe  ihm  Lessing's  glänzende  Würdigung 
des  Fremdlings  zugekommen,  den  hohen  Werth  des  britischen  Drama- 
tikers erkannt;  aber  kaum  ist  damals  einem  solchen  Verehrer  die  Ahnung 

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Sliakspeare  als  Schulschriftsteller.  399 

aufgestiegen,  dasz  die  Frage,  oh  dieser  Dichter  als  Schulclassiker  gelten 
solle,  jemals  eine  im  Ernst  zu  verhandelnde  pädagogische  Frage  werden 
könne.  Wurde  doch  in  einer  Zeit,,  in  der  Voltaire  als  Musterdramatiker 
in  Ansehen  stand,  kaum  einer  der  f genialischen  Jünglinge'  des  strasz- 
hurger  Goethekreises,  welche  für  Shakspeare  schwärmten,  einen  so  revo- 
lutionär klingenden  Gedanken  auszusprechen  gewagt  nahen.  Ein  preuszi- 
scher  Gymnasiallehrer  jener  Tage,  der  eine  ästhetische  Würdigung  Shak- 
speare's  veröffentlicht  hätte,  würde  sich  —  wäre  auch  sein  Werk  so 
trefflich  gerathen,  wie  das  unsres  Zeilgenossen  Kreyszig  —  nicht  nur 
das  Achselzucken  seiner  Amtsgenossen,  sondern  wahrscheinlich  auch  eine 
Kahinetsordre  seines  groszen  Königs  zugezogen  halben,  die  er  nicht  an 
den  Spiegel  stecken  konnte.  Denn  Friedrich,  der  noch  im  J.  1780  Goe- 
the's  Götz  von  Berlichingen  eine  abscheuliche  Nachahmung  der  ge- 
schmacklosen Stücke  Shakspeare* s  nannte,  war  in  Sachen  des  Geschmacks 
weit  weniger  duldsam,  als  in  Sachen  der  Religion. 

Heutzutage  darf  wol  ein  Schulmann  jene  Frage  ohne  groszes  Wag- 
nis erörtern.  Weisz  er  doch,  dasz  alle  Gebildeten  seines  Volks  überein- 
stimmen in  der  Bewunderung  des  ebenso  durch  überschwängliche  Begabt- 
heit, wie  durch  erfolgreiche  Selbslschulung  und  Läuterung  hervorragen- 
den, grösten  Dramatikers  aller  Zeiten.  Wer  hätte  nicht  die  Zaubermacht 
dieses  Dichters  empfunden ,  der  die  Herzen  naiver  und  hochgebildeter  Zu- 
schauer und  Leser  unwiderstehlich  fortreiszt,  der  sie  bald  in  heiteres  Be- 
hagen und  helle  Fröhlichkeit  versetzt,  bald  zu  weihevoller  Andacht  stimmt, 
zu  innigem  Mitleid  rührt  oder  mit  Schauer  und  Entsetzen  erfüllt?  Wer 
staunte  nicht  über  die  poetische  Schöpferkraft,  die  bald  mit  dem  zartesten 
Motiven  anmuthig  spielt,  bald  die  gewaltigsten  und  furchtbarsten  Auf- 
gaben mit  titanischer  Wucht  behandelt,  wer  bewunderte  nicht  den  Scharf- 
blick dieses  gründlichen  Menschenkenners ,  der  die  geheimsten  »Regungen 
des  Herzens  belauscht  uncj  mit  markigem  Pinsel  in  groszem ,  ureignem 
Stile  darstellt,  wer  schätzte  nicht  die  reiche  Fülle  edler  Lebensweisheit, 
welche  dieser  geniale  Denker  in  kerniger  Form  spendet?  Ohne  Wider- 
spruch gilt  jetzt  Shakspeare  für  den  grösten  Charakterzeichner.  Er  schil- 
dert alle  Menschenalter  vom  zartesten  Knaben  an  bis  zum  lebensmüden 
Greise,  die  verschiedensten  Stände  vom  König  an  bis  herab  zum  Schuh- 
flicker  und  Narren,  die  mannichfaltigsten  Bildungsgrade  vom  reichen 
Prospero  und  Lorenzo  an  unc^  vom  höfischklugen  Polonius  bis  auf  den 
rohen  Matrosen  und  den  Thiermenschen  Caliban,  er  stellt  die  Abstufungen 
des  sittlichen  Werthes  vom  hehren  Helden  und  braven  Biedermann  bis. 
herab  zum  vornehmen  Lump  und  zum  teuflischen  Unmenschen  Richard, 
vom, Ideale  der  Frauennatur;  einer  Miranda,  Portia  und  Imogen  an  bis 
herab  zu  den  Megären  der  Leonoren  und  Märgarethen.  Er  stellt  eine 
überreiche  Reihe  von  Charakterbildern  auf  und  alle  weisz  er  so  eigen- 
tümlich, so  entschieden  und  folgerecht  hinzuzaubern,  dasz  sie  uns  mit 
dem  vollen  Scheine  des  Lebens  entgegentreten.  Seine  Figuren  sind  ty- 
pisch und  doch  individuell;  manche  leiden  an  einzelnen  Anachronismen 
und  Kostümfehlern,  und  doch  zwingt  uns  der  Dichter  durch  die  Wahrheit 
ihres  innersten  Wesens,  an  sie  als  echte  Kinder  ihrer  Zeit  zu  glauben; 

27* 

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400  Shakspeare  als  Schutschriftsteller. 

seine  Charaktere  sind  bei  ihrem  ersten  Auftreten  bestimmt  und  voll  ange- 
legt und  entwickeln  sich  doch  im  Laufe  der  Handlung  durch  den  Kampf 
zwischen  Notwendigkeit  und  Freiheit,  der  den  geheimnisvollen  Gang  des 
Menschenlebens  ausmacht,  zur  vollen  Höhe.  Und  —  was  als  die  höchste 
Tugend  des  Dramatikers  gelten  musz  —  unser  Dichter,  dessen  Weltan- 
schauung eine  sittlich-strenge,  protestantische  ist,  weiszdie  Handlung, 
deren  Charaktere  sich  nach  ihrer  Eigenart  ausleben,  ohne  dasz  die  dichte- 
rische Subjectivität  irgendwo  hervortritt,  meist  so  zu  lenken,  dasz  die 
poetische  Gerechtigkeit  zu  voller  Geltung  kommt.  In  Shakspeare's  Tragö- 
dien waltet  nicht  das  tyrannische  Fatum  des  antiken  Drama ,  nicht  ein 
blindes  Ohngefähr,  auch  nicht  jene  moderne  schönfärberische  Absicht- 
lichkeil, welche  einen  sogenannten  moralischen  Schlusz  herbeizwingt, 
aber  wol  das  unerschütterliche  sittliche  Princip,  welches  wir,  nicht 
selten  freilich  in  herber  Weise,  in  der  Weltgeschichte  als  Weltgericht 
erkennen. 

Alle  diese  hohen  Eigenschaften,  die  Shakspeare  in  einer  Vollständig- 
keit und  Fülle  in  sich  vereinigt,  wie  kein  andrer  Dichter,  werden  jetzt 
von  allen  gebildeten  Völkern ,  selbst  von  solchen ,  denen  die  Form  seiner 
Dichtungen  noch  jetzt  und  vielleicht  für  immer  anslöszig  ist,  anerkannt 
und  gepriesen ;  alle  Beurteiler  stimmen  darin  überein,  dasz  er  den  erhabe- 
nen Beruf,  der  von  Hamlet  dem  Drama  vorgezeichnet  wird,  glänzend  er- 
füllt hat,  den  Beruf:  'der  Natur  gleichsam  den  Spiegel  vorzuhalten,  der 
Tugend  ihre  eignen  Züge ,  der  Schmach  ihr  eignes  Bild  und  dem  Jahr- 
hundert und  Körper  der  Zeit  den  Abdruck  seiner  Gestalt  zu  zeigen.' 

So  gewis  aber  in  der  Werthschätzung  Shakspeare's  auf  allgemeine 
Zustimmung  zu  rechnen  ist ,  so  gewis  hat  sich  eine  Ansicht ,  die  doch 
im  Grunde  nur  eine  pädagogische  Folgerung  aus  jenem  ästhetischen  Urteil 
ist ,  auf  Bedenken  gefaszt  zu  machen,  die  Ansicht  nemlich,  dasz  die  reife- 
ren Zöglinge  höherer  Lehranstalten ,  namentlich  der  Gymnasien ,  mit  die- 
sem Dichter  bekannt  gemacht  und  zum  eignen  Studium  desselben  ange- 
regt und  befähigt  werden  sollen. 

Als  gewichtiges  Bedenken  tritt  zuerst  die  Thatsache  entgegen ,  dasz 
Shakspeare's  Werke  bisher  so  wenig  Eingang  in  jene  Anstalten  gefunden 
haben.  Nur  in  höhereu  Realschulen  und  in  den  vereinzelten  Gymnasien, 
welche  dem  Englischen  gleiches  Recht  mit  dem  Französischen  einräumen, 
werden  Dramen  unsres  Dichters  gelesen.  Was  ist  wol  Ursache,  dasz  ihm 
nicht  überall  gleiche  Ehre  widerfährt?  Die  deutsche  Schule  leidet  doch 
nicht  an  der  spröden  Ausschlieszlichkeit  der  englischen,  welche  das  Alte, 
wenn  es  auch  veraltet,  ebenso  streng  beibehält,  als  sie  dem  Guten  den 
Zutritt  erschwert,  weil  es  neu  ist.  Vergleicht  man  den  Lehrplan  eines 
Gymnasiums  unserer  Tage  mit  dem  vor  hundertjährigen,  welche  Menge 
neuer  Unterrichtsgegenstände  findet  sich  da  vor!  Das  Griechische  ge- 
nieszt  gleiche  Rechte  mit  dem  Lateinischen,  es  wird  Französisch,  Erd-  und 
Naturkunde,  Literaturgeschichte  gelehrt;  man  studiert  die  griechischen 
und  lateinischen  Dramatiker,  man  erklärt  den  Corneille  und  Racine,  man 
liest  die  Dramen  der  deutschen  Classiker  —  und  der  gröste  Dramatiker 
aller  Völker  und  Zeiten  bleibt  den  Jünglingen,  die  nicht  zufällig  eins  sei- 

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Shakspeare  als  Schulschriftsleller. 

ner  Stücke  lesen  oder  auffuhren  sehen,  unbekannt.  Da  kann  wo]  Hiebt 
blosz  die  Knappheit  der  zugemessenen  Zeit  Ursache  sein,  es  müssen  Be- 
denken häherer  Art  entgegenstehen.  Diese  zu  erwägen,  wird  daher  erste 
Aufgabe  sein. 

eFürdie  Jugend  ist  das  Beste  eben  gut  genug.'  Nun,  die  Schöpfun- 
gen eines  Genius,  die  von  seinen  Landsleuten  eine  weltliche  Bibel  genannt 
worden  sind,  die  von  den  meisten  gebildeten  Völkern  zu  den  alle  Jahr- 
hunderte überdauernden  Kunstwerken  gezählt  werden,  genügen  ja  wul 
dem  strengen  Maszstabe ,  den  die  Schule  anlegen  musz. 

Aber  —  so  könnte  man  einwenden  —  wir  haben  an  den  griechi- 
schen und  vaterländischen  Dramen  Musterwerke  genug,  um  die  Jugeml  in 
dies  Gebiet  der  Dichtung  einzuführen.  Brauchen  wir,  die  den  Nathan  und 
die  Minna  von  Barnhelm,  den  Götz  und  die  lphigenie,  Wallenstein  und 
Teil  besitzen ,  noch  weitere  Anleihen  beim  Auslande  zu  machen?  WVi^ 
Beschränkung  thut  not,  sonst  müsten  wir  am  Ende  auch  Sakuntala  und 
Calderon  in  der  Schule  lesen.  Das  Vielerlei  führt  vielmehr  zu  oberfläch- 
licher Naschlust  und  zur  Verwirrung  des  Stilgefühles,  als  zu  ernstem 
Studium  und  zu  festem  ästhetischem  Bewustsein. 

Vielleicht  führt  ein  andrer  Gegner  eirien  noch  strengeren  Abwei- 
sungsgrund hinzu.  Die  Schule  —  sagt  man  und  mit  gutem  Grunde  — 
soll  durch  die  Leetüre  der  Dichter  nicht  blosz  die  ästhetische  Bildung 
fördern,  sondern  auch  den  Nationalgeist  wecken  und  läutern,  sie  soll  bed 
Unterricht  und  Erziehung  unter  andern  die  löblichen  Eigenschaften  pfle- 
gen, die  unsrem  Volk  eigen  sind.  Warum  nun  der  deutschen  Jugend  ge- 
rade diesen  Dichter  vorführen,  der  mit  jeder  Faser  schroffer  Engländer, 
der  ein  so  ausschlieszliches  Kind  seines  Volkes  und  seiner  Zeit  ist,  dasz 
er  die  in  seinen  Dramen  auftretenden  Griechen,  Bömer,  Italiener  als  leib- 
haftige Vollblutbriten  der  Elisabethzeit  schildert,  der  nach  echter  Jolm- 
kllart  fremdes  Leben  mit  solchem  insularen  Hochmut  behandelt,  das/  er 
die  gegen  England  kämpfenden  Ausländer  meist  als  treulose  und  Teige 
Maulhelden,  dasz  er  die  Jungfrau  von  Orleans  als  gemeine  Hexe  darsteil  L? 
Die  Leetüre  eines  solchen  Dichters  fördert  doch  unmöglich  die  humane 
Unparteilichkeit,  die  weltbürgerliche  Empfänglichkeit  für  das  Grosze  und 
Gute  der  Fremde,  zwei  edle  Tugenden,  durch  welche  das  deutsche  Volk 
allen  Völkern  voransteht.  Und  wie  —  so  dürfte  ferner  eingewandt  wor- 
den —  wie  soll  dem  geschichtlichen  Sinne  das  Lesen  eines  Dichters  zu- 
träglich sein,  der  in  den  Parteikämpfen  des  alten  Born  nur  Reibungen 
zwischen  Baronen  und  Pöbel  schildert,  der  das  tyrannische  Gebähten 
Heinrich's  des  Achten  beschönigt,  der  in  den  Kämpfen  der  Rosen  die, 
furchtbaren  Fehden  des  Feudaladels  verherlicht,  ohne  dem  sich  kräftig  em- 
porarbeitenden Bürgertum  und  dem  Protestantismus  auch  nur  die  beschei- 
denste Andeutung  zu  gönnen  ? 

Das  sind  in  der  That  Ausstellungen,  die  auch  ein  Verehrer  des  Dich- 
ters nur  mildern  und  entschuldigen,  aber  nicht  ganz  beseitigen  kann.  Wir 
könnten  sie  umgehen,  wenn  wir  den  wolbegründeten  Einwand  gellend 
machten,  dasz  die  für  die  Schule  zu  empfehlenden  Stücke  wenig  oder 
nicht  an  solchen  Mängeln  leiden;  aber  das  wäre  eine  sophistische  Masz- 


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402  Shakspeare  als  Schnlschriftsteller. 

regel,  da  wir  ja  durch  die  Vorführung  einzelner  Dramen  zum  späteren 
Studium  aller  Shakspcareschen  Dichtungen  anreizen  und  befähigen  wollen. 
Wir  gestehen  also  zu,  dasz  Shakspeare  nicht  nur  einzelne  Auachronismeu 
begangen,  dasz  er  auch  in  der  Auffassung  einzelner  geschichtlicher  Ereig- 
nisse eine  weniger  durchdringende  Kenntnis  bewiesen,  als  sie  neuere, 
durch  Geschichtsphilosophie  gebildete  Dichter  haben,  und  dasz  er  an  Par- 
teilichkeit weit  mehr  leide ,  als  sie  von  den  Engländern  unsrem  Schiller 
wegen  seiner  Schilderung  der  Elisabeth  und  Maria  vorgeworfen  worden. 

Liegt  denn  aber  in  jenen  Schranken ,  in  welche  der  Volkscharakter 
und  der  Zeitgeist  auch  einen  so  selbständigen  Genius  bannten,  wirklich 
eine  Gefahr  für  den  jungen  deutschen  Leser,  wie  sie  es  in  der  That  für 
manchen  jungen  Briten  ist?  Gewis  nicht.  Deutschen  Jünglingen  ist  durch 
den  Gesamtunterricht  und  besonders  durch  den  Geist  unserer  Dichter,  die 
den  Nathan  und  die  Jungfrau  von  Orleans  geschrieben,  eine  Weltanschau- 
ung eingeprägt,  welche  durch  jene  Einflüsse  nicht  verändert  werden  kann. 
Sie  wissen,  dasz  der  Dichter  auf  einer  höheren  Warte  stehen  solle,  als 
auf  der  'Zinne  der  Partei*  und  der  Nationalität,  dasz  er  dem  fremden 
Volke  gerecht  werden  müsse  wiß  dem  eignen ;  sie  haben  in  der  Rütliscene 
und  im  Egmont  ein  so  ergreifendes  Bild  des  neuen  politischen  Elementes, 
das  sich  aus  der  eisernen  Zeit  des  Faustrechtes  emporringt,  kennen  ge- 
lernt, dasz  sie  durch  Shakspeare's  dichterisches  Behagen  an  der  Ritterzeit, 
die  er  so  unvergleichlich  zu  malen  weisz ,  so  wenig  irregeführt  werden, 
als  durch  den,  gewis  auch  nicht  strenggeschichtsmäszigen,  Götz  von  Ber- 
lichingen  Goethe's. 

Obgleich  also  zugestanden" werden  musz,  dasz  an  Shakspeare  einzelne 
Züge  auffallen,  die  seine  Befangenheit  in  nationalen  und  säkularen  Vorur- 
teilen verrathen ,  halten  wir  ihn  dennoch  der  Ehre  eines  Schulschriflstel- 
lers  für  würdig ;  ja  wir  würden  ihn  als  solchen  empfehlen,  wenn  auch  in 
Deutschland  ein  neuer,  ihm  ganz  ebenbürtiger  Genius  aufträte,  Dramen 
schüfe,  welche  bedeutende  Perioden  der  Weltgeschichte  mit  ebensoviel 
Leben  und  mit  noch  tieferem  geschichtsphilosophischen  Verständnis  dar- 
stellte ,  historische  Tragödien ,  die  für  unser  Volk  das  wären ,  was  die 
des  britischen  Dichters  für  seine  Zeit  gewesen.  So  gut  unsere  Jugend 
den  Sophokles  liest,  obgleich  wir  eine  Goethesche  lphigenie  besitzen,  so 
gut  soll  Shakspeare  ihr  bekannt  werden,  obgleich  wir  Wallenstein  und  Teil 
neben  seine  Meisterstücke  setzen  dürfen.  Denn  welcher  Höhergebildete 
möchte  sich  begnügen,  die  Schöpfungen  der  Neuzeit  in  sich  aufzunehmen, 
ohne  den  Grund  zu  kennen,  auf  welchem  die  Neueren  gebaut,  das  Vor- 
bild, das  sie  von  falschen  Regeln  befreit  und  zum  Schaffen  ermutigt  hat? 
Die  Lilteraturgeschichte  ist  ja  deshalb  ein  stehender  Teil  unsres  Gymna- 
sialunterrichts geworden.  Wie  soll  aber  ein  Schüler  die  Frühlingsstürme 
unsrer  classischen  Zeit,  die  Sturm-  und  Drangperiode,  den  Aufschwung 
unsrer  dramatischen  Dichtung,  die  ästhetische  Reformation  Lcssing's,  die 
Grundgesetze  des  deutschen  Trauerspiels  begreifen,  ohne  Shakspeare  zu 
kennen?  Wie  wäre  eine  klare  Vorstellung  von  den  internationalen  Wir- 
kungen der  modernen  Wellpoesie  zu  gewinnen,  ohne  den  ausländischen 
Dichter  zu  kennen,  der,  nächst  der  Bibel  und  den  antiken  Classikern,  den  ' 


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Shakspeare  als  Schulschriftsteller.  403 

mächtigsten  Einflusz  auf  die  deutsche  Dichtung ,  auf  die  bildenden  und 
darstellenden  Künste  und  auf  die  Wissenschaft  vom  Schönen  geübt  hat? 
den  Dichter,  an  dessen  Darstellung  unsrc  Schauspieler  von  Eckhof  Ijis 
Davvison  sich  schulten ,  durch  dessen  Werke  unsere  Tondichter  von  Beet- 
hoven bis  Mendelssohn,  unsre  Maler  von  Füszli  bis  Kaulbach  zu  Schöpfun- 
gen begeistert,  unsre  Dramatiker  von  Lessing  bis  Hebbel  geleitet  oder 
irregeführt  worden  sind  ?  Ja  noch  mehr,  Shakspeare  hat  seinen  Wirkungs- 
kreis weit  über  die  Schulen  der  Künstler  und  Gelehrten  hinaus  erweitert, 
er  ist  mehr  als  ein  andrer  fremdländischer  Schriftsteller  der  neueren  Zeit 
derart  auf  deutschem  Boden  eingewurzelt,  ja  in  Saft  und  Blut  unsres 
Volkes  übergegangen,  dasz  manche  seiner  Figuren  so  volkstümlich  ge- 
worden sind,  wie  Nathan,  Faust  und  Teil,  dasz  viele  seiner  sinnreichen 
Gedanken  nunmehr  als  sprichwörtliches  Gemeingut  umlaufen,  gleich  den 
Sentenzen  unserer  Classiker.  Aus  alle  dem  scheint  aber  sicher  zu  folgen, 
dasz  der  gebildete  Deutsche  eher  die  Bekanntschaft  mit  vielen  einheimi- 
schen Werken  untergeordneten,  selbst  mittleren  Ranges  entbehren  dürfe, 
dasz  er  die  Kenntnis  des  französischen  Theaters,  ja  sogar  des  griechischen 
Dramatikers  eher  missen  könne,  als  die  Vertrautheit  mit  Shakspeare's  Dra- 
men ,  welche  in  gewissem  Sinne  zu  den^  epochemachenden  Mächten  der 
deutschen  Litteraturgeschichte  gehören. 

Indessen  läszt  sich  von  andrer  Seite  einwenden,  dasz  man  gar  wol 
die  hohe  litteraturgeschichtliche  Bedeutung  Shakspeare's  anerkennen  könne 
und  doch  gegen  die  Schullectüre  seiner  Dramen  Einsprache  erheben  müsse. 
Freilich  solle  ihn  jeder  Gebildete  kennen ;  aber  kennen  müsse  ein  solcher 
auch  den  Goetheschen  Faust,  und  wer  empfehle  diesen  für  die  Schule? 
Shakspeare  sei  eben  kein  Schriftsteller  für  die  Jugend,  er  müsse  für  das 
reifere  Leben  aufgespart  werden. 

Im  strengsten  Wortsinne  nehmen  natürlich  solche  Gegner  den  Aus- 
druck :  f für  die  Jugend*  nicht.  Denn  was  sollte  dann  der  Schule  übrig 
bleiben?  Haben  doch  Cäsar  und  Sophokles  so  wenig  an  einen  Leserkreis 
von  Knaben  und  Jünglingen  gedacht,  als  Shakspeare,  der  als  praktischer 
Schauspieldirector  recht  eigentlich  sein  Globepublicum  im  Auge  hallte  und 
—  wie  die  Prologe,  seine  einzigen  persönlichen  Aeuszerungen  über  ästhe- 
tische Fragen,  andeuten  —  sich  demselben  nicht  selten  mit  gewissem 
Widerstreben  anbequemte. 

Aber  auch  im  eingeschränkten  Sinn  ist  jener  Einwand  nicht  stich- 
haltig. Freilich  eignet  sich  nicht  jedes  Drama  unsres  Dichters  für  die 
Jugend.  Ausgeschlossen  bleiben  beim  Schulstudium  die  Lustspiele,  die 
Jugeudwerke  und  alle  Tragödien ,  welche  Leidenschaften  schildern,  deren 
Vorführung  pädagogische  Bedenken  erregen.  Othello  und  Richard  den 
Dritten ,  Romeo  und  Hamlet  wird  selbst  ein  begeisterter  Verehrer,  der  in 
diesen  Dramen  die  durchdringendste  Seelenkunde  und  die  gröste  Schöpfer- 
kraft des  Dichters  bewundert,  so  wenig  wie  die  Emilia  Galotti,  die  Räu- 
ber, den  Werther  und  die  Wahlverwandtschaften  für  zulässig  halten. 
Aber  auch  ein  vorsichtiger  Pädagog  wird  für  Jünglinge  den  Julius  Cäsar, 
Coriolan  und  Macbeth ,  den  Kaufmann  von  Venedig  und  den  Sturm,  unter 
den  Königsdramen  Richard  den  Zweiten  —  ein  Stück,  das  trotz  des  un- 


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404  Shakspeare  als  Schulschriftsteller. 

männlichen  Helden  schon  durch  die  Turnierscene  die  Jugend  hinreiszt  — 
nicht  für  gefährlich  erklären.  Ja  vielleicht  dürfte  für  Gymnasiasten,  denen 
man  so  vieLsittlichen  Halt  zutraut,  dasz  sie  den  Horaz  und  Aristophanes 
in  der  Schule  lesen ,  auch  der  Sommernachtstraum ,  sogar  Heinrich  der 
Vierte  zulässig  sein.  Jedenfalls  bleibt  auch  bei  sorgsamster  Auswahl 
noch  eine  ausreichende  Zahl  von  Dramen  übrig,  deren  Lesung  unverfäng- 
lich ist. 

Ein  naives  Verständnis  solcher  Shakspeareschen  Stücke,  die  selbst 
den  ungebildeten  Zuschauer  hinreiszen,  wird  der  an  griechischen  und 
deutschen  Mustern  gebildeten  Jugend  nicht  abzusprechen  sein,  und  für 
ein  tieferes  Eindringen,  für  die  Beachtung  der  meisterlichen  Charakte- 
ristik, der  künstlerischen  Gestaltung  soll  ja  eben  der  Unterricht  sorgen. 

Allerdings  ist  Shakspeare  kein  leichter  Schriftsteller,  denn  auch  der 
Forscher  slöszt  wol  bei  wiederholter  Lesung  auf  dunkle  Stellen  und  frü- 
her ungeahnte  Tiefen,  und  Niemand  darf  sich  rühmen,  diesen  Dichter  aus- 
zukennen.  Aber  wäre  das  ein  rechter  Schulschriftsteller,  den  die  Jugend 
seinem  vollen  Wesen  nach  verstände  und  zu  würdigen  vermöchte? 
f Eigentlich  lernen  wir  nur  von  den  Büchern,  die  wir  nicht  beurteilen 
können9.  Dies  sinnreiche  Paradoxon  Goethe's  gilt  besonders  für  die  Jüng- 
lingen zu  empfehlenden  Dichter.  So  wie  im  Sittlichen  nur  das  unerreich- 
bar hohe  Ideal  die  rechte  Nacheiferung  erweckt ,  so  ist  im  Gebiete  des 
Schönen  nur  das  Werk  für  die  Jugend  wahrhaft  bildend,  das  über  das 
Gemeinverständliche  hinaus  unergründlichen  Gehalt  ahnen  läszt. 

Ein  naives  Verständnis  der  Shakspeareschen  Stücke  trauen  wir  also 
den  Schülern  der  Gymnasien  zu;  damit  soll  aber  nicht  gesagt  sein,  dasz 
ihnen  die  Einsicht  in  das  Künstlerische  verschlossen  bleiben  werde.  Für 
das  erste  Studium  der  dramatischen  Poetik  bietet  gerade  unser  Dichter 
treffliche  Gelegenheit.  Für  alle  seine  Schöpfungen  liegt  der  urkundliche 
Text  der  Chroniken  oder  Novellen  vor ,  denen  die  Fabel  entnommen  ist, 
und  meist  lassen  sich  mühelos  die  künstlerischen  Beweggründe  heraus- 
fühlen ,  welche  den  Dichter  zur  Erweiterung  oder  Umformung  jener  ge- 
gebenen Grundzüge  veranlaszten.  Wol  bei  keinem  Dramatiker  der  Vorzeit 
ist  ja  der  Einblick  in  die  geistige  Werkstätte ,  in  welcher  die  rohen  Mar- 
morblöcke zu  Kunstgebilden  gestaltet  werden ,  mehr  erleichtert ,  als  bei 
Shakspeare,  obgleich  er  keine  Briefe  und  Tagebücher  hinterlassen  hat  und 
als  Mensch  uns  nur  in  sagenhafter  Verschwommenheit  entgegentritt.  Des- 
halb hält  es  meist  jricht  schwer,  den  jugendlichen  Leser  auf  die  Gesetze 
"der  sittlichen  Weltanschauung  und  Poetik  zu  führen,  welche  unser  Dich- 
ter —  den  nur  die  Oberflächlichkeit  für  ein  regelloses  Kraftgenie  hält  — 
mit  Strenge  beobachtet.. 

Schwierigkeit  bereitet  es  dagegen  vielen,  vielleicht  den  meisten  jun- 
gen Lesern ,  sich  zu  dem  für  Shakspeare  so  charakteristischen  Humor  in 
das  rechte  Verhältnis  zu  finden.  Jungen  Engländern  scheint  diese  Fähig- 
keit angeboreu.  Nie  sah  ich  solche  stutzig  werden  oder  Anstosz  nehmen, 
wenn  der  Dichter  mit  grellem  Kontraste  neben  das  Erhabene  das  Gemeine, 
neben  das  Schöne  das  Häszliche,  neben  das  Tragische  das  Burleske  stellt. 
Der  Humor  ist  eben  ein  so  natürliches  Element  der  englischen  Litteratur 


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Shakspeare  als  Schulschriftsteller.  405 

und  des  Volkscharakters,  dasz  die  Jugend  sich  in  solche  Stilmischung  so 
leicht  findet,  wie  ein  britisches  Theaterpublicum  eine  tolle  Posse  kräftig 
belacht,  die  unmittelbar  nach  dem  Lear  über  die  Bühne  geht.  Anders  er- 
geht es  vielen  deutschen  Neulingen.  Manche  misverstehen  den  ernsten 
Dichter,  dessen  hochkomische  Figuren  ihnen  äuszerst  ergötzlich  sind, 
derart,  dasz  sie  wähnen,  der  Hauptnachdruck  seines  Werkes  liege  auf 
dem  eingewebten  Satyrspiele,  und  die  Rückkehr  zum  Errist  schwierig  fin- 
den y  andere  —  und  dies  sind  keineswegs  die  poetisch  Unempfänglichen 
—  fühlen  sich,  wenn  der  Rüpel  oder  Narr  die  eben  vom  Helden  verlas- 
sene Bühne  betritt  oder  sich  gar  in  einer  Hof-  oder  Volksscene  unter  die 
Helden  mischt,  so  verdutzt  und  verletzt,  dasz  sie  'den  Humor  mit  Kühle 
und  Achselzucken  aufnehmen.  Ein  junger  Leser  meiner  Bekanntschaft 
war,  als  wir  die  Scene  lasen,  in  welcher  Faustan"  an  Percy's  Heldenleiche 
seine  burleske  Eisenfresserei  ausläszt,  völlig  empört  über  die  f Roheit'  des 
von  ihm  bewunderten  Dichters.  -  ' 

Auf  diesem  Gebiet  ergeht  an  den  Lehrer  oft  die  Aufforderung ,  dem 
Neuling  die  Hand  zu  reichen,  damit  derselbe,  um  den  Dichter  zu  verstehn, 
in  Dichters  Lande  gehen  lerne.  Da  der  Humor,  obgleich  im  strengsten 
Sinn  eine  Stilmischung,  doch  eine  berechtigte  Stilgaltung  ist,  so  hat 
wol  die  Schule,  die  ja  auch  den  Humor  iu  Horaz  Episteln  und  in  Aristo- 
phanes  anerkennt,  vollen  Grund,  dies  Genre,  in  dem  die  Briten  sich  unter 
allen  Nationen  hervorthun  und  Shakspeare  unter  allen  Briten  hervorragt, 
im  Drama  vorzuführen.  Allerdings  liegt  darin  für  die  Jugend  eine  gewisse 
Gefahr  —  hat  doch  keine  Kühnheit  des  groszen  Dichters  die  Nachahmer 
öfter  irregeführt,  als  seine  unnachahmliche  Laune  —  aber  Shakspeare' s 
Humor  enthält  zugleich  ein  Gorrectiv  für  den,  besonders  durch  Schiller's 
Einfiusz,  leicht  überschwänglich  werdenden  Idealismus  der  deutschen 
Jünglinge.  Denn  es  kommt  ihnen  hier  eindringlich  zum  Bewustsein,  wie 
das  Hohe  und  Edle  in  diesem  Leben  beständig  auf  das  Gemeine  und  Rohe 
stöszt,  wie  die  Wirklichkeit  der  Idee  oft  ironisch  entgegentritt  und  wie 
sich  der  mannhafte  Dichter,  der  trotz  seines  Realismus  nie  das  Ideale  aus 
den  Augen  verliert,  über  dieses  den  Schwächling  verwirrende  und  ent- 
mutigende Schauspiel  künstlerisch  hinwegsetzt.  Zur  ästhetischen  Würdi- 
gung dieser  Eigenheit  führt  den  jungen  Deutschen  am  leichtesten  die 
Vergleichung  des  Schillerschen  Macbeth  mit  dem  Originale.  Dasz  unser 
stil strenger  Dichter  verletzende  Schroffheiten  beseitigt,  aber  auch  die 
wilde  Grösze,  welche  die  halbbarbarische  Zeit  der  Handlung  so  imposant 
malt,  abgeschwächt  hat  —  das  nimmt  auch  der  junge  Leser  leicht  wahr. 

Nachdrücklicher  als  das  schwierige  Verständnis  des  Shakspeareschen 
Humors  werden  wahrscheinlich  von  Pädagogen ,  welche  über  die  Schul- 
lectüre  unsres  Dichters  berathen ,  zwei  Ausstellungen  betont ,  die  sie  an 
seiner  Sprache  machen. 

Zunächst  die  unbestreitbare  Thatsache,  dasz  die  Gesprächsweise  in 
unsres  Dichters  Dramen  manche  für  unser  Schicklichkeitsgefühl  anstöszige 
Ausdrücke  zuläszt  und  zwar  nicht  blosz  Naivetäten,  die  ein  unbefangener 
Siun  als  natürliche  Offenheit  einer  kindlichen  Zeit  ebenso  ungekränkt 
übersieht,  wie  die  Nacktheit  der  antiken  Plastik  und  der  Spraehe  Homer's, 


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406  Shakspeare  als  Schulschriftsteller. 

sondern  auch  Unziemliches,  was  seihst  in  jener  derben  Zeit  als  Zweideu- 
tigkeit und  Lascivität  gelten  sollte.  In  den  für  die  Schullectüre  geeigne- 
ten Dramen  kommen  solche  Anstöszigkciten  nur  wenig  vor;  indes  ist  — 
man  denke  nur  an  die  Pfortnerscene  in  Macbeth  —  auch  für  diese  eine 
der  heickelsten  Fragen  der  pädagogischen  Gasuistik  nicht  zu  umgehen. 
Soll  man  einiger  Mängel  wegen  Meisterwerke  mit  dem  Schulbanne  be- 
legen? Dawider  hat  die  Erziehungslehre  im  Bezug  auf  antike  Dichter 
schon  richtig  entschieden.  Soll  man  verfängliche  Stellen  ohne  Bedenken 
mitlesen  lassen ,  im  Vertrauen ,  dasz  das  Anstöszige  durch  den  Ernst  des 
Studiums  und  durch  die  Offenheit  neutralisiert  und  als  Rostfleck  einer 
meisterhaften  Bildsäule  entschuldigt  werde?  Was  man  bei  dem  Privat- 
studium, wenn  der  Lehrer  einen  ernsten  Jüngling  vor  sich  hat,  vielleicht 
wagen  kann ,  möchte  doch  in  gröszeren  Glassen  bedenklich  erscheinen, 
und  man  wird  —  so  sehr  man  auch  den  castigierten  Classikern  der 
Jesuitenschulen  abhold  sein  mag  —  doch  eine  Schulausgabe  Shakspeare's 
wünschen ,  in  welcher  die  maxima  reverentia ,  die  man  der  Jugend  schul- 
det, streng  beobachtet  ist.  Solchem  Wunsch  entspricht  Fölsing's  Schul- 
ausgabe von  vier  Dramen,  welche  nach  dem  Vorgange  des  in  England 
viel  verbreiteten  Familien  -  Shakspeare  alles  Bedenkliche  mit  thunlichster 
Schonung  des  Zusammenhanges  beseitigt,  eine  erwünschte  Auskunft. 
Leider  besitzen  wir  noch  keine  deutsche  Bearbeitung  der  Shakspeareschen 
Dichtungen ,  welche  die  Entfernung  jener  Muttermäler  des  Zeitalters ,  die 
ja  auch  für  die  Bühnendarstellung  notwendig  ist ,  mit  ebensoviel  feinem 
Takt  anstrebt,  als  die  treue  und  schöne  Wiedergabe  der  ebensosehr  durch 
Prägnanz  als  durch  Farbenpracht,  durch  Wuchtigkeit  als  durch  musika- 
lische Schönheit  unübertrefflichen  Diction.  Eine  solche  Bearbeitung  wäre 
gewis  die  schönste  Festgabe  zu  des  Dichters  Jubeltage. 

Wahrscheinlich  knüpfen  aber  die  Gegner  an  diese  Lobpreisung  der 
Shakspeareschen  Dichtersprache  einen  neuen  Einwand  an.  Dieselbe  sei 
nicht  von  so  gleichmäsziger  Vollendung ,  dasz  sie  der  Jugend  als  classi- 
sches  Muster  vorgestellt  werden  könne.  Es  fehle  ihr  das  goldene  Masz- 
halten,  sie  leide  nicht  selten  an  zu  grellen  Farben,  an  asiatischem  Pompe. 
Wie  der  üppige  Urwald  Riesenbäume  und  Prachtblumen  in  wunderbarer 
Fülle  erzeuge,  so  lasse  er  daneben  auch  geiles  Gestrüpp  und  Unkraut 
sprossen.  Neben  erhabener  Würde  finde  sich  hohle  Grandezza,  neben 
meisterhafter  Versinnlichung  Unklarheit  durch  gehäufte,  nicht  zusammen- 
stimmende Bilder,  neben  echten  Naturlauten  erklingen  schwulstige  Phra- 
sen, neben  glänzendem  Witze  mache  sich  gezierte  Witzelei ,  neben  genia- 
ler Unmittelbarkeit  gesuchte  mythologische  Gelahrtheit  geltend.  Deshalb 
seien  Shakspcare's  Stücke  der  Jugend  ebenso  verführerisch  und  schädlich, 
wie  die  Jugenddramen  Schiller's  und  die  Prosa  Jean  PauFs. 

Ein  unbedingter  Verehrer  unsres  Dichters  würde  diese  Ausstellungen 
als  frevelhafte  Mäkelei  verurteilen.  Erklärte  doch  die  Tiecksche  Schule, 
dasz  Einer,  der  in  Shakspeare  nicht  alles  bewundere,  überhaupt  nicht  sa- 
gen dürfe ,  dasz  er  ihn  bewundere.  Selbst  solchem  Trumpf  gegenüber 
wird  doch  ein  besonnener  Schulmann  wol  eingestehen  müssen,  dasz  er 
den  Euphuismus   (jene  galante  Ziererei ,  welche  das ,  Gespräch  durch 

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Shakspcare  als  Schulschriftsteller.  407 

schwülstige  Metaphern,  ungeheuerliche  Hyperbeln,  spitzfindige  Antithesen 
und  geschraubte  Wortspiele  zu  würzen  sucht)  eher  für  eine  zu  entschul- 
digende Mode,  als  für  das  wahrhaft  Grosze  unsres  Dichters  halte  und  dasz 
er  furchte,  diese  Manier,  welche  in  den  Jugenddramen  und* Lustspielen 
»ersehe  und  spurweis  auch  in  den  Dramen  der  reifen  Zeit  vorkomme, 
werde  für  die  jungen  Leser  schon  deshalb  verführerisch  sein,  weil  sie 
einem  zu  höchster  Sympathie  hinreiszenden  Dichter  anhafte. 

Würde  aber  nicht  selbst  ein  solcher  Beurteiler  das  Sprachstudium 
unsres  Dichters  schon  deshalb  empfehlen  müssen,  damit  jenem  befürchte- 
ten Einflüsse  vorgebeugt  werden  könne ,  da  doch  Shakspeare  den  meisten 
Junglingen  bekannt  wird  und  eine  Warnung  vor  seiner  Bekanntschaft 
wirkungslos  sein  würde?  Junge  Groszstädter  sehn  ja  Romeo  und  Hamlet 
auf  der  Bühne ,  und  viele  strebsame  Jünglinge  lesen  die  in  Büchern  und 
Zeitungen  belobten  Dramen,  deren  Uebersetzungen  mehr  verbreitet  sind, 
als  die  Stücke  aller  andern  ausländischen  Dramatiker,  für  sich. 

Die  erste  Bekanntschaft  mit  Shakspeare  ist  aber  für  die  Bildungsge- 
schichte  eines  Jünglings  ein  so  bedeutsames  Moment,  dasz  sie  die  volle 
Beachtung  der  Erzieher  verdient.  Sie  ist  eins  der  gfoszen,  unvergesz- 
lichen  Ereignisse  des  Lebens ,  wie  der  erste  Anblick  der  Alpen  und  des 
Meeres.  Ergeht  es  doch  den  jungen  Lesern  allen,  wie  Wilhelm  Meister, 
von  dem  Goethe  erzählt:  *In  kurzem  ergriff  ihn  der  Strom  des  groszen 
Genius  und  führte  ihn  einem  unübersehbaren  Meere  zu,  worin  er  sich  gar 
bald  völlig  vergasz  und  verlor.' 

Fern  bleibt  es  natürlich  einem  Lehrer,  der  seiner  eignen  Jugend  ein- 
gedenk ist ,  den  Neulingen  ein  solches  Treiben  auf  diesem  Riesenstrome 
der  Poesie  dadurch  zu  vernüchtern,  dasz  er  sie  an  ästhetischen  Schwimm- 
gürteln zu  halten  sucht  und  dem  jungen  Schwimmer  kein  Abenteuer 
gönnt.  Eine  Art  Shakspearesche  Sturm-  und  Drangperiode  durchzuma- 
chen ,  ist  gewis  eine  der  zulässigsten  Jugendschwärmereien. 

Aber  dem  Jüngling  bei  solchem  'Treiben  auf  dem  unübersehbaren 
Meere'  für  immer  sich  selbst  zu  überlassen ,  während  man  ihn  für  das 
weniger  klippenreiche  classische  Drama  der  Griechen  und  Deutschen  völ- 
lig einschult  —  das  ist  doch  kaum  folgerecht.  Soll  man  nicht  auch  hier 
streben,  den  poetischen  Naturtrieb  zu  wahrem  Kunstsinn  zu  erhöhen, 
soll  man  das  Schwelgen  phantasiereicher  Jünglinge  im  ^Phantastischen 
und  Ungeheuerlichen  und  ihre  ikarischen  Versuche ,  dem  Dichter  nachzu- 
fliegen, soll  man  das  eitle  Haschen  Witzlustiger  nach  humoristischen 
Seltsamkeiten  und  groteskem  Unsinn,  wie  es  Goethe  als  das  Gebahren 
seines  shakspearomanen  Freundes  Lenz  schildert,  ruhig  gewähren  lassen  ? 
Zwar  wird  solche  Schwärmerei  nur  bei  überspannten  Naturen  so  verderb- 
lich wirken,  wie  bei  diesem  in  der  Genialitätssucht  Verkommenen.  Aber 
einigen  Schaden  erleiden  dodh  auch  einzelne  weniger  stürmische  Jung- 
linge, für  welche  die  ungeleitete  Shakspeafelesung  nicht  sowohl  dem 
Treiben  auf  einem  Meere,  als  dem.  Fortgerissen  werden  von  einem  fRegen- 
strom  aus  Felsenrissen,'  gleicht.  Wie  mancher  Begabte  von  Grabbe  bis 
Hebbel  bewies  nicht  durch  seine  Dichtungen ,  dasz  er  das  Absonderliche 
eines  urtümlichen  Genius  für  dessen  wahre ,  nachahmenswerlhe  Grosze 


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408  Shakspeare  als  Schulschriftsteller. 

hielt,  dasz  ihm  —  wie  es  den  französischen  Romantikern  ergieng  —  der 
Hexenspruch:  'Schön  ist  häszlich,  häszlich  schön'  zum  ästhetischen  Glau- 
benssatze geworden,  sei!  Und  müssen  wir  nicht  alle  gestehen,  dasz  die 
erste  Bekanntschaft  mit  Shakspeare  für  eine  Zeit  lang  unempfänglich  und 
ungerecht  gegen  die  antike  Tragödie  stimmt,  und  dasz  es  dem  raschen 
Parteigeist  der  Jugend  schwer  wird ,  sowol  dem  Idealismus  als  dem  Rea- 
lismus sein  Recht  zuzuerkennen?  Hier  ist  eine  Aufgabe  der  ästhetischen 
Hodegetik  zu  erfüllen ,  welche  um  so  weniger  der  Universitätszeit  ver- 
spart bleiben  darf,  als  die  Wahrscheinlichkeit  grosz  ist ,  dasz  unter  dem 
Drange  der  Fachcollegien  solche  Studien  zurückstehen  werden. 

So  befestigen  denn  alle  Erwägungen  die  Ansicht,  dasz  es  gerathen 
sei,  die  reiferen  Zöglinge  der  höheren  Schulen  in  die  reiche  Galerie  der 
Shakspeareschen  Dichtungen  einzuführen,  welche  als  Kunstwerke  an  sich 
und  als  epochemachende  Werke  in  der  deutschen  Litteratur  und  Kunst 
insbesondere  für  den  Deutschen  von  höchster  Wichtigkeit  sind. 

Mögen  noch  einige  Andeutungen  über  die  für  das  Schulstudium 
Shakspeare's  geeignete  Methode  gestattet  sein ! 

«In  Lehranstalten,  welche  dem  Englischen  gleiches  Recht  mit  dem 
Französischen  einräumen  —  ein  Recht,  das  dieser  Sprache  ohne  Zweifel 
gebührt  und  in  Zukunft  wol  überall  zuerkannt  werden  wird  —  in  sol- 
chen Schulen  ist  Shakspeare  natürlich  mit  den  Schülern  der  obersten  Glasse 
in  der  Urschrift  zu  lesen.  Die  altertümliche,  hochpoetische  Sprache  hat 
ihre  Schwierigkeiten,  aber  zugleich  so  grosze  Reize,  dasz  der  Lehrer  ver* 
sichert  sein  kann,  die  für  Kunstschönheit  empfänglichen  Schüler  werden 
später  durch  eigne  Anstrengung  sich  weiter  einzuarbeiten  suchen  und 
wenigstens  neben  der  Uebersetzung  die  Urschrift  vergleichen. 

Aber  auch  solche  Gymnasien ,  in  deren  öffentlichen  Unterricht  das 
Englische  nicht  aufgenommen  ist,  sind  im  Stande,  unsern  Dichter  für 
ihre  Zöglinge  zu  verwerthen.  Freilich  hat  das  Lesen  einer  Uebersetzung 
nicht  den  vollen  bildenden  Einflusz,  wie  das  Studium  des  Urtextes;  da- 
gegen bietet  eine  so  wolgelungene  Uebersetzung  wie  die  Schlegelsche 
den  Vorteil ,  dasz  der  junge  Leser,  der  hier  weniger  Anstrengung  für  das 
Verständnis  der  Sprache  bedarf,  seine  Aufmerksamkeit  ungeteilt  der  poe- 
tischen Kunst  hingeben  kann.  Als  Gegengrund  wird  wol  der  Mangel  an 
Zeit  eingewandt.  Die  Lehrpläne  der  Gymnasien  sind  allerdings  reich  be- 
setzt, und  die  Warnung  vor  dem  Zuviel  ist  wolberechtigt.  Dieser  Schwie- 
rigkeit läszt  sich  aber  dadurch  begegnen,  dasz  in  jedem  Lehrgange  des 
für  deutsche  Litteratur  bestimmten  Unterrichtes  ein  Shakspearesches  Drama 
vorgeführt  oder  dasz  wenigstens  ein  in  den  Ferien  gelesenes  Stück  in 
einigen  Stunden  besprochen  und  zum  Thema  von  Aufsätzen  und  Rede- 
übungen gemacht  wird.  Vielleicht  wäre  es  nicht  unthunlich,  als  Surro- 
gat für  die  obsolet  gewordenen  Aufführungen  des  Schultheaters  dann 
und  wann  eine  Scene  oder  ein  Stück  mit  verteilten  Rollen  lesen  zu  las- 
sen. Der  geschichtliche  Unterricht  in  der  deutschen  Litteratur,  für  welche, 
unser  Dichter  schon  durch  seine  Anregung  der  Uebersetzerkunst  segens- 
reich gewirkt  hat  und  für  deren  classische  Periode  er  ein  den  antiken 
Meistern  gleichwerthiger  Leitstern  geworden  ist,  darf  ohne  Zweifel  einer 


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Shakspeare  als  Schulschriftsteller.  409 

weniger  bedeutenden  Periode  etliche  Stunden  absparen,  um  in  die  be- 
deutsamste Macht  der  neuen  Weltpoesie  einzufuhren. 

Zu  einer  solchen  Einführung  bedarf  es  für  Schuler,  Welche  schon 
antike  und  deutsche  Musterdramen  unter  Leitung  der  Lehrer  studiert  ha- 
ben, in  der  That  nicht  zu  vieler  Zeit.  Eine  Stunde  genügt,  um  von  dem 
Wenigen,  was  wir  über  Shakspeare's  Leben  sicher  kennen,  das  Wfssens- 
werthe  mitzuteilen.  Der  Schüler,  der  nach  der  ersten,  gemeinsamen  oder 
privaten  Lesung  eines  Stückes  über  den  Gang  und  die  Motive  der  Hand- 
lung, sowie  über  die  Charakteristik  zu  berichten  angehalten  und  dabei 
auf  Uebersehenes  oder  Mis verstandenes  aufmerksam  gemacht  wird,  er- 
fahre nun  durch  den  Lehrer  die  Quelle,  der  die  Fabel  entlehnt  ist,  um 
durch  deren  Vergleichung  Einblick  in  die  Poetik  des  Meisters  zu  erlangen. 
Verschont  bleibe  er  dagegen  mit  hochfliegenden  kunstphilosophischen  und 
culturhistorischen  Theorien ,  zumal ,  wenn  sie  wie  viele  Faustcommen- 
tatoren,  überschwänglich  grübeln  und  'geheimnissen'.  Der  Ralh,  den 
Jarno  dem  Wilhelm  Meister  erteilt,  gilt  auch  für  die  Schule:  'Nur  Eins 
bedinge  ich  mir  aus,  dasz  Sie  sich  an  die  Form  nicht  stoszen,  das  Uebrige 
kann  ich  Ihrem  richtigen  Gefühle  überlassen.'  Die  Form  ist  es  in  der 
That  hauptsächlich,  zu  deren  Verständnis  der  Jüngling  einiger  Nachhülfe 
bedarf.  Es  soll  ihm  über  einzelne  Schwierigkeiten  des  Ausdrucks  hin- 
weggeholfen werden,  er  soll  die  Kostümfehler  als  unwesentliche  Mängel, 
die  bei  der  vortrefflichen  Haltung  der  Gesamtfarbe  kaum  stören,  übersehen 
lernen,  soll  die  Spuren  des  Euphuismus,  die  der  Dichter  selbst  einmal  als 
Haftene  Phrasen,  seidene  Ausdrücke  und  sammtene  Hyperbeln*  verspottet, 
als  Accommodation  an  das  Zeitalter  erkennen,  die  auch  einem  so  selbstän- 
digen Genius  nicht  ganz  erspart  blieb,  und  soll  endlich  und  hauptsächlich 
die  unerschöpfliche  Quelle  echter  Poesie,  die  in  diesen  Werken  quillt, 
ahnen  und  verehren  lernen. 

Gelingt  es  aber  der  Schule,  ihre  Zöglinge  mit 'warmer  Verehrung 
für  einen  groszen  Dichter  zu  erfüllen  und  zur  innigen  Befreundung  mit 
demselben  anzuregen  —  was  wol  bei  keinem  Dramatiker,  auszer  bei 
Schiller,  leichter  ist  —  so  hat  sie  Groszes  gewonnen.  Sie  befähigt  da- 
durch die  Jünglinge,  sich  eine  reiche  Fülle  der  herlichsten  Gaben,  welche 
die  Litteratur  bietet ,  anzueignen ,  ein  Erbe  anzutreten ,  das  einen  kost- 
baren Schatz  für  das  ganze  Leben  darstellt.  Wer  fühlte  nicht  dankbar, 
wieviele  köstliche  Stunden  edlen  Kunstgenusses,  wie  manche  werthvolle 
Lebensanschauung,  wie  viele  sittliche  Anregungen  er  seinem  Shakspeare 
verdanke,  zu  dessen  Dichtungen,  wie  zu  den  Werken  der  Natur,  der  Mann 
und  Greis  mit  stets  frischer  Bewunderung  und  Erbauung  zurückkehrt? 

Wäre  dieses  Gastgeschenk,  das  der  bewirthete  Genius  sicher  hinter- 
läszt ,  allein  schon  werth ,  dasz  die  Schule  Shakspeare  in  den  Kreis  ihrer 
Classiker  aufnehme ,  so  empfiehlt  sich  sein  Studium  noch  in  einer  andern 
Hinsicht,  welche  eine  für  das  Leben  des  ganzen  Volks  heilsame  Wirkung 
verspricht. 

Ueber  keine  Frage  sind  wol  die  Sjtimmen  der  Aesthetiker  mehr  einig, 
als  darüber,  dasz  der  gegenwärtige  Zustand  des  deutschen  Theaters  kein 
erfreulicher  sei.    Und  Lehrer  und  Erzieher  werden  am  wenigsten  diesem 

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410  Shakspeare  als  Schulschriftsteller. 

herben  Urteile  widersprechen  wollen.  Gerathen  sie  doch  oft  in  peinliche 
Verlegenheit,  wenn  sie  von  ihren  Pflegebefohlenen  um  die  Erlaubnis  zum 
Theaterbesuch  angegangen  werden,  da  auf  kleineren  Bühnen  plumpe  Pos- 
sen ,  platte  Lustspiele  und  täppische  Nachahmungen  frivoler  Demimonde- 
rührstücke, auf  gröszeren  fade  Prunbopern  und  lüsterne  Ballette  eine 
grosze  Rolle  spielen. 

Die  Schuld  dieses  Misstandes  liegt  nicht  in  der  Dürftigkeit  der  Epi- 
gonenzeit allein  —  hat  doch  die  Gegenwart  den  Genusz  einer  reichen 
Erbschaft  guter  dramatischer  Werke  —  sie  liegt  nicht  sowol  in  den 
Künstlern,  als  im  Publicum,  von  welchem  das  Theatex  leider  nicht  als 
Kunstanstalt  von  hoher  sittlicher  Bedeutung,  sondern  nur  als  leichter 
Zeitvertreib  betrachtet  wird. 

Kann  aber  die  Schule  etwas  zur  Besserung  jenes  Wolstandes  thun, 
so  ist  sie  gewis  dazu  verpflichtet. 

Schwärmerei  wäre  es,  vom  Schulstudium  classischer  Dramatiker  zu 
erwarten,  dasz  es  junge  Schöpferkräfte  wecken  und  bilden  werde;  aber 
das  vermag  die  Erziehung;  dasz  sie  die  Jugend  für  das  Grosze  und  Schöne 
mit  einer  Begeisterung  erfüllt,  die  sich  noch  über  die  Schulzeit  hinaus 
warm  erhält  und  dasz  sie  dadurch  der  leidigen  Duldsamkeit  gegen  das 
Miltelmäszige  und  Gemeine  wehrt,  die  ein  schlimmer  Feind  des  Guten  ist. 

Und  für  diese  Aufgabe  der  ästhetischen  Erziehung  erscheint  neben 
den  unsterblichen  Dichtern  des  Altertums  und  dem  deutschen  Dreigestirn 
kein  Dramatiker  förderlicher,  als  Shakspeare.  Wer  einmal  die  chohe  Kraft 
des  Herakles',  vor  der  unsere  Heroen  sich  in  Demut  beugten,  lebendig 
inne  geworden,  wer  sich  in  dessen  Geist  vertieft,  der  ist  gefeit  gegen  den 
eiteln  Zeitvertreib  und  die  unreinen  Lockmittel  der  schlechten  Kunst,  der 
hält  sich  nicht  blosz  in  kühler  Vornehmheit  vom  Schlechten  fern,  sondern 
sucht  auch  die  echte  Kunst  zu  unterstützen  und  zu  fördern.  Eine  wahre 
Popularität  Shakspeare's  bei  der  gebildeten  Jugend  —  müste  sie  nicht  all- 
mählich auf  das  gröszere  Publicum  vorteilhaft  wirken? 

Die  Zukunft  wird  lehren,  ob  diese  Hoffnung  eine  überspannte  ge- 
wesen. Shakspeare,  der  fast  drei  Menschenalter  hindurch  Verschollene, 
der  im  achtzehnten.  Jahrhundert  hauptsächlich  durch  deutsche  Dichter  und 
Kunstforscher  Gewürdigte  und  zu  Ehren  Gekommene  wird  im  neunzehn- 
ten Jahrhundert  gewis  auch  in  der  deutschen  Schule  mehr  und  mehr  zu 
seinem  Rechte  gelangen ,  wird  der  höchten  Dichterehre  teilhaft  werden, 
der  Ehre,  ein  Schulclassiker  zu  sein. 

B.  Sigismund. 


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Wohlrab :  Rede  über  einen  Platonischen  Ausspruch.  411 

32. 

Was  hat  Plato  unter  den  Worten  verstanden :  glücklich  der 
Staat,  in  welchem  die  Könige  Philosophen  sind? 


Festrede  von  Dr.  Wohlrab,   gehalten  zur  Geburtstagsfeier  Sr.  Majestät 
des  Königs  Johann  von  Sachsen  am  12.  December  1863  in  der  Kreuz« 
schule  zu  Dresden. 


Wir  haben  heute  den  Gang  unserer  gewöhnlichen  Beschäftigungen 
unterbrochen,  um  den  Tag  festlich  zu  begehen,  an  dem  vor  zweiundsech- 
zig Jahren  unser  allverehrter  König  diesem  Lande  geschenkt  worden  ist. 
Wir  haben  dazu  ebenso  reichliche  Veranlassung,  als  die  andern  Stände 
unsers  Vaterlandes.  Denn  unser  königlicher  Herr  hegt  für  alle  Beschäf- 
tigungen und  Berufsarten  seiner  Unterthanen  eine  gerechte  Anerkennung, 
Iaszt  ihnen  allen  eine  gleichmäszige  Förderung  angedeihen.  Für  die  Fort- 
schritte in  der  Industrie  zeigt  er  ebenso  ermunternde  Teilnahme,  als  er 
die  wissenschaftliche  Forschung  sogar  durch  eigene  Beteiligung  an  der- 
selben ehrt;  der  Rechtspflege  widmet  er  selbst  nicht  geringere  Sorgfalt, 
als  ihm  die  Erhaltung  des  Wehrstandes  am  Herzen  liegt.  Und  über  diesen 
notwendigen  Factoren  unseres  heutigen  Staatslebens  vergiszt  er  nicht  die, 
welche  zur  Zierde  und  zum  Schmucke  gereichen,  auch  die  Kunst,  der  ja 
die  Mitglieder  unseres  Fürstenhauses  von  jeher  eine  treue  Neigung  ge- 
widmet haben,  erfreut  sich  seiner  erhabenen  Pflege.  Diese  königliche 
Teilnahme  ist  trotzdem,  dasz  sie  sich  auf  alle  Berufsarten  erstreckt,  doch 
keine  oberflächliche,  sondern  im  Gegenteil  eine  so  eingehende,  dasz  jeder 
Stand,  dem  unser  König  gerade  seine  Aufmerksamkeit  zuwendet,  glauben 
könnte,  er  sei  der  Gegenstand  ganz  besonderer  Fürsorge.  Und  so  können 
auch  wol  die  Schulen  getrost  des  Glaubens  leben ,  dasz  des  Königs  Auge 
treu  über  sie  wache.  Wissen  wir  es  ja  doch  alle,  wie  viel  er  sich  die 
eigene  geistige  Durchbildung  hat  kosten  lassen,  so  dasz  wir  daraus  schon, 
wenn  es  uns  sonst  an  Beweisen  mangelte,  mit  Notwendigkeit  schlieszen 
müssen,  dasz  er  die  Bildungsstätten  des  Geistes  und  Herzens  nicht  wenig 
achten  kann.  Wissen  wir  es  doch  alle,  dasz  er  es  nicht  verschmäht  hat, 
im  Kreise  seiner  Familie  selbst  als  Lehrer  thätig  zu  sein  und  dasz  er  sich 
dieser  Beschäftigung  mit  einem  Ernst  und  einer  Treue  hingegeben  hat, 
die  für  jeden  Lehrer  musterhaft  sein  kann. 

Diese  königliche  Huld,  die  sich  gleichmäszig  über  alle  Glieder  des 
Staatswesens  verbreitet,  erweckt  in  Jedem  Freudigkeit  für  der!  Beruf,  der 
ihm  zur  Bewährung  seiner  Kräfte  angewiesen  ist,  facht  in  Allen  einen 
edlen  Wetteifer  an.  Unser  König  selbst  aber  löst  eben  dadurch ,  dasz  er 
die  Einheit  aller  Factoren,  aus  deren  Zusammenwirken  erst  ein  wolgeord- 
neles  stattliches  Leben  erblühen  kann,  in  letzter  und  höchster  Stelle  ver- 
mittelt, den  erhebendsten  Teil  seiner  Aufgabe.  Ein  solches  allseitiges 
Interesse,  wie  es  sich  hierin  kund  gibt,  hat  offenbar  eine  ungemein  um- 
fassende Bildung  zur  Voraussetzung,  und  mit  Stolz  dürfen  wir  Sachsen  es 
aussprechen,  dasz  wir  einen  Fürsten  haben,  dem  in  dieser  Beziehung  Kei- 

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412        Wohlrab:  Was  hat  Plato  unter  den  Worten  verstanden: 

ner  Seinesgleichen  die  Palme  streitig  machen  wird.  Es  ist  daher  schon 
oft  bei  den  festlichen  Anlässen ,  die  der  Feier  desselben  gelten ,  daran  er- 
innert worden,  wie  durch  ihn  der  Ausspruch  Plato's  eine  Bestätigung 
gefunden  habe,  dasz  das  Elend  der  Staaten  nicht  eher  ein  Ende  erreichen 
werde,  als  bis  die  Könige  Philosophen  werden.  Auch  ich  glaube  der 
heutigen  Feststimmung,  welcher  Ausdruck  zu  geben  ich  diesmal  berufen 
bin ,  nicht  besser  entsprechen  zu  können ,  als  indem  ich  an  dieses  plato- 
nische Wort  anknüpfend  zeige ,  welchen  Sinn  sein  Urheber  damit  verbun- 
den hat.  Vielleicht  thut  es  gerade  bei  diesem  Ausspruche  Not,  seine  ur- 
sprüngliche Bedeutung  sich  klar  zu  machen,  da  er  beim  ersten  Anblick 
sicherlich  für  jeden  etwas  Befremdliches  hat.  Denn  unter  Philosophen  ver- 
steht man  doch  gewöhnlich  Leute,  die  dem  praktischen  Leben  entfremdet 
das  Wesen  des  Geistes  und  die  allgemeinsten  Fragen  desselben  auf  eine 
selbständige,  von  der  christlichen  Offenbarung  unabhängige  Weise  zu  er- 
forschen suchen.  Wie  es  aber  nun  einerseits  wol  kein  Volk  gegeben  hat, 
das  solchen  Männern  die  Leitung  der  wichtigsten  Geschäfte  in  die  Hand 
gegeben  hätte,  so  zeigt  uns  auch  die  Geschichte  mit  fast  einziger  Aus- 
nahme des  Pythagoreerbundes  kein  Beispiel  auf,  dasz  wirklich  einmal 
Philosophen  nach  Staatsgewalt  gestrebt  hätten.  Wer  nun  mit  solchen 
fast  handgreiflichen  Einwürfen  Plato's  Ausspruch  gerichtet  zu  haben 
glaubte,  würde  diesem  ebenso  feinen  als  tiefen  Geiste  groszes  Unrecht 
anthun,  um  so  gröszeres,  als  er  sich  in  den  Büchern  vom  Staate  aus- 
drücklich vor  denselben  verwahrt  hat.  Solche  ungerechtfertigte  Ausstel- 
lungen entspringen  aber  daraus ,  dasz  man  Plato's  Worte  für  sich  nimmt 
und  ihnen  auf  eigene  Faust  eine  gewisse  Bedeutung  vindiciert.  Man 
wird  denselben  also  am  besten  entgegentreten,  weun  man  nachsieht,  in 
welchem  Zusammenhange  Plato  sie  vorgebracht  hat. 

Plato  thut  den  genannten  Ausspruch  in  seinem  Werke  vom  Staate. 
Es  heiszt  da  im  fünften  Buche :  'Wenn  nicht  entweder  die  Philosophen 
Könige  werden  in  den  Staaten  oder  die  jetzt  so  genannten  Könige  und 
Machthaber  echte  und  tüchtige  Philosophen  und  beides,  Herschermacht 
und  Philosophie,  in  einer  Person  vereinigt  ist,  wenn  nicht  alle  diejenigen, 
welche  sich  jetzt  dem  Einen  oder  dem  Anderen  einseitig  zuwenden ,  ohne 
Nachsicht  von  der  Herschaft  ausgeschlossen  werden ,  so  gibt  es  keine  Er- 
lösung vom  Uebel  für  die  Staaten,  ja  ich  glaube  nicht  einmal  für  die 
Menschheit;  bevor  es  nicht  soweit  gekommen  ist,  wird  niemals  die  Staats- 
verfassung, die  wir  entworfen  haben,  so  gut  es  geschehen  kann,  wirklich 
werden  und  ans  Licht  treten.' 

Schon  aus  den  letzten  Worten  ist  ersichtlich ,  dasz  Plato  in  diesem 
Satze  Rücksicht  nimmt  auf  die  in  den  vorhergegangenen  Büchern  vom 
Staate  enthaltenen  Erörterungen,  welche  wesentlich  die  Aufstellung  einer 
Staatsverfassung  zum  Inhalt  haben,  und  dasz  er  hierin  die  Bedingung  an- 
gibt, unter  der  dieselbe  ins  Leben  treten  kann.  Es  ist  also  unmöglich, 
dieses  Wort  Plato's  zu  verstehen ,  wenn  man  die  Staatsverfassung  nicht 
kennt,  die  er  dargestellt  hat,  und  wiederum  wird  man  für  diese  kein  Ver- 
ständnis haben,  wenn  man  nicht  weisz,  in  welchem  Sinne  er  sie  entwor- 
fen hat.  Plato  ist  kein  Gesetzgeber,  wie  Lykurg  oder  Solon,  der  für  ein 


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glücklich  der  Staat,  in  welchem  die  Könige  Philosophen  sind?  413 

bestimmtes  Volk  eine  Verfassung  zu  schaffen  hat,  er  ist  überhaupt  kein 
Mann  des  Lehens  und  der  Praxis.  Plato  ist  von  Haus  aus  Dichter  und  was 
die  Musen  ihm  bei  seiner  Geburt  verliehen  hatten ,  dessen  konnte  er  sich 
nie  wieder  enläuszern,  so  sehr  er  sich  der  Philosophie  in  der  Folge  hingab. 
Diese  poetische  Begabung  ist  aber  nicht  nur  für  die  Form  der  platoni- 
schen Schriften  von  maszgebendem  Einflusz  gewesen,  insofern  sie  die 
dramatische  Einkleidung  seiner  philosophischen  Theorien  veranlaszt  hat, 
sie  ist  auch  für  seine  Philosophie  selbst  von  unverkennbarer  Wichtigkeit. 
Dem  philosophischen  Denken  sind  Grenzen  gesetzt,  über  die  es  nicht  hin- 
ausgehen kann ,  und  doch  gibt  es  jenseits  derselben  noch  Gebiete ,  in  die 
nur  dichterische  Ahnung  oder  religiöser  Glaube  uns  leiten.  Diese  betritt 
ungestraft  kein  Philosoph,  wenigstens  nicht  insofern  er  Philosoph  ist. 
Dem  Plato  verlieh  seine  dichterische  Begabung  die  Schwingen,  die  ihn  aus 
dem  Reiche  der  erkennbaren  Dinge  hinübertrugen  in  eine  ideal  gestaltete 
Welt  über  den  Wolken  dieser  Erde.  Er  macht  gar  oft  von  dem  schönen 
Vorrechte  wahrer  Dichternaturen  Gebrauch,  das  geistig  Geschaute  in  sei- 
ner unmittelbaren  Wahrheit  einfach  hinzustellen;  er  thut  dies  namentlich 
in  den  philosophischen  Mythen,  für  die  der  griechische  Geist  einmal  eine 
besondere  Begabung  hatte.  Dasz  Plato  noch  nicht  reiner  Philosoph  ist, 
sondern  das  poetische  Element  bei  ihm  noch  vielfach  bestimmend  auftritt, 
darauf  weist  schon  seine  historische  Stellung  in  der  griechischen  Litte- 
ratur  hin.  Die  ganze  griechische  Litteratur  nimmt  von  der  Poesie  ihren 
Ausgangspunkt ,  Homer  ist  der  Ghoreg.  Aus  der  Poesie  muste  sich  die 
Prosa  erst  allmählicli  herausarbeiten.  Wie  nun  die*  Geschichtsschreibung 
durch  Herodot  mit  der  Mythenpoesie  noch  zusammenhängt,  in  ihrer  Rein- 
heit erst  in  Thukydides  ihren  Gipfelpunkt  eAicht,  so  ist  auch  die  Philo- 
sophie hei  Plato  noch  vielfach  auf  poetische  Elemente  basiert,  tritt  selb- 
ständig in  der  ganzen  groszartigen  Strenge  ihres  Begriffes  zuerst  bei 
Aristoteles  auf.  Wer  also  Plato  einseitig  als  Philosophen  auffaszt,  thut 
ihm  sicherlich  ebenso  Unrecht ,  als  wer  nur  an  seinen  Dichterberuf  sich 
halten  und  den  Philosophen  in  ihm  gar  nicht  finden  wollte.  Wir  müssen 
diesen  Gesichtspunkt  festhalten  zum  Verständnis  seiner  ganzen  Philoso- 
phie, wie  zum  Verständnis  einzelner  Teile  derselben ;  wir  müssen  dessel- 
ben speciell  bei  seiner  Lehre  vom  Staate  eingedenk  bleiben. 

Man  kann  durchaus  nicht  sagen,  dasz  Plato  sich  seiner  eigentüm- 
lichen Stellung  nicht  bewust  gewesen  wäre.  Von  seinem  Staatsideale 
sagt  er  selbst,  dasz  er  zunächst  an  die  Ausführbarkeit  desselben  nicht  ge- 
dacht habe.  Er  vergleicht  es  vielleicht  nicht  ohne  Ahnung,  dasz  ver- 
wandte Kräfte  hier  thätig  seien ,  mit  einem  idealen  Bilde.  Niemand  hat 
von  einem  Künstler,  der  eine  ideale  menschliche  Schönheit  dargestellt  hat, 
den  Nachweis  zu  fordern,  dasz  es  eine  solche  auch  geben  könne.  Mit 
demselben  Bechte  kann  Plato  aus  philosophischen  und  poetischen  Ele- 
menten ein  Staatsideal  aufstellen,  ohne  dasz  er  die  Ausführbarkeit  dessel- 
ben nachzuweisen  hätte.  Dasz  er  ernstlichen  Widerspruch,  ja  Spott  und 
Hohn  erfahren  würde,  wenn  er  seine  Ideen  vom  Staate  ohne  Weiteres  als 
realisierbar  hingestellt  hätte,  das  hat  er  selbst  sehr  wol  erkannt.  Schon 
das  Wort  bleibt  der  Natur  der  Sache  nach  hinter  dem  Gedanken  zurück; 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  8.  28 

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414        Wohlrab:  Was  hat  Plato  unter  den  Worten  verstanden: 

wenn  aber  gar  der  Gedanke  ins  Leben  eingeführt  werden  soll ,  das  rein 
Geistige  in  das  Materielle,  so  liegt  klar  zu  Tage,  dasz  mehr  noch  als  der 
zarte  Blütenstaub  vom  Idealen  abgestreift  werden  musz.  Es  ergibt  sich 
hieraus,  wie  sehr  diejenigen  Unrecht  thun,  die  von  rein  praktischen  Ge- 
sichtspunkten aus  an  das  platonische  Wort  herantreten  und  es  bemakeln, 
was  dann  leicht  genug  ist;  sie  legen  aber  einen  Maszstab  an,  mit  dem 
Plato  nicht  gemessen  sein  will. 

Welches  ist  nun  der  ideale  Staat,  wie  ihn  Plato  sich  denkt?  Es  ist 
—  könnte  man  mit  einem  Worte  sagen  —  die  Verkörperung  des  Ge- 
rechtigkeitsbegriffes. Was  ist  aber  wieder  die  Gerechtigkeit?  Die  Beant- 
wortung dieser  Frage  bildet  hiernach  naturgemäsz  den  Kern  des  Werkes 
vom  Staate,  welches  daher  auch  den  zweiten  Titel  irepi  bixaiou  erhalten 
hat.  Plato  sagt  sich  zunächst  los  von  der  gewöhnlichen  griechischen 
Auffassung,  zu  welcher  der  natürliche  Mensch  consequenterweise  gelan- 
gen musz,  wonach  gerecht  ist,  wer  Jedem  gibt,  was  ihm  gebührt,  d.  h. 
dem  Freunde  Gutes,  dem  Feinde  Böses.  Plato,  obwol  noch  von  keiner 
geoffenbarten  Religion  berührt,  erhebt  sich  doch  hoch  über  das  allge- 
mein sittliche  Bewustsein  seiner  Zeit,  indem  er  lehrt,  Böses  thun  dürfe 
der  Gute  überhaupt  niemals,  also  auch  dem  Feinde  nicht,  es  sei  über- 
haupt in  alle  Wege  besser ,  Unrecht  leiden  als  Unrecht  thun.  Aber  auch 
eine  andere  Auffassung  der  Gerechtigkeit,  die  von  sehr  angesehenen  Man- 
nern vertreten  wurde,  kann  Plato  nicht  teilen.  Die  Sophisten  nemlich 
verfochten  mit  vielem  Beifall  den  Satz,  Recht  sei  identisch  mit  Macht. 
Der  Stärkere  erhebe,  was  ihm  vorteilhaft  erscheine,  durch  seinen  bloszen 
Willen  zum  Gesetz ;  diesem  sei  man  Gehorsam  schuldig.  Hiergegen  wen- 
det Plato  ein,  dasz  jeder  Maflhthaber,  sofern  er  ein  Sterblicher  ist,  dem 
Irtum  unterworfen  ist  und  sich  über  seinen  wahren  Vorteil  lauschen 
kann.  Faszt  man  dagegen  einen  Machthaber  ideal  auf,  so  braucht  er  eben 
für  sich  nichts  mehr,  ist  sich  selbst  genug.  Seine  Aufgabe  kann  dann 
also  nur  darin  bestehen,  das  Beste  der  Untergebenen  zu  fördern,  wie  denn 
überhaupt  bei  jeder  Kunst  —  und  das  Herschen  ist  auch  eine  Kunst  — : 
nicht  die  Seite  die  wesentliche  sein  kann,  wonach  sie  dem,  der  sie  aus- 
übt, Nutzen  bringt,  schon  deshalb  nicht,  weil  dies  ja  allen  Künsten  ge- 
meinsam ist,  sondern  nur  die,  wonach  sie  für  Andere  einen  Nutzen  schafft. 
Dient  der  Herscher  nur  des  Soldes  wegen  dem  Wohle  der  Untergebenen, 
so  ist  er  ein  Söldling;  sucjit  er  seinen  Vorteil-  widerrechtlich,  wozu  er 
wegen  seines  Machtbesitzes  viel  Gelegenheit  hat,  so  ist  er  ein  Betrüger; 
übt  er  das  Herscheramt  nur  der  Ehre  wegen,  so  wird  der  Nimbus,  der 
ihn  umgibt ,  gleichfalls  zerrinnen  und  nichts  übrig  bleiben ,  als  ein  ehr- 
geiziger Mensch.  Also  ist  es  eine  unwürdige  Auffassung,  dasz  der  Vor- 
teil des  Stärkeren  das  Recht  sei. 

Wenn  sich  Plato  auf  diese  Weise  von  den  seinem  Zeitalter  geläu- 
figen zwei  Auffassungen  des  Gerechtigkeitsbegriffes  losmacht,  was  setzt 
er  an  deren  Stelle?  Mit  wenig  Worten  läszt  sich  das  nicht  leicht  sagen; 
es  wird  sich  am  besten  aus  einer  kurzen  Darstellung  seines  Staatsideals 
ergeben.  Das  Bedürfnis  nach  staatlicher  Ordnung  geht  nach  Plato's  An- 
schauung hervor   aus  dem  Gefühle  der  Unzulänglichkeit  des  Einzelnen. 

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glücklich  der  Staat,  in  welchem  die  Könige  Philosophen  sind?  415 

Kein  Mensch  ist  zur  Befriedigung  aller  seiner  Bedurfnisse  sich  selbst  ge- 
nügend; Einer  bedarf  immer  des  Anderen.  Je  nach  seinen  Kräften  über- 
nimmt nun  der  Eine  dieses ,  der  Andere  jenes  Geschäft.  So  entsteht  ganz 
von  selbst  eine  gewisse  Teilung  und  Organisation  der  Arbeit  und  wie- 
derum nach  der  Bedeutsamkeit  der  Leistungen  des  Einzelnen  eine  gewisse 
Classification  und  Rangordnung  der  Menschen.  Da  hiernach  die  Verschie- 
denheit der  natürlichen  Anlagen  die  Abstufungen  im  "Staatsleben  bedingt, 
so  ist  es  allerdings  consequent,  wenn  Plato  bei  der  Feststellung  der 
verschiedenen  Stände  von  den  Seelenkräften  ausgeht,  deren  er  drei  an- 
nimmt. 

Die  niedrigste  Seelenkraft,  die,  welche  am  meisten  noch  an  das  Kör- 
perliche grenzt,  ist  die  ImGuuia,  der  begehrliche  Teil  der  Seele.  Sie  ist 
vorwiegend  in  der  groszen  Masse,  die  den  letzten  Stand,  den  Stand  der 
Handarbeiter  und  Ackerbauer  bildet.  Diese  Begehrlichkeit  droht  dem  Gan- 
zen Verderben;  es  musz  ihr  also  eine  Schranke  gesetzt  werden.  Dies  ge- 
schieht, indem  Plato  dem  dritten  Stande  als  Gegengabe  die  CW(ppocuvr|, 
die  Besonnenheit,  bestimmt,  die  Tugend,  welche  die  Begierden  auf  das 
rechte  Masz  zurückführt.  Die  Besonnenheit  hat  nemlich  einerseits  im 
einzelnen  Menschen  ein  gewisses  Gleichgewicht  zwischen  den  sinnlichen 
Begierden  und  dem  wenn  auch  unbedeutenden,  so  doch  vorhandenen  gei- 
stigen Leben  dieses  letzten  Standes  herzustellen,  andrerseits  eine  gewisse 
Harmonie  zwischen  diesem  Stande  und  den  übrigen  dadurch  herbeizufüh- 
ren, dasz  sie  zur  Anerkennung  des  notwendigen  Unterschiedes  zwischen 
Herschenden  und  Gehorchenden  hinleitet.  Vor  Armut,  wie  vor  Reich- 
tum ist  der  letzte  Stand  gleichmäszig  zu  bewahren,  da  ihn  Beides  zur  Er- 
füllung der  ihm  eigentümlichen  Geschäfte  untüchtig  macht,  die  Armut, 
insofern  ihm  dann  die  Mittel  fehlen ,  mit  denen  er  allein  eine  Arbeit  gut 
ausführen  kann,  der  Reichtum,  insofern  er  ihn  leicht  zur  Vernachlässi- 
gung der  ihm  aufgetragenen  Geschäfte  verleitet.  Im  Uebrigen  wird  inner- 
halb dieses  Standes  wieder  eine  strenge  Scheidung  dadurch  herbeigeführt, 
dasz  Jeder  nur  ein  Geschäft  betreiben  darf,  das,  wozu  er  vorwiegende 
Anlagen  und  Fähigkeiten  besitzt;  denn  nur  auf  diese  Weise  kann  es  Jeder 
zu  einer  gewissen  Vollkommenheit  und  eigenen  Befriedigung  bringen.  Im 
Ganzen  aber  hat  dieser  niedrigste  Stand,  so  wichtig  er  thatsächlich  schon 
durch  sein  numerisches  Uebergewicht  im  Staatsleben  selbst  ist,  für  Plato, 
der  ihn  nur  als  die  materielle  Grundlage  seines  Staatsgebäudes  ansieht, 
das  geringste  Interesse. 

Uebcr  diesem  Stand  der  Handarbeiter  und  Ackerbauer  erhebt  sich 
der  schon  geistigere  Stand  der  Krieger.  Die  diesen  eigentümliche  Seelen- 
kraft ist  der  öuuöc,  der  strebsame,  eifernde  Teil  der  Seele,  von  welchem 
Zorn,  Mut,  Energie  nur  verschiedene  Aeuszerungen  sind.  Die  Tugend, 
welche  diesem  Stande  speciell  zukommen  und  ihn  vor  Ausschreitungen 
bewahren  soll,  ist  die  dvbpeia,  die  Tapferkeit,  welche  Plato  als  die  rich- 
tige Vorstellung  von  dem  erklärt,  was  in  Wahrheit  zu  fürchten  und  nicht 
zu  fürchten  ist.  Der  Erziehung  dieses  Standes  wendet  Plato  eine  grosze 
Sorgfalt  zu.  Zur  Ausbildung  seiner  geistigen  Anlagen,  also  vorzugsweise 
des  öujiöc,  wird  die  musische  Kunst  angewendet  d.  h.  Poesie,  Musik, 

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416        Wohlrab:  Was  hat  Plato  unter  den  Worten  verstanden: 

Alles,  was  auf  die  Seele  veredelnd  einwirkt,  zur  Ausbildung  der  körper- 
lichen Anlagen,  die  in  hohem  Grade  vorausgesetzt  werden,  die  Gymna- 
stik ,  durch  die  zugleich  der  Mut  gestärkt  werden  soll.  Doch  soll  keines 
von  beiden  Bildungsmitteln  ausschlieszlich  gebraucht  werden ;  denn  wer 
allein  die  musische  Kunst  treibt,  wird  weichlich,  wer  allein  Gymnastik, 
wird  roh.  Dieser  so  gebildete  Kriegerstand  hat  im  eigenen  Staate  gewis- 
sermaszen  eine  polizeiliche  Thätigkeit;  er  hat  also  für  Auf  rech  terhaltung 
der  bestehenden  Ordnung  und  für  die  Ausführung  der  vom  Herscherstande 
gegebenen  Befehle  zu  sorgen.  Doch  ist  hierbei  namentlich  als  eine  Frucht 
der  Bildung  in  der  musischen  Kunst  zu  erwarten ,  dasz  sich  die  Strenge 
und  Härte,  die  diesem  Stand  von  Haus  aus  eigen  ist,  nie  in  Bohheit 
äuszern,  sondern  dasz  sie  gemildert  und  ermäszigt  zu  einem  freundlichen 
und  humanen  Verhalten  den  Bürgern  gegenüber  erscheint.  Als  eigent- 
licher Kriegerstand  aber  tritt  dieser  Stand  den  äuszeren  Feinden  des  Staa- 
tes gegenüber  auf  und  gegen  diese  hat  er  sich  in  seiner  ganzen  Furcht- 
barkeit zu  bewähren.  Es  soll  dieser  Stand  ohne  alles  Eigentum  sein,  um 
nicht  durch  die  Sorge  um  dasselbe  von  der  Erfüllung  seiner  Pflichten  ge- 
gen den  Staat  abgehalten  zu  werden;  er  soll  lagerartig  zusammenwoh- 
nen und  speisen  von  einer  mäszigen  Naturalbesoldung ,  die  ihm  der  letzte 
Stand  liefert.  Dieser  Kriegersland,  dem  also  die  Erhaltung  des  Staates 
nach  innen  und  auszen  zufällt,  bildet  gewissermaszen  das  Bindeglied  zwi- 
schen der  Masse  der  Unterthanen  und  dem  Herscherstande. 

Der  Herscherstand  selbst  entwickelt  sich  aus  dem  Kriegerstande. 
Diejenigen  Krieger,  welche  die  allerfahigsten  sind,  werden  zu  einer  ge- 
wissen Zeit  ausgesondert  und  speciell  auf  das  sorgfältigste  erzogen.  Dem 
Herscherstande  kommt  die  höchste  Seelenkraft  zu,  der  voöc,  die  Ver- 
nunft. Die  ihm  eigentümliche  Tugend  ist  die  coqpia,  die  Weisheit,  die 
gewissermaszen  als  ein  Gulminationspunkt  aller  Tugenden  anzusehen  ist, 
mithin  alle  Tugenden  in  sich  beschlieszt.  Während  also  die  beiden  unte- 
ren Stände  nur  einzelner  Vorzüge  teilhaft  sind,  ist  der  Herscherstand 
schon  dadurch  hoch  über  dieselben  erhaben,  dasz  in  ihm  alle  Vorzüge  im 
höchsten  Grade  vereinigt  sind.  Diese  Elite  der  begabtesten  und  unter- 
richtesten  Männer  widmet  alle  Sorgfalt  ungeteilt  dem  Wole  der  Unter- 
gebenen ;  denn  aller  Sorge  um  eigenen  Besitz  sollen  sie,  wie  der  Krieger- 
stand, enthoben  sein. 

Diese  drei  Stände,  die  für  das  platonische  Staatsideal  am  meisten 
charakteristisch  sind,  sind  nicht  so  von'  einander  geschieden,  dasz  ein 
Uebergang  aus  dem  einen  in  den*  andern  nicht  möglich  wäre.  Sie  sind 
zunächst  auf  die  natürlichen  Anlagen  der  Einzelnen  und  auf  den  Erfah- 
rungssatz begründet,  dasz  die  Kinder  meist  nach  der  Art  der  Eltern  sind. 
Doch  wie  es  hiervon  Ausnahmen  gibt,  so  sollen  Einzelne  aus  den  unteren 
Glassen  in  die  oberen  herübergenommen  werden  können,  wenn  sie  die 
nötige  Befähigung  dazu  darlegen;  ebenso  sollen  solche,  die  den  oberen 
Ständen  angehören,  unter  Umständen  degradiert  werden  können.  Jedem 
ist  also  durch  die  Einreihung  in  einen  gewissen  Stand  der  Kreis  seiner 
Pflichten  bestimmt  und  klar  vorgeschrieben,  und  hier  ergibt  sich  nun  von 
selbst,  was  Plato  unter  der  Gerechtigkeit,  der  von  den  vier  Cardinal- 

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glucklich  der  Staat,  in  welchem  die  Könige  Philosophen  sind?  417 

tugenden  der  Griechen,  auf  die  er  sein  Staatsideal  basiert,  einzig  verstehen 
kann.  Die  Gerechtigkeit  besteht  nemlich  nach  ihm  in  nichts  Anderem,  als 
dasz  Jeder  die  Stelle,  die  ihm  angewiesen  ist,  auch  nach  allen  seinen  Kräf- 
ten auszufüllen  sich  bemüht  und  in  keiner  Weise  in  die  Thätigkeitssphäre 
des  Anderen  hinübergreift.  Hierauf  beruht  zugleich  die  Glückseligkeit 
jedes  Einzelnen ,  wie  des  Ganzen.  Denn  alle  Stände  sollen  sich  glücklich 
fühlen,  nicht  einer  vor  den  andern.  Das  Glück  eines  Jeden  besteht  aber 
darin,  dasz  ihm  Gelegenheit  zur  Entfaltung  der  in  ihm  liegenden  Kräfte 
verliehen  ist.  Allerdings  ist  das  Glück  der  Einzelnen  trotzdem  noch  ein 
ungleichartiges;  die  Herscher  werden  in  anderer  Weise  glücklich  sehr, 
als  die  Handwerker;  allein  man  kann  doch  Niemandem  eine  andere  und 
höhere  Glückseligkeit  bieten,  als  die,  für  welche  er  empfänglich  ist  und 
wozu  ihn  seine  ganze  Weise  befähigt. 

Dies  die  Grundzüge  des  Platonischen  Staatsideales.  Charakteristisch 
ist  demselben  zunächst,  dasz  hier  der  Staat  eine  grosze  Erziehungsanstalt 
ist,  in  welcher  Jedem  zu  der  Vollkommenheit  verholfen  werden  soll,  die 
ihm  nach  seinen  Anlagen  zu  erreichen  möglich  ist.  Ferner  zeichnet  er 
sich  durch  eine  ungemein  entwickelte  Gentralisalion  aus,  wie  wir  sie  in 
der  Geschichte  in  Zeiten  finden,  die  sich  den  höchsten  Culturstufen  nähern. 
Die  Herscher  sind  in  diesem  Staate  das  geistige,  Alles  durchdringende 
Princip,  die  anderen  Stände  stehen  in  absoluter  Abhängigkeit  von  ihnen; 
sie  leiten  das  gesamte  Erziehungswesen ,  unter  ihrer  Aufsicht  wird  jede 
Kunst  und  Wissenschaft  getrieben  und  geübt.  Da  das  gesamte  Staats- 
wesen hiernach  in  dem  Herscherstande  gipfelt,  so  ist  es  natürlich,  dasz 
Plato  über  seine  Stellung  und  Bildung  so  eingehend  spricht,,  dasz  der 
Schilderung  desselben  der  ganze  zweite  Teil  des  Werkes  vom  Staate  ge- 
widmet ist. 

Zunächst  spricht  es  Plato  ganz  offen  aus ,  dasz  diejenigen ,  die  er  an 
die  Spitze  seines  Staates  gestellt  wissen  will,  also  die  Herscher,  Niemand 
Anders  sind,  als  die  Philosophen.  Es  fragt  sich  also,  was  er  darunter 
versteht.  OlXocoqna  ist,  übersetzt,  Studium  sapientiae,  Liebe  zur  Weis- 
heit. Wenn  nun  einerseits  Liebe  zu  etwas  der  Trieb  ist,  der  einzig  dar- 
auf ausgeht,  sich  das  anzueignen,  worauf  er  gerichtet  ist,  so  ist  Weisheit 
andererseits  die  Erkenntnis  dessen ,  was  in  dieser  Welt  wechselnder  Ge- 
stalten das  unverändert  Bleibende  ist,  dessen,  was  im  Gegensatz  zu  dem, 
was  zu  sein  scheint,  wirklich  ist.  Wer  also  die  Dinge  nimmt,  wie  sie 
uns  nun  eben  erscheinen,  ohne  sich  daran  zu  kehren,  dasz  sie  heute  diese, 
morgen  jene  Gestalt  annehmen,  der  ist  kein  qnXöcocpoc,  sondern  ein 
qnXoboSoc ;  denn  er  bleibt  bei  der  öö£a,  beim  bloszen  Meinen,  stehen, 
das  allerdings  wahr,  aber  auch  falsch  sein  kann,  wie  sein  Gegenstand, 
die  Erscheinungswelt,  eben  auch  zwischen  dem  Seienden  und  dem  Nicht- 
seienden  in  der  Mitte  liegt.  Ein  Philosoph  kann  also  nach  Plato  nur  der- 
jenige genannt  werden,  der  nach  Weisheit,  coqna,  strebt,  nach  dem 
Wissen,  „welches  dem  Bereiche  des  Irtums  entnommen  ist;  Object  der 
Weisheit  aber  kann  in  Folge  dessen  nur  das  sein,  was  den  erscheinenden 
Dingen  zu  Grunde  liegt,  was  sich,  während  die  Dinge  wandelbar  sind,  un- 
veränderlich als  dasselbe  darstellt. 

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418        Wohlrab:  Was  hal  PJato  unter  den  Worten  verstanden: 

Das  aber ,  was  in  die  unendlich  vielgestaltige  Welt  Einheit  bringt, 
in  dem  Wechselvollen  das  Bleibende  ist ,  in  dem  Scheinenden  das  Seiende, 
sind  die  Ideen  d.  h.  zunächst  die  allgemeinsten  Art-  und  Gattungsbegriffe. 
Man  gelangt  zu  denselben  dadurch ,  dasz  man ,  was  in  der  Erscheinungs- 
welt wesentliche  Eigenschaften  unter  sich  gemein  hat,  zu  der  Einheit 
eines  Begriffes  verbindet.  Nach  der  gewöhnlichen  Auffassungsweise  sind 
diese  begrifflichen  Einheiten  ein  blosz  Gedachtes,  nichts  Reelles,  weil  sie 
nur  in  unsern  Köpfen  existieren,  während  die  Mannichfaltigkeit  der  Dinge, 
von  denen  sie  abstrahiert  sind,  der  wirklichen  Welt  angehört,  Realität 
hat.  Plato  dreht  das  Verhältnis  vollständig  um;  ihm  sind  die  Ideen 
das  Wirkliche,  die  Dinge  nur  die  Darstellungsformen  derselben  in  der 
Körperwelt.  Der  Grund  hierfür  liegt  nahe.  Plato  fragt,  wie  eigentlich 
alle  griechischen  Philosophen  von  Thaies  an,  was  das  Bleibende  im  Wech- 
sel ist,  und  identifiziert  dieses  mit  dem  Seienden,  dem  wahrhaft  Realen. 
Consequenter  Weise  erklärt  er  nun  die  Ideen,  diese  allgemeinsten  Begriffe, 
dafür;  denn  sie  sind  allerdings  von  Anfang  an  bis  heute  immer  dieselben 
geblieben,  sind  unzerstörbar  und  unverwüstlich  gegenüber  den  der  Ver- 
gänglichkeit anheimfallenden  Einzelwesen,  aus  denen  sie  construiert  sind. 
So  ist  —  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen  —  die  Idee  eines  Baumes  von 
den  ersten  Zeiten  an,  wo  es  Bäume  gab,  bis  heute  immer  dieselbe  ge- 
blieben, während  die  Bäume  selbst  in  unabsehbarer  Menge  entstanden  und 
immer  wieder  vergangen  sind. 

Wenn  so  die  Ideen  begriffliche  Einheiten  sind,  die  eine  Vielheit  von 
Erscheinungen  unter  sich  befassen ,  so  gibt  es  dann  wieder  in  der  Weit 
der  Ideen  einen  gewissen  Organismus,  wonach  höhere  Ideen  eine  Mehr- 
heit niederer  in  sich  schlieszen.  So  gelangt  man  stufenweise  zuletzt  zu 
einer  höchsten  Idee ,  in  der  Alles  gipfelt.  Diese  ist  die  Idee  des  Guten. 
Plato  führt  für  dieses  Verhältnis  aus  dem  Gebiete  des  Geistigen  ein  ent- 
sprechendes aus  dem  Gebiete  des  Sinnlichen  an.  Mit  den  Augen  sehen 
wir  die  Dinge;  die  Sichtbarkeit  der  Dinge  wird  vermittelt  durch  das  Licht; 
das  Licht  aber  geht  aus  von  der  Sonne.  In  ähnlicher  Weise  erkennen 
wir  mit  der  Vernunft  die  Erscheinungswelt;  dieses  Erkennen  wird  vermit- 
telt durch  die  Ideen,  die  Ideen  erfassen  wir  aber  nur  vermöge  ihrer  Er- 
leuchtung durch  die  höchste  Idee,  die  Idee  des  Guten.  Wenn  also  die 
Ideen  zunächst  das  Licht,  das  geistige  Medium,  sind,  durch  welches  wir 
allein  die  Erscheinungswelt  richtig  erfassen ,  so  sind  sie  doch  selbst  noch 
nicht  das  Höchste ,  sondern  erst  ein  Ausflusz  des  Höchsten  x  der  Idee  des 
Guten;  sie  verhalten  sich  also  zur  Idee  des  Guten,  wie  das  Licht  zur 
Sonne.  Wie  nun  die  Sonne  den  Erdendingen  auszer  ihrer  Wahrnehm- 
barkeit  durchs  Auge  erst  Werden  und  Wachsen  verleiht  f  so  gibt  die  Idee 
des  Guten  den  übrigen  Ideen  nicht  blosz  die  Möglichkeit  erkannt  zu  wer- 
den, sondern  auch  das  Sein  selbst,  die  Realität.  Die  Idee  des  Guten  be- 
faszt  also  zweierlei  in  sich:  sie  ist  einerseits  der  Träger  der  höchsten 
Erkenntnis,  andrerseits  aber  der  letzte  Grund  alles  wahrhaft  Realen,  und 
Jeder  wird  hiernach  leicht  ahnen  können,  dasz  sie  überhaupt  nichts  ist, 
als  die  philosophische  Bezeichnung,  die.Plato  für  die  Gottheit  selbst  hat. 
Unter  dem  Guten  aber  hat  man  in  diesem  Sinne  nicht  allein  das  moralisch 


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glücklich  der  Slaat,  in  welchem  die  Könige  Philosophen  sind?  419 

Gute  zu  verstehen,  sondern  man  hat  es  im  allgemeinsten  Sinne  zu  fassen, 
so  dasz  das  moralisch  Gute  oder  die  Tugend,  wie  das  Gerechte  und 
Schöne,  nur  Teile  desselben  sind.  Dasz  aber  das  Gute  in  diesem  Sinne 
das  Höchste  ist,  was  es  gibt,  geht  schon  daraus  hervor,  dasz  jeder 
Mensch  wenigstens  nach  dem  Scheine  desselben  strebt,  also  wenigstens 
in  dunkler  Ahnung  jener  Idee  nachgeht. 

Um  diese  dreifache  Abstufung,  welche  zwischen  der  Erscheinungs- 
welt, den  Ideen  und  der  Idee  des  Guten  stattfindet,  zu  veranschaulichen, 
braucht  Plato  das  bekannte  Gleichnis  von  der  Höhle.  Man  denke  sich  eine 
unterirdische  Höhle ,  in  welche  kein  Strahl  der  Sonne  dringen  kann ,  die 
nur  matt  erleuchtet  ist ;  man  denke  sich  Menschen ,  die  sich  von  jeher  in 
derselben  befunden  hätten.  Diese  würden  offenbar  die  Schattenbilder,  die 
von  vorübergetragenen  Gegenständen  in  diesen  Kerker  fielen,  für  die  Dinge . 
selbst  halten.  Sie  würden  von  diesem  Wahne  erst  befreit  werden,  wenn 
sie  aus  dieser  Höhle  herausträten  und  die  Dinge  selbst,  vom  Sonnenlicht 
erleuchtet,  sähen.  In  einem  solchen  Kerker  befindet  sich  nun  der  Mensch, 
so  lange  er  auf  Erden  ist.  Wer  also  die  Erdendinge  für  wirklich  hält, 
gleicht  dem  Höhlenbewohner ,  der  die  Schattenbilder  für  die  Dinge  selbst 
nahm.  Die  Erdendinge,  die  erst  auf  der  dritten  Stufe  von  der  höchsten 
Idee  aus  stehen ,  sind  mithin  nur  irdische  Darstellungsformen  der  Ideen, 
die  Ideen  selbst  werden  wir  in  einem  höheren  Dasein  erst  erblicken  und 
ebenso  die  Idee  des  Guten,  die  Sonne  dieser  idealen  Welt.  Gewis  eine 
Auffassung  der  Dinge ,  der  ein  hoher  poetischer  Reiz  inwohnt.  Hat  doch 
ein  neuerer  Dichter  sich  zu  derselben  Anschauungsweise  in  folgenden 
Versen  bekannt : 

Was  da  lebt  auf  dem  Ringe, 

Was  da  webt  auf  der  Flur, 

Abbild  ewiger  Dinge 

Ist  es  dem  Schauenden  nur. 
Dieser  erhabenen  Anschauungsweise ,  wie  wir  sie  eben  zu  schildern 
versuchten ,  ist  nach  Plato  nur  der  wahre  Philosoph  fähig  und  teilhaft. 
Er  aliein  trägt  also ,  wie  überhaupt  das  wahre  Wissen ,  so  speciell  das 
Urbild  des  Staates,  wie  er  sein  musz,  in  seiner  Seele.  Man  musz  ihn  also 
an  die  Spitze  stellen,  äamit  er  die  Welt  nach  demselben  gestalte.  Nur  er 
vermag  das ;  denn  nur  er  besitzt  die  Weisheil  und  mit  ihr  die  Totalität 
der  Tugenden;  in  der  Weisheit  ist  ja  jede  Tugend  mit  enthalten.  Dem 
Weisen  kann  die  Besonnenheit  nicht  fehlen,  da  das  Streben  nach  dem 
Wahren,  das  ihn  ganz  beseelt,  jede  niedere  Begierde  erstickt;  er  musz 
Tapferkeit  besitzen ,  da  er  bei  seinem  umfassenden  Blick  über  das  Ganze 
weisz ,  wie  wenig  das  Erdenleben  eines  Einzelnen  besagen  will,  wie  eng- 
herzig es  also  ist,  Todesfurcht  zu  hegen.  Ebenso  kann  ihm  die  Gerechtig- 
keit nicht  fremd  sein,  da  er  die  Grundbedingung  des  Staatsorganismus 
am  besten  kennt,  wonach  Jeder  zunächst  seine  Stelle  ausfüllen  musz,  den 
Anderen  aber  nicht  beeinträchtigen  darf. 

Aber  woher  kommt  es  nun,  dasz  die  Philosophen  gerade  beim  Volke 
nicht  im  besten  Ansehen  stehen,  dasz  das  Volk  nicht  nur  nicht  geneigt 
ist,  ihnen  die  Herschaft  anzuvertrauen,  sondern  dasz  es  sogar  Jeden  vor 


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420        Wohlrab :  Was  hat  Plato  unter  den  Worten  verstanden : 

ihnen  warnt,  ja  sie  verfolgt?  Plato  gibt  hier  ohne  Weiteres  zu,  dasz 
philosophische  Naturen  in  den  gewöhnlichen  Staaten  entweder  unpraktisch 
oder  sittlich  verderbt  sind  ,  allein  nach  seiner  Ansieht  ist  das  nicht  ihre 
Schuld,  sondern  die  jener  Staaten  selbst.  Nicht  die  Afterphilosophen 
verderben  das  Volk,  sondern  vielmehr  umgedreht,  das  Volk  verdirbt  meist 
die  wirklich  philosophisch  angelegten  Naturen,  so  dasz  diese  schlieszlich 
nur  das  Echo  der  Volksmeinung  sind.  Da  das  Volk  nemlich  von  der  wah- 
ren Philosophie  nichts  versteht,  hält  es  philosophisch  begabte  Jünglinge 
davon  ab  und  leitet  sie  in  Bahnen,  wo  alle  Lockungen  des  Ehrgeizes  und 
des  Glanzes  der  äuszeren  Güter  auf  sie  einwirken.  Dadurch  werden  sie 
ihrem  wahren  Berufe  entfremdet  und  lassen  sich  zur  Verwaltung  des 
verderbten  Staates  bestimmen.  Plato  denkt  hierbei  offenbar  an  Alkibiades, 
den  hochbegabten  Liebling  des  Sokrates,  der  eine  so  verhängnisvolle  Rolle 
in  der  Geschichte  seines  Vaterlandes  gespielt  hat.  Wenn  so  durch  das 
Volk  die  Philosophie  ihrer  besten  Jünger  und  Pfleger  beraubt  wird ,  tre- 
ten unberufene  Geister  an  deren  Stelle.  Diese  werden  Sophisten ,  welche 
die  unwissende  Menge  für  die  wahren  Philosophen  hält  und  die  eigentlich 
die  Philosophie  in  Verruf  bringen.  Und  so  bleiben  nur  noch  wenige 
wahre  Philosophen  übrig,  die  dann,  um  ihrem  wahren  Berufe  treu  zu 
sein  und  sich  für  ihre  höhere  Heimat,  das  Jenseits,  vorbereiten  zu  kön- 
nen, sich  von  der  Verwaltung  der  Staaten,  wie  sie  eben  sind,  zurückzie- 
hen ,  eben  darum  aber  auch  nicht  das  Höchste  erreichen ,  was  nur  durch 
die  Leitung  eines  tüchtigen  Staates  möglich  wäre.  Da  es  aber  nach  Plato's 
Ansicht  einige  wahre  Philosophen  noch  gibt,  so  ist  die  Ausführung  des 
Staatsideals  immerhin  noch  als  möglich  anzusehen. 

Wir  haben  somit  das  Bild  eines  Philosophen  entworfen,  wie  ihn  sich 
Plato  geschickt  denkt  zur  Leitung  eines  Staatswesens.  Es  fragt  sich  nur 
noch,  wie  ein  solcher  Philosoph  wird,  wie  er  zu  erziehen  ist.  Plato  ver- 
langt, dasz  in  den  Jahren,  in  welchen  der  Körper  noch  in  seiner  Entwick- 
lung begriffen  ist  und  diese  Entwicklung  vor  der  geistigen  vorwiegt,  die 
Erziehung  eine  entsprechende  sei ,  dasz  also  zunächst  für  eine  tüchtige 
Ausbildung  des  Körpers  gesorgt  werde,  damit  dieser  hernach  beim  wis- 
senschaftlichen Studium  seinen  Dienst  nicht  versage.  Zu  diesem  Behufe 
ist  die  musisch-gymnastische  Erziehung  anzuwenden.  Beginnt  dann  der 
Geist  zu  reifen,  so  musz  dieser  eifriger  geübt  werden ;  es  nimmt  der  wis- 
senschaftliche Gursus  seinen  Anfang ,  in  dem  die  mathematischen  Wissen- 
schaften den  ersten  Baug  einnehmen.  Wer  sich  hierbei  so  bewährt  hat, 
dasz  er  in  Allem  leicht  folgen  konnte,  tritt  dann  in  die  höchste  Erziehung« 
classe  ein ,  in  welcher  der  Unterricht  streng  philosophisch  ist.  Ist  diese 
Erziehung  im  fünfunddreiszigsten  Lebensjahre  vollendet ,  so  haben  sich 
diese  Männer  bis  zum  fünfzigsten  Jahre  in  Feldherrnstellen  und  Staats- 
ämtern zu  bewähren.  Wenn  dann  der  Körper  dafür  zu  schwach  gewor- 
den ist,  der  Geist  aber  zur  höchsteu  Reife  gelangt,  dann  erst  ist  man 
fähig  in  das  eigentliche  Herschercoilegium  aufgenommen  zu  werden  und 
zu  gleicher  Zeit  im  Höchsten  von  Allen,  in  der  Philosophie,  etwas  Selb- 
ständiges zu  leisten;  erst  dann  soll  man  sich  derselben  ausschlieszlich 
widmen.    So  geht  die  Entwicklung  des  Körpers  und  des  Geistes  den  ent- 


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glucklich  der  Staat,  in  welchem  die  Könige  Philosophen  sind?  421 

gegengesetzten  Gang.  Das  allmähliche  Sterben  des  Philosophen  mitten 
im  Erdendasein,  die  allmähliche  Ablösung  vom  Körperlichen  bereitet 
vor  zur  höchsten  Stufe  der  Entwickelung ,  zum  Leben  im  Jenseits. 

So  steht  der  Philosoph  als  Herscher  im  platonischen  Staate  in  seiner 
idealen  Grösze  vor  uns,  ein  Mann,  dem  Tiefe  der  Erkenntnis  ebenso  eigen 
ist,  als  er  sich  im  Leben  bewährt  hat,  in  dem  Wissen,  wie  Können  in  der 
höchsten  menschenmöglichen  Potenz  vereinigt  sind.  Es  ist  so  natürlich, 
sich  den  Ersten  im  Staate  auch  als  den  Grösten,  als  den  Träger  aller 
Vorzuge  zu  denken.  Ebenso  natürlich  ist  es,  dasz  Jeder  dieses  Ideal  eines 
grösten  Menschen  nach  seiner  individuellen  Richtung  sich  gestaltet,  dasz 
es  mithin  dem  Plato  identisch  war  mit  dem  Bilde,  das  er  sich  von  dem 
wahren  Philosophen  macht.  Dasz  aber  ein  philosophischer  Zug  wahre 
Herschergrösze  nicht  beeinträchtige ,  dafür  fehlt  es  an  Belegen  in  der  Ge- 
schichte nicht.  Der  Biograph  Plutarch  wird  nicht  nur  bei  Numa  Pompi- 
lius  an  das  platonische  Wort  erinnert,  dasz  nur  die  Staaten  glücklich 
seien ,  in  denen  die  Philosophen  das  Scepter  führen ,  sondern  auch  bei 
Cicero  5  der  Plato's  Schriften  so  eifrig  gelesen  hat.  Vielleicht  mit  noch 
gröszerem  Rechte  haben  gleichfalls  schon  die  Alten  darauf  hingewiesen, 
dasz  das  platonische  Ideal  eines  Herschers  wenigstens  annähernd  verwirk- 
licht sei  in  Mark  Aurel ,  dem  römischen  Kaiser ,  der  seiner  Beschäftigung 
mit  der  Philosophie  den  Beinamen  phiiosophus  verdankt ,  den  aber  diese 
Beschäftigung  zur  Ausübung  jeder  Herschertugend  nicht  untauglich  ge- 
macht hat. 

Dies,e  idealen  Herschergestalten ,  wie  Plato  sie  uns  zeichnet,  wie  sie 
in  der  Geschichte,  wenn  auch  selten  genug  uns  entgegentreten,  sind  zwar 
von  uns,  liebe  Schüler,  und  unseren  Verhältnissen  schon  äuszerlich  durch 
eine  ungeheuere  Kluft  getrennt,  aber  doch  nicht  so  getrennt,  dasz  wir 
uns  von  ihrer  Grösze  gar  nichts  aneignen  könnten.  Sind  doch  im  Grunde 
die  Vorzüge,  welche  die  Herschergrösze  bedingen,  wesentlich  keine  ande- 
ren, als  die,  welche  jeden  Menschen  in  jedem  Stande  zieren.  Es  hat  Jeder 
von  uns  in  seiner  Stellung  ein  Reich,  in  dem  er  mit  Einsicht  und  Treue 
walten  soll.  Dasz  dieses  Reich,  das  wir  unser  nennen,  äuszerlich  viel- 
leicht beschränkt  und  unansehnlich  ist,  soll  uns  nicht  beirren.  Denn  es 
kommt  nicht  so  sehr  darauf  an,  ob  ein  Amt  grosz  oder  klein  sei,  als  viel- 
mehr auf  die  Treue,  mit  der  wir  seiner  warten,  auf  den  Sinn,  in  dem  wir 
es  führen.  Es  haben  schon  Viele  grösze  Aemter  gehabt  und  sie  in  klein- 
lichem Geiste  verwaltet  und  Alles  schlecht  gemacht,  und  wiederum  hat 
Mancher  in  einem  kleinen  Amte  einen  groszen  Sinn  bewährt  und  weithin 
segensreich  gewirkt. 

Dies  gilt  nicht  blosz,  liebe  Schüler,  von  dem  Berufe,  dem  ihr  euer 
späteres  Leben  bestimmt  habt,  es  gilt  schon  von  der  Stellung,  die  ihr  jetzt 
einnehmt.  Ihr  seid  jetzt  in  dem  Stadium  der  allgemeinen  Vorbildung  für 
die  Lebensstellung,  die  ihr  später  einzunehmen  gedenkt.  Das  Gymnasium, 
diese  Ringschule  des  Geistes,  bietet  dazu  Gelegenheit,  wie  kaum  andere 
Schulanstalten,  da  es  zu  einer  harmonischen  Entwicklung  aller  dem  Men- 
schen verliehenen  Kräfte  die  besten  und  umfassendsten  Mittel  hat,  nicht* 
wie  andere  Schulen,  vorhersehend  einzelne  Kräfte  übt. ^  Wenn  ihr  also, 

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422     Herbst :  historisches  Hülfsbuch  für  die  oberen  Classen  usw. 

jede  einseitige  Neigung  bekämpfend,  in  allen  Zweigen  des  euch  gebotenen 
Unterrichtes  euch  tüchtig  bewährt,  so  seid  ihr  sicher,  dasz  ihr  die  Vor- 
bedingungen für  ein  specielles  Gebiet,  dem  ihr  euch  in  der  Folge  widmen 
wollt,  in  euch  vereinigt,  seid  ihr  sicher,  dasz  ihr  später  im  Organismus 
des  Staatslebens  kein  verwerfliches  und  unnützes  Glied  bildet.  Nur  da- 
durch also,  dasz  ihr  eure  jetzige  Stellung,  so  untergeordnet  sie  nach 
Auszen  erscheinen  mag,  richtig  erfaszt  und  ausfüllt,  bildet  ihr  euch  zu- 
gleich zu  echten  Patrioten  heran.  Denn  nicht  nur  mit  dem  Schwerte  in 
der  Hand  bewährt  man  Patriotismus  —  dann  könnte  er  nicht  von  Jedem 
und  nicht  zu  jeder  Zeit  bewährt  werden  —  nein,  ebenso  ehrenwerth  ist 
der  Patriotismus,  welchen  Jeder  bethätigt,  indem  er  treu  und  fest  auf 
dem  Posten  steht,  den  ihm  das  Vaterland  anweist.  Und  so  wollen  wir  es 
uns  heute  wieder  geloben,  dasz  wir,  Jeder  an  seiner  Stelle,  das  Unsere 
thun  wollen,  wie  wir  können.  So  erweisen  wir  dem  theuren  Vaterlande 
Dank  und  Liebe ,  so  dienen  wir  am  besteh  unserem  huldreichen  Könige, 
den  Gott  noch  lange  uns  erhalten  möge. 


33. 

Historisches  Hülfsbuch  für  die  oberen  Classen  von  Gymnasien 
und  Realschulen.  HL  Neuere  Geschichte.  Von  W.  Herbst, 
Director  des  Friedrich- Wilhelms -Gymnasiums  zu  Cöln.  Mainz 
1864.    131  S.  gr.  8.    Preis  16  Sgr. 

Die  Hülfsbücher  für  den  historischen  Unterricht  bilden  bekanntlich 
längst  eine  ansehnliche  Bibliothek,  welche  mit  jedem  Jahre  wächst,  und 
wirklich  ist  das  historische  Hülfsbuch  wie  es  sein  soll,  eine  der  schwie- 
rigsten didaktisch-pädagogischen  Aufgaben ,  deren  Lösung  man  aber  doch 
allmählich  von  verschiedenen  Seiten  näher  rückt.  Einen  sehr  bedeutenden 
Fortschritt  nach  dem  Ziele  dürfen  wir  in  dem  vorliegenden  Werke,  des- 
sen dritter ,  die  neuere  Geschichte  seit  der  Reformation  umfassende  Teil 
zuerst  erscheint,  unzweifelhaft  erkennen.  Für  die  wenigen  Lehrer  der 
Geschichte  an  Gymnasien  und  Realschulen,  welche  den  gesamten  Stoff  der 
neueren  Geschichte  selbständig  durchgearbeitet  haben ,  wird  freilich  am 
Ende  jede  Einteilung,  die  nicht  die  ihre  ist,  eLwas  Beengendes  haben,  und 
sie  werden  am  liebsten  nur  eine  tabellarische  Uebersicht  in  den  Händen 
der  Schüler  sehen :  für  die  weitaus  gröszere  Mehrzahl  der  Lehrer  dagegen, 
welche  ohne  längere  Studien  an  den  Stoff  herantreten,  und  mit  ihnen  also 
für  die  Masse  der  Schüler  ist  mit  diesem  neuen  Lehrbuch  ein  Hülfsmittel 
geschaffen ,  das  wichtige  Vorzüge  vor  den  meisten  seiner  Vorgänger  vor- 
aus hat. 

Der  Verfasser,  auf  14jährige  Erfahrung  an  fünf  verschiedenen  vater- 
ländischen Schulen  gestützt,  will  dem  Lehrer  eine  Hülfe  bieten,  die  ihn 


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Herbst :  historisches  Hülfsbuch  für  die  oberen  Classen  usw.     423 

nicht,  wie  so  manche  andere,  dem  Lehrbuch  gegenüber  zu  einer  völlig 
untergeordneten  Rolle  verdammt.  Dem  Schüler  soll  das  Buch  an  den  aus 
fuhrlichen  Vortrag  erinnernd,  eine  breite  und  sichere  Grundlage  der  Re- 
petition  geben,  und  sein  Text  besteht  daher  *ohne  für  sich  etwas  darstel- 
len zu  wollen5  abwechselnd  aus  Satzfragmenten,  ausgeführten  Sätzen, 
einzelnen  Worten,  etwa  so  wie  ein  in  Wirklichkeit  bekanntlich  nicht 
existierender  Idealprimaner  den  wolgeordneten  Vortrag  des  Lehrers  in  ein 
gleichfalls  in  Wirklichkeit  nicht  existierendes  Idealmanuscript  eintragen 
würde.  Den  Hauptnachdruck  legt  der  Verfasser  auf  die  Klarheit  der  Dispo- 
sition, und  das  Buch  ist  demnach  auch  bis  ins  Detail  hinaus  sorgfältig, 
und  setzen  wir  hinzu ,  geschickt  gegliedert :  durch  die  knappe  Form ,  das 
höchst  verständige  Verzichtleisten  auf  stilistische  Ausführung  ist  es  in 
den  Stand  gesetzt ,  ein  verhäMtnismäszig  weit  reicheres  Detail  zu  bieten, 
als  ähnliche  Bücher,  und  in  dieser  Beziehung  sind  neben  der  sorgfältigen 
Behandlung  der  Ortsbezeichnungen  besonders  die  durch  kleineren  Druck 
bemerkbaren,  je  am  passenden  Orte  eingestreuten  Biographien  (im 
Ganzen  36)  rühmend  hervorzuheben.  Dagegen  ist  das  culturhistorische 
Material  mit  Recht  ausgeschlossen ,  da  es  für  den  Schüler  zu  weit  führen 
würde  und  eine  Reife  des  Urteils,  eine  genaue  Kenntnis  der  Ereignisse 
schon  voraussetzt,  welche  der  historische  Unterricht,  der  ohnehin  schon 
schwerbelastet ,  erst  schaffen  soll.  Eine  nähere  Darlegung  dieser  Grund- 
sätze zugleich  mit  seinen  Ansichten  über  den  ganzen  Unterrichtszweig 
verspricht  der  Verf.  für  einen  der  demnächst  erscheinenden  Teile,  wo  er 
auch  die  Frage  erörtern  wird,  ob  die  neuere  Geschichte  überhaupt  auf 
Gymnasien  zuzulassen  sei:  möge  es  ihm  dort  gelingen,  diese  müszige 
Frage,  die' nur  ein  abstracter  Gymnasialidealismus  aufwerfen  kann,  gründ- 
lich abzuthun. 

Diese  Grundsätze  der  Vorrede  erscheinen  uns  durchaus  verständlich 
und  sie  sind  in  dem  Buche  consequent  und  gut  durchgeführt.  Der  Text 
ist,  trotz  der  unausgeführten  Sätze,  überall  vollkommen  deutlich,  correct 
(mit  Ausnahme  etwa  der  fkaum  geborenen  Tochter  Maria  Stuart*  S.  47), 
dem  Schüler,  nachdem  der  erläuternde  Vortrag  dazu  gekommen,  sicher 
nirgends  unverständlich.  Die  Darstellung  ist  rein  sachlich  gehalten,  so 
dasz  es  unbedenklich  an  paritätischen  und  selbst  an  rein  katholischen 
Schulen  verwendet  werden  kann ;  in  den  Thatsachen  haben  wir  es  durch- 
aus sorgfältig  gefunden :  nur  zwei  nennenswerthe  Versehen  sind  uns  auf- 
gestoszen.  Ludwig  XIV.  wird  S.  68  cvon  hoher  Gestalt'  genannt,  wäh- 
rend ihm  selbst  der  eifrigste  Legitimist  wenig  über  6  Fusz  geben  kann, 
und  der  Herzog  von  Braunschweig ,  der  unglückliche  Feldherr  von  1792 
und  1806  ist  nicht,  wie  der  Verf.  S.  107  sagt,  cder  Sieger  von  Crefeld  und 
Minden  im  7jährigen  Krieg' ;  er  ist  der  im  7jährigen  Krieg  allerdings  mit 
Ehren  genannte  'Erbprinz5,  hat  bei  Crefeld  zum  Siege  wesentlich  mit  bei- 
getragen, war  aber  bei  Minden,  soviel  Ref.  weisz,  nicht  zugegen.  Sieger 
von  Crefeld  und  Minden  ist  Herzog  Ferdinand  von  Braunschweig,  der 
vierte  Sohn  des  regierenden  Herzogs  Ferdinand  Albrecht  II. ;  er  ist  eben 
in  jenem  Jahr  des  Feldzugs  in  der  Champagne  gestorben.  Um  hier  noch 
eine  äuszere  Kleinigkeit  zu   erwähnen,   so  findet  sich  S.  55  eine  Ver- 

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424     Herbst:  historisches  Hülfsbueh  für  die  oberen  Classen  usw. 

schwendung  leeren  Raumes ,  welche  bei  einem  solchen  Buche  nicht  wol 
angebracht  ist. 

Das  Wichtigste  und  für  manchen  Lehrer  geradezu  Entscheidende  an 
einem  solchem  Buche  ist  die  Anordnung ,  welche  wir  deshalb  nach  ihren 
Hauptzügen  mitteilen.  Der  Verf.  teilt  den  Stoff  in  3  Perioden:  Zeitalter 
der  Reformation;  Zeitalter  der  absoluten  Monarchie;  Zeitalter  der  Revo- 
lution. Der  erste  dieser  3  Hauptabschnitte  gibt  in  4  Unterabschnitten  die 
Geschichte  der  Reformation  in  Deutschland  bis  1555;  denAb- 
fall  der  vereinigten  Niederlande  von  1559 — 1609;  den  3 0 j ä h - 
rigen  Krieg  bis  1648;  die  englisclie-Revolution  bis  1689;  der 
zweite  Hauptabschnitt  (abs.  Monarchie)  in  3  Abteilungen  und  Unterab- 
schnitten das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  1661 — 1715;  das' Zeitalter 
Petcr's  des  Groszen  1689 — 1725;  das  Zeitalter  Friedrich' s  des 
Groszen  1740 — 86;  der  dritte  endlich,  gleichfalls  in  3  Unterabschnitten 
Frankreich  in  den  letzten  Zeiten  des  Königtums  und  als 
Republik  1789—1804;  Frankreich  als  Kaiserreich  — 1812;  den 
deutschen  und  europäischen  Freiheitskampf  gegen  Frank- 
reich (richtiger  vielleicht  gegen  Napoleon)  1813 — 1815.  Mit  dem  letz- 
tern Jahre  schlieszt  der  Verf.  und  zwar  mit  wolbewuster  Absicht.  Die 
Gliederung  geht  dann  weiter  ins  Einzelne,  und  diese  weitere  Gliederung 
erscheint  uns  fast  überall  als  praktisch  und  wolgelungen :  zur  Charakteri- 
stik der  Anordnung  bemerken  wir  noch,  dasz  der  Verf.  überall  die  groszen 
Hauptactionen  durch  ein  vorauf  gesandtes  caus  der  Vorgeschichte'  dem 
Verständnis  zu  erleichtern  sucht ,  also  die  Geschichte  Englands  von  1509 
— 1642  z.  B.  unmittelbar  vor  den  Abschnitt  über  die  englische  Revolution 
rückt;  die  Geschichte  Frankreichs  vom  Frieden  von  Chateau-Cambresis 
(1559)  ab  unmittelbar  vor  'das  Zeitalter,  Ludwigs  XIV.';  den  Abfall  der 
amerikanischen  Golonien  unmittelbar  vor  den  ersten  Abschnitt  der  dritten 
Hauptperiode  usw. :  ein  Verfahren,  dem  es  für  ein  Schulbuch  an  zutreffen- 
den Gründen  nicht  fehlen  kann. 

Irren  wir  nicht ,  so  gibt  es  zwei  Wege ,  auf  denen  die  auf  weilen 
Räumen  spielende,  tausendfältig  in  einander  sich  verschlingende  Geschichte 
des  neueren  Europa  Schülern  der  höheren  Classen  zu  Verständnis  und 
sicherem  Ueberblick  gebracht  werden  kann.  Entweder  man  steckt  das 
ganze  Gebiet  mit  thunlichster  Schärfe  nach  Zeiträumen  und  Unterzeit- 
räumen mit  ganz  bestimmten  Anfangs-  und  Schluszzahlen  ab  und  behan- 
delt innerhalb  derselben  die  Geschichte  der  einzelnen  Länder  nach  der 
Reihenfolge  ihrer  Wichtigkeit  für  die  einzelnen  Epochen  oder  sonslwel- 
eben  verständigen  Gesichtspunkten,  indem  man  es  zugleich  den  (didak- 
tischen und  katechetischen)  Repetitionen  überläszt,  den  Zusammenhang 
z.  B.  der  englischen  Revolution  mit  dem  Ganzen  der  neueren  Geschichte 
Englands  klar  zu  stellen :  o  d  e  r  man  sucht  die  Geschichte  gröszerer  Coni- 
plexe  von  Ereignissen  z.  B.  die  englische  Entwicklung  von  1509—1689, 
die  französische  von  Heinrich  II.  bis-  Ludwig  XIV.  in  ununterbrochener 
Darstellung  zu  bewältigen  und  mag  dann  bei  den  Repetionen  jener  syn- 
chronistischen Erkenntnis  der  einzelnen  Zeiträume  einige  Rechnung  tra- 
gen.  Die  Disposition  des  Verf.  scheint  uns  auf  dieser  letzteren  Methode 


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Herbst :  historisches  Hülfsbuch  für  die  oberen  Glassen  usw.     425 

zu  beruhen  und  sie  hat  ohne  Zweifel  für  den  Unterricht  grosze  Vorzöge. 
Der  Schüler  erhält  in  diesem  Buche  und  nach  diesem  Wege  die  Geschichte 
der  niederländischen  Unruhen,  die  Geschichte  Englands  von  Heinrich  VIII. 
bis  Wilhelm  von  Oranien,  die  Entwicklung  der  französischen  Monarchie 
von  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  bis  1517  in  ihrem  ganzen  Zusammenhang: 
dies  gibt,  wenn  der  Lehrer  einigermaszen  seine  Pflicht  erfüllt,  eine  si- 
chere Grundlage  bestimmter  Kenntnisse,  nach  welcher  wir  vor  Allem  sire- 
ben müssen:  es  vereinfacht  und  verlieft  den  Unterricht,  indem  es  den 
Schüler  zwingt,  längere  Zeit  seine  Gedanken  auf  einen  Gegenstand,  einen 
Ideenkreis ,  ein  Land  zu  richten.  Aber  freilich  hat  es  auch  seine  unver- 
kennbaren Nachteile.  Es  erschwert  z.  B.  die  Einprägung  der  Hauplzahlen, 
wie  denn  das  vorliegende  Buch  (an  sich  freilich  ganz  wahr)  für  die  drei 
Hauptepochen  gar  keine  bestimmten  Anfangs  -  und  Schluszzahlen  nennt, 
die  erste  Periode  für  Spanien  und  die  Niederlände  bis  1609,  für  Deutsch- 
land bis  1648,  für  England  bis  1689  gehen  läszt  oder  wenigstens  beim 
Schüler  diesen  Schein  erweckt;  innerhalb  des  zweiten  Hauptteils  dann 
wieder  das  Zeilalter  Ludwig's  XIV.  mit  1661  beginnen  läszt  und  die  seit- 
herige Entwicklung  Frankreichs  als  Vorgeschichte  dieses  Zeitalters  abhan- 
delt, so  dasz  also  während  des  ganzen  ersten  Zeitraums,  zu  dessen  Cha- 
rakteristik sie  wesentlich  gehören,  der  Hugenottenkämpfe,  des 
30jährigen  Krieges  der  Franzosen  kaum  gedacht  ist,  wodurch  auch  für 
das  Verständnis  des  spanisch-niederländischen  Kampfes  ein  wesentliches 
Moment  verloren  geht.  Freilich  werden  dergleichen  Mängel  von  jeder 
Disposition  über  einen  so  unermeszlichen  und  widerstrebenden  Stoff,  wie 
die  neuere  Geschichte  fast  unzertrennlich  sein,  und  wir  beabsichtigen 
nicht,  der  woldurchdachten  und  mit  gröstem  Fleisz  durchgeführten  An- 
ordnung des  *Hülfsbuchs'  damit  einen  Vorwurf  zu  machen.  Im  Allge- 
meinen gestehen  wir  allerdings  mehr  für  den  ersten  jener  Wege  gestimmt 
zu  sein,  dessen  Schwierigkeiten  freilich  auch  grosz  genug  sind  und  sich 
nur  durch  Klarheit  des  Vortrags  und  fleiszige  Repetition  überwinden  las- 
sen. Nur  zur  Vergleichung  der  beiden  Wege  stellen  wir  hier  eine  Dispo- 
sition auf,  welche  sich  dem  Ref.  bei  wiederholter  Behandlung  des  Gegen- 
standes ergeben  hat :  zur  Erläuterung  bemerken  wir,  dasz  die  Schlusz-  und 
Anfangszahlen  innerhalb  der  Geschichte  der  einzelnen  Länder  natürlich 
nicht  absolut  zu  respectierende  Grenzmarken  sind,  und  dasz  die  Vor- 
aussetzung eines  fruchtbaren  Unterrichts  nach  dieser  Disposition  die  ist, 
dasz  jedem  der  drei  groszen  Zeiträume,  in  deren  Annahme  Ref.  mit  Hrn. 
Herbst  übereinstimmt,  eine  geographisch-territoriale  Uebersicht  vorauf- 
gehe und  eine  Repetition  nach  den  einzelnen  (Haupt-)  Ländern  während 
des  ganzen  Zeitraums  ohne  Berücksichtigung  der  Unterabschnitte  nach- 
folge. 

I.  1517 — 1648.   Die  Zeit  der  Religionskämpfe. 
(Geographisch-territoriale  Uebersicht:  Europa  zu  Anfang  des  16.  Jh.) 
1)  1517 — 1555.    a)  Deutschland  bis  1555,  b)  Spanien  und  Frankreich 
(bis  1559,  Chateau-Cambresis),  c)  England  (bis  1558,  Elisabeth's  Regie- 
rungsantritt), d)  allgemeine  Uebersicht  über  die  Verbreitung  der  prote- 
stantischen Ideen  in  den  übrigen  Ländern. 


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426     Herbst:  historisches  Hülfsbuch  für  die  oberen  Gassen  usw. 

2)  1555 — 1618.  a)  Italien  und  Allgemeines  über  Stellung  des  Katho- 
licismus,  b)  Spanien  und  die  Niederlande,  c)  England  (entweder  bis  1603 
oder  1625) ,  d)  Frankreich ,'  e)  Deutschland. 

3)  1618—1648.  a)  Der  30jährige  Krieg  (Deutschland),  b)  die  eng- 
lische Revolution  (bis  zum  Tod  des  Königs  1649),  c)  Uebersicht  der  Resul- 
tate des  Zeitabschnitts  für  die  verschiedenen  Länder. 

Repetition  des  ganzen  Zeitraums  nach  den  einzelnen  Ländern  ohne 
Berücksichtigung  der  Unterabschnitte  1.  2.  3. 

II.  1648—1789.   Die  Zeiten  der  absolutistischen  Politik. 
Geographisch- territoriale  Uebersicht:  Europa  in  der  Mitte  des  17.  Jh. 

1)  1648 — 1701.  a)  Frankreich ,  b)  England  und  die  Niederlande  (bis 
zum  Tod  Wilhelm's  von  Oranien),  c)  Deutschland  und  der  Osten,  d)  Schwe- 
den und  der  Norden. 

2)  1701- — 1740.  a)  Der  spanische  Erbfolgekrieg,  b)  der  nordische 
Krieg,  c)  Folgen  dieser  Kriege  und  weitere  Entwicklung  der  einzelnen 
Mächte  bis  1740. 

3)  1740 — 1789.  a)  Deutschland,  b)  Ruszland  und  der  Norden,  c)  Eng- 
land und  seine  Golonien ,  d)  Frankreich. 

Repetition  des  ganzen  Zeitraums  wie  oben. 

III.  1789  bis  zur  Gegenwart.   Das  Zeitalter  der  Revolution. 

1)  1789—1815.  a)  1789—1799  französische  Revolution,  b)  1799— 
1812  die  Monarchie  Napoleons,  c)  1812 — 1815  die  Befreiungskriege. 

lf)  lIK  ^  Gegenwart.]!  FaUeD  für  *  ***  we* 
/Repetition  wie  oben,  wobei  bei  den  einzelnen  Ländern  die  Haupt- 
momente ihrer  Geschiente  seit  1815  und  nur  diese  ohne  ausführliche 
Darstellung  vorgeführt  werden. 

Wir  geben  diese  Disposition  nur  als  Probe;  wollten  wir  sie  im  Ein- 
zelnen ausgearbeitet  vorlegen,  so  würde  ein  eigenes  Lehrbuch" daraus, 
welches  zu  schreiben  nicht  in  unserer  Absicht  liegt,  um  so  weniger,  je 
mehr  wir  von  den  Vorzügen  des  vorliegenden  durchdrungen  sind.   Dasz 
der  Verf.  mit  1815  schiieszt,  billigen  wir;  nur  hätten  wir  gern  etwa  in 
der  Einleitung  erwähnt  gesehen ,  dasz  der  bewegliche  Endpunkt  neuerer 
Geschichte  der  jedesmalige  Augenblick  der  Gegenwart  sei,  dasz  der  Strom 
der  Geschichte  wie  die  groszen  Ströme  in  der  Natur  an  seiner  Mündung 
immer  neues  Land  ansetze,  dessen  künftige  Geschichtsschreibung  sich 
dann  bemächtige:  und  für  eine  weitere  Auflage  möchte  sich  vielleicht  we- 
nigstens eine  kurze  Aufzählung  der  seit  1815  erfolgten  territorialen 
Veränderungen  empfehlen.     Wir  empfehlen  damit  dieses  Hülfsbuch,  in 
welchem  der  Verf.  den  schwierigsten  Teil  einer  schwierigen  Aufgabe  in 
vielfach  neuer,  höchst  beachtenswerther  und,  wenigstens  nach  unserem 
Urteil  sehr  wolgelungener  Weise  gelöst  hat,  fleisziger  Prüfung  und  fleiszi- 
gem  Gebrauche.   Wir  erkennen  in  dem  vorliegenden  Teile  eine  Bürgschaft 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  427 


*D 


für  die  beiden  noch  ausstehenden ,  denen  wir  mit  Verlangen  entgegen- 
sehen und  von  denen  wir  das  Beste  hoffen  dürfen ,  da  der  Verf.  sich  des 
Stoffes  völlig  Herr  zeigt,  seine  Gedanken  an  langer  Erfahrung  hat  reifen 
lassen  und  ebendeshalb,  was  ein  besonderer  Vorzug  dieses  Buches  ist,  ge- 
nau weisz  was  er  will.  Dies  verleiht  dem  ganzen  Buche  den  Charakter 
der  Bestimmtheit  und  Sicherheit,  und  damit  wir  seinen  grösten  Vorzug 
zuletzt  nennen,  es  zwingt  den  Schüler  und,  was  da  und  dort  auch  nicht 
ganz  übel  ist,  den  Lehrer  zum  Denken  und  zum  ernstlichen  Studium  und 
macht  seiner  ganzen  Anlage  nach  einen  blosz  thematischen  und  mecha- 
nischen Unterricht  zur  Unmöglichkeit. 

Mors.  Jäger. 


Kurze  'Anzeigen  und  Miscellen. 

XIII. 
Litterarische  und  culturhistorische  Mitteilungen  aus  Griechenland. 


In  Smyrna  gab  es  bereits  im  vorigen  Jahrhundert  eine  sogenannte 
'Evangelische  Schule'  zur  Bildung  des  griechischen  Volkes.  Sie  ward 
im  Jahre  1733  von  vier  Griechen  errichtet  und  hat  sich  trotz  mancher 
Kämpfe  und  Anfechtungen  bis  auf  unsere  Tage  erhalten.  Gegenwärtig 
steht  sie  unter  der  Leitung  des  gelehrten,  litterarisch  thätigen  und  als 
tüchtiger  Pädagog  bewährten  Griechen  Xanthopulos,  und  auch  seine 
Mitarbeiter  an  dem  Werke  der  Bildung  der  griechischen  Jugend  wer- 
den wegen  ihrer  Kenntnisse  und  ihres  Eifers  gerühmt.*)  Aufgeklärte 
und  Bildung  liebende  Smyrnäer  unterhalten  sie  durch  ihre  Beiträge. 
Bei  Gelegenheit  des  Beginns  der  Prüfungen  an  der  'Evangelischen 
Schule'  in  Smyrna  am  1.  Juli  1862  hielt  der  genannte  Xanthopulos  eine 
Rede,  die  dann  auch  in  Athen  im  Druck  erschienen  ist  und  eine  Ge- 
schichte jener  Schule  enthält. 

Neben  dieser  'Evangelischen  Schule'  bestand  in  früherer  Zeit  in 
Smyrna  auch  ein  Gymnasium,  das  durch  die  an  ihm  als  Lehrer  ange- 
stellten Griechen  und  durch  seine  Erfolge  unter  der  griechischen  Ju- 
gend ebenfalls  eines  besonderen  Rufes  sich  erfreute.  Die  griechischen 
Einwohner  von  Smyrna  errichteten  dieses  Gymnasium  im  Jahre  1810 
und  beriefen  an  dasselbe  den  damals  in  Wien  lebenden,  durch  deutsche 
Wissenschaft  gebildeten,  namentlich  mit  der  Kantischen  Philosophie 
vertrauten  Konstantin  Kumas  aus  Larissa  in  Thessalien.  Dieser  lehrte 
dort  einige  Jahre  lang  Mathematik,  Physik  und  Philosophie,  war  1814 


*)  Xanthopulos  war  bisher  Lehrer  an  einem  der  beiden  Gymnasien 
in  Athen  gewesen,  wo  er  zugleich  Mitherausgeber  der  wissenschaft- 
lichen Zeitschrift:  OiXfcrujp  (1861  u.  1862)  war.  Von  ihm  erschienen: 
TTcpl  irouöaYWYiKflc  otöacKaXiac  (Konstantinopel,  1854)  und  GeuaTOYpa- 
q>ia  Ik  tj)c  CT]U€pivf\c  eic  xf|v  dpxafav  £XXnviKr|v  (Athen,  1868);  auch 
hatte  er  (Athen,  1857)  die  f Kleine  Syntax  des  attischen  Dialekts  von 
Krüger'  übersetzt  herausgegeben,  und  1848  f.  erschien  in  Athen  unter 
seiner  Redaction  die  wissenschaftliche  Zeitschrift:  QiXoXofiKÖc  Cuv£k- 
örjuoc. 


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428  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

und  1815  Oberlehrer  an  der  von  Demetrius  Murusis  im  Jahre  1803  in 
Kurutsehesme  in  Konstantinopel  errichteten  Nationalschale,  kehrte  dann 
aber  wieder  nach  Smyrna  in  seine  frühere  Stellang  zurück,  in  der  er  aufs 
Neue  zwei  Jahre  lang  (bis  1817)  thätig  war.  Nachdem  er  zu  wissen- 
schaftlichen Zwecken  von  1817 — 20  in  Wien  gewesen  war  und  zum  Be- 
huf der  abermaligen  Uebernahme  der  Lehrerstelle  am  Gymnasium  in 
Smyrna  unsere  deutschen  Universitäten  besucht  hatte,  auch  schon  im 
August  1820  nach  Smyrna  gekommen  war,  verhinderte  der  im  Frühjahr 
1821  erfolgte  Ausbruch  des  griechischen  Freiheitkampfes  den  Antritt 
seines  Lehramtes,  und  Kumas  gieng  damals  wieder  nach  Wien  zurück. 
Während  seines  ersten  Aufenthalts  in  Smyrna  von  1810 — 13  hatte  Ku- 
mas auch  die  beiden  Brüder  Konstantin  und  Stephan  Oikonomos  zu 
Lehrern  an  das  dortige  Gymnasium  berufen,.  Erstem  für  die  altgrie- 
chische Sprache  und  Rhetorik,  Letztern  für  Naturgeschichte  and  Che- 
mie. Beide  haben  sich  im  Verein  mit  Kumas  durch  ihre  Vortrage  und 
ihren  Unterricht  am  Gymnasium  zu  Smyrna  um  die  Bildung  der  griechi- 
schen Jugend  grosze  Verdienste  erworben. 


Auch  an  andern  Orten  mit  griechischer  Bevölkerung,  die  noch  un- 
ter der  türkischen  Herschaft  stehen,  in  Europa  und  in  Asien,  zeigt  sich 
in  den  griechischen  Gemeinden  ein  reges  geistiges  Leben.  So  besitzt 
die  Stadt  Mitylene  auf  der  Insel  Lesbos  (die  jedoch  gegenwärtig  den 
Namen  der  alten  Hauptstadt  der  Insel  angenommen  hat)  seit  mehreren 
Jahren  eine  höhere  Schule,  die  von  den  dortigen  Griechen  begründet 
worden  ist  und  auch  von  ihnen  unterhalten  wird.  Diese  Schule  zählte 
im  Jahre  1859  bereits  hundert  Schüler,  welche  sich  zum  Besuch  der,  Uni- 
versität in  Athen  vorbereiten.  Bei  dieser  Schule  befindet  »sich  zugleich 
ein  Museum  und  eine  Bibliothek,  aber  gleichwol  ist  noch  alles  im  Werden 
begriffen.  Auch  eine  Schule  für  Mädchen  ist  dort  errichtet  worden,  in 
der  die  Töchter  der  griechischen  Familien  der  Insel  hinreichende  Bil- 
dung und  Vorbereitung  zum  Eintritt  in  die  Mädchenpensionate  in  Smyrna 
und  Athen  erlangen.  Das  Diakonissenhaus  in  Smyrna,  das  teils  wegen 
seines  verständigen  Schulplans,  teils  wegen  seiner  prachtvollen  Einrich- 
tung als  eine  der  besten  Erziehungsanstalten  der  Levante  gilt,  hat 
schon  mehrere  Zöglinge  von  Mitylene  erhalten,  aber  besonders  richtet 
'sich  die  Sehnsucht  der  dortigen  jungen  Mädchen  nach  den  Schulen  und 
Erziehungsanstalten  Athens. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Leipzig.  Th.  Kind, 


r 


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Zweite  Abteilung. 

Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungen- 

•tröphe  (3).    Vom  Professor  Ed.  Olawsky  in  Lissa    .     .     .    381-398 

uakspeare  als  Schulschriftsteller.  (Schulrede.)  Von  Pro - 

ssor  Dr.  B.  Sigismund 398—410 

as  hat  Plato  unter  den  Worten  verstanden:    glücklich 

r  Staat,    in    welchem    die  Könige  Philosophen  sind? 

<trede  von  Dr.  M.   WoMrab,  gehalten  zur  Geburtstags- 

v  Sr.  Majestät  des  Königs  Johann  von  Sachsen  am 

-December  1863  in  der  Kreuzschule  zu  Dresden       .     .     411—422 

'Z.v.  W.Herbst:  historisches  Hülfsbuch  für  die  oberen 

lassen  von   Gymnasien  und  Realschulen,     in.    Neuere 

-schichte.    Vom  Kector  Dr.  0.  Jäger  in  Mors  ....    422—427 

Anzeigen  und  Miscellen 427-~428 

-'•  Litterarische  und  culturhistorische  Mitteilungen  aus 
'echenland.     Von  Th.  Kind  in  Leipzig 427 


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Leipzig, 

Druck   und  Verla?    von    B.    G.     Teobner. 


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Zweite  Abteilung: 

für  Gymnasialpädagogik  und  die  übrigen  Lehrfächer,' 

mit  Ausschlusz  der  classischen  Philologie, 
herungegebei  tm  Prtfeswr  Dr.  Heraaia  Masias. 


9  84. 


Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 


.Bede,  gehalten  am  23.  April  1864  im  Gymnasium  zum  h.  Kreuz  zu  Dresden 
vom  Gymnasiallehrer  J.  Schöne. 


England  feiert  heute  das  300jährige  Geburtsfest  seines  grösten  Dich- 
ters, Shakspeare's.  Nach  Stratford,  einer  kleinen,  stillen  Stadt  am  Avon, 
•  wo  der  wellbewegende  Dichter  in  dieses  Dasein  trat,  pilgern  heute  wol  Tau- 
sende seiner  Landsgenossen,  mit  andächtigem  Staunen  das  einfache  Haus 
zn  betrachten,  wo  seine  Wiege  stand ;  Millionen  Andre  aber,  denen  es  ver- 
sagt ist,  mitzupilgern ,  sie  schauen  im  Geiste  nach  jener  Stätte,  von  wel- 
cher der  grosze  Genius  ausgieng,  dem  sie  ihre  Huldigungen  darbringen. 
In  diesem  Augenblicke  hallt  wol  das  ganze  Land  wieder  von  dem  Ruhme 
des  vaterländisch  gesinnten  Dichters,  des  süszen  Schwans  von  Avon,  wie 
sie  ihn  nennen,  desz  kühner  Flug  auf  den  Ufern  der  Themse  einst  das 
Entzücken  Elisabeth's  und  Jacob's  war! 

Wol  hat  kein  anderes  Land  so  tiefe  und  reiche  Beziehungen  zu  dem 
groszen  Dichter,  als  jenes  Land,  das  ihn  geboren,  dessen  Sprache  er 
spricht,  dessen  Geschichte  er  zur  Schau  stellt,  dessen  Sitte  und  Leben  er 
in  seine  Spiele  webt,  dem  er  einen  nie  verwelkenden  Kranz  gewunden  in 
jenen  Worten,  die  er  dem  sterbenden  Gaunt  auf  die  Zunge  legt: 

*Der  Königsthron  hier,  dies  gekrönte  Eiland, 

Dies  Land  der  Majestät,  der  Sitz  des  Mars, 

Dies  zweite  Eden ,  halbe  Paradies, 

Dies  Bollwerk,  das  Natur  sich  selbst  erbaut, 

Der  Ansteckung  und  Hand  des  Kriegs  zu  trotzen, 

Dies  Volk  des  Segens,  diese  kleine  Welt, 

Dies  Kleinod,  in  die  Silbersee  gefaszt, 

Die  ihr  den  Dienst  von  einer  Mauer  leistet, 

K.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  9.  29 

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430  Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 

Von  einem  Graben ,  der  das  Land  vertheidigt, 

Vor  weniger  beglückter  Länder  Neid ; 

Der  segensvolle  Fleck,  dies  Reich,  dies  England, 

Die  Amm'  und  schwangre  Schoosz  erhabner  Fürsten, 

An  Söhnen  stark  und  glorreich  von  Geburt ; 

So  weit  vom  Haus  berühmt  für  ihre  Thaten, 

Für  Christendienst  und  echte  Ritterschaft, 

Als  fern  im  starren  Judenthum  das  Grab 

Des  Weltheilands  liegt,  der  Jungfrau  Sohn: 

Dies  theure,  theure  Land  so  theurer  Seelen, 

Durch  seinen  Ruf  in  aller  Welt  so  theuer  — 
Allein,  wir  wissen,  grosze  Dichter  gehören  nicht  blosz  der  Nation  an,  aus 
der  sie  hervortreten,  sie  gehören  der  Welt:  gerade  das,  was  sie  grosz 
macht,  sprengt  die  Schranken  der  Nationalität.  Der  grosze  Glaube  und 
die  grosze  Liebe,  in  denen  sie  ihre  Werke  anpflanzen,  das,  was  ihre  An- 
schauungen und  Gedanken  verklärt ,  ihre  Rhythmen  beflügelt ,  ihre  Worte 
beseelt,  ihr  umfassender  Geist,  ihre  goldenen  Sprüche  und  Lehren,  dies 
Alles  gibt  ihnen  gleichsam  ein  Vaterland  und  eine  Sprache;  dies  macht, 
dasz  alle  Geister  ihnen  gehorchen ;  dies  versammelt  sie  alle  in  einem  ge- 
weihten Pantheon ,  dessen  Hallen  Jedem  offen  stehn ! 

Und  dennoch,  unter  Allen,  die  sich  dem  Angesicht  des  englischen 
Dichters  heute  nähern  dürfen ,  ist  sich  der  Deutsche  einer  innigeren  Ver- 
bindung mit  demselben  bewust,  als  andere  Nationen.  Er  erinnert  sich, 
dasz  das  Volk,  aus  dem  Shakspeare  hervortrat,  dem  germanischen  Stamme 
angehört,  und  vernimmt  in  der  Sprache ,  ja  selbst  in  dem  Namen  des  ge- 
waltigen 'Speerschüttlers'  auch  seiner  Sprache  Klänge ;  er  erinnert  sich. 
dasz  die  Werke  des  Briten  der  Geist  der  Freiheit  durchweht,  der  von 
Wittenberg  ausgieng  und  die  romanische  Welt  zertrümmerte  oder  er- 
schütterte ;  er  erinnert  sich ,  dasz  einst ,  als  er  entschlossen  seine  Muse 
dem  romanischen  Joche  entrisz,  Shakspeare  als  ein  befreundeter  Genius 
herzutrat,  um  hülfreiche  Dienste  zu  leisten. 

Oder  waren  es  nicht  die  genialen  Bühnenwerke  Shakspeare's,  welche 
unsern  Lessing  leiteten,  als  er  den  Deutschen  in  seiner  Dramaturgie  das 
wahre  Wesen  dramatischer  Poesie  entwickelte  und  durch  seine  fEmilia 
Galotti'  den  unerschütterlichen  Grundstein  legte  zu  dem  Bau  eines  eige- 
nen tragischen  Schauspiels  unserer  Nation,  war  es  nicht  Shakspeare,  des- 
sen Geist  den  Dichter  des  'Götz*  und  des  'Egmont'' umschwebte?  VVai 
nicht  der  flammende  Schiller,  als  er  zornig  seine  'Räuber*  in  die  Nation 
warf,  von  dem  Zauberstabe  Shakspeare's  berührt  —  ja,  schauen  nicht 
selbst  aus  dem  grösten  Drama  unserer  Nation,  dem  'Wallenstem*  die  Zuge 
des  englischen  Dichterheros  hervor,  dessen  historische  Stücke  der  Dichter 
las,  als  er  den  mächtigen  Stoff  in  seinem  Haupte  trug? 

Doch  wahrlich  —  Deutschland  hat  nicht  blosz  empfangen  von  dem 
englischen  Dichter,  es  hat  auch  gegeben.  Sie  gestehen  es  jenseits  des 
Canals  zu,  dasz  das  tiefere  Verständnis  ihres  Dichters  den  Deutschen  zu 
danken  sei :  c Wir  hatten  hier  zu  Lande  keine  nennenswerthe  Kritik  über 
Shakspeare9,  sagten  sie  neulich,  'bevor  Lessing  und  Goethe  uns  lehrten,  ^ 

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Zum  Gedächtnis  Shakspeare's.  431 

wie  er  zr  verstehen  und  zu  bewundern  sei.  Es  würde  eitel  sein,  zu  be- 
haupten ,  dasz  wir  selbst  jetzt  etwas  besitzen ,  was  mit  den  Leistungen 
Tieck's,  Schlegel's  und  Gervinus'  verglichen  werden  kann.' 

So  besteht  zwischen  Deutschland  und  Shakspeare  das  intimste  Ver- 
hältnis, und  ohne  Ruhmredigkeit  darf  es  ausgesprochen  werden :  wir  Deut- 
schen sind  allmählich  in  dem  stammverwandten  Dichter  heimisch  gewor- 
den; er  ist  heimisch  geworden  unter  uns,  und  wenn  es  wahr  ist,  dasz 
auf  gewisse  Weise  ein  Dichter  durch  diejenigen,  die  mit  Begeisterung  und 
Liebe  ihn  pflegen,  selbst  empfängt,  so  hat  unser  Vaterland  nicht  unge- 
gründeten Anspruch  auf  die  Ehre ,  welche  England  selbst  ihm  zugesteht, 
das  zweite  Vaterland  Shakspeare's  zu  sein. 

Und  so  erfüllt  Deutschland  eine  schöne  Pflicht  und  genieszt  zugleich 
ein  schönes  Vorrecht,  wenn  es  mit  Freudigkeit  der  Feier  sich  anschlieszt, 
welche  England  seinem  grösten  Dichter  heute  widmet. 

Das  Gleiche  geschehe  von  uns,  geliebte  Schüler.  Es  ist  Keiner  unter 
uns,  den  nicht  ein  Strahl  des  Geistes  getroffen,  der  von  Shakspeare  aus- 
gieng,  Keine*,  der  nicht  einstimmen  sollte  in  die  Worte,  mit  denen  einst 
der  21jährige  Goethe  vor  seinen  Freunden  in  Straszburg  eine  Festrede 
über  Shakspeare  einleitete:  (die  Betrachtung  eines  einzigen  Fusztapfen 
dieses  Giganten',  sagte  er,  f macht  unsre  Seele  feuriger  und  gröszer,  als 
das  Angaffen  eines  tausendfüszigen  königlichen  Einzugs.  Wir  ehren  heute 
das  Andenken  des  grösten  Wanderers  und  thun  uns  dadurch  selbst  eine 
Ehre  an.  Von  Verdiensten ,  die  wir  zu  schätzen  wissen ,  haben  wir  den 
Reim  in  uns.' 

Den  grösten  Wanderer  nannte  Goethe  den  englischen  Dichter!  Wir 
nehmen  ihn  an,  diesen  auszeichnenden  Namen;  denn  gewis,  so  lange  wir  , 
von  Beanlagung  und  Schöpferkraft  reden,  hat  die  Welt  unter  den  Men- 
schen keinen,  den  sie  ihm  an  die  Seite  stellen  könnte!  0,  dasz  wir  ein 
Bild  seiner  Wanderschaft  hätten !  Aber  so  klar  und  vollständig  sein  Geist 
in  seinen  Werken  sich  ausprägt ,  so  wenig  kennen  wir  Person  und  Leben 
des  Dichters,  so  wenig  läszt  sich  erkennen,  auf  welche  Weise  sein  Dasein 
in  Beziehung  stand  zu  seinen  Gedanken  oder  wie  er  den  Kern  seiner  sitt- 
lichen Natur  in  Sturm  und  Drang  bewahrte ! 

Noch  bis  heute  hat  die  Wissenschaft  das  mythische  Dunkel  nicht  zu 
verscheuchen  vermocht ,  in  welches  das  Leben  dieses  Zauberers  eingehüllt 
ist.  Kein  Document  beantwortet  uns  glaubhaft  die  Frage:  welche  Bildung 
Shakspeare  genossen,  keines  die :  was  er  bis  zu  seinem  Abgang  von  Strat- 
ford  nach  London  unternommen ,  keines  die :  warum  er ,  Weib  und  Kind 
zurücklassend,  nach  der  Hauptstadt  sich  wandte,  keines  endlich  gibt  zu- 
verlässige Kunde,  was  er  in  den  ersten  2  Jahren  in  London  begonnen. 
Gewis  ist:  als  25jähriger  Mann  betritt  er,  Miteigentümer  des  besten  Thea- 
ters der  Hauptstadt  geworden ,  seine  glanzvolle  künstlerische  Laufbahn. 

Und  schon  im  ersten  Jahre,  obwol  zunächst  nur  auf  Bearbeitungen 
älterer  Stücke  sich  beschränkend,  erlangt  er  solche  Erfolge,  dasz  der  ster- 
bende Green,  der  Dichter  Heinrich's  VI.,  den  so  eben  Shakspeare  bearbeitet 
ftatte,  seinen  Genossen  zurief :  fSeht  da,  die  mit  unsere  Federn  geschmückte 
Krähe,  die  mit  dem  prahlt,  was  sie  uns  entrisz.  Unter  der  Narren-  und 

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432  Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 

Liebhaberkappe  besitzt  er  das  Herz  eines  Tigers.  Er  traut  sich  so  viele 
tragische  Kraft  zu ,  als  nur  einer  der  Besten  unter  uns  besitzt ;  er  ist  ein 
wahres  Factotum,  er  glaubt  die  ganze  Bühne  aus  den  Angeln  heben  und 
eine  neue  Epoche  beginnen  zu  können!' 

Was  Green's  Besorgnis  geweissagt,  das  geschah :  in  24  Jahren  schuf 
Shakspeare  36  Stücke :  er  stellte  die  Kyd  und  Peele  und  Lodge  und  Green 
und  Marlowe  alle  in  Schatten,  und  als  er  seine  Bahn  vollendet,  vereinigten 
sich  alle  Genossen  der  poetischen  Zunft  in  dem  Rufe  seines  grosten  Neben- 
buhlers : 

f Triumph,  Britannien,  du  kannst  den  Einen  zeigen, 
Vor  dem  Europens  Bühnen  all*  sich  neigen !' 
Aber  was  wissen  wir  mehr  von  dem  Leben  dieses  siegreichen  Dichters? 
Wollen  wir  Dichtung  nicht  für  Wahrheit  nehmen,  nicht  viel  mehr  als  dies : 

Shakspeare  genosz  die  Gunst  Elisabeth's  und  Jacob's,  so  wie  die  Freund- 
schaft des  edlen  Mäcenaten  der  Dichtkunst  und  des  Theaters ,  des  Grafen 
Southhampton,  dein  er  seine  erzählenden  Gedichte  und  seine  Sonette  wid- 
mete; er  war  ein  guter,  aber  kein  groszer  Schauspieler;  die  Rolle  des 
Geistes  im  Hamlet  war  seine  beste  Leistung;  seine  Truppe,  wo  der  gröste 
Dichter  mit  dem  grosten  Mimen  der  Zeit ,  wo  ein  Shakspeare  mit  einem 
Burbadge  wetteiferte,  überflügelte  die  andern  Schauspielertruppen  so, 
dasz  sie  noch  ein  zweites  Theater  errichten  konnte ;  bereits  10  Jahre,  be- 
vor er  wieder  in  seine  Heimat  zurückkehrte,  gab  Shakspeare  den  Schau- 
spielerberuf auf,  blieb  jedoch  Miteigentümer  des  Theaters;  wir  wissen 
ferner,  dasz  unser  Dichter  der  Glanzpunkt  eines  berühmten  Clubs  war, 
wo  er  mit  Jonson  jene  berühmten  Turniere  des  Geistes  lieferte,  von 
denen  Beaumont  schreibt :  f Was  für  Dinge  haben  wir  hier  gesehen ,  wel- 
che Worte  gehört,  so  fein,  so  voll  geistigen  Feuers,  als  wollte  Jeder,  von 
dem  sie  kamen ,  seine  ganze  Kraft  in  einem  Schlage  erproben ;'  wir  wis- 
sen, dasz  Shakspeare's  Wolstand  erfreulich  zunahm  und  er  schon  1597 
mit  seinem  Gewinn  als  Schriftsteller  und  Theateractionär  eines  der  gro- 
sten und  schönsten  Häuser  in  seiner  Geburtsstadt  ankaufte,  woran  sich  in 
den  folgenden  Jahren  weitere  Erwerbungen  von  Grundbesitz  in  und  bei 
Stratford  anschlössen ;  wir  wissen,  dasz  nachdem  er  schon  mehrere  Jahre 
abwechselnd  in  London  und  in  Stratford  gelebt,  er  die  letzte  Zeit  seines 
Daseins  ununterbrochen  in  Stratford  zubrachte,  um  inmitten  seiner  Fa- 
milie und  umgeben  von  Freunden,  deren  seine  Liebenswürdigkeit  ihm 
viele  erwarb,  oder  auch  landwirtschaftlichen  Beschäftigungen  sich  hin- 
gebend, die  Früchte  seiner  glücklichen  Anstrengungen  zu  genieszen;  wir 
wissen  endlich,  dasz  er  am  25.  März  1616  bei  voller  Gesundheit  sein  Te- 
stament unterzeichnete,  aber  schon  einen  Monat  darauf,  am  23.  April,  d.  i. 
an  seinem  52.  Geburtstage  starb ! 

Und  so  vermögen  wir  denn  keinen  befriedigenden  Blick  zu  werfen 
in  die  geistige,  künstlerische  und  sittliche  Entwickelung  des  übermäch- 
tigen Dichters,  dem  wir  Romeo  und  Hamlet,  den  Sommernachtstraum  und 
Macbeth,  das  Wintermärchen  und  den  Lear,  die  römischen  und  die  eng- 
lischen Historien  verdanken.  —  Was  uns  die  alten  Documente,  aüsgeruu- 
gen  und  analysiert  durch  die  englische  Shakspearegesellschaft  verkünden, 


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Zum  Gedächtnis  Shakspeare's.  433 

reicht  aus ,  um  zu  erkennen ,  dasz  er  in  groszer ,  bewegter ,  fruchtbarer 
Zeit  da  stand  unter  hohen  Stämmen  ein  Riesengipfel,  aber  es  zeigt  uns 
nicht,  wie  der  söszeste  und  der  erhabenste,  der  heiterste  und  der  furcht- 
barste aller  Dichter  durch  Kampf  zum  Siege  schritt.  Und  doch,  wer  könnte 
ohne  dieses  Verlangen,  tiefer  in  das  Geheimnis  des  Daseins  dieses  Dich- 
ters blicken  zu  können ,  auch  nur  das  eine  an  den  Freund  gerichtete  So- 
nett lesen: 

*Wenn  ich ,  von  Menschen  und  vom  Glück  verstoszen 
Am  Thor  des  Himmels  unnütz  forschend  steh1, 
Gebannt  ins  trübste  von  den  Erdenloosen ,  * 

Verwünschend,  weinend  auf  mein  Elend  seh', 
Wenn  ich  so  gern  möcht'  diesem  Hoffnungsreichen , 
Schön  von  Gestalt,  umringt  vom  Freundeskreis, 
Dem  Künstler  hier,  dem  dort  am  Ziele  gleichen; 
Wenn,  was  ich  hab*,  ich  nicht  zu  schätzen  weisz; 
Wenn  ich ,  aufgebend  mich ,  mich  selbst  mir  raube  — 
Da  denk  ich  dein  —  und  wie  die  Lerche  dann, 
Die  mit  dem  Tag  aufsteigt  aus  Erdenstaube, 
Singt  meine  Seele  Hymnen  himmelan : 
So  reif  macht  deine  Liebe  mich  und  grosz , 
Ich  tauschte  nicht  mit  eines  Königs  Loos!' 
Beschränken  wir  also  unsere  Betrachtungen  auf  den  groszen  Dramatiker 
und  Dichter,  der  in  Shakspeare's  Werken  in  voller  Klarheit  dasteht! 

Sollten  wir  kurz  antworten  auf  die  Frage,  was  denn  nun  diesen 
Shakspeare  zu  einer  so  einzigen  und  Stauneu  erregenden  Erscheinung 
macht,  so  würden  wir  sagen:  Niemand  hat  je  eine  so  reiche  poetische 
Welt  mit  gleicher  Sicherheit  und  Freiheit  in  so  vollendeter  Weise  durch 
die  lebensvollste  aller  künstlerischen  Formen,  das  Drama,  hervorge- 
bracht ! 

Die  dramatische  Poesie  ist  Shakspeare's  Lebenselement.  Zwar  be- 
sitzt er  alle  poetischen  Kräfte  in  gleicher  Stärke ,  die  lyrischen ,  wie  die 
epischen,  aber  er  stellt  sie  in  den  strengen  Dienst  des  Dramas  —  und 
gibt  ihnen  die  gros te  Bewegung  und  Wirkung.  Die  Höhe,  welche  der 
dramatische  Fürst  in  seinen  vollendetsten  Schöpfungen  erstie- 
gen ,  scheint  uns  oft  die  Grenzen  des  Menschen  Möglichen  zu  überragen. 
Denn  in  jedem  Teile  derselben  ist  dieser  Dichter  gleich  grosz. 

Es  mag  wol  dramatische  Dichter  gegeben  haben ,  die  ihren  Stoff  bis 
in  die  feinsten  Einzelheiten  hinein  überlegten,  ihre  Entwürfe  auf  das 
Strengste  disponierten ,  sich  von  jeder  bevorstehenden  Wendung  der  Ac- 
tion,  von  jeder  Scene  und  ihrer  Stellung  und  Bedeutung  Rechenschaft 
gaben,  ja  das  Verhältnis  der  einzelnen  Glieder  zum  Ganzen  und  unterein- 
ander abwogen ;  es  mag  Dramatiker  gegeben  haben ,  welche  mit  diesen 
Eigenschaften  auch  noch  die  Fähigkeit  verbanden,  verschiedene  Fäden  an- 
zuknüpfen, dieselben  ineinanderlaufen  und  sich  kreuzen  zu  lassen,  am 
Ende  aber  sie  alle  auf  demselben  Punkte  zu  vereinigen,  so  dasz  trotz  der 
scheinbar  verschiedenen  Wege ,  auf  denen  der  Verlauf  der  Handlung  vor- 
wärts wandelt,  endlich  die  Einheit  der  letzteren  triumphierend  dasteht 


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434  Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 

—  aber  welcher  Gompositionskünstler  wagte  zu  wetteifern  mit  dem  Dich- 
ter des  Königs  Lear,  des  Kaufmanns  von  Venedig,  Hamlet' s,  Othello's  usw., 
der  nicht  nur  in  sicherem  Besitze  solcher  Vorzüge  ist,  sondern  solche 
Vorzüge  selbst  in  Schatten  zu  stellen  weisz.  Denn  wer  vermöchte  je 
schon  in  die  ersten  Scenen  den  Keim  des  Ganzen  mit  gleicher  Sicherheit 
zu  pflanzen,  wie  Shakspeare,  und  uns  schon  hier  mit  tiefster  Ahnung  des 
Ausgangs  zu  erfüllen?  Wer  vermöchte  eine  gleiche  Fülle  in  Manigfal- 
tigkeit  von  Begebenheiten  so  concentrisch  zu  binden,  die  Handlung  durch 
so  reiche  Gontraste  hindurchzuleiten  und  der  Fabel  an  jedem  Punkte  ein 
%  so  mächtiges  Interesse,  eine  so  grosze  Spannung  und  Schnellkraft  zu  ver- 
leihen? *Wie  eine  Lawine,  die  mit  immer  wachsendem  Umfang  und  stei- 
gender Schnelle  den  Felshang  hinunterstürzt ,  bis  sie  donnernd  die  Tiefe 
erreicht,  so  braust  die  Handlung  seiner  Stücke  in  stürmischem  und  un- 
aufhaltsamem Gange,  hier  und  da  in  mächtigen  Schlägen  hervorbrechend, 
vorwärts  und  wartet  nicht,  bis  sie  ans  Endziel  gelangt!' 

Aber  das  Wunderbarste  ist:  diese  Kunst  Shakspeare's  erscheint  ganz 
Natur:  die  vollendete  Gestalt  selbst  seiner  grösten  Entwürfe  erscheint 
nicht  durch  den  Calcul  des  Verstandes  hervorgebracht,  sondern  wie  durch 
ein  inneres  organisches  Gesetz  hervorgewachsen !  Davon  der  tiefste  Grund 
der  ist,  dasz  Shakspeare,  einem  echt  germanischen  Zuge  getreu,  das  Ge- 
webe der  Handlung  aus  dem  Innern  der  Charaktere  spinnt, t im  entschie- 
denen Gegensatze  zu  den  Dramatikern  der  romanischen  Welt,  welche  ihre 
Figuren  in  das  Gewebe  der  Handlung  hineinstellen  und  durch  dieselbe 
bedingen.  Auf  den  Charakteren  ruht  der  Bau  der  Shaksp  eare- 
schen  Dramen  und  die  ganze  ergreifende,  wahrhafte  Poesie  seiner 
Compositionskunst. 

Und  gerade  in  der  Charakteristik  ist  diesem  Dichter  längst  einstim- 
mig der  erste  Preis  zuerkannt.  Schon  die  grosze  Zahl  durchaus  von  ein- 
ander verschiedener  Gestalten ,  die  er  geschaffen ,  setzt  in  Erstaunen :  auf 
seinen  allmächtigen  Ruf  erscheinen  Wesen  der  wirklichen  Welt,  wie  We- 
sen einer  phantastischen  Sphäre :  sein  Kiel  hat  jedes  Alter  und  jedes  Ge- 
schlecht, ja  alle 'Stände  und  Nationen  bezwungen:  in  dem  unabsehtichen 
Maskenzuge,  den  er  aufführt,  gewahren  wir  Könige  und  Narren,  hohe 
Helden  und  niedere  Gesellen,  Greise  und  Kinder,  Männer  und  Frauen, 
Herren  und  Diener,  Engländer  und  Franzosen,  Römer  und  Italiener,  Weisze 
und  Schwarze ,  Geister  und  Hexen ,  ja  man  darf  sagen :  Shakspeare  habe 
alle  möglichen  Charaktertypen  in  allen  denkbaren  Modificationen  geschildert ! 

Diese  Manigfaltigkeit  der  Charaktere  wird  nur  durch  £ins  über- 
troffen,  durch  die  Kunst,  mit  welcher  er  sie  behandelt.  Als  echter  Dra- 
matiker zeigt  er  sich  darin,  dasz  er  seine  Personen  durch  sich  selbst, 
durch  die  That  und  die  Situationen  darzustellen  weisz ;  dasz  er  einer  jeden 
die  rechte  Stelle  anweist  und  keiner  einen  gröszeren  Spielraum  gewährt, 
als  ihr  nach  der  Grundidee  des  Stückes  zukommt,  dasz  er  sie  immer  in 
dem  Wellenschlage  einer  rastlos  fortschreitenden  Handlung  erhält  und  in 
die  Einzelheiten  und  Besonderheiten  ihres  Wesens  nur  so  weit  eingeht, 
als  ihm  sein  dramatisches  Spiel  erlaubt.  Aber  unendlich  schön  ist  es,  zu  * 
sehn,  mit  welcher  Unbefangenheit  und  herzlichen  Wärme  er  dennoch  das 


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Zum  Gedächtnis  Shakspeare's.  435 

ganze  Leben,  das  in  jeder  einzelnen  Gestalt  liegt,  effaszt.»  Volle  Menschen 
will  er  uns  zeigen  und  er  besitzt  allerdings  die  unnachahmliche  Kunst, 
mit  wenigen  Zögen  den  Schein  einer  Figur  hinzustellen,  die  leibt  und  lebt; 
in  wenigen  Worten,  die  sie  spricht,  bricht  ihre  ganze  Eigentümlichkeit 
hervor,  der  Kreis  ist  fest  gezogen,  in  welchem  sie  wandelt,  keine  einzige 
bewegt  sich  in  ganz  allgemeiner  Sphäre,  keine  einzige  ist  ein  bloszer  Re- 
präsentant einer  Glasse,  keine  dient  nur  zur  Verkörperung  einer  mensch- 
lichen Schwäche  oder  Verkehrtheit  oder  gar  blosz  zum  Sprachrohr  des 
Dichters!  Prägen  sich  diese  Personen  mit  ihrem  selbständigen  Wesen 
und  ihren  markierten  Zögen  unauslöschlich  unserer  Phantasie  ein,  so  sind 
sie  gleich wol  leichter  erkennbar,  als  erklärbar.  Der  Dichter,  dessen  Auge 
in  die  Tiefen  menschlicher  Individualität  und  Persönlichkeit  hinabdrang 
und  das  Räthselhafte  und  Geheimnisvolle  menschlicher  Eigenartigkeit  er- 
kannte, wusle  auch  hiervon  seinen  so  klar  und  deutlich  gezeichneten  Ge- 
stalten etwas  mitzuteilen.  Und  so  stehen  nicht  nur  die  hervorragendsten 
unter  ihnen  als  Probleme  da,  sondern  selbst  Nebenfiguren  setzen  oft  durch 
ihre  Sonderbarkeit  den  Philosophen,  wie  den  Mimen  in  Verwirrung.  Es 
war  eben  nicht  kühle  Berechnung,  mit  welcher  Shakspeare  eineine  Zöge 
zu  einem  festen- und  lebendigen  Charakterbild  zusammenfügte,  sondern 
mit  Naturgewalt  stiegen  seine  Gestalten  aus  allen  Voraussetzungen  und 
Bedingungen ,  in  die  er  sie  gestellt  sah ,  ihm  auf.  Darum  glauben  wir  an 
sie,  darum,  so  wenig  diese  Wesen  Nachahmungen  wirklicher  Wesen  sind, 
haben  sie  doch  eine  so  gewaltige  Wirklichkeit,  dasz  wir  an  ihrem 
Dasein  ebenso  wenig  zweifeln,  als  an  dem  Dasein  derer,  die  mit  und  un- 
ter einem  Dache  wohnen! 

Fast  noch  wunderbarer  erscheint  aber  Shakspeare ,  wenn  er  seine 
Charaktere  nicht  unmittelbar  als  etwas  Fertiges  vor  uns  hinstellt,  son- 
dern, wenn  er  sie,  wie  in  den  Schilderungen  Macbeth's ,  Richard's  III., 
Heinrich's  V  usw.,  vor  unseren  Augen  werden  läszt  und  ihren  ganzen 
Entwickelungsprocesz  vorführt.  Als  das  Allergröste  aber,  weil  hierdurch 
die  ganze  Structur  seiner  Stücke  zugleich  das  mächtigste  Interesse  ge- 
winnt, preist  man  mit  Recht  die  ungeheure,  treibende  Kraft,  welche  in 
seinen  Hauptcharakteren  arbeitet.  'Unwiderstehlich  ist  die  Gewalt ,  mit 
welcher  sie  ihrem  Schicksal  entgegen,  bis  zum  Höhepunkt  des  Dramas 
aufwärts  stürmen ,  in  allen  ein  markiges  Leben  und  starke  Energie,  nicht 
nur  der  Leidenschaft,  auch  des  Willens.' 

In  reinem  Dreiklang  mit  Gomposition  und  Charakterschilderung  hält 
sich  Dialog  und  Sprache  unseres  Dichters !  Alles  athmet  Handlung  und 
Leben.  Die  epischen  Elemente  haben  Bewegtheit  und  Gedrängtheit;  die 
Monologe  leiten  immer  durch  Affect  auf  die  Handlung  lebendig  über;  die 
Wechselrede  zeigt  sich  nirgends  als  einen  bloszen  Austausch  von  Gedan- 
ken und  Gesinnungen,  sondern  gleichsam  als  der  Flügelschlag  bewegter 
Handlung.  Niemand  versteht  besser  die  Sprache  des  echten  Dramatikers, 
als  Shakspeare.  Aus  jeder  Zeile  braust  dramatisches  Leben;  so  sprechen 
Personen ,  welche  mitten  im  Drange  einer  Action  stehen , .  und  dennoch 
redet  eine  Jede,  Könige  wie  Diener,  Männer  wie  Frauen,  Greise  wie  Kin- 
der, ihre  eigene  Sprache;  ihre  Worte  sind  das  naive  Bild  ihrer  Seele! 

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436  Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 

Unaussprechlich  schön  ist  das  farbige  Spiel,  das  der  Rede  dieses 
Dichters  eigen  ist.  Anmutige,  kühne,  seltsam  aufglühende  Bilder  ergreift 
die  Flammenmuse  des  Dichters.  Das  Gröste  wie  das  Kleinste,  das  Nächste 
wie  das  Entfernteste,  Alles  steht  gleichsam  harrend  am  Ufer,  auf  seinen 
Wink  in  den  Strom  seiner  Rede  zu  tauchen.  'Selbst  das  Unbelebte  drängt 
sich  hinzu',  sagt  Goethe,  'und  spricht  mit,  die  Elemente,  Himmel,  Erde 
und  Meer,  Phänomene,  Donner  und  ßlitz,  wilde  Thiere  erheben  ihre 
Stimme,  oft  scheinbar  als  Gleichnis,  aber  ein-  wie  das  anderemal  mit- 
handelnd'! Noch  bewundernswerther  zeigt  sich  die  Darstellungskraft 
unseres  Dramatikers  in  dem  Zuge,  welchen  ebenfalls  Goethe  andeutet: 
'selbst,  was  bei  einer  groszen  Weltbegebenheit  heimlich  durch  die  Lüfte 
säuselt,  sagt  er,  was  in  Momenten  ungeheurer  Ereignisse  sich  in  den  Her- 
zen der  Menschen  verbirgt,  wird  ausgesprochen!  Das  Geheimnis  musz 
heraus ,  und  sollten  es  die  Steine  verkündigen !' 

Daneben  besitzt  Shakspeare  eine  gleich  grosze  Kraft  im  Komischen, 
wie  im  Tragischen!  Und  wie  er  die  Komödie  zu  einem  reich  ausgestatte- 
ten Bilde  menschlicher  Thorheiten  und  Schwachheiten  erhebt,  in  welchem 
durch  den  naturgemäszen  Prozesz  der  Handlung,  nicht  durch  den  mecha- 
nischen des  launischen  täppischen  Zufalls  das  Schicksal  in  Mislingen  und 
Demütigung  sich  offenbart,  so  stehen  seine  Tragödien  da  als  groszartige, 
furchtbar  schöne  Bilder  menschlichen  Leidens ,  in  das  die  überschwellen- 
den Fluten  der  Leidenschaft  den  Schuldigen  hinabziehn.  Shakspeare  ist 
der  erste  Dichter ,  der  die  Schicksalsidee  in  voller  Reinheit  und  Vernünf- 
tigkeit darstellt.  Wer  fällt,  den  fällt  seine  That.  Der  faule  Fleck  eines 
blind  waltenden,  unfühlenden,  ja  grausamen  und  schadenfrohen,  aus  über- 
natürlichen Sphären  wirkenden  Fatums,  ist  entfernt.  Shakspeare  kennt 
den  ganzen  tiefen  Ernst  und  doch  auch  den  Stral  der  Güte  und  Milde 
der  göttlichen  Weltregierung,  die  dem  Menschen  das  Wort  verkündet: 
'in  deiner  Brust  sind  deines  Schicksals  Sterne !' 

Es  liegt  gewis  Shakspeare's  eignes  Glaubensbekenntnis  in  dem ,  was 
er  den  Edmund  im  König  Lear  sagen  läszt :  'das  ist  die  ausbündige  Narr- 
heit der  Welt,  dasz  wenn  wir  am  Glücke  krank  sind,  wir  die  Schuld  auf 
Sonne,  Mond  und  Sterne  schieben.  Als  wenn  wir  Schurken  wären  durch 
Notwendigkeit,  Narren  durch  himmlische  Einwirkung,  Schelme,  Diebe, 
Verräter  durch  die  Uebermacht  der  Sphären,  Trunkenbolde,  Lügner  und 
Ehebrecher  durch  erzwungene  Abhängigkeit  von  planetarischem  Einflusz 
und  Alles,  worin  wir  schlecht  sind,  durch  göttlichen  Anstosz.'  Auch  fol- 
gender Dialog  offenbart  vortrefflich  unseres  Dichters  Theologie :  'Ich  kann 
Euch  lehren,  Vetter,  selbst  den  Teufel  zu  meistern',  sagt  Morti- 
mer  zum  Heiszsporn;  —  'Und  ich,  Freund',  sagt  der,  'ich  kann  Euch 
lehren  sein  zu  spotten 

Durch  Wahrheit,  redet  wahr  und  lacht  des  Teufels. 

Habt  ihr  die  Macht ,  ihn  zu  rufen ,  bringt  ihn  her, 

Ich  schwör',  ich  habe  Macht  ihn  wegzuspotten! 

0,  lebenslang  sprecht  wahr,  und  lacht  des  Teufels!' 
Aber  war  es  nicht  ein  Unfug,  den  tiefsten  Ernst  ins  Komische  zu  mischen? 
War  es  nicht  eine  empörende  Verwegenheit,  Härte  und  Gewaltsamkeit, 


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Zum  Gedächtnis  Shakspeare's.  437 

komische  Scenen  in  die  Tragödie  zu  mengen  ?  —  Vorurteil  und  Beschränkt- 
heit haben  lange  darauf  erkannt.  Aber  wessen  Seele  die  Schwungfedern 
nicht  hat,  sich  auf  die  Höhe  zu  erheben,  von  welcher  der  auserlesene 
Liebling,  der  Musen  das  bunte  Spiel  des  Menschenlebens,  f  teilnehmend  und 
mitfühlend,  aber  niemals  befangen'  betrachtet,  wer  es  nicht  fühlt,  dasz 
jene  Mischung  in  letzter  Instanz  eine  Entmischung,  die  höchste  Läute- 
rung und  Vertiefung  des  Einen  wie  des  Andern  ist,  wer  jenen  —  wir 
müssen  das  Wort  gebrauchen ,  weil  es  kein  anderes  gibt  —  wer  jenen 
wahrhaft  groszen  Humor  nicht  fassen  kann,  welcher  durchaus  der  Stand- 
punkt Shakspeare's  ist,  jene  Empfindung,  wo  sich  Laune  und  Wehmut 
innigst  berühren  —  der  stelle,  beleidigt,  verwirrt,  erschreckt,  nicht  er- 
quickt, gerührt  und  versöhnt,  seinen  Shakspeare  hin,  er  wird  ihn,  ebenso 
wenig  verstehn,  als  er  sich  in  den  tausend  oft  so  herben  Widersprüchen 
des  Lebens  zurechtzufinden  weisz.  Aber  doch  ist  Shakspeare  nur  darum 
der  gröste  Dramatiker,  weil  er  zugleich  der  gröste  Dichter  ist.  Die  Form 
des  Dramas  ist  nur  das  Fahrzeug ,  in  das  er  seine  Schätze  birgt. 

Wenn  er  den  Hamlet  sagen  läszt:  'Es  war  von  Anfang  des  Schau- 
spiels Zweck  und  er  ist  es  noch  jetzt,  der  Natur  gleichsam  den  Spiegel 
vorzuhalten:  der  Tugend  ihre  eigenen  Züge,  der  Schmach  ihr  eigenes 
Bild  und  dem  Jahrhundert  und  Körper  der  Zeit  den  Abdruck  seiner  Ge- 
stalt zu  zeigen',  so  hat  Niemand  diese  Aufgabe  nach  Umfang  und  Tiefe 
vollkommener  erfüllt,  als  er. 

Seine  Dramen  sind ,  was  sie  sein  sollen ,  die  abgekürzte  Chronik  sei- 
nes Jahrhunders.  Auf  das  Feinste  und  Geistvollste  verarbeiten  und  spie- 
geln sie  das  ganze  Leben  des  alten,  kräftigen  und  lustigen  England  wie- 
der: Gewohnheit,  Sitte,  Denken,  Thun  aller  Volkskreise,  die  reichen 
Elemente  der  Gultur  und  Bildung  des  mondbeglänzten,  scheidenden  Mit- 
telalters, wie  der  aufgehenden,  sonnebeleuchteten  Epoche ,  in  der  auch 
wir  noch  athmen.  Aber  all'  diese  Fülle  von  endlichen  Erscheinungen  ist 
doch  nur  da,  um  ein  Ewiges  auszusprechen,  auszusprechen  was  war,  was 
ist  und  sein  wird :  Antwort  zu  geben  auf  jene  groszen ,  Leben  und  Tod 
umspannenden  Fragen,  welche  an  jedes  Menschen  Herz  anklopfen. 

Und  gewis,  wenn  noch  einmal  drei  Jahrhunderte  dahingeflossen  sind 
und  Bildung  und  Lebensweise  von  Neuem  sich  gewandelt  haben,  man 
wird  abermals  bekennen ,  was  wir  heute  bekennen ,  dasz  Shakspeare  am 
besten  wisse ,  was  der  Mensch  ist ,  wie  ihm  zu  Mute  ist  und  wie  es  ihm 
ergeht!  dasz  er  das  Bäthsel  der  Sphinx  am  besten  gelöst.  Die  nach  uns 
kommen,  sie  Alle,  wir  wissen  das,  unterzeichnen  das  Geständnis  Goethe's: 
cDer  kannte  das  innere  Menschencostüme!' 

Es  wäre  ein  thörichtes  Beginnen,  hier  weiter  die  reichen  poetischen 
Schätze  Shakspeare's  aufzeigen  und  schildern  zu  wollen.  Denn  wie  er 
in  leichtem  Spiele,  ohne  Schweisz  und  Müh'  die  ganze  bunte  Manigfaltig- 
keit  des  Naturlebens  vor  unsern  erstaunten  Blick  hinzaubert,  so  steuert 
sein  Kiel  auch  sicher  durch  die  Sphären  der  Religion  und  Moral ,  der  Po- 
litik und  Kunst,  der  Sitte  und  Lebensweisheit,  und  es  gibt  kaum  ein 
Amt,  kaum  ein  Feld  menschlicher  Thätigkeit,  kaum  einen  Zustand  der 
Seele ,  es  gibt  keine  Gemütsart ,  keine  Tugend ,  keine  Schmach ,  die  seine 


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438  Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 

Kunst  nicht  berührt.   Durch  alle  Kreise  des  Daseins  treibt  er  unsere  säu- 
migen Gedanken! 

Gedenken  wir  ja  des  Wortes,  dasz  ein  groszer  Mann  aussprach,  als 
er  einst  über  Goethe  nachsann,  als  einer  Mahnung  an  uns  ergangen:  'Ueber 
einen  groszen  Dichter  zu  schreiben  oder  zu  sprechen,  ist  nie  mehr,  als 
ein  Herumgehen  um  das  Unaussprechliche!' 

Und  dennoch ,  wir  können  heute  von  der  Betrachtung  dieses  her- 
lichen Genius  nicht  scheiden,  ohne  den  Kern  seiner  dichterischen  Persön- 
lichkeit zu  berühren:  seine  Wahrhaftigkeit,  Sittlichkeit,  Männ- 
lichkeit, Gesundheit  und  Heiterkeit. 

Es  gibt  keine  Stelle  in  den  sämtlichen  Werken  Shakspeare's,  in  wel- 
cher die  Sünde  reizend  und  verführerisch  gezeichnet  wäre ;  ihn  besticht 
kein  Titel ,  kein  Rang ,  nicht  Bildung ,  nicht  Schönheit ,  er  zeichnet  und 
verurteilt  die  Lüge  am  König,  wie  am  Bettler.  Es  gibt  keine  Stelle  in 
Shakspeare,  die  ihn  eines  Schwankens,  einer  Verderbnis,  einer  Verbildung 
bezüchtigen  könnte;  sein  Auge  ist  sicher  und  klar,  durch  keine  Gelehr- 
samkeit ermattet,  durch  keine  Cultur  getrübt,  durch  keine  Philosophie 
verwirrt  oder  schief  gestellt;  seine  Phantasie  ist  keine  Träumerei  und 
Schwärmerei;  sie  segelt  nicht  auf  der  nebetvollen  See  des  Unendlichen, 
sondern  trotz  des  kühnsten,  ja  verwegensten  Schwunges  schreitet  sie 
sicher  auf  dem  Festlande  der  Wirklichkeit.  Shakspeare's  Empfindung, 
ebenso  zart  als  tief,  ist  niemals  krankhaft  und  weichlich;  durch  die  bun- 
ten Gefilde  seiner  Poesie  zieht  sich  ein  Urgebirge  seltener  Mannhaftigkeit ' 
Und  fmit  Entzücken  erfüllt  ihn  die  Welt,  die  Männer,  die  Frauen,  sie 
stehen  alle  von  einem  lieblichen  Schimmer  umgössen  vor  seinen  Augen; 
den  Geist  der  Freude  und  unumwölkten  Reinheit  verleiht  er  dem  Cover- 
sum.' Ja ,  wenn  wir  diesen  Dichter  so  ohne  alle  eitle  Vornehmheit  und 
kühle  Selbstgefälligkeit  wandeln  sehn ,  in  unbekümmerter  Stimmung  sich 
mischend  unter  Hoch  und  Niedrig ,  alles  mit  gleicher  Zuneigung  betrach- 
tend und  behandelnd ,  dann  ahnen  wir  wol ,  was  die  Wunderkräfte  seines 
Geistes  inmitten  eines  groszen  Weltlebens  frisch  erhielt,  kräftig  bewegte 
und  zur  Schönheit  weihte!  Wir  meinen,  aus  seinen  Poesien  halle  das 
königliche  Wort  wieder,  das  Sophokles  in  den  Mund  Antigone's  legte: 
'Nicht  mit  zu  hassen,  mit  zu  lieben  bin  ich  da!' 

Erst  einhundertfünfundzwanzig  Jahre  nach  seinem  Tode  ward  dem 
in  der  Kirche  zu  Stratford  ruhenden  Dichter  ein  prächtiges  Denkmal  in 
Westminster  errichtet ,  eine  lebensgrosze  Bildsäule !  Seine  Hand  ruht  auf 
einem  Buche,  das  Prospero's  Worte  aus  dem  f Sturm'  trägt : 

*Wie  dieses  Scheines  lockrer  Bau,  so  werden 
Die  wolkenhohen  Thürme ,  die  Paläste, 
Die  hehren  Tempel ,  selbst  der  grosze  Ball, 
Ja,  was  daran  nur  Teil  hat,  untergehn; 
Und  wie  dies  leere  Schaugepräng'  erblaszt, 
Spurlos  verschwinden.    Wir  sind  solcher  Zeug 
Wie  der  zu  Träumen ,  und  dies  kleine  Leben 
Umfaszt  ein  Schlaf!' 


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Zum  Gedächtnis  Shakspeare's.  439 

Besser  wol  hätte  das  Ehrendenkmal  des  lebensvollsten  Dichters  das  zuver- 
sichtliche Wort  geschmückt,  das  der  römische  Dichter  für  sich  in  An- 
spruch nahm:  cnon  omnis  moriar!' 

Zwar  als  er  dahingegangen,  kam  eine  Zeit,  wo  er  von  seinen  Lands- 
leuten und  der  Welt  fast  vollständig  vergessen  ward.  Der  finstere ,  jedem 
heiteren  Lebensgenüsse  abholde  Puritaner,  der  das  Theater  als  die  gerade 
Heerstrasze  zur  Verdammnis  ansah,  erhob  triumphierend  sein  Haupt,  und 
ein  blutiger  und  ernster  Krieg  bannte  die  frohe  Schaulust  des  alten  Eng- 
lands. .  Und  als  dann  die  Wirren  des  erschütternden  Kampfes  vorüber 
waren,  griff,  wie  in  der  ganzen  gebildeten  Welt,  so  auch  in  England  ein 
neuer  Geist  und  Geschmack  Platz.  Der  französische  Classicismus ,  eine 
Misgestalt,  die  in  altertümelnder  Hülle  das  modernste  Leben  einer  erkün- 
stelten Hof-  und  Gesellschaftswelt  spiegelte  und  anpries,  schritt  siegreich 
durch  die  Welt! 

Nun  hiesz  poetische  Entwürfe  auf  das  Drahtgerippe  überlieferter  Re- 
geln spannen  so  viel  als  das  Geheimnis  künstlerischer  Gomposition  be- 
sitzen, geistreich  und  witzig  sein,  erfinden,  zierliche  Worte  in  gereimte 
Alexandriner  bringen,  dichten!  Nun  ward  persönliche  Anschauungsweise, 
individuelle  Anlage,  freie  Wahl  des  Inneren  unter  das  Gebot  universell 
stereotyper  Formen  gestellt,  Phantasie  und  Empfindung  durch  das  Stre- 
ben nach  kalligraphischer  Gorrectheit  gedämpft,  Natur  und  Wahrheit,  die 
ersten  und  ewigen  Kriterien  der  Kunst,  als  Rohheit  und  Unanständig- 
keit in  Verruf  gebracht. 

Schwer  hat  sich  dieses  französisch  gebildete  Zeitalter,  wo  Lebens- 
art mehr  galt  als  Gefühl,  Menschlichkeit,  Gesinnung  und  Charakter,  wo 
die  vornehme  Standes tragödie  Racine's,  des  Zärtlichen,  undVoltaire's,  des 
Prächtigen  als  die  höchste  Vollendung  dramatischer  Kunst  und  als  die 
Offenbarung  des  destiliiertesten  Geschmackes  angesehen  ward,  an  dem 
naturwahren ,  kräftigen  und  volkstümlichen  Dichter  Alt-Englands  vergan- 
gen ,  der  gerade  jetzt  wieder  aus  seiner  längeren  Vergessenheit  zögernd 
hervortrat.  *Du  gibst  nur  Eicheln,  statt  Brod%  rief  Mr.  Rymer  in  England 
ihm  zu,  denn  leider,  Shakspeare  war  nicht  von  den  modernen  Interpreten 
des  Aristoteles  und  Horaz  erzogen!  cDu  bist  ein  trunkener  Wilder',  rief 
Voltaire  in  Frankreich,  denn  leider,  Shakspeare  verstand  nicht  die  Natur 
delicat  darzustellen  cavec  certains  traits  de  Fart !'  'Ich  mag  dich  nicht9, 
rief  der  Schildknappe  der  Franzosen  in  Deutschland ,  der  Prof.  Gottsched 
in  Leipzig,  *denn  du  kennst  die  Regeln  der  vernünftigen  Schaubühne 
nicht  und  wagst  sogar  zu  den  groszen  Helden ,  die  von  vvichtigeu  Staats- 
geschäften reden,  possentreibende  Handwerker  zu  gesellen!9 

Aber  mochte  man  auch  immer  murren ,  verdammen ,  lästern ,  Shak- 
speare's Genius  brach  sich  endlich  siegreich  Bahn !  Im  Mutterlande  weckte 
Garrick's  Kunst  eine  frische  Begeisterung  für  die  alten  nationalen  Geistes- 
spiele Shakspeare's ,  und  es  bewahrheitete  sich ,  was  ein  Zeitgenosse  des 
Dichters  in  einem  Lobgedichte  einst  verkündet:  ces  werden  die  Tage 
kommen9,  weissagte  er ,  *die  alles  Neue  verschmähen,  Alles  für  unbedeu- 
tend achten  werden ,  was  nicht  Shakspeare's  ist ,  dann  wird  jeder  Vers 
neu  erstehen  und  den  Dichter  aus  seinem  Grabe  erlösen.' 


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440  Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 

In  Deutschland,  wo  der  franzosische  Geschmack  mit  der  Stärke  einer 
Naturgewalt  die  Geister  und  die  Sinne  seit  anderthalb  Jahrhunderten  ge- 
fesselt hielt,  wo  Not  und  Despotismus  die  besten  Eigenschaften  des  natio- 
nalen Charakters  niederhielten  und  die  Ungeister  der  Philisterei,  wie 
Goethe  sagt ,  ihr  Wesen  trieben :  stockende  Pedanterie ,  kleinstädtisches 
Wesen ,  kümmerliche  äuszere  Sitte ,  beschränktes  Urteil ,  falsche  Sprödig- 
keit,  platte  Behaglichkeit,  anmaszliche  Wurde  —  hier  in  unserm  Vater- 
lande war  es  Lessing,  seit  Luther  der  erste  Mann,  in  welchem  die  cha- 
rakteristischen Eigenschaften  der  deutschen  Natur  zuerst  wieder  in  voller 
Reinheit,  Gesundheit  und  Stärke  hervortraten,  hier  in  Deutschland  war  es 
Lessing,  welcher  dem  britischen  Dichter  eine  freie  Bahn  eröffnete.  Denn, 
als  im  Jahre  1759  noch  immer  die  Verpflanzung  des  französischen  Classi- 
cismus  nach  Deutschland  als  ein  heilsames  Unternehmen  gepriesen  ward 
und  man  mit  guter  Zuversicht  aussprach:  eNiemand  wird  leugnen  ,  dasz 
die  deutsche  Schaubuhne  einen  groszen  Teil  ihrer  ersten  Verbesserungen 
dem  Herrn  Prof.  Gottsched  zu  danken  hat',  da  war  es  Lessing ,  der,  eine 
Lanze  für  Shakspeare  einzulegen,  mit  der  Erklärung  in  die  Arena  stieg: 
'Ich  bin  dieser  Niemand!9  Und  nun  stellte  er,  der  Welt  zum  Stau- 
nen ,  die  Corneille  und  Voltaire  vom  Throne  stoszend ,  den  einzigen  Shak- 
speare ,  den  verachteten  Shakspeare  auf  die  Höhe  des  Sophokles. 

Dies  geschah  im  Geburtsjahre  Schillert.  Der  Würfel  war  gefallen. 
Die  hamburgische  Dramaturgie  führte  siegreich  das  ausgesprochene  Thema 
durch.  Sie  zertrümmert  den  künstlichen  Bau  einer  ererbten  ästhetischen 
Bildung,  die  ihre  Fäden  an  die  Auszenseiten  der  antiken  Kunst  anknüpft, 
sie  bringt  die  autonome  Gewalt  zur  Geltung,  die  in  dem  wahren  dich- 
terischen Vollgeiste  liegt,  sie  setzt  an  die  Stelle  des  Verstandesideals, 
welches  die  gesamte  bisherige  Poesie  beherschte,  jene  bildungsreiche 
Phantasie  in  ihr  Recht,  die  wahrnimmt  auch,  was  nje  die  kühlere  Ver- 
nunft begreift  und  deren  Selbstherlichkeit  und  Macht  Niemand  in  Wort  und 
That  so  schön  darstellt,  als  der  Diehter  des  Sturms  und  des  Sommer- 
nachtstraums : 

'Des  Dichters  Aug',  in  schönem  Wahnsinn  rollend 
Blitzt  auf  zum  Himmel ,  blitzt  zur  Erd'  hinab, 
Und  wie  schwangere  Phantasie  Gebilde 
Von  unbekannten  Dingen  ausgebiert, 
Gestaltet  sie  des  Dichters  Kiel ,  benennt 
Das  luft'ge  Nichts  und  gibt  ihm  festen  Wohnsitz!' 
Zu  gleicher  Zeit  gaben  Wieland  und  Eschenburg  der  Nation  durch  ihre 
Uebersetzung  einen  ersten  allgemeinen  Begriff  von  der  Grösze  des  eng- 
lischen Dichters.    Dann  erschien  der  stürmische  Herder  auf  dem  Plan ,  um 
die  prometheische  Kraft   desselben  in  groszen  und  kräftigen  Zügen  zu 
schildern!    Schröder  brachte  ihn  in  Hamburg  auf  die  Bühne,  und  seine 
Kunstreise,  wenige  Jahre  darauf  nach  Berlin,  über  Dresden  und  Prag  nach 
Wien,  München,   Mannheim,   Gotha,  Braunschweig  unternommen,  um 
überall  Shakspearesche  Rollen  zu  geben ,  war  ein  Triumph  für  den  deut- 
schen Schauspieler,  ein  Sieg  für  den  englischen  Dichter.    Seitdem  endlich 
die  unvergleichliche  Uebersetzung  der  Schlegel-Tieck  hervorgetreten  ist, 


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Zum  Gedächtnis  Shakspeare's.  441 

hat  das  Wort  seine  volle  Wahrheit  erhalten:  Deutschland  ist  das  zweite 
Vaterland  Shakspeare's!  Inzwischen  hatte  der  Deutsche  auch  sein  eigenes 
Vaterland  wieder  entdeckt.  Aus  dem  Kreise  jugendlicher  Dichter,  deren 
idealer  Mittelpunkt  Shakspeare  war,  trat  Götz  von  Berlichingen  hervor, 
um  den  vollen  Durch bruch  einer  neuen  deutschen  L-itteraLur 
zu  verkünden.  Der  Dichter  dieses  Dramas  hat  es  nicht  versäumt,  dankbar 
zu  bekennen,  wie  er,  in  das . grosze  Buch  Shakspeare's  blickend ,  ilage- 
standen, einem  Blindgeborenen  gleich,  dem  eine  Wunderhand  das  Gesicht 
in  einem  Augenblicke  schenkt,  wie  er  aufs  Lebhafteste  seine  Existenz  um 
eine  Unendlichkeit  erweitert  fühlte  und  wie  seines  Werthes  Vollgewinn 
auf  jenen  Stunden  ruhte,  die  er  in  seiner  Jugend  dem  Shakspeare  ge- 
widmet. 

'Ich  erinnere  mich  nicht',  sagt  eine  berühmte  Stelle  im  Wilhelm 
Meister,  cdasz  ein  Buch,  ein  Mensch  oder  irgend  eine  Begebenheit  des 
Lebens  so  grosze  Wirkungen  auf  mich  hervorgebracht  hätte,  als  diese 
köstlichen  Stücke.  Sie  scheinen  das  Werk  eines  himmlischen  Genius  zu 
sein,  der  sich  den  Menschen  nähert,  um  sie  auf  die  gelindeste  Weise  mit 
sich  bekannt  zu  machen.  Es  sind  keine  Gedichte!  Man  glaubt  vor  den 
aufgeschlagenen  Ungeheuern  Büchern  des  Schicksals  zu  stehen ,  in  denen 
der  Sturmwind  des  bewegtesten  Lebens  saust  und  sie  mit  Gewalt  hin 
und  wieder  blättert.  Ich  bin  über  die  Stärke  und  Zartheit,  über  die  Ge- 
walt und  Ruhe  so  erstaunt  und  auszer  aller  Fassung  gebracht,  dasz  idi 
nur  mit  Sehnsucht  auf  die  Zeit  warte,  da  ich  mich  in  einem  Zustande  he* 
finden  werde,  weiter  zu  lesen.  —  Alle  Vorgefühle,  die  ich  jemals  über 
Menschen  und  Schicksal  gehabt,  finde  ich  in  Shakspeare's  Stücken  erfüllt 
und  entwickelt.  Es  scheint,  als  ob  er  uns  alle  Räthsel  offenbarte,  ohne 
dasz  man  doch  sagen  kann :  hier  oder  da  ist  das  Wort  der  Auflösung. 
Die  wenigen  Blicke,  die  ich  in  Shakspeare's  Welt  gethan,  reizen  mich 
mehr  als  irgend  etwas  Anderes,  in  der  wirklichen  Welt  schnellere  Fort- 
schritte zu  thun,  mich  in  die  Flut  der  Schicksale  zu  mischen,  die  über 
sie  verhängt  sind,  und  dereinst,  wenn  es  mir  glücken  sollte,  aus  dem 
groszen  Meere  der  wahren  Natur  einige  Becher  zu  schöpfen  und  sie  von 
der  Schaubühne  dem  lechzenden  Publicum  meines  Vaterlandes 
zu  spenden.' 

Wie  nun  der  englische  Dichter  in  der  Nation  fortwuchs ,  wie  er  un- 
sere Dichter  und  Künstler  ergriff  und  mit  Begeisterung  erfüllte ,  wie  er 
unsere  Wissenschaft  in  Bewegung  setzte,  so  dasz  verschiedene  Kräfte 
wetteifernd  ihn  wieder  übersetzten,  seine  Texte  säuberten  und  erläuter- 
ten, sein  Wesen  zu  durchdringen  und  seine  Geschichte  darzustellen  such- 
ten, welche  Wirkungen  endlich  und  Erfolge  sich  an  diese  Bestrebungen 
anknüpften,  bleibe  hier  unausgesprochen.  Aber  das  ist  gewis:  Shakspeare 
steht  als  eine  geistige  und  sittliche  Macht  ersten  Ranges  in  unserer  Nation 
und  hat  mit  Recht  in  unsern  Bibliotheken  neben  Lessing,  Goethe  und 
Schiller  seinen  Platz.  Und  so  lange  deutsch  gesprochen  werden  wird, 
wird  man  seinen  Shakspeare  lesen;  er  wird  fortfahren,  unser  Dasein  zu 
erweitern,  den  Geist  zu  bilden,  Herz  und  Charakter  zu  stärken;  er  wird 
fortfahren,  uns  zu  befreien,  indem  er  ausspricht,  was  wir  denken  und 


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442  Zum  Gedächtnis  Shakspeare's. 

fühlen,  aber  selbst  nicht  sagen  können;  er  wird  fortfahren,  uns  beizu- 
stehn  in  allen  Wechselfällen  des  Lebens,  auch  als  Tröster  in  Schmerz  und 
Sorge,  als  Pfleger  in  Krankheit,  als  Gefährte  in  der  Einsamkeit! 

Doch  laszt  mich,  lieben  Freunde,  noch  ein  Wort  hinzufügen:  In 
Dingen  der  Kunst  und  Poesie  gilt  der  Satz :  eden  Stoff  sieht  Jedermann 
vor  sich,  den  Gehalt  findet  nur  der,  der  etwas  dazu  zu  thun  hat,  und  die 
Form  ist  ein  Geheimnis  den  Meisten.'  Eine  gütige  Schöpferhand  hat  jeder 
Menschenseele  jene  geheimen  Kräfte  eingeformt,  zarte  und  feine  Eindrücke 
zu  empfangen,  Schönes  und  Edles  mit  unterscheidendem  Blicke  zu  gewah- 
ren, rege  Unlust  zu  empfinden  an  dem,  was  häszlich  ist,  entstellt  und 
plump  in  seiner  Art. 

Aber  wenn  wir  den  Schlummerliedern  der  Trägheit  und  des  Genus- 
ses horchen,  wenn  wir  von  der  Macht  des  Gewöhnlichen  und  Gemeinen 
uns  überwältigen  lassen ,  wenn  die  Spenden  schmutzigen  Reichtums  oder 
eitler,  prahlerischer  Ehre  uns  locken,  Bewunderung  und  Liebe  preis  zu 
geben,  so  werden  wir  selbst  in  dem  grösten  Dichter  der  Welt  nicht  mehr 
finden,  als  wir  werth  sind  zu  finden,  feilen  Stoff  zu  fauler  Unterhaltung! 

Bildung,  mit  Fleisz  erworben,  musz  mütterlich  die  göttliche  Saat, 
die  in  unsre  Brust  gesät  ist,  pflegen,  belebend  ansonnen,  geistig  über- 
strömen und  vor  dem  Erstarren  schirmen ! 

Möchte  diese  Anstalt,  möchte  dieser  Tag  in  dieser  Anstalt,  der 
300jährige  Geburtstag  Shakspeare's,  den  zu  feiern  uns  keine  Rücksicht 
hat  abhalten  können,  dazu  beisteuern,  dasz  einst  dieFormderSchön- 
heit  Eurem  Geiste  ihr  Geheimnis  offenbare. 

Wir  wissen,  was  wir  thun.  Wol  sind  diese  Räume  mehr  dem  Homer 
gewidmet,  als  dem  Shakspeare.  Wol  ist  es  recht,  dasz  wir  unsere  Bil- 
dung nicht  mit  dem  Briten ,  sondern  mit  dem  Griechen  beginnen.  Aber 
wir  treiben  den  Homer  nicht,  weil  er  ein  Grieche  ist,  sondern  wir  lernen 
Griechisch,  weil  es  einen  Homer  gibt.  Auch  lieben  wir  den  alten  Dichter 
■  nicht,  weil  er  alt,  sondern  weil  er  ewig  jung  ist.  Und  darum  schlieszen 
wir  unsere  Bildung  auch  nicht .  mit  Homer  und  dem  Altertume  ah.  Zum 
Segen  für  unser  theures  Vaterland  nahmen  einst  seine  besten  Söhne  den 
Shakspeare  wie  einen  aus  einer  höhern  Welt  herabgestiegenen  Seher,  wie 
einen  von  den  Todten  auferstandenen  Schicksalskündiger  bei  sich  auf  und 
mit  freudigem  Erstaunen  fanden  sie  in  dem  groszen  und  echten  Germa- 
nen gleichsam  ihre  eigenen  Uranfänge,  ihr  eigenes  ihnen  so  lange  ent- 
fremdetes Selbst  und  Ich  wieder.  Seitdem  hat  sich  der  deutsche  Genius 
in  sich  selbst  von  Neuem  befestigt.  Zum  Segen  für  das  Vaterland  wird 
es  gereichen,  wenn  das  Wachstum  dieses  Dichters  in  Deutschland  kein 
Ende  .nimmt  und  auch  unter  Euch,  liebe  Schüler,  wenn  Ihr  Männer  ge- 
worden seid,  das  Wort  an  dem  Homer  des  Dramas  sich  erfüllt,  das 
Propertius  von  dem  Homer  des  Epos  äuszert : 

*Poster$tote  suum  crescere  sentit  opus!9 


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* 


Hapten;  'Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf.  443 

35. 

Stundenpläne. 


Vortrag  für  die  Versammlung  rheinischer  Schulmänner  zu  Düsseldorf, 
den  29  März  1864,)von  Rector  Dr.  TL  Hansen. 


Wir  denken  bei  dieser  Ueberschrifl  nicht  an  die  hlosze  reine  Tech- 
nik des  Stundenplanes;  wie  denn  bei  zu  groszer  BeLonung  des  Tech- 
nischen oder  bei  zu  ängstlicher  Sorge  um  die  Technik  die  Gefahr  ins 
Mechanische  zu  fallen  näher  rückt  und  über  Formen  das  Wesentliche  in 
den  Hintergrund  tritt.  Die  Schule  ist  kein  Bureau ;  und  vor  der  Bureau- 
kratie  hat  sie  sich  auszer ordentlich  zu  hüten.  Daher  musz  von  vornherein 
der  Schein  vermieden  werden,  als  ob  die  Schule  um  des  Stundenplans 
willen  da  wäre,  und  als  ob  es  ganz  besonders  darauf  ankäme,  dasz  der 
Stundenplan  sich  hübsch  ausnehme  und  auf  drauszen  Siehende,  hei  der 
Schule  nur  indirect  oder  gar  nicht  Betheiligte  einen  wolgefalligen  Ein- 
druck mache.  Man  sage  nicht,  dasz  dieses  Bedenken  ganz  grundlos  sei 
und  an  solche  Verirrungen  nicht  zu  denken.  Wenn  z.  B.  besondere  Kunst- 
griffe vorgeschlagen  oder  ausprobiert  werden,  um  den  Stundenplan  her- 
zustellen ,  oder  um  sich  diese  Arbeit  zu  erleichtern  und  zu  verkürzen  i  so 
kann  dies  .zwar  ganz  unverfänglich  sein  und  von  löblichem  Eifer  zeugen, 
sich  eine  Brücke  zu  bauen,  um  desto  länger  und  bequemer  bei  der  Sache 
selbst  verweilen  zu  können.  Allein^es  kann  auch  vielleicht  eine  Liebhabe- 
rei an  Paradespiel  und  Ostentation  sein,  von  der  manche  Schule,  je  'höher1* 
sie  ist,  desto  weniger  sich  frei  sprechen  kann. 

Wir  denken  hier  vielmehr  nur  an  eine  Arbeil,  bei  welcher  der  Cha- 
rakter sein  stilles  Wesen  treibt  und  ernste  Ziele  verfolgt ,  die  wahrhaft 
werthvoll  sind.  Demjenigen,  der  sich  dieser  Stellung  der  Sache  bewust 
ist,  ist  die  Anfertigung  des  Stundenplans  weder  eine  Ausübung  der  Kunst- 
Fertigkeit,  noch  eine  leichte  Spielerei,  sondern  ein  sittliches  Thuu,  dessen 
Ausführung  sich  ihm  lediglich  und  ausschlieszlich  aus  der  Natur  der  Sache 
selbst  ergeben  musz.  Solche  geistige,  organische  Auffassung  lüszL  auch 
keine  Stabilität  zu,  sondern  man  vergegenwärtigt  sich  stets,  dasz  zu  dem 
einen  rechten  Ziele  gar  manigfache  Wege  führen,  und  dasz  manche 
Rucksichten  auf  das  Wesentliche  zu  nehmen  sind  7  die  etwa  von  Jahr  zu 
Jahr  eine  immer  wieder  andere,  neue  Psysiognomie  des  Stundenplanes 
bedingen. 

Besinnen  wir  uns  auf  die  verschiedenen  Gegenstände,  die  zumeist 
zu  berücksichtigen  sind,  und  zwar  ohne  besondere  locale  Verhältnisse 
als  masz gebend  in  Betracht  zu  ziehen,  also  auf  die  allgemein  gültigen. 
Es  werden ,  wenn  wir  sie  vorerst  nur  nach  einander  aufführen  wollen, 
folgende  sein : 

1)  die  Stufe,  insbesondere  die  Altersstufe  der  einzelnen  Classen; 

2)  die  Natur  der  einzelnen  Lehrgegenstände ; 

3)  die  Individualität  usw.  der  Lehrer; 

4)  die  Jahreszeit. 


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444  Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf. 

Gehen  wir  nun,  ohne  uns  auf  die  Redensarten  einer  captatio  benevolentiae 
einzulassen,  näher  auf  diese  Gegenstände  ein,  indem  wir  ausdrücklich  aus- 
sprechen ,  dasz  wir  im  Allgemeinen ,  wo  nicht  ausdrücklich  das  Gymna- 
sium genannt  ist,  die  höhere  Bürgerschule,  resp.  Realschule  im  Auge 
haben ;  da  mit  concreter  Grundlage  sich  am  besten  operieren  läszt,  werde 
ich  mir  erlauben,  aus  meiner  eigenen  für  jetzt  nur  noch  vierclassigen 
Schule  Beispiele  beizubringen. 

1. 

Wir  nennen  zuerst  die  Stufe  der  einzelnen  Glassen,  insbe- 
sondere die  Altersstufe.  Es  ist  eine  begründete  Sorge  sinniger  und 
verständiger  Mütter,  dasz  die  Knaben  heutzutage  schon  früh  mit  zu  vie- 
lerlei Dingen  in  der  Schule  belastet  werden.  Wir  wollen  vorerst,  in  Be- 
tracht dessen,  dasz  die  Fächer  und  die  Stundenzahl  für  dieselben  vorge- 
zeichnet ist,  annehmen,  dasz  diese  die  angemessene  sei.  Dies  ange- 
nommen, wird  aber  doch  die  Frage  sein,  ob  nicht  bei  Sextanern  es 
wünschenswerth ,  ja  vielleicht  notwendig  sei,  die  einzelnen  f Stunden'  in 
Wirklichkeit  nur  ä  %  Stunde  zu  rechnen  und,  wenn  es  irgend  möglich 
(zulässig)  ist,  während  der  dadurch  entstehenden  Pausen  diese  Glasse  so 
weit  zu  beaufsichtigen,  dasz  die  übrigen  nicht  gestört  werden. 

Wenn  man  uns  einwenden  wollte,  die  Einrichtung  der  Schulgebäude 
möchte  diese  Maszregel  nicht  zulassen,  dann  ist  die  einfache  Antwort 
die,  dasz  eben  auf  diesen  Umstand  Rücksicht  zu  nehmen  ist  bei  dem  Bau 
und  der  Einrichtung  der  Schulgebäude.  Man  wird  die  Classe  Sexta 
.  schon  aus  mehr  als  einem  Grunde  möglichst  nahe  an  den  Ausgang  nach 
dem  Hofe  zu  legen  haben.  Auszerdem  wird  man  dafür  zu  sorgen  haben, 
dasz  der  Schall  gerade  aus  dieser  Glasse  am  wenigsten  in  die  übrigen 
Räume  des  Gebäudes  dringe.  Einmal  ist  es  in  dieser  Glasse  nicht  zu  um- 
gehen ,  dann  und  wann  die  Schüler  sämtlich  im  lauten  C  h  o  r  sprechen  zu 
lassen.  Wann  und  wo  aber  der  Schüler  spricht,  soll  er  laut  und  klar 
sprechen ,  und  im  Chor  nicht  etwa  gedämpft.  Und  ferner  wird  es  hier, 
wo  es  vor  allen  Dingen  Pflicht  ist,  dem  Schüler  das  Leben  in  der  Schule 
überhaupt  lieb  und  werth  zu  machen,  im  Religionsunterricht  wie  bei  Be- 
handlung der  Muttersprache  sehr  naturgemäsz  sein,  bisweilen  einmal  ein 
Lied  oder  eine  Strophe  aus  einem  Kirchen-  oder  Nationalhede  anzustim- 
men. Den  jungen  Knaben  in  diesen  Stunden  *ein  Heft  führen'  lassen',  ist 
Schattenspiel  und  bureaukratischer  Unsinn;  aber  mit  ihm  ein  frisches 
Lied  des  Glaubens  oder  der  Liebe  zu  den  heiligsten  realen  Gütern  des 
deutschen  Volkes  anzustimmen,  das  ist  Leben  und  unvergängliches 
Wesen. 

Liegt  also  aus  natürlichen  und  deshalb  verständigen  Gründen  die 
Classe  Sexta  so,  dasz  sie  weder  im  Unterricht  noch  auszerhalb  des- 
selben andere  Classen  stören  kann,  dann  kürze  man  getrost  jede  ^Stunde' 
etwas  ab  und  sei  des  gewis ,  dasz  man  davon  nur  Gewinn  sich  verspre- 
chen darf.  Ein  einsichtsvoller  Arzt,  Dr.  GustavPassavantin  Frankfurt 
am  Main ,  liesz  vor  nicht  gar  langer  Zeit  sehr  lesenswerthe  Aufsätze  in 
der  cDidaskalia'  abdrucken  und  dann  (Hermannsche  Verlagsbuchhandlung 


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; lausen:  Vortraf  Tür  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf.  445 

2665)  für  sich  erscheinen  :  *  über  Schulunterricht  vom  ärztlichen  Stand- 
[■unkte*,  ge widmet  "dem  für  die  Gultur  des  Menschengeschlechts  so  über* 
aus  wichtigen  und  in  seiner  Stellung  noch  nicht  allgemein  und  hinläng- 
lich gewürdigten  Lehrerstande. '  Wir  ersuchen  jeden,  der  etwa  vom 
bureaukratischen  Standpunkte  aus  unseren  Wünschen  entgegentreten 
möchte,  diese  kleine  Schrift,  die  nur  5  Ngr.  kostet,  sich  recht  genau 
durchzulesen;  es  ist  wirklich  der  Mühe  werth,  auch  für  solche,  die  nicht 
alle  und  jede  Ansicht  des  Verfassers  teilen.  Wir  sind  unerschütterlich 
davon  überzeugt,  der  Verf.  habe  Recht  zu  klagen,  dasz  unsere  Kinder, 
Mädchen  und  Knaben,  zu  viel,  namentlich  zu  anhaltend,  sitzen. 

In  den  'Erläuterungen'  zur  'Unterrichts-  und  Prüfungsordnung  der 
Realschulen  usw.'  (Berlin  1869.  Ausgabe  in  4.  S.  6  unten)  zu  S  1  heiszt 
es:  fder  Wunsch,  che  eigenen  Arbeiten  der  Schüler  mehr  in  die  Sc  h  u  1  e 
selbst  zu  verlegen,  hat  bisweilen  Directoren  bewogen,  die  Zahl  der 
für  einen  Lehrgegenstand  bestimmten  Stunden  zu  erhöhen  und  durch 
ausgedehntere  Beschäftigung  der  Schüler  in  den  zu  diesem  Zwecke  ver- 
wehrten Schulstunden  die  häuslichen  Arbeiten  zu  ersparen.  So  fem 
dieser  Zweck  wirklich  erreicht  wird  und  keine  pädagogischen  Bedenken 
entgegenstehen,  ist  ein  solches  Verfahren  auch  ferner  gutzuheiszen  und 
verdient  Anerkennung,'  Abgesehen  davon,  dasz  zu  einer  derartigen  V  e  r  - 
mehrung  der  Stunden  vor  allen  Dingen  eine  gröszere  Zahl  von  Lehr- 
kräften erforderlich  sein  wird ,  wenn  nicht  das  Uebel  entstehen  soll,  dasz 
die  Lehrer  über  Masz  und  Gebühr  angespannt  und  dadurch  abgespannt 
werden,  ist  auch  in  Rücksicht  auf  die  Hauptpersonen,  die  Schüler, 
zu  bemerken,  dasz  der  Gewinn,  den  eine  solche  Maszregel  haben  möchte, 
auf  der  anderen  Seite  durch  Ueberladung  der  Schüler  -verloren  gehen 
musz. 

Im  Allgemeinen  ist  es  sehr  zweckmässig ,  daran  festzuhalten ,  dasz 
der  Schüler,  was  er  in  der  Schule  wirklich  lernt,  kennen  und  können 
lernt,  nicht  im  Hause  zu  lernen  braucht.  Dann  stört  ihn  weder  diese  oder 
jene  Unruhe  kleiner  und  beschränkter  häuslicher  Vorhältnisse ,  noch  die 
Versuchung,  sich  von  Anderen  unrechtmäszig  helfen  zu  lassen;  von  einem 
Anderen  nicht  zu  reden.  Allein,  wenn  dies  besonders  schon  von  den 
kleinsten  Schülern  gilt,  so  folgt  doch  daraus  noch  durchaus  nicht,  dasz 
man  diesen  Knaben,  die  überhaupt  erst  an  die  Zucht  der  höheren  Schule 
und  ihre  eigentümliche  Atmosphäre  —  oft  mit  Mühe  —  sich  gewöhnen 
müssen,  eine  noch  gröszere  Zahl  von  Schulstunden  aufzuladen  hätte.  Man 
würde  dadurch  eine  Ueberladung  hervorrufen,  die  sich  schwer  rächt. 
Wir  brauchen  uns  nicht  allzusehr  zu  wundern,  wenn  die  Sextaner  seihst 
in  den  Händen  eines  frischen,  jugendlustigen  Lehrers  erlahmen.  Wir 
fühlen  es  vielmehr  mit  ihnen,  dasz  sie  zu  viel  des  Guten  aufgetischt  be- 
kommen. Es  gilt  auch  hier  das  Wort  aus  'einem  trivialen  Gebiete:  man 
soll  die  Pferde  nicht  gleich  früh,  nachdem  sie  angeschirrt  worden,  zu 
scharf  laufen  lassen,  wenn  noch  ein  längerer  Weg  vor  ihnen  liegt. 

Wenn  die  Classe  Sexta  durch  intensive  Thätigkeit  gehörig  ange- 
strengt wird,  so  sind  vier  Stunden  am  Vormittag,  vollends  wenn  nur  eine 
Pause,  die  ^ständige  um  10  Uhr,  in  der  Mitte  liegt,  ihrinderRegel 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  9.  30 

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446  Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner' in  Düsseldorf. 

nicht  zuzumuten,  sobald  noch  Nachmittags  2  Stunden  folgen.   Wie  soll 
es  ein  Sextaner  ohne  Nachteil  für  körperliche  und  geistige  Gesundheit 
aushalten,  z.  K  hinter  einander  an  Einern  Vormittage  8 — 9  Religion,  9— 
10  Deutsch,  10 — 11  Rechnen,  11—12  Latein  zu  lernen,  selbst  wenn  Nach- 
mittags nur  'leichtere*  Sachen,  z.  B.  Schreiben,  Gesang  u.  dgl.  folgen? 
(Ueber  die  Folge  der  Fächer  reden  wir  unten  näher.)   Oder  ist  es  besser, 
wenn  Deutsch  und  Latein,  zwei  Sprachen,  auf  einander  folgen?  wenn  ] 
also  das  Rechnen,  das  doch  vernünftiger  Weise  zumeistKopfrechnen  j 
sein  musz,  zuletzt  eintritt,  wo  jeder  der  Knaben  sich  nach  frischer  Luft  - 
zu  sehnen  sein  unbestreitbares  Recht  hat? 

Ab  der  Anstalt,  an  der  ich  zu  arbeiten  habe,  werden  der  Sexta  statt 
der  in  der  Unterrichtsordnung  Torgezeichneten  30  Stunden  wöchentlich 
nur  25  erteilt.  Wenn  gleich  dieser  Ausfall  schon  durch  Mangel  an  Lehr- 
kräften notwendig  wird,  so  können  wir  ihn  durchweg  auch  um  der  Schü-  : 
ler  selbst  willen  nicht  beklagen.  Es  fallen  aus :  von  den  3  Religionsstun- 
den  eine,  von  den  3  geographischen  (geschichtlich-geographischen)  eine, 
von  den  5  Rechenstunden  eine,  und  endlich  beide  Stunden  Naturgeschichte. 
Wir  bedauern  eigentlich  nur  den  Ausfall  der  dritten  Religionsstunde.  (In 
besonderen  persönlichen  Verhältnissen  liegt  es,  dasz  im  Winter  noch 
auszerdem  statt  3  Stunden  Schreiben  nur  2  gehalten  werden  können; 
was  mich  allerdings  nicht  erfreut.  Diese  ausfallende  Stunde  bringen  wir 
hier  also  nicht  mit  in  Anschlag,  da  sie  im  Sommer  nicht  ausfällt.)  Zu 
den  übrig  bleibenden  25  Stunden  kommen  noch  hinzu  1  Stunde  Gesang 
und  1%  Stunde  Turnen ,  so  dasz  immer  noch  27%  Stunden  wöchentlich 
die  Sexta  Schulunterricht  genieszt.  Es  ist  meine  unerschütterliche  Ueber- 
zeugung,  dasz  man  mit  27%  +  5  Stunden,  also  mit  32%  Stunden  Schul- 
unterricht die  Sextaner  überladet.  Dagegen  war  es  uns  bei  27% 
Stunden  möglich,  z.  B.  im  letzten  Semester  nur  an  drei  Tagen  vier  Stun- 
den auf  den  Vormittag  zu  legen.  (Nur  zwei  wären  es  gewesen,  wenn 
nicht  der  Gonfirmandenunterricht  der  Tertianer  einen  Tauseh  nötig  ge- 
macht hätte.)  Aber  einer  dieser  Tage  ist  die  Mittwoch,  und  an  einem 
der  anderen  Tage  findet  sich  Nachmittags  nur  das  Turnen  von  3—4%  Uhr 
auf  dem  Stundenplan  der  Glasse;  an  dem  dritten  liegen  durch  besondere 
Verhältnisse  zwei  Schreibstunden,  eine  Vor«,  eine  Nachmittags.  Hat  man 
32%,  oder,  wo  das  Turnen  auf  2 — 3  Stunden  ausgedehnt  wird,  33—34 
Stunden  für  Sexta ,  dann  musz  man  nicht  nur  die  Mittwoch  und  Sonn- 
abend, sondern  jeden  Vormittag  mit  4  Stunden  besetzen  und  behält  dann 
noch  für  jeden  der  vier  Nachmittage  2 — 2%  Stunden  durchschnittlich 
übrig;  oder  man  musz  für  jeden  Nachmittag  2  Stunden  ansetzen  und  au 
einem  derselben  noch  für  das  Turnen  1%— 2  Stunden  zulegen.  Wie  soll 
dabei  ein  Sextaner,  also  (normal)  ein  10 — lljähriger  Schüler,  aushal- 
ten? Und  nun  werden  obendrein  vielfach  schon  nach  vollendetem  neun- 
ten Jahre,  was  ich  entschieden  misbilligen  musz,  die  Knaben  in  die  Sexta 
aufgenommen;  wie  dann  vollends? 

Gehen  wir  nun  zu  der  nächsten  Glasse  über,  deren  Aufgabe  schon 
durch  das  Hinzutreten  eines  neuen  Faches,  des  Französischen, 
ungemein  erschwert  wird.  Die  Quinta  hat  bei  den  besonderen  Verfallt- 


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i 


Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Dusseldorf.  447 

Bissen  unserer  Anstalt  1  Stunde  Religion ,  1  Stunde  Deutsch,  1  Stunde 
Latein,  2  Stunden  Naturwissenschaften  weniger,  als  die  Unterrichtsord- 
nung vorschreibt,  dagegen  Mathematik  und  Rechnen  2  Stunden  mehr, 
ebenso  Geographie  und  Geschichte  1  Stunde  mehr,  also  im  Ganzen  2 
Stunden  weniger,  d.  h.  statt  31  nur  29  wöchentliche  Stunden,  wozu  dann 
freilich  »och  1  Stunde  Gesang  und  1%  Stunde  Turnen  hinzukommen ,  so 
dasz  die  Quinta  in  Summa  31%  Stunden  wöchentlich  Schulunterricht  ge- 
nieszt.  Ich  hoffe,  dasz  es  späterhin  möglich  sein  wird,  die  2  Mehrstunden 
Mathematik  zu  streichen  und  dafür  der  Religion  und  der  Muttersprache  je 
eine  Stunde  zuzulegen.  Dagegen  beklage  ich  den  Ausfall  der  beiden  an- 
deren Stunden  nicht  sehr.  Zwar  musz  der  Schuler  in  der  Volksschule 
(resp.  Vorclasse)  im  Schreiben  tüchtig  geübt  sein  und  der  lateinische 
Unterricht  intensiv  ersetzen,  was  ihm  extensiv  abgeht.  Aber  es  ist  ein 
Gewinn  für  den  Kuaben ,  dasz  er  (das  Turnen  abgerechnet)  nur  30  Stun- 
den und  nicht  32  wöchentlich  in  der  Schule  sitzen  musz.  Wir  brau- 
chen ihn  also  nicht  an  jedem  der  vier  übrigen  Tage  (Mittwochs  und  Sonn- 
abends fallen  je  4  Stunden)  6  Stunden  an  die  Schulbank  zu  spannen, 
sondern  an  zweien  kommen  nur  5  heraus,  zu  denen  dann  das  Turnen 
tritt.  Wir  können  es  nur  für  ein  Glück  halten,  wenn  vor  vollendetem 
11  Lebensjahre  der  Knabe  nicht  jeden  Tag  6  Stunden  sitzen  musz.  Wir 
wurden  sogar  auf  die  4.  Stunde  Geographie  und  Geschichte  verzichten  und 
uns  ferner  mit  4  Stunden  Französisch  statt  der  5  begnügen,  in  der  Ueber- 
zeugung,  dasz  4  bei  fester  Unterlage  des  lateinischen  Sextapensums  ganz 
ausreichen. 

Der  Quarta  kann  man  schon  etwas  mehr  zumuten,  da  sie  (normal 
gerechnet)  die  Knaben  von  12—13  Jahren  oder  von  ihrem  12.  bis  zu 
ihrem  13.  Jahre  beherbergt,  denen  die  Schwierigkeit,  sich  in  die  Mathe- 
matik hineinzufinden,  auch  wenn  sie  (wie  nach  der  Unterrichtsordnung) 
in  Quinta  nicht  vorbereitet  oder  eingeleitet  worden  ist ,  niemals  so  grosz 
sein  wird,  wie  den  Quintanern  die  Schwierigkeit  des  Französischen.  Den- 
noch hat  die  Quarta  bei  uns  1  Schreibstunde  und  2  lateinische  Stunden 
weniger  als  nach  der  Unterrichtsordnung,  so  dasz  sie  auch  nur  auf  30 
Stunden  incl.  Singen  und  excl.  Turnen  kommt.  Wären  wir  aus  andern 
Gründen  nicht  verhindert ,  1  oder  2  Stunden  dem  Latein  zuzulegen ,  wir 
wissen  nicht,  ob  wir  es  ohne  weiteres  gerne  thäten.  Denn  30  wöchent- 
liche Stunden  auszer  Turnen  ist  für  diese  Knaben  des  Sitzens  genug. 
(Ob  Knaben  beim  Singen  nicht  besser  stehen,  ist  zwar  fraglich  oder 
eigentlich  —  keine  Frage.) 

Die  Tertia  erhält  nun  noch  das  Englische  zu  dem  Uebrigen  mit 
4  Standen  hinzu.  Naoh  der  Unterrichtsordnung  fallen  dagegen  von  der 
Stundenzahl  der  Quarta  aus :  die  2  Schreibstunden ,  1  Stunde  Latein  und 
1  Stunde  Französisch;  so  kommt  Tertia  auf  eine  Stundenzahl  von  32, 
auszer  Singen  und  Turnen,  und  steht  mit  Quarta,  wie  mit  den  oberen 
Classen  gleich.  Bei  uns  kommt  sie  sogar  auf  33  excl.  Singen,  also  incl. 
Singen  auf  34,  incl.  Turnen  auf  35%  Stunden.  Im  Lateinischen  sind  an 
unserer  Anstalt  zwar  nur  4  Stunden  statt  5 ;  aber  es  treten  2  Physik- 
stuudea  hinzu,  weil  fast  alle  Schüler  aus  Tertia  in  den  Beruf  übergehen. 

30* 

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448  Hansen :  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf. 

Trotzdem  möchte  ich  nun  freilich  wünschen ,  in  dieser  Glasse  mich  dem 
Plan  der  Unterrichtsordnung  genau  anzuschlieszen  und  die  Physik  weg- 
fallen zu  lassen,  dafür  5  Stunden  Latein  anzusetzen.  Wir  tragen  vorläufig 
den  besonderen  Verhältnissen  Rechnung ;  obwohl  nur  in  dem  Falle,  wenn 
mit  dem  zweijährigen  Gursus  der  Tertia  Ernst  gemacht  wird,  der  Un- 
terricht in  der  Physik  etwas  nützen  kann,  namentlich  im  zweiten  Jahre 
des  Tertianers.  Bei  dem  jetzigen  Stande  der  Naturwissenschaft  überhaupt 
und  bei  der  jetzigen  Methode  ihres  Unterrichts  werden  die  Stunden  in  der 
Physik  erst  in  den  oberen  Glassen  fruchtbar  werden.  Selbst  in  der  Natur- 
geschichte läszt  sich  zum  Teil  vor  Tertia  nicht  viel  thun.  Früher  frei- 
lich, vor  etwa  20 — 25  Jahren,  unterrichtete  man  wohl  schon  10jährige 
Knaben  in  der  'Mineralogie'.  Aber  auch  in  der  Botanik  und  Zoologie 
kann  es  am  wenigsten  auf  die  Masse  des  zu  Lernenden,  sondern  vielmehr 
meist  nur  auf  die  Uebung  im  Beobachten  ankommen,  die  in  der  That  in 
einigem  Zusammenhang  erst  nach  dem  12.  Jahre  in  dem  Knaben 
fruchtbar  gemacht  werden  kann.  Scheut  man  sich  daher  mit  Recht  vor 
der  Ueberladung  der  Schüler  der  unteren  Glassen ,  dann  warte  man  ge- 
trost mit  aller  Naturwissenschaft  bis  in  Quarta;  die  Resultate  werden 
schlieszlich  bessere  sein.  , 

Die  oberen  Glassen  fassen  wir  zusammen.  Warum  die  Unterrichts- 
ordnung usw.  den  Secundanern  4,  den  Primanern  nur  3  Stunden  Latein, 
dagegen  den  Primanern  3  Stunden  Zeichnen  zuweist,  also  1  Stunde  mehr 
als  allen  anderen  Glassen,  ist  mir  nicht  klar.  Wenn  die  'Erläuterungen' 
zu  der  Unterrichtsordnung  (S.  72)  darin  Recht  haben,  dasz  im  lateinischen 
Unterricht  'möglichst  viel  gelesen  werden'  soll,  so  wird  man  gewis 
nicht  von  den  4  lateinischen  Stunden  der  Sekunda  in  Prima  eine  opfern 
können,  da  erst  hier  eigentlich  die  sachliche  Seite  dieses  Unterrichts  aus- 
gebeutet werden  kann.  Und  es  würde  doch  etwas  idealistisch  sein ,  dem 
Privatfleisze  der  Primaner  einer  Realschule  gerade  eine  Vorliebe  für  das 
Lateinische  zuzumuten.  Ganz  anders  steht  es  mit  dem  Zeichnenunterricht. 
Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dasz  in  diesem  Gebiete  der  Privat- 
fleisz  thätiger  und  fruchtbarer  sein  wird.  Viel  eher  würden  wir  dazu 
veranlaszt  sein ,  von  den  2  Zeichnenstunden  für  Prima  eine  zu  streichen, 
als  eine  3.  Stunde  hinzuzufügen.  Will  man  dem  Lateinischen  die  4.  Stunde 
nicht  lassen,  lege  man  der  Geschichte  und  Geographie  eine  Stunde-  zu, 
die  mit  3  Stunden  kaum  auskommen,  wenn  doch  in  Prima  eine  Stunde  der 
mathematischen  Geographie  gewidmet  sein  musz,  die  sich  der  Mathema- 
tiker nicht  nehmen  lassen  wird  und  darf.  Oder  man  kehre  im  Unterricht 
in  der  Muttersprache  zu  den  vier  Stunden  der  unteren  Glassen  (resp.  der 
Sexta)  wieder  zurück;  dies  würde  um  so  ersprieszlicher  für  eine  solche 
Realschule  sein,  die  so  glücklich  ist  einen  Germanisten  von  jener  rein 
gelehrten,  nur  in  Wortklauberei  ihre  Seligkeit  suchenden  Sorte,  wie  sie 
hier  und  da  vorkommen  soll,  nicht  zu  besitzen. 

Fassen  wir  noch  kurz  zusammen,  was  in  Betreff  der  Stundenzahl 
der  einzelnen  Stufen  zu  sagen  sein  möchte.  Der  Sexta  dürfen  nach  unse- 
rer Ansicht  nicht  mehr  als  höchstens  26  excl.  Turnen  wöchentliche  Stun- 
den zugemessen  werden,  der  Quinta  in  der  Regel  nur  28,  der  Quarta  30, 


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Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf.  449 

der  Tertia,  Secunda,  Prima  je  32.  Der  augenscheinliche  Beweis,  dasz 
solche  Verteilung  ausführbar  sei,  läszt  sich  allerdings  nicht  hier,  sondern 
nur  im  wirklichen  Leben  der  Schule  führen;  aber  wir  sind  fest  über- 
zeugt, dasz  die  schlieszlichen  Resultate  beim  Abgange  der  Schüler  aus 
Prima,  resp.  Secunda  oder  Tertia  bessere  sein  würden. 

Dabei  sind  zwei  oben  angedeutete  Voraussetzungen  nicht  auszer 
Acht  zu  lassen : 

1)  dasz  vor  vollendetem  zehnten  Lebensjahre  kein  Schüler  in  die 
Sexta  aufgenommen  wird; 

2)  dasz  dennoch  der  Gursus  der  Tertia  ein  unbedingt  zweijähriger 
sein  musz,  ganz  einzelne  Fälle  vorzüglicher  Schüler  ausgenommen. 

Hier  wird  nun  auch  der  rechte  Ort  sein ,  zum  Ueberflusz  hinzuzu- 
fügen, dasz  es  ein  unberechenbarer  Schade  für  die  Realschule  ist,  wenn 
sich  an  einen  halbjährigen  Besuch  der  Secunda  bestimmte  Rechte  knü- 
pfen. Wer  selbst  in  dieser  Classe  Jahre  hindurch  unterrichtet,  hauptsäch- 
lich in  dieser  Classe  sich  bewegt  hat,  wer  ferner  die  Stimmen  vieler 
stimmfähiger  und  stimmberechtigter  Gollegen  über  diesen  Punkt  gehört 
und  Jahre  hindurch  verfolgt  hat,  für  den  heiszt  es  'Eulen  nach  Athen  tra- 
gen', wenn  man  darüber  noch  ausführlicher  sprechen  wollte.  So  ergibt 
sich  noch  eine  dritte  Voraussetzung  zu  den  zwei  obigen ,  nemlich : 

3)  dasz  die  Berechtigung  zum  einjährigen  Militärdienste  künftig  auf 
sämtlichen  höheren  Schulen  jeder  Gattung  an  den  ein-  oder 
noch  besser  zweijährigen  Besuch  der  Secunda  geknüpft  sei ,  richtiger :  an 
das  Zeugnis  der  Reife  für  Obersecunda  oder  das  für  Prima. 

Solche  Voraussetzung,  wie  z.  B.  dasz  bei  allen  Versetzungen  aus 
einer  Classe  in  die  andere  strenge  verfahren  werden  musz ,  dasz  man  we- 
der auf  die  Körperlänge  eines  Schülers  noch  auf  die  Gemütsbewegungen 
seiner  Tanten  oder  Basen  u.  dgl.  Rücksicht  nehmen  darf,  verstehen  sich 
für  jeden  vernünftigen  Menschen  von  selbst.  Wer  diese  Voraussetzung 
nicht  gebührend  achten  will,  hätte  wenigstens  nie  Lehrer  und  Erzieher 
werden  sollen,  sondern  lieber  nur  ständiges  Mitglied  eines  Damen-Cafö. 

2. 

Bei  der  Abfassung  des  Stundenplanes  ist  ferner  in  Betracht  zu  ziehen 
die  Natur  der  einzelnen  Lehrgegenstände. 

Was  zunächst  die  Religion  anlangt,  so  wird  man  ihre  Stunden, 
so  viel  wie  möglich,  an  den  Anfang  der  Tagesarbeit  legen,  demnächst 
am  liebsten  an  den  Schlusz  derselben,  und  zwar,  da  es  doch  bedenklich 
ist,  diesen  Gegenstand  als  fünften  oder  sechsten  der  Tagesordnung  aufzu- 
zählen, an  den  Schlusz  des  Mittwoch-  oder  Sonnabendvormittags.  Die 
letztgenannte  Stunde  empfiehlt  sich  insbesondere  noch  dadurch,  dasz  sich 
doch  an  vielen  Anstalten  eine  Wochenschluszandacht  an  die  Stunden  des 
Sonnabends  anreihen  wird.  (Ueber  Schulandachten  in  höheren  Schulen 
vgl.  Zeitschrift  für  Gymnasialwesen.  14.  Jahrgang.  1860.  S.  241 — 255.) 
Besondere  Umstände  bedingen  besondere  [Einrichtungen.  Wenn  z.  B.  an 
unserer  Anstalt  regelmäszig  den  Winter  hindurch  am  Montag  und  Don- 
nerstag, Dienstag  und  Freitag  und  eine  Zeitlang  zuletzt  auch  des  Mitt- 


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450  Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zn  Düsseldorf. 

wochs  und  Sonnabends  Vormittags  11 — 12  Uhr  Confirmandenunterricht 
gehalten  wird,  so  würde  eine  Anzahl  von  Schülern  besonders  der  Tertia 
und  Quarta  den  Winter  hindurch  wöchentlich  6  und  zuletzt  8  Religions- 
stunden haben ,  wenn  der  Stundenplan  auf  jenen  Umstand  keine  Rücksicht 
nähme;  das  wäre  offenbar  eine  Ueberladung,  die  noch  empfindlicher  in 
dem  Falle  würde,  wenn  die  Geistlichen,  wie  nicht  ganz  selten  geschieht, 
die  Stärke  ihres  Religionsunterrichts  in  massenhaften  häuslichen  Auf- 
gaben suchen.  Dieser  Ueberladung  vorzubeugen  ist  Pflicht;  wir  setzten 
bei  uns  also  nicht  etwa  Montags  und  Donnerstag  8 — 9  Uhr  für  Tertia  und 
Quarta  Religion  an,  sondern  an  denselben  Tagen  11 — 12  Uhr,  so  dasz 
die  Confirmanden  als  solche  vom  Religionsunterricht  der  Schule  frei  blie- 
ben. Es  kommt  bei  derartigen  Fragen  ja  nicht  auf  das  an,  was  uns  etwa 
lieb  oder  unlieb  ist,  sondern  lediglich  auf  das,  was  pädagogisch  sich 
rechtfertigt.  So  kostete  es  denn  auch  keinen  groszen  Kampf,  am  Dienstag 
der  Tertia  11—12  gar  keinen  Unterricht,  am  Freitag  eine  Zeichnen  stunde 
anzusetzen,  und  für  Quarta  11 — 12  Dienstags  Naturgeschichte,  Freitags 
ein  anderes  Fach  zu  bestimmen ;  so  dasz  der  Unterricht  beim  Geistlichen 
nicht  sonderlich  störend  in  den  Gang  des  Schullebens  eingriff. 

Die  Stunden ,  die  der  Muttersprache  gewidmet  sind ,  können  so  we- 
nig ,  wie  alle  folgenden ,  einen  bestimmten  Platz  im  Stundenplan  ein  für 
alle  Mal  beanspruchen.  Dennoch  ist  ihre  Stellung  auf  der  Tagesordnung 
nicht  gleichgültig v  Es  ist  eine  unbestrittene  Wahrheit ,  dasz  jeder  Unter- 
richt zugleich  Unterricht  in  der  Muttersprache  sein  soll.  Diese  Wahrheit 
wird  sich  desto  mehr  bestätigen,  je  weiter  wir  in  die  oberen  Classen 
rücken.  Als  absonderlicher  Lehr  gegenständ  wird  sich  demnach  die 
Muttersprache  am  meisten  in  der  Sexta  herausstellen.  Das  liegt  in  ver- 
schiedenen Gründen ,  von  denen  wir  hier  nur  den  hervorheben  wollen, 
dasz  der  Schüler  meistens  mit  einer  gewissen  Virtuosität  einen  Dialect 
oder  ein  Plattdeutsch  handhabt,  wenn  er  in  die  Sexta  eintritt,  und  oft 
mit  Mühe  und  Not  gewöhnt  werden  musz ,  das  Hochdeutsche  von  seiner 
übrigens  in  ihren  Grenzen  durchaus  berechtigten  Alltagssprache  zu  unter- 
scheiden. (Im  Uebrigen  wolle  der  Leser  auszer  den  mancherlei  bekannten 
Schriften  über  den  Unterricht  in  der  Muttersprache  vergleichen:  Zeitschrift 
für  das  Gymnasialwesen.    15.  Jahrgang.    1861.    S.  254  ff.) 

Weil  es  so  sehr  schwer  ist,  die  Sextaner  durchweg  an  lautes  Spre- 
chen, an  deutliche  und  klare  Aussprache  zu  gewöhnen,  so  wird  es  sich 
empfehlen  die  Stunden  der  Muttersprache  in  dieser  Glasse  so  zu  legen, 
dasz  der  Schüler  mit  frischer  Kraft  an  sie  herantritt,  also  an  den  Anfang 
des  Tages,  so  weit  dies  thunlich  ist.  Liegt  doch  auch,  wie  uns  schon 
Arndt's  'Katechismus  für  den  deutschen  Kriegs-  und  Wehrmann'  lehrt, 
die  Beschäftigung  mit  deutscher  Sprache  nicht  weit  ab  von  der  mit  deut- 
schem Glauben,  dem  Glauben  und  Trost  der  Väter;  und  gilt  dies  doch 
vollends  für  den  Knaben  im  zarten  Alter,  wo  die  junge  Seele  in  voller 
Empfänglichkeit  sich  öffnet,  wenn  sie  richtig  angefaszt  wird.  Das  Latei- 
nische wird  der  Muttersprache  den  ersten  Platz  nicht  streitig  machen 
können;  und  wir  haben  demnächst  in  Sexta  kein  Fach,  das  an  den  Anfang 
der  Morgenarbeit  zu  legen  gleich  wichtig  wäre. 

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Hansen :  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Dusseldorf.  451 

In  Quinta  und  Quarta  ist  es  schon  anders,  weil  in  jener  Gasse  die 
französische  Sprache,  in  dieser  dann  die  Mathematik  hinzutritt,  deren 
Wichtigkeit  für  die  Realschule  ja  nicht  erst  nachgewiesen  zu  werden 
braucht,  die  aber  auch,  wenn  der  Schüler  erst  an  sie  herantritt,  seine 
ganze  Kraft  fordern.  Deshalb  eben  wird  es  nicht  immer  möglich  sein ,  in 
diesen  Glassen  die  Tagesordnung  mit  der  Muttersprache  zu  eröffhen. 

Noch  weniger  ist  dies  in  Tertia  möglich ,  da  hier  das  Englische  mit 
neuer  Eigentümlichkeit  auftritt,  in  die  der  Schüler  sich  hineinarbeiten 
musz.  Von  der  Physik  und  Chemie  gilt  in  Secunda  dasselbe,  wenn  auch 
nicht  in  gleichem  Grade,  von  dem  Gesichtspunkt  aus  betrachtet,  den  wir 
hier  einnehmen. 

In  Prima  erst,  wo  kein  neuer  Lehrgegenstand  mehr  hinzutritt,  wer- 
den wir  darauf  zurückgehen  können,  dasz  die  Muttersprache  nach  der 
Religion  die  erste  Stelle  in  der  Morgenarbeit  fordert.  Wenn  daher,  wie 
wol  manchmal  der  Fall  sein  mag,  die  Mathematik  an  jedem  Wochentage 
die  Stunde  von  8  bis  9  Uhr  in  der  Prima  einnimmt,  so  liegt  dies  vielleicht 
in  anderen  Rücksichten,  die  mit  der  auf  die  Natur  der  Gegenstände  zu- 
sammenwirken ,  aber  sicherlich  nicht  in  dieser  letzteren  allein. 

Vom  Lateinischen  wird  nicht  viel  mehr  zu  sagen  sein.  Hat  die 
Sexta  8  wöchentliche  Stunden,  so  ists  viel  werth,  wenn  es  sich  einrichten 
läszt,  dasz  eine  und  'dieselbe  Stunde  an  jedem  Vormittage  für  das  Latei- 
nische angesetzt  werde,  z.B.  die  zweite  (9 — 10),oder  die  dritte  (10 — 11). 
Im  letzteren  Falle  hat  man  den  Vorteil ,  dasz  die  Hauptpause  unmittelbar 
vorhergeht.  Und  kein  Lehrer,  der  die  Jugend  wirklich  kennt  und  zu  be- 
handeln weisz,  wird  im  Ernst  behaupten  wollen,  dasz  die  lustigen  Spiele 
der  Pause  die  Knaben  zu  sehr  zerstreuen.  Ich  habe  einen  Director  ge- 
kannt, der  von  dieser  fixen  Idee  nicht  zu  curieren  war.  Wer  so  zaghaft 
spricht ,  stellt  sich  selbst  in  vielen  Fällen  nur  ein  Armutszeugnis  aus. 
Die  beiden  lateinischen  Stunden ,  die  nun  noch  übrig  bleiben,  die  7.  ü.  8., 
fallen  entweder  von  selbst  auf  zwei  Nachmittage,  oder  man  legt,  was  an 
einem  einzelnen  Tage  nicht  schaden  kann,  eine  zweite  lateinische  Stunde 
an  einem  der  Wochentage  hinter  die  erste ;  nur  musz  dann  die  grosze 
Pause  dazwischen  liegen.  Dies  kann,  an  einem  einzelnen  Tage  geübt, 
sehr  fruchtbar  sein,  sobald  der  Lehrer  der  Art  ist,  dasz  er  seine  Schüler 
zu  gewinnen  und  zu  fesseln  weisz.  In  diesem  Falle  kann  die  letzte  noch 
bleibende  Stunde,  die  8.  der  Woche,  am  besten  so  verwerthet  werden, 
dasz  sie  ein  anderer  Lehrer  erteilt.  Hat  z.  B.  der  Dirigent  der  Anstalt 
den  lateinischen  Unterricht  der  Sexta  nicht  selbst  in  Händen ,  was  sich 
übrigens  von  Zeit  zu  Zeit,  z.  B.  in  jedem  fünften  Jahre  (die  2jährige  Ter- 
tia vorausgesetzt) ,  empfiehlt ,  so  wird  er  wol  daran  thun ,  von  den  acht 
Stunden  eine  zu  erteilen,  die  dann  als  Repetitionsstunde  gelten  wird. 
So  z.  B.  hielten  wir  es  zuletzt  an  unserer  Anstalt.  Und  dann  wird  man 
kein  Bedenken  tragen,  auch  diese  Stunde,  in  ähnlicher  Weise  wie  die  7. 
der  Woche,  auf  den  Vormittag  zu  legen,  wenn  anders  dies  sonst  sich 
empfiehlt. 

In  Quinta  und  Quarta  kann  sich  an  das  Lateinische  das  Französische, 
in  Tertia  das  Englische  auf  dem  Stundenplan  anschlieszen ,  in  Secunda 


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452  Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf. 

auch  etwa  zwei  Mal  wöchentlich  die  Geschichte,  wenn  es  die  der  alten 
Völker  ist. 

Der  Zeichnenunterricht  wird  nach  unserer  Meinung  nicht  im- 
mer gut  ans  äuszerste  Ende  als  Anhang  geschoben,  sondern  dient  in  un- 
teren und  mittleren  Glassen  oft  sehr  zweckmäszig  zur  Abwechselung  zwi- 
schen zwei  Sprachen  usw.  Ja  er  läszt  sich  kleineren  Knaben  gegenüber 
oft  gar  nicht  anders  legen. 

Was  das  Singen  betrifft,  so  ist  es  geradezu  ein  Fehler,  dasselbe  in 
der  Regel  an  den  Schlusz  der  Tagesarbeit  zu  verlegen,  wo  nicht  etwa  die 
unglückliche  Einrichtung  des  Schulgebäudes  dies  zum  notwendigen  Uebel 
macht.  Es  will  mir  überhaupt  vorkommen,  als  ob  besonders  der  Gesang- 
unterricht mancherlei  Misgriffe  erleiden  müste.  Ohne  darauf  hier  weiter 
uns  einzulassen ,  als  es  unser  besonderer  Zweck  fordert,  wollen  wir  nur 
bei  dieser  Gelegenheit  rathen,  bei  der  Auswahl  der  singenden  Schüler  aus 
der  Masse  etwas  wählerischer  zu  sein  und  nicht  alle  möglichen  Schüler 
zuzulassen ,  die  doch  einmal  keine  Stimme ,  wenigstens  für  den  Augen- 
blick noch  keine  Stimme  haben,  oder  denen  jede  Spur  von  musikalischem 
Gehör  nun  doch  einmal  abgeht.  Was  hilft  es  —  dies  ist  der  erste  Haupt- 
grund —  in  hochklingenden  Worten  (s.  viele  Schulreden)  zu  bekennen, 
dasz  man  im  Gesänge  das  Schöne  pflegen  und  im  Schüler  den  Sinn  für 
das  Schöne  wecken  und  ausbilden  wolle  usw.,  wenn  man  doch  durch  Zu- 
lassung »von  absolut  unmusikalischen  Schülern  den  Geschmack  der  übri- 
gen von  vornherein  ebenso  verdirbt,  wie  z.  B.  dem  am  Ciavier  lernenden 
Kinde  Gehör  und  Geschmack  durch  ein  schlechtes  Instrument  verdorben 
werden!  Und  ferner  —  dies  ist  der  zweite  Hauptgrund  —  vor  allem 
soll  der  Knabe  lernen  allein  singen,  ohne  sich  auf  einen  anderen  oder 
die  anderen  zu  stützen,  und  das  Singen  jedes  einzelnen  musz  für  jeden 
anderen  instructiv  sein  oder  werden  können. 

Doch  wir  sprechen  uns  vielleicht  noch  an  einer  anderen  Stelle  näher 
über  diesen  Gegenstand  aus.  Hier  beschäftigt  uns  die  Einordnung  des 
Singens  in  den  Stundenplan.  Die  Stimme  des  Schülers  soll  geübt  werden; 
damit  dies  geschehen  könne,  musz  man  sie  vor  allem  erhalten  und  scho- 
nen. Jeder  Sänger  denkt  darauf,  vor  dem  Singen  seine  Stimme  und  über- 
haupt seinen  Körper  nicht  sonderlich  anzustrengen ,  damit  ihm  hernach 
nicht  die  Kraft  versage.  Man  thut  das  gerade  Gegenteil ,  wenn  man  z.  B. 
nach  einem  fast  unausgesetzten  Unterricht  von  8 — 12  und  von  2 — 4  Uhr 
die  Gesangstunde  von  4 — 5  Uhr  abhält.  Sie  dahin  zu  legen  ist  ganz  ver- 
kehrt. Wenn  wir  an  unserer  Anstalt  die  Gesangstunden  im  letzten  Win- 
ter von  2 — 3  Uhr  Nachmittags  hielten,  so  ist  das  auch  eigentlich  nicht 
die  rechte  Zeit,  wenn  gleich  sie  am  Anfang  der  Nachmittagsarbeit  liegt 
Denn  zu  bald  nach  dem  Mittagsessen  singt  es  sich  nicht  aufs  beste.  Doch 
ist  immerhin  diese  Zeit  viel  besser  als  die  von  4 — 5  Uhr,  wo  der  Schüler, 
der  recht  fleiszig  teilgenommen,  müde  von  der  Arbeit  der  Ruhe  bedarf 
oder  der  freieren  Beschäftigung,  wie  sie  z.  B.  das  Turnen  bietet. 

Die  Gesangstunde  liegt  am  besten  Vormittags  und  zwar,  wenn  nicht 
andere  Gegenstände  vorgehen,  z.  B.  von  10—11  Uhr.  Natürlich  musz  der 
Lehrer  so  verständig  sein,  zu  warten,  bis  die  Schüler  sich  von  der  raschen 


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Hansen :  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf.  453 

Bewegung  des  Spieles  körperlich  und  geistig  etwas  beruhigt  haben ,  und 
nicht  ein  solcher  Pedant  sein,  dasz  er  im  ersten  Moment  schon  die  volle 
Kraft  seiner  Schüler  für  den  Gesang  in  Anspruch  nehmen  will ,  sobald  er 
unmittelbar  nach,  dem  Zeichen  mit  der  Glocke  in  die  Glasse  tritt.  Auch 
von  11 — 12  Uhr  ist  eine  sehr  geeignete  Stunde  für  den  Gesang,  sobald 
man  unmittelbar  vorher  einen  Gegenstand  hatte,  der  die  Schüler  gar 
nicht  oder  nur  wenig  zum  Sprechen  nötigt,  z.  B.  Schreiben  oder  Rechnen. 
(Es  bedarf  ja  för  keinen  Verständigen  der  besonderen  Bemerkung,  dasz 
wir  uns  hier  vorläufig  den  Anfang  der  Schulstunden  Vormittags  um  8  Uhr, 
Nachmittags  um  2  Uhr  denken.  Fängt  der  Unterricht  im  Sommer  z.  B. 
um  7  Uhr  an,  so  ändert  sich  darnach  selbstredend  das  Uebrige.) 

Sollte  sich  etwa  aus  persönlichen  Gründen ,  deren  es  manche  geben 
kann ,  empfehlen ,  die  Gesangstunden  recht  früh  am  Tage  zu  legen ,  dann 
darf  unter  keinen  Umständen  dagegen  als  Einwand  geltend  gemacht  wer- 
den ,  die  singenden  Glassen  möchten  die  übrigen  stören.  Mag  nun  der 
Gesangunterricht  in  der  Aula  oder  in  einem  sonstigen  Baume  gehalten 
werden,  das  Gebäude  musz  so  eingerichtet  sein,  dasz  der  Gesang  niemals 
stören  kann.  Der  Stundenplan  hängt  nicht  von  einem  etwa  verkehrt  an- 
gelegten Schulgebäude  ab ,  sondern  die  Anlage  des  Schulgebäudes  musz 
sich  natürlich  nach  dem  vernünftigen  in  der  Natur  der  Sache  begründeten 
Stundenplan  richten  oder  nach  den  Verhältnissen,  die  dieser  fordert. 

Demnach  darf  nichts  im  Wege  stehen,  auch  schon  in  die  zweite 
Stunde  des  Vormittags  den  Gesang  zu  legen,  wenn  andere  Gründe 
irgendwo  dafür  sprechen.  Wir  sagen:  in  die  zweite;  denn  die  erste, 
möchten  wir  nicht  empfehlen ,  da  bekanntlich  die  Stimme  meistens  nicjit 
gleich  Morgens  in  Ordnung  ist,  wie  die  Erfahrung  vieler  Redner,  um  von 
Sängern  nicht  zu  reden,  bezeugt. 

Es  bleibt  uns  für  unseren  zweiten  Hauptpunkt  noch  übrig ,  einige 
Bemerkungen  über  die  Zusammenstellung  des  Stundenplanes  im  Ganzen 
zu  machen.  Sollten  sich  übrigens  Gollisionen  herausstellen  zwischen  dem 
für  das  Ganze  zu  Empfehlenden  und  dem  im  Einzelnen  oben  als  wün- 
schenswerth  Bezeichneten ,  so  werden  solche  nicht  unausgleichbar  sein. 
Sie  werden  sich,  wie  alle  Gollisionen  auch  anderer  Art,  die  sich  etwa  aus 
sonstigen  in  der  Natur  der  Verhältnisse  liegenden  Rücksichten  ergeben, 
durch  den  Grundsatz  esuum  cuique'  erledigen  lassen.  Wir  haben  uns 
hier  die  Aufgabe  in  ihre  Momente  aufgelöst  klar  zu  machen. 

Ein  Grundsatz,  der  für  alle  Glassen  durchweg  Geltung  beanspruchen 
möchte,  ist  dieser :  es  ist  gut,  Sprachen  und  'Wissenschaften'  ('Realien') 
und  etwa  auch  Technisches  abwechseln  zu  lassen,  wenigstens  nicht  zu- 
sehr  die  eine  Gattung  bald  und  bald  wieder  die  andere  zu  häufen.  Man 
wird  z.  B.  aus  inneren  Gründen  ganz  wol  thun,  in  Sexta  Deutsch  und 
Latein  an  vier  Tagen  hinter  einander  zu  legen ,  wenn  ein  und  derselbe 
Lehrer  Beides  vertritt.  Man  wird  aber  z.  B.  Bedenken  tragen ,  in  Tertia 
von  8 — 12  Uhr  hinter  einander  Muttersprache ,  Latein,  Französisch  und 
Englisch  zu  legen,  und  zwar  nicht  blosz  aus  dem  Grunde,  weil  sich  dem- 
nach zu  viele  häusliche  Arbeiten  auf  einen  Tag  häufen  könnten ,  sondern 
schon  darum,  weil  vier  sprachliche  Stunden  nach  einander  eine  Ueber- 


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454  Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf. 

ladung  hervorrufen ,  die  man  nicht  wol  verantworten  kann«  Ebenso  we- 
nig wird  man  in  Secunda  oder  Prima  Mathematik,  Physik,  Naturgeschichte, 
Chemie  hinter  einander  auf  den  Plan  eines  Vormittags  setzen  dürfen,  so 
sehr  auch  je  zwei  und  zwei  und  alle  vier  Fächer  unter  sich  verwandt  sind. 
Wenn  auch  ein  Schüler  treu  seine  Pflicht  thut,  so  ist  doch  nicht  gesagt, 
und  auch  nicht  von  jedem  zu  verlangen,  ja  nicht  einmal  zu  wün- 
schen, dasz  er  an  allen  Lehrgegenständen  ein  gleich  lebhaftes  Interesse 
nehme.  Denken  wir  uns  nun  einen  Schüler,  der  Sprachen,  Litteratur  und 
Geschichte,  so  weit  es  seine  Kräfte  gestatten,  mit  warmer  Vorliebe  um- 
faszt,  dem  es  dagegen  nicht  gelingen  will,  aus  Gründen,  die  sehr  ver- 
schieden sein  können ,  der  Mathematik  oder  den  Naturwissenschaften  ein 
sonderliches  Interesse  abzugewinnen;  wie  würde  man  sich  verwundern 
können,  dasz  ein  solcher  Schüler  bei  einer  derartigen  Anhäufung  homo- 
gener Fächer  auf  einen  Vormittag  lahm  und  gleichgültig  wird,  endlich 
auch  das  geringere  Interesse,  das  er  hatte,  gänzlich  fahren  läszt! 

Vor  jeder  Ueberhäufung  hat  man  sich  gewis  sehr  zu  hüten.  Man 
wird,  wenn  nicht  Deutsch  und  Latein  in  eines  Lehrers  Hand  liegen,  selbst 
nicht  einmal  diese  beiden  Gegenstände  in  Sexta  hinter  einander  legen, 
sondern  z.  B.  so  verfahren,  dasz  man  folgen  läszt,  wie  wir  es  zuletzt  bei 
uns  machten:  Deutsch,  Rechnen,  Latein,  Schreiben;  an  zwei  anderen 
Tagen:  Rechnen,  Latein,  Zeichnen;  und  wiederum  an  zweien:  Religion, 
Deutsch,  Geographie,  Latein. 

Doch  gibt  es  eine  Einrichtung ,  die  man  in  oberen  Glassen  versucht 
hat,  aber  auch  nur  in  diesen  versuchen  darf:  nemlich  zwei  Stunden  hin- 
ter einander  denselben  Gegenstand  zu  nehmen.  Für  alle  Fächer  wird  es 
nicht  ausführbar  sein ,  aber  wol  für  einige ;  ja  es  ist  sogar  für  einzelne 
fast  notwendig.  Der  Chemiker  kann  nicht  wünschen,  zwei  Stunden  prak- 
tische Uebungen  in  Prima  in  eine  Stunde  an  zwei  Tagen  zerlegt  zu  sehen, 
sondern  er  wird  eines  Nachmittags  ungeteilt  bedürfen.  Einen  gleicheu 
Wunsch  wird  der  Zeichnenlehrer  für  seine  Zwecke  in  Prima  haben,  wenn 
anders  wirklich  die  Prima  mehr  als  einer  wöchentlichen  Zeichnenstunde 
bedarf.  Ebenso  wird,  besonders  einer  stärkeren  Prima  gegenüber,  in 
Prima,  und  selbst  in  Secunda  die  Physik  oft  zwei  Stunden  nach  einander 
fordern.  Ferner  könnte  sich  fragen,  ob  in  einer  Secunda,  in  welcher 
noch  praktisches  Rechnen  getrieben  wird,  für  die  höheren  und  verwickel- 
ten Rechnungsarten  nicht  bisweilen  zwei  Stunden  beisammen  liegen  könn- 
ten. Doch  man  hat  auch  schon  für  die  Mathematik  in  Secunda  und  dann 
natürlich  vollends  in  Prima  zwei  Stunden  zusammengelegt,  und  zwar 
gleich  die  ersten  Morgenstunden  von  8 — 10  Uhr.  Die  Ansichten  darüber 
mögen  geteilt  sein  unter  den  Fachmännern ;  Verf.  erinnert  sich  ?on  einem 
Fachmann  gehört  zu  haben,  dasz  er  es  an  einer  Anstalt  so  vorgefunden, 
in  Secunda  aber  es  wieder  aufgegeben  habe,  auch  in  Prima  es  nicht  all- 
zusehr preisen  könne. 

Vorübergehend,  aber  auch  nur  so,  hat  Verf.  an  unserer  Anstalt 
etwas  Aehnüches  sogar  iu  Tertia,  gerade  in  dieser  Zeit,  in  einem  Teile 
des  Wintersemesters  1863/64,  ausgeführt.  Dies  gieng  so  zu:  wir  hatten 
dach  im  Jahre  1863  die  Gedenktage  aus  den  Freiheitskriegen.  Je  »ehr 


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Hansen :  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf.  455 

dem  öffentlichen  Leben  des  deutschen  Volkes  diese  in  50  Jahren  als. solche 
nicht  wiederkehrende  Festperiode  auf  eine  unverantwortliche  Weise  ver- 
kümmert worden  ist,  desto  weniger  durfte  die  Schule  sie  vernachlässigen ; 
denn  die  Jugend  erbt  von  den  Vätern  und  musz  nicht  vergessen,  wie  die 
Väter  gelebt  und  gelitten  haben  für  des  Volkes  höchste  und  heiligste  Gü- 
ter. Was  der  Staat  versäumte,  musten  Haus  und  Schule,  so  gut  es  inner- 
halb der  natürlichen  Grenzen  möglich  war,  zu  ersetzen  suchen.  Verf.  hat 
in  Tertia  die  Muttersprache  und  die  Geschichte.  Die  Verwandtschaft  die- 
ser beiden  Gegenstände  in  der  deutschen  Schule  trat  demjenigen  Lehrer, 
der  ein  lebendiges  Glied  seines  Volkes  zu  sein  sich  nicht  schämt  sondern 
freut,  wol  nicht  leicht  mit  gröszerer  Entschiedenheit  entgegen  als  gerade 
jetzt,  in  Veranlassung  der  vaterländischen  Gedenktage»  Die  Erkenntnis 
ihrer  Verwandtschaft  muste  verwerthet  werden.  Nichts  lag  näher,  als  für 
die  ersten  Monate  des  Wintersemesters  sich  eine  kürzere  Schilderung  der 
Freiheitskriege  zu  suchen,  die  zugleich  in  würdiger,  vielleicht  muster- 
gültiger Prosa  geschrieben  wäre,  und  diese  in  den  Stunden  der  Mutter- 
sprache und  der  Geschichte,  die  an  einem  der  Wochentage  sogar  zusam- 
men lagen,  ganz  durchzulesen  und  möglichst  in  Fleisch  und  Blut  aufzu- 
nehmen. Eine  solche  Schilderung  bot  sich  uns  von  selbst.  Anfang 
Octobers  erhielt  ich  von  den  mir  befreundeten  Theodor  Golshorn  in 
Hannover  seine  Freiheitskriege9  unmittelbar  aus  der  Druckerei.  Ich  musz 
nach  bestem  Wissen  diesem  Büchlein  das  Zeugnis  geben,  dasz  es  mit  eben 
so  viel  Fleisz  des  Studiums  wie  Kunst  der  Darstellung,  und  mit  der  wärm- 
sten Liebe  zu  Land  und  Volk  geschrieben  ist.  Ich  habe  es  in  und  mit  der 
Tertia  ganz  durchgelesen.  Darnach  glaubte  ich  es  dem  alten  unverwüst- 
lichen Kohlrausch  schuldig  zu  sein,  seiner  bekannten  Skizze,  die  er 
auch  für  die  Schule  abgefaszt,  Aufmerksamkeit  zu  schenken.  Und  so  ha- 
ben wir  auch  seine  kurze  Geschichte  der  Freiheitskriege  ganz  durchge- 
lesen und  damit  einen  Zeugen  gehört ,  der  jene  grosze  Zeit  mit  vollem 
Be wustsein  im  Mannesalter  durchlebt  hat.  Dasz  nicht  blosz  gelesen 
wurde,  versteht  sich  von  selbst.  Einzelne  Bilder  wurden  zum  Gegen- 
stande schriftlicher  deutscher  Arbeiten  genommen ,  und  dann  auch,  wenn 
diese  corrigiert  waren,  zur  Hebung  im  mündlichen  Vortrage  benutzt. 
Daran  reihten  sich  nationale  Gedichte  aus  jener  Zeit  an ,  so  dasz  etwa  die 
Hälfte  dieses  Semesters  hindurch  der  Stoff  für  den  Unterricht  in  Mutter- 
sprache und  Geschichte  nur  aus  jener  groszen  Zeit  genommen  war  und 
die  ganze  Aufmerksamkeit  der  Classe,  die  begreiflicher  Weise  solchem 
Stoffe  gegenüber  eine  sehr  lebhafte  war ,  ausschlieszlich  auf  diese 
Zeit  in  den  betreffenden  Stunden  sich  concentrierte.  Nachdem  nun  diese 
Ausbeutung  der  so  combinierten  Stunden  in  Muttersprache  und  Geschichte 
zu  einem  gewissen  Abschlusz  gekommen  war,  kehrten  wir  zu  dem  (von 
Ostern  bis  Ostern  gehenden)  Jahrespensum  in  der  Geschichte ,  wie  zu  an- 
derweitiger prosaischer  und  poetischer  Leetüre  in  der  Muttersprache  zu- 
rück; nur  dasz  die  schriftlichen  Arbeiten  (nur  in  der  Classe  gemacht) 
sich  wol  den  ganzen  Winter  hindurch  meist  nur  auf  die  Freiheitskriege 
bezogen  haben. 

Für  obere  Glassen  gibt  es  auch  noch  eine  andere  Zusanunenziehung 


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456  Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rbein.  Schulmänner  zu  Dusseldorf. 

der  Stunden,  die  gewis  keine  Ueberhäufung  heiszen  kann.  Man  kann, 
nicht  nur  ohne  Schaden  sondern  sogar  zum  Vorteil  der  Sache ,  sich  oft- 
mals bewogen  fühlen,  wenn  man  z.  B.  Geschichte  und  Geographie  in 
einer  Hand  hat,  eine  Zeitlang  nur  Geschichte  zu  treiben  und  dann  wie- 
der, sobald  man  zu  einem  Hauptabschnitt  gelangt  ist,  nur  Geographie. 
Es  empfiehlt  sich  nicht  selten,  die  ganze  Aufmerksamkeit  in  vier  wöchent- 
lichen Stunden  auf  ein  Gebiet  zu  vereinigen.  Es  kann  besondere  Vor- 
liebe dazu  ermuntern,  aber  auch  andererseits  besondere  Not  dazu  zwin- 
gen. Die  Geschichte  Alexander's  wird  man  nicht  gerne  in  zu  langen 
Zwischenräumen  verlaufen  lassen,  so  wenig  wie  die  der  Völkerwande- 
rung; und  andererseits  wird  jeder  Lehrer,  der  nicht  davon  lassen  kann, 
sich  in  der  Schule  mit  den  Diadochenkämpfen  in  extenso  zu  plagen ,  den 
Schülern  nichts  Haftendes  beibringen,  wenn  er  nicht  mehrere  Stunden 
in  einer  Woche  dazu  verwendet;  sonst  vergiszt  die  Mehrzahl  von  einer 
Stunde  zur  anderen,  was  da  gewesen ;  denn  so  viel  Reiz  diese  Periode  für 
Philologen  haben  mag ,  für  Schüler  ist  und  bleibt  sie  ungenieszbar. 

3.' 

Bei  der  Abfassung  des  Stundenplanes  ist  ferner  in  Betracht  zu  zie- 
hen die  Individualität  usw.  der  Lehrer. 

Davon  reden  wir  hier  nicht,  dasz  die  Verteilung  der  Fächer  sich  nach 
der  'facultas  docendi'  der  einzelnen  Glieder  des  Lehrercollegiums  richten 
müsse.  Das  ist  ja  allbekannt.  Nicht  ganz  so  bekannt  aber  ist,  dasz  mit- 
unter ein  Fach  durch  einen  nicht  mit  der  'facultas  docendi9  Ausgerüsteten 
besser  besorgt  ist  als  durch  einen  Mann  der  'facultas'.  Das  lautet  freilich 
paradox  und  läszt  sich  hier  nicht  beweisen.  Aber  wer  aus  Erfahrung 
dem  beistimmt,  was  der  Apostel  I.  Gor.  1  v.  8  sagt,  versteht  uns.  Und 
wenn  wir  auch  uns  einen  Lehrer  denken,  der  vom  Wissen  nicht  eben 
aufgebläht  ist,  so  kann  etwa  schon  durch  bloszes  Ungeschick  ein 
groszes  Wissen  in  der  Hand  eines  Lehrers  sehr  viel  Unheil  anrichten. 
Denken  wir  z.  B.  an  die  vaterländische  Nationallitteratur  oder  an  die  Ge- 
schichte. Wie  schlimm  kann  es  wirken,  wenn  da  ein  Lehrer  mit  groszer 
Gelehrsamkeit  und  'glänzenden  Zeugnissen9  kein  Maszhalten  kennt  und 
um  das  Bedürfnis  der  Jugend  sich  gar  nicht  bekümmert!  Es  beschleicht 
uns  bisweilen  ein  eigentümliches  Gefühl,  wenn  wir  Vacanzanzeigen  in 
öffentlichen  Blättern  lesen.  Da  wird  z.  B.  gesucht  ein  Director  und  Mel- 
dungen werden  erwartet  'unter  Anlegung  der  Zeugnisse';  oder  es  wird 
für  obere  Classen  ein  Oberlehrer  verlangt ,  der  seine  Qualifikation  'durch 
Zeugnisse  ausweisen'  könne'.  Sollte  die  ausdrückliche  Betonung  der 
Zeugnisse  etwa  deshalb  geschehen ,  um  der  Goncurrenz  von  sonderbaren 
Schwärmern  zu  begegnen ,  so  wird  man  sich  solche  auch  ohne  derartige 
Zeugnisse  vom  Leibe  halten  können.  Wenn  z.  B.  zu  einer  vacanten  Di- 
rectorstelle  an  einer  Realschule  I.  Ordnung  im  Preuszischen  sich  ein 
jugendlicher,  kaum  25jähriger  theologischer  Candidat  aus  dem  blütenrei- 
chen Lande  Mecklenburg  meldete ,  so  ist  solcher  ruheloser  Parcival  schon 
durch  die  Unterschrift  seines  Gesuches  genügend  charakterisiert.  Ande- 
rerseits aber  ist  doch  sehr  zu  bedenken,  dasz  Zeugnisse,  sobald  sie  auch 


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Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf.  45? 

nur  5 — 10  Jahr  alt  sind,  oftmals  schon  gar  nicht  mehr  auf  den  Inhaber 
passen ,  so  wenig  wie  eine  Photographie  des  25jährigen  Jünglings  noch 
für  ein  getreues  Bild  des  35jährigen  Mannes  gelten  kann.  Somit  werden 
bei  der  Besetzung  der  ersten  oder  höheren  Stellen  an  einer  Anstalt  ver- 
blichene Zeugnisse  wol  nicht  so  sehr  in  Betracht  kommen ,  wie  das  Urteil 
einsichtiger  Zeitgenossen  und  die  eigene  Anschauung  competenter  Leute 
von  den  betreffenden  Persönlichkeiten,  welche  in  Goncurrenz  treten. 

Von  der  'facultas  docendi'  wollten  wir  also  eigentlich  nicht  spre- 
chen, sondern,  abgesehen  von  dieser,  von  den  Rücksichten,  die  bei 
Abfassung  eines  Stundenplans  durch  die  Individualität  der  Lehrer  einer 
Anstalt  geboten  sind.  Die  Fächer,  sind  ja  wenigstens  nur  zum  Teil  indi- 
viduelles Eigentum,  andererseits  aber  Gemeingut  Vieler;  und  nur  die  Be- 
handlung des  betreffenden  Faches  ist  rein  individuell.  Diese  allein  geht 
uns  also  hier  unter  anderen  individuellen  Sachen  an.  Der  geneigte  Leser 
wird  mir  zu  Gute  halten,  dasz  ich  raus  der  Schule  plaudere9;  dies  aber 
ist  hier  offenbar  nicht  zu  vermeiden  und  oft  weit  besser  als  um  ein  an- 
deres Sprichwort  zu  gebrauchen,  'wie  die  Katze  um  den  heiszen  Brei  her- 
umschleichen'. 

Zu  jener  individuellen  Behandlung  des  Faches  kommt  nun  noch  eben 
manches  andere  Individuelle  hinzu,  das  hier  unmöglich  alles  angefühet 
werden  kann.  Es  ist  die  individuelle  Erscheinung  eines  bestimmten  Tem- 
peraments, es  ist  das  Lebensalter,  die  Lebensführung,  der  .Charakter;  es 
gehören  hieher  Neigungen  und  Liebhabereien ,  die  nicht  ins  Blaue  hinein 
toll  und  blind  durch  die  abstracte  Autorität  eines  Vorgesetzten  ohne 
Weiteres  ignoriert,  oder  zum  Schweigen  gebracht  werden  dürfen. 

Wenn  wir  uns  über  dieses  Letzte  gleich  näher  erklären  müssen,  so 
thun  wir  dies  am  besten  durch  ein  als  vorhanden  angenommenes  Beispiel. 
Denken  wir  uns  einen  schon  an  dreiszig  Jahren  im  Amte  stehenden  Leh- 
rer einer  höheren  Schule,  gleichviel  ob  Realschule  oder  Gymnasium.  Wir 
nennen  ihn  X.,  eine  stille,  etwas  ängstliche  Natur.  Der  Mann  ist  vielleicht 
kein  lumen  mundi,  hat  aber  in  seiner  Sphäre  seine  Pflicht  getreu  nach 
besten  Kräften  Jahr  aus  Jahr  ein  erfüllt  und  bisher  das  Glück  genossen, 
unter  den  Auspicien  vielleicht  schon  mehr  als  eines  milden  und  besonne- 
nen, seiner  eigenen  Schwachheit  sich  stets  bewusten  Dirigenten  zu  stehen ; 
wie  es  denn  ja  solche  gibt,  die  das  'docendo  discere'  nicht  vergessen.  Mit 
einem  Male  nun  ändert  sich  die  Scene :  Es  tritt  eine  Vacanz  im  Directorat 
ein ;  plötzlich  erscheint  wie  ein  deus  ex  machina ,  oder  wie  *  das  wunder- 
bare Mädchen  im  Thal  bei  armen  Hirten9,  überraschend  vielleicht  selbst 
für  die  nachte  beikommende  Schulbehörde,  ein  neuer  Director  aus  weiter 
aschgrauer  Ferne.  Dieser  Mann  ist  etwa  nebenbei  auch  bestimmt,  als 
Vorposten  für  eine  exaltierte  politische  oder  kirchliche  Richtung  zu  die- 
nen und  die  ihm  untergebenen  und  ihn  umgebenden  Leute  schon  durch 
seine  würdevolle  Erscheinung  mores  zu  lehren.  Doch  —  lassen  wir  dies. 
Der  Mann  tritt  in  den  Kreis  des  Collegiums  —  doch  nein  —  er  nimmt 
auszerhalb  des  Kreises  Stellung ;  er  ist  ja  der  'Director',  führt  sich  viel- 
leicht gar  mit  den  Worten  ein  bei  dem  Antrittsbesuch  im  Hause  der  Col- 
legen:  'Ich  bin  Ihr  Director.'    Ob  in  Wort  oder  Ton  sich  der  'horno  ru- 


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458  Hansen :  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf. 

sticus 9  verrftth,  ist  ihm  gleichgültig.  Der  Mann  soll  einen  Stundenplan 
machen.  'Wir  fassen9,  sagt  er,  cnur  die  Sache  ins  Auge,  und  nur  das 
Amt  ist  maszgebend.9  Ob  da  ein  schon  schwacher,  bald  60jähriger  Col- 
lege, ob  etwa  noch  mehrere  gleichfalls  langgediente  Männer,  oder  obs 
lauter  kräftige  Dreisziger  sind,  ist  natürlich  gleichgültig.  Nun  gehts  an 
den  Stundenplan.  Ein  Zufall  bewahrt  vor  zu  vielen  Zwischenstunden;  es 
gibt  für  jeden  'nur*  jeden  zweiten  Tag  etwa  eine,  also  'nur9  drei  wö- 
chentlich —  eine  mäszige  Zahl!  Aber  es  liegt  'im  Interesse  der  Sache9, 
dasz  zu  jeder  Zeit  recht  viele  Lehrer  der  Anstalt  in  der  Schule  erschei- 
nen; das  ist  'pädagogisch';  wer  also  nicht  Nachmittags  um  2  Uhr  da  ist, 
musz  um  3  Uhr  da  sein  und  umgekehrt.  Unser  alter  College  X-,  den  wir 
uns  als  Beispiel  genommen,  bekommt  *im  Interesse  der  Sache9  jeden 
Nachmittag  um  2  Uhr  eine  Stunde.  Wollte  er  von  seinem  Bedürfnis  spre- 
chen, nach  langjähriger  Gewohnheit  ein  Mittagsschläfchen  zu  nehmen, 
da  würde  es  heiszen:  Mas  Amt  schläft  nie  zu  Mittag9;  und  schon  die 
nimbusumstrahlte  Amtsmiene  des  Chefs  läszt  ihn  jede  Aeuszerung  unter- 
drücken. Der  alte  Veteran  geht  an  vier  Tagen  der  Woche  um  2  Uhr  in 
die  Schule,  hat  vielleicht  noch  einen  weiten  Weg  zu  gehen,  ist  also,  nach- 
dem er  Vormittags  schon  3  Stunden  mit  einer  Zwischenstunde,  d.  h.  fac- 
tisch  so  viel  wie  3%  Stunden  gegeben  hatte,  total  müde  und  schläfrig, 
wenn  er  in  der  Classe  ankommt.    Ist  das  zu  verwundern? 

Lassen  wir  den  Collegen  X.,  und  denken  uns  den  Coliegen  Y.  Die- 
ser ist  noch  ein  ganz  junger  Mann.  Von  ihm  wird  verlangt,  er  solle  noch 
Studien  machen,  da  es  ihm  hier  an  der  gehörigen  'facultas9,  dort  an  der 
pädagogischen  Klarheit  mangele.  Aber  erstens  hat  ein  junger  wissen- 
schaftlicher Hülfslehrer  eine  Menge  Stunden,  und  zweitens  entweder  gar 
kein  Einkommen ,  oder  doch  ein  sehr  spärliches ,  so  dasz  er  auch  auf  ein 
ansehnliches  Quantum  Privat-  oder  Arbeitsstunden  angewiesen  ist ;  er  ist 
zu  Allem  gut  genug ,  wird  also  auch  zur  Aushülfe  bei  der  Schul-  oder 
Schülerbibliothek,  oder  gar  bei  beiden  verwandt.  Nun  sollte  man  den- 
ken, der  Stundenplan  des  Collegen  Y.  wäre  einigerinaszen  angethan,  ihm 
doch  etwas  zusammenhängende  Zeit  zu  Studien  zu  gönnen.  Aber  dem  ist 
nicht  so :  er  hat  diverse  Correcturen ,  bekommt  vielleicht  unter  anderen 
den  (ganz  abgesehen  von  den  Correcturen)  schwersten  Unterricht,  den  es 
geben  kann,  die  Muttersprache  in  Tertia  oder  Secunda,  und  dabei  Zwi- 
schenstunden, keinen  freien  Nachmittag,  und  doch  auch  an  keinem  einzi- 
gen Tage  die  Morgenstunden  bis  1.0  Uhr  frei.  Wie  kann  unter  solchen 
Umständen  vernünftiger  Weise  verlangt  werden,  dasz  ein. solcher  junger 
Mann,  im  Kampfe  mit  Widerwärtigkeiten  und  Sorgen  und  Lasten  aller 
Art,  noch  Zeit,  Kraft  und  Lust  behalten  solle,  fruchtbare  Studien  zu 
machen? 

Diese  beiden  Beispiele  werden  genügen.  Exempla  doceant!  Knüpfen 
wir  noch  einige  Bemerkungen  an  diese  Bilder  aus  dem  Leben  an.  Wenn 
die  höheren  Rücksichten,  auf  die  Schüler  und  die  Lehrgegenstände,  ge- 
bührende Berücksichtigung  gefunden  haben,  dann  darf  nicht  allein,  son- 
dern dann  musz  Rücksicht  genommen  werden  auch  auf  die  höchst  ver- 
schiedenen Persönlichkeiten  im  CoUegium,  und  es  ist  dann  nicht  allein 


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Hansen:  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf.  459 

gestattet,  sondern  Pflicht,  die  Wunsche  der  einzeln«!  Lehrer  zu  hören 
und  möglichst  in  Rechnung  zu  bringen.  Kommt  man  mit  offener  Frage, 
zeigt  man  Humanität,  so  bekommt  man  offene  Antwort,  gewinnt  Ver- 
trauen. Der  eine  hat  gerne  die  ersten  Morgenstunden  von  8  Uhr  ah  regel- 
mässig besetzt,  der  andere  gerne  frei.  Waram  sollte  man  dies,  wenn  es 
möglich  ist  es  zu  berücksichtigen,  dennoch  ignorieren?  Jeder  Lehrer 
aber  hat  gerne  wenigstens  einen  von  den  vier  Nachmittagen  in  der  Woche 
frei,  wenn  nicht  einen  Vormittag.  Mir  ist  eine  Anstalt  im  Rheinlande 
bekannt,  an  weicher  jeder  Lehrer  stets  einen  freien  Vormittag  in  der 
Woche  hat.  Und  sollte  dies  etwa  nicht  leicht  ausführbar  seheinen ,  so 
ist  es  jedenfalls,  wenn  man  will,  ausführbar,  selbst  solchem  Lehrer,  der 
24  oder  26  etatsmäszige  Stunden  hat,  einen  freien  Nachmittag  zu  gön- 
nen; ein  solcher,  der  nur  auf  30  Stunden  angewiesen  ist,  kann  ohne 
grosze  Schwierigkeit  zwei  freie  Nachmittage  haben ,  ja  vielleicht  ausser- 
dem einet  Vormittag.  Für  strebsame  Leute  ist  dies  eine  Wolthat,  da  sie 
zusammenhängende  Zeit  zu  eigener  Arbeit  gewinnen;  und  wenn  diese 
freien  Zeiten  der  längeren  Erholung  gewidmet  wären,  ist  das  für  die 
Schule  ohne  weiteres  ein  Unglück?  Oder  meint  etwa  Jemand  im  Ernste, 
es  würde  damit  etwas  Reelles  gewonnen,  wenn  man  einen  Mann  von 
Morgen  bis  Nachmittag  spät  im  Trabe  erhalten  will,  der  —  doch  nur  im 
langsamen  Schritt  daherschlendert? 

4. 

Wir  haben  nun  noch  einen  Nick  auf  diejenigen  Rücksichten  zu  richten, 
die  durch  die  Jahreszeit  geboten  sind.  Heben  wir  nur  Einiges  hervor. 

Ohne  Zweifel  fallen  uns  sogleich  die  Naturwissenschaften  ein;  und 
wollen  wir  nur  dies  Eine  bemerken ,  dasz  es  ja  gewis  ganz  unverfänglich 
ist,  im  Sommer  in  einer  unteren  Classe  Botanik  anzusetzen,  resp.  zu  bo- 
tanisieren, während  man  im  Winter  dieselben  Stunden  anderweitig,'  etwa 
für  Rechnen  oder  Algebra  (z.  B.  in  Quinta)  verwendet.  Oder  man  setzt  für 
den  Winter  dem  chemischen  Laboratorium  in  oberen  Glassen  mehr  Stun- 
den an,  die  man  im  Sommer  anderweitig  verwendet,  da  doch  der  Heerd 
geheizt  werden  musz  und  kaum  zu  zweifeln  ist,  dasz  diese  Experimente 
sich  im  Winter  behaglicher  ausführen  lassen.  Was  hindert  ferner,  im 
Sommer,  bei  im  Ganzen  günstigerer  Beleuchtung,  eine  Zeichnenstunde 
mehr,  als  im  Winter  zu  halten,  und  dagegen  eben  im  Winter  dem  Singen 
eine  Stunde  mehr  zu  widmen?  —  Um  die  Geduld  der  Hörer  nicht  zu  er- 
müden, eile  ich  zum  Schlüsse  und  möchte  nur  einen  Punkt  zur  Sprache 
bringen. 

An  manchen  Anstalten  ist  es  eingeführt,  im  Sommer  den  Vormittags- 
unterricht von  7  Uhr  statt  von  8  Uhr  seinen  Ausgangspunkt  nehmen  zu 
lassen.  Ich  habe  es  selbst  mehrere  Jahre  hindurch  an  einer  Anstalt  mit- 
gemacht, obwol  ich  weder  nach  einer  persönlichen  Neigung  noch  vom 
Gesichtspunkt  der  Schule  aus  diese  Einrichtung  lieben  konnte.  Da  ich 
während  vier  Sommersemester  jeden  Morgen  von  7  Uhr  an  Stunden 
hatte,  so  habe  ich  oft  genug  Veranlassung  gehabt  zu  prüfen,  ob  diese 
Einrichtung  zweckmäszig  sei. 


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460  Hansen :  Vortrag  für  die  Vers,  rhein.  Schulmänner  zu  Düsseldorf. 

Wenn  auch  nie  zu  leugnen  sein  wird ,  dasz  besondere  örtliche  Ver- 
hältnisse hier  und  da  eine  einzelne  Stunde  von  7 — 8  Uhr  in  der  Woche, 
auch  regelmäszig,  wünschenswert!],  ja  notwendig  machen  können,  so 
habe  ich  mich  doch  nicht  überzeugen  können ,  dasz  es  gerathen  sei ,  die 
einzelne  Erscheinung  zum  allgemeinen  Gesetz  für  den  Stundenplan  zu 
machen. 

Nehmen  wir  die  Dinge  wie  sie  sind.  Die  Schule  musz,  so  viel  an 
ihr  liegt,  mit  dem  Hause  Frieden  halten  und  dessen  Ordnung  nicht  stö- 
ren. An  zwei  verschiedenen  Anstalten  der  Rheinprovinz  stand  ich,  bevor 
ich  in  meine  jetzige  Stellung  eintrat ;  und  ich  habe  weder  im  Oberlande 
noch  am  Niederrhein  bemerken  können,  dasz  im  Allgemeinen  die  Leute 
Morgens  sonderlich  früh  aufgestanden  wären.  Wenn  es  nun  auch  zu  viel 
gesagt  wäre  von  der  rheinischen  Schuljugend,  was  r Vater9  Boain  einst 
von  uns  schleswig-holsteinischen  Soldaten  sagte:  'Sie  müssen  Morgens 
erst  satt  sein  und  dann  nochmals  essen ,  dann  sind  sie  aber  auch  zu  ge- 
brauchen', so  ist  doch  so  viel  gewis,  dasz  ein  Junge  nur  dann  ordentlich 
in  der  Schule  zu  gebrauchen  ist ,  wenn  er  etwas  Ordentliches  vorher  ge- 
nossen hat.  Nüchterne  Schüler  tauten  Morgens  in  der  Schule  nichts; 
denn  sie  sind  Märtyrer.    Von  den  Lehrern  wollen  wir  nicht  reden. 

Gesetzt  aber  auch,  es  würde  dem  leiblichen  Teile  des  Knaben  so  früh 
Morgens  sein  volles  Recht,  dann  wird  er,  wie  die  Sachen  stehen,  mei- 
stens aber  immer  allein  und  wol  auch  in  Sturmeseile  sein  Frühstück  ge- 
nieszen.  Das  Familienleben  bleibt  ihm  in  früher  Morgenstunde  in  der 
Regel  verschwunden.  Wo  in  einem  Hause  —  und  dies  ist  ein  Glück  — 
auf  die  Erscheinung  der  Familie  als  eines  Ganzen  ein  Werth  gelegt 
wird ,  da  ist  man  gar  nicht  erbaut  von  einer  Schuleinrichtung ,  die  ein 
Zusammenkommen  der  ganzen  Familie  in  der  Morgenstunde  hindert.  Und 
am  wenigsten  empfiehlt  sie  sich  an  solchen  Orten,  wo  die  Mehrzahl  der 
Väter  Geschäftsleute  sind,  die  an  den  Wochentagen  inre  Kinder  nur  beim 
Essen  und  Trinken  sehen ,  da  der  Abend ,  nach  rheinischer  Sitte  wenig- 
stens, die  Väter  in  corpore  in  das  Gasino  u.  dgl.  regelmäszig  entführt. 

Von  den  etwaigen  Störungen,  die  es  einem  Hause  bereitet,  wenn 
vielleicht,  weil  die  Kinder  verschiedene  Schulen  besuchen,  das  eine  Kind 
desselben  um  8  Uhr,  das  andere  um  7  Uhr  in  die  Schule  musz,  wollen 
wir  nicht  reden.  Das  aber  musz  hervorgehoben  werden,  dasz  die  Stunde 
von  11 — 12  Uhr,  die  der  Schüler  gewinnt,  wenn  er,  statt  von  8 — 12, 
von  7 — 11  Uhr  seinen  Unterricht  hat,  mit  seltenen  Ausnahmen  sicher  ver- 
loren ist,  während  er  früh  vor  8  Uhr,  ohne  Gelegenheit  zur  Zerstreuung, 
seine  freie  Zeit  eher  ordentlich  anwenden  wird. 

Wenn  ich  nunmehr  meine  Mitteilungen  schliesze,  so  thue  ich  dies 
mit  dem  Wunsche,  dasz  man  es  mit  Nachsicht  aufnehme,  wenn  dieselben 
nicht  sonderlich  interessant  waren;  es  wird  wol  anerkannt  sein,  dasz 
über  Stundenpläne  interessant  zu  sprechen ,  nicht  leicht  ist.  Wenn 
man  zugibt,  dasz  meine  Urteile,  Wünsche  und  Vorschläge  nicht  alles 
praktischen  Werthes  entbehren,  bin  ich  reichlich  belohnt  und  herzlich 
dankbar. 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 
0 


"x 


(20.) 

Die  prosodische  und  metrische  Messung  /der  Nibehjjji*'^ 
Strophe  im  MHD.  und  NHD.      ^ 

(Fortsetzung  und  Schlusz  von  S.  3W., 


Gegen  den  Strom  der  Zeit  zu  schwimmen  ist  gefahrvoll ;  wer  in  dem 
Wagnis  umkäme ,  der  hat  kein  Recht  sich  zu  beklagen.  Trotzdem  sehen 
wir  mit  wolwollender  Teilnahme  auf  einen  solchen  mutigen  Schwimmer ; 
denn  oft  schon  hat  —  gegen  aller  Erwartung  —  der  Muth  des  Tapfern 
den  Strom  der  Zeit  durchbrochen  und  in  ein  anderes  neues  Bett  hinüber- 
geleitet. 

Nach  dem  Wiederaufleben  der  Wissenschaften  führte  in  der  deut- 
schen Dichtkunst,  wie  oben  angedeutet,  der  Strom  der  Zeit  die  altdeutsche 
Versmessung  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  hinüber  in.  das  Gebiet  der 
antiken  Metrik.  Die  Uebersetzer  lateinischer  und  griechischer  Gedichte 
und  später  auch  die  heimischen  Dichter  in  ihren  eignen  Schöpfungen  sind 
in  den  letzten  zwei  Jahrhunderten  dieser  Strömung  widerstandlos  ge- 
folgt —  und  haben  aus  Vorliebe  für  das  fremde  das  heimische  Gut  ver- 
achtet und  preisgegeben.  Diese  ihre  Vorliebe  sollten  sie  schwer  büszen ; 
denn  während  sie  sich  früher  nach  alter  deutscher  Weise  unbeengt  und 
frei  im  Verse  bewegen  konnten,  drückt  und  lähmt  sie  jetzt  der  Zwang 
einer  fremden  Fessel.  Aber  trotzdem  haben  sie  ihre  Vorliebe  für  das 
ausheimische  Masz  des  Verses  durch  eine  seltene  Kunst  der  Nachahmung 
Gelehrten  und  Ungelehrten  unter  Beihülfe  der  lateinischen  Schulen  so 
wirksam  eingeimpft,  dasz  der  Faden,  an  welchem  die  mittelhochdeutsche 
und  unsere  heutige  Metrik  zusammenhängt,  mitten  durchgerissen  und 
unsrer  Dichtung  die  Rückkehr  zur  echtdeutschen  Messung  des  Verses  für 
immer  abgeschnitten  zu  sein  schien. 

Und  doch  haben  in  unserm  Jahrhundert  einzelne  kühne  Schwimmer 
den  Strom  der  Zeit  durchbrochen  und  zwar  mit  dem  glücklichste  Erfolge. 

Sieht  man  sieh  nemlich  auf  dem  Gebiete  der  schönwissenschaftlichen 
Litteratur  um  und  fragt  sich,  was  von  ihren  Erzeugnissen  gegenwärtig 
auf  das  ganze  Volk  maszgebenden  Einflusz  übe,  was  nicht  —  so  erscheint 
im  Allgemeinen  die  Poesie  in  den  Hintergrund  gedrängt ;  im  Vordergrunde 
steht  allein  der  Tendenz  -  Roman ,  die  Absichts-Novelle  und  die  politische 
Beredtsamkeit.  * 

Die  untergeordnete  Gattung  der  Lyrik  wuchert  wie  früher  so  auch 
jetzt  üppig  fort ;  aber  es  scheint  nicht  gewagt,  mit  Gervinus  die  lyrischen 
Dichter  der  Gegenwart  und  ihre  Leistungen  in  Bausch  und  Bogen  zu  mes- 
sen. Auch  wirkt  jetzt  das  lyrische  Gedicht  nicht  an  sich ;  nicht  die  Schön- 
heit seiner  Form,  sei  sie  antik,  sei  sie  altdeutsch,  verleiht  ihm  Aner- 
kennung und  Verbreitung,  sondern  die  Meinung,  die  Ansicht  des  Dichters 
auf  dem  Gebiete  des  politischen,  nationalen,  religiösen  und  socialen 
Lebens. 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  o.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  9.  31 

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462  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

Darin  hat  Gervinus  vollkommen  Recht ;  aber  wenn  er  mit  Goethe  und 
Schiller  unsre  Dichtung  überhaupt  für  abgeschlossen  hält ,  so  ist  das  — 
so  Gott  will  —  ein  Irtum ,  es  sei  denn ,  dasz  auch  das  politische  Leben 
des  deutschen  Volkes  bereits  abgeschlossen  wäre  und  seinem  Ende  ret- 
tungslos entgegengienge. 

Für  unsre  Zeit,  die  in  rastloser  Hast  forttreibt  und  in  dem  wirk- 
lichen Leben  des  Einzelnen  und  ganzer  Völker  weitgreifende  Ereignisse 
von  so  wunderbarer  Art ,  dasz  sie  vor  100  Jahren  die  auskreisendste  Phan- 
tasie eines  Romanschreibers  nicht  hätte  ersinnen  können,  in  ungestümem 
Wechsel  au  einander  reiht  —  für  eine  solche  Zeit  ist  von  der  Lyrik  we- 
nig oder  nichts ,  vom  Drama  aber  Alles  zu  hoffen. 

Unsern  Dramatikern  fehlt  aber  bis  jetzt  noch  der  sichere  Grund  und 
Boden.  Sie  suchen  den  Stoff  nach  vielseitiger  Umschau  in  fremden  Zeilen 
und  bei  fremden  Völkern  und  finden  ihn  leider  noch  nicht  da,  wo  er 
allein  zu  suchen  ist  und  wo  ihn  Shakespeare  gefunden  hat  —  nemlich 
mitten  im  Schosze  des  eigenen  Volkes,  der  eigenen  Gegenwart  Ist  aber 
einst  auf  dem  politischen  Gebiete  Deutschlands  der  sichere  Grund  und 
Boden  gelegt  —  dann  werden  auch  nach  Goethe  und  Schiller  dramatische 
Dichter  aufstehen  ebenbürtigen  oder  höheren  Ranges. 

Noch  weniger  endlich  als  die  Lyrik  schickt  und  paszt  sich  zur  Hast 
und  Eile  unsrer  Zeit  der  zögernd  langsame  Fortschritt  der  epischen  Dicht- 
gattung. Was  aber  nach  Goethe's  idyllischem  Epos:  Hermann  und  Doro- 
thea in  dieser  Gattung  Vortreffliches  geleistet  worden  ist,  das  hängt  Alles 
—  um  von  dieser  Rundschau  in  der  Poesie  der  Gegenwart  zur  Sache 
selbst  zurückzukehren  —  mit  den  Leistungen  der  Dichter  mehr  oder 
weniger  zusammen,  die  von  der  altdeutschen  Metrik  —  gegen  den  Strom 
der  Zeit  sich  stemmend  —  soviel  es  irgend  angieng ,  zu  erhalten  gesucht 
haben.  •  ~~" 

Die  feste  Zahl  der  Hebungen,  die  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung 
und  endlich  der  Reiz  des  Reimes  —  das  sind  die  echtdeutschen  Mittel  der 
metrischen  Form ,  durch  welche  zuerst  Goethe,  später  Heide  im  volks- 
tümlichen Liede,  dann  die  Balladendichter  zu  wirken  gesucht  haben.  Weit 
gefehlt,  dasz  ihre  vielfachen  Abweichungen  von  der  antiken  Metrik,  un- 
bewuste  und  be wüste,  der  Wirkung  ihrer  Gedichte  geschadet  hätten, 
reizen  diese  das  Ohr  vielmehr  in  angenehmer  Weise;  denn  es  hört  hier 
heimische,  liebliche  Klänge,  die  ihm  selbst  die  an  fremdes  Masz  gewöhnte 
Gelehrsamkeit  nicht  hat  angewöhnen  und  ganz  verleiden  können. 

Die  Zeit  für  langathmige,  zu  Tausenden  von  Strophen  anschwellende 
Epen  ist  für  immer  vorüber;  soll  aber  ein  kürzeres,  knapper  gefasztes 
Epos  jetzt  oder  später  noch  gelingen  und  in  dem  Volke  tiefere  Teilnahme 
finden  —  so  ist  seine  Form  schon  fix  und  fertig  —  es  ist  dies  die  Nibe- 
lungen-Strophe ,  wie  sie  uns  altdeutsch  gemessen  bei  den  UebersetzeriL, 
modernisiert  in  dem  kleinen  Epos  Uhland's:  Graf  Eberhard  der  Rausche- 
bart vorliegt. 

Nachdem  die  rastlosen  Bemühungen  von  J.  H.  Voss  und  Goethe's 
Versuch,  durch  seine  Idylle:  Hermann  und  Dorothea  unter  dem  deutschen 
Volke  den  antiken  Daktylus  einzubürgern,  völlig  mislungen  sind,  so  bleibt 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  463 

dem  Epiker  der  Zukunft  kaum  eine  andere  Wahl  als  die  Nibelungen-Strophe. 
Versteht  er  seinen  Vorteil,  so  wird  er  sich  vor  dem  einförmigen  Trochäus 
Herder's  im  Cid  und  d$n  aus  der  Fremde  entlehnten  Ottave  Rime  Schiller' s 
in  der  Aeneide  hüten  und,  will  er  sich  nicht  sofort  an  die  altdeutsch  mes- 
senden Uebersetzer,  Simrock  und  Ploennies,  so  doch  wenigstens  an  Uh- 
land's  modernisierte  Strophe  halten. 

Selbst  die  Uebersetzer  der  epischen  Gedichte  der  Griechen  und  Rö- 
mer könnten,  so  scheint  es,  aus  dieser  Wahl  der  metrischen  Form  Vorteil 
ziehen.  Miszt  man  nemlich  den  zeitherigen  Erfolg  ihrer  vielfachen  Be- 
mühungen ,  dem  deutschen  Volke  diese  Gedichte  genieszbar  zu  machen, 
im  Groszen  und  Ganzen,  so  ist  derselbe  in  der  Wirklichkeit  weit  gerin- 
ger, als  es  den  Anschein  hat.  Abgesehn  davon,  dasz  Stolfund  Inhalt  dieser 
Uebersetzungen  den  Leserkreis  schon  an  sich  sehr  beschränkt,  so  bleiben 
fast  nur  die  altclassischen  Philologen,  die  sich  aus  ihnen  Belehrung  holen 
oder  daran  ihre  Kritik  üben  wollen,  und  die  grosze  Zahl  derer  übrig,  die 
sie  nicht  des  Genusses  wegen  lesen,  sondern  sich  das  Verständnis  des 
Urtextes  erleichtern,  d.  h.  die  eigne  Muhe  und  Anstrengung  ersparen 
wollen.  Soll  sich  der  Kreis  der  Leser,  soweit  dies  der  Natur  der  Sache 
gemäsz  überhaupt  möglich  ist,  einigermaszen  erweitern,  so  können  die 
Uebersetzer  dies  nur  durch  den  Reiz  der  Form  erzielen. 

Die  Uebersetzung  soll  ein  treues  Abbild  des  Urtextes  sein  und  dem 
fremden  Volke  denselben  Genusz  gewähren ,  wie  der  Urtext  dem  eigneu. 
Seit  Herder  und  Lessing  haben  sich  aber  unsre  Uebersetzer  daran  ge- 
wöhnt, die  Treue  nicht  mit  sclavischer  Nachahmung  zu  verwechseln, 
sondern  auch  der  Muttersprache  ihr  wolbegründetes  Recht  zu  lassen.  Es 
fragt  sich  nun ,  ob  die  Uebersetzer  der  altclassischen  Epen  nicht  noch  ei- 
nen Schritt  weiter  gehen  und  statt  des  ungefügen  Daktylus ,  den  für  das 
deutsche  Ohr  schon  der  Mangel  des  Reims  jedes  Reizes  entkleidet,  die 
Nibelungen -Strophe  wählen  und  so  den  Inhalt  in  ein  deutsches  Gewand 
kleiden  sollen.  Ein  Versuch  der  Art  ist  ganz  neuerdings  gemacht  worden. 
In  den  Blättern  für  literarische  Unterhaltung  (Leipzig  1863.  April?  Mai?) 
macht  nemlich  H.  M.  auf  eine  Schulschrift  des  Dir.  Moritz  Zille  in  Leipzig 
aufmerksam,  die  einen  Teil  der  Aeneide  in  der  Form  der  Nibelungen- 
Strophe  übersetzt  enthält.  Aus  den  zwei  dort  mitgeteilten  Strophen  läszt 
sich  ein  Schlusz  auf  das  Ganze  nicht  machen ;  aber  wer  auf  dejn  Stand- 
punkte steht,  auf  welchem  diese  Abhandlung  fuszt,  der  kann  den  Ver- 
such nur  willkommen  heiszen ;  jedenfalls  sollten  die  altclassischen  Philo- 
logen dem  neuen  Wagnis  ihre  volle  Teilnahme  widmen ,  sei  es  um  den 
Versuch  zu  verwerfen,  sei  es  um  ihn  zur  Nachahmung  zu  empfehlen. 
Zwei  Eigenschaften  freilich  setzt  eine  solche  Kritik  voraus;  sie  lassen  sich 
in  Kürze  durch  zwei  Namen  kennzeichnen  —  durch  die  Namen:  J.  H.  Voss 
und  L.  Unland. 

Der  Erfolg,  den  Uhland's  Balladencyclus  in  den  weitesten  Kreisen 
und  —  was  für  die  Verbreitung  und  Einbürgerung  einer  neuen  Sache 
sehr  wesentlich  ist  —  selbst  bis  tief  in  die  Schule  hinein  gehabt  hat, 
liegt  nicht  blosz  an  dem  ansprechenden  Inhalte  und  der  angemessenen 
Darstellung ,  sondern  namentlich  auch  in  der  äuszern  dichterischen  Form. 

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464  Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw. 

Wie  sehr  Uhland's  Strophe  aucli  noch  von  der  mittelhochdeutschen 
abweicht.,  sie  hat  auch  in  dieser  modernisierten  Form  etwas  Wohltuen- 
des, Anheimelndes,  mag  der  ihr  innewohnende  Reiz  woran  es  sei  liegen. 
Vielleicht  ist  es  die  sich  der  Lippe  und  dem  Ohre  von  selbst  darbietende 
Möglichkeit,  die  —  an  sich  undeutsche  —  erste  Senkung  des  Verses  nach 
deutscher  Messung  als  Auftakt  zu  fassen,  sodasz  dann  der  fallende 
Rhythmus  einen  wolthuenden  Reiz  auf  das  Ohr  übt ,  oder  sei  es  die  echt- 
deutsche Gleichgiltigkeit  gegen  die  Senkung,  die  sich  auszer  in  der  Mi- 
schung ein-  und  zweisilbiger  besonders  in  der  Mitte  der  Langzeile  zeigt, 
wo  Senkung  und  Senkung  —  ganz  gegen  die  antike  Metrik  —  auf  ein- 
ander stoszeu  und  gerade  dadurch  dem  Hörer  einen  angenehmen  Ruhe- 
punkt darbieten.  Wie  wollaulend  und  bequem  sich  auch  lyrischen  Dichtern 
die  gekeilte  Strophe  als  Masz  darbietet,  ist  oben  nicht  näher  erörtert, 
durch  Beispiele  jedoch  genugsam  angedeutet. 

Aber  nicht  blosz  Uhland's  modernisierte,  sondern  auch  die  altdeutsch 
gemessene  Strophe ,  wie  sie  die  nhd.  Uebersetzer  und  auch  Rückert  und 
Geibel  in  eignen  Gedichten  gebrauchen,  wird  sich  immermehr  Anerken- 
nung verschaffen  und  allmählich  auch  einbürgern.  Zur  Zeit  ist  es  freilich 
nötig,  immer  wieder  und  wieder  darauf  hinzuweisen,  was  unsre  Dichter 
in  den  letzten  zwei  Jahrhunderten  an  freier  Bewegung  im  Verse  einge- 
büßt, und  von  den  Fesseln  zu  reden,  die  jetzt  jede  freie  Regung  ihrer 
Glieder  hemmen  und  lähmen. 

Wenn  Simrock  in  seiner  Uebersetzung  der  Edda  (1855.  S.  354.  355) 
die  hohen  Verdienste  der  Begründer  der  deutschen  Altertumswissenschaft 
verdienter  Maszen  und  beredten  Mundes  hei  vorhebt,  so  thut  er  sich  selbst 
(ebendort)  Unrecht,  wenn  er  meint,  dasz  seine  Leistungen  auf  diesem 
Gebiete  der  Litteratur  bei  der  Nation  nicht  die  Anerkennung  gefunden 
haben ,  die  er  verdient  zu  haben  glaubte. 

Das  ganze  Volk  wird  und  kann  solchen  Bestrebungen  nur  sehr  lang- 
sam folgen.  Zwischen  der  Zeit  der  Begebenheiten,  die  den  Inhalt  des 
Nibelungenliedes  und  der  deutschen  Heldensage  bilden,  und  zwischen 
uns  liegt  eine  Kluft,  die  sich  nie  mehr  ganz  ausfüllen  läszt.  Wäre  in  das 
Leben  des  griechischen  Volkes  etwa  im  6.  Jh.  vor  unsrer  Zeitrechnung 
ein  Ereignis  von  auch  nur  ähnlich  groszartigem  Einflüsse  hereingebrochen, 
wie  ihn  das  Christentum  auf  die  heidnischen  Germanen  geübt  hat,  so 
hätte  Homer  dasselbe  Geschick  ereilt  wie  den  Dichter  der  Nibelungen; 
seine  Gesänge  wären  nie  Volksbuch  der  Griechen  geworden  oder  wenig- 
stens nicht  geblieben. 

Was  nun  den  Inhalt  der  Nibelungen  anbetrifft,  so  ist  dieser  von  der 
Art,  dasz  keine  Kunst  des  neuhochdeutschen  Uebersetzers  das  Lied  je 
wieder  zu  einem  Volksbuche  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  machen 
könnte.  Aber  auch  für  den  engeren  Kreis  der  groszen  Zahl  der  Gebildeten 
war  hier  zwischen  dem  Alten  und  der  Gegenwart  eine  Vermittlung  nötig, 
und  diese  Vermittelung  hat  vor  allen  andern  Simrock  übernommen  und 
glücklich  durchgeführt.  Die  Begründer  der  deutschen  Altertumswissen- 
schaft hatten  die  verschütteten  Schachte  altdeutscher  Poesie  wieder  auf- 
gegraben und  die  dort  aufgehäuften  Schätze  zunächst  den  allerengsten 


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Die  prosodische  und  metrische  Messung  der  Nibelungenstrophe  usw.  465 

Kreisen  der  Fachgelehrten  zur  Schau  gestellt.  Sollte  die  Zahl  der  Teil- 
nehmenden vermehrt  und  einst  auch  die  gelehrte  Schule  mit  in  diesen  Kreis 
hineingezogen  werden ,  so  bedurfte  es  ganz  besonderer  Anregung  durch 
leicht  faszliche  Belehrung,  welche  die  Begründer  der  deutschen  Altertums- 
wissenschaft weder  gaben,  noch  zu  geben  im  Stande  waren.  ^Simrock's 
nhd.  (Jebersetzungen  sind  aber  gleichsam  eine  solche  Belehrung  in  auch 
für  weitere  Kreise  faszlichem  Gewände. 

So  ist  es  gekommen ,  dasz  sich  die  Zahl  der  Teilnehmer ,  wie  das 
Verständnis  der  Sache  von  Jahr  zu  Jahr  mehrt  und  klärt  —  ein  schöner 
Lohn  für  Simrock's  anregende  Bemühungen,  wenn  man  die  Schwierig- 
keiten, die  in  dem  Stoffe  selbst  liegen,  und  die  tiefeingewurzelten  Vor- 
urteile gegen  die  äuszere  Form  bedenkt,  die  beide  erst  zu  beseitigen 
waren. 

Namentlich  in  Bezug  auf  diese  äuszere  Form  sind  Simrock's  Ver- 
dienste augenscheinlich  und  tief  eingreifend ;  denn  es  galt  nicht  blosz  in 
das  Wesen  der  mittelhochdeutschen  Metrik  und  im  Besonderen  der  mhd. 
Nibelungen-Strophe  einzuführen,  sondern  auch  durch  das  schlagende  Bei- 
spiel der  eignen  neuhochdeutschen  Uebersetzung  die  tiefeingewurzelten 
von  der  antiken  Metrik  ins  Deutsche  herübergekommenen  Vorurteile  der 
deutschen  Grammatiker  und  Dichter  zu  bekämpfen  und  die  letztern  zur 
Nachahmung  und  Nachfolge  anzureizen. 

Vergleicht  man  endlich  die  neuhochdeutsche  Nibelungen -Strophe, 
wie  sie  die  Uebersetzer  altdeutscher  Gedichte  jetzt  gebrauchen ,  mit  der 
im  Blücherliede ,  so  kann  man  die  auf  der  genauen  Kenntnis  der  mhd. 
Strophe  und  Metrik  ruhende  Versmessung  jener  eine  gelehrte,  die 
Arndt's  eine  ungelehrte  nennen. 

Arndt  kannte  das  Masz  der  mhd.  Strophe  nur  im  allgemeinen  Umrisz, 
im  Einzelnen  fragte  er  nur  sein  Ohr ,  ob  es  eine  solche  Messung ,  wie  er 
sie  wagte,  vertrüge.  Aber  gerade  in  diesem  seinem  unbewusten,  naiven 
Verfahren  liegt  der  beste  Beweis,  dasz  M.  Opitz  und  alle  Dichter  nach  ihm 
den  deutschen  Grundsatz  von  den  Hebungen  und  der  Gleichgiltigkeit  gegen 
die  Senkung  aus  unserer  Sprache  und  Dichtkunst  mit  Stumpf  und  Stiel 
auszurotten  doch  nicht  vermocht  haben. 

Gelehrte  und  Gebildete  überhaupt  waren,  als  Arndt's  Blücherlied 
erschien,  durch  die  Dichter  der  beiden  alten  Völker  an  das  Masz  der  an- 
tiken Metrik  gewöhnt  und  durch  die  deutschen  in  ihrer  Gewohnheit  noch 
mehr  bestärkt  worden.  Jede  auch  noch  so  geringe  Abweichung  davon 
galt  als  unverzeihlicher  Fehler,  und  Gedichte,  die  an  die  altdeutsche  Art 
der  Versmessung  auch  nur  von  fern  erinnerten ,  brandmarkte  und  that 
man  ab  mit  dem  Namen  Knittelverse. 

Trotz  alledem  gieng  M.  Arndt,  wie  überall  so  auch  hier  ein  echter 
Ritter  ohne  Furcht  und  Tadel,  der  antiken  Metrik  hart  zu  Leibe  und  masz 
sein  Lied  vom  alten  Blücher  mit  deutschem  Masze  und  nach  seinem  deut- 
schen Ohre. 

Tausende  und  aber  Tausende  haben  in  und  nach  den  Freiheitskriegen 
das  Lied  lieb  gehabt  und ,  ohne  an  seiner  Versmessung  irgend  Anstosz  zu 
nehmen,  frischweg  mitgesungen.     Arndt's  Erfolg  mit  diesem  seinem  Ge* 


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466  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

dicht  bei  dem  ganzen  deutseben  Voljte  kann  als  das  beste  Zeugnis  gelten, 
was  ein  Dichter,  zumal  wenn  er  jetzt  —  nach  der  Entdeckung  der  Gesetze 
der  mhd.  Metrik  —  die  ihm  gestattete  Freiheit  der  Bewegung  im  Verse 
maszvoller  als  Arndt  selbst  gebrauchte,  auch  heute  noch  wagen  durfte 
und  von  der  altdeutschen  Rhythmik  für  die  Zukunft  unsrer  Poesie  zu  ret- 
ten im  Stande  wäre. 

Lissa.  Ed.  Olawsky. 


Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

XIV. 

Bericht  über  die  Versammlung  von  Gymnasial-  und  Realschullehrern 

zu  Oschersleben  am  8n  Mai  d.  J. 


Der  Sonntag  Exandi  führte  auch  diesmal,  wie  sonst,  eine  zahlreiche 
Versammlung  von  Lehrern  höherer  Unterriehtsanstalten  nach  Oschers- 
leben. Es  waren  durch  mehr  als  40  Anwesende  vertreten  die  Gymna- 
sien der  Städte  Braunschweig,  Wolfenbüttel,  Helmstedt,  Blankenburg, 
Wernigerode,  Quedlinburg,  Halberstadt,  Magdeburg  und  Burg.  Ausser- 
dem hatten  der  Herr  Provinz  ialschulrath  Dr.  Heiland,  sowie  der  frü- 
here Director  des  Magdeburger  Domgymnasiums,  Prof.  Dr.  Wiggert, 
die  Versammlung  mit  ihrer  Gegenwart  beehrt. 

Der  Vorsitzende,  Propst  Dr.  Müller  aus  Magdeburg  eröffnete  die 
Verhandlungen  durch  Mitteilung  der  in  Vorschlag  gebrachten  Thesen. 
Es  waren  folgende:  1)  Ob  es  nicht  zweckmässig  sei,  auf  den  Gymna- 
sien die  Leetüre  der  Ilias  derjenigen  der  Odyssee  vorangehen  zu  lassen 
(Director  Jeep  aus  Wolfenbüttel).  2)  Ueber  metrische  Uebungen  im 
Lateinischen  auf  Gymnasien  (Dr.  Müller).  3)  Ueber  Hebungen  der 
Schüler  mittlerer  und  unterer  Ciaseen  in  lat.  und  griech.  Grammatik, 
angeschlossen  an  Lesung  angemessener  Schriften,  von  Seiten  oberer 
Schüler  unter  wechselnder  Aufsicht  der  Lehrer  (derselbe).  4)  Ueber  jähr- 
liche oder  halbjährliche  Versetzungen,  jährliche  oder  halbjährliche  Cur- 
sen  (Provinzialschulrath  Dr.  Heiland).  £)  Ueber  Censuren  (derselbe). 
Obwol  nun  von  vielen  Seiten  das  Verlangen  laut  wurde,  es  möchte  die 
These  4  zuerst  zur  Sprache  kommen,  entschied  man  sich  schliesslich 
auf  den  Wunsch  des  Herrn  Schulrath  Heiland  mit  Berücksichtigung 
der  Priorität  für  die  1.  These,  setzte  aber  die  Behandlung  der  4.  und 
ö.  These  ausdrücklich  für  die  nächste  Versammlung  fest,  für  welche 
später  bei  Tisch  als  Termin  der  14.  August,  als  Zusammenkunftsort 
Thale  festgesetzt  wurden;  Prof«  Dr.  Rehdantz  aus  Magdeburg  wurde 
zu  gleicher  Zeit  zum  Ordner,  Director  Wiggert  aus  Magdeburg  und 
Dr.  Willmann  aus  Halberstadt  zu  Referenten  bestellt. 

Director  Jeep  aus  Wolfenbüttel  leitete  darauf  die  Besprechung 
seiner  These  mit  einigen  Worten  ein.  Wenn  etwas  an  sich  Naturge- 
mäszes  umgekehrt  werde,  so  müsse  man  sich  fragen,  ob  hinreichende 
Gründe  zu  solcher  Umkehrung  vorhanden  seien.  Das  Naturgemäsze  sei 
nun  die  Ilias,  als  das  der  Abfassungszeit  nach  frühere,  mit  seinem  In- 
halt auf  denjenigen  der  Odyssee  vorbereitende  Gedicht  früher  zu  lesen, 
als  die  Odyssee.  Da  nun  der  Inhalt  der  Ilias,  die  Kampf-  und  Sehlacht- 
scenen  gerade  das  jugendlichere  Alter  vorzugsweise  fesseln   and  die 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscelleu.  467 

Gliederung  desselben  ebenfalls  leicht  überschaubar  sei  und  deiri  Schü- 
ler keine  gröszeren  Schwierigkeiten  bereite,  da  endlich  der  Unter- 
schied der  Sprache  kein  wesentlicher  sei,  so  scheine  ihm  die  Umkeh- 
rung der  Aufeinanderfolge  in  der  Leetüre  nicht  hinreichend  motiviert 
zu  sein.  —  Die  sehr  gut  gewählte  These  rief  eine  sehr  lebhafte  De- 
batte hervor,  welche  sich  bald  zu  einer  Verhandlung  über  die  Leetüre 
des  Homer  überhaupt '  die  zweckmäszigste  Einrichtung  derselben,  und 
dergleichen  Fragen  mehr  erweiterte  und  eine  Menge  fruchtbarer  Be- 
merkungen und  anregender  Mitteilungen  aus  dem  Gebiet  der  Theorie 
und  Praxis  veranlaszte.  Dir.  Wiggert  aus  Magdeburg  machte  zum 
Beweise,  wie  viel  näher  dem  jugendlichen  Alter  die  Odyssee,  als  die 
llias  liege,  auf  die  gröszere  Manigfaltigkeit  des  Inhalts  der  Odyssee, 
so  wie  auf  das  Märchenhafte,  die  Phantasie  des  Knaben  vorzugsweise 
Anziehende  desselben  aufmerksam.  Prof.  Rehdantz  hob  in  gleiehem 
Sinne  das  geographische  Element  der  Odyssee  hervor  und  wie  der  jün- 
gere Schüler- noch  nicht  im  Stande  sei,  die  sich  häufenden  Kampfscenen 
in  ihrer  Verschiedenheit  auseinanderzuhalten  und  damit  die  Kunst  der 
Schilderungen  zu  verstehen,  wie  sie  ihm  vielmehr  leicht  einförmig  und 
ermüdend  erscheine.  Director  Fr  ick  aus  Burg  wies  darauf  hin,  wie 
schon  deshalb  der  Knabe  sich  in  der  Odyssee  weit  heimischer  fühle, 
weil  sie  zu  stetem  Hintergrunde  das  Familienleben  und  das  häusliche 
Leben  habe,  in  dessen  Sphäre  das  Knabengemüt  gerade  mitten  inne 
stände.  Provinzialschulrath  Heiland  machte  auf  die  mildere  Färbung 
der  ganzen  Culturwelt  und  das  tiefere  Gemütsleben  in  der  Odyssee 
gegenüber  der  wilden,  nicht  selten  rohen  Welt  der  llias  aufmerksam, 
die  den  reiferen  Schülern  mehr  verständlich  und  anziehend  erscheine, 
als  den  jüngeren.  Als  ein  Beitrag  zur  Beurteilung  der  Frage  aus  der 
Praxis  heraus  wurde  von  ihm  mitgeteilt,  wie  die  Abiturienten  des 
Quedlinburger  Gymnasiums  bei  Bearbeitung  des  Themas,  ob  ihnen  die 
llias  oder  die  Odyssee  lieber  sei,  sich  zur  Hälfte  für  je  eines  der  Ge- 
dichte entschieden  hätten.  Man  bestritt  ferner,  ob  die  Sprache  der 
llias  nicht  schwieriger  sei,  als  diejenige  der  Odyssee,  erinnerte  an  die 
Fülle  von  Gleichnissen  in  der  llias,  das  geringere  Verhältnis  derselben 
in  der  Odyssee,  obwol  zugegeben  werden  muste,  dasz  gerade  diese 
auch  für  jugendlichere  Gemüter  schon  einen  besonderen  Heiz  haben. 
War  man  nun  dem  Thesensteller  gegenüber  darüber  einig,  dasz  die 
Leetüre  der  Odyssee  zweckmäsziger,  wie  bisher  derjenigen  der  llias 
vorangehe,  so  machte  der  Schulrath  Heiland  doch  darauf  aufmerk- 
sam und  gab  der  Debatte  dadurch  eine  neue  fruchtbare  Anregung,  dasz 
die  Odyssee  allerdings  in  der  bisherigen  Weise  der  Behandlung  oft  zu 
kurz  komme,  indem  sie  zu  sehr  als  Lernbuch  der  Homerischen  Formen- 
lehre benutzt,  und  bei  Seite  gelegt  werde,  wenn  nach  Ueberwindung 
der  formalen  Schwierigkeiten  —  in  Prima  —  der  eigentliche  Genusz 
der  Leetüre  für  den  Schüler  beginne.  Er  empfahl  deshalb  fleiszige 
Repetitionen  der  Odyssee  auch  in  der  Prima,  sowie  Anfertigungen  von 
Arbeiten,  als  Zeugnisse  und  Controlle  der  Verarbeitung  der  Leetüre. 
Director  Fr  ick  wünschte  überall,  wo  es  noch  nicht  eingeführt  sei,  Ab- 
solvierung der  Homerischen  Formenlehre  und  Einführung  der  Homer- 
leetüre  in  die  Tertia,  damit  die  Schüler  auch  schon  in  der  Secunda  zu 
einem  reineren  Genusz  der  Leetüre  kommen  könnten.  Daran  schlosz 
sich  eine  lebhafte  Erörterung  der  Art  der  Lesung,  ob  statarisch,  ob 
cursorisch,  wieviel  privatim  zu  lesen  sei,  inwieweit  ein  schnelles  Lesen 
ohne  Schaden  für  das  Verständnis  und  die  Gründlichkeit  zu  treiben  sei, 
ob  gleichzeitige  Verwendung  der  griechischen  Stunden  auf  Prosa-  und 
Dichterleetüre  statthaft  sei.  Director  Richter  aus  Quedlinburg  wies 
auf  die  Ueberbürdung  der  Schüler  hin ,  wenn  die  Homerlectüre  forciert 
werde  und  daneben  dieselben  Anforderungen  an  sie  bei  Lesung  der 
übrigen  griechischen  und  lateinischen  Autoren  gestellt  würden,  worauf 
der  Schulrath  Heiland  an  den  Ausspruch  F,  A.  W*lfs  erinnerte,  der 


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468  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

von  dem  Schüler  eines  Gymnasiums  nichts  verlangt  habe,  als  Leetüre 
und  Kenntnis  des  Homer,  Herodot  und  Xenophon  unter  den  Griechen 
und  dasz  im  schlimmsten  Falle  der  Sophokles  wegfallen  könne,  wenn 
nur  der  Schüler  dahin  komme,  den  Homer  als  erarbeiteten  Besitz  mit 
von  der  Schule  hinwegzunehmen.  Oberlehrer  Pfau  aus  Quedlinburg, 
Collab.  Steinmeyer  aus  Wolfenbüttel  u.  A.  machten  belehrende  Mit- 
teilungen über  ihre  Praxis  und  hielten  eine  gründliche  Lesung  des  gan- 
zen Homer  bei  der  gewöhnlichen  Stundenzahl  nicht  gut  für  möglich. 
Professor  Rehdantz  erklärte  sich  gegen  zu  gelehrte  Behandlung  des 
Sprachlichen,  durch  welche  die  Leetüre  ohne  verhältnismäszigen  Ge- 
winn aufgehalten  werde.  Die  Homerische  Syntax  sei  z.  B.  fast  ganz 
aus  dem  Spiel  zu  lassen.  Director  Fr  ick  erinnerte  an  Nägelsbach, 
der  die  cursorische  Leetüre  des  ganzen  Homer,  bei  welcher  der  Dich- 
ter sich  fortwährend  selbst  repetiere,  in  seiner  Gymnasialpädagogik 
verlange.  Das  Resultat  der  unter  groszem  Anteil  geführten  Debatte 
war,  dasz  man  /sich  entschied  für  Beibehaltung  der  bisherigen  Folge 
der  Lesung  der  Ilias  nach  der  Odyssee ,  für  möglichst  frühe  Erledigung 
def  formalen  Schwierigkeiten  (schon  in  Tertia) ,  für  rein  möglichst  cur- 
sorisches Lesen,  das  durch  kleine  Privatarbeiten  aller  Art,  Benutzung 
des  deutschen  Unterrichtes  u.  dgl.  m.  zu  einer  gründlichen  gemacht 
werden  könne,  für  die  Leetüre  wo  möglich  je  eines  Dichters  oder  Pro- 
saikers in  allen  griechischen  Leetürstunden,  für  Beschränkung  des 
grammatischen  Details  bei  der  Interpretation,  für  beschränkte  Ausdeh- 
nung der  Privatlectüre. 

Obwol  nun  schon  die  Besprechung  dieser  ersten  These  die  sonst 
übliche  Zeit  der  Verhandlung  hinweggenommen  hatte,  war  man  doch 
einstimmig  dafür,  sofort  noch  an  die  zweite  vom  Propst  Dr.  Müller 
vorgeschlagene  heranzugehen:  über  metrische  Uebungen  im  Lateinischen 
auf  Gymnasien.  Der  Vorsitzende  leitete  die  Besprechung  damit  ein, 
dasz  er  aus  seiner  eignen  Erfahrung  anfangs  der  Schulzeit  in  Meiszen, 
dann  später  aus  seiner  reichen  Lehrthätigkeit  heraus  den  groszen  Segen 
darlegte ,  den  die  metrischen  Uebungen  für  ihn  und  dann  auch  für  seine 
Schüler  gehabt  hätten,  und  wie  er  deshalb  wünsche,  diese  Segnungen 
zu  einem  Allgemeingut  aller  höheren  Schulen  gemacht  zu  sehen.  Es 
entspann  sich  nun  auch  hier  eine  lebendige  Erörterung ,  in  welcher  die 
verschiedenen  Vorzüge  solcher  Uebungen  hervorgehoben  und  allseitig 
ohne  Widerspruch  anerkannt  wurden,  nur  vor  einem  Uebermasz  und 
zu  hohen  Anforderungen  an  den  Schüler  auf  diesem  Gebiet  gewarnt 
wurde.  Professor  Rehdantz  wies  auf  den  Thatbestand  hin,  nach  wel- 
chem die  metrischen  Uebungen  heutzutage  nur  noch  auf  sehr  vereinzel- 
ten Anstalten  betrieben  würden.  Der  Schulrath  Heiland  fand,  von 
ihrer  hohen  Schätzung  im  Beginn  des  höheren  Schullebens  vom  Refor- 
mationszeitalter ausgehend,  einen  Grund  ihrer  Vernachlässigung  in  dem 
Eingehen  der  Pädagogik  auf  die  einseitigen  Nützlichkeitsforderungen, 
welche  diese  Fertigkeit  als  fbrotllose  Kunst'  in  Miscredit  gebracht  hät- 
ten. Gerade  deshalb  aber,'  um  ihrer  rein  idealen  Zwecke  willen  und  der 
ihnen  innewohnenden  Kraft,  den  Geschmack  und  ästhetischen  Sinn  zu 
bilden,  sei  an  ihnen  festzuhalten.  Director  Frick  suchte  einen  andern 
Grund  ihrer  Vernachlässigung  darin,  dasz  die  Schule  eine  Zeit  lang  in 
dem  verkehrten  Streben,  die  Schüler  mit  möglichst  vielem  Wissen  und 
Material  zu  belasten,  das  Moment  der  Arbeit  und  selbstthätigen  Ver- 
arbeitung des  Stoffes  zu  sehr  hintenangesetzt  habe ;  mit  der  Erkenntnis 
dieses  Misgriffes  und  der  Reaction  dagegen,  würden  auch  der  Stimmen 
immer  mehr,  welche  jene  Uebungen  zurückverlangten,  deren  Haupt- 
vorzug mit  darin  liege ,  an  einem  kleinen  handlichen  und  übersehbaren 
Material  die  Arbeit  und  Selbsttätigkeit  der  Schüler  zu  wecken  und  zu 
prüfen.  Daneben  wurden  Vorschläge  verschiedener  Art  über  die  Be- 
treibung dieser  Uebungen  gemacht.  Man  wollte  nicht  kunstvolle  und 
gröszere  metrische  Compositionen  als   allgemeine  Forderungen  an  alle 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  469 

Schalen  hingestellt  wissen,  sondern  Verständnis  und  Anfertigung  des 
Distichon  sollte  als  unerläszliche ,  aber  auch  ausreichende  Fertigkeit 
angesehen  werden.  Dies  gab  dem  Schulrath  Heiland  Veranlassung, 
darauf  hinzuweisen,  dasz  man  auch  dafür  sorgen  müsse,  dasz  Schüler 
Distichen  zu  Gesicht  bekommen  und  die  Leetüre  lateinischer  Dichter 
nicht  au8schlieszlich  auf  die  Metamorphosen  des  Ovid,  den  Virgil  und 
Horaz  beschränkt  bleibe. 

Die  Teilnahme  der  Versammlung  war  eine  so  rege ,  dasz  die  Mehr- 
zahl noch  die  Besprechung  der  3.  These  wünschte,  welche  indessen^ 
durch  die  Einsprache  des  Wirths  gehindert  wurde.  Darauf  folgte  ein' 
fröhliches  Mahl  mit  manigfaltigen  Trinksprüchen  auf  den  würdigen 
Jubilar,  den  Herrn  Oberschulrath  Krüger  aus  Braunschweig,  den  Vor- 
sitzenden Propst  Dr.  Müller,  den  Herrn  Schulrath  Heiland,  dessen 
auszerordentliche  Gabe  anzuregen  den  belebendsten  Einflusz  auf  die 
Versammlung  ausübte,  auf  den  Director  Dr.  Wiggert,  das  neu  er- 
richtete Gymnasium  zu  Burg  u.  A.  Referent,  welcher  dieser  Versamm- 
lung zum  ersten  Mal  beiwohnte,  nahm  den  günstigsten  Eindruck  mit 
hinweg  und  in  Erinnerung  an  andere  ähnliche  nur  zahlreicher  besuchte 
Zusammenkünfte  das  Gefühl,  wie  kleinere  Kreise,  in  denen  die  Debatte 
den  Charakter  gemütlicher  Besprechung  trägt,  weit  günstiger  daran 
sind,  als  gröszere  Versammlungen,  in  denen  die  Notwendigkeit  steife- 
rer parlamentarischer  Formen  Vielen  die  Zunge  bindet,  welche  sonst 
wol  Neigung  und  Fähigkeit  hätten,  Anregendes  und  Belehrendes  bei- 
zusteuern. 


XV.  '      . 

Die  siebente  Versammlung  mittelrheinischer  Gymnasiallehrer  zu 
Weinheim  a.  d.  Bergstrasze  am  17.  Mai  1864, 


Nachdem  die  sechste  Versammlung  mittelrheinischer  Gymnasialleh- 
rer vor  2  Jahren  zu  Darmstadt  getagt  hatte,  wurde  im  vorigen  Jahre 
von  der  siebenten  Versammlung  Abstand  genommen  mit  Rücksicht  auf 
die  gleichzeitig  anberaumte  allgemeine  deutsche  Lehrerversammlung  in 
Mannheim.  Nach  dem  Beschlüsse  einer  daselbst  am  dritten  Pfingsttage 
zusammengetretenen  Anzahl  mittelrheinischer  Gymnasiallehrer  war  für 
die  siebente  Versammlung  Weinheim  zum  Ort  der  Zusammenkunft 
ausersehn  und  Hr.  Regierungsrath  Firnhaber  aus  Wiesbaden  mit  den 
Vorbereitungen  beauftragt  worden.  Von  den  Städten,  an  welche  Hr. 
Dir.  Bender  aus  Weinheim  im  Auftrage  Firnhaber^s  Einladungen  hatte 
ergehen  lassen,  waren  folgende  15  vertreten:  Darmstadt,  Frankfurt, 
Grosz-Gerau,  Hanau,  Heidelberg,  Köln,  Mainz,  Mannheim;  Neustadt  a. 
d.  Hardt,  Speier,  Weinheim,  Wiesbaden,  Worms,  Würzburg  und  Zwei- 
brücken. Unter  den  48  Anwesenden  befanden  sich  auszer  den  Direc- 
toren  und  Lehrern  Prof.  Dr.  Urlichs  aus  Würzburg,  Prof.  Dr.  Kay- 
ser  und  Starck  aus  Heidelberg.  Die  Sitzungen  fanden  in  dem  Fest- 
saale des  Benderschen  Institutes  statt. 

Um  10  Uhr  eröffnete  der  *  Vorsitzende ,  Reg.  R.  Firnhaber,  die 
Versammlung  und  nachdem  er  die  Anwesenden  begrüszt  hatte,  sprach 
er  das  Bedauern  aus,  dasz  Hr.  Dir.  Classen,  der  eigentliche  Gründer 
des  Vereins  mittelrheinischer  Gymnasiallehrer,  in  Folge,  seiner  Beru- 
fung nach  Hamburg  an  den  Versammlungen  desselben  nicht  mehr  Teil 
nehmen  könne.  Auf  seinen  Vorschlag  wurde  sofort  ein  Telegramm  mit 
dem  freundlichsten  Grusze  der  Versammlung  an  denselben  abgeschickt. 
—  Weiterhin  sprach  er  sein  Bedauern  darüber  aus,  dasz  die  Realschul- 
lehrer auf  den  nemlichen  Tag  eine  Versammlung  ihrer /Fachgenossen 
nach  Mainz  berufen  und  so  denjenigen  von  ihnen,  welche  früher  die 


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470  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

Gymnasiallehrerversammlung  besacht  hatten,  es  unmöglich  gemacht  ha- 
ben, an  beiden  Versammlungen  Teil  zu  nehmen. 

Der  Besprechung  in  Mannheim  eu  Folge  sollte  der  Präsident  der 
Versammlung  von  den  Anwesenden  selbst  gewählt  werden.  Die  Wahl 
fiel  auf  Hrn.  Dir.  Bender  aus  Weinheim,  welcher  nach  Verlesung  der 
Mitgliederliste  Hrn.  Prof.  Starck  ersuchte,  seinen  angekündigten  Vor- 
trag 'über  die  Bedeutung  der  Aegis,  speciell  in  der  Hand  des  Apollo 
und  auf  der  Schulter  des  Ares'  zu  beginnen.  —  Als  Secretäre  fungier- 
ten Dr.  Ü.  Oncken  aus  Heidelberg  und  Dr.  K.  Boszler  aus  Darm- 
stadt. 

Der  Redner  gieng  von  der  für  die  Erkenntnis  des  Apollo  von  Bel- 
vedere  so  wichtigen  Veröffentlichung  des  Apollo  Stroganoff  durch  Ste- 
phani  aus  und  wies  auf  die  von  diesem  Gelehrten  erkannte  und  immer 
mehr  zur  Geltung  kommende  Thatsache  einer  in  der  Hand  gehaltenen 
Aegis  hin.  Die  daran  geknüpften  Vermutungen  Preller's  u.  A.,  den 
Apollo  als  Schützer  des  delphischen  Heiligtums  im  Verein  mit  Zcuc 
Cuit/)p  zu  betrachten,  konnten  durch  die  neuen  Untersuchungen  des 
Redners  Bestätigung  und  umfassendere  Begründung  in  dem  Wesen  de? 
Aegis  finden.  Diese  knüpften  sich  an  ein  unediertes  treffliches  Mar- 
morwerk der  Madrider  Sammlung,  welches  in  einer  Abbildung  vorlag 
und  demnächst  in  der  Archäologischen  Zeitung  veröffentlicht  werden 
wird;  es  stellt  einen  jugendlichen  Körper  mit  korinthischem  Helm  und 
mit  der  Aegis  auf  der  linken  Schulter  dar,  in  welchem  die  Aresnatur 
vollständig  ausgeprägt  ist  und  zwar  in  echt  attischer  Auffassung  des 
den  Kriegsdienst  tauenden  Epheben.  Die  Aegis  auf  der  Schulter  fand 
ihre  Analogie  in  Münzen  und  geschnittenen  Steinen  von  Ptolemäus  I, 
von  einem  König  Menander  und  von  römischen  Imperatoren,  wobei  die 
stehende  Bezeichnung  als  Cunrf|p  und  als  Jupiter  Juvenis  zu  beachten 
war  und  zugleich  die  Verbindung  der  Aegis  mit  Waffenrüstung,  aber 
auch  mit  den  Symbolen  der  Fruchtbarkeit,  des  friedlichen  Gedeihens, 
der  Rettung  und  Erhaltung  der  Bürger.  Dasz  auch  solche  Beziehungen 
dem  Wesen  des  Ares  nicht  fremdartig  seien,  suchte  der  Redner  aus 
wichtigen  Stellen  attischer  Dichter  und  aus  dem  attischen  Ephebeneid 
darzuthun.  Hiernach  wandte  er  sich  zum  Wesen  der  Aegis  selbst,  als 
dem  Attribute  des  Zeus  und  der  Athene.  Aus  den  Sagen  von  ihrer  Ent- 
stehung, aus  homerischem  Sprachgebrauch  der  Wörter  aific  und  alvio- 
Xoc,  aus  der  Darstellung  der  Athene  als  6ed  Koupoxpöcpoc,  aus  den  Bei- 
namen der  Aegis  und  aus  Cultgebräuchen  wurde  nachgewiesen,  wie  in 
ihr,  dem  Bilde  der  Gewitterwolke,  von  vornherein  eine  Doppelbedeutung 
inwohne,  einerseits  die  des  Schreckens,  der  Besiegung  feindlicher  Mächte, 
andrerseits  strömenden  Segens,  erfrischende  Jugendkraft  gebenden  Zu- 
flusses, der  Rettung  aus  Gefahr.  Ueber  die  Form  des  Wortes  atifioxoc 
bemerkte  der  Redner,  dasz  sie  mehr  auf  alE  selbst  oder  atfic  hinweise, 
als  auf  altic,  alriboc.  Er  schlosz  mit  der  Bemerkung,  dasz  die  Aegis 
auch  für  die  Schule  ein  bedeutungsvolles  Symbol  in  seiner  Doppelheit 
sei  für  die  notwendige  Einigung  strenger  Zucht  und  freundlicher,  Kraft 
und  Jugendlichkeit  fördernder  Fürsorge. 

Es  entspann  sich  eine  kurze  Discussion  zwischen  Dr.  Weidner 
aus  Köln  und  dem  Redner,  von  denen  ersterer  den  Ausfall  des  ö  in 
altioxoc,  welches  er  von  airic  herleitete,  zu  rechtfertigen  suchte,  ferner 
einwendete,  dasz  die  Wolken  stets  als  rettende  und  fruchtbringende 
dargestellt  würden,  niemals  dagegen  in  der  von  dem  Redner  bezeichne- 
ten Doppelgestaltigkeit,  und  endlich  gegen  die  Deutung  des  Madrider 
Marmors  als  eines  Ares  hervorhob,  dasz  die  Aegis  nur  von  Lichtgott- 
heiten getragen  werde,  Ares  aber  der  Gott  des  Schreckens  sei,  der  ge- 
rade durch  das  Vortreten  der  Wolken  vor  das  Licht  erzeujrt  werde. 
Dagegen  wies  Prof.  Starck  auf  das  reiche  Bilderleben  der  Wolke  und. 
der  Ziege  bei  den  Griechen  hin,  sowie  auf  die  mannigfaltige  Gestaltung 
des  Ares,  der  in  der  ältesten  Sage  geradezu  den  universellen  Charakter 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  471 

eines  Lichtgottes  habe.  Prof.  Fi  ekler  aus  Mannheim  machte  endlich 
auf  einige  Bronzefiguren  der  Mannheimer  Sammlung  aufmerksam,  wel- 
che nackte,  schreitende  Männer  darstellen  mit  einem  Schutze  am  lin- 
ken Arm  und  demnach  möglicher  Weise  auch  auf  Ares  zn  deuten  seien. 

Nachdem  der  Vorsitzende  dem  Redner  im  Namen  der  Versamm- 
lung für  seinen  lehrreichen  und  auch  für  die  Schulmänner  so  interes- 
santen Vortrag  den  Dank  ausgesprochen  hatte,  ersuchte  er  Hrn.  Prof. 
Urlichs  die  Rednerbühne  zu  besteigen,  welcher  sich  erboten  hatte,  der 
Versammlung  entweder  Thesen  über  das  Abiturientenexamen  vorzulegen 
oder  einen  Vortrag  über  Herodot's  Gelehrsamkeit  zu  halten.  Da  wei- 
tere Gegenstände  der  Besprechung  nicht  vorlagen,  beschlosz  man,  zu- 
nächst den  Vortrag  über  Herodot's  Gelehrsamkeit  und  seine  Quellen  zu 
hören. 

Der  Vortragende  gieng  von  der  Ansicht  Dahlmann's  «us,  welcher 
in  seinen  'Forschungen  auf  dem  Gebiet  der  Geschichte9  ausgesprochen, 
dasz  Herodot  die  ihm  vorangegangenen  Schriftsteller  zwar  gelesen,  aber 
auszer  Hekatäus  wenig  oder  gar  nicht  für  sein  Geschichtswerk  benutzt 
habe.  Im  Gegensatz  hierzu  wies  er  naeh,  dasz  Herodot  die  ganze  ihm 
zugängliche  Litteratur  genau  gekannt  und  viel  mehr  schriftliche  Quel- 
len benutzt  habe,  als  Dahlmann  zugibt.  Indem  aus  unsrer  allerdings 
nur  dürftigen  Kenntnis  der  Logographen  Schlüsse  auf  Herodot  und  sein 
Geschichtswerk,  sowie  umgekehrt  aus  Herodot  Rückschlüsse  auf  die 
Werke  der  früheren  Geschichtsschreiber  gemacht  wurden,  erwies  Red- 
ner im  Einzelnen  durch  eingehende  Interpretation  wichtiger  Stellen, 
dasz  in  der  ganzen  persisch-griechischen  Geschichte  Herodot  die  Werke 
des  Gharon  und  Hellanikos  benutzt,  gegen  die  er  sich  jedoch  durch- 
weg ablehnend  verhält,  und  dasz  für  Mythologie  und  Litterarhistorik 
insbesondere  Pherekydes  als  Quelle  gedient  habe. 

Nach  diesem  ebenso  gründlichen  wie  geistvollen  Vortrag  trat  eine 
Pause  von  einer  halben  Stunde  ein.  —  Hierauf  richtete  der  Vorsitzende 
die  Frage  an  die  Versammlung,  ob  die  Thesen  des  Hrn.  Prof.  Urlichs 
über  das  Abiturientenexamen  heute  noch  besprochen  oder  nicht  viel- 
mehr auf  die  Tagesordnung  der  nächstjährigen  Versammlung  gesetzt 
werden  sollten.  Man  einigte  sich  dahin,  dasz  zunächst  nur  die  Vor- 
frage, ob  überhaupt  das  Maturitatsexamen  notwendig  und  ob  es  beizu- 
behalten sei,  discutiert,  die  Hauptfragen  aber  für  die  nächste  Versamm- 
lung vorbehalten  werden  sollten.  Auf  Urlichs'  Vorschlag  wird  beschlos- 
sen, dasz  inzwischen  für  das  nächste  Jahr  statistische  Notizen  über  das 
philologische  Examen  auf  Universität  und  über  das  Abiturientenexamen 
gesammelt  würden,  für  ersteres  von  Behaghel,  für  letzteres  von  Land- 
ferman  (Preuszen),  Schmid  (Würtemberg  und  Baden),  Urlichs  (Baiern), 
Mommsen  (Hannover  und  Holstein),  Piderit  (Kurhessen),  Klein  (Groszh. 
Hessen),  Firnhaber  (Nassau).  —  An  der  Dicussion  über  die  Frajre,  ob 
Abiturientenexamen  sein  solle  oder  nicht,  beteiligten  sich  die  Hrn.  Dir. 
Mommsen  aus  Frankfurt,  Piderit  aus  Hanau,  Prof.  Urlichs,  Prof. 
Starck  und  Hofmann  aus  Heidelberg,  Reg.R.  Firnhaber  und  Prof. 
Schmidt  aus  Mannheim.  Mommsen  legte  zunächst  seine  Erfahrun- 
gen über  das  Abiturientenexamen  in  den  Ländern,  in  denen  er  bereits 
gewirkt  hat,  dar  und  hob  insbesondere  die  ausgezeichneten  Erfolge  in 
sittlicher  Beziehung  bei  den  Schülern  der  Anstalten  hervor,  an  welchen 
ein  solches  nicht  stattfinde;  jeder  sittliche  Erfolg  sei  aber  unendlich 
viel  höher  anzuschlagen,  als  der  intellectuelle ;  wenn  die  Gymnasiallehrer 
ihre  Pflicht  in  der  That  erfüllten,,  so  könnten  sie  auch  ohne  ein  solches 
Examen  über  die  Reife  der  Schüler  für  das  Universitätsstudium  leicht 
entscheiden.  Dagegen  zeigte  Piderit,  dasz,  ein  Maturitatsexamen  zu 
halten,  die  Ehre  dem  Publicum  gegenüber  verlange,  ebenso  die  Gerech- 
tigkeit dem  Schüler  gegenüber,  den  man  nicht  dem  bloszen  Eindruck 
nach  beurteilen  dürfe,  zumal  da  man  irren  könne;  es  sei  ferner  vielfach 
&ur  Stimulation  der  Schüler  nötig,  da  nicht  alle  aus  innerem  Antrieb 


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472  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

das  Ziel  der  Gymnasialstadien  zu  erreichen  im  Stande  seien;  endlich 
sei  es  auch  eine  Palästra  für  künftige  Examina.  Die  Einwendun- 
gen, die  man  gegen  ein  Abiturientenexamen  mache,  insbesondere 
die,  dasz  es  abrichte  und  geistig  tödte,  beruhen  nur  auf  falscher 
Handhabung  desselben.  Starck  hält  das  Abiturientenexamen  schon 
deshalb  für  notwendig,  weil  der  Staat  ein  Recht  habe,  es  von  demjeni- 
gen zu  fordern,  welcher  die  Universität  beziehe;  es  sei  gewissermaszen 
das  erste  Staatsexamen.  Hofmann  ist  der  Ansicht,  dasz  das  Gymna- 
sium, wenn  es  nach  7— W  Jahren,  während  derer  es  einen  Schüler  un- 
terrichtet habe,  nicht  beurteilen  könne,  ob  derselbe  zum  Besuch  der 
Universität  reif  sei,  sich  selbst  ein  Armutszeugnis  ausstelle ;  traue  man 
dem  Gymnasium  eine  solche  Beurteilung  ohne  Examen  nicht  zu,  so 
dürfe  man  überhaupt  die  Lehrer  nicht  prüfen  lassen,  sondern  müsse 
eine  Prüfungscommission  bestellen.  Mommsen  glaubt  mit  Rücksicht 
auf  Starck's  Bemerkung,  dasz  durch  ein  gelindes  Examen  beim  Bezie- 
hen der  Universität  geholfen  werden  könne,  wogegen  Ur lieh s  einwen- 
det, dasz  ein  solches'doch  nicht  von  Universitätsprofessoren,  sondern 
'nur  von  den  Gymnasiallehrern  gehalten  werden  könne.  Firnhaber 
erklärt  alle  Gründe,  welche  man  für  das  Abiturientenexamen  vorbringe, 
für  nichtig»  schlieszt  sich  ganz  den  Ansichten  Mommsen's  an  und  zeigt, 
wie  die  preuszische  Maturitätsordnung  nur  aus  dem  Bestreben  entstan- 
den sei,  das  Ziel  des  Gymnasialunterrichts  in  allen  Schulen  des  Landes 
gleich  zu  machen.  Schmidt  hebt  hervor,  dasz  es  vor  Allem  auf  den 
Geist  des  Examens  ankäme,  welches  eine  Recapitulation  des  gesamten 
Gymnasial  Wissens  in  sich  begreifen  müsse.  Endlich  zeigte  Piderit 
im  Gegensatz  zu  Mommsen's  Ansicht,  dasz  der  intellectuelle  Erfolg  auf 
dem  Gymnasium  nicht  hintenanzusetzen  sei,  dasz  derselbe  vielmehr  auch 
etwas  Sittliches  in  sich  enthalte  und  dasz  überhaupt  beides,  das  sitt- 
liche und  das  intellectuelle  Moment,  unmöglich  getrennt  werden  könn- 
ten. Der  Vorsitzende  schlosz  hierauf  die  Discussion  mit  dem  Be- 
merken, dasz  die  Frage,  ob  ein  Maturitätsexamen  sein  solle  oder  nicht, 
nicht  zu  entscheiden  sei,  ohne  dasz  damit  die  Frage  nach  der  Art  und 
Weise  der  Abhaltung  des  Examens  verbunden  werde. 

Bei  der  hierauf  folgenden  Berathung  über  den  Ort  der  nächstjähri- 
gen Versammlung  wurde  Frankfurt  bestimmt  und  zum  Vorsitzenden 
Dir.  Mommsen  daselbst  gewählt.  Nachdem  der  Schlusz  der  diesjähri- 
gen Sitzung  um  2  Uhr  erfolgt  war,  vereinigte  ein  gemeinsames  Mahl 
die  Mitglieder,  welche  sich  gegen  Abend  mit  herzlichem  Abschied  und 
mit  der  Erinnerung  an  einen  ebenso  lehrreichen  wie  genuszvollen  Tag 
trennten. 

\K.  #.] 


XVI. 

Versammlung  von  Gymnasial-  und  Reallehrern  in  der  Altmark  und  der 

Priegnitz  zu  Seehausen  in  der  Altmark  am  19.  Juni  1S64. 


Diese  Jahrbücher  haben  zu  verschiedenen  Malen  Berichte  über 
Versammlungen  Von  Lehrern  höherer  Anstalten  gebracht,  die  neben 
den  allgemeinen  Versammlungen  deutscher  Philologen  und  Schulmän- 
ner den  Zweck  verfolgen,  nicht  blosz  persönliche  Bekanntschaften  zwi- 
schen den  Lehrern  benachbarter  Anstalten  zu  vermitteln,  sondern  vor- 
nehmlich durch  Austausch  von  Mitteilungen,  Erfahrungen  und  Ansichten 
und  eingehende  Besprechung  über  die  mannigfachsten  Fragen  des  Un- 
terrichts und  der  Zucht  fördernd  und  belebend  auf  die  Schule  selbst 
einzuwirken.  Bei  der  Eröffnung  des  Progymnasiums  zu  Seehausen  durch 
Herrn  Provinzialschulrath  Dr.  Heiland  am  20,  April  1863  wurde  zuerst 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  473 

der  Gedanke  angeregt,  auch  eine  solche  Versammlung  zur  Verbindung 
der  Anstalten  der  Altmark  und  der  Westpriegnitz  zu  begründen,  und 
nachdem  auf  einer  vorläufigen  Zusammenkunft  von  Gymnasiallehrern 
aus  Salzwedel,  Stendal  und  Seehausen  über  die  Grundsätze  eine  Eini- 
gung herbeigeführt  war,  wurde  die  erste  ordentliche  Versammlung  zu 
Seehansen  am  19.  Juni  d.  J.  abgehalten.  Leider  waren  manche  ent- 
weder durch  die  weitere  Entfernung  oder  durch  andere  Umstände  be- 
hindert frühere  Zusagen  zu  erfüllen:  insbesondere  konnte  Herr  Provin- 
zialschulrath  Heiland  selbst  wegen  Krankheit  nicht  kommen.  So  hatten 
sich  von  Stendal,  Salzwedel,  Perleberg  und  Seehausen  22  Teilnehmer 
eingefunden. " 

Es  lag  der  Versammlung  zuerst  die  von  Dir.  Dr.  Weser  aus  Perle- 
berg aufgeworfene  Frage  vor :  f  Wie  ist  der  Unterricht  in  der  deutschen 
Literaturgeschichte  in  den  oberen  Classen  zu  behandeln,  wenn  er  den 
in  dem  Ministerialrescript  vom  13.  Dec.  1862  gestellten  Forderungen 
entsprechen  soll?'  Nachdem  von  dem  Hrn.  Thesensteiler  zuerst  der 
gesamte  Stoff  des  deutschen  Unterrichts  in  den  oberen  Classen  kurz 
umschrieben  und  das  Verhältnis  der  verwendbaren  Unterrichtsstunden 
zu  dem  zu  bewältigenden  Material  als  ein  nicht  eben  günstiges  be- 
zeichnet war,  richtete  er,  an  den  Schlusz  des  betr.  Passus  in  dem  Min. 
Rescr.  anknüpfend,  die  Discussion  zuerst  auf  die  Frage,  ob  und  wie 
das  Mittelhochdeutsche  in  den  Unterricht  hineinzuziehen  sei.  Darüber 
war  man  allgemein  einverstanden,  dasz  man  von  Gothisch  und  Althoch- 
deutsch abzusehen  habe,  dasz  es  aber  aus  inneren  und  äuszeren  Grün- 
den wünschenswerth  sei,  die  bedeutendsten  Dichtungen  des  Mittelalters 
im  Original  mit  den  Schülern  zu  lesen,  obwol  von  einer  Seite  das  Lesen 
gediegener  Uebersetzungen  als  ausreichend  bezeichnet  Wurde,  die  Schü- 
ler mit  dem  Geiste  dieser  Dichtungen  bekannt  zu  machen  und  in  ihnen 
die  Lust  zu  erwecken,  später  aus  der  ursprünglichen  Quelle  zu  schö- 
pfen. Ebenso  waren  die  Ansichten  darüber  verschieden,  ob  nur  Nibe- 
lungen oder  ob  auch  Wolfram  von  Eschenbach  (Parcival),  Walther  von 
der  Vogelweide  und  Gudrun  in  der  öffentlichen  Leetüre  zu  berücksich- 
tigen oder  ob  nach  voraufgegangener  öffentlicher  Lesung  der  Nibelun- 
gen das  Andere  den  Privatstudien  zu  überlassen  sei ,  desgleichen  dar- 
über, ob  diese  Leetüre  nach  Prima  oder  Secunda  zu  verlegen  sei, 
obschon  die  Mehrzahl  sich  für  eine  einjährige  Leetüre  der  mittelhoch- 
deutschen Dichtungen  in  Secunda,  resp.  Untersecunda  aussprach,  so 
dasz  das  andere  Jahr  des  Cursus  der  neuhochdeutschen  Leetüre  vorbe- 
halten werden  müste.  Die  Ansicht  einiger,  dasz  der  Lehrer  dabei  zu- 
gleich Lexicon  und  Grammatik  sein  und  so  durch  Ersparung  der  für 
Behandlung  der  Grammatik  erforderlichen  Zeit  Raum  für  ausgedehntere 
Leetüre  gewonnen  werden  solle,  fand  lebhaften  Widerspruch:  ein  kur- 
zer Cursus  der  Grammatik,  der  wenigstens  die  mittelhochdeutsche  De- 
klination und  Conjugation  umfasse,  müsse  voraufgeschickt  werden.  Ge- 
ringeres Gewicht  konnte  man  dem  Einwände  beimessen,  dasz,  wenn 
das  Mittelhochdeutsche  auf  ein  Jahr  in  Secunda  beschränkt  bleibe, 
später  vieles  vergessen  werde.  Indessen  wurde  mit  Nachdruck  darauf 
aufmerksam  gemacht,  wie  knapp  durch  Entziehung  des  einen  Jahres 
die  dem  Unterrichte  in  der  neueren  Literaturgeschichte  verbleibende 
Zeit  sei,  der  doch  die  Hauptsache  bleiben  müsse.  Da  man  indessen 
darüber  einverstanden  war,  dasz  der  litteraturge  schichtliche  Unterricht 
nicht  eine  Summe  von  Notizen  und  fertigen  Urteilen  geben  dürfe,  son- 
dern vielmehr  nebst  einem  kurzen  Ueberblicke  über  den  Gang  der  deut- 
schen Litteratur  eine  durch  Lesung  einer  Anzahl  von  Hauptwerken  ver- 
mittelte Kenntnis  der  bedeutendsten  Schriftsteller  als  sein  Ziel  zu 
betrachten  habe,  dasz  neben  der  Correctur  von  Aufsätzen,  Dispositions- 
ubungen,  Uebungen  im  freien  Vortrage  u.  a.  die  Zeit  in  Anspruch 
nehmen,  so  wurde  die  Entscheidung  über  das  Mittelhochdeutsche  vertagt 
und  zunächst  beschlossen,    dasz  ein  Canon  neuhochdeutscher  Leetüre 


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474  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

aufgestellt  werden  solle,  in  welchen  in  der  Schule  zu  lesende  Stucke 
der  Werke  solcher  Schriftsteller  aufzunehmen  seien,  die  den  Geist  der 
bedeutendsten  Epochen  oder  einzelner  Litteraturgattungen  vorzüglich 
repräsentieren.  Als  wünschenswerther  Anfang  wurde  die  Zeit  der  Re- 
formation (Hans  Sachs)  bezeichnet.  Dir.  Weser  erklärte  sich  bereit, 
einen  solchen  Canon  zu  entwerfen,  welcher  der  nächsten  Versammlung 
als  Material  zu  weiterer  Berathung  unterbreitet  werden  soll:  die  Werke 
sollen  teils  in  der  Classe  gelesen,  teils  zu  Objecten  von  Besprechungen, 
mündlichen  Referaten  oder  freien  Vorträgen  der  Schüler  gemacht  werden. 

Auf  Anregung  des  Director  Dr.  Krahner  aus  Stendal  kamen  die  vier 
vertretenen  Nachbaranstalten  überein,  bei  der  Aufnahme  verwiesener 
Schüler  sich  gegenseitig  dadurch  zu  unterstützen,  dasz  ein  solcher 
Schüler  nicht  ohne  ein  besonderes  Schreiben  des  Directors  derjenigen 
Schule,  von  welcher  er  verwiesen  ist,  zur  Aufnahme  auf  einer  andern 
Anstalt  gelangen  solle :  dieses  Schreiben  soll  sich  über  den  betreffenden 
Schüler  in  rückhaltsloser  Weise  aussprechen  und  insbesondere  darüber, 
ob  etwa  erhebliche  Bedenken  die  Aufnahme  widerrathen  lassen. 

Ein  heiteres  Mahl  vereinigte  dann  die  Teilnehmer  der  Versamm- 
lung, bei  dem  namentlich  der  neuangeknüpften  wie  erneuerter  alter 
Beziehungen  in  freudiger  Weise  gedacht  wurde.  Mögen  denn  diese 
alljährlich  am  zweiten  Sonntage  nach  Pfingsten  in  Seehausen  stattfin- 
denden Versammlungen  das  ihnen  gesteckte  Ziel  immer  mehr  und  immer 
besser  verwirklichen.  - 

S.  D. 


XVII. 
Mis  celle. 


Es  sei  mir  erlaubt,  zu  den  höchst  "dank eng werthen  Mitteilungen 
R.  Hoche's  in  dieser  Zeitschrift  über  fEin  Schulheft  C.  M.  WielandV 
einen  kleinen  Nachtrag  zu  liefern.  Die  lateinischen  Arbeiten  nnd  die 
deutschen  Uebersetzuugen  aus  dem  Lateinischen,  die  Wieland  im  Som- 
mer 1748  zu  Kloster  Bergen  machte,  sind  von  einem  Lehrer  Hennicke 
durchgesehen.  Hierzu  bemerkt  der  Berichterstatter,  dasz  Wieland  selbst 
unter  den  Bergenschen  Lehrern  diesen  Mann  nicht  als  einen  von  denen 
erwähne,  welche  einen  besondern  Einflusz  auf  ihn  geübt  hätten. 

Nun  findet  sich  in  Raumer's  Historischem  Taschenbuch  Jahrg.  10 
S.  359—464  ein  Aufsatz  von  C.  W.  Böttiger  in  Erlangen,  betitelt:  f Chri- 
stoph Martin  Wieland  nach  seiner  Freunde  und  seinen  eignen  Aeusze- 
rungen'.  Hierin  berichtet  Böttiger  S.  377,  wie  folgt.  e Wieland  klagte 
darüber  (16.  März  1801),  dasz  er  immer  nur  Halbwisser  im  Griechi- 
schen geblieben  sei.  In  frühester  Jugend  habe  ihm  sein  Lehrer  Hen- 
nicke, ein  eingefleischter  Pedant,  durch  die  albernste  Methode  das 
Griechische  so  verleidet,  dasz  er  damals  unter  dem  Vorwand,  kein  Theo- 
log werden  zu  wollen,  dieser  Sprache  ganz  Valet  gegeben,  dagegen 
aber  recht  gut  lateinisch  sprechen  und  schreiben  gelernt  habe.9 
Offenbar  bezieht  sich  diese  Herzensergieszung  auf  die  Klosterbergensche 
Zeit,  während  Böttiger  sie  unter  diejenigen  einreiht >  welche  das  Leben 
des  Knaben  Wieland  im  Elternhause  betreffen.  Aus  den  Worten  ist 
ersichtlich,  dasz  dieser  Hennicke  auf  Kloster  Bergen  auch  im  Griechi- 
schen unterrichtet  hat;  nicht  minder  scheint  daraus  hervorzugehen,  dasz 
Wieland  wenigstens  seine  lateinische  Sprach-  und  Schreibfertigkeit  ge- 
rade diesem  Lehrer  verdankte. 

Dresden.  Eduard  Niemeyer. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  475 

(XIII.) 
Litterarische  und  culturhistorische  Mitteilungen  aus  Griechenland. 

(Fortsetzung  von  S.  428.) 


Mehr  als  jetzt,  fanden  in  früherer  Zeit  gewisse  Sympathien  zwi- 
schen den -Griechen  und  den  Rumänen  oder  Romanen  (den  eingebore- 
nen Bewohnern  der  Donauprovinzen,  oder  wie  sie  auch  genannt  wer- 
den und  vorzugsweise  sich  selbst  gern  nennen,  den  Daciern)  statt. 
Zwar  giengen  sie  ebensowol  auf  dem  Gebiete  des  politischen  Lebens  als 
auf  dem  der  Bildung  und  Litteratur  zunächst  mehr  von  Griechen  aus, 
aber  sie  fanden  doch  auch  von  Seiten  der  Rumänen  eine  Art  Aner- 
kennung. Dies  hing  mit  der  früheren  Verwaltung  und  Regierung  der 
Moldau  und  Walachei  durch  die  aus  der  Classe  der  Fanarioten  gewähl- 
ten Hospodare  zusammen,  hat  sich  aber  seit  der  Zeit  besonders  geän- 
dert, nachdem  jene  Provinzen  eine  Art  politischer  Selbständigkeit  und 
Unabhängigkeit  erlangt  haben.  Seitdem  ist  das  Band,  das  die  beiden 
verwandten  Nationalitäten  verknüpfte  und  das  in  der  Gleichheit  der 
Leiden  und  der  Hoffnungen  eine  innere  Rechtfertigung  findet,  wenn 
nicht  ganz  gelöst,  doch  sehr  locker  geworden,  und  es  hat  vielmehr 
zwischen  beiden  Nationalitäten  eine  gewisse  Eifersucht  Platz  ergriffen, 
die  sie  von  einander  trennt  und  ungebührlich  verfeindet.*)  Gleichwol 
unterlassen  einzelne  gelehrte  Griechen  es  nicht,  ihr  Interesse  an  der 
Entwickelung  der  rumänischen  Nation  in  politischer  und  intellectueller 
Hinsicht  auf  jede  mögliche  Weise  zu  bethätigen.  Einer  der  namhafte- 
sten dieser  Gelehrten  ist  der  Grieche  Tabakopulos,  der  früher  eine 
griechische  Lehranstalt  in  Bukarest  errichtete  und  leitete,  auch  meh- 
rere griechische  Schriften  ins  Rumänische  übersetzte,  und  später 
eine  Griechisch-Rumänische  Zeitschrift:  cO  George,  in  beiden  Sprachen 
herausgab.  Er  liesz  es  sich  darin  vorzüglich  angelegen  sein,  den  Be- 
weis zu  führen,'  dasz  die  Griechen  nicht  nur  die,  den  Rumänen  der 
Donaufürstentümer  neuerdings,  nach  dem  Aufhören  der  Regierung  der 
Fanarioten  zu  Teil  gewordene  Verbesserung  ihrer  Lage  durchaus  nicht 
übersehen  und  keineswegs  gering  anschlagen,  sondern  dasz  sie  sie  ihnen 
in  noch  grösserer  Vollkommenheit  wünschen,  und  er  sprach  es  offen  aus, 
dasz  f  ein  jeder  Strahl  der  Freiheit,  der  einen  einzelnen  Teil  des  christ- 
lichen Orients  erwärmt,  auch  über  die  anderen  Teile  desselben  Licht 
und  Wärme  verbreitet,  und  dies  dem  Ganzen  zu  Gute  kommt.9  Auch 
verständige  und  aufgeklärte  Rumänen  dringen  auf  die  Vereinigung 
aller  einzelnen  christlichen  Völkerschaften  der  Türkei  und  verlangen, 
dasz  die  Griechen  und  Rumänen,  die  Albanesen  und  Südslaven  ihre 
Zwistigkeiten  und  Antipathien  vergessen  sollen.  fAuch  wenn  sie  es 
nicht  dahin  bringen,  sich  zu  lieben,  sollen  sie  doch  wenigstens  sich  zu 
verstehen  lernen.  Sie  haben  —  was  man  auch  sage  —  mehr  gemein- 
same, als  trennende  Interessen.9  Mit  diesen  Worten  sprach  sich  die 
rumänische  Prinzessin  Helene  Ghika,  die  pseudonyme  Gräfin  Dora 
d'Istria,  im  ersten  Teile  ihrer  'Excursions  en  Roume'lie  et  en  Morde' 
(Zürich  und  Paris,  1863),  S.  238  über  diesen  Gegenstand  aus:  aber  sie 
verlangte  auch  nach  dem,  was  sie  S.  27  bemerkte,  dasz  die  Griechen  die 
innigsten  Beziehungen  mit  den  Völkern  vder  Halbinsel  zu  vervielfälti- 
gen suchen  müssen,  indem  sie  deren  Traditionen,  Sitten,  Bestrebungen 


*)  Seit  der  Zeit,  da  Obiges  —  im  Sommer  1862  —  geschrieben 
worden,  sind  die  früheren  Sympathien  der  Rumänen  für  die  Griechen 
in  offenbare  Antipathien  gegen  sie  umgeschlagen,  und  hat  namentlich 
in  den  Donauprovinzen  eine  Art  Exterminationsprocess  gegen  griechi- 
sche Wissenschaft  und  Sprache  begonnen.  . 


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476  Kurze  Anzeigen  und  Misceilen. 

und  gerechten  Ansprüche  achten,  und  besonders  sei  es  nötig,  dasz  sie 
sich  auch  den  rumänischen  Völkerschaften  im  Norden  der  Donau  nähern. 


In  Athen  erschien  1862  der  erste  Teil  eines  vielfach  interessanten 
Werkes  über  die  Insel  Samos,  unter  dem  Titel:  Cajtuaicd,  das  eine  Ge- 
schichte der  Insel  von  den  ältesten  Reiten  bis  auf  die  Gegenwart  ent- 
halten soll  und  den  Griechen  Epaminondas  Stamatiadis  zum  Verfasser 
hat.  Nachdem  Samos,  diese  reingriechische  Insel,  in  den  Jahren  1821 
u.  f.  für  ihre  politische  Selbständigkeit  gekämpft  und  den  Unabhängig- 
keitskampf siegreich  durchgeführt,  jedoch  durch  den  Beschlusz  der 
europäischen  Diplomatie  nur  das  beschränkte  Recht  erlangt  hatte,  von 
einem  Griechen  beherscht  zu  werden,  hat  sich  das  dortige  Gemein- 
wesen auf  dem  Gebiete  der  Gesetzgebung  und  der  Finanzwirthschaft 
in  gleicher  Weise  vorteilhaft  entwickelt,  wie  dies  in  Ansehung  des 
öffentlichen  Unterrichts  der  Fall  ist,  indem  auf  der  Insel  Samos  gegen- 
wärtig nicht  nur  Schulen  für  Knaben,  sondern  auch  vier  Erziehungs- 
anstalten für  Mädchen  bestehen.  Auf  diese  alte  Mitkämpferin  und 
zweitgeborene  Schwester  Griechenlands  richtet  nun  zunächst  die  Mo- 
nographie des  Griechen  Stamatiadis  die  Aufmerksamkeit  seiner  Lands- 
leute, aber  sie  verdient  auch  die  Beachtung  des  gelehrten  Auslands. 
Der  wissenschaftlich  gebildete  Verfasser  hat  dabei  alle  ihm  zugäng- 
lichen Quellen  mit  allem  Eifer  und  ebenso  gewissenhaft  als  mit  ver- 
ständiger Kritik  benutzt,  und  er  bedient  sich  zur  Darstellung  der  Er- 
gebnisse seines  Studiums  und  seiner  Forschungen  einer  reinen  gefälli- 
gen Sprache.  Der  bisjetzt  allein  erschienene  erste  Band  umfaszt  die 
alte  Geschichte'  bis  zum  Jahre  1463,  wo,  nach  der  zehn  Jahre  früher 
erfolgten  Vernichtung  des  byzantinischen  Kaiserreichs,  die  Einwohner 
der  Insel  Samos  durch  Seeräuber  sich  genötigt  gesehen  hatten,  nach 
Chios  auszuwandern,  und  er  beschäftigt  sich  auszerdem  mit  der  Geo- 
graphie, den  Bewohnern  und  ihren  Beschäftigungen,  der  Religion,  dem 
Staatswesen,  den  Naturerzeugnissen  und  den  äuszeren  Beziehungen 
der  Insel.  In  einem  Anhange  enthält  das  Buch  eine  grosze  Anzahl  von 
teils  bereits  gedruckten,  teils  noch  ungedruckten  Inschriften  aus  Sa- 
mos, oder  solchen,  welche  von  Samos  handeln  und  auf  Samos-  Bezug 
haben.  Die  griechische  Kritik  empfiehlt  das  Buch  als  ein  fnicht  ge- 
wöhnliches' (uf]  £<prjuepov)  und  besonders  auch  als  zweckmäsziges  Mu- 
ster für  alle  diejenigen  griechischen  Gelehrten,  die  in  ähnlichen  Mono- 
graphien über  die  Geschichte  ihres  Vaterlandes  Licht  zu  verbreiten 
und  aufzuklären  beabsichtigen. 


Von  dem  Griechen  Ramphos«,  dem  in  Band  88,  Heft  1,  S.  41  er- 
wähnten Verfasser  der  historischen  Novelle:  *0  Kaxcavruj vrjc ,  ist  spä- 
ter eine  andere  Novelle  unter  dem  Titel:  cAl  TeXeuxctiai  r^pai  tou 
'AXfj-TTacä'  (Athen,  1862)  erschienen,  die  als  eine  weitere  Bereicherung 
der  romantischen  Litteratur  Griechenlands  angesehen  werden  musz.  Sie 
zeichnet  sich  besonders  durch  genaue  Kenntnis  der  Thatsachen,  Sitten 
und  Gebräuche,  durch  Wahrheit  der  Schilderungen,  Gewandtheit  und 
Gefälligkeit  der  Sprache,  so  wie  durch  Geschmack  der  Darstellung  aus, 
und  der  Verf.  hat  es  verstanden ,  bedeutsamen  Epochen  der  Geschichte 
des  griechischen  Volks  durch  eine  geschickte  dramatische  Behandlungs- 
weise  Leben  zu  verleihen  und  einzuathmen,  so  dasz  sein  Buch  zu  der 
in  Griechenland  seltenen  Classe  derer  gehört,  die  zugleich  belehren 
und  unterhalten. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Leipzig.  Th.  Kind, 


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Personalnotizen,  477 

Personalnotizen. 

(Unter  Mitbenutzung  des  fCentralblattes*  von  Stiehl  und  der  *  Zeit- 
schrift für  die  österr.  Gymnasien'.) 

Ernennungen,  Beförderungen,  Versetsungen,  Auszeichnungen. 

Altendorf,  H.  RM  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Deutsch- Cr one,  als 
«Oberlehrer'  prädiciert. 

y.  Arneth,  Alfr.,  k.  österr.  Regierungsrath,  zum  Mitglied  der  k.  bel- 
gischen Akademie  der  Wissenschaften  ernannt. 

Bellermann,  Dr.  Ludw.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zum 
grauen  Kloster  in  Berlin  angestellt. 

Bercio,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Bastenburg  an- 
gestellt 

Bergen roth,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Thorn,  als  f Ober- 
lehrer' prädiciert. 

Bischof,  Dr.,  ord.  Professor  in  der  phil.  Facultät  der  Univers.  Bonn, 
Geh.  Bergrath,  erhielt  den  k.  preusz.  rothen  Adlerorden  II.  Classe 
mit  Eichenlaub. 

Bracht,  Dr.,  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Aschersleben,  als  ordentl. 
Lehrer  am  Domgymnasium  zu  Magdeburg  angestellt. 

Brüggemann,  Dr.,  Geh.  Ober-Reg.-Rath ,  vortragender  Rath  im  geist- 
lichen Ministerium  zu  Berlin,  erhielt  das  Comthurkreuz  des  päpst- 
lichen Gregoriusordens. 

Orecelius,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Elberfeld,  als  'Ober- 
lehrer' prädiciert. 

Curtze,  M.,  SchAC.  am  Gymnasium* zu  Thorn, \ 

Dielitz     Dr.,  SchAC.  am  Gymn.  zum  grauen^       d   L  h 
Kloster  in  Berlin,  >  *"  «teilt 

Drenkhahn,  bisher  Collaborator  am  Gymn.  zui  " 

Stettin,  jetzt  am  Gymn.  zu  Stendal,  / 

v.  Drygalski,  Herrn.,  ord.  Lehrer  am  KneiphÖfschen  Gymnasium  zu 
Königsberg,  als  Oberlehrer  an  dem  Altstädtischen  Gymnasium  ebenda 
angestellt. 

Fenzel,  Dr.  Eduard,  ord.  Professor  an  der  Universität- Wien,  Director 
des  botan.  Gartens,  erhielt  das  Ritterkreuz  des  königl.  belg.  Leo- 
poldordens. 

Fiedler^ Jos.,  Archivar  des  geh.  Haus-,  Hof-  u.  Staatsarchivs  zu  Wien, 
zum  wirkl.  Mitglied?  der  k.  k.  Akademie  der  Wissenschaften  für 
die  philos.-hist.  Classe  ernannt. 

Fischer,  Herrn.,  SchAC.  am  Domgymnasium  zu\ 
Naumburg,  i 

Friedländer,  Dr.,  SchAC.  am  Friedrichsgym-f  als  ord.  Lehrer  ange- 
nasium  zu  Berlin,  /  stellt. 

Francke,  Dr.  Rieh.,  bisher  Lehrer  am  Gymna-1 
sium  zu  Gera,  jetzt  am  Gymn.  zu  Burg,      / 

Franke,  Dr.,  als  wissenschaftlicher  Hauslehrer  an  der  Raths-  und 
Friedrichsschule  zu  Cüstrin  angestellt. 

Gottschick,  Dr.,  Director  des  Pädagogiums  in  Putbus,  zum  Provin- 
zial-Schulrath  und  Mitglied  des  Provinzial-Schulcollegiums  in  Ber- 
lin ernannt. 

Gumlich,  Dr.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Friedrichsgymnasium  zu 
Berlin  angestellt. 

Haus s er,  Dr.  L„  ord.  Professor,  derzeit  Prorector  der  Universität 
Heidelberg,  groszh.  bad.  "Hofrath^  erhielt  das  Comthurkreuz  des 
groszh.  sächs.  Hausordens  vom  weiszen  Falken. 

Haidinger,  k.  österr.  Hofrath,  Director  der  geolog.  Reichsanstalt  zu 
Wien,  erhielt  das  Ritterkreuz  des  Leopoldordens. 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  o.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  9.  32 


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478  Personalnotizen. 

Heinrich,  Religionslehrer  an  der  Bürgerschule  zu  Neustadt  in  Ober- 
schlesien,   in  gleicher  Eigenschaft  an  das  Gymnasium  zu  Sagan 
versetzt. 
Heissing,  Hülf sichrer  am  Progymnasium  zu . 

Dorsten,  f  als  ord.  Lehrer  ebendas 

H  e  u  w  i  n  g ,  Hülfslehrer ,  Vicar  am'  Progynon,  j  angestellt 

zu  Dorsten,     %  ' 

Herbst,  Friedr.,  SchAC.  an  der  Friedrich- Wilhelms -Schule  zu  Stettin 

als  Collaborator  angestellt. 
Heyland,  Th.  Fr.,   SchAC.  am  Gymn.  zu  Salzwedel  als  ord.  Lehrer 

angestellt. 
Höpfner,  Dr.  E.,  ord.  Lehrer  am  Wilhelms-Gymnasium  zu  Berlin,  als 

Oberlehrer  an  das  Gymnasium  *zu  Neuruppin  berufen. 
Jacob,  Joh.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Colberg  angestellt. 
Jelinek,  Dr.  Karl»  Professor  u.  Director  der  k.  osterr.  Centralanstalt 

für  Meteorologie,  zum  corresp.  Mitglied  der  mathemat.  naturwiss. 

Classe  der  k.  k.  Akademie  der  Wiss.  zu  Wien  ernannt. 
Jerzykowski,  Dr.  Professor ,    bisher > Oberlehrer   am  Gymnasium  zu 

Trzemeszno,    in    gleicher  Eigenschaft   am  Marien -Gymnasium  zu 

Posen  angestellt. 
Kleine,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Burgsteinfurt,  als  Oberlehrer 

am  Gymn.  zu  Cleve  angestellt. 
Kneisel,  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Bonn,  erhielt  den  konigl.  preusz. 

rothen  Adlerorden  IV  Cl. 
Krause,  Dr.  H.,  Bedacteur  der  prot.  Kirchenzeitung  in  Berlin,  wegen 

seiner  Verdienste  um  die  prot.  Kirche  und  Theologie  von  der  Uni- 
versität Zürich  aus  Anlasz  der  Calvinfeier  zum  Doctor  der  Theo- 
logie ernannt. 
Krosta,  Dr.,  bisher  Hülfslehrer,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu 

Bastenburg  angestellt. 
Langen,  Dr.,  bisher  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Trier,  in  gleicher 

Eigenschaft  am  Gymn.  an  März  eilen  zu  Cöln  angestellt. 
Likowski,  Licentiat  der  Theologie,  als  Religionslehrer  am  Marien- 
gymnasium zu  Posen,  sowie  als  Subregens   des  mit  diesem  Gymn. 

verbundenen  Alumnats  angestellt. 
Lothholz,  Dr.,   Professor*  am  Gymn.  zu  Wernigerode,   zum  Director 

des  Pädagogiums  in  Putbus  ernannt 
Magnus,  Dr.  G.,   ord.  Professor  u.  geh.  Begierungsrath   an»  der  Univ. 

Berlin,  zum  Mitglied  des  Curatoriums  der  Bergakademie  ernannt. 
Meyer,  Dr.  Emil,  bisher  Privatdocent  an  der  Univ.  Göttingen,    zum 

ao.  Professor  in  der  philos.  Fac.  der  Univ.  Breslau  ernannt. 
Molstein,  Dr.,  Gymnasiallehrer,   als  ord.  Lehrer  am  Domgymnasium 

zu  Magdeburg  angestellt. 
Mosenthal,  Dr.  A.,  dramatischer  Dichter,  zum  Bibliothekar  des  k.  k. 

österr.  Staatsministeriums  in  Wien  ernannt. 
Bänke,  Seminardirecto r  in  Barby,  zum  ev.  Begierungs-  und  Schulrath 

bei  der  Begierung  in  Liegnitz  ernannt. 
Bichter,  Dr.  Arthur,   ord.  Lehrer  am  Domgymnasium  zu  Magdeburg, 

in  gleicher  Eigenschaft  am  Domgymn.  zu  Halberstadt  angestellt. 
Bitschi,  Dr.,  ord.  Professor  u.  Oberbibliothekar  an  der  Univ.  Bonn, 

geh.  Begierungsrath,  erhielt  das  Bitterkreuz  des  k.  hannov.  Guel- 

fenordens  und  das  Bitterkreuz  I  Cl.  des  groszh.  sächs.  Hausordens 

vom  weissen  Falken. 
Boren,    Dr.,  Director  der  Bitterakademie  zu  Bedburg,    zum  Director 

des  Gymnasiums  in  Brilon  berufen.' 
Bolle tt,  Dr.  Alex.,  ord.  Professor  der  Physiologie  an  der  Universität 

Gratz,  zum  corresp.  Mitglied  der  mathem.  naturwiss.  Cl.  der  k,  k* 

Akademie  der  Wiss.  in  Wien  ernannt. 


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Personalnotizen.  479 

# 

Rose,  Dr.  G.,  orä.  Professor  u.  geh.  Regierungsrath  an  der  Univ.  Berlin, 

zum  Mitglied  des  Curatoriums  der  Bergakademie  ernannt« 
Rothenburg,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Prenzlau  angestellt 

Saal,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  an  Marzellen  zu  Cöln,  als  Pro- 
fessor' prädiciert. 

Saraland,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Neustadt  In  Westpreuszen, 
zum  Oberlehrer  befördert. 

Schindler,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Tilsit,  als  Professor 
und  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Elbing  angestellt. 

Schröder,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Oleve  angestellt. 

Schwarzlose,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Insterburg,  zum 
Oberlehrer  ebenda  befördert. 

Sengebusch,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zum  grauen  Kloster  in 
Berlin,  zum  Oberlehrer  befördert  und  demnächst  als  'Professor* 
prädiciert. 

Stiehl,  Regierungs-  und  Schulrath  in  Magdeburg,  in  gleicher  Eigen- 
schaft an  die  Regierung  und  das  Provinzial-Schulcollegium  in  Stettin 
versetzt. 

Stürzebein,  Dr.  Seh  AG.,  als  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Greifen- 
berg angestellt. 

Tomaszewaki,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasinm  zu  Neustadt  in  West- 
preuszen, als  'Oberlehrer'  prädiciert. 

Tuch,  Dr.  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Wittenberg  angestellt. 

Voigt,  Dr.,  Hauptpastor  zu  Stade  in  Hannover,  zum  ord.  Professor  in 
der  theol.  Fac.  der  Univ.  Königsberg  ernannt. 

Volkmann,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymn,  zu  Thorn,  als  Oberlehrer  an 
das  Gymn.  zu  Duisburg  berufen. 

Vollhering,  Hülfslehrer,  als  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Göslin  angestellt. 

Weber,  Dr.,  kathol.  Religionslehrer  am  Gymn.  zu  Sagan,  in  gleicher 
Eigenschaft  an  das  kath.  Gymn.  zu  Breslau  versetzt. 

Weierstrasz,  Dr.,  ao.  Professor  in  der  philos.  Fac.  der  Uni v-  Berlin, 
zum  ord.  Professor  ebenda  ernannt. 

Weisz,  Dr.  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Thorn  angestellt. 

Winiewski,  Dr.,  ord.  Professor  in  der  phih  Facult.  der  Akademie  zu 
Münster,  erhielt  den  Charakter  als  cGeheimer  Regierungsrath'. 

Worpitzky,  Dr.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Friedrichsgymnasium  zu 
Berlin  angestellt. 

Wunder,  Dr.  Herrn.,  bisher  Oberlehrer  an  dem  Gymnasium  zu  Plauen, 
in  gleicher  Eigenschaft  an  die  k.  Landesschule  zu  Grimma  versetzt. 

Wutzdorf,  Dr.,  bisher  ord.  Lehrer  am  Domgymnasium  in  Halberstadt, 
zum  Rector  der  höheren  Bürgerschule  in  Langensalza  ernannt. 

In  Ruhestand  gesetzt  (auf  ihr  Ansuchen): 
v.  Lühraann,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Stralsund. 
Meuaa,  Dr.,  Ober-Regierungsrath,  Dirigent  der  Abteilung  für  Kirch en- 
und  Schulwesen  bei  der  Regierung  zu  Frankfurt,  unter  Ernennung 
zum  Ehrenmitgliede  des  Regierungscollegiums  und  Verleihung  des 
k.  preusz.  Kronenordens  II  Cl. 
Mozart,  Joseph,   k.  k.   Rath  im  Staatsministerium  zu  Wien  (Mitbe- 
gründer u.  Mitredacteur  der  Zeitschrift  für  die  österr.  Gymnasien'). 

Anderweitig  ausgeschieden: 

Berthold,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Stendal. 

•St  üb  er,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Domgymnasium  zu  Halberstadt. 

Gestorben: 

Fay,  Andreas,  f  am  26  Juli  im  Alter  von  78  Jahren.     (Durch  Ueber-  . 
Setzungen    und  eigene  Dichtungen  hochverdient  um  die  ungarische 
Liitteraiur,  berühmter  Redner  und  Deputierter  des  Pesther  Comitats). 


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480  Personalnotizen. 

Fluck,  Joh.  Jacob,  Dr.  Th.,  Stadtpfarrer  und  vordem  ord.  Professor 
an  der  kath.  theol.  Fac.  'der  Univ.  Gieszen,  f  im  Anfang  Juli. 

Geffken,  Job.,  Dr.  theol.  n.  phil.,  Prediger  zu  St.  Michaelis  in  Ham- 

l  bürg,  t  am  ^  Octbr.  (Eifriger  Forscher  der  Hamburg.  Geschichte 
und  als  Förderer  des  Gustav-Adolf-Vereins  weitbekannt.) 

Gerlach,  Dr.  G.  W.,  ord.  Professor  der  Philosophie,  Senior  der  Uni- 
vers.  Halle ,  f  am  1  Octbr.  im  fast  vollendeten  78  Lebensjahr.  (Der 
letzte  jener  Professoren,  welche  nach  Aufhebung  der  Universität 
Wittenberg  von  dort  nach  Halle  übersiedelten.) 

Hasselbach,  Dr.,  emerit.  Director  des  Gymnasiums  zu  Stettin,  starb 
83  Jahr  alt,  am  29  Juni  ebenda. 

Held,  Dr.,  Director  des  Gymnasiums  zu  Schweidnitz. 

Hinze,  Oberlehrer,  Professor  am  Gymnasium  zu  Brieg. 

Hohenegger,  Ludw.,  erzherzogl.  Hüttendirector,  Mitglied  der  k.  k. 
geolog.  Reichsanstalt  in  Wien,  f  am  25  Aug.  in  Teschen.  (Von  ihm 
u.  a.  ein  gediegenes  geologisches  Werk  über  die  Earpathen.) 

Huyn,  Dr.,  commiss.  Rector  an  der  höh.  Bürgerschule  zu  Saarlouis. 

Junghuhn,  Dr.  Franz,  f  52  Jahr  alt,  am  20  April  auf  Java.  (Seit 
langen  Jahren  für  Erforschung  des  indischen  Archipels-  thätig. 
(Java,  seine  Gestalt,  Pflanzendecke  und  innere  Bauart'  3  Bde.  ff.) 

K  ab  seh,  Dr.  Willi.,  Privatdocent  der  Botanik  an  der.  Univ.  Zürich, 
verunglückte   am  20  Juni  bei  einer  Besteigung  des  hoben  Säntis. 

Knar,  Dr.  Joh.,  42  Jahr  lang  ord.  Professor  der  höhern  Mathematik 
ander  Univ.  Gratz,  f  am  1  Juni,  64  Jahr  alt.  (Sein  letztes  demnächst 
zur  Veröffentlichung  gelangendes  Werk  'Die  harmonischen  Reihen'.) 

Kuhlmey,  Dr.,  Licentiat  der  Theologie,  Lehrer  am  Gölnischen  Gym- 
nas.  zu  Berlin,  f  ebenda  am  10  Juli.  (Durch  seine  Forschungen  in 
der  deutschen  Literaturgeschichte  und  Sprachwissenschaft  ehren- 
voll bekannt.) 

Matter,  Jac,  Professor  am  protest.  Seminar  zu  Straszburg,  im  Jahre 
1846  Mitgl.  des  obersten  Unterrichtsrathes  in  Paris,  f  am  23  Juni, 
73  Jahr  alt.     (Histoire  du  Ghristianisme.  Histoire  du  Gnosticisme.) 

Michael,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Sagan. 

Muni  er,  Dr.,  Prof.  am  Gymn.  zu  Mainz,  Stadtrath,  ertrank  am  19  Juni. 

Muttke,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Neisse. 

Neumann,  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Münster. 

Passow,  Dr.,  Director  des  Gymnasiums  in  Thorn,  f  am  3  Aug. 

Puls,  Dr.,  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Gleiwitz. 

Reboul,  Jean,  als  Naturdichter  bekannt  und  durch  A.  Dumas  u.  La- 
martine (sein  Vorbild)  in  die  Litteratur  eingeführt,  f  zu  Nimes  sm 
-  29  Mai  nach  langen  Leiden.  (Er  war  1796  geb.  und  hat  zeitlebens 
das  Bäckerhand  werk  betrieben.  fPoe,sies'.  1836  erste  Sammlung. 
1846  zweite  Sammlung.) 

Schacht,  Dr.  Hermann,  ord.  Prof.  an  der  Univ.  Bonn,  Director  des 
botan.  Gartens  daselbst.  (Epochemachende  Forschungen  auf  dem 
Gebiete  der  Pflanzenphysiologie.) 

Schneemann,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Trier,  f  am  9  Juli. 

Sigismund,  Dr.  Berthold,  früher  Arzt,  dann  Professor  am  Gymnasium 
zu  Rudolstadt,  Mitarbeiter  an  dieser  Zeitschrift,  f  45  Jahr  alt  am 
11  August  in  Folge  heftiger  Blutstürze.  (Gemütvoller,  inniger  Ly- 
riker, feinster  Beobachter  u.  Darsteller  des  Volks-  u.  Naturlebens.) 

Szalay,  Ladisl.,  f  im  Alter  von  50  Jahren  am  17  Juli  zu  Salzburg. 
(Der  bedeutendste  Geschichtschreiber  Ungarns;  im  J.  1848  Gesandter 
der  ungar.  Regierung  bei  der  deutschen  Centralgewalt  in  Frankfurt.) 

Vorreiter,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Gymn.  zu  Gütersloh,  f  a™  14  Juni. 

Walter,  Dr.,  ord.  Lehrer  am  Progymn.  zu  Freienwalde,  f  "&  ^wa^- 


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Zweite  Abteilung. 


22  te    ?  mS  ShakßPeare's-   W.,  ^halten  an,  «April        he"e 
Gvl,      ^y,mnaslum    zum   h-   ««uz    zu  Dresden.     Vom 
Gymna8laUehrer  Dr.  F.  Schöne  in  Dresden  42q     .  ,., 

?et  raDnr;/"     eldorrf' den  29  März  i864-  v°m 

(•20  ^  tv  *'  Hansen   in  Lennep      ...  44o      ,fin 

Kurze  InzLi         ?"J.   V?  Pr°fe8S°r  Ed'  Ö/öw^  in  Lissa     ^1  -  466 

^^  B7ri2lUn,    MiSCeUen *>6-476 

schul!  I  ^e  Versammlung  von  Gymnasial-  undReal- 

XV   Die     *hn  ZU  °scherslebei1  am  Sn  Mai  d.  J •  466-469 

lehre/16     nte  Versammlun£  mittelrheinischer  Gymnasial- 
en A'  ZUB  Weinheim    a-    d'   Bergstrasze   am   17  Mai  1864. 

XVI.    Vers         " 469-472 

Altma  tmmlun^  von   Gymnasial-  und  Reallehrern  in   der 

Vn„    «      Ulld  der  JPi'ieg-nitz  zu  Seehausen  am  19  Juni  1864. 
yo«  ZJ.  in   o 

XV#-  Mis     ii *     •  472~474 

(XIII).   Litr            V°m  Kector   Dr'   Ed%  Niemeyer  in  Dresden  474 
Grie  h          ische   lmd    eulturhistorische  Mitteilungen   aus 

^rSona;n  t6.nIaild  (2)-     Von    Th'  Kind  m  LeiPziS 475-476 

°  1Zen    ■     • 477—480 


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Leipzig, 

Druck   und  Verlag  von    B.    G.     Teubner. 


1S64. 


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Zweite  Abteilung: 

für  Gymnasialpädagogik  und  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschlusz  der  classischen  Philologie, 
herausgegeben  von  Professor  Dr.  Hermann  Mas  ins. 


36. 

Noctes  scholasticae. 
Nr.  2. 


Mechanisch  und  denkend. 

1  Die  beiden  Begriffe,  welche  an  der  Spitze  dieses  Aufsatzes  stehen, 
!  gehören  zu  denen,  welche  mir  in  meinem  Lehen  die  gröste  Sorge  und 
!  den  grösten  Verdrusz  gemacht  haben:  die  gröste  Sorge,  weil  von  der 
richtigen  Einsicht  in  sie  die  richtige  Gestaltung  und  Haltung  all  und  je- 
des Unterrichts  abhängt,  den  grösten  Verdrusz,  weil  es  mir  immer 
schwer  gefallen  ist,  für  diese  Begriffe  eine  scharfe  Formel  zu  finden. 

Es  ist  mir  oft  begegnet,  über  das  mechanische  Verfahren  eines  Leh- 
rers bei  seinem  Unterrichte  Klagen  zu  hören ;  so  oft  ich  aber  auch  ge- 
fragt habe,  welchen  Unterricht  man  mechanisch  nenne,  und  wodurch  er 
sich  von  einem  auf  Denken  gegründeten  und  auf  Anregung  zum  Denken 
hinstrebenden  unterscheide,  so  habe  ich  mich  stets  mit  einigen  allgemei- 
nen Redensarten  begnügen  müssen.  Ist  der  Unterschied  zwischen  beiden 
etwa  ein  flieszender,  nur  auf  ein  gewisses  Verhältnis  der  Mischung  hin- 
auslaufender? oder  liegt  er  so  auf  der  Hand,  dasz  man  ihn  als  selbst- 
verständlich voraussetzen  kann?  Mir  für  meine  Person  ist  die  Schwierig- 
keit diese  Begriffe  zu  fassen  stets  grosz  erschienen,  und  ich  schreibe  auch 
jetzt  diese  Worte,  nicht  als  ob  ich  über  diese  Schwierigkeit  hinaus  zu 
sein  wähnte,  sondern  um  vorläufig  damit  abzuschlieszen  und  für  mich 
selbst  wie  für  andere  einen  Standpunkt  zu  gewinnen ,  von  dem  aus  neue 
Schritte  zu  neuen  Untersuchungen  gethan  werden  könnten. 

Hieraus  wird  man  sich  den  Verdrusz  erklären  können,  von  dem 
ich  oben  gesprochen  habe;  gröszer  noch  ist  die  Sorge,  die  diese  Be- 
griffe jedem  Schulmanne  verursachen.  Welche  Schäden  entstehen  da- 
durch von  der  untersten  Classe  an  bis  zur  obersten  hinauf,  wenn  es 

N.Jahrb.f.Phl!.„.Pad.II.  Abt.  1864.  Hit  10.  ILdbyGoOgk 


1 


Zweite  Abteilung: 

torGymnasialpädagosik  uod  die  Obrfgeo  Lehrfächer 

m»t  AusscLIusz  der  cWschen  Phflologie 
«mm,gegebcn  r«  l'rofosser  0,.  flfrmailü  M.sin*. 


36. 

Nocles  scholasticae 
Nr.  2. 


Mechanisch  und  denkend. 


bttn  V,,,l  „s,  *    , ,       ,'",  ""'T  Let,en  die  8^le  Sorg«  „,,„ 

BefaUen  ist,  i,i,  die«l£2S.    Vord«-«",   «,i!  es   mir 
■  *'  mir  oftVelS    m      T     '""  SC,';"'ft!  Fonuel  z"  '"'''™- 

1  *»  'h,,,  '     f  i>e        '  ;  m;U:  '"«'»»•«I,  nenne,  und  w,„h„ 

■n  gä  i  ?  r '  S,letS  !'"''  ""'S"1  aM«croe" 

mwxendcr    nu    a  f   ■  n  ,,(T,  "'tc™l.i,d  tische,,  beiden 

<lu     nu,  au    ,m  ,,e,v  Ve,.]i;illiijs  (|oi 

'»  ««n  Lann;  Mir  für  meine  Person  fsl  die  Scfmie 

»lere  ein ,,  S ,i  i  »««uschlieszen   und  Tür  luidk 

«««  einen  StandpüDkt  ,u  gawta,,    ,,lü  ,,,,„ 

hm  f  olonudiungen  geüi«,  „erden  ktaata. 

«*n   sich  den  Verdrns,  „  L, -„;„,, 


habe;  grösser  nod,  fsl 


•  1 1  •-  ■ 


'  *t*n  Ui«»se  an  bu  tu  ioaiif.  rt 

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482  Noctes  scholasticae. 

beim  Unterricht  an  dem  Einen  oder  dem'Andern  ganz*  fehlt,  ja  wenn  auch 
nur  das  Eine  so  praevaliert,  dasz  das  Andere  nicht  zu  seinem  vollen  Rechte 
kommen  kann!  Hier  bleibt  ein  Lehrer  ganz  im  Mechanischen  stecken, 
dort  weisz  ein  anderer  Lehrer  es  nicht  zum  AbschJusz  eines  denkend  ge- 
haltenen Unterrichts  im  Mechanischen  zu  bringen.  Denn,  dasz  ich  es 
schon  hier  offen  ausspreche,  dem  Unterricht  der  Schule  ist  das  Eine  eben 
so  notwendig  wie  das  Andere ;  hierin  liegt  aber  zum  Teil  auch  seine 
grosze  Schwierigkeit  und  der  Grund,  warum  es  verhältnismäszig  mehr 
gute  akademische  Docenten  als  Lehrer  gibt.  Der  Lehrer  musz  eben  in 
zwei  Sätteln  gerecht  sein,  und  es  gibt  wenige,  welche  hierzu  geschickt 
sind. 

Und  an  dieser  Einsicht,  dasz  nämlich  der  Schulunterricht  beide  Ele- 
mente in  sich  verbinden  müsse,  sehen  wir  es  so  unendlich  fehlen.  An 
diesem  Mangel  krankt  oft  eine  ganze  Glasse  oder  eine  Lection  durch 
mehrere  Classen ,  scheitert  oft  alle  Muhe  und  Sorge ,  welche  treue  und 
gebildete  Lehrer  auf  ihren  Beruf  verwenden.  Durchschnittlich  freilich  so, 
dasz  in  den  untern  Classen  das  Denken  durch  das  Mechanische  überwu- 
chert und  erstickt  wird,  in  den  obern  Classen  umgekehrt  das  Mechanische 
nicht  zu  seinem  Rechte  kommen  kann;  aber  auch  in  entgegengesetzter 
Weise.  Wir  unsrerseits  sind ,  um  unsere  Ansicht  in  möglichst  scharfer 
Weise  schon  hier  auszusprechen,  der  Meinung,  dasz  aller  Unterricht 
durch  drei  aufeinanderfolgende  Stadien  hindurchgehen 
müsse,  und  zwar,  indem  er  mit  dem  Mechanischen  beginnt,  von  diesem 
zum  Denken  übergeht  und  endlich  zum  Mechanischen  zurückkehrt.  Wir 
haben  daher  gleich  von  vorn  herein  nicht  gefragt,  ob  mechanisch  oder 
denkend,  sondern  mechanisch  und  denkend  als  notwendig  zueinander- 
gehörend  bezeichnet. 

Wirdürfen  uns  hier  der  Pflicht  überheben,  den  Procesz  zu  verfolgen, 
in  welchem  sich  das  Seelenleben  des  Menschen  vollzieht  von  den  ersten 
Eindrücken  an ,  welche  die  Seele  von  der  sie  umgebenden  Welt  erfährt. 
Die  neuere  Zeit  hat  hierfür  viel  gethan:  namentlich  auf  Her  hart  müs- 
sen wir  verweisen  und  die  Werke ,  welche  aus  Herbart's  Schule  hervor- 
gegangen sind.  Die  sogenannte  speculative  Philosophie- hat  für  die  Psy- 
chologie wenig  oder  nichts  geleistet.  Ein  Analogon  aus  einem  andern 
Gebiete  mag  uns  zu  unserer  Betrachtung  den  Uebergang  erleichtern. 

Ein  bedeutender  und  zu  seiner  Zeit  viel  geltender  und  viel  ange- 
feindeter Meister  des  Orgelbaus  war,  um  den  scharfen,  schneidenden  Ton 
gewisser  einzelner  Pfeifen  zu  vermeiden,  auf  den  Gedanken  gekommen, 
denselben  Ton ,  aber  voller ,  runder ,  durch  eine  Combination  von  einer 
Anzahl  Pfeifen  herzustellen.  Dieser  Versuch  gelang  ihm  auf  eine  über- 
raschende Weise.  Ich  kenne  selbst  mehrere  Orgeln,  an  denen  er  diese 
seine  Orgelmixturen,  so  nannte  er  jene  Mixturen,  mit  glänzendem 
Erfolge  angewendet  hat.  Der  mechanische  Unterricht  ist  jenen  einzelnen 
Flöten ,  der  denkende  diesen  Orgelmixturen  vergleichbar.  Auch  im  Den- 
ken ist  eine  Anzahl  von  Tönen  zu  einer  volleren  einheitlichen  Wirkung 
vereinigt.  Werfen  wir,  um  dies  klarer  zu  erkennen,  einen  flüchtigen  Blick 
auf  die  Vorgänge  unseres  inneren  Lebens. 


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Noctes  scholasticae.  483 

Wir  sehen  hier  eine  unabsehbare  Reihe  von  mannigfaltigsten  Be- 
wegungen und  Veränderungen  in  rascher  Aufeinanderfolge,  ein  ununter- 
brochenes Fluctuieren  namentlich  von  Vorstellungen ,  welche  in  diesem 
Augenblicke  sich  bilden,  emporgehoben  und  Objecte  unserer  Aufmerksam- 
keit werden,  im  nächsten  Augenblicke  vor  andern  zurückweichen  und 
gleichsam  unter  das  Niveau  unseres  Auges  herabsinken,  wo  sie  bald  völ- 
lig versinken  und  für  immer  untergehen,  bald  aber  des  Momentes  warten, 
iu  dem  sie  durch  andere  Vorstellungen  wieder  zum  Leben  erweckt 
und  in  das  ßewustsein  zurückgerufen  werden  sollen.  Ist  nun  das  erste 
Entstehen  dieser  Vorstellungen  von  dem  zufalligen  Einwirken  der  äusze- 
ren  Welt  abhängig,  so  dasz  wir  uns  hierbei  mehr  leidend  als  thätig  ver- 
halten, so  ist  die  Einwirkung ,  welche  die  Vorstellungen  auf  einander 
ausüben,  eine  solche,  welche  zum  Teil  wenigstens  eben  so  nach  gewissen 
psychischen  Gesetzen  erfolgt,  wie  die  Veränderungen  in  der  Natur 
um  uns  her  nach  gewissen  physischen  Gesetzen  geschehen.  Die  in 
jedem  Augenblick  gleichsam  eulminierenden  Vorstellungen,  auf  welche 
die  momentane  Aufmerksamkeit  fällt,  mögen  mehr  und  mehr  unter  dem 
Einflusz  des  Zufalls  stehen ;  die  Art  und  Weise  jedoch ,  wie  die  einmal 
entstandenen  Vorstellungen  andere  zurückdrängen ,  dann  selbst  herabsin- 
ken, dann  wieder  durch  neue  Vorstellungen  reproduciert  werden,  die  Art 
und  Weise,  wie  die  Vorstellungen  sich  assoeiieren  und  aus  wiederholten 
Associationen  dauernde,  feste  Gedankenverbindungen  und  abgeschlossene 
Gedankenkreise  hervorgehen  usw.  ist  eine,  wie  die  Beobachtung  lehrt, 
zum  Teil  von  Zufälligkeit  freie,  gleichmäszige  und  normale.  Zum 
Teil,  sage  ich;  denn  allerdings  ist  in  diesen  Bewegungen,  so  weit  wir 
ihnen  folgen  können,  auch  ein  aller  Analogie  Widerstreitendes  und  Unbe- 
rechenbares. 

Indes  diese  Welt  der  in  uns  auf  und  ab  wogenden,  sich  erhebenden 
und  sinkenden  Vorstellungen  erweitert  sich.  Durch  die  Beziehungen  der 
Vorstellungen  auf  einander  werden  in  uns  neue  Vorstellungen  hervorge- 
rufen und  befestigt,  welche  nicht  mehr  Bilder  äuszerer  Wahrnehmungen 
sind,  sondern  innere  Produktionen ,  wie  die  der  Zeit,  der  Causalität  usw. 
Ferner  treten  mehrere  einzelne  Vorstellungen  von  gleichartigen  Gegen- 
ständen von  selber  zu  einer  Gesamtvorstellung  zusammen,  in  welcher 
allerdings  die  individuellen  Züge  jener  erbleichen  und  sich  verwischen, 
dagegen  die  gemeinsamen  und  notwendigen  Merkmale  sich  verdichten  und 
eineConsistenz  gewinnen.  Und  wie  unter  gewissen  Verhältnissen  die 
Vorstellungen  zu  Gefühlen  und  zu  Willensstrebungen  werden,  so  wirken 
diese  wieder  auf  die  Bildung  und  Weiterbildung  von  Vortellungen  zurück. 
Die  Aufmerksamkeit,  welche  vorher  bewustlos  auf  einem  Teile  des  Wahr- 
genommenen ruhte,  wird  nunmehr  zu  einer  gewollten  und  steigert  sich 
zur  Beobachtung,  welche  sich  nicht  blosz  auf  äuszere  Erscheinungen 
richtet,  sondern  auf  die  Vorgänge  im  eigenen  Innern,  so  dasz  das  Uner- 
hörte geschieht,  dasz  der  agierende  Schauspieler  zugleich  auf  der  Bühne 
weiterspielt  und  von  der  Bühne  herabsteigt,  um  von  unten,  unter  die  Zu- 
schauer gemischt,  sein  eigenes  Spiel  zu  beobachten.  Und  wie  vorher  die 
Einzelvorstellungen  sich  von  selber  zu  Gesamtvorstellungen  verbanden, 

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484  Noctes  scholasticae. 

so  nimmt  jetzt  das  Vorstellen,  unter  dem  Einflusz  des  Willens  und  dieser 
seiner  Absicht  sich  bewust,  diese  Operation  des  Abstrahierens  vor,  um 
zu  gewissen  erstrebten  Resultaten  zu  gelangen.  Andererseits  unterwirft 
es  die  Vorstellungen ,  welche  es  in  sich  als  schon  gebildete  und  fertige 
vorfindet,  seiner  Kritik,  um  sie  in  ihre  elementaren  Bestandteile  aufzu- 
lösen und  den  Procesz,  durch  den  sie  entstanden  sind,  noch  einmal  durch- 
machen zu  lassen.  So  wie  oben  die  Association  der  Vorstellungen  bald 
nach  gewissen  Gesetzen  bald  regellos  geschah ,  'so  wirkt  jetzt  der  Wille 
in  einer  solchen  Weise  auf  das  Denken  ein ,  dasz  diese  Association  mit 
Be wustsein  vorgenommen  und  das  Spiel  des  Zufalls  und  der  Phantasie 
dabei  abgeschnitten,  auch  nicht  das  zufällige  Eintreten  derselben  abge- 
wartet, sondern  von  vorn  herein  mit  Bewustsein  erstrebt,  angeregt,  ge- 
leitet und  beschränkt  werde. 

Doch  es  ist  kaum  nötig  unsere  Betrachtung  dieser  Phaenomene  un- 
seres inneren  Lebens  noch  weiter  auszudehnen;  wir  bedurften  dieser 
Lehnsätze  aus  der  Psychologie  nur,  um  daraus  gewisse  Folgerungen  zu 
ziehen ,  die  uns  für  das  Folgende  zu  einer  Art  Basis  dienen  könnten.  In 
dieser  Welt  bewegt  sich  auch  die  Thätigkeit  des  Lehrers,  und  zwar  der 
Teil  derselben,  welcher  uns  hier  speciell  beschäftigt,  der  Unterricht. 
Wir  fassen  diese  Folgerungen  in  einer  Reihe  von  Thesen  zusammen. 

1.  In  der  Seele  findet  eine  ununterbrochene  Bewegung  statt,  indem 
in  ihr  in  rastlosem  Wechsel  Vorstellungen  entstehen,  verschwinden,  wie- 
der entstehen,  zum  Teil  durch  gleiche  Eindrücke  von  auszen  (unmittel- 
bare Reproduction),  zum  Teil  durch  andere  Vorstellungen  nach  den 
Gesetzen  der  Vorstellungsassociation  (mittelbare  Reproduction) 
wieder  belebt. 

2.  Diese  Processe ,  welche  sich  natürlich  und  ohne  unser  Zulhun 
vollziehen,  können  unter  die  Herschaft  des  Willens  gestellt  und  mit 
Bewustsein  zu  einem  bestimmten  Zwecke  vorgenommen  und  darnach  ge- 
ordnet, geregelt  und  auf  bestimmte  Ziele  hingeleitet  werden.  Der  Unter- 
richt hat  die  Verpflichtung  dies  zu  thun. 

3.  Unter  dieser  Leitung  kann  ebensowol  die  unmittelbare  Repro- 
duction der  Vorstellungen  bis  zur  völligen  Befestigung  dieser  Vorstellun- 
gen wiederholt  als  auch  hierfür  die  Association  der  Vorstellungen  ver- 
wandt werden.  Die  erstere  Art  des  Unterrichts,  welche  auf  unmittelbarer 
Reproduction  ruht,  ist  der  mechanische,  die  zweite,  welche  auf  Re- 
production durch  Association  ruht,  der  denkende  Unterricht. 

4.  Der  mechanische  Unterricht  hat  seine  Aufgabe  erfüllt,  wenn 
durch  ihn  eine  Vorstellung  oder  ein  gröszeres  Ganze  von  Vorstellungen 
innere  Consistenz  erworben  hat. 

5.  In  dem  auf  Association  der  Vorstellungen  basirlen  Unterricht  ist 
zunächst  das  Willkürliche  und  Regellose  in  der  Association  zu  verhindern. 
Die  Zerstreuung  und  Zerstreutheit  des  jugendlichen  Alters  be- 
steht eben  hierin,  dasz  die  Association  der  Vorstellungen  sich  selber  über- 
lassen bleibt,  anstatt  unter  die  Herschaft  des  Willens  gestellt  zu  werden. 

6.  Die  Verknüpfung  von  Vorstellungen  behufs  des  Unterrichts  ist 
teils  eine  notwendige  teils  eine  ingeniöse.   Notwendig  ist  diejenige 


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Noctes  scholasticae.  485 

Verknüpfung  von  Vorstellungen ,  welche  entweder  in  der  Natur  des  Den- 
kens oder  in  dem  Inhalt  jener  Vorstellungen  begründet  ist.  Ingeniös  mö- 
gen die  Verknüpfungen  heiszen,  welche  anscheinend  willkürlich,  in  der 
That  aber  auf  die  Erreichung  des  vorschwebenden  Zweckes  berechnet  sind. 

7.  Die  notwendige  Verknüpfung  von  Vorstellungen  ist  entweder 
eine  analytische  oder  eine  synthetische.  Die  erstere  löst  die  Vor- 
stellung, welche  als  eine  fertige  vorliegt,  in  die  Elemente  auf,  aus  denen 
sie  gebildet  ist,  die  zweite  nimmt  diese  Vorstellung  als  ein  Ganzes  auf 
und  weist  ihr  ihre  Stellung  zu  andern  Vorstellungen  an. 

8.  Diese  andern  Vorstellungen  sind  entweder  solche,  welche  über, 
oder  solche,  welche  neben  jener  liegen.  In  dem  ersteren  Falle  erhält 
die  Vorstellung  ihren  Platz  in  einein  allgemeineren ,  in  einem  gröszeren 
Umfang;  in  dem  zweiten  Falle  wird  sie  mit  andern  ihr  verwandten  Vor- 
stellungen in  Berührung  gesetzt. 

9.  Die  Verknüpfung  der  Vorstellungen  ist  eine  affirmative  oder 
eine  negative.  Zwar  liegt  auch  in  dem  affirmativen  Urteil  eine  Nega- 
tion. Denn  indem  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  Gegenstand  gerichtet 
ist,  weist  sie  zugleich  alle  übrigen  sich  herandrängenden  Vorstellungen 
von  sich  ab. 

10.  Nachdem  der  Procesz  des  Denkens  zu  einem  bestimmten  Zwecke 
vollzogen  und  das  beabsichtigte  Resultat  erreicht  ist,  treten  die  einzelnen 
Momente  der  Denkoperation  wieder  zurück  und  die  gewonnene  Kenntnis 
oder  Fertigkeit  wird  wieder  ein  Element  für  neue  geistige  Processe.  Da- 
mit sie  dies  könne,  musz  sie  wieder  die  Natur  eines  mechanischen  d.  h. 
nicht  mehr  vermittelten  Wissens  oder  Könnens  annehmen. 

Auf  diese  Weise  vollzieht  sich  in  unwandelbar  gleichen  Bahnen  die 
Bewegung  des  Denkprocesses :  vom  Mechanischen  zum  Denken  und  vom 
Denken  wieder  zurück  zum  Mechanischen.  Wer  es  wagen  wollte ,  entwe- 
der mit  dem  Denken  zu  beginnen  oder  mit  dem  Denken  aufzuhören,  würde 
eben  so  einen  falschen  Weg  einschlagen,  wie  wenn  er  das  Denken  aus 
seinem  Unterricht  verbannen  wollte. 

Ich  habe  diese  Thesen  nicht  zu  dem  Zwecke  aufgestellt,  um  sie 
Schritt  für  Schritt  eingehend  zu  erörtern ,  sondern  um  eine  Uebersicht 
über  die  Tragweite  der  uns  vorliegenden  Fragen  zu  geben  und  dem  Leser 
einen  leitenden  Wink  zu  geben,  worauf  er  sein  Auge  zu  richten  habe. 
Jetzt  da  dies  geschehen  ist ,  darf  ich  mich  wieder  freier  auf  diesem  Ge- 
biete bewegen  und  vom  Theoretischen  und  Speculativen  mich  wieder  zu 
dem  Praktischen  wenden. 

Das  Mechanische  haben  wir  oben  als  das  bezeichnet,  womit  der 
Unterricht  naturgemäsz  beginnen  müsse ;  es  ist  zugleich  dasjenige  Lernen, 
welches  dem  Knabenalter  das  bequemste,  leichteste  und  liebste  ist.  Der 
Gang,  welchen  der  noch  nicht  geübte  und  erstarkte  Geist  dabei  zurückzu- 
legen hat ,  ist  der  möglichst  kürzeste ,  er  kehrt  dabei  von  jedem  kleinen 
Ausfluge,  den  er  zu  machen  wagt,  gleich  wieder  in  das  sichere  Nestchen 
zurück;  er  freut  sich  des  gelungenen  Ausfluges,  er  freut  sich  der  Kraft, 
welche  er  bereits  besitzt,  wie  das  Kind  sich  freut,  das  dem  Vater  oder 
der  Mutter  von  der  schweren  Last,  die  diese  tragen,  ein  kleines  Spänclien 

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486  Noctes  scholasticae. 

abnehmen  kann.  Es  wäre  unbarmherzig,  dem  Kinde  diese  Freude  entwe- 
der überhaupt  nicht  zu  gönnen  oder  doch  durch  voreiliges  Entziehen  zu 
stören.  Wie  oft  habe  ich  Knaben  gesehen,  die,  spärlieh  begabt,  bei  an- 
derm  Unterricht  mürrisch  und  verstockt  dasaszen,  und  deren  Gesicht  auf- 
leuchtete ,  wenn  sie  wieder  einmal  im  Mechanischen  sich  tüchtig  zeigen 
konnten!  Wie  oft  habe  ich,  wenn  mir  eine  Glasse  erschöpft  schien,  um 
sie  neu  zu  beleben,  gesagt :  nun  sollt  ihr  mir  noch  einmal  eure  Vocabeln 
aufsagen,  und  sofort  Alle,  auch  die  Schwächsten,  frisch  und  munter  wer- 
den gesehen!  Auch  wenn  der  denkende  Unterricht  es  nicht  erforderte, 
an  bereits  befestigte  Vorstellungen  anzuknüpfen,  müste  der  Lehrer,  wel- 
cher seine  Schüler  wirklich  lieb  hat,  dennoch  wünschen,  ihnen  die  Freude 
an  dem  Mechanischen  erhalten  zu  können,  wie  wir  auch  sonst  unsere 
Kinder  so  lange  als  möglich  kindlich,  jugendlich  zu  erhalten  wünschen. 
Und  da  dieser  Reiz  des  Mechanischen  auch  später  fortdauert,  so  ergibt 
sich  hieraus  die  Nalurgemäszheit  und  Notwendigkeit,  diesem  Bedürfnis 
der  Seele  auch  noch  später  in  angemessener  Weise  Rechnung  zu  tragen. 

So  lernen  die  Schüler  gleich  zu  Anfang,  und  ehe  noch  von  einem 
eigentlichen  Verstehen  des  Gelernten  die  Rede  sein  kann,  so  manches, 
dessen  sie  später  bedürfen,  und  in  Hoffnung  des  späteren  Verstehens, 
schon  jetzt  mechanisch  auswendig;  jetzt  wird  ihnen  das  Lernen  leicht 
und  macht  ihnen  Freude ,  später  würde  es  ihnen ,  wenn  das  Gedächtnis 
nicht  früh  geübt  ist,  schwer  und  unangenehm  werden :  den  Katechismus, 
das  Einmaleins,  Gesangbuchslieder,  welche  der  ältere  Schüler  nur  mit 
wachsendem  und  wol  begründetem  Widerwillen  lernen  würde,  die  Opera- 
tionen des  Rechnens,  Namen  und  Zahlen ,  so  viel  man  von  ihnen  fordert. 
Sie  gewinnen  auf  diesem  Wege  das  Material  von  Kenntnissen ,  welches 
später  denkend  verarbeitet  werden  kann,  und  üben  zugleich  die  herliche 
und  unentbehrliche  Kraft  des  Gedächtnisses,  welche  sowol  für  ernstes 
Denken  als  für  die  spätere  praktische  Brauchbarkeit  im  Leben  eine  uner- 
läszliche  Bedingung  ist. 

Es  ist  daher  eine  grosze  Verkehrtheit,  dieses  mechanische  Lernen 
entweder  zu  misachten  oder  doch  nicht  mit  systematischer  Strenge  zu 
verfolgen ;  aber  ich  möchte  auch  gegen  einen  Misgriff  warnen ,  den  ich 
oft  machen  sehe.  Es  ist  bekannt,  dasz  die  Schüler  ihren  Katechismus, 
ihre  Kirchenlieder  meist  mit  vielen  Fehlern,  ohne  richtige  Betonung,  in 
einem  leiernden  Tone  hersagen.  Die  Fehler  musz  man  natürlich  verbes- 
sern ;  aber  zu  fordern ,  dasz  sie  das  Gelernte  auch  mit  Ausdruck ,  mit 
Empfindung  hersagen,  ist  unvernünftig.  Denn  dies  hiesze  zugleich  eine  me- 
chanische und  eine  denkende  Function  fordern;  es  hiesze  fordern,  dasz 
man  zugleich  den  Weg  a  b  a  und  a  b  c  a  zurücklege.  Mechanisch  und 
denkend  sind  nicht  simultan,  sondern  succedierend;  sie  können 
nicht  beide  zugleich,  sondern  nur  nacheinander  betrieben  werden. 
Eben  so  ist  es,  wenn  die  Knaben  einer  Sexta  declinieren  bonos  nomi- 
ne s.  So  betonen  sie  und  fallen  immer  wieder  in  diese  Betonung  zurück, 
weil  sie  naturgemäsz  und  völlig  vernünftig  dasjenige  hervorheben ,  was 
ihnen  als  das  Bedeutendere  erscheinen  musz:  die  Endung.  Lasse  man 
sie  doch  so  lernen ;  beim  Lesen  wird  es  ihnen  nie  einfallen  so  zu  beto- 


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Noctes  scholasticae.  487 

nen.  Die  Zeit  und  Mühe ,  die  man  darauf  verwendet,  ihnen  diesen  Accent 
auszutreiben,  kann  viel  besser  gebraucht  werden.  Dies  mochte  ich  denen, 
die  Schulen  zu  inspicieren  haben,  zur  Erwägung  vorlegen.  Ich  selbst  bin 
dagegen  stets  nachsichtig  gewesen,  weil  es  ein  Fehler  ist,  der  von  selbst 
abfallt. 

Hieraus  ergibt  sich ,  wie  sehr  diejenigen  allen  psychischen  Gesetzen 
widerstreiten,  welche  beim  Unterricht  mit  Denken  nnd  Verstehen  und 
wissenschaftlicher  Behandlung  beginnen  zu  müssen  glauben.  So  hat  man 
neuerdings  das  Lateinische  und  Griechische  zu  lehren  angefangen.  Eine 
SchnJgrammatik  von  Gurtius,  von  Lattmann  und  andern  sieht  freilich  ganz 
anders  aus,  als  Buttmann,  Rost  oder  Matthiae.  Director  Goebel  in  Ko- 
nto hat  sich  jüngst  die,  wie  uns  dünkt,  sehr  undankbare  Mühe  gegeben, 
genau  darzulegen,  in  was  für  Fehlern  sich  eigentlich  unsere  Vulgargram- 
matik  herumtreibt.  Ich  stimme  ihm  ganz  bei  und  dociere  so  ziemlich 
dasselbe  wie  er ;  aber  ich  thue  es  in  Prima,  beim  Homer  besonders,  nicht 
in  Quarta,  wo  ich  mich  zufrieden  gebe,  wenn  meine  Schüler  die  Erschei- 
nung kennen  und  von  den  Motiven,  welche  die  Erscheinung  hervorgetrie- 
ben haben,  keine  Ahnung  haben.  Ich  gestatte  ihnen  kaum  einen  Blick 
auf  das  Lateinische  hinüber.  Ebendasselbe  haben  erfahrene  Lehrer  des 
Französischen  erinnert :  die  Anknüpfung  an  das  Lateinische  schade  mehr 
als  sie  nütze,  und  ich  bin  völligst  mit  ihnen  einverstanden,  dasz  diese 
Vergleichung  nur  als  ein  leichter  Scherz  stattfinden  sollte.  Die  Maetz- 
nersche  Grammatik  ist  nicht  für  Anfänger  geschrieben,  sondern  zum 
Zweck  eines  historisch-systematischen  Studiums.  Und  so  ist  es  überall 
die  Norm,  dasz  mit  Mechanischem  zu  beginnen  und  dies  bis  zur  Befesti- 
gung fortzusetzen  sei ,  wobei  es  einem  geschickten  und  munteren  Lehrer 
nicht  an  Gelegenheit  noch  an  Mitteln  fehlen  wird,  auch  in  dies  Mechani- 
sche Leben  zu  bringen,  selbst  die  Mathematik,  welche  mehr  als  ir- 
gend eine  andere  Disciplin  mit  der  Praetension  auftritt,  einen  streng  sys- 
tematischen Gang  gehen  zu  wollen,  setzt  sowol  im  Arithmetischen  als  im 
Geometrischen  bereits  eine  praktische  Geläufigkeit  voraus,  wenn  der  wis- 
senschaftliche Unterricht  nicht  in  der  Luft  schweben  soll.  Ich  habe  die 
erfahrensten  Lehrer  in  diesem  Fache  eine  geometrische  Propädeutik  for- 
dern hören  d.  h.  eine  sich  im  Mechanischen  haltende  Vorbereitung.  Und 
so  lahmen  und  kranken  Disciplineu ,  denen  dieser  mechanische  Anfang 
fehlt,  wie  die  Geschichte,  wo  sie  erst  in  höhern  Glassen  begonnen 
wird  und  gleich  mehr  in  einer  rationellen  als  in  der  herodoteisch-mecha- 
nischen  Weise  getrieben  werden  musz.  Ich  denke,  verständige  und  ur- 
teilsfähige Leser  werden  ahnen,  was  ich  unter  herodoteisch-mechanischer 
Weise  verstehe ;  ich  kann  es  hier  nicht  weiter  erörtern.  Ueberall,  dies  ist 
das  Ergebnisz  des  Bisherigen,  bildet  das  Mechanische  die  Basis  des  Unter- 
richte». Man  musz ,  sagte  Schopenhauer  gelegentlich ,  bereits  etwas 
wissen ,  damit  man  es  durchdenken  könne.  Wir  werden  vielleicht  unten 
sehen,  dasz  'sich  eben  so  jeder  Unterricht  im  Mechanischen  abschlieszen 
und  vollenden  müsse. 

Wir  wenden  uns  nunmehr  von  dem  mechanischen  Unterricht  zu  dem 
denkenden. 


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488  Noctes  scholasticae. 

Nach  unseren  obigen  Erörterungen  ist  denkender  Unterricht  der- 
jenige, welcher  nicht  mehr  auf  unmittelbarer  Reproduction  von  Vorstel- 
lungen ruht ,  sondern  auf  einer  durch  Association  von  Vorstellungen  ver- 
mittelten. Die  Verknüpfung  von  mehreren  Vorstellungen  ist  ihm  also 
wesentlich.  Und  zwar  ist  diese  Verknüpfung,  wie  wir  oben  bemerkten, 
eine  beabsichtigte,  um  eines  bestimmten  Zweckes  willen  vorgenommene, 
wenn  sie  auch  nicht  immer  als  eine  notwendige,  sondern  auch  als 
eine  ingeniöse  erscheint. 

Der  mechanische  Unterricht  hat  wie  alle  mechanische  Thätigkeit  eine 
bestimmte  Grenze ,  über  die  er  nicht  hinausgehen  darf,  ohne  die  Gefahr 
den  Geist  abzustumpfen,  und  sich  selber  zu  vernichten,  die  Resultate, 
nach  denen  er  strebt,  aufzuheben  und  zu  zerstören.  Der  Knabe  lernt 
seinen  Katechismus,  sein  Einmaleins,  seine  Declination  und  Conjugation 
auswendig,  ohne  sich  weiter  etwas  dabei  zu  denken.  Wird  dies  mecha- 
nische Lernen,  Ueben,  Wiederholen  über  jene  Grenze  hinaus  fortgesetzt, 
so  tritt  bei  dem  Lernenden  bald  eine  Gedankenlosigkeit  ein,  bei  der  er 
auch  nicht  einmal  mehr  an  das  denkt,  was  er  hersagt,  sondern  geistig 
ganz  abwesend  ist.  Dies  zeigt  sich  darin,  dasz  er  z.  B.  aus  einem  Gebote 
oder  einer  Bitte  des  Katechismus  in  ein  anderes  Gebot  oder  eine  andere 
Bitte  geräth,  oder  sich  durch  Aehnlichkeit  des  Wortklanges  verleiten  läszt 
das  Gelernte  vollständig  zu  verdrehen,  wovon  ja  jeder  Schulmann  die  er- 
götzlichsten Beispiele  geben  kann.  Von  einem  Bewustsein  über  das  Ge- 
lernte ,  von  einer  Anwendung ,  welche  dem  Aufsagen  folgen  soll ,  ist  vol- 
lends keine  Rede.  Diese  Erscheinung  zeigt  sich  aber  nicht  blosz  bei  Knaben, 
sondern  auch  bei  Erwachsenen ;  ich  bin  ihr  oft  genug  bei  Primanern  be- 
gegnet, welche  etwa  Ruthardtsche  loci  memoriert  hatten.  Der  Grund 
liegt  aber  nicht  in  dem  Mechanischen  an  sich,  sondern  in  der  Ausdehnung 
des  Mechanischen  über  jene  Grenze  hinaus.  Denn  jede  Vorstellung  schrumpft 
in  sich  selbst  zusammen,  wenn  sie  nicht  durch  das  Hinzutreten  einer  an- 
dern Vorstellung  Lebenskraft  und  die  Möglichkeit  sich  zu  erhalten  em- 
pfängt. Denn  erst  durch  das  Zusammentreten  mehrerer  Vorstellungen 
werden  diese  Vorstellungen  zu  Kräften.  Die  erste  Vorstellung  wird 
durch  die  zweite  gehemmt  und  hierdurch  gereizt,  sich  in  sich  zusammen- 
zunehmen und.  der  zweiten  gegenüber  zu  behaupten  und  als  thatkräftig 
zu  beweisen.  Ein  näheres  Eingehen  auf  diesen  Procesz  dürfen  wir  uns 
nicht  erlauben  und  verweisen  daher  auf  die  oben  bezeichneten  Werke. 
Es  ist  hier  wie  überall  im  Leben.  Die  Hemmung  und  Beschränkung  er- 
zeugt und  entwickelt  Kräfte,  welche  niemand  geahnt  hatte. 

Gehen  wir  nunmehr  auf  die  einzelnen  Arten  dieser  Verknüpfung  von 
Vorstellungen  ein. 

Die  Vorstellung  tritt  uns  zunächst  als  ein  Ganzes  und  Fertiges  ge- 
genüber. Es  ist  hierbei  gleichgültig,  ob  die  Vorstellung  eine  einfache 
oder  zusammengesetzte  ist ,  ob  sie  ein  einzelnes  Wort  oder  einen  Com- 
plexus  von  Wörtern,  ein  einzelnes  Factum  oder  eine  Reihenfolge  von 
Facten ,  einen  einzelnen  Gegenstand  oder  eine  Vielheit  von  Gegenständen 
zum  Iuhalt  hat.  Auf  der  Stufe  des  Mechanischen  bleibt  das  Vorgestellte 
in  dieser  Ganzheit  und  Fertigkeit  unangetastet.   Nun  tritt  aber  zu  dieser 

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Noctes  scholasticae.  489 

Vorstellung  eine  andere,  deren  psychischen  Ursprung  wir  hier  nicht  wei- 
ter zu  verfolgen  haben,  die  der  Kraft,  welche  das,  was  als  Erscheinung 
vor  uns  steht,  hervorgetrieben  hat,  oder  die  des  Ganzen  und  seiner 
Teile,  indem  es  eben  diese  Kraft  ist,  welche  einen  dieser  Teile  nach 
dem  andern  hat  hervortreten  und  so  das  Ganze  allmälich  erstehen  lassen. 
Beide  Vorstellungen  einander  begegnend  und  aufeinander  stoszend,  haben 
die  Thätigkeit  zur  Folge,  das  Ganze  als  Ganzes ,  das  Seiende  als  Seiendes 
zu  zerstören  und  es  in  seine  Teile  aufzulösen.  So  erklärt  sich  der  natur- 
liche Trieb  gerade  des  Knaben  als  des  vorwiegend  denkenden  zu  zerstören, 
sei  es  die  Blume,  die  er  eben  gebrochen,  sei  es  das  Haus,  welches  er  eben 
gebaut  hat,  sei  es  ein  Spielzeug,  das  von  ihm  so  dringend  gewünscht  ist. 
Dieser  Trieb  ist  nun  für  den  Unterricht  zu  benutzen  und  mit  Rücksicht 
auf  den  Zweck  desselben  zu  regeln  und  zu  leiten. 

Denn  wenn  es  auch  dem  denkenden  oder  zum  Denken  emporstreben- 
den Geiste  natürlich  ist,  seihe  Vorstellungen  diesem  analytischen  Procesz 
zu  unterwerfen,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dasz  der  Geist  von  selber 
und  auf  die  rechte  Weise  diesen  Procesz  vornehmen  werde.  Es  gibt  viele 
Dinge,  die  uns  uaturgemäsz  sind  und  die  wir  doch  lernen  müssen;  jedem 
Menschen  ist  es  natürlich  dasz  er  gehe;  wer  aber  recht  gehen  soll,  musz 
dazu  methodisch  angeleitet  und  geübt  werden.  So  ist  auch  das  Denken 
jedem  natürlich;  damit  der  Mensch  aber  immer  denke,  damit  dies  Denken 
ihm  ein  Bedürfnis  werde  und  damit  er  auf  die  richtige  Weise  denke ,  ist 
ihm  eine  verständige  und  dessen,  was  sie  will,  bewuste  Anleitung  nötig. 
So  ist  ein  sich  Begegnen  zweier  Vorstellungen  ein  natürlicher  Vorgang; 
aber  diese  Vorstellungen  werden  ebensooft  aneinander  vorübergehen, 
ohne  sich  zu  berühren.  Dasz  dies  Letztere  nicht  geschehe ,  dasz  sie  sich 
vielmehr  einander  aufsuchen  und  an  einander  heranziehen,  dasz  dies  Be- 
gegnen immer  mehr  das  Gewöhnliche  und  Selbstverständliche  werde, 
dazu  ist  eine  bestimmte  Leitung  nötig,  welche  hierfür  die  Aufmerk- 
samkeit errege  und  die  Gewöhnung  hieran  bewirke.  Ohne  diese 
Leitung  kann  es  sehr  wol  geschehen ,  dasz  der  Mensch  in  seinem  Traum- 
und Dämmerungsleben  dahinlebe ,  ohne  dasz  ihm  das  Auge  geöffnet  wird 
für  das ,  was  in  ihm  und  um  ihn  her  vorgeht ,  wie  denn  Tausende  von 
Menschen  durch  Flur  und  Wald  gehen,  ohne  von  den  Blumen,  welche 
gleichsam  des  menschlichen  Auges  warten,  das  Geringste  wahrzunehmen, 
während  dem  Knaben ,  der  nur  vier  Wochen  lang  Unterricht  in  der  Bota- 
nik gehabt  hat,  hierfür  das  Auge  aufgethan  ist,  so  dasz  er  da,  wo  er  bis 
dahin  wie  ein  Träumender  hin  und  zurückgegangen  ist,  nun  eine  neue  bis 
dahin  ihm  unbekannte  Welt  zu  erblicken  glaubt.  Es  ist  nicht  genug 
zu  beherzigen ,  dasz  dies  Denken  sich  nicht  von  selber  findet ,  sondern 
vielmehr  durch  Erweckung  der  Aufmerksamkeit,  gleichsam  durch  eine 
Oeffnung  des  bis  dahin  verschlossenen  Auges ,  und  durch  Gewöhnung  er- 
strebt und  angebildet  werden  musz. 

Der  Unterricht  verläszt  demnach  die  Sphäre  des  Mechanischen,  indem 
er  auf  die  Vorstellung,  auf  welcher  die  Aufmerksamkeit  des  Knaben  ruht, 
eine  andere  Vorstellung,  nennen  wir  es  die  der  Kraft ,  des  Werdens  oder 
des  Ganzen  und  seiner  Teile ,  lenkt ,  so  dasz  diese  Vorstellungen  aufein- 


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490  Noctes  scholasticae. 

ander  stoszen.   Durch  diesen  Zusamoienstosz  erhält,  wie  oben  gezeigt  ist. 
die  eine  wie  die  andere  Vorstellung  neue  Kraft  oder  wird  vielmehr  zu 
einer  Kraft,  und  dem,  was  ohne  diese  Verbindung  sich  würde  wieder 
verfluchtigt  haben,  wird  hierdurch  Gonsistenz  und  Dauer  verliehen.   Wir 
sagen  dem  Knaben  oft  genug :  'sieh  dir  das  genau  an',  und  wollen,  dasz 
er  nicht  bei  der  allgemeinen  Betrachtung  stehen  bleibe ,  sondern  das  Ein- 
zelne ins  Auge  fasse.   Vielleicht  versteht  er,  was  wir  meinen ;  er  wird  es 
sicher  verstehen,  wenn  wir  ihn  anhalten  das  Ganze  Teil  für  Teil  zu  be- 
trachten und  noch  besser  es  in  die  Teile  auseinanderzulegen ,  aus  denen 
er  es  zusammengesetzt  sieht    Die  Botanik,  darum  für  die  untern  (Has- 
sen eine  so  unentbehrliche  Disciplin  und  viel  bedeutender  und  bildender 
als  die  Zoologie,  geht  immer  diesen  Weg.     Sie  läszt  den  Schüler  die 
Pflanze  in  die  Hand  nehmen  und  diese  von  der  Wurzel  bis  zur  Blüte  hin- : 
auf  in  ihre  Teile  auseinandernehmen  und  jeden  Teil  für  sich  auf  das  Gc- ' 
naueste  betrachten  usw.    Indem  der  Knabe  dies  thut ,  wird  die  Blume,  - 
welche  ihm  vorher  als  ein  Fremdes  gegenüberstand,  durch  diese  auf  sie  j 
verwendete  Thätigkeit  gleichsam  zu  einer  eigenen  Production  und  er  em- " 
piindet  darüber  eine  Freude,  wie  sie  bei  eigenem  Schaffen  von  Jedermann , 
empfunden  wird :  es  ist  jetzt  seine  Pflanze  geworden  und  er  fügt  sie  mit  ■ 
dem  Stolz  eines  selbsterworbenen  Besitzes  in  sein  Herbarium  ein.  Durch 
diese  Leitung  aber  wird  in  ihm  der  Geist  gewöhnt,  fortan  alle  Blumen  in  , 
ähnlicher  Weise  zu  betrachten,  und  hierdurch  ist  nicht  blosz  jene  Blume 
für  ihn  in  eine  höhere  Sphäre  erhoben  und  in  ein  helleres  Licht  gestellt. 
sondern  auch  eine  Betrachtungsweise  in  ihm  hervorgerufen   worden. 
durch  welche  der  Geist  auf  eine  höhere  Stufe  emporgerückt,  eine  neue 
Kraft  in  ihm  erweckt  und  er  selber  seiner  würdiger  geworden  ist. 

Diese  Betrachtungsweise,  welche  von  der  Erscheinung  gleichsam 
rückwärts  geht ,  ist  nun ,  weil  sie  auf  einem  notwendigen  geistigen  Pro- 
cesz  ruht  und  also  eine  notwendige  Gedankenform  ist,  in  allen  Disciplinen 
anwendbar.  Ganz  besonders  aber  ist  sie  es  bei  den  Sprachen,  und 
zwar  sowol  bei  der  Flexion  als  bei  der  Wortbildung  und  Gomposition  miil 
in  der  Syntax ,  und  hier  beim  einfachen  und  zusammengesetzten  Satze. 
eben  so  bei  der  Lehre  vom  Stil  wie  bei  der  Poetik.  Der  erste  Schritt  ist. 
wenn  man  den  Boden  des  Mechanischen  verläszt,  immer  derselbe,  überall 
und  auf  allen  Stufen  des  Unterrichts:  die  Auflösung  des  Ganzen  in  seine 
Teile,  die  Erkenntnis  des  Gewordenen,  Festen  in  seinem  Procesz  des  Wer- 
dens, gleichsam  ein  von  neuem  Schaffen  des  Daseienden. 

Der  Knabe  lernt  die  Declination  und  Gonjugation  einfach  auswendig, 
so  dasz  er  sie  mechanisch  hersagen  kann.  Jetzt  trennt  er  das  vor  ihm 
stehende  Wort  in  seine  Bestandteile:  Stamm  und  Endung.  Hierdurch 
bekommt  das  todte  Wort  für  ihn  Leben ,  es  hört  auf  ihm  ein  fremdes  zu 
sein.  Die  vergleichende  Sprachforschung,  mit  richtigem  Tacte  benutzt, 
bietet  ein  unendlich  reiches  Material,  um  den  Schüler  anzuregen  und  in 
Bewegung  zu  bringen.  Welches  die  Grenze  sei^  innerhalb  deren  sich  diese 
Analyse  auf  der  Schule  überhaupt  zu  halten  habe,  kann  zweifelhaft  sein 
Ich  habe  sie  nur  so  weit  ausgedehnt,  als  sie  durchaus  nötig  war,  um  völ- 
lig Räthselhaftes  zu  erklären,  um  auch  im  Anomalsten  die  Geltung  und 


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Noctes  scholasticae.  491 

Wirkung  von  Gesetzen  ahnen  zu  lassen.  Doch  hierüber  ein  andermal. 
Wie  sehr  dies  Verfahren  zur  Befestigung  des  Wissens  beiträgt ,  habe  ich 
oft  erfahren.  Noch  kurzlich  hörte  ich ,  wie  in  Sexta  die  Schüler  trotz 
aller  Mühe  mit  pro s um  und  possum  nicht  ins  Klare  kommen  konn- 
ten. Ich  zeigte  ihnen,  dasz  das  Eine  aus  prod-sum,  das  Andere  aus 
pot-sum  entstanden  sei,  und  liesz  sie  nun  selbst  die  Flexionen  versu- 
chen. Es  gelang.  Auch  die  Wortbildungslehre,  auf  Schulen  meist  über- 
gangen und  nur  gelegentlich -berührt,  bietet  unglaublich  bildende  Ele- 
mente in  reichster  Fülle.  Dem  Knaben  musz  hierfür  das  Auge  aufgethan 
werden;  von  selbst  findet  sich  das  nicht.  Dieselbe  Operation  wiederholt 
sich  beim  Satze.  Unsere  Väter  legten  auf  das  Gonstruieren  das  gröszte 
Gewicht;  es  mag  sein,  dasz  man  es  ziemlich  geistlos  betrieben  hat,  man 
hätte  es  doch  nicht  so  fallen  lassen  sollen,  wie  es  geschehen  ist.  Es  ist 
auszer  usus  gekommen,  und  die  Schüler  tappen  jetzt  wie  Blinde  umher: 
es  ist  Zufall,  wenn  sie  das  Rechte  treffen.  Noch  schlimmer  ist  es,  wenn 
sie  an  einen  complicierten  Satz  gerathen.  Ich  vermisse  mehr  als  sonst 
das  hierfür  gebildete  und  hierzu  gewöhnte  Auge ,  sowol  bei  der  Leetüre 
als  beim  Verständnis  der  Grammatik.  Und  doch  ist  dies  die  unerläszliche 
Voraussetzung  für  jede  freie  und  selbständige  Leetüre.  Derselbe  Procesz 
Jäszt  sich  dann  weiter  aufwärts  verfolgen.  Eine  Rede  des  Cicero,  eine 
Ode  des  Horaz,  ein  sophokleisches  Stück  ist  nur  dann  erst  verstanden, 
wenn  die  Teile  des  Ganzen  klar  erkannt  vor  dem  Auge  liegen.  Wie 
schwer  ist  diese  Klarheit  bei  den  sallustischen  Reden  zu  gewinnen! 
Doederlein  glaubte  ihrer  sicher  zu  sein,  wie  er  überhaupt  schärfer  sah, 
feiner  fühlte  und  geistvoller  combinierte  als  wir  andern.  Leider  hat  er, 
wozu  ich  ihn  reizte ,  wenig  hiervon  mitgeteilt.  Und  doch  ist  erst ,  wer 
diese  künstlerischen  Ganzen  in  ihre  Teile  auseinanderzulegen  gelernt  hat, 
im  Stande,  auch  selbst,  in  welcher  Sprache  es  auch  sei,  künstlerisch  zu 
bilden  und  ein  Ganzes  zu  schaffen.  Auch  ins  Ethische  wird  diese  Leitung 
und  Gewöhnung  hinüberwirken :  den  Sinn  für  innere  Ordnung  und  Har- 
monie und  das  Bedürfnis  von  diesen  zu  erwecken  und  zu  stärken.  Weiter 
kann  ich  dies  nicht  verfolgen:  nur  eins  möchte  ich  bemerken.  Diese 
Richtung  musz  frühzeitig  eingeschlagen  werden :  schon  in  Sexta ,  wenn 
das  Alechanische  abgethan  ist.  Gewisse  Organe  der  Seele  müssen  früh- 
zeitig gebildet  werden;  zu  spät  in  Angriff  genommen,  haben  sie  oft  schon 
ihre  Biegsamkeit  verloren ,  und  ein  Verlust  für  das  ganze  Leben  ist  die 
Folge  dieser  Versäumnis.  Dies  gegen  die  unendliche  Thorheit  derer, 
welche  glauben,  hierzu  sei  immer  noch  die  Zeit  und  das  Festhalten  im 
Mechanischen  sei  ein  zu  ersetzender  Schade.  Die  feineren  Talente  auf  der 
Schule  habe  ich  meist  früh  gebildet  gesehen. 

Mit  dem  eben  erwähnten  Procesz  verbindet  sich  meist  der  des  Ne- 
beneinanderstellens  des  Gleichen  oder  Aehnlichen  wie  des 
(Je  gen teils  hiervon.  Es  ist  ein  bekanntes  psychologisches  Gesetz, 
dasz  verwandte  Vorstellungen  einander  hervorrufen;  eben  dasselbe  gilt 
von  contrastierenden  Vorstellungen,  vorausgesetzt  natürlich,  dasz  diese 
innerhalb  derselben  Sphäre  einander  entgegengesetzt  sind.  Was  nun  hier 
ofeae  unser  Zuthun  in  der  Bewegung  unserer  Vorstellung  geschieht,  eben 


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492  Noctes  scholasticae. 

dasselbe  kann  und  soll  zur  geistigen  Belebung  und  Bildung  der  Jugend 
mit  Bewustsein  vorgenommen,  und  der  natürliche  Trieb  geregelt  und  ge- 
leitet und  die  Beziehung  der  einen  Vorstellung  auf  eine  andere  ihr  ver- 
wandte eine  feste  Gewohnheit  und  ein  dauerndes  Bedürfnis  werden.  Es 
geschieht  dies,  indem  die  natürliche  Bewegung  in  ein  bestimmtes  Betle 
geleitet  und  so  vor  Ausschweifungen  bewahrt  wird.  Ich  will  einige  die- 
ser Schranken,  welche  ihr  zu  ziehen  sind,  anführen,  indem  ich  noch  ein- 
mal daran  erinnere ,  dasz  jene  Bewegung  erst  durch  diese  Beschränkung 
zu  einer  Kraft  wird. 

Zuerst  ist  der  Geist,  indem  er  dem  Willen  unterworfen  wird,  dazu 
zu  gewöhnen,  dasz  er  diese  Verbindungen  nicht  dem  Spiele  des  Zufalls 
überlasse,  sondern  sie  behersche  und  beschränke.  Auch  im  Traume  reiht 
sich  Vorstellung  an  Vorstellung ;  aber  es  fehlt  der  über  sie  herschende 
Geist,  um  ungehörige,  unsittliche,  phantastische  Vorstellungen  zurückzu- 
weisen und ,  wenn  sie  sich  doch  wieder  herandrängen ,  durch  andere  zu 
bekämpfen.  Auch  das  Knabenalter  hat  eine  Neigung  sich  diesen  Träume- 
reien hinzugeben  und  in  sie  zu  verlieren.  Diese  Neigung  kann ,  wenn  ihr 
nicht  entgegengearbeitet  wird ,  so  wachsen ,  dasz  die  Denkfähigkeit  des 
Knaben  dadurch  zerstört  wird,  dasz  ihm  die  Kraft  verloren  geht,  diese 
Gombination  von  Vorstellungen  in  eigene  strenge  Zucht  zu  nehmen.  Das 
Letztere  wird  nun  geschehen,  wenn  die  Combination  sich  auf  Vorstellun- 
gen einschränkt,  deren  Beziehung  auf  einander  eine  klare  und  bewuste 
ist.  Natürlich  kann  eine  Vorstellung  nie  in  eine  andere  übergehen  ohne 
eine  Vermittelung ;  aber  diese  Vermittlung  kann  mit  Blitzesschnelle  durch 
eine  so  grosze  Reihe  von  Vorstellungen  bewirkt  werden ,  dasz  es  nicht 
möglich  ist  diese  Mittelglieder  im  Bewustsein  festzuhalten  und  daher  je- 
ner Uebergang  als  ein  wirklicher  Sprung  ohne  Vermittelung  erscheint. 
Ein  Beispiel  wird  uns  klar  machen,  worum  es  sich  handelt.  Zwisdheu 
Rose  und  Mädchen  steht  die  vermittelnde  Vorstellung  blühend, 
zwischen  Rose  und  Nelke  die  Vorstellung  r  o  t  h ;  zwischen  Rose  und 
Spazier  fahrt  ist  die  Vermittelung  dunkeler,  getrübt;  ebenso  zwischen 
Vocabeln  und  Zucker,  zwischen  Karl  V  und  unser  neuer  Kut- 
scher. Die  Verbindungen  nuu,  welche  der  Knabe  so  gern  macht  und 
welche  ihn  am  meisten  reizen ,  sind  die  letzteren :  diese  eben  sind  abzu- 
schneiden dadurch ,  dasz  er  in  der  Sphäre  der  ersteren  festgehalten  und 
in  Bewegung  gebracht  wird,  d.  h.  in  der  Sphäre  derer ,  bei  denen  er  sich 
der  verbindenden,  vermittelnden  Vorstellungen  bewust  ist.  Dies  ist  ein 
höchst  wichtiger  Punkt,  fast  möchte  ich  sagen  einer  der  Krebsschäden,  an 
denen  unsere  Jugend  krankt. 

Das  Zweite  ist  sodann,  dasz  die  Vorstellung,  welche  die  primäre 
war,,  im  Besitz  dieses  Primates  bleibe,  und  zwar  mit  dem  Bewustsein  fest- 
gehalten, dasz  die  mit  ihr  sich  verknüpfenden  oder  absichtlich  verknüpf- 
ten Vorstellungen  nur  ihretwegen  da  sind  und  eben  nur  durch  diese  Be- 
ziehung auf  jene  ihren  augenblicklichen  Werth  erhalten.  Hiermit  hängt 
denn  zusammen,  dasz  nicht  Vorstellung  an  Vorstellung  gereiht  werde1" 
bis  der  Ausgangspunkt  dieser  Reihe  von  Vorstellungen  gänzlich  aus  dem 
Bewustsein  entschwinde.    Diese  Regel  ist  um  so  wichtiger,  als  das  Ler- 


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Noctes  scholasticae.  393 

nen  verhältniszmäszig  immer  etwas  ist,  was  das  Knabenalter  mit  Unlust 
treibt  und  wozu  es  mit  Zwang  angehalten  werden  musz ,  wenn  dieser 
Zwang  auch  ein  moralischer  sein  kann.  Wenn  nun  sich  dieser  sauren 
Arbeit  des  Verstandes  das  leichte  Spiel  der  Phantasie  zur  Seite  stellt,  wie 
es  ja  bei  jener.  Verbindung  von  Vorstellungen  da  ist,  so  ist  die  Gefahr - 
sehr  nahe ,  dasz  der  Knabe  sich  der  Phantasie  hingebe  und  bei  den  Se- 
cundär  -  und  Hülfsvorstellungen  verweile.  Dies  zeigt  sich  aus  der  Nei- 
gung der  Knaben,  zumal  geistig  geweckter  und  reger  Knaben,  den  Lehrer 
bei  diesen  secundären  Vorstellungen  durch  allerlei  Künste  festzuhalten 
und  an  der  schnellen  Buckkehr  zu  dem  trockenen  Gegenstande  zu  verhin- 
dern. Alles  ist  ihnen  lieber  als  das,  womit  sie  sich  gerade  beschäftigen 
sollen.  Es  ist  durchaus  nicht  leicht,  hier  das  rechte  Masz  zu  finden,  und 
kein  Alter  und  keine  Erfahrung  so  sicher,  dasz  sie  nicht  des  Rathes  be- 
durften, in  dieser  Beziehung  ja  über  sich  zu  wachen.  Der  Geist  ist  auch 
hier  wol  willig,  aber  das  Fleisch  ist  und  bleibt  schwach. 

Diese  Verknüpfung  ist  nun  doppeller  Art:  sie  ist  entweder  eine 
notwendige  oder  eine  ingeniöse.  Einige  Beispiele  aus  der  Ge- 
schichte werden  uns  dies  dies  deutlich  machen. 

Alle  Beziehungen  von  geschichtlichen  Stoffen,  einzelnen  Thaten  und 
Ereignissen  wie  gröszeren  geschichtlichen  Kreisen,  werden  entweder  mit 
gleichzeitigen  Dingen  gemacht  oder  mit  solchen,  die  in  der  Suc- 
ccssion  liegen.  Man  verzeihe  die  Ungenauigkeit  des  Ausdrucks.  Ich 
hätte  sagen  sollen :  die  Vorstellung  eines  Ereignisses  verbindet  sich  mit 
der  Vorstellung  eines  andern  in  dieselbe  Zeit  fallenden  Ereignisses.  Sei 
es  indesz  darum,  wenn  wir  nur  über  das,  was  ich  meine,  einverstanden 
sind.  Gleichzeitige  Ereignisse  zu  verbinden  ist  nun  nicht  willkürlich, 
sondern  natürlich  und  notwendig,  denn  von  selbst  ensteht,  wenn  von 
einem  Ereignis  die  Rede  ist,  die  Vorstellung,  dasz  dies  Ereignis  nicht 
könne  allein  dagestanden  und  die  übrige  Welt  geruht  haben;  selbst  wenn 
dies  letztere  der  Fall  gewesen  wäre,  würde  man  es  doch  nicht  ohne  weite- 
res glauben,  sondern  sich  erst  selbst  davon  überzeugen  wollen.  Eben  so 
und  mehr  noch  gilt  dies  von  der  Succession  der  Ereignisse.  Ein  Krieg 
entsteht  nicht  ohne  Ursachen.  Je  gröszer  ein  Ereignis  ist,  desto  tiefer 
gehen  seine  Wurzeln  in  die  Vergangenheit  hinab,  desto  weiter  reichen 
'  seine  Folgen  in  die  Zukunft  hinaus.  Dies  ist  wenigstens  die  erste  und 
natürlichste  Annahme ,  wenn  sie  sich  auch  keineswegs  immer  bestätigen 
sollte.  Bei  den  groszen  asiatischen  Weltstürmern,  einem  Dschingiskhan, 
Tamerlan,  Nadir  Schach  ist  weder  das  Eine  noch  das  Andere  in  ausge- 
zeichnetem Grade  der  Fall.  Es  ist  also  die  Verbindung  eines  Ereignisses 
mit  Gleichzeitigem  oder  die  Betrachtung  jenes  Ereignisses  in  einer  Suc- 
cession etwas  der  menschlichen  Denkweise  Notwendiges.  Dagegen  nenne 
ich  ingeniös  die  Verbindung,  welche  zwischen  nicht  zusammenhängenden 
Vorstellungen  geknüpft  wird,  wenu  diese  durch  eine  glückliche  Phantasie 
zu  Stande  kommt.  So  ist  Raphael  an  einem  Charfreitag  geboren  und 
an  einem  Charfreitag  gestorben;  geboren  mit  Luther  in  demselben  Jahre 
und  gestorben  in  einem  Alter  von  38  Jahren  (1483  die  Umkehrung  der 
beiden  letzten  Zahlen),  gestorben  in  einem  Aller,  in  dem  so  viele  geniale 


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494  Noctes  scholasticae. 

Naturen  —  hier  gilt  es  sie  zu  sammeln  und  aufzuzählen  —  von  der  Erde 
geschieden  sind!  Und  wie  alt  ist  dagegen  Michel  Angelo,  wie  alt  Tizian 
geworden !  Oder  wie  viele  wichtige  Ereignisse  der  deutschen  Geschichte 
fallen  in  Jahre,  deren  Quersumme  15  gibt,  von  jenem  Vertrage  vonVerduii 
an  bis  zur  Auflösung  des  römischen  Reichs  oder  bis  zum  endlichen  Sturze 
des  gewaltigen  Napoleon!  Oder  dasz  1640,  1740,  1840  in  Preuszen  ein 
Thronwechsel  stattgefunden  hat !  Ich  habe  kaum  noch  nötig  nachzuweisen, 
dasz  durch  diese  Gombinationen ,  sowol  die  der  ersten  als  auch  die  der 
zweiten  Art,  das  Einprägen  geschichtlicher  Kenntnisse  unendlich  erleich- 
tert wird ,  viel  mehr  als  durch  mnemotechnische  Operationen ,  obwol  ich 
den  letzteren  durchaus  nicht  feind  bin.  Eben  so  wenig  aber  ist  zu  be- 
zweifeln, dasz  Gombinationen  dieser  Art  dem  Schüler  so  geläufig  und  ha- 
bituell werden  können ,  wie  man  den  gewandten  und  erfahrenen  Reisen- 
den an  der  Weise  herauserkennt,  wie  er  eine  Gegend,  eine  Stadt,  einen 
Dom  aufzufassen  und  anzufassen  versteht.  Wenn  der  geschichtliche  Un- 
terricht anregend ,  belebend  und  sich  fest  einprägend  werden  soll ,  wird 
man  wol  thun  diese  Subsidien  nicht  von  der  Hand  zu  weisen. 

Diese  Gombination  von  Vorstellungen  findet  nun  in  allen  Gebieten 
des  Unterrichts  ihre  vielfältigste  Anwendung :  überall  erscheint  sie  als 
eine  Anknüpfung  des  Unbekannten  an  Bekanntes,  des  Entfernteren  an 
näher  Liegendes ,  des  Unsichtbaren  an  Sichtbares,  des  Abstracten  an  Con- 
cretes.  Eine  jede  Vorstellung  sucht,  um  sich  zu  erhalten,  von  selbst  eine 
andere,  an  die  sie  sich  anlehnen  und  auf  die  sie  sich  stützen  könnte.  Wo 
diese  Stütze  für  sie  nicht  zu  finden  ist,  ist  sie  auch  der  Gefahr  des  Ver- 
schwindens  ausgesetzt.  So  ist  es  wol  möglich,  dasz  der  Naturforscher 
für  geschichtliche  Dinge,  der  Historiker  für  Namen  von  Pflanzen  und  Mi- 
neralien kein  Gedächtnis  habe;  es  fehlt  beiden  an  einem  Quantum  von 
bekannten  und  festen  Vorstellungen,  die  -der  neuen  Vorstellung  als  Stütze 
dienen  könnten.  Ein  sehr  lieber  Freund  hat  sich  viele  Jahre  umsonst  be- 
müht, mir  Pflanzenkenntnis  beizubringen ;  ich  hatte,  wie  ich  oft  scherzte, 
in  meinem  Seelenrepositorium  einmal  kein  Fach,  wo  ich  diese  Vorstel- 
lungen unterbringen  konnte.  Später  hat  sich  auch  dies  Gedächtnis  noch 
bei  mir  gefunden  %  aber  nicht  an  verwandte  Gegenstände  angelehnt,  son- 
dern an  liebe  Knaben,  weiche  ich  in  der  Botanik  unterrichten  und  lebhaft 
mit  der  Botanik  beschäftigt  sah.  So  natürlich  aber  dieses  Gombinieren  ist 
und  so  sehr  wir  auch  die  Phantasie  lebhafter  Knaben  in  Bewegung  sehen, 
diesem  Bedürfnis  zu  genügen,  so  wenig  sind  wir  doch  der  Verpflichtung 
überhoben,  auch  diese  Sache  in  die  Hand  zu  nehmen.  Denn  dem  natür- 
lichen Drange  und  Zuge  steht  ebenso  die  natürliche  Trägheit  entgegen, 
aus  welcher  der  Knabe  herausgetrieben  werden  musz.  Wie  oft  begegnet 
es  mir  bei  sonst  tüchtigen  Schülern ,  dasz  sie  —  ich  habe  Primaner  im 
Auge  —  es  hieran  fehlen  lassen.  Es  werden  bei  den  alten  Autoren  Geld- 
summen, Entfernungen,  Zeitbestimmungen  gegeben:  wollte  Gott  doch, 
dasz  es  ihnen  von  selber  einfiele  diese  Dinge  an  ihnen  bekannten  zu  mes- 
sen. Es  bedarf  allen  Ernstes,  um  sie  aus  dieser  Passivität  herauszubrin- 
gen. Hierzu  aber  musz  frühzeitig  der  Grund  gelegt  werden,  denn 
auch  hier  gilt  das  oben  Gesagte:  diese  Organe  werden,  wenn  sie  nicht 


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Noctes  scholasticae.  495 

früh  gebildet  sind,  später  schwerer  entwickelt,  wenn  die  Elasticität  des 
ersten  Alters  nicht  mehr  vorhanden  ist.  Das  Denken  stellt  sich  nicht  von 
selber  ein,  wenn  die  Jahre  dazu  kommen ;  wenn  die  Seele  einmal  im  Me- 
chanischen alt  geworden  ist,  will  es  mit  der  freien  und  leichten  Bewe- 
gung des  Geistes  nicht  mehr  vorwärts.  Ueberdies  aber  ist  es  nicht  so 
leicht,  die  Fundstätten  für  die  Vergleichung  zu  finden.  Denn  es  ist 
nicht  genug ,  dasz  der  Schüler  etwa  die  Combinationen ,  welche  sich  ihm 
darbieten,  ergreife  und  verwerthe;  er  musz  sich  auch  geradezu  um- 
sehen und  umthun  lernen  nach  Vorstellungen,  ähnlichen  wie  contras- 
tierenden, welche  diesem  Zwecke  dienen.  Nägelsbach  hat  in  seiner 
Stilistik  einen  Abschnitt,  welcher  von  den  Fundstätten  des  lateinischen 
Ausdrucks  handelt;  man  könnte  eben  so  eine  Lehre  von  den  Fundstätten 
für  Combination  von  Vorstellungen  schreiben.  Zuweilen  bieten  sich 
solche  Orte  wie  von  selber  dar,  öfter  aber  entziehen  sie  sich  dem  ersten 
AnWicke  und  wollen  aufgesucht  sein.  Die  Vergleichung  einer  neu  zu  ler- 
nenden Sprache  mit  der  Muttersprache  ist  eine  natürliche;  die  der  latei- 
nischen mit  der  griechischen,  die  der  französischen  mit  den  beiden  anti- 
ken Sprachen  ist  eine  ferner  liegende ,  und  der  Knabe  musz  hierzu  ange- 
halten und  angeleitet  werden.  Diese  comparative  Richtung  ist  überhaupt 
erst  spät  in  die  Wissenschaft  gekommen,  und  es  ist  noch  nicht  lange  her, 
dasz  es  uns  bei  Ritter 's  Behandlung  der  Erdkunde  war,  als  ob  wir  in  eine 
völlig  neue  Welt  von  Anschauungen  und  Vorstellungen  eingeführt  wür- 
den und  als  ob  es  wie  Schuppen  von  unsern  Augen  fiele.  Und  auch  jetzt 
noch,  wie  wenige  Lehrer  wissen  diese  Dinge  zu  verwerthen  und  dadurch 
Leben  in  den  Unterricht  zu  bringen ,  geschweige  denn  dasz  man  auf  die 
eigene  Vergleichung  der  Knaben  warten  sollte.  Noch  weniger  will  man 
daran,  die  Geschichte  mit  der  Geographie  zu  verbinden.  0  ja,  so  weit 
bringen  es  einige  Lehrer,  dasz  sie  einige  historische  Data  localisieren  und 
die Locali täten  so  beleben;  aber  dasz  sie  den  notwendigen  Zusam- 
menhang zwischen  der  Erdoberfläche  und  ihrer  Formationen  mit  der.  Ge- 
schichte in  deren  groszen  Bewegungen  aufsuchen  sollten,  liegt  ihnen 
völlig  fern.  Auch  hier  braucht  man  die  Rute,  die  nach  dem  helleren 
Golde,  dem  neuen  Gedanken  zuckt,  wie  Klopstock  sagt,  und  auch  diese 
Hute  ist  kein  Märchen ,  und  der  Lehrer  kann  und  soll  sie  seinen  Schüler 
finden  lassen. 

Für  manche  Disciplinen  ist  zu  rathen ,  dasz  man  an  das  tägliche  Le- 
ben mit  ihnen  anknüpfe,  für  andere,  dasz  man  sich  mehr  an  die  Ge- 
schichte halte.  In  das  mechanische  Rechnen  kommt  etwas  Goncretes  und 
Lebendiges  hinein,  wenn  man  die  Zahlen  benennt ,  wenn  man  Rechnungen 
vornehmen  läszt,  wie  sie  täglich  in  einer  Haushaltung  vorkommen,  in  die 
Mathematik  als  eigentliche  Wissenschaft,  wenn  man  ihre  Anwendbarkeit 
für  das  wirkliche  Leben  zeigt.  Man  spricht  mir  von  der  strengen  Wis- 
senschaft; ich  will  gern  von  dieser  Strenge  etwas  aufgeben,  wenn  ich 
nur  Leben,  Frische,  Bewegung  in  diese  Disciplin  hineinbringen  könnte. 
Üasselbe  gilt  von  der  Botanik,  von  der  Mineralogie.  In  den  sprachlichen 
Lectionen  bietet  die  Geschichte  das  geeignetste  Material  zu  Uebungs- 
stucken,  wie  dies  auch  von  vielen  Verfassern  von  Uebungsbüchern  aner- 


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496  Noctes  scholasticae. 

kannt  ist.  Denn  ethische  Sentenzen  sind  dein  Sextaner  noch  viel  zu  hoch 
und  Sätze,  in  denen  sie  hören,  dasz  die  Magd  die  Bank  nach  dem  Garten 
getragen  hat  oder  dasz  im  Walde  viele  und  grosze  Bäume  stehen,  können  sie 
unmöglich  reizen  und  für  die  junge  Seele  etwas  Nahrung  bringen.  Aber 
es  ist  völlig  ebenso  verkehrt,  wie  neuerdings  noch  Ploetz  gethan  hat  — 
quem  tarnen  honoris  caussa  nomino  —  historische  Beispiele  zu  häufen, 
die  für  ihn  eben  so  unverständlich  sein  müssen.  Die  Beispiele  sind  am 
besten  historisch,  aber  dies  Historische  musz  ihnen  bereits  bekannt  und 
geläufig  sein.  Ich  hatte  in  Tertia  die  Gewohnheit,  alleUebungsstücke  und 
Exercitien  aus  einem  sehr  beschränkten  Kreis  der  Geschichte  zu  nehmen. 
Pyrrhus ,  Hannibal ,  Caesar  spielten  darin  eine  Hauptrolle.  Ich  that  das 
natürlich  aus  sehr  guten  Gründen:  ich  wollte  auch  an  Bekanntes  anleimen. 
Ueberdies  halte  und  hielt  ich  dafür,  dasz  alles  zufällig  und  sporadisch  Ge- 
lernte eigentlich  werthlos  sei,  und  wies  daher  diejenigen  zurück,  welche 
sich  damals  über  diese  meine  Beschränkung  wunderten.  Würden  in  Sexta 
und  Quinta  noch  die  herlichen  griechischen  Sagen  erzählt ,  so  würde  ich 
mich  an  diesen  Kreis  anschlieszen.  Jedenfalls  rathe  ich  den  Lehrern  der 
untern  Glassen  dies  als  Grundsatz  fest  zu  halten,  dasz  vernünftiger  Weise 
Neues  nur  an  Altes ,  Unbekanntes  nur  an  Bekanntes  angeschlossen  wer- 
den kann.  Ein  näheres  Eingehen  hierauf  und  praktische  Vorschläge  für 
das  Lateinische  behalte  ich  mir  für  eine  andere  Gelegenheit  vor. 

Wenn  nun  so  Vorstellung  sich  an  Vorstellung  reiht,  so  ist  damit 
auch  der  Anfang  gemacht  zu  einem  Zusammenfassen  vieler  ähnlichen  oder 
auch  vieler  unterschiedenen  und  contrastierenden  zu  einer  Gesamtvorstel- 
lung des  Gemeinsamen,  bei  welcher  nicht  mehr  das  Einzelne  und  Indivi- 
duelle betrachtet  wird,  sondern  das  Allgemeine,  welches  sich  von  dem 
Einzelnen ,  an  dem  es  ursprünglich  haftete ,  gelöst  und  zu  einem  eigenen 
Sein  zusammengenommen  und  verdichtet  hat.  Das  Denken  abstrahiert 
dies  Gemeinsame  von  den  einzelnen  Erscheinungen  vermittelst  der  Re- 
flexion. Sobald  es  zu  diesem  Besultate  gelangt  ist,  faszt  es,  indem  es 
sich  zu  den  Individuen  zurückwendet,  welche  ihm  zur  Gewinnung  dieses 
Gemeinsamen  contribuiert  haben,  diese  zusammen  und  beugt  sie  unter 
dies  Gemeinsame  als  sein  Gesetz  und  seine  Regel ,  denen  sich  keines  der 
betreffenden  Individuen  entziehen  kann.  Und  mit  diesen  Vorstellungen, 
welche  nicht  mehr  die  Bilder  sinnlicher  von  auszen  her  empfangener 
Wahrnehmungen,  sondern  eigene,  freie  Productionen  sind,  unternimmt 
es  dann  seine  ferneren  Operationen,  welche  zu  immer  höheren,  umfassen- 
deren allgemeinen  hinaufführen.  Doch  diese  Operationen  haben  wir  ja 
nicht  zu  verfolgen. 

Ein  Beispiel  mag  uns  den  Fortschritt  des  Denkens  in  dieser  Bezie- 
hung klar  machen. 

Der  Knabe  liest  peritus  linguae  Latinae:  man  sagt  ihm:  das 
heiszt  bekannt  mit  der  lateinischen  Sprache.  Die  Vergleichung 
des  Lateinischen  mit  dem  Deutschen  zeigt  ihm  die  Verschiedenheit  der 
Construction.  Aber  er  findet  nicht  blosz  hier,  sondern  überall  peritus 
mit  dem  Genitiv  verbunden.  Er  abstrahiert  hieraus  die  Regel:  peritus 
müsse  immer  mit  dem  Genitiv  verbunden  werden.    Es  stöszt  ihm  hierauf 

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Noctes  scholaslicae.  497 

juris  consultus  auf;  dann  sieht  er  gnarus,  dann  ignarus  so  ver- 
bunden. Auch  diese  Wörter  haben  die  Construction,  welche  ihm  bei 
peritus  schon  so  aufgefallen  war?  Er  sieht  ferner,  wie  nahe  diese 
Wörter  ihrer  Bedeutung  nach  miteinander  verwandt  sind,  und  steigt  nun 
von  jenen  Regeln  zu  einer  höheren  Regel  auf,  dasz  alle  Adjectiva  dieser 
Bedeutung  den  Genitiv  bei  sich  haben.  Es  sind  aber  auch  noch  andere 
Adjectiva  von  anderer  Bedeutung  und  gleicher  Construction.  Er  musz 
noch  einmal  höher  hinaufsteigen  und  diese  sämtlichen  Adjectiva  zu  einer 
neuen  noch  umfassenderen  Regel  zusammenziehen. 

Es  fragt  sich  nun,  welche  Stellung  dies  Allgemeine,  dessen  Aus- 
druck die  Regel  ist,  im  Untericht  einzunehmen  habe. 

Der  natürliche  Gang  ist  ohne  Zweifel  derselbe ,  den  das  Denken  sel- 
ber hierbei  genommen  hat.  Also  auch  der  Unterricht  gehe  aus  von  der 
Erscheinung,  von  dem  einzelnen  Falle  oder  den  mehreren  einander  ähn- 
lichen einzelnen  Fällen  aus  einer  bestimmten  Sphäre.  Der  Schuler  werde 
angehalten  die  Augen  aufzuthun  und  das  Gleiche  in  den  einzelnen  Fällen 
zu  sehen.  Dies  Gleiche  ist  nun  das  Gesetz,  welches  in  der  Sprache  gilt. 
Es  ist  aber  nicht  blosz  das  Gesetz,  sondern  auch  für  ihn  eine  Regel, 
nach  der  er  sich  einer  neuen  einzelnen  Erscheinung  gegenüber  zu  richten 
hat.  Von  diesem  Allgemeinen  ausgehend  sagt  er  nun:  dieser  vorliegende 
Fall  ist  auch  einer,  welcher  in  den  Bereich  jenes  Allgemeinen,  unter  die 
mir  bekannte  Regel  fällt.  Dieser  Denkakt  ist  ein  Urteil,  und  zwar  ein 
subsumierendes  Urteil.  Es  ist  hierbei  ganz  gleich,  ob  dieser  ein- 
zelne Fall  eine  bereits  vorhandene  und  vorliegende  Erscheinung  ist  oder 
aber  eine  solche,  welche  erst  gebildet  werden  soll  d.  h.  ob  dieser  ein- 
zelne zu  subsumierende  Fall  in  der  Leetüre  oder  in  einem  Exercitium  usw. 
vorkommt.  Wir  gehen  also  von  der  Erscheinung  aus  und  kehren  wieder 
zur  Erscheinung  zurück :  vom  Einzelnen  durch  das  Allgemeine  zum  Ein- 
zelnen. 

Diese  Sachen  scheinen  alle  leicht,  einfach  und  selbstverständlich, 
aber  die  Erfahrung  zeigt,  wie  viel  dagegen  gesündigt  wird  und  wie  wich- 
tig es  also  ist,  hierüber  ein  klares  und  sicheres  Bewustsein  zu  haben.  Von 
den  Grammatiken  will  ich  nicht  reden ,  obwol  auch  sie  die  Beispiele  vor- 
anstellen sollten;  aber  auch  der  Unterricht  pflegt  insgemein  von  dem 
Allgemeinen,  der  Regel,  auszugehen.  Diese  wird  im  besten  Falle  erklärt, 
durchgenommen;  ich  habe  auch  Fälle  vor  Augen,  wo  ein  Lehrer  vor 
dieser  Erklärung  die  Regel  zum  Auswendiglernen  aufgab;  dann  werden 
die  Beispiele  übersetzt,  und  hierauf  wird  die  Regel  an*Sätzen  angewandt, 
welche  der  Lehrer  selbst  bildet  oder  bilden  läszt,  und  so  eingeübt.  Das 
Einzige ,  was  diesem  grundverkehrten  Verfahren  zur  Entschuldigung  ge- 
sagt werden  kann,  ist  dies,  dasz  es  compendiari scher  sei  als  das 
oben  bezeichnete.  Indes  wozu  dieses  Gompendiarische?  Ist  nur  das  Auge 
gebildet,  der  Verstand  geschärft,  die  Kraft  ins  Leben  gerufen:  mit  wie 
wenig  Regeln  läszt  sich  da  eine  Sprache  erlernen!  Mit  wie  wenigen 
haben  wir  sie  einst  erlernt!  Dies  ist  das  eigentliche  Bedürfnis,  welches 
wir  empfinden:  Kraft,  Können,  Freiheit  und  Selbständigkeit  im  Denken, 
im  Arbeiten,  im  Producieren.   Das  Wissen  und  dasz  wir  darauf  den  Ton 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  a.  Päd.  II.  Abt.  IBM.  Hft.  10.  Djg |fl  34  Q0( 


498  Noctes  scholasticae. 

gelegt  haben ,  hat  uns  so  weit  heruntergebracht  und  wird  uns  noch  wei- 
ter herunterbringen.  Wiese  hat  einmal  eine  Grammatik  ohne  Regeln  als 
eins  seiner  Desiderien  bezeichnet.  Dies  Wort  bezeichnet  ihn  allein  als  klar 
sehenden  Pädagogen.  Aber  was  es  für  Frucht  gebracht  hätte ,  kann  ich 
nicht  absehen.  Die  Regeln  sind  unser  Schatz ,  und  wo  unser  Schatz  ist, 
da  pflegt  auch  unser  Herz  zu  sein.  Wir  verachten  die  Regeln  nicht,  aber 
wir  wollen  sie  von  den  Schülern  selbst  erzeugt  und  so  in  lebendigen 
Flusz  gebracht  sehen,  in  dem  sie  sich  ja  wie  die  Fülle  von  Ausnahmen 
zeigt,  in  der  That  und  Wahrheit  befinden.  Und  dasz  ich  auch  dies  hinzu- 
füge, auf  dem  Rückwege  von  der  Regel  bedenke  man  ja,  dasz  das  subsu- 
mierende Urteil  das  Wichtigste  ist,  das  Einüben  aber  das  Nebensächliche 
und  das  Mittel  für  einen  höheren  Zweck ;  wenn  nicht  durch  das  immer 
mehr  um  sich  greifende  Einüben  das  geistige  Leben  wieder  ins  Mecha- 
nische hinabsinkt  und  darum  auch  so  wenige  Frucht  trägt.  Ich  lasse  so 
viel  arbeiten,  und  es  hilft  und  hilft  nichts,  höre  ich  fortdauernd  klagen: 
wie  soll  dies  arbeilen  aber  helfen?  Lasz  weniger  arbeiten  und  treibe 
deine  Knaben  statt  dessen  ins  Denken  hinein ,  so  wirst  du  bald  andere  Re- 
sultate sehen. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wenn  wir  hier  weiter  zu  zeigen  un- 
ternähmen, wie  auf  diesem  Wege  das  Denken  dazu  gelangt,  gröszere 
Ideenkreise  innerlich  zusammenzuschlieszen  und  sich  so  den  Weg  zur 
Wissenschart  und  zum  System  zu  bahnen.  Wir  wenden  uns  lieber  einem 
andern  Punkte  zu,  der  für  das  Denken  und  einen  von  Denken  und  Anre- 
gung zum  Denken  erfüllten  Unterricht  von  gröster  Bedeutung  ist.  Wenn 
wir  nicht  fürchteten  roiszverstanden  zu  werden,  möchten  wir,  was  wir 
im  Auge  haben,  als  das  Erkennen  der  Vernunft  in  den  Erschei- 
nungen bezeichnen. 

Wir  haben  in  dem  Obigen  das  Denken  als  in  der  Verbindung  mehre- 
rer Vorstellungen  bestehend  erkannt;  der  denkende  Unterricht  leitete  die 
Schüler  dazu  an,  diese  Verbindung  von  Vorstellungen  zu  vollziehen,  und 
zwar  nicht  einmal  oder  zufällig ,  sondern  immer  und  mit  Notwendigkeit 
aus  einem  Bedürfnis  und  Drang  der  Seele  heraus.  Hier  war  die  hinzu- 
tretende Vorstellung  die  des  Ganzen  und  seiner  Teile,  dort  die  des  Aehn- 
lichen  und  Unähnlichen  innerhalb  der  gleichen  Sphäre ,  dann  die  des  Ge- 
nerellen; hier  haben  wir  es  nun  mit  der  der  Gausalität  zu  thun.  Es  ist 
nicht  unsere  Aufgabe  nachzuweisen,  wie  dieser  Begriff  in  der  Seele  sich 
bildet;  der  Unterricht  findet  ihn  bei  dem  Schüler  bereits  auf  den  ersten 
Stufen  vor,  wenn  auch  noch  nicht  entwickelt  und  Denken  und  Wollen  des 
Knaben  beherschend.  Indem  er  ihn  benutzt ,  hilft  er  ihm  an  Kraft  und 
Stärke  gewinnen.  Dieser  Begriff  nun  ist  es,  durch  den  erst  das  Verste- 
hen wirklich  wird.  Man  mag  lange  einen  Gegenstand  erkannt  haben,  in 
seinen  Teilen,  in  seinem  Unterschied  »von  andern  gleichen,  in  dem  grös- 
zeren  Ganzen,  dem  er  angehört;  ein  Verstehen  tritt  doch  nur  erst  dann 
ein  und  mit  dem  Momente,  wo  der  Verstand  in  ihm  die  ratio,  den  ob- 
jeetiven  Verstand,  sich  selber  wieder  findet.  Nun  erst  kommmt  das 
Denken,  in  dem  es  zu  sich  selbst  kommt,  zur  wahren  Ruhe  und  Befrie- 
digung. 


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Noctes  scholasticae.  499 

Dieses  Verstehen  nun  ist  von  dem  Unterricht  auf  allen  seinen  Stu- 
fen und  in  allen  Disciplinen  gleichmäszig  anzustreben;  wenn  es  auch  nach 
den  Objecten  des  Unterrichts  ein  verschiedenartiges  ist ,  ein  anderes  in 
der  Mathematik  und  in  der  Physik ,  ein  anderes  in  der  Geschichte  und 
Geographie ,  ein  anderes  in  den  Sprachen ,  ein  anderes  in  der  Naturbe- 
schreibung, ein  anderes  in  der  Religion.  Eben  so  wird  es  durch  die  Stufe, 
auf  welcher  der  Schüler  steht,  ein  anderes.  Schon  der  Sextaner  soll  und 
kann  die  Sprache,  welche  er  zu  treiben  hat,  verstehen;  wie  wird  dies 
Verstehen  von  Stufe  zu  Stufe  ein  anderes  bis  zu  der  Stufe  hinauf,  wo  an 
der  Hand  der  vergleichenden  Sprachforschung  das  innere  Leben  der 
Sprache,  die  Veränderungen,  welche  im  Lauf  der  Zeit  in  und  mit  der 
Sprache  geschehen  sind,  die  Gesetze,  nach  denen  diese  Veränderungen  er- 
folgen, die  Zwecke,  welche  die  Sprache  zu  erreichen  strebt,  und  weiter 
und  weiter  die  lebendige  Beziehung,  in  welcher  diese  Sprache  zu  dem 
bestimmten  Volksindividuum,  dessen  Sprache  sie  ist,  steht,  immer  tiefer 
und  sicherer  erkannt  wird!  Eben  so  ist  die  Geschichte  von  vorn  herein 
rationell  zu  betreiben  und  das  Warum  zu  einem  Momente  des  Unter- 
richts zu  machen.  Es  ist  kaum  zu  sagen,  und  nur  von  dem  zu  begreifen, 
welcher  in  stetigem  Verkehr  mit  diesem  Lebensalter  steht ,  wie  bald  der 
fähige  Knabe  die  Sagenwelt  hinter  sich  läszt  und  über  sie  hinaus  ist  oder 
hinaus  will.  Ich  habe  gleichfalls ,  wie  es  Niebuhr  gethan,  in  frühen  Jah- 
ren meinen  Kindern  diese  Sagen  erzählt;  aber  ehe  man  es  sich  versieht, 
ist  der  Glaube  daran  verschwunden  und  die  Reflexion  über  diese  Dinge 
da,  vor  welcher  diese  schöne  Zauber-  und  Wunderwelt  erbleicht,  und  der 
Moment  erschienen ,  wo  dem  Knaben  eine  andere  Geschichte  darzubieten 
ist.  Aber  wie  wird  dies  Verstehen  ein  anderes  und  immer  wieder  ein  an- 
deres bis  zu  dem  Punkte ,  wo  allein  noch  der  Gedanke  einer  göttlichen 
Weltregierung  und  eines  persönlich  waltenden  Gottes  das  Suchen ,  Stre- 
ben und  Ringen  der  nach  Wahrheit  verlangenden  Seele  zufrieden  stellen 
und  dies  Verstehen  vollenden  kann!  Ein  Unterricht,  der  dies  Verstehen 
nicht  erstrebte,  nichtrauf  allen  seinen  Stufen  erstrebte,  sondern  sich  mit 
der  Erscheinung,  mit  dem  Factischen,  sei  es  noch  so  glänzend,  noch  so 
erhaben,  noch  so  herzbewegend,  begnügte,  wäre  kaum  ein  Unterricht  zu 
nennen. 

Hier  stehen  wir  nun  an  einem  Punkte  der  Entscheidung.  Alles  oben 
Erwähnte  ist  gleichsam  nur  vorbereitend  gewesen;  hier  trennt  sich  das 
eigentliche  Denken  vom  Mechanischen;  hier  musz  es  sich  zeigen,  sowol 
ob  der  Lehrer  im  Mechanischen  seine  eigentliche  Sphäre  und  seine  Le- 
bensaufgabe hat,  als  auch  ob  in  dem  Schüler  eine  höhere  Befähigung  vor- 
handen ist.  Und  doch  möchte  ich  diese  Entscheidung  nicht  allzufrüh  ein- 
treten lassen;  denn  vieles  ist  in  der  Seele  verborgen,  was  man  dort 
überhaupt  nicht  vermuthet,  was  aber  sich  zu  regen,  zu  keimen,  sich 
ans  Licht  hinaufzuringen  beginnt,  wenn  der  rechte  Mann  da  ist,  %r  dies 
verborgene  Leben  zu  wecken  im  Stande  ist.  Ja,  und  dies  ist  mir  hier  das 
Wichtigste,  ich  habe  es  vielfach  erlebt,  dasz  Schüler ,  welche  im  Stadium 
des  Mechanischen  völlig  beschränkt  erschienen,  sich  geistig  gleichsam  er- 
munterten, als  diese  Saite  bei  ihnen  angeschlagen  wurde.     Denn  für  ge- 

34*<-         T 

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500  Noctes  scholasticae. 

wisse  Naturen,  denen  es  an  einer  lebhaften  Phantasie,  an  geistiger  Be- 
weglichkeit und  Agilität,  an  rascher  Fassung  und  Anwendung  fehlt,  ist 
dies  Basieren  des  Unterrichts  auf  Begreifen  und  Verstehen  etwas  Natür- 
liches und  Heilsames.  Ich  habe  in  dieser  Hinsicht  viele  und  mich  über- 
zeugende Erfahrungeu  gemacht,  auf  die  ich  mich  gern  berufe,  da  ich  das 
Bewustsein  habe,  mit  groszer  Sorgfalt  beobachtet  zu  haben,  wie  jeder 
Sachverständige  meinen  Worten  anhören  wird.  Das -Wörtchen  warum 
ist  oft  wie  eine  Fackel,  welche  in  eine  trübe  und  dunkele  Seele  Licht  und 
Leben  bringt.  Wenn  mir  ein  College  sagt :  ich  musz  mich  mit  diesem 
oder  jenem  oder  auch  mit  meiner  Glasse,  so  arm  ist  sie  an  Geist,  auf  das 
Mechanische  beschränken,  so  erwidere  ich  ihm  wol:  greifen  Sie  es  nur 
einmal  mit  dem  Denken,  mit  dem  Rationellen  an,  und  ich  finde  meist,  dasz 
wenn  dies  geschieht,  und  wenn  der  Lehrer  den  Willen  seiner  Schüler  be- 
herscht,  ein  anderer  Geist  in  diese  seine  Schüler  kommt.  Der  natürliche 
Weg  ist  freilich  der  Von  dem  ÖTl  zum  blÖTi;  oft  aber  musz  man  erst 
zum  biön  kommen,  ehe  man  das  öti  erreicht. 

Ich  gebe  ein  Beispiel. 

Unsere  lateinischen  Grammatiken  sind,  und  natürlich,  mit  einer 
Menge  von  Regeln  angefüllt,  welche  den  Unterschied  der  lateinischen 
Sprache  von  der  deutschen  zur  Voraussetzung  haben.  Der  Schüler  soll 
sich  in  diesen  Regeln  dieses  Unterschiedes  bewust  werden.  Er  musz  zu 
dem  Behufe  diese  Regeln  lernen.  Der  nächste  Procesz  ist  für  ihn  der, 
diese,  Regeln ,  in  dem  er  die  in  sie  zusammengefaszten  Erscheinungen  in- 
nerlich versteht ,  gleichsam  wieder  aufzuheben ,  wie  sie  ja  für  den  über- 
haupt nicht  vorhanden  sind ,  der  die  Sprache  als  Muttersprache  spricht, 
und  für  den  verschwinden,  der  sie  wie  seine  Muttersprache  als  eine  le- 
bendige zu  gebrauchen  im  Stande  ist.  Sie  lösen  sich  auch  insofern  auf, 
als  sich  bald  ergibt,  dasz  in  ihnen  nur  scheinbar  Verwandtes  äuszerlich 
zusammengestellt  ist ,  was  sich  als  völlig  verschiedenartig  herausstellt. 
So  lernt  der  Knabe:  persuadeo  heiszt  überreden,  und  regiert  den 
Dativ;  überreden  hat  den  Accusativ  bei  sich.  Dies  lernt  er  sehr  bald, 
aber  der  Gebrauch  und  die  Anwendung  im  Passiv  macht  ihm  Mühe.  Wenn 
ich  nun  den  Lehrer  sich  hiermit  abmühen  sehe ,  sage  ich  wol  dem  Kna- 
ben: suadere  hängt  mit  suavis  zusammen  und  heiszt  etwas  als 
suave  darstellen;  persuadere  heiszt  bis  ans  Ende  d.h.  so  lange, 
bis  einer  es  glaubt  oder  thul,  etwas  als  suave  darstellen.  Uebersetze 
es  also  als  wünschenswerth,  gut  vorstellen.  Der  Dativ  versteht 
sich  nun  von  selbst.  Soll  nun  der  Knabe  übersetzen :  ich  bin  überredet 
worden,  so  lasse  ich  dies  zuvor  übersetzen :  es  ist  mir  als  gut  vorgestellt 
worden,  mihi  persüasum  est.  Ob trectare,  lehrt  die  Grammatik, 
heiszt  beneiden:  im  Gegenteil,  es  heiszt  entgegenstreben,  entgegenar- 
beiten. Man  beneidet  mich  musz  also  erst  umgewandelt  werden: 
mir  wird  entgegengearbeitet.  Und  dieser  Procesz  wird  von  dem 
Schüler  sehr  bald  und  sehr  sicher  gemacht,  wenn  er  hierzu  angeleitet 
wird,  wenn  man  ihn  namentlich  sehen  läszt,  dasz  er  auf  diese  Weise  et- 
was kann,  was  er  bis  dahin  nicht  konnte.  Ich  habe  einem,  solchen  armen 
Jungen  hierbei  das  Auge  ordentlich  vor  Freude  leuchten  sehen ,  wenn  er 


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Noctes  scholasticae.  ,501 

so  etwas  begriffen  hatte.  Wozu  nun  diese  Quälerei  mit  all  jenen  Regeln  ? 
Man  sage  doch  dem  Knaben :  i  n  v  i  d  e  o  =  misgönnen ;  i  u  v  o  =  unter- 
stützen; sequor  =  zu  erreichen  suchen,  erstreben,  zumal  da  sequor 
sapientiam  doch  nicht  heiszt  folgen;  aequo  =  erreichen;  utor 
=  sich  helfen  mit  einer  Sache;  opus  est  lihris,=  das  Werk  ist, 
kommt  zu  Stande  durch  Bücher,  oder  opus  sunt  libri  =  die  ßücher 
sind  das  Werk;  poenitet  me  rei  =  mich  ergreift  Reue  über  eine 
Sache  oder  von  einer  Sache  her,  je  nach  der  Ansicht,  die  man  von  dem 
Casus  hat;  refert  patris  =  res  patris  fert,  wenn  das  auch  nicht  rich- 
tig sein  sollte.  Die  Lehre  von  den  Temporibus  und  Modis  liegt  der  den- 
kenden Betrachtung  schon  näher,  läszt  sich  ohne  sie  kaum  zum  Bewusl- 
sein  bringen;  doch  ist  auch  in  sie  noch  viel  mehr  Rationelles  hineinzu- 
legen möglich.  Die  Synonymik  hat  Doederlein  für  alle  Zeiten  auf 
den  Boden  verpflanzt,  auf  den  sie  hingehört,  auf  den  des  Etymologischen. 
Je  mehr  sie  sich  dessen  erinnert,  desto  mehr  wird  sie  in  das  Verständnis 
des  Schülers  eindringen ,  desto  mehr  aufhören ,  für  ihn  ein  äuszerliches 
Wissen  zu  sein.  So  viel  steht  wenigstens  fest,  dasz  durch  dies  Verste- 
hen das  Wissen  erst  rechten  Halt,  innere  Gediegenheit  und  Dauer  em- 
pfangt, dasz  es  aber  bei  vielen  Naturen  das  einzige  .Mittel  ist,  um  sie 
überhaupt  zum  Wissen  heranzubringen.  Namentlich  bei  langsamen  und 
trägen  Naturen,  bei  einer  überwiegend  aus  schwachen  Schülern  bestehen- 
den Ciasse  ist  dieser  Gang  der  notwendige ;  er  ist  langsam  aber  sicher ; 
es  ist  so  nicht  viel,  aber  doch  etwas  zu  erreichen,  und  dies  Etwas  ist 
von  groszer  Wichtigkeit,  wenn  es  in  sich  einschlieszt ,  dasz  dadurch  eine 
dauernde  Richtung  auf  das  Denken  mitgeteilt  sei. 

Das  Verstehen  ist  in  allen  Gebieten  des  Erkennens  dem  Streben  nach 
das  gleiche,  nämlich  das  Finden  der  Vernunft  in  dem  Vorgestellten,  der 
Form  nach  dagegen  ein  verschiedenes ,  durch  die  Natur  der  vorgestellten 
Objecte  bedingtes  und  modificiertes.  Dies  zu  verfolgen  müssen  wir  un- 
sern  Lesern  überlassen. 

Es  ist  jedoch  auch  dies  noch  nicht  ausreichend,  um  uns  das  Bild  des 
denkenden  Unterrichts  zu  vollenden.  Denn  in  allem  eben  Erwähnten  bleibt 
die  Vorstellung  doch  wesentlich  innerhalb  des  Vorgestellten  stehen,  und 
das  Höchste,  was  sie  erreicht,  ist  das,  dasz  sie  sich  in  das  Object  ver- 
tiefe und  von  der  Erscheinung  bis  zu  den  letzten  Gründen  derselben  liin- 
absteige.  Aber  das  Object  bleibt  hierbei  dem  vorstellenden  Subject  als 
ein  fremdes  und  äuszerliches  gegenüberstehen  und  läszt  dieses  in  seinem 
Innern  unbewegt ,  auszer  dasz  aus  dem  Bewustsein  eines  neu  errungenen 
Wissens  oder  Könnens  oder  überwundener  Hindernisse,  gewonnener  Kraft 
ein  Gefühl  der  Lust  und  insofern  auch  eine  Freude  an  dem  Objecte  her- 
vorgeht. Aber  die  Freude  und  das  Interesse  an  der  Sache  selbt  ist  damit 
nicht  gewonnen.  Damit  das  Letztere  geschehe,  musz  das  Vorstellen  sich 
über  die  Sache  und  über  die  Gesamtheit  aller  jener  Objecte  in  die  Sphäre 
der  Idee  erheben  und  diese  letztere  nicht  blosz  als  das  Ziel  aller  jener 
geistigen  Bewegungen  und  Strebungen  erkennen,  sondern  auch  zu  dem 
Masze  und  Kriterium  derselben  machen.  Wie  diese  Ideen  des  Schönen, 
des  Wahren,  des  Sittlichen  und  die  diese  alle  umfassende  und  einigende 

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502  Noctes  scholasticae. 

Idee  Gottes  psychologisch  entstehen ,  sich  bilden  und  vollenden  —  denn 
angeboren  sind  sie  dem  Menschen  nicht ,  so  dasz  sie  der  Mensch  von  Na- 
tur besäsze  —  können  wir  hier  nicht  zu  erörtern  versuchen;  unsere 
Aufgabe  ist  nur,  dasz  diese  Ideen  auch  Tür  den  Unterricht,  um  diesen  zu 
einem  denkenden  werden  zu  lassen,  verwendet  und  verwerthet  werden 
müssen,  zu  erinnern.  Denn  ohne  sie  tappt  alles  Lernen  schlieszlich  doch 
wie  im  Dunkeln  und  bildet  die  Seele  nicht  wahrhaft,  nicht  harmonisch. 
Wozu  all  das  Lernen?  fragt  der  Knabe  und  Jungling  mit  Recht  verdros- 
sen, wenn  ihm  nicht  die  Idee  der  Wahrheit  in  der  Ferne  gezeigt  wird  als 
eine  solche ,  in  welcher  alles  Lernen  und  Wissensstreben  seine  Einheit, 
seinen  Gentralpunkt  habe?  So  ist  es  mit  aller  Kunst  ohne  die  Idee  des 
Schönen ,  so  mit  det  Geschichte  ohne  die  des  Sittlichen ,  so  mit  Allem, 
was  der  Mensch  denkt  und  strebt  ohne  einen  letzten  und  höchsten  Gen- 
tralpunkt, die  Idee  Gottes.  Diese  Ideen  haben,  indem  sie  sich  in  das  End- 
liche und  Sichtbare  hinabsenken ,  sich  dort  verleiblicht ,  aber  auch  eben- 
sowol  dieses  Endliche ,  welches  sie  durchdrungen  haben ,  vergeistigt  und 
verklärt ;  sie  hier  wiederzuerkennen  und  von  da  zur  Uridee  hinaufzustei- 
gen und  diese  Verbindung  ununterbrochen  offen  zu  erhalten,  ist  des 
Menschen  würdig  und  endlich  doch  die  letzte  Aufgabe  des  Unterrichts, 
des  Lehrers. 

Aber  hierzu  kann  und  musz  frühzeitig  der  Anfang  gemacht  werden. 
Der  Knabe  sieht  nicht  von  selber  das  Schöne  in  der  Blume,  das  Edle  in 
einer  Handlung;  das  Natürliche  ist  ihm,  die  Blume  zu  zerreiszen,  den  Kä- 
fer zu  zertreten ,  den  Hund  zu  quälen ,  das  Nest  auszunehmen  usw.  In 
dieser  natürlichen  Rohheit  verbleibt  er,  wenn  nicht  Umgang,  Erziehung, 
Unterricht  ihn  derselben  entreiszen.  Was  nun  das  Schöne  anbetrifft, 
so  ist  es  zunächst  die  Naturschönheit,  an  welcher  dem  Knaben  der  Sinn 
für  dasselbe  aufgehen  musz  d.  h.  nicht  blosz  in  Ausdrücken  der  Bewun- 
derung und  des  Entzückens,  sondern  in  Belehrung  über  die  Elemente,  de- 
ren Vereinigung  das  Schöne  zum  Schönen  macht,  über  das  Verhält- 
nis der  Teile  untereinander  und  zum  Ganzen ,  über  die  Mischung  der  Far- 
ben usw.  Eben  so  sollte  dem  Knaben  sehr  früh  der  Sternenhimmel  als 
ein  Bild  der  Ordnung  bekannt  werden.  Ich  habe  es  nie  unterlassen  mei- 
nen Kindern  frühzeitig  dies  zu  geben ,  einheimisch  zu  werden  am  Ster- 
nenhimmel und  hier  zuerst  den  Eindruck  des  Erhabenen  zu  empfinden. 
Es  ist  sehr  zu  bedauern,  dasz  man  die  Wichtigkeit  und  Bedeutung  dieser 
Disciplinen  für  die  Bildung  des  Knabenalters  so  wenig  zu  schätzen  weisz. 
Eben  so  ist  es  mit  dem  Ethischen.  Was  hilft  doch  alle  Geschichte  auf 
der  Schule,  wenn  nicht  der  Sinn  für  das  sittliche  und  das  ethische  Urteil 
dadurch  gebildet  wird?  Und  doch  wie  wenig  geschieht  das?  Tausendmal 
frage  ich  die  Schüler :  möchtest  du  lieber  Demosthenes  oder  Philipp  ge- 
wesen sein?  lieber  mit  Brutus  oder  mit  den  Triumvirn  gestanden  haben? 
und  ich  finde  sie  ohne  ein  sittliches  Bewustsein ,  ohne  eine  sittliche  Ent- 
scheidung. Dann  beklage  ich  schwer ,  dasz  dem  Jahre  der  Frühling  ge- 
nommen sei.  Auch  hier  musz  ich  es  als  ein  groszes  Unrecht  betrachten, 
welches  der  Jugend  angethan  wird,  dies,  dasz  die  Geschichte  so  spät  erst 
zum  Object  des  Unterricht  wird.    Eine  Hauptquelle  für  ethische  Bildung 


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Migault:  Versuch  einer  engl.  Schulgramraatik.  503 

bleibt  ihr  zu  lange  verschlossen.  Eben  so  ist  die  Lust  am  Erkennen  früh- 
zeitig zu  beleben.  Auch  das  Wahre  weckt,  wie  das  Schöne  und  Sittliche, 
in  der  Seele  Freude ,  obwol  hierfür  die  Empfänglichkeit  erst  später  er- 
wacht. Doch  ist  das  peinigende  Gefühl,  welches  der  Schüler  beim  Nicht- 
vel'stehen  empfindet,  und  welches  sich  selbst  in  seiner  Miene  und  seiner 
ganzen  Haltung  ausprägt,  und  die  Freude,  welche  auf  jenes  Gefühl  beim 
endlich  erlangten  Verstehen  folgt,  immerhin  schon  frühzeitig  zu  benutzen, 
um  den  Schüler  ahnen  zu  lassen ,  dasz  das  Wahre  überhaupt  ein  Bedürf- 
nis für  ihn  sei.  Von  dem  vielen  Schönen,  Edlen  und  Wahren  erhebt  sich 
dann  das  Denken,  indem  es  einerseits  festhält,  dasz  das  Wahre,  Schöne 
und  Gute  für  den  Menschen  da  sei,  und  andrerseits  erkennt,  wie  vergäng- 
lich das  Schöne ,  wie  dunkel  und  beschränkt  sein  Wissen ,  wie  schwach 
sein  Streben  nach  dem  Guten  sei,  und  wie  viel  des  Unschönen,. der  Täu- 
schung, der  Sünde  in  der  Welt  sei,  zu  jener  Sphäre  der  Idee,  in  der  das 
zu  finden  sei,  was  man  hier  vergeblich  suetie,  und  in  welcher  man  einst 
alle  Sehnsucht  seines  Herzens  werde  befriedigen  können. 

Diese  Erörterungen  haben  mich  zu  lange  aufgehalten,  als  dasz  ich 
noch  mit  der  Darlegung  die  geneigten  und  geduldigen  Leser  ermüden 
durfte,  dasz  auch  all  dies  durch  Denken  vermittelte  Erkennen  schlieszlich 
doch  wieder,  um  für  das  Leben  nutzbar  zu  werden,  zum  mechanischen 
Besitz  werden  müsse.  Ohne  diese  Geläufigkeit,  so  will  ich  dieses 
zweite  mechanische  Wissen  und  Können  nennen,  z.  B.  in  der  Leetüre  ei- 
nes Autors,  im.  Verfertigen  eines  lateinischen  oder  deutscheu  Aufsatzes, 
in  der  Lösung  einer  mathematischen  Aufgabe,  in  der  Verbindung  histori- 
scher Dinge  hat  der  Unterricht  doch  seinen  letzten  Zweck  verfehlt. 

*  ** 


87. 

Versuch  einer  englischen  Schulgrammatik  auf  historisch-kritischer 
Grundlage  von  Dr.  Henry  Gabriel  Migault  Erste  Ab- 
theilung :  die  Formenlehre.   Nürnberg,  Zeiser. 

Ein  eigentümliches  Werk!  Wer  nur  einige  Seiten  darin  gelesen  hat, 
wird  den  ausländischen  Verfasser  sofort  erkennen.  Das  ist  nicht  die  Art 
wie  wir  deutsche  Grammatik  schreiben  —  das  Grammatikfabricieren, 
dessen  Blütezeit  hoffentlich  vorüber  ist,  einmal  ganz  bei  Seite  gelassen. 
So  würde  in  Deutschland  höchstens  ein  Docent  an  der  Universität  Gram- 
matik vortragen  können,  er  müste  freilich  in  vielen  Dingen  etwas  mehr 
wissen  als  der  Herr  Dr.  Migault ,  obgleich  dieser  dafür  manches  Andere 
lehren  kann,  was  der  gelehrte  deutsche  Professor,  vorausgesetzt  dasz  er 
nicht  ein  halber  oder  ganzer  Engländer  geworden  ist,  aus  Büchern  nicht 
hat  lernen  können. 

Wir  sind  nicht  recht  klar  geworden ,  welche  Glasse  von  Grammatik 
wir  hier  vor  uns  haben.   Es  ist  ein ,  wie  der  Verf.  selbst  sagt ,  so  durch- 


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504  Migault:  Versuch  einer  eng].  Schulgrammatik. 

aus  e eigenartiges'  Werk,  'nach  Anlage  und  Ausführung  selbständig9,  dasz 
es  in  unsere  herkömmlichen  Kategorien  nicht  passt.  Wir  möchten  es  am 
liebsten  als  einen  Versuch  bezeichnen,  die  Wissenschaft  unter  einem 
populären  Gewände  dem  Leser  vorzuführen,  obgleich  auch  in  dieser  Be- 
ziehung wiederum  an  beiden  etwas  fehlt  und  es  doch  ein  gar  zu  kühnes 
Unternehmen  wäre,  Grammatik  zu  popularisieren.  Wir  kommen  dem 
Sachverhalt  vielleicht  näher,  wenn  wir  sagen,  der  Verf.  habe,  das  utile 
cum  dulei  miscens,  sich  bestrebt,  den  trocknen  grammatischen  Stoff  durch 
allerlei  eingestreute  Bemerkungen  (passende  und  unpassende)  anziehender 
und  genieszbarer  zu  machen.  Und  das  ist  ihm ,  allerdings  nur  teilweise 
gelungen. 

Eine  Schul -Grammatik  liegt  nicht  vor.  Welcher  Lehrer  wagte  es 
in  seiner  Schule  ein  Lesebuch  zu  gebrauchen,  das  auf  200  Octavseiten 
weiter  nichts  abhandelt  >als  die  Formenlehre!  Regeln  sind  genug  darin, 
die  auch  durch  vereinzelte  Beispiele  erläutert  werden,  wie  sie  aber  prak- 
tisch verwerthet  werden  sollen ,  ist  unerklärlich.  Der  Verf.  verweist  in 
der  Vorrede  auf  S.  179  seines  Werkes ,  wo  er  seltsam  genug  bei  Gelegen- 
heit des  substantivischen  Particips  sich  über  diesen  Punkt  des  weiteren 
ausspricht  —  andere  Autoren  setzen  so  etwas  in  die  Vorrede.  Dort  wird 
nun  als  Ziel  angegeben ,  dasz  cder  Lernende  in  den  Stand  gesetzt  werden 
soll,  aus  dem  Englischen  ins  Deutsche  zu  übersetzen,  auf  ein  sogar  (sie!) 
schwieriges  Englisches  (der  Verf.  schreibt  durchweg  nach  englischer  Weise 
die  Adjectiven  von  Ländernamen  grosz  — )  Buch  sich  selbständig  zu  prä- 
parieren.'  Den  umgekehrten  Process  verwirft  der  Verf.  gänzlich : 

1)  5Fürs  Griechische  und  Lateinische ,  selbst  fürs  Französische ,  sind 
derartige  Uebungen  (Uebersetzen  aus  dem  Deutschen)  notwendig,  wenig- 
stens rathsam ,  wegen  der  schwierigen  Formen ,  und  weil  diese  Sprachen 
schon  im  frühen  Alter  erlernt  werden;  die  Formenlehre  des  Englischen 
aber  ist  eine  so  überaus  einfache  und  leichte  ( —  wozu  dann  aber  200 
Seiten!!  — ),  dasz,  wenn  dieselbe  nur  klar  hingestellt  und  genau  defi- 
niert (sie!)  worden  ist,  der  Schüler  sie  ohne  Schwierigkeit  begreift  und 
behält  (?).  Folglich  (?)  kann  er  sie  auch  anwenden ,  ohne  sie  in  wahrhaft 
kindischer  Weise  und  mit  groszer  Verschwendung  von  Zeit ,  Papier  und 
Dinte  mittelst  hundert  und  aber  hundert  Uebungen  erst  noch  mechanisch 
einexerciert  zu  haben.' 

Derselbe  Grund,  der  für  die  anderen  Sprachen  gilt,  ist  für  das  Eng- 
lische durchaus  eben  so  gültig ,  nur  nicht  in  derselben  äuszerlichen  Aus- 
dehnung. Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  dasz  Schüler,  welche  die  Formen 
nicht  schriftlich  eingeübt  haben ,  fast  ohne  Ausnahme  nicht  zur  gehörigen 
Sicherheit  in  ihrer  Anwendung  gelangen.  Man  sieht  aber  auch  auf  den 
ersten  Blick,  dasz  der  geehrte  Herr  Verf.  den  Schul -Unterricht  nicht 
recht  kennt,  sondern  seine  Ansicht  auf  Erfahrungen  aus  Privat-Unterricht, 
der  es  mit  gereifteren  Schülern  zu  thun  hat,  gegründet  hat.  Für  Kinder, 
sagt  er,  habe  er  seine  Grammatik  nicht  berechnet  —  wir  Schulmänner 
haben  es  aber  mit  Kindern,  denn  13-—  14jährige  Knaben  sind  Kinder,  zu 
thun,  folglich  —  können  wir  eine  solche  Grammatik  wie  die  vorliegende 
nicht  verwenden. 


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Migault:  Versuch  einer  engl.  Schulgramraatik.  505 

2)  'Deshalb  sind  meines  Erachtens  die  einzigen  Uebungen  zum  Ueber- 
setzen  aus  dem  Deutschen  ins  Englische,  die  für  gereiftere  junge  Leute 
nötig  oder  wünschenswerth  sind,  solche,  welchen  Logisches  (?)  oder 
Idiomatisches  zum  Thema  dient,  solche  mithin  (sie!),  welche  eine  Bekannt- 
schaft mit  der  Syntax  voraussetzen  und  um  die  Syntax  sich  drehen.  Die 
Uebungen  können  dann  gröszere Dimensionen  annehmen  usw.  —  statt  dasz 
die  Klimperei  ad  infinitum  mit  Variationen  über  z.  B.  'der  Sohn  des  Vaters9, 
cich  liebe  ihn5,  'die  Bäume  sind  hoch*  usw. ,  denen ,  die  nur  einige  Gei- 
stesreife und  Bildung  besitzen,  sehr  Jtald  recht  langweilig  und  sogar  lä- 
cherlich vorkommen  müssen.' 

Ganz  recht!  Aber  der  Verf.  scheint  nicht  zu  bedenken,  dasz  man 
heutigen  Tages  an  eine  Schul -Grammatik  andere  Anforderungen  stellt, 
dasz  nur  eine  solche  Anspruch  auf  mehr  als  ephemere  Bedeutung  erheben 
kann ,  die  in  geeigneter  Weise  den  Lernenden  sofort  in  die  Syntax  ein- 
führt. Er  gesteht  ja  selbst,  dasz  ihm  nur  wenige  Grammatiken  zu  Ge- 
sicht gekommen  seien.  Indes,  er  nennt  mit  Becht  derartige  Uebungen 
Klimpereien,  langweilig  und  lächerlich,  wie  sie  sich  leider  noch  in  Gram- 
matiken neuesten  Datums  finden ,  z.  B.  in  der  von  Zimmermann ,  wo  in 
wahrhaft  geisttödtender  Weise  der  Schüler  fast  2  Jahre  lang  mit  Varia- 
tionen ähnlicher  langweiligen  und  lächerlichen  Sätze  geplagt  wird.  Allein 
der  Verf.  schüttet  das  Kind  mit  dem  Bade  aus.  Denn  aus  dem  Misbrauch, 
der  mit  dem  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Englische  getrieben  wird, 
der  leider  nicht  minder  bei  dem  Unterrichte  in  anderen  Sprachen  zu  finden 
ist,  die  alten  nicht  ausgenommen,  folgt  nur,  dasz  man  selbst  es  besser 
machen  soll.  Das  Uebertragen  aus  der  Muttersprache  in  eine  fremde  ist 
und  bleibt  unentbehrlich,  wenn  jemand  eine  Sprache  wirklich  lernen 
will ,  wenn  er  mehr  können  will  als  einen  Schriftsteller  lesen  oder  ver- 
stehen. 

Und  so  durchaus  verdammenswerth  scheinen  uns  Sätze  wie  die  oben 
angeführten  auch  nicht  zu  sein.  Nicht  nur  lassen  sich  Variationen  der- 
selben anbringen,  die  für  ein  jugendliches  Gemüt  ansprechend  sind,  die 
dem  Knaben  trotz,  oder  vielleicht  wegen  ihrer  Einfachheit  besser  gefallen 
als  manche  andere  tiefen  Inhalts  seiende  oder  sein  sollende,  sondern  auch 
in  ihrer  einfachsten  Form  besitzen  sie  einen  pädagogischen  Werth ,  der 
nicht  verkannt  werden  darf.  Es  macht  dem  Schüler,  der  eine  Sprache  er- 
lernt, keine  gröszere  Freude  als  wenn  er,  nachdem  kaum  das  Alphabet 
absolviert  worden ,  einen  Satz  in  der  neuen  Sprache  bilden  kann ,  und  es 
hiesze  ihm  die  Lust  und  Liebe  zur  Sache  unnötig  erschweren,  wollte  man 
ihn  entweder,  wie  unser  Verf.  meint,  gar  keine  Sätze  bilden  lassen,  oder 
diese  selbst  durch  Ausdehnung,  die  man  ihnen  nach  innen  und  nach 
auszen  giebt>  schwieriger  zu  handhaben  machen.  Es  sind  die  einfachen 
Sätze  eben  so  naturgemäsz ,  als  es  unverständig  sein  würde ,  einem  klei- 
nen Kinde  complicierte  Spielsachen  in  die  Hand  zu  geben.  Doch  bitten 
wir  die  Sache  cum  grano  salis  zu  verstehen.  Dehnen  sich  solche  einfache 
Uebungen  über  ihr  natürliches  Gebiet  aus,  nemlich  über  die  Anfangs- 
gründe, so  werden  sie  absolut  schädlich,  nicht  blosz  langweilig  und 
lächerlich,  weil  sie  das  Bessere  zurückhalten ;  sie  dürfen  nur  zur  Einübung 


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506  Migault:  Versuch  einer  engl.  Schulgrammatik. 

der  Formen  dienen  und  der  Lehrer  musz  sie  überschlagen ,  wenn  er  die- 
sen Zweck  gesichert  glaubt.  Wir  meinen  daher,  dasz  das  Fehlen  von 
Uebersetzungsstoff  aus  der  Muttersprache  ein  entschiedener  Mangel  jeder 
Grammatik  ist,  die  eine  Schulgrammatik  sein  will. 

Das  dritte  Argument  des  Verf.,  dasz  der  Schüler  später  mit  um  so 
gröszerer  Leichtigkeit  und  Sicherheit,  wie  auch  mit  unendlich  gröszerer 
Lust  und  Liebe  das  Uebersetzen  betreiben  werde,  bedarf  nach  dem  Ge- 
sagten keiner  weiteren  Bemerkung.  Für  uns  bleibt  also  als  Resultat:  mit 
einer  Schulgrammatik  haben  wir  es  uicht  zu  thun,  und  es  wäre  zu  wün- 
schen gewesen ,  es  stände  einfach  'Grammatik'  da. 

Wie  sieht  es  nun  aber  mit  der  historisch-kritischen  Grundlage  aus? 

Wir  bedauern,  dasz  der  Verf.  diese  Worte  hat  auf  den  Titel  mit- 
drucken lassen,  denn  um  es  kurz  zu  sagen:  die  historisch-kritische  Grund- 
lage könnte  nur  dem  genügen,  der  von  den  Fortschritten,  die  die  wissen- 
schaftliche Grammatik  in  den  letzten  Decennien  gemacht  hat,  unberührt 
geblieben  ist. 

Was  meint  man  z.  B.  zu  der  Erklärung,  welche  der  Verf.  S.  68  von 
der  anomalen  Gomparation  von  gut,  schlecht  usw.  giebt?  Er  sagt:  *man 
brachte  geflissentlich  (!)  verschiedenartige  Wurzelwörter  in  Eine  Rubrik, 
um  bei  so  häufig  vorkommenden  adjeetivischen  Bezeichnungen,  wie  die 
in  Frage  stehenden  ohne  Zweifel  sein  musten,  einer  gewissen  Einförmig- 
keit des  Tones  (!)  überhoben  zu  sein.' ! !  —  S.  58  wird  das  Neutrum  als 
ein  späteres  Erzeugnis  der  Grammatik  dargestellt,  und  zwar  (!)  ein  Er- 
zeugnis 'der  gesellschaftlichen  Gonvenienz,  des  todten  Me- 
chanismus, der  nacktesten  Prosa.'  Denn  'Geschlechtsverneinung 
ist  kein  Element  in  der  Naturpoesie  (!)  einer  Sprache ,  hat  absolut  nichts 
zu  schaffen  mit  jenem  seelenvollen  Mysticismus,  wenn  ich  mich  so  aus- 
drücken darf,  der  da  erkennt  (?)  und  empfindet,  dasz  alle  Dinge  in  einem 
gewissen  Sinne  Positivität  (!)  und  Sexualität  besitzen,  sofern  als  durch 
wechselseitige  (sie!)  Anziehung  und  Wirksamkeit  Alles  und  Jedes,  ob 
Aeuszerliches  oder  Innerliches,  erzeugt  und  erhalten  wird.'  Wir  möch- 
ten doch  sehr  bezweifeln,  dasz  derartige  Herzensergieszungen  in  eine 
historisch-kritische  Grammatik  gehören ,  und  dann  den  Verf.  fragen ,  für 
was  für  f Schüler'  er  sie  geeignet  hält.  —  S.  75  heiszt  es:  *Da  —  das 
Neuhochdeutsche  ohne  Weiteres  (!)  aus  den  comparativischen  Formen 
regelmaszig  die  Superlativformen  gebildet  hat,  statt  die  letzteren,  wie 
sonst  Sitte  ist  (!),  aus  Positivformen  zu  entwickeln,  sokann  man  sich 
nicht  sonderlich  darüber  wundern,  dasz  die  Engländer 
ihrerseits  auch  sehr  willkührlich  verfahren  sind  usw.  — 
obgleich  zu  wünschen  gewesen  wäre,  dasz  sie  sich  mit  Einer 
Superlativform  immer  begnügt  hätten  (!).  Hatten  sie  sich  aber  nun  ein- 
mal an  dergleichen  Bildungen  gewöhnt  (!) ,  so  kann  man  sich  auch  kaum 
darüber  wundern,  wenn  sie  ein  paar  andere  Superlative  nach  derselben 
Schablone  (!)  fabricierten  (!!),  und  zwar  aus  Substantiven  heraus.'  — 
Welch*  naive  Vorstellung  von  der  Bildung  der  Wörter  und  Wortfonnen 
ist  doch  in  diesen  wenigen  Zeilen  enthalten !  Zu  der  Höhe  der  Anschauung, 
dasz  die  Sprache  etwas  Gewordenes,  nach  festen  Gesetzen  sich  Ent- 


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Migault:  Versuch  einer  engl.  Schulgrammatik.  507 

wickelndes  ist ,  kann  der  Verf.  sich  nirgends  erheben ,  ihm  ist  sie  etwas 
Gemachtes ,  Fabriciertes ! 

Dasz  im  Englischen  nicht  wie  im  Deutschen  das  reflexive  Pronomen 
mit  dem  reciproken  zusammenfällt,  wird  S.  97  als  ein  Beweis  *von  dem 
gesunden  Verstände  und  Geschmacke'  der  Engländer  angeführt.  Dafür 
wird  S.  118  der  Mangel  einer  besonderen  Conjunctivform  im  Englischen 
als  ein  chöchst  linkisches  Verfahren'  bezeichnet !  Gleich  darauf  figurieren 
Aussprache  und  Rechtschreibung  als  *blosze  Erschwernisse'!  — 
Es  giebt  im  Englischen  eine  ziemlich  zahlreiche  Glasse  von  scheinbar  star- 
ken Verben,  besonders  solchen,  welche  meist  schon  im  Angelsächsischen 
ihr  Imperfect  und  Particip  durch  Contraction  bilden  —  diese  nennt  der 
Verf.  zwitterhaft  unregelmäszige.  (Nebenbei  bemerkt,  bringt  er 
nur  solche  in  diese  Glasse,  welche  auf  d  oder  t  ausgehen.)  Er  will  nicht, 
wie  andere  englische  Grammatiker,  fdem  gelehrten  Schein  zu  Liebe',  die 
Ausdrücke  estark  und  schwach'  adoptieren.  *Regelmäszig'  ist  ihm  nach 
allen  Proben  offenbar  nur  das,  was  mit  den  heutzutage  geltenden  Re- 
geln übereinstimmt,  alles  Andere  ist  unregelmäszig,  anomal  oder  zwitter- 
haft. Wo  bleibt  bei  einer  solchen  Anschauung  die  historisch-kritische 
Grundlage? 

Noch  einige  Beispiele !  To  do  ist  ein  in  eminentem  Sinne  unregel- 
mäsziges  Verb,  es  bildet  Imp.  did,  Part.  done.  Anstatt  nun,  wie  der  Verf. 
es  bei  manchen  andern,  selbst  wo  es  ganz  überflüssig  erscheint,  macht, 
auf  das  Angelsächsische  zurückzugehen ,  welches  dd ,  dide ,  gedön  zeigt, 
meint  er ,  did  scheine  fast  (!)  aus  do-ed ,  also  einer  ursprünglich  (! !)  re- 
gelmäszigen  Form  erwachsen  zu  sein,  und  done  stehe  vermutlich  für 
do-en!  Ob  das  letztere  auch  eine  ursprünglich  regelmäszige  Form 
sein  soll ,  erfahren  wir  nicht.  —  Dasz  das  Imperfect  von  make  die  Form 
made  hat  (es  ist  eine  Gontraction  von  macode,  dem  Imp.  des  schwachen 
agl.  Verbs  maejan)  ist  ihm  unbegreiflich.  *Mir  ist  zwar  die  Behauptung 
vorgekommen,  made  sei  aus  maked  erweicht  worden  (!),  dann  aber 
müste  man  ja  maded  sagen  (!!!),  und  überdies  (!)  ist  maked  durchaus  nicht 
härter  (!)  als  baked ,  slaked.  Solcherlei  Erklärungsversuche  erklären  we- 
niger als  gar  nichts.'  —  Was  soll  man  dazu  sagen?! 

In  der  Vorrede  heiszt  es :  —  rohne  jedoch  bei  den  etymologischen 
Untersuchungen  und  Vergleichungen  solche  Erörterungen  zu  berücksich- 
tigen, die  auf  pure  Spitzfindigkeiten  und  Spielereien  hinauslaufen,  welche 
dem  nüchternen  Gedanken  keinen  Halt  gewähren ,  nicht  einmal  der  Phan- 
tasie ein  erquickliches  Bild  geben  und  für  rein  praktische  Zwecke  durch- 
aus unfruchtbar  sind.'  Der  Verf.  hat  ganz  recht ,  wenn  er  überall  histo- 
rische Gründe  und  logische  Principien  aufgefunden  und  nachgewiesen 
haben  will,  aber  er  sollte  dafür  auch  desto  strenger  gegen  sich  selbst 
sein  und  nicht  selbst  in  die  gerügten  Fehler  verfallen.  So  leitet  er  z.  B. 
summons  die  gerichtliche  Vorladung,  nicht  vom  franz.  la  semonse  (von 
semondre  =  submonere)  ab,  sondern  von  einem  fabelhaften  fsummoneas 
=  du  sollst  fordern ,  mit  welchem  Worte  vermutlich  das  Englische  Cila- 
tionsgesetz  beginnt'!  —  Das  Wort  groom  in  bridegroom,  vgl.  brydguma 
i.  e.  Mann  der  Braut,  ist  nach  ihm  dem  Persischen  (!)  entlehnt,  *in 


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508  Migault :  Versuch  einer  engl.  Schulgrammatik. 

welchem  ein  ahnliches  Wort  einen  Pferdeknecht  bedeutet,  das  unter 
dem  pferdeliebenden  und  pferdezüchtenden  Englischen  Volke  sehr  populär 
wurde  —  so  kam  der  einem  Frauenzimmer  verlobte  Mann,  sprachlich 
wenigstens,  zu  der  sehr  unerquicklichen  Ehre,  einem  Stall- 
knecht gleichgestellt  zu  werden'!!  Dasz  noch  jetzt  im  Hollän- 
dischen grom  einen  Jüngling  bedeutet,  der  einerseits  als  Krieger,  Lie- 
bender aufgefaszt  wird,  andrerseits  wie  lat.  puer  und  franz.  garcon  in 
*dinner'  übergeht,  dasz  altfranz.  gromme  =  serviteur,  voiturier  ist,  dasz 
auf  diese  Weise  das  agl.  guma  initgrom,  groom  zusammenfallen  konnte, 
wird  übersehen. 

Wir  wollen  mit  ein  paar  ergötzlichen  Proben  von  des  Verf.  etymo- 
logischen Erklärungen  dies  Capitel  schlieszen.  Woman,  agl.  vifman  i.  e. 
Weibmensch ,  soll  aus  womb-man  entstanden  sein ,  NB.  womb  ist  die  Ge- 
bärmutter, der  Mutterleib ! !  Wenn  die  keuschen  blauäugigen,  blondlocki- 
gen, seidenwimperigen  (sit  venia  verbo!)  Engländerinnen  wüsten,  wie  ihr 
Landsmann  im  barbarischen  Deutschland  ihren  Geschlechtsnamen  erklärte ! 
Shockingü  Nachbarin,  Euer  Fläschchen!  —  An  einer  anderen  Stelle  wird 
filly,  deutsch  dem  Ursprung  nach,  wie  kaum  ein  anderes  Wort,  nemlich 
Füllen,  von  dem  franz.  fille,  das  Mädchen  abgeleitet ! !  Beim  Lesen  solcher 
Etymologieen  (welche  allerdings  dem  nüchternen  Gedanken  einen  Halt 
gewähren ,  auch  der  Phantasie  ein  erquickliches  Bild  geben !)  fällt  uns 
jener  berühmte  englische  Etymologe  ein ,  der  alles  Ernstes  pancake  = 
Pfannkuchen  aus  dem  griechischen  ttov  kgckov  ableitete,  weil  Pfann- 
kuchen in  einer  Zeit  verschmaust  werden,  in  der  f  alles  böse9  ist,  in 
der  Fastenzeit  nemlich ,  da  man  Busze  thut  für  seine  Sünden. 

Es  freut  uns,  dasz  wir  mit  dem  bisher  Gesagten  unser  Referat  nicht 
schlieszen  dürfen.  Ist  auch  die  vorliegende  Grammatik  keine  Schulgram- 
matik ,  man  müste  denn  Schule  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  fassen ,  als 
einen  Ort  oder  eine  Gelegenheit  etwas  zu  lernen,  und  musz  auch  der 
Anspruch,  welchen  der  Verf.  auf  eine  historisch  -  kritische  ßehandlungs- 
weise  seines  Stoffes  erhebt,  mit  aller  Entschiedenheit  als  unberechtigt 
zurückgewiesen  werden,  so  enthält  doch  das  Buch  eine  Fülle  höchst 
schätzenswerthen  Stoffes,  der  in  einer  von  einem  Deutschen  geschriebe- 
nen Grammatik  nicht  zu  finden  ist.  Und  das  ist  der  Hauptwerth  des  Wer- 
kes. Was  ein  Deutscher  von  der  Formenlehre  der  englischen  Sprache  zu 
lernen  hat,  findet  er  in  jeder  leidlichen  Grammatik  einfacher  und  zweck- 
mäsziger,  er  wird  bei  dem  Memorieren  derselben  —  und  viel  ist  es  nicht 
—  nicht  durch  weitschweifige  Einleitungen  und  überflüssige  Auseinander- 
setzungen gestört.  —  Was  er  hier  auf  200  Seiten  durcharbeiten  musz, 
kann  er  anderswo  auf  20  Seiten  lernen.  Aber  das  Werk  des  Herrn  Dr. 
Migault  ist  jedem  Lehrer  zu  empfehlen.  W olver standen ,  nicht  dem  an- 
gehenden Lehrer,  der  die  Sprache  erst  ordentlich  lernen  will,  sondern 
dem,  der  durch  Sprachstudien,  durch  hinreichende  Kenntnis  vom  Angel- 
sächsischen und  Altenglischen  gegen  unwissenschaftliche  Darstellungs- 
weisen und  gegen  falsche  Etymologieen  gesattelt  ist.  Für  einen  solchen 
enthält  unser  Buch  des  Guten  viel,  das  er  freilich  zusammensuchen 
musz,  wofür  er  aber  dem  Verf.  dankbar  sein  wird.    Insofern  treffen  wir 

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Migault:  Versuch  einer  engl.  Schulgrammatik.  509 

auch  mit  dem  Verf.  zusammen,  wenn  er  in  der  Vorrede  sein  Buch  *phi- 
lologisch  gebildeten  Lehrenden'  empfiehlt;  wenn  er  aber  hinzufügt,  es 
werde  auch  'geistig-gereiften  Lernenden*  nicht  unwillkommen  sein,  so 
würden  wir  es  aus  Vorsicht  einem  solchen  nicht  in  die  Hand  geben.  Neben 
dem  vielen  Guten  läuft  so  manches  mit  unter,  was,  wenn  auch  nicht  ge- 
radezu unrichtig,  doch  schief  dargestellt  oder  nur  halb  richtig  ist,  so 
dasz  für  uns  der  Spruch:  Verlernen  ist  schwerer  als  Lernen*  maszgebend 
ist.  Dagegen  wird  der  praktische  Lehrer  das  Werk  mit  Interesse  durch- 
lesen und  manches  Neue  und  Wissenswerthe  darin  finden. 

So  verdient  z.  B.  gleich  die  Einleitung ,  die  von  der  Aussprache  han- 
delt ,  eine  eingehende  Beachtung ,  obgleich  sie  von  Ungenauigkeiten  nicht 
frei  ist,  z.  B.  dasz  das  lange  a  wie  äh  lautet,  statt  wie  eh  mit  einem  An- 
klänge von  i ;  dasz  mare  wie  mähr  zu  sprechen  ist ,  statt  beinahe  zwei- 
silbig, mit  erweichendem  r;  dasz  das  lange  u  nach  1  den  Laut  uh  an- 
nimmt, wenn  es  auch  nicht  ganz  wie  juh  klingt;  dasz  die  Endungen  ble, 
die  usw.,  wie  bell,  dell  lauten.  Was  der  Verf.  aber  sonst  über  die  dem 
Engländer  eigentümliche  Aussprache  einzelner  Buchstaben  vorbringt ,  wie 
des  th,  r,  ist  sehr  beherzigenswerth. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wenn  wir  im  Einzelnen  auf  die 
Punkte  aufmerksam  machen  wollten,  welche  dem  Studium  unserer  Lands- 
leute zu  empfehlen  sind.  Der  Verf.  hat  jedenfalls  mit  groszer  Aufmerk- 
samkeit und  mit  einem  für  einen  Ausländer  seltenen  Verständnis  die  Eigen- 
tümlichkeiten des  Deutschen  verfolgt  und  begriffen,  und  ist  so  berechtigt 
uns  Deutsche  auf  manches  zu  verweisen ,  was  uns  vielleicht  unwesentlich 
erscheint,  oder  woran  wir  nicht  einmal  denken,  was  aber  doch  ein  eigen- 
tümliches Licht  auf  die  englische  Sprache  wirft.  Von  besonderem  Nutzen 
für  den  deutschen  Lehrer  sind  eine  Fülle  von  Winken  über  den  Gebrauch 
einzelner  Wörter  und  Redensarten,  die  in  keinem  Lexicon  und  in  keiner 
Grammatik  zu  finden  sind,  die  aber  dem  sehr  erwünscht  sein  müssen,  der 
nicht  durch  längeren  Aufenthalt  in  England  oder  durch  Verkehr  mit  Eng- 
ländern Gelegenheit  gehabt  hat,  sich  darüber  zu  orientieren. 

Wir  sehen  mit  einiger  Spannung  dem  Erscheinen  des  zweiten  syn- 
taktischen Teiles  entgegen.  Hier  noch  mehr  als  in  der  Formenlehre  wird 
sich  zeigen,  in  wie  weit  der  Verf.,  der  mit  ziemlicher  Gewandtheit 
deutsch  schreibt,  seinem  Gegenstande  gewachsen  ist.  Das  syntaktische 
Gebiet  der  englischen  Sprache  ist  dasjenige,  auf  welchem  noch  manche 
Lorbeeren  zu  verdienen  sind.  Schlieszlich  möchten  wir  den  Verf.  bitten, 
eipfacher  zu  schreiben ,  damit  sich  das  Gepräge  an  den  Perioden ,  welches 
den  Engländer  verrät,  mehr  verliere,  und  damit  der  philosophische  An- 
strich verschwinde,  der  bei  grammatischen  Studien,  und  zwar  mit  Recht, 
in  entschiedenen  Miscredit  gerathen  ist. 

P.  Dr.  R. 


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510  Klaiber:  evangelische  Volksbibliothek. 

88. 

Evangelische  Volksbibliothek,  herausgegeben  ton  Dr.  Klaiber, 
Garnisonsprediger  in  Ludwigsburg.  Erster  Band.  Enthal- 
tend Luther,  Zwingli,  Melanchthon,  Calvin.  Stattgart,  Becher 
1862. 

Der  Unterricht  in  der  Religion  ist  eines  der  schwersten ,  wo  nicht 
das  schwerste  der  Gymnasialfächer;  Erziehung  zur  Religion,  sei  es  in  der 
Familie,  sei  es  in  der  Schule,  musz  aber  jedenfalls  als  das  schwerste,  wie 
als  das  höchste  Stück  der  Erziehung  gelten.  Das  macht:  Religion  ist  keine 
Fertigkeit,  deren  Mitteilung  wenig  Geist  und  Leben,  nur  Ausdauer  und 
eigene  Fertigkeit  erfordert,  Religion  ist  keine  Kenntnis  noch  Wissenschaft, 
die  sich  lehren  läszt ,  wo  Geist  und  Verstand  bei  Lehrern  und  Lernenden 
vorhanden  ist,  Selbstdurchdachtes,  nicht  aber  Selbsterlebtes,  in  rechter 
Weise  geboten  wird;  nein,  Religion  ist  Leben  und  Kraft,  und  dies  läszt 
sich  mitteilen  nur  von  dem,  in  dem  sie  selbst  in  lebenskräftiger  Weise 
Saft  und  Blut,  Person  und  Gestalt  gewonnen  hat.  Am  besten  bestellt  ist 
darum  diese  Erziehung  da ,  wo  eine  ausgeprägte  religiöse  Persönlichkeit 
ohne  viele  Worte  durch  bloszes  Dasein,  durch  stilles  und  offenes  Wirken, 
ihr  leuchtendes  und  wärmendes  Licht  walten  läszt.  Der  einzelne  Erzieher 
wird  aber,  und  zwar,  je  frömmer  er  ist,  desto  lebhafter  fühlen  und  ge- 
stehen müssen,  dasz  er  hierzu  fremder  Beihülfe,  mächtiger  Bundesgenos- 
sen bedarf,  solcher  Persönlichkeiten  nemlich,  in  denen  frommes  Leben 
und  Kraft  des  Glaubens  möglichst  ungetrübt  sich  offenbart.  Natürlich 
steht  hier  als  erster  Bundesgenosse,  vielmehr  als  der  vorderste  Führer 
und  Herzog  für  beide  Teile,  für  die  Erziehenden  wie  für  Zöglinge,  der 
Erlöser  selbst  da  und  nächst  ihm  die  Apostel  und  Propheten  des  alten  und 
neuen  Bundes.  Aber  auch  Andere,  in  denen  die  Kraft  des  göttlichen  Gei- 
stes in  gesunder  evangelischer  Frömmigkeit  sich  bekundet  und  bewährt 
hat,  können  und  sollen  als  Mithelfer  und  Mitarbeiter  beigezogen  werden. 
Insbesondere  wenn  es  sich  um  Weckung  der  Liebe  zur  eigenen  Kirche, 
um  Nährung  der  Treue  gegen  das  Bekenntnis,  dem  man  angehört,  handelt 
—  und  der  Kundige  weisz ,  dasz  auch  dies  nicht  entbehrt  werden  kann, 
weun  man  wirklich  zu  eifriger  und  thätiger  Frömmigkeit  erziehen  will—; 
da  darf  es  nicht  fehlen  an  Bekanntschaft  mit  den  für  die  innere  Entwicke- 
lung  der  Kirche  bedeutendsteh  Männern,  mit  den  Helden  des  Glaubens,  die 
durch  Wort  und  That  und  Schrift  Gründer  und  Bildner  dieser  Kirche  ge- 
worden sind.  Und  zwar  musz  dieselben  vornweg  der  Erzieher  und  Leh- 
rer kennen  und  an  ihrem  Leben  sein  Leben  entzündet  und  genährt  haben, 
wenn  er  irgend  für  seine  Kirche ,  deren  Glauben ,  Bekenntnis  und  Lehen, 
erwärmen  und  begeistern  will ;  denn  das  gelingt  am  Allerwenigsten  mit- 
telst bloszer  doctrinärer  und  dogmatischer  Erörterung.  Aber  auch  der 
Zögling  sollte,  wo  es  möglich  ist,  nicht  allein  durch  Vermittlung  des 
Lehrers  in  Unterricht  und  Gesprächen,  sondern  daneben  auch  unmittelbar 
mit  den  Heroen  seiner  Kirche,  ihrem  Leben  und  ihren  Schriften  bekannt 
werden. 


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Klaiber:  evangelische  Volksbibliothek.  511 

Diesem  Bedürfnisse  von  Schule  und  Haus  hat  unsere  neuere  theolo- 
gische Litteratur  vielfach  zu  entsprechen  gesucht.  Wir  haben  nicht  we- 
nige treffliche  Werke  über  die  ersten  Männer  der  beiden  Kirchen,  welche 
durch  die  Reformation  ins  Leben  gerufen  worden  sind,  so  wie  auch  über 
die  Zierden  derselben  aus  den  nachfolgenden  Jahrhunderten.  Neben  um- 
fassenden Quellenschriften  von  entschieden  wissenschaftlichem  Gehalt  wur- 
den populäre  Biographieen  in  dieser  Richtung  veröffentlicht,  so  nament- 
lich in  der  von  Tholuck  herausgegebenen  Sonntagsbibliothek ,  die  bis  in 
die  neuesten  Zeiten  hereinreicht  und  z.  B.  jetzt  auch  das  Leben  von  G.  H. 
Schubert  in  einem  mäszigen  Bändchen  bietet.  Als  zwischen  beiden  Arten 
von  Schriften  dieser  Art  in  der  Mitte  stehend,  und  dem,  was  in  der  frag- 
lichen Beziehung  für  Gymnasiallehrer  und  -tchüler  nächstes  Bedürfnis, 
zugleich  aber  auch  den  verfügbaren  Mitteln  an -Zeit  und  Geld  angemessen 
ist,  ganz  besonders  entsprechend  erscheint  mir  das  in  der  Aufschrift  ge- 
nannte Sammelwerk.  Es  mag  zum  Beweis  des  Gesagten  genügen,  wenn 
hier  in  Kurzem  darauf  hingewiesen  wird,  was  mit  demselben  beabsichtigt 
ist  und  was  die  verschiedenen  Mitarbeiter  bis  jetzt  geleistet  haben.  Der 
einzelne  Leser  mag  darnach  dann  selbst  bemessen ,  in  wie  weit  er  wün- 
schen musz ,  sich  selbst  mit  dem  Werke  bekannt  zu  machen  und  es  na- 
mentlich zum  Frommen  von  Lehrenden  und  Lernenden  seiner  Schulbiblio- 
thek einverleibt  zu  sehen. 

Beabsichtigt  ist ,  unter  dem  oben  genannten ,  freilich  etwas  zu  wei- 
ten Titel ,  das  für  alle  Zeiten  Werthvollste  und  Wirksamste  aus  der  reli- 
giösen Litteratur  der  älteren  Zeit  der  evangelischen  Kirche  in  Auswahl 
zusammenzustellen  und  einem  ausgedehnten  Leserkreise  zugänglich  zu 
inachen.  In  fünf  Bänden,  von  ca.  40—50  Lieferungen  ä  18  Kr.  (5  Sgr.), 
somit  zu  einem  äuszerst  billigen  Preise ,  soll  caus  den  Schriften  der  Vor- 
fechter des  Reiches  Gottes  in  der  evangelischen  Kirche  das  bleibend 
Werthvollste  ausgewählt,  und  teils  durch  kurze  Biographieen  dieser  Glas- 
siker  unserer  Kirche  teils  durch  geschichtliche  Anmerkungen  zu  leben- 
digem Verständnis  gebracht  werden.  Neben  der  Erbauung  will  man  ins- 
besondere auch  Belehrung  über  wichtige  Gegenstände  der  christlichen 
Glaubens-  und  Sittenlehre  aus  zuverlässigem  Munde  geben.  Man  hofft, 
manchem  denkenden  Laien,  mancher  Familie,  welche  ernste  und  gehalt- 
reiche Leetüre  liebt,  einen  bleibenden  Schatz  zu  religiösem  Selbstunter- 
richt darzubieten,  auch  Schul-  und  Lehrerbibliothen  mit  einem  werth- 
v ollen  Material  für  das  Privatstudium,  wie  für  die  verschiedenen  Zweige 
des  Religionsunterrichts  zu  bereichern,  und  ist  überzeugt,  dasz  aucli  prak- 
tische Geistliche,  denen  meistens  nur  Weniges  von  dem,  was  die  Samm- 
lung aufnehmen  wird,  im  Original  oder  in  gröszeren  Gesamtausgaben  zu 
Gebote  steht,  diese  Gabe  willkommen  heiszen.  So  durfte  es  auch  gelin- 
gen ,  in  vielen  Lesern  durch  diese  Lebensbilder  und  Schriften  der  Refor- 
matoren und  ihrer  Nachfolger  die  Liebe  zu  diesen  Glaubenshelden  unserer 
Kirche  zu  erwerben  oder  zu  stärken  und  durch  den  Gewinn  einer  reiche- 
ren Erkenntnis  ihre  Anhänglichkeit  an  die  Kirche  selbst  zu  vermehren.' 

Dies  der  ausgesprochene  Zweck  dieses  Sammelwerks.  An  demselben 
sollen  nach  dem  vorliegenden  Plane  nicht  weniger  als  sechszehn  Mit- 


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512  Klaiber:  evangelische  Volksbibliothek. 

arbeiter  sich  beteiligen,  welche  insgesamt  schon  gefunden  und  genannt 
sind.  Dieser  Punkt  ist  es ,  der  ganz  besonders  geeignet  war ,  von  Anfang 
an  eine  günstige  Meinung  für  das  Unternehmen  zu  erwecken.  Denn  es 
sind  nicht  wenige  Namen  darunter,  die  teils  überhaupt  in  der  schrift- 
stellerischen Welt  schon  bekannt  sind,  teils,  was  die  Hauptsache  ist,  mit 
der  von  ihnen  übernommenen  Aufgabe  längst  vertraut  und  als  Kenner  der 
Schriften  und  Schicksale  der  Männer,  die  sie  schildern  wollen,  sich  schon 
durch  gröszere  Arbeiten  gerade  über  dieselben  Leuchten  der  Kirche  be- 
währt haben.  So  ist  Pfarrer  Eberle  durch  seine  Studien  und  Schriften 
über  Luther,  Professor  Dr.  Sigwart  als  Quellenforscher  und  Schrifsteller 
über  Zwingli,  Decan  Hartmann  als  Verfasser  eines  gröszeren  Werkes  über 
Brenz,  Decan  Gerock  als  geistlicher  Liederdichter  allen  Sachkundigen 
rühmlich  bekannt.  Die  Namen:  Krummacher,  Palmer,  Ledderhose,  HofT- 
mann  haben  gleichfalls  in  der  fraglichen  Litteratur  einen  guten  Klang. 
Unter  diesen  Umständen  läszt  sich  erwarten,  dasz  wir  einem  Uebelstand, 
der  bei  encyclopädischen  Werken  so  gerne  eintritt,  dem  Mangel  an  Be- 
herschung  des  Stoffes ,  in  dieser  Sammlung  nicht  begegnen  werden. 

Dieser  Erwartung  entspricht  nun,  wie  mir  scheint,  das,  was  bisher 
geleistet  und  geboten  worden  ist,  in  erfreulicher  Weise.  Ausgegeben 
wurde  bis  jetzt  der  erste  Band,  welcher  auf  758  Seiten  das  je  etwa  auf 
einem  Bogen  geschilderte  Leben  und  die  Auswahl  aus  den  Schriften  Lu- 
ther's,  Melanchthon's,  Zwingli's,  Galvin's  enthält,  auch  jedesmal  ein  spre- 
chendes Bild  des  Mannes  in  Holzschnitt  an  der  Spitze  der  Lebensbeschrei- 
bung trägt ;  ferner  die  erste  Hälfte  desjenigen  Bandes ,  der  die  geistliche 
Dichtung,  nicht  blosz  die  Kirchenlieder,  der  evangelischen  Kirch«  von 
Luther  bis  Klops tock  in  reicher  Auswahl  enthalten  soll  und  bis  jetzt  in 
acht  Lieferungen  die  Dichter  bis  unmittelbar  nach  dem  dreiszigjährigen 
Kriege  gebracht  hat ;  endlich  von  dem  zweiten  Bande  in  Prosa  die  fünf 
ersten  Hefte ,  welche  uns  Brenz ,  Matthesius  und  J.  Arnd  vorführen. 

Bei  der  Auswahl  der  prosaischen  Schriften  fragt  es  sich  in  erster 
Linie,  ob  kein  namhafter  Mann  und  Schriftsteller  der  evangelischen  Kirche 
aus  der  betreffenden  Periode  fehlt  und  ob  die  aufgenommenen  nach  Le- 
ben, Charakter  und  schriftstellerischen  Leistungen  es  wirklich  verdienen, 
in  diesem  Ehrentempel  zu  stehen.  Dasz  auszer  den  schon  genannten  noch 
die  weiteren  in  Aussicht  gestellten :  Scriver,  Herberger,  Spener,  Francke, 
Bengel,  Tersteegen,  H.  Müller,  V.  Andrea,  Conrad  Rieger,  Zinzendorf,  als 
der  Aufnahme  würdig  gelten  müssen,  wird  nicht  in  Abrede  gestellt  wer- 
den können.  Vielleicht  könnte  es  sich  aber  im  Laufe  der  Zeit  herausstel- 
len ,  dasz  man  noch  den  einen  und  andern  Ebenbürtigen  und  etwa  auch 
noch  Männer  der  Kunst  und  Wissenschaft  überhaupt ,  die  auf  dem  Boden 
des  evangelischen  Bekenntnisses  stehend  Groszes  geleistet  haben,  in  einem 
Ergänzungsband  nachzubringen  veranlaszt  wäre.  Dann  würde  wenigstens 
der  weitumfassende  Titel  des  Werks  eher  gerechtfertigt  sein.  Die  zweite 
und  wichtigere  Frage  ist  aber ,  ob  man  in  der  gegebenen  Auswahl  aus 
den  Schriften  der  aufgenommenen  Männer  wirklich  die  bedeutendsten  und 
am  meisten  charakteristischen  Werke  derselben  bekomme.  Dies  ganz 
sicher  zu  beurteilen,  geht  über  die  Kräfte  des. Berichterstatters,  und  es 


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Klaiber:  evangelische  Volksbibliothek.  513 

wäre  hier  auch  nicht  am  Ort,  näher  darauf  einzugehen.  Bei  denen  des 
ersten  Bandes  dürfte  wol  nichts  Wesentliches  fehlen.  Von  Luther's  Art 
zu  schreiben  und  zu  reden  z.  B.  erhalt  man  unter  den  vier  Rubriken: 
'Schriften  wider  Rom,  wider  die  Secten  und  Rotten,  Luther  zu  Haus  und 
unter  Freunden  (Briefe  und  Tischreden),  Luther  in  Kirche  und  Schule', 
ein  recht  markiertes  und  vollständiges  Bild. 

Die  poetische  Abteilung ,  von  der ,  wie  gesagt ,  der  erste  Halbband 
vorliegt  und  die  in  einem  zweiten  abgeschlossen  wird,  hat  Diaconus  Paul 
Pressel,  Verfasser  eines  epischen  Gedichts  über  Franz  von  Sickingen,  be- 
arbeitet. Die  nach  Art  der  ^Anthologie  christlicher  Gesänge  von  Rambach 
18179  ausgeführte  Arbeit  ist  mit  gutem  Tact  behandelt.  Die  Dichter  der 
verschiedenen  Perioden  und  Schulen  sind  möglichst  vollständig  aufge- 
führt, selbst  die  unbedeutenderen;  neben  den  streng  geistlichen  auch 
Einzelnes ,  das  ans  Weltliche  streift,  z.  B.  von  Hans  Sachs  und  Ulrich  von 
Hütten.  Streiten  liesze  sich  darüber,. ob  nicht  mancher  geringere  Dichter- 
ling lieber  ganz  hätte  übergangen,  dagegen  von  den  Meistern  ersten  Ran- 
ges, z.  B.  von  Gerhard  ziemlich  mehr  mitgeteilt  werden  sollen;  von  seinen 
125  Liedern  sind  blosz  14  aufgeführt.  Die  Textesrevision  ist  fast  durch- 
weg genau  nach  dem  Original.  Die  bei  jedem  Dichter  vorangestellte  Le- 
bensbeschreibung und  Charakteristik  gibt  natürlich  bei  der  durch  die 
grosze  Zahl  bedingten  Kürze  keine  so  gedrungenen  und  doch  zugleich 
lebensvollen  Bilder,  wie  dies  bei  den  Biographieen  der  prosaischen  Abtei- 
lung der  Fall  ist,  aber  die  Angaben  sind  jedenfalls  auf  die  bekannten 
neuesten  Leistungen  der  Hymnologen  basiert,  und  man  wird  nicht  weni- 
gen recht  treffenden  und  schlagenden  Urteilen  begegnen.  Hier  und  da 
läszt  sich  ein  näheres  Eingehen  und  eine  kritische  Sichtung  der  Notizen 
vermissen.  So  steht  z.  B.  das  Lied:  *Mitten  wir  im  Leben  sind'  unter  den 
Gedichten  Luther's ,  und  es  wird  nur  dabei  bemerkt :  'Zuerst  in  dem  Er- 
furter Enchiridion  von  1524/  Richtiger  und  gewis  manchem.  Leser  er- 
wünscht wäre  etwa  die  Bemerkung :  dies  Lied  stammt  aus  dem  zehnten 
oder  elften  Jahrhundert  und  war  schon  vor  Luther  mehrfach  verdeutscht 
worden.  Es  soll  als  Schlachtgesaug  in  der  Schlacht  bei  Sempach  1386  ge- 
sungen worden  sein. 

Schönthal.  L.  Mezger. 


89. 

Lateinische  Vorschule.  Erster  Cursus  für  die  unterste  Classe 
{Sexta).  Enthaltend  eine  methodische  Stufenfolge  und  eine 
systematische  Elementargrammatik  nach  den  Redeteilen  von 
Dr.  C.  Plpetz,  Professor.  Berlin  1863,  Verlag  von  F.  A. 
Herbig.   VI  u.  151  S.  kl.  8.   Ladenpreis:  ungeb.  8  Sgr. 

Hr.  Prof.  Ploetz,  dessen  französische  Uebungsbücher  sich  einer  so 
groszen  Verbreitung  erfreuen,  hat  in  dem  vorliegenden  Buche  versucht, 


N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  18W.  Hft.  10. 

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514  Ploetz :  latein.  Vorschule. 

ein  ähnliches  Hülfsmittel  für  die  Erlernung  der  lat.  Sprache  zu  schaffen. 
Sehr  richtig  bemerkt  der  Hr.  Vf.,  dasz  der  Lehrer  das  dreifache  Ziel  für 
Sexta ,  nemlich :  *  Erlernung  und  feste  Einübung  der  regelmässigen  und 
der  allergebräuchlichsten  unregel massigsten  Forme»;  Erwerbung  eines 
Wortschatzes;  Einführung  in  die  ersten  syntaktischen  Elemente',  rascher 
und  sicherer  durch  Anwendung  eines  Buches  erreiche,  als  durch  den 
Gebrauch  zweier  oder  dreier  Bücher  nebeneinander.  Die  elat.  Vorschule' 
soll  nun  ein  solches  Buch  sein ;  es  enthält  einen  methodischen  und  einen 
systematischen  Teil.  Ueber  den  zweiten  dürfte  nicht  viel  zu  sagen  sein ; 
er  gibt  einen  kurzen  Abrisz  der  regelmäßigen  Formenlehre;  desto  mehr 
aber  über  den  ersten ;  besonders  dürfte  Mancher  mit  dem ,  was  der  Hr. 
Vf.  unter  den  ersten  syntaktischen  Elementen  versteht,  nicht  einverstan- 
den sein. 

Die  Bedenken ,  die  dem  Ref.  bei  der  Durchsicht  dieses  Buches  auf- 
gestoßen sind ,  sind  folgende. 

Vor  altem  kann  sich  Ref.  nicht  mit  dem  Gange  des  Lehrbuchs  ein- 
verstanden erklaren ,  obsehon  viele  Wege  nach  Rom  führen. 

Gleich  in  der  ersten  Lection  musz  der  Knabe ,  der  vom  Latein  noch 
keine  Ahnung  hat,  ego,  tu,  nos,  vos  lernen  und  zugleich  merken,  dasz 
diese  Fftrwörter  im  Nominativ  nur  dann  ausgedrückt  werden ,  wenn  man 
sie  hervorheben  will ;  ebenso  ex  und  cum  mit  de«  Abi.  Das  ist  zu  viel 
auf  einmal  verlangt;  das  Erstere  ist  zu  schwer  für  den  Anfänger,  und 
das  Zweite  zu  früh,  da  er  erst  §  7  lernt:  *auf  die  Frage  womit?  steht 
der  Abi.  Also :  mit  den  Waffen :  arm«  (hlossse  Abi.,  nicht  cum).'  Dadurch 
wird  der  Knabe ,  dem  es  noch  grosze  Mfthe  macht ,  die  Casus  in  der  ge- 
wöhnlichsten Bedeutung  anzuwenden,  verwirrt,  und  es  ist  daher  wol 
besser,  erst  die  Casus  allem  anzuwenden,  bis  der  Schüler  sicher  ist;  die 
Präpositionen  kommen  dann  noch  zurecht. 

In  der  dritten  Lection  sollen  bereits  die  griechischen  Wörter  gelernt 
werden;  Ref.  hält  das  für  ganz  verfehlt,  um  so  mehr,  als  bis  dahin  blosz 
die  Anwendung  des  Nem.,  Gen.  u.  VocaL  geübt  worden  ist;  die  griechi- 
sche Declination  gehört  nach  Quarta  (vgl.  Pfautsch,  Programm  des  Gym- 
nasiums zu  Landsberg  a.  d.  W.  1861,  ein  Programm,  das  von  jedem  Leh- 
rer des  Lat  in  Sexta  verdient  gelesen  zu  werden).  Ebenso  ist  dort  über- 
flüssig die  Erklärung  von  verb.  trans.  u.  intrans.  und  die  Erwähnung,  dasz 
der  Accusativus  'des  nähern  Objects'  auf  die  Frage  wen?  was?  steht. 
Was  denkt  sich  der  Sextaner  unter  einem  näheren  Object?  Und  wenn 
man  wirklich  —  aber  gewis  nur  nach  groszer  Mühe  —  im  Stande  ge- 
wesen ist,  ihm  diesen  Begriff  klar  zu  machen,  was  hat  man  damit  ge- 
wonnen? Sicherlich  nicht  mehr,  als  wenn  man  ihm  gesagt  hat:  der  Ac- 
cus, steht  auf  die  Frage  wen?  was?  Mehr  braucht  der  Sextaner  nicht  zu 
wissen.    Unnötig  ist  auch  die  Vorrede  zu  §  14. 

Lect.  17  wird  schon  gelernt:  cne  (beim  Conjunctiv  u.  Imper.)  nicht.' 
Also :  ne  fuissemus  miseri  müste  es  jetzt  heiszen ,  da  keine  Regel  dazu 
gegeben  ist,  mit  denen  der  Hr.  Vf.  sonst  sehr  freigebig  ist;  in  den  deut- 
schen Uebungsbeispielen  kommt  aber  auszer:  'Knaben,  seid  nicht  müszig,' 
kein  hierauf  bezüglicher  Satz  vor,  wahrscheinlich  weil  der  Hr.  Vf.  selbst 


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Ploetz:  latein.  Vorschule.  515 

gefühlt  hat,  dasz  der  Unterschied  von  non  und  ne  heim  Gonjunctiv  für 
den  Sextaner  zu  schwer  sein  dürfte.  Zur  Einübung  des  Conjunctivs  kom- 
men von  jetzt  an  sehr  viele  Beispiele  von  indirecten  Fragesätzen  vor.  Im 
Deutschen  steht  allerdings  immer  der  Conj.  in  Klammern  angegeben; 
Ref.  glaubt  aber,  dasz  man,  besonders  in  Sexta  alle  Verbalformen  und  so 
auch  den  Conjunctiv  in  ihrer  eigentlichsten  Bedeutung  einüben  müsse, 
nicht  aber  den  Schüler  von  vorn  herein  durch  Sätze ,  wie :  e  die  Herren 
haben  nicht  gewust,  wo  die  Sklaven  gewesen  sind  (Conj.)',  verwirren. 

Der  Satz :  §  17.  Utinam  semper  amicus  noster  e  s  s  e  s  musz  gestri- 
chen werden ,  wenn  man  genau  sein  will. 

Die  Umwandlung  des  Act.  in  das  Pass.  und  umgekehrt  §  19  ist  viel 
zu  zeitig.  Sätze,  wie  §  30:  'die  Soldaten  der  römischen  Legionen  waren 
Männer  von  groszer  Tapferkeit',  und  alle  derartigen  gehören  nach  Quin- 
ta; ebenso  §  $1:  eder  Ruhm  des  Vaterlandes  hegt  (lateinisch:  ist)  einem 
guten  Bürger  am  Herzen  (Dativ).*  Vgl.  §  54.  Die  Bildung  der  Adverbia 
ist  bereits  §  38  zu  lernen ;  Schönborn  hat  gewis  richtiger  diese  für  Sexta 
ziemlich  schwierige  Sache  nach  Quinta  gelegt.  Nach  Quinta  gehört 
ferner: 

$  39.  Statt  quam  mit  dem  Nominativ  kann  man  auch  den  bloszen 
Ablativ  setzen. 

$  49.'  Auf  die  Fragen:  wie  lange?  wie  lang?  wie  hoch?  usw.  steht 
der  Accusativ. 

%  50.  Exercitus  regis  erat  quingentorum  milium  hominum.  (In  dem- 
selben §  steht  der  Satz :  In  der  Schlacht  bei  Cunaxa  usw.,  so  wie  §  47 
apud  Bibracte,  ohne  dasz  irgendwo  angegeben  ist,  dasz  die  Städtenamen 
Neutra  sind.) 

§54.  Ist  es  für  den  Sextaner  genügend,  die  Formen  ii,  iis  zu 
wissen;  ei,  eis  mögen  erwähnt  werden,  wenn  sie  in  der  Leetüre  vor- 
kommen. 

§  56.  coptimus  quisque  jeder  beste,  d.  h.  der  beste*  wird  woj  ge- 
wöhnlicher übersetzt:  gerade  die  besten.  Man  kann  zufrieden  sein,  wenn 
man  im  Stande  gewesen  ist,  Quartanern  diese  Verbindung  begreiflich  zu 
machen. 

Von  §  62  an  wird  der  Accus,  cum  Inf.  häufig  angewendet.  Der  Hr. 
Vf.  sagt  hierüber  S.  V :  f  Die  Infinitive  können  nur  vermittelst  der  Con- 
struetion  des  Accusativus  cum  Infinitivo  genügend  geübt  werden.  Hier 
war  die  Aufgabe ,  diese  Elemente  mit  Beschränkung  auf  das  Aliernotwen- 
digste  der  Fassungskraft  des  Anfängers  anzupassen.  Wo  er  den  Acc.  c. 
Inf.  setzen  soll ,  wird  dem  Schüler  in  jedem  einzelnen  Falle  angegeben, 
die  Construction  tritt  überhaupt  nur  auf,  um  die  Infinitivformen  zu 
üben.  Dies  bitte  ich  zu  erwägen  und  mit  der  Weise,  wie  ich  diese 
Uebungen  von  Lection  62  an  behandele,  erst  einen  praktischen  Versuch 
zu  machen,  ehe  mir  entgegnet  wird,  mit  Sextanern  den  Acc.  c.  Inf. 
durchzunehmen  sei  schlechterdings  unmöglich.' 

Öasz  es  möglich  ist,  wird  man  wol  zugeben  können;  aber  ob  bei 
dem  für  Sexta  so  umfangreichen  Pensum  es  möglich  ist,  auszer  diesem 
noch  so  vieles  Andere  zu  bewältigen,  ist  eine  andere  Frage.   Entschieden 

35* 


516  Ploetz :  latein.  Vorschule. 

in  Abrede  zu  stellen  ist  es  für  Gymnasien,  die  wie  das,  an  welchem  Ref. 
thätig  ist,  halbjährige  Curse  haben.  Wenn  aber  vollends  gleich  in  dem- 
selben §  62  ein  Satz  vorkommt  wie:  Haud  ignorabanl  tyranni  urbium 
Graecarum,  sibi  dominationem  Persarum  utilem  esse,  so  ist  darüber  wol 
nichts  erst  weiter  zu  sagen.  Soll  einmal  der  Acc.  c.  Inf.  in  Sexta  gelernt 
werden ,  so  müssen  wenigstens  Sätze  mit  dem  Pron.  refl.  vermieden  wer- 
den. Der  Grund,  dasz  man  den  Infin.  nur  im  Acc.  c.  Inf.  genügend  üben 
könne,  wird  auch  nicht  für  jeden  stichhaltig  sein.  Die  Infin.  Praes. 
und  Perf.  können  auch  in  Beispielen  ohne  den  Acc.  c.  Infin.  geübt  wer- 
den; und  wenn  der  Sextaner  nur  die  Formen  der  Infin.  Futur,  genau 
wreisz ,  so  wird  er  in  Quinta  bald  im  Stande  sein ,  sie  im  Acc.  c.  Infin. 
anzuwenden. 

Dasz  dem  Sextaner  viel  zu  viel  zugemutet  wird ,  zeugen  auch  Sätze 
wie:  Quum  Caesari  nuntiatum  esset,  magnum  timorem  tenere  legionarios 
nova  specie  Germanorum  territos,  milites  in  concionem  vocavit  et  ora- 
tionem  habuit,  qua  illorum  animos  confirmavit;  vgl.  §  91.  §  116.  117. 
118  u.  a. 

§  103.  Longum  est  iter  per  praecepta,  breve  per  exempla  geht  über 
die  Auffassungskraft  des  Sextaners. 

Dagegen  ist  auf  das  genus  der  Wörter  zu  wenig  Rücksicht  genom- 
men. Der  Hr.  Vf.  hat  versucht ,  die  Genusregeln  zu  vereinfachen,  und  sie 
ebenfalls  in  Reime  gebracht.  Es  ist  richtig,  dasz  die  alten  Zumptregeln 
(übrigens  von  Putsche  auch  schon  vereinfacht)  viel  überflüssige  Wörter 
enthalten,  aber  sie  haben  den  Vorzug,  dasz  sie  sich  leicht  lernen,  und  man 
wird  die  überflüssigen  mit  in  den  Kauf  nehmen  müssen ,  bis  man  bessere 
haben  wird,  die  sich  ebenso  leicht  lernen.  Dies  dürfte  man  jedoch  von 
denen  des  Hrn.  Verf.  nicht  behaupten;  denn  der  Reim  ist  mitunter  sehr 
schwerfällig,  und  dann  sieht  man  oft  nicht  ein,  warum  manche  Wörter 
aufgenommen  sind,  wie:  annalis,  canalis,  fas,  nefas,  während  z.  B.  un- 
guis ,  compes ,  margo  fehlen. 

Die  Regel:  Feminina  die  auf  us, 

Bei  welchen  das  u  bleiben  musz, 
ist  wegen  rus,  crus  u.  a.  falsch. 

Auch  wird  in  den*  späteren  §§  das  genus  der  Wörter  in  den  Bei- 
spielen zu  wenig  berücksichtigt ,  und  der  zeitraubenden  Dictate ,  welche 
die  gedruckte  Methode  verhindern  soll,  dürfte  der  Lehrer  nicht  ganz  über- 
hoben sein. 

Ebenso  hätten  die  Regeln  über  die  Endungen  der  dritten  Declinatioii 
e,  i;  a,  ia;  um,  ium  etwas  vollständiger  sein  können.  Von  den  Adiectivis, 
die  e,  a,  um  haben,  ist  blosz  vetus  angegeben  und  memor  mit  um,  wäh- 
rend pauper,  dives,  celer  fehlen;  von  Substantivis  fehlen  z.  B.  canis,  iu- 
venis.  Sehr  irre  führen  kann  die  Regel  §23:  ium  haben:  viele  einsilbige 
Wörter,  besonders  die  auf  s  und  x  mit  vorhergehenden  Gonsonanten; 
und  unter  den  darauf  folgenden  Vocabeln  befindet  sich :  laus  und  lex  ne- 
ben nix.  Wörter  wie  navis ,  vis ,  turris  usw.  mit  ihren  Abweichungen 
werden  gar  nicht  erwähnt.  Auch  Formen  wie:  mi,  Deus,  fili,  Pompei, 
filiabus,  oder  die  Comparationen  von  Wörtern  wie  similis,  benevolus, 

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Ploetz:  iatein.  Vorschule.  517 

dürften  für  Sexta  nicht  zu  schwer  sein.  *)  Vielleicht  hätte  noch  manches 
durchgenommen  werden  können ,  wenn  nicht  so  viel  Raum  auf  die  Ein- 
übung des  Praes.  u.  Perf.  Act.  u.  Pass.  der  ersten  Gonjugation  verwen- 
det worden  wäre. 

Was  die  Auswahl  der  Vocabeln  betrifft,  so  ist  auch  diese  nicht  im- 
mer angemessen.  Die  Anzahl  derselben  ist  zu  grosz ;  wären  wenigstens 
diejenigen  weggelassen,  die  ohne  eine  zeitraubende  Erklärung  für  den 
Sextaner  böhmische  Berge  sind :  wir  meinen  die  termini  technici  aus  dem 
alten  Staatenleben: 

dictator  der  Dictator,  j 

Senator  der  Senator, 

archon  der  Archont, 

consularis  ein  gewesener  Consul, 

satrapes  der  Satrap, 

senatorius  senatorisch , 

praetor  der  Prätor, 

consulatus  das  Consulat, 

praetura  die  Prätur , 

tribunus  plebis  ein  Volkstribun, 

cohors  die  Cohorte , 

manipulus  die  Manipel, 

ephorus  ein  Ephor, 

triumvir  ein  Triumvir  (Dreimann)  (!), 

Vestalis,  e  vestaiisch, 

suffes,  etis  der  Suffet, 

principatus  der  Vorrang,  die  Hegemonie,  (!!). 
Was  denkt  sich  der  Sextaner  unter  *Suffet'  oder  f Hegemonie'? 
Auszer  diesen  dürften  wol  noch  viele  andere  zu  verbannen  sein,  be 
sonders  solche,  die  in  dem  Buche  selbst  nur  um  eines  Beispiels  willen 
vorkommen,  wie:  horologium,  ductare,  circus,  caro  vitulina,  tripus, 
ferner  pallidus ,  ecce ,  redux,  dimidiura,  mercenarius,  afflictare,  inferi, 
commcntarii,  rebellare,  pacare,  commeatus,  pabulatio,  classiarius,  prae- 
valere,  cloaca  u.  a. 

Was  aber  ganz  überflüssig  für  Sexta  ist,  das  sind  die  zu  lernenden 
Redensarten.    Erst  musz  der  Anfänger  lernen  wörtlich  übersetzen ;  das 
bessere  Deutsch  findet  sich  zum  Teil  von  selbst  oder  wird  später  gelernt; 
man  lernt  in  Sexta  nicht  gleich  lateinisch  sprechen.   Wenn  der  Sextaner: 
bellum  parare,  sich  zum  Kriege  rüsten, 
a  partibus  alicuius  stare ,  zu  Jemandes  Partei  gehören , 
risum  tenere,  sich  des  Lachens  enthalten, 
petere  rem  aliquam  ab  aliquo ,  Jemanden  um  eine  Sache  bitten, 
lernt,  so  wird  er  höchstens  verwirrt;  diese  Sachen  kommen  später  zu- 
recht. 


*)  Ref.  erhielt  eben  das  Februar-Märzheft  1862  von  MützelFs  Zeit- 
schrift für  Gymnasialwesen,  in  dem  sich  eine  Recension  der  Ostermann- 
schen  Uebungsbücher  von  Pf  autsch  befindet,  und  freute  sich,  dasz  er 
in  vielen  Ansichten  mit  diesem  übereinstimmt. 


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518  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

Trotzdem ,  dasz  dies  Buch  mit  groszer  Sorgfalt  ausgearbeitet  ist  *) 
und  durch  die  neue  Methode  viele  Vorzüge  vor  anderen  hat,  wird  doch 
die  Einführung  desselben  in  Gymnasien  wegen  der  zu  groszen  Anforde- 
rungen an  den  Sextaner  nicht  gut  thunlich  sein. 

Druck  und  Ausstattung  sind  gut;  Druckfehler  finden  sich  nicht; 
auszer  etwa  lones  statt  Iones  66;  Saumes  statt  Samnis  106;  militum 
romanorum  neben  milites  Äomani  21. 

Breslau.  Gustav  Dziatas. 


*)  Von  Vocabeln  fehlt  blosz  'benachrichtigen'  §  77;  und  §  51  wird 
qui  angewendet,  das  erst  §  53  durchgenommen  wird. 


Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 


XVIH. 
Versammlung  rheinischer  Gymnasial-  und  Reallehrer  zu  Düsseldorf 
•      am  29.  März  1864.*) 


Der  Vorsitzende  des  geschäftsleitenden  Ausschusses**),  Director  Dr. 
Kiesel  eröffnete  die  von  etwa  100  Lehrern  der  rheinischen  höheren 
Unterrichtsanstalten  besuchte  Versammlung  in  der  Aula  des  Gymnasiums 
zu  Düsseldorf,  Morgens  um  10  Uhr,  mit  der  Ernennung  der  Herren 
Oberlehrer  Dr.  Schmitz  (Gymnasium  zu  Düren)  und  Dr.  Czech  (Real- 
schule zu  Düsseldorf)  zu  Protokollführern;  auf  Antrag  des  Dir.  Hein en 
wird  dem  Dir.  Kiesel  auch  der  Vorsitz  in  dieser  Versammlung  über- 
tragen. 

I.  Erster  Gegenstand  der  Tagesordnung:   Bericht  über  geogra- 
phische Lehrmittel. 

Oberlehrer  Dr.  Schauenburg  (Realschule  in  Düsseldorf):  Er  er- 
greife das  Wort  nur  auf  ganz  ausdrückliche  äuszere  Veranlassung,  nicht 
aus  Autoreneitelkeit,  und  bitte  von  vornherein,  davon  abzusehen,  dasz 
das  zunächst  zur  Sprache  zu  bringende  neuere  Hülfsmittel  für  den  Un- 
terricht in  der  Geographie  von  ihm  selbst  angegeben  sei.***)  —  An- 


•)  Vgl.  Bd.  88  S.  237  dieser  Jahrbücher. 

**)  Dieser  bestand  für  das  Jahr  1863/64  aus  Dir.  Dr.  Kiesel  vom 
Gymnasium  in  Düsseldorf,  Dir.  Dr.  Hein  eh  von  der  Realschule  in 
Düsseldorf,  Rector  Dr.  Jäger  vom  Progymnasium  in  Mors,  Oberlehrer 
Dr.  Liesegang  vom  Gymnasium  in  Duisburg,  Oberlehrer  Dr.  De  icke 
von  der  Realschule  in  Mülheim  a.  d.  Ruhr. 

***)  Die  Besprechung  der  Schauenburgischen  Fluszkarten  hatte  schon 
auf  der  Tagesordnung  der  vorjährigen  Versammlung  gestanden,  war 
aber  wegen  der  Kürze  der  Zeit  ausgesetzt  worden.  Zahlreiche  Stim- 
men, darunter  namentlich  auch  die  des  vorjährigen  Referenten  in  die- 
sen Blättern  hatten  für  die  diesjährige  Versammlung  die  interessante 
Frage  zur  Discussion  gestellt  zu  sehen  gewünscht ;  ein  Verlangen,  wel- 
chem der  Ausschusz  gern  nachgegeben  hatte. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  519 

schaulichkeit  und  Lebendigkeit  seien  die  Haupterfordernisse  jedes  Un- 
terrichts, besonders  aber  des  geographischen,  dessen  nächstes  Object, 
die  Kenntnis  der  plastischen  Gestaltung  der  Erdoberfläche,  vor  vielen 
anderen  Lehrgegenständen  geeignet  sei,  die  ( räumliche'  Phantasie  zu 
entwickeln.  Während  die  Karten  des  Atlas  das  Bild  des  Landes  dem 
einzelnen  Schüler  darstellen,  gebe  die  Wandkarte  dem  gesamten  Cö- 
tus  eine  .gemeinsame  Anschauung,  welche  gehoben  werde  durch  die  un- 
mittelbar angeschlossene  Erläuterung  des  Lehrers,  Von  gröster  Brauch- 
barkeit aber  müste  eine  Karte  sein,  welche  mit  jenen  Vorzügen  auch 
den  verbände ,  dasz  die  Schüler  auf  ihr  das  Abbild  des  geographischen 
Objectes  vor  ihren  Augen  entstehen  sähen  und  dasz  es  ihnen  für  so- 
fortige Hervorbringung  durch  eigene  Zeichnung  den  nötigen  Anhalt  böte. 
Ein  solches  Lehrmittel  sollen  nun  die  von  ihm,  dem  Vortragenden,  her- 
ausgegebenen Wandkarten  sein,  welche  in  gröstem  Format  in  blauem 
Oel  färb  endruck  auf  schwarzem  Wachspapier  hydrographische  Netze 
zeigen.  Eine  ähnliche  Karte  von  Deutschland  habe  er  bereits  vor  16 
Jahren  für  die  Realschule  in  Siegen  mit  Oelfarbe  auf  eine  schwarze 
Holztafel  gezeichnet  und  für  den  Unterricht  in  der  Geschichte  und 
Geographie  von  Deutschland  benutzt;  dabei  sei  insbesondere  auch  der 
grosze  Vorteil  hervorgetreten,  den  der  Gebrauch  solcher  Karten  für  die 
Einigung  der  aus  jenen  verschiedenen  Disciplinen  gewonnenen  Vorstel- 
lungen mit  sich  bringe.  Später  habe  er  denselben  Gedanken  in  Düs- 
seldorf weiter  verfolgt  und  endlich  vor  nunmehr  10  Jahren  bei  Dietrich 
Keimer  in  Berlin  zwei  solche  Fluszkarten,  die  eine  von  Deutschland, 
die  andere  von  Mitteleuropa,  erscheinen  lassen,  welche  in  verhältnis- 
mäszig  wenigen  Exemplaren,  eigentlich  nur  der  Probe  halber,  vorbe- 
reitet worden  seien.  Er  habe  nun  jetzt  über  die  Erfolge  Bericht  zu 
erstatten.  Alle  Lehrer,  welche  diese  Karten  benutzten,  hätten  sich  im 
höchsten  Grade  befriedigt  über  dieselben  ausgesprochen  und  möchten 
sie  nicht  mehr  im  Unterrichte  entbehren.  Freilich  sei  die  Brauchbar- 
keit erst  durch  den  Gebrauch  zu  erkennen,  wie  denn  andrerseits  die 
Verbreitung  solcher  Karten  auf  das  Hindernis  stosze,  dasz  sie  sich  nicht 
leicht  zur  Ansicht  versenden  lassen;  ebenso  könnten  allerdings  nur  sehr 
tüchtig  orientierte  Lehrer  den  vollen  Erfolg  mit  derselben  erzielen.  Der 
Vortragende  verbreitet  sich  nun  über  die  Anwendbarkeit  der  Karten  im 
Einzelnen.  Zunächst  dienen  sie  einem  ähnlichen  Zwecke ,  wie  die  carte 
muette  der  Franzosen,  indem  die  Schüler  bei  Repetitionen  die  Flüsse 
und  auch  sonstige,  mit  Kreide  weiter  einzutragende  Objecto  zu  benen- 
nen hätten.  Die  Einübung  der  Flüsse  geschieht  durch  Nachzeichnen  ih- 
res Laufes  in  seinen  charakteristischen  Krümmungen,  durch  Andeutung 
des  directen  Abstandes  zwischen  Quelle  und  Mündung,  ferner  durch 
Eintragen  der  Namen  oder  blosz  ihrer  Anfangsbuchstaben.  Küsten- 
linien, Buchten,  Halbinseln,  Inseln  werden  ebenso  angegeben  und  be- 
zeichnet. Dann  werden  auf  die  mit  dem  Schwamm  leicht  gereinigte 
Karte  die  Wasserscheiden  eingetragen  und  an  diese  schlieszt  sich  die 
Angabe  der  Höhenzüge ,  so  oft  ganze  Gebirgsländer ,  Gebirgszüge.  Ber- 
ge ,  Gebirgspässe  leicht  an  die  Fluszquellen  angeknüpft  werden  können. 
Hierauf  folgt,  nachdem  die  Karte  wieder  gesäubert  worden,  das  blosze 
Eintragen  der  Namen  oder  Höhenzahlen  der  Gebirge.  In  ähnlicher 
Weise  wird  sodann,  an  die  Flüsse  angelehnt,  die  politische  Umgren- 
zung der  Staaten  mit  Kreide  angegeben,  ferner  die  wichtigsten  Städte 
in  ihrer  an  oder  nahe  bei  den  Flüssen  bestimmten  Lage  eingetragen, 
diese  dann  durch  Eisenbahnlinien  verbunden.  Zuletzt  wird  noch  von 
dem  Vortragenden,  der  seine  Mitteilungen  überhaupt  auf  das  Instructiv- 
ste  praktisch  illustrierte,  für  die  Anwendung  im  Geschichtsunterrichte 
beispielsweise  das  successive  Anwachsen  des  preuszischen  Staatsgebie- 
tes in  Hervorhebung  der  Altmark,  Uckermark,  Mittelmark  usw.  unter 
Beifügung  der  Jahreszahl  der  Erwerbung  —  auf  der  Karte  anschaulich 
gemacht. 


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520  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

Oberl.  Dr.  Ho  che  (Gymnasium  in  Wesel):  Er  verkenne  die  grosze 
Brauchbarkeit  der  Schauenburgischen  Fluszkarten  keineswegs,  welche 
er  selbst  früher  am  Gymnasium  in  Minden  zu  erproben  Gelegenheit 
gehabt  habe.  Dennoch  könne  er  ein  Bedenken  nicht  zurückhalten. 
Warum  seien  nicht  lieber  die  Gebirge  statt  der  Flüsse  zum  Ausgangs- 
punkte genommen?  Es  liege  doch  nahe,  dasz  man  vom  Prius  in  der 
Natur,  welches  der  Schüler  selbst  täglich  als  das  Prius  erkenne,  auch 
im  Unterrichte  ausgehen  müsse.  Uebrigens  sei  es  auch  für  die  prakti- 
sche Anwendung  der  Karten  weit  leichter,  nach  dem  -Laufe  der  Ge- 
birge den  Lauf  der  Flüsse,  als  umgekehrt  zu  construieren.  Dazu 
komme,  dasz  gerade  Gebirgszeichnungen  leicht  durch  Unsauberkeit 
undeutlich  'würden. 

Dr.  Schauenburg:  Seiner  Ansicht  nach  sei  weder  ein  Gradnetz 
noch,  eine  Gebirgskarte  so  zweckmäszig,  als  ein  Flusznetz.  Jenes  als 
Grundlage  für  die  Eintragung  des  hydrographischen  Elementes  —  Sven- 
Ogrensche  Methode  —  gebe  nur  ganz  unzureichende  Anhaltspunkte  für 
die  Schüler  und  lasse  nicht,  wie  das  Flusznetz,  beim  Weglöschen  der 
Zeichnung  ein  stets  bestimmter  werdendes  Bild  der  charakteristischen 
Form  zurück;  dieses  —  das  Gebirgsnetz  —  ohne  Flüsse  und  Meere 
überhaupt  kaum  darstellbar,  würde  kein  zusammenhängendes  Bild  er- 
geben; auch  lieszen  sich  die  hohen  Dimensionen  nicht  klar  ausdrücken. 
Die  Gebirge  aber  etwa  mit  den  Flüssen  verbunden  seien  schon  ein  Zu- 
viel ;  dadurch  würde  auch  der  Selbstthätigkeit  des  Schülers  zuviel  vor- 
weg genommen. 

Oberlehrer  Dr.  Uppenkamp  (Gymnasium  in  Düsseldorf):  Nach 
seiner  Erfahrung  —  und  er  habe  schon  lange  Zeit  mit  dieser  Karte 
unterrichtet  —  könne  er  die  Angaben  von  Schauenburg  nur  bestätigen; 
zur  klaren  Erkenntnis  der  topographischen  Verhältnisse  sei  die  Karte 
sehr  wol  geeignet.  Zwar  seien  in  der  Natur  allerdings  die  Gebirge 
das  Prius,  aber  der  Gang  in  der  Entwicklung  der  natürlichen  Verhält- 
nisse sei  doch  nicht  maszgebend  für  den  Gang  des  Unterrichtes;  man 
lehre  nicht  immer  das  zuerst  Gewesene  zuerst.  Der  grosze  Vorzug  die- 
ser Karten  liege  in  ihrer  Einfachheit,  man  könne  z.  B.  das  Alpensystem 
mit  dieser  Karte  von  Deutschland  viel  besser  klar  machen,  als  mit 
jeder  anderen. 

Auf  eine  Frage  von  Schauenburg  an  Collegen,  welche  im  Un- 
terrichte diese  Karten  angewendet  haben,  bestätigen  Dr  Czech  und 
Eck  (beide  von  der  Realschule  in  Düsseldorf)  die  vorzügliche  Brauch- 
barkeit derselben.  Dr.  Czech  fügt  noch  hinzu,  dasz  seiner  Ansicht 
nach  die  Eintragungen  von  Städten  usw.  auf  keiner  anderen  Karte 
so  leicht  gemacht  werden  könnten,  als  auf  dieser  Fluszkarte;  die 
Lage  der  Städte  und  der  zwischen  ihnen  hergestellten  Verbindungen 
richte  sich  ja  meistenteils  nach  dem  Laufe  der  Flüsse,  nach  den  Ufern 
der  Seen  und  Meere ,  sei  überhaupt  von  hydrographischen  Verhältnissen 
vorzüglich  abhängig. 

Dr.  Ho  che:  Durch  die  Einzeichnung  mit  Kreide  könnten  die  Hö- 
hendimensionen noch  weniger  klar  ausgedrückt  werden,  als  wenn  die 
Karte  die  Gebirge  bereits  enthielte  (ohne  die  Flüsse).  Ein  vollständi- 
ges Gradnetz  werde  niemand  verlangen,  aber  die  Angabe  einiger  oder 
einer  Hauptlinie  sei  sehr  wünschenswerth ,  z.  B.  für  Deutschland  des 
ÖOsten  Parallelkreises. 

Dr.  Schauenburg:  Gemäsz  der  Projection  der  Karten  —  konisch 
mit  Berührung  in  50°  N.  Br.  —  seien  die  Meridiane  gerade  Linien,  die 
Parallelkreise  Kreisbogen;  mit  Hülfe  der  Zahlenangaben  am  Bande 
der  Karten  lassen  sich  jene  mit  dem  Lineal,  diese  aus  freier  Hand  oder 
mit  leicht  zu  treffenden  Vorkehrungen  in  hinreichender  .Genauigkeit 
eintragen. 

Auf  eine  Frage  wegen  der  Dauerhaftigkeit  der  Karten  gibt  Dir. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  521 

Kiesel  befriedigende  Auskunft.  Die  vorliegende  sei  an  seiner  Anstalt 
10  Jahre  lang  ununterbrochen  in  Gebrauch  und  noch  unbeschädigt.*) 

Hiermit  wird  die  Discussion  über  die  Schauenburgischen  Fluszkar- 
ten  geschlossen. 

Director  Dr.  Schacht  (Realschule  in  Elberfeld):  Er  wolle  noch 
ein  anderes  Lehrmittel  für  den  geographischen  Unterricht  in  Vorschlag 
bringen,  nemlich  Stereoskopenbilder,  die  sich  mit  Vorteil  verwenden 
lieszen. 

Oberlehrer  Dr.  Liesegang  ( Gymnasium  in  Duisburg) :  Stereos- 
kopen möchten  in  einzelnen  Fällen  wol  vorteilhaft  sein,  lieszen  aber 
jedenfalls  nur  einen  sehr  beschränkten  Gebrauch  in  sehr  kleinen  Clas- 
sen  zu,  da  nur  wenige  Schüler  zugleich  hineinsehen  könnten. 

Oberlehrer  Dr.  Müller  (Gymnasium  in  Wesel):  Das  stereoskopi- 
sche Bild  sei  immer  ein  unvollkommenes,  weil  es  kein  Modell,  z.  B.  des 
Gebirges  gebe;  viel  mehr  würde  dies  erreicht  durch  Reliefkarten,  wel- 
che weit  über  den  Stereoskopen  ständen. 

Director  Schacht:  Er  halte  die  plastischen  Karten  für  weniger 
vollkommen  als  die  Stereoskopen. 

Hiermit  wird  dieser  Gegenstand  verlassen. 

Der  Vorsitzende  macht  die  Versammlung  darauf  aufmerksam,  dasz 
der  Geh.  Reg.  Rath  Altgelt  und  der  Oberbürgermeister  Hammer  — 
beide  von  Düsseldorf  —  sich  in  ihrer  Mitte  befinden.  Die  Versamm- 
lung gibt  ihrer  Freude  über  diese  Beteiligung  von  Mitgliedern  der 
Schul  Verwaltung  durch  allgemeines  Erheben  von  den  Sitzen  den  gebüh- 
renden Ausdruck.**) 

II.  Der  zweite  Gegenstand  der  Tagesordnung  waren  die  von  Rector 
Dr.  Jäger  aufgestellten  Fragen,  die  häuslichen  Arbeiten  der 
Schüler  und  Aehnliches  betreffend. 

Rector  Dr.  Jäger  (Progymnasium  in  Moers):  Er  sei  nicht  der  al- 
leinige Verfasser  dieser  acht  Fragen,  dieselben  seien  zum  Teil  von 
Director  Heinen  aufgestellt  und  hätten  schon  im  Jahre  vorher  von 
diesem  zur  Besprechung  gebracht  werden  sollen,  was  die  Kürze  der 
Zeit  damals  verhindert  habe.    Er  (Jäger)  habe  dieselben  nur  redigiert. 

Bei  der  nun  folgenden  Discussion  werden  zuerst  Frage  1  u.  2  zu- 
sammengefaszt: 

1)  Ist  die  Behauptung  richtig,  dasz  die  Zöglinge  unserer  höheren 
Schulen  trotz  entgegenstehender  Verordnungen  und  Verfügungen  noch 
immer  unter  einem  Zuviel  häuslicher  Arbeiten  leiden?  ist  dies  insbe- 
sondere bei  den  oberen  Classen  (Prima)  der  Fall? 

2)  Dasz  der  Hausaufgaben  im  Allgemeinen  zu  vielerlei  sind, 
scheint  sicher:  lassen  sich  hiegegen  bestimmte  Grundsätze  aufstellen? 
z.  B.  Einteilung  der  Lehrfächer  für  jede  Classe  in  solche,  für  welche 
Hausarbeiten  verlangt  werden,  und  solche,  bei  denen  die  Aneignung 
des  Lernstoffs  ausschlieszlich  oder  beinahe  ausschlieszlich  in  den  Lec- 
tionen  geschieht?  (in  Gymnasien:  Schreiben,  Zeichnen,  Naturkunde  in 
den  unteren  Classen,  Geschichte  und  Deutsch  in  den  mittleren,  etwa 
Französisch  in  der  obersten  ?) 

Director  Dr.  Probst  (Gymnasium  in  Cleve):  Ueber  die  erste  Frage 
hätten  eigentlich  nicht  Lehrer,  sondern  nur  die  Eltern  ein  Urteil ;  doch 
könne   von    einem  Zuviel   in    den  häuslichen  Arbeiten  seiner  Ansicht 


*)  Das  Material  ist  Wachspapier,   aber  auf  sehr  starke  Leinwand 
aufgezogen. 

**)  Im  vorigen  Jahre  hatte  die  Versammlung  die  Genugthuung  ge- 
habt, auch  einen  Vertreter  des  Provinzialschulcollegiums  in  ihrer  Mitte 
zu  sehen.  Sollten  wirklich  die  tactlosen  Bemerkungen  eines  Referates 
in  einem  Localblatte  für  die  Abwesenheit  bestimmend  gewesen  sein? 


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522  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

nach  wol  nicht  die  Rede  sein;  Lehrmittel  und  Lehrmethode  seien  gegen 
frühere  Zeiten  so  ausserordentlich  verbessert  worden,  dasz  die  Kennt- 
nisse jetzt  dem  Schüler  fast  'anflögen'.  Daher  fielen  auch  in  den  Abi- 
turientenprüfungen nicht  mehr*  so  viele  Schüler  durch  als  sonst.  Seiner 
Erfahrung  nach  hätten  auch  die  Schüler  noch  immer  zu  anderen  Din- 
gen hinreichend  Zeit,  was  z.B.  das  Kneipengehen  hinreichend  beweise. 

Rector  Dr.  Hansen  (Bürgerschule  in  Lennep):  Das  Urteil  der  El- 
tern über  ein  Zuviel  der  Arbeiten  bei  ihren  Söhnen  sei  sehr  relativ 
und  könne  hier  gar  nicht  in  Betracht  kommen;  das  Publicum  sei  ein 
f  vielköpfiges  Ungeheuer.'  Uebrigens  seien  an  den  verschiedenen  An- 
stalten die  Verhältnisse  auch  sehr  verschieden. 

Oberlehrer  Dr.  Ho  che:  Auf  das  Gerede  des  f  vielköpfigen  Unge- 
heuers' werde  allerdings  keine  Rücksicht  zu  nehmen  sein,  sehr  wol 
aber  auf  das  Urteil  verständiger  Eltern,  deren  es  überall  gebe.  Es  sei 
allerdings  wahr,  dasz  vielfach  zuviel  aufgegeben  würde ,  seiner  Ansicht 
nach  besonders  in  den  unteren  und  mittleren  Classen,  weniger  in 
Prima.  Von  der  gerühmten  Wirkung  des  cAnfliegens'  bei  der  verbes- 
serten Lehrmethode  sei  noch  wenig  zu  merken;  überhaupt  sei  nicht  zu 
verkennen,  dasz  mit  dem  Worte  f Methode'  auch  mancher  Misbrauch 
getrieben  werde.  Ein  Hauptübelstand  in  der  angeregten  Beziehung  sei 
der,  dasz  für  Nebenfächer,  wie  Naturgeschichte  und  Aehnliches,  grosze 
häusliche  Arbeiten  verlangt  würden,  die  gar  nicht  zu  bewältigen  seien, 
Auswendiglernen  von  ganzen  Seiten  u.  dgl.;  dadurch  würden  die  Schü- 
ler stumpf  und  für  *  wirklich  nötige  Arbeiten  unfähig  gemacht.  Die 
häuslichen  Arbeiten  würden  immer  auf  die  Hauptfächer  zu  beschränken 
sein.  Was  endlich  das  f Kneipengehen'  der  Primaner  anbetreffe,  so 
würden  auch  vermehrte  häusliche  Arbeiten  dem  nicht  steuern;  das 
würde  am  meisten  überall  von  den  schlechten  Primanern  getrieben,  die 
auch  die  Fessel  der  häuslichen  Arbeiten  abzuschütteln  wüsten. 

Director  Probst:  Wer  in  Naturgeschichte  etwas  aufgebe,  sei  ein 
schlechter  Lehrer,  ebenso  in  Geographie;  ja  er  wolle  es  auch  ausspre- 
chen, wer  in  Geschichte  etwas  aufgebe,  sei  ein  schlechter  Lehrer. 

Rector  Dr.  Jäger:  Er  gestehe  sehr  gern,  dasz  er  auch  zu  den 
Probstischen  schlechten  Lehrern  gehöre ,  da  er  auch  in  der  Geschichte 
häusliche  Arbeit  verlange.  An  ein  Zuviel  der  häuslichen  Arbeiten 
glaube  er  ganz  entschieden,  finde  aber  namentlich  Prima  überlastet. 

Director  Kiesel:  Das  Uebermasz  sei  der  Fehler,  der  aus  einem 
gewissen  Verstecke  heraus  jeder  Anstalt  drohe;  das  sei  wol  im  Allge- 
meinen festzuhalten,  dasz  je  besser  der  Unterricht,  desto  leichter  die 
häusliche  Arbeit. 

Director  Schacht:  Man  müsse  sich  vergegenwärtigen,  was  für 
jede  einzelne  Classe  aufzugeben  sei,  wie  viel  Zeit  der  Mittelschlag  der 
Schüler  brauche,  um  seine  Arbeiten  zu  vollenden.  Der  Redner  ergeht 
sich  darauf  des  Weiteren  in  speciellen  Vorschlägen  für  die  Realschule, 
für  Sexta,  Quinta  usw. 

Geh.  Reg.  Rath  Altgelt:  Dasz  die  Schulverwaltung  darauf  auf- 
merksam geworden  sei,  dasz  wirklich  ein  Uebermasz  stattfinde  oder 
stattgefunden  habe,  scheine  ihm  aus  der  Fassung  der  ersten  Frage  her- 
vorzugehen, namentlich  aus  den  Worten:  f trotz  entgegenstehender  Ver- 
ordnungen und  Verfügungen.'.  Er  wünsche  nun  - —  für  ihn  als  Mitglied 
der  Schulverwaltung  habe  das  groszes  Interesse  —  zu  erfahren,  ob  wirk- 
lich trotz  der  Anordnung  der  Behörde  noch  immer  eine  Ueberbürdung 
stattfinde,  resp.  wie  dem  zu  steuern  sei. 

Director  Probst:  An  jeder  Anstalt  werde  das  Masz  der  Arbeiten 
durch  die  Conferenz  vorgeschrieben. 

Director  Kiesel:  Die  betreffenden  Verfügungen  seien  nur  ganz 
allgemeiner  Natur,  bestimmt  gezogene  Grenzen  könne  es  nicht  geben; 
sehr  häufig  gebe  der  Lehrer  aus  ganz  wolmeinender  Absicht  zuviel  auf. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscelleu.  523 

Reetor  Jäger:  Das  Zuviel  bestehe  ganz  besonders  in  dem  Zuvie- 
lerlei;  darüber  könnten  wol  bestimmte  Normen  aufgestellt  werden. 

Kector  Götz  (Progymnasium  und  höhere  Bürgerschule  in  Neuwied): 
Statistisch  festzustellen,  ob  und  inwiefern  eine  Ueberbürdung  vorhan- 
den sei,  sei  völlig  unmöglich;  die  ganze  Frage  sei  wesentlich  eine 
Gewissensfrage,  darüber  abstimmen  könne  man  nicht.  Qualitativ  wie 
quantitativ . sei  die  Frage  zu  fassen;  wenn  auch  die  Zahl  der  häus- 
lichen Arbeiten  beschränkt  würde,  so  könne  doch  der  Schüler  immer 
noch  überbürdet  werden. 

Reetor  Jäger  schlägt  darauf  vor,  die  beiden  ersten  Fragen  den 
einzelnen  Collegien  zur  weiteren  Besprechung  zu  überlassen  und  in  der 
Discussion  weiter  zu  gehen. 

Hiermit  wird  zur  Frage  3  übergegangen: 

3)  Läszt  sich  nicht  namentlich  das  schwere  Joch  der  deutschen 
Aufsätze  ohne  Schaden  der  Sache  für  bestimmte  Classen  etwas  er- 
leichtern? 

Reetor  Hansen:  Er  gebe  nur  ganz  ausnahmsweise  eine  schrift- 
liche Arbeit  im  Deutschen  oder  Lateinischen  auf,  da  die  Schüler  sich 
zu  viel  helfen  lieszen.  Die  Aufsätze  usw.  lasse  er  unter  seinen  Augen 
in  der  Classe  anfertigen. 

Director  Schacht:  Er  sehe  nicht  ein,  wie  ein  Primaner  bei  3 
wöchentlichen  Stunden  im  Deutschen  auch  noch  seine  Aufsätze  in  der 
Schule  anfertigen  solle ;  er  möchte  vorschlagen ,  über  jedes'  aufgegebene 
Thema  nach  einigen  Tagen  mit  den  Schülern  zu  sprechen;  man  könne 
ihnen  auch  die  Wahl  des  Themas  bisweilen  überlassen. 

Reetor  Jäger:  Er  beziehe  das  f schwere  Joch  der  deutschen  Auf- 
sätze' ganz  besonders  auf  Tertia.  Gerade  in  dieser  Classe  ,wird  am 
meisten  gesündigt.  Es  sei  ihm  ein  Gymnasium  bekannt,  an  dem  man 
in  ganz  mechanischer  Auffassung  ein  groszes  Heil  in  der  14tägigen 
Anfertigung  eines  Aufsatzes  in  Tertia  ^erblicke.  Was  Hansen's  Ansicht 
anbetreffe,  so  schütte  dieser  im  vollsten  Sinne  des  Wortes  das  Kind 
mit  dem  Bade  aus. 

Reetor  Hansen:  Er  habe  zur  Anfertigung  eines  Aufsatzes  in  Se- 
eunda  drei  Stunden  hintereinander  gebraucht. 

Reallehrer  Dr.  Hindorf  (Realschule  in  Ruhrort):  Nicht  nur  im 
Deutschen,  sondern  auch  im  Französischen  und  Englischen  seien  die 
Aufsätze  der  Zahl  nach  möglichst  zu  beschränken;  eine  Arbeit  in  jeder 
Sprache  für  jedes  Quartal  halte  er  für  ausreichend,  also  in  den  drei 
lebenden  Sprachen  für  das  Jahr  zusammen  12  Aufsätze. 

Director  Schacht:  Es  handle  sich  hier  zunächst  um  die  deutschen 
Aufsätze;  diese  müsten  jedesmal  vom  Lehrer  vorher  in  der  Classe  or- 
dentlich durchgearbeitet  werden.  In  Tertia  könne  wol  alle  zwei  Wo- 
chen ein  Aufsatz  geliefert  werden. 

Hierauf  wird  zur  Besprechung  der  Fragen  4  und  5  übergegangen: 

4)  Die  Schüler  vor  Ueberbürdung  zu  schützen,  wird  vornehmlich 
den  Classen  Ordinarien  zukommen:  gibt  es  Mittel,  ein  Masz  täglicher 
Arbeitszeit  für  die  verschiedenen  Classen  festzustellen  und  festzuhalten? 

5)  Hat  die  Proclamierung  einer  bestimmten  Arbeitszeit,  welche  an 
einzelnen  Schulen  geschieht,  wirklichen  Erfolg  gehabt?  ist  hier  eine 
wirkliche  Controle  möglich?  Öaben  die  Hausbesuche,  auf  welche  an 
manchen  Orten  ein  übertriebener  Werth  gelegt  zu  werden  scheint,  sich 
in  dieser  Beziehung  erfolgreich  erwiesen? 

Director  Schacht:  An  vielen  brandenburgischen  Schulen  sei  eine 
Arbeitszeit  von  5 — 7  Uhr  Abends  angesetzt  und  die  Lehrer  giengen  ab- 
wechselnd als  Inspectoren  herum,  freilich  nicht  ohne  vielfachen  Wider- 
spruch der  Eltern;  er  sei  gegen  eine  solche  bestimmte  Arbeitszeit.  Die 
aufzugebenden  Arbeiten  müsten  so  gewählt  werden,  dasz  für  Prima  das 


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524  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

Maximum  der  zur  Anfertigung  zu  verwendenden  Zeit  vielleicht  auf  3%, 
für  Sexta  etwa  auf  1  Stunde  zu  normieren  sei. 

Director  He  inen:  Die  Prociamierung  einer  bestimmten  Arbeits- 
zeit, in  welcher  die  Schüler  zu  Hause  ihre  Schularbeiten  zu  machen 
hätten ,  sei  wegen  der  möglichen  Colliesionen  mit  den  Eltern  unzulässig. 
Auch  wenn  die  Anfertigung  der  Arbeiten  im  Schuliocale  geschehe  (so- 
genanntes Silentium ,  gegen  ein  Honorar  an  die  beaufsichtigenden  Leh- 
rer), könne  die  Teilnahme  daran  nur  eine  freiwillige  sein.  Dagegen 
sei  es  Pflicht  der  Lehrercollegien ,  sich  in  gemeinsamen  Berathungen 
über  das  Masz  der  Zeit  zu  verständigen,  welches  Schüler  von  mittlerer 
Begabung  für  die  häuslichen  Arbeiten  zu  verwenden  hätten,  und  dabei 
habe  man  nicht  nur  die  periodischen  schriftlichen  Arbeiten,  sondern  auch 
die  laufenden  Vorbereitungen  für  den  Unterricht  in  Betracht  zu  ziehen. 
Es  sei  Fürsorge  zu  treffen,  dasz  die  Schüler  weder  für  einzelne  Unter- 
richtsfächer, noch  an  einzelnen  Tagen  mit  häuslichen  Arbeiten  über 
Gebühr  in  Anspruch  genommen  würden  und  namentlich,  dasz  sie  nicht 
an  demselben  Tage  mit  zu  Vielerlei  sich  zu  beschäftigen  hätten.  Das 
Letztere  hindere  den  Schüler,  sich  liebend  in  einen  Gegenstand  zu 
versenken,  und  bringe  ihn  dadurch  zum  'Teil  um  die  Früchte  des  Flei- 
szes,  welche  er  bei  gleichem  Aufwände  von  Zeit  von  einer  gesammelten 
und  concentrierten  Thätigkeit  erwarten  dürfte.  Dasz  mehr  geschehen 
müsse,  um  die  Schüler  des  Segens,  welcher  auf  einer  solchen  Thätig- 
keit ruhe,  teilhaftig  zu  machen,  werde  ziemlich  allgemein  gefühlt,  aber 
die  dahin  gerichteten  Vorschläge  erstrebten  mehr  oder  weniger  Abän- 
derungen in  dem  Lehrplane,  über  welche  die  Behörde  zu  entscheiden 
habe;  auch  stünden  sich  diese  Vorschläge  selbst  zum  Teil  schroff 
gegenüber.  Zu  den  Mitteln  aber,  welche  jede  Schule  in  ihrer  Gewalt 
habe,  um  die  Schüler  vor  Ueberbürdung  zu  schützen,  gehörten  folgende, 
die  sich  ihm  (dem  Redner)  durch  die  Erfahrung  bewährt  hätten.  Im 
Anfange  des  Schuljahres  werde  unter  Zugrundelegung  des  Schulplanes 
in  der  Conferenz  für  jede  Unterrichtsstunde  in  jeder  Classe  festgesetzt, 
ob  und  wieviel  Zeit  der  betreffende  Lehrer  an  häuslicher  Vorbereitung 
für  dieselbe  beanspruchen  dürfe.  Es  sei  nicht  möglich ,  dasz  der  Schü- 
ler sich  immer  für  sämtliche  Stunden  eines  Tages  präparieren  könne; 
für  gewisse  Stunden  sei  ihm  Nichts  aufzugeben.  Die  Festsetzung  die- 
ser Stunden  gleichsam  als  Nullstunden ,  für  welche  gar  keine  häusliche 
Vorbereitung  verlangt  werden  dürfe,  sei  Sache  der  Verständigung. 
Jüngere,  leicht  zu  f feurige' Lehrer,  welche  oft  zu  rasch  vorwärts  gi en- 
gen, würden  durch  diese  Nullstunden  gewissermaszen  genötigt,  häufi- 
gere Repetitionen  anzustellen  und  öfter  die  Schüler  auch  an  Nichtprä- 
pariertem  sich  versuchen  zu  lassen;  ferner  würde  durch  dieselben  dem 
unseligen  Treiben  solcher  Lehrer  entgegengearbeitet,  welche  zu  be- 
quem, um  in  der  Stunde  mit  den  Schülern  den  Unterrichtsstoff  gehörig 
durchzuarbeiten,  seine  Aneignung  vorzubereiten  und  durch  manigfache 
Uebungen  zu  erleichtern  —  an  den  häuslichen  Fleisz  der  Schüler  über- 
mäszige  Forderungen  stellten  und  die  Unterrichtsstunde  fast  nur  zur 
Controlle  desselben  verwendeten.  Selbstredend  sei  bereits  bei  Entwer- 
fung des  Stundenplanes  darauf  Bedacht  zu  nehmen,  dasz  nicht  in  bun- 
tem Durcheinander  die  Unterrichtsgegenstände  an  einem  Tage  aufein- 
ander folgen.  Ueberdies  aber  empfehle  es  sich,  dasz  häufiger,  beson- 
ders bei  Unterrichtsgegenständen,  welchen  eine  gröszere  Stundenzahl 
eingeräumt  sei ,  zwei  Stunden  nach  einander  oder  wenigstens  an  dem- 
selben Tage  demselben  Gegenstande  gewidmet  werden;  natürlich  sei 
dabei  die  Art  des  Lehrobjectes  und  das  Alter  der  Schüler  zu  berück- 
sichtigen (man  werde  z.  B.  gewis  nicht  die  Sextaner  2  Stunden  nach- 
einander mit  Kopfrechnen  beschäftigen  wollen) ;  aber  das  hindere  nicht, 
dasz  dieses  Princip  bereits  wesentlich  in  den  mittleren  und  noch  ent- 
schiedener in  den  oberen  Classen  zur  Anwendung  komme.  Durch  die 
so  herbeigeführte  gröszere  Gleichartigkeit   und  Concentrierung  in  der 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscelleu.  525 

häuslichen  Thätigkeit  des  Schülers  und  seiner  Thätigkeit  in  der  Schule 
könne  der  Erfolg  des  Unterrichts  nur  gesteigert  werden;  zugleich  werde 
der  Lehrer  über  die  Grösze  der  Anforderungen,  welche  er  an  den  häus- 
lichen Fleisz  der  Schüler  stelle,  sich  mehr  klar,  wenn  er  an  demselben 
Tage  mehrere  Stunden  in  einer  Classe  gebe,  als  wenn  diese  auf  ver- 
schiedene Tage  verteilt  seien.  *  Gegen  die  etwaige  Besorgnis ,  dasz  bei 
2  Stunden  nacheinander  in  demselben  Fache  die  Schüler  leicht  ermat- 
ten würden,  könne  er  wenigstens  die  Versicherung  geben,  dasz  sich 
dieses  bei  seinen  vielfältigen  Erfahrungen  nicht  herausgestellt  habe. — 
Ein  anderes  Concentrationsmittel  bestehe  darin,  dasz  bei  verwandten 
Fächern,  besonders  wenn  sie  in  der  Hand  desselben  Lehrers  liegen, 
eine  längere  Zeit  hindurch  alle  oder  doch  die  meisten  der  ihnen  zu-, 
gewiesenen  Stunden  bald  dem  einen,  bald  dem  andern  zugewendet 
werden;  z.  B.  wenn  zwei  Schriftsteller  in  derselben  Sprache  gelesen 
werden,  möge  man  die  Leetüre  beider  nicht  fortwährend  nebeneinan- 
der laufen  lassen,  sondern  möge  eine  Zeitlang,  z.  B.  einen  Monat  oder 
bis  man  zu  einem  gewissen  Abschlüsse  gelangt  sei,  nur  den  einen  le- 
sen, dann  den  andern  ausschlieszlich  oder  fast  ausschlieszlich  vorneh- 
men. Aehnlich  in  der  Mathematik  mit  dem  algebraischen  und  geome- 
trischen Teile;  insbesondere  empfehle  es  sich,  in  Quarta  die  Algebra 
in  der  ersten  Zeit  ausschlieszlich  zu  betreiben  usw. 

Bei  der  vorgerückten  Zeit  wird  hiermit  die  Berathung  der  Jäger- 
schen  Fragen  abgebrochen  und  beschlossen,  die  Besprechung  über  den 
zweiten  Satz  von  Frage  5,  sowie  über  die  Frage  6 — 8  als  ersten  Punkt 
für  die  nächstjährige  Tagesordnung  aufzustellen.*)  Bei  der  Wichtig- 
keit von  Frage  8  wird  zugleich  der  Fragsteller  aufgefordert,  bis  zur 
nächsten  Versammlung  das  nötige  nicht  unbedeutende  Material  zu  sam- 
meln, ein  Wunsch,  dem  Jäger  nachzukommen  verspricht. 

III.  Dritter  Gegenstand  der  Tagesordnung  ist  die  Besprechung  der 
Thesen  über  den  Unterricht  im  Französischen  am  Gymnasium; 
Proponent:    Rector  Loehbach  (Progymnasium  in  Andernach). 

1)  Hauptzweck  des  Unterrichts  im  Französischen  ist  die  Einführung 
in  das  Verständnis  der  Schriftsprache. 

2)  Die  Erlangung  praktischer  Fertigkeit  im  schriftlichen  und  münd- 
lichen Gebrauche  der  Sprache  liegt  nicht  im  Zwecke  des  Gymnasial- 
unterrichts. 

3)  Der  grammatische  Unterricht  und  die  schriftlichen  Arbeiten  sind 
daher  möglichst  zu  beschränken;  vielmehr  ist  der  Hauptnachdruck  auf 
flieszendes  Uebersetzen  des  Gelesenen  zu  legen;  auch  ist  im  Maturi- 
tätsexamen  kein  französisches  Scriptum  zu  fordern ,  sondern  die  Leetüre 
als  Maszstab  für  die  im  Französischen  erlangte  Reife  anzunehmen. 

4)  Für  das  Gymnasium  sind  daher  nur  solche  Lehrbücher  des  Fran-» 
zosischen  zu  empfehlen ,  welche  das  zum  Verständnis  der  Schriftsprache 
nicht  unumgänglich  erforderliche  grammatische  Detail  weglassen. 

Rector  Löhbach:  Er  wolle  die  Notwendigkeit  des  Unterrichts  im 
Französischen  für  Gymnasien  als  allgemein  zugestanden  voraussetzen 
und  hier  nur  die  Frage  untersuchen,  auf  welche  Weise  bei  der  geringen 
Stundenzahl  das  relativ  Meiste  geleistet  werden  könne.  Die  Ursache  der 
bisher  so  geringen  Leistungen  im  Französischen  liege  darin,  dasz  man 


*)  Die  Fragen  6 — 8  waren: 

6)  Was  ist  von  den  Strafarbeiten  zu  halten? 

7)  Was  von  den  Privatstudien  an  oberen  Classen?  sollen  sie  schul- 
maszig  controliert  werden,  sollen  sie  gänzlich  frei  gegeben  werden  oder 
gibt  es  ein  Mittleres? 

8)  Ist  der  Vorschlag,  den  Nachmittagsunterricht  zu  beschränken, 
beziehungsweise  ganz  aufzugeben,  realisierbar  und  realisierenswerth? 


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526  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

den  Unterricht  in  einer  Weise  betreibe,  als  ob  dem  Gegenstande  wöchent- 
lich 4—6  Stunden  gewidmet  wären.  Für  die  Reallehranstalten  sei  es  aller- 
dings wünsohenswerth  und  notwendig,  dasz  der  Schüler  das  Französi- 
sche geläufig  spreche  und  schreiben  lerne ,  für  das  Gymnasium  dagegen 
sei  das  Verständnis  der  Schriftwerke  die  Hauptsache  und  die  aus  der 
Leetüre  gewonnenen  neuen  Anschauungen  der  wesentlichste  Gewinn. 
Daher  habe  sich  der  Unterricht  auf  dem  Gymnasium  fast  ganz  auf  die 
Leetüre  zu  beschränken,  und  zwar  auf  die  der  neueren  Schriftsteller , 
durch  welche  das  Interesse  für  die  Sprache  mehr  geweckt  werde,  als 
durch  die  französischen  Classiker,  Bezüglich  der  zweiten  von  ihm  auf- 
gestellten These,  bemerkt  der  Proponent,  dasz  der  Lehrer  Unrecht 
thue,  wenn  er  bei  den  Eltern  den  Glauben  erwecke,  als  wolle  er  den 
Schülern  praktische  Fertigkeit  im  Schreiben  und  Sprechen  des  Fran- 
zösischen beibringen.  Die  Aeuszerungen  des  Prof.  Zandt  in  Karlsruhe 
über  die  Stellung  und  Bedeutung  des  französischen  Unterrichts  an  den 
höheren  Lehranstalten  möchten  wol  für  Baden  berechtigt  sein,  hätten 
aber  für  die  preusz.  Rheinprovinz  gar  keine  Geltung.  Für  den  fran- 
zösischen Unterricht  wähle  man  den  Weg,  den  man  früher  auch  bei 
den  alten  Sprachen  eingeschlagen  habe;  man  gehe  rasch  durch  die 
Grammatik  hindurch  und  zur  Leetüre  über.  Der  Schüler  gelange  doch 
nur  selten  an  das  Ziel  eines  vollständigen- grammatischen  Verständnis- 
ses und  bringe  sein  Wissen  in  dieser  Beziehung  zu  keinem  Abschlüsse; 
durch  reiche  Leetüre  dagegen  lerne  der  Schüler  auch  Vocabeln,  Wort- 
verbindungen und  Aehnliches;  die  Sprache  trete  ihm  wirklich  als  etwas 
Ganzes  und  Lebendiges  vor  die  Seele.  Die  Folgerungen  aus  diesen 
Prämissen  ergeben  sich  von  selbst:  man  verziehte  auf  das  französische 
Scriptum  beim  Maturitätsexamen  und  gebrauche  nur  Lehrbücher,  die 
sich  auf  das  ursprünglich  notwendige  grammatische  Material  beschränken. 

Director  Roeren  (Ritterakademie  zu  Bedburg):  Der  französische 
Unterricht  am  Gymnasium  sei  überhaupt  eine  Concession  an  die  For- 
derungen der  Neuzeit;  der  Schüler  solle  sich  ein  theoretisches  Wissen 
erwerben  und  daneben  eine  gewisse  praktische  Fertigkeit  sich  an- 
eignen. Dieses  Ziel  könne  auch  wol  erreicht  werden,  nur  müsse  die 
Methode  sich  ändern;  man  dürfe  diesen  Unterricht  nicht  zu  früh  an- 
fangen. Früher  habe  man  mit  dem  Französischen  erst  in  Tertia,  ja 
wol  erst  in  Secunda  begonnen.  Jedenfalls  müsse  der  Schüler,  bevor 
er  das  Französische  anfange ,  eine  gewisse  grammatische  Durchbildung 
schon  erreicht  haben;  er  halte  es  daher  für  ganz  passend,  das  Franzö- 
sische erst  in  Tertia  zu  beginnen,  aber  freilich  dann  mit  4  wöchentli- 
chen Stunden.  In  Bezug  auf  The.se  4  bemerke  er,  dasz  die  Zusammen- 
stellung einer  Grammatik  nach  Löhbach's  Wünschen  grosze  Schwierig- 
keiten haben  werde;  dasz  auch  jetzt  etymologische  Feinheiten  ausge- 
schlossen werden,  sei  ja  selbstredend.  Sicherheit  im  schriftlichen  und 
Anbahnung  einiger  Fertigkeit  im  mündlichen  Gebrauche  der  Sprache 
sei  das  Ziel  des  Unterrichts,  welches  festzuhalten  sei. 

Director  Kiesel:  Zu  einem  wirklichen  Verständnisse  der  Schrift- 
sprache könne  man  nur  gelangen  durch  die  Uebung  des  Uebersetzens 
aus  dem  Deutschen  in  das  Französische.  Ohne  diese  Forderung  wür- 
den die  Primaner  leicht  noch  weniger  für  das  Fach  thun,  als  jetzt. 

Director  Schacht:  Beim  französischen  Unterrichte  müsse  auch 
das  Ohr  geübt  werden;  die  Scripta  brauchten  nicht  so  schwierig  zu  sein. 

Director  Probst:  Früher  habe  man  am  Gymnasium  gar  französi- 
sche Aufsätze  gemacht;  bei  dem  Scriptum  müsse  man  jedenfalls  ste- 
hen bleiben;  die  Sprache  würde  auch  sonst  in  den  Augen  des  Schülers 
zu  sehr  sinken.  Was-  den  Anfang  des  franz.  Unterrichts  betreffe,  so 
halte  er  denselben  in  Tertia  für  zu  spät,  weil  das  Organ  zur  Einübung 
der  Aussprache  bei  dieser  Altersstufe  nicht  mehr  so  bildsam  sei,  als  in 
Quinta. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miseellen.  527 

Hiermit  wird,  da  der  Proponent  nichts  erwidert,  die  Debatte  ab- 
gebrochen. 

IV.  Vortrag  des  Rector  Dr.  Hansen  (Bürgerschule  in  Lennep)  'über 
Stundenpläne'.  Derselbe  konnte,  zwar  nicht  in  seiner  ganzen  Ausdeh- 
nung angehört  werden,  da  die  festgesetzte  Zeit  des  Schlusses  (3  Uhr) 
abgelaufen,  ist  aber  inzwischen  bereits  vollständig  in  diesen  Jahrbb. 
mitgeteilt  worden ,  weshalb  wir  uns  begnügen  auf  das  betreffende  (9.) 
Heft  S.  443  ff.  zu  verweisen. 

In  den  geschäftsführenden  Ausschusz  für  das  nächste  Jahr  wurden 
durch  Stimmzettel  gewählt:  Director  Dr.  Kiesel,  Dir.  Dr.  Herbst 
(Friedrich-Wilhelms- Gymnasium  in  Köln),  Rector  Götz,  Professor  Dr. 
Pütz  (Gymnasium  an  Marzellen  in  Köln)  und  Oberlehrer  Dr.  Hoch©. 
Als  Ort  der  nächsten  Versammlung  wurde  Köln  bestimmt.  Eine  sehr 
starke,  für  Duisburg  stimmende  Minorität  befürchtete,  dasz  für  viele 
der  Teilnehmer  vom  Niederrhein,  welche  bis  jetzt  das  Hauptcontingent 
bildeten,  die  Entfernung  von  Köln  zu  grosz  sei,  sowie  dasz  die  Hoff- 
nung, welche  bei  der  Wahl  leitend  gewesen  war,  auch  den  Oberrhein 
mehr  heranzuziehen,  sich  nicht  erfüllen  werde.  Ob  diese  Besorgnis 
gegründet  war,  wird  der  Verlauf  der  nächsten  Versammlung  lehren; 
jedenfalls  sei  derselben  die  Frische  und  Lebendigkeit  der  diesjährigen 
Zusammenkunft  gewünscht,  durch  deren  taktvolle  Leitung  der  Herr 
Vorsitzende  sich  den  aufrichtigen  Dank  der  Teilnehmer  verdient  hat. 

w.  n.  h. 


(xm.) 

Litterarische  und  culturhistorische  Mitteilungen  aus  Griechenland. 

(Fortsetzung  von  S.  474.) 


Nach  einer  Mitteilung  im  «DiXkruip,  1862,  Septemberheft  S.  279  ist 
der  Grieche  Kontopulos  mit  groszem  Eifer  und  unausgesetzt  bemüht  ge-* 
wesen,  die  Unterrichtsmethode  in  der  franz.  Sprache  für  die  Griechen 
möglichst  zu  vereinfachen.  Er  hat  zu  diesem  Zwecke  eine  ziemlich 
umfangreiche  Schrift:  fN6x  'OXXevööpcpeioc  |u£öo6oc  irpdc  xaxctav  öioa- 
acaXiav  Tf|c  YaXXiKfJc  YXuicClr|C,  (Smyrna  1862)  erscheinen  lassen.  Auch 
sonst  schenkt  man  in  Griechenland  der  Erlernung  der  französischen 
Sprache  eine  besondere  Aufmerksamkeit.  In  Athen  erschien  eine  f  Neui- 
TdTi]  u46oooc  'OXXevböpcpou  irpoc  £K|uä6r|civ  tt\q  TaXXixf)c  tXuüccric'  (1862), 
die  die  Erlernung  der  französischen  Sprache  in  sechs  Monaten  in  Aus- 
sicht stellt,  und  eine  crpajüt|LiaTiK^  t^c  YaXXucifc  ^Xdiccrjc  öewpnriKfi  Kai 
irpctKTiKfV  (1862),  welche  der  Secretär  der  Akademie  in  Besancon,  Des- 
rues,  für  die  Griechen  ausgearbeitet  und  die  die  Genehmigung  des  Mi- 
nisters des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  erhalten  hatte. 

Daneben  fanden  jedoch  in  der  Litteratur  auch  andere,  näher  lie- 
gende Gegenstände  die  gebührende  Beachtung.  Ein  Professor  der  Rhe- 
torik, Logik  und  Philosophie  am  Lyceum  in  Leukadien,  Stamatelos, 
hatte  eine  fPr)TOpiKif|'  (Zante  1862)  herausgegeben,  die  ihren  Gegenstand 
nach  den  Regeln  der  Theorie  und  Praxis  (fcpapjuto-f/i)  behandelt,  und 
welche  der  OiXfcTUJp  den  Schülern  und  Lehrern,  vornehmlich  aber  allen 
denen  als  besonders  nützlich  empfahl,  die  —  wie  dies  seit  Ende  des 
Jahres  1862  nach  der  Octoberrevolution  in  Griechenland  häufiger  vor- 
gekommen und  zu  einem  Bedürfnis  geworden  ist  —  'unwiderstehlich 
zum  öffentlichen  Sprechen  getrieben  werden'  (äKCtTacx^TUüc  elc  Xoyo- 
iroitav  <p£povTdi).  Dagegen  verfolgte  ein  in  Hermupolis  auf  der  Insel 
Syra  erschienenes  Schriftchen:  fTo  kv  *€p|Lioim6X€t  6£axpov  irpoc  Tf|v 
KctTäcxaciv  toO  XaoO  Tfjc  £X€u6£pac  '€XXdooc'  den  Zweck,  zu  einer  rich- 


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528  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

tigen,   allein  berechtigten  und  gemeinsamen  Vorstellung  in  Griechen- 
land von  der  Bildung  eines  Nationaltheaters  zu  verhelfen. 


Der  in  Athen  im  Jahre  1862  erschienene  zweite  Teil  des  auf  drei 
Teile  berechneten  Werks  über  Konstantinopel,  von  Skarlatos  Byzantios, 
unter  dem  Titel:  KiuvcTavTtvoÖTroXic  (der  erste  Teil  desselben  erschien 
im  Jahre  1855),  führt  dieses  fleiszige,  der  neugriechischen  Litteratur 
zur  Ehre  gereichende  Werk,  in  einer  geschmackvollen  Darstellung,  auf 
Grund  gelehrter  Studien  und  unter  gewissenhafter  Benutzung  der  vor- 
handenen Quellen,  weiter  fort.  Der  gedachte  zweite  Teil  beschäftigt 
sich  zunächst  mit  der  Beschreibung  der  Umgebungen  der  Stadt  und 
des  Bosporus,  wozu  auch  zwei  Karten  des  letztern  und  der  Inseln  der 
Propontis  gehören,  und  enthält  in  einigen  Anhängen  geschichtliche  Ver- 
zeichnisse der  byzantinischen  und  osmanischen  Kaiser,  der  Veziere  und 
der  Patriarchen.  Die  politische  und  wissenschaftliche  Zeitung,  €övo- 
jLiia,  rühmt  besonders  den  Reichtum  und  die  Gewandtheit  der  Sprache, 
die  sich  namentlich  in  den  reizenden  Naturschilderungen  kundgibt,  so 
wie  die  Genauigkeit  und  Strenge  der  Forschung  und  Prüfung  des  Ver- 
fassers in  der  Behandlung  der  einzelnen,  selbst  der  unbedeutendsten 
Gegenstände. 

(Fortsetzung  folgt.) 

Leipzig.  Th.  Kind. 


XIX. 

In  memoriam  Frederici  Iacobsii. 

(D.  VI.  m.  Octobr.  1864.) 

Volvente  semper  gurgite  temporum 
Seclis  vorantur  secula,  saepeque, 
Quae  clara  viderunt  priores, 
Posteritas  sepelit  tenebris. 

At  non  Tuis,  Vir  Maxime,  laudibus, 
Iacobse,  divinum  Aonidum  decus, 
öffecit  aetas:  quas  colebas, 
Te  recolunt,  pia  turba,  Musae 

Famamque  fluctu  temporis  invido 
Mergi  vetant;  ut  sidus  amabile, 
Quod  nulla  nubes  condit,  usque 
Nomen  honosque  Tuus  refulget 

Nain,  ceu  caput  ver  quum  extulit  aureum, 
Tristis  recedit  bruma,  novo  viget 
Tellus  calore  aetherque  purus 
Lumine  ridet  amoeniore, 

Splendent  decoris  floribus  hortuli 
Laetoque  fontes  prosiliunt  sono 
Cunctamque  naturam  Favoni 
Blanda  novat  genitalis  aura: 

Sic,  sive  Grajüm  seu  Lata  sacros 
Campos  paternum  sive  teris  solum, 
Seu  alta  doctrinae  subire 
Te  iuvat  aut  roseas  corollas 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  529 

Hortis  odoris  nectere,  seu  vocas 
Ad  vindicandam  sanguine  patriam: 
Quodcunque  tentas,  ecce  gnavam 
Vita  vigorque  operam  sequuntur. 

Flammabat  ignis  nempe  sacer  Tibi 
Mentem  Camenae  et  Spiritus  acrior 
Pectusque  laetis  incolebat 
Cum  Charisin  Probitas  severa. 

Ex  bis  beatis  fontibus  ingeni 
Cordisque  fluxit,  quam  stupet  et  colit 
Serum  genus,  virtutis  illa, 
Dive,  Tuae  species  verenda. 

Haue,  doeta  pubes,  mentibus  intimis 
Servate  grati  semper  imaginem, 
Fortem  modo  vobis  patronam, 
Nunc  hilaram  coisitem  futuram! 
Memmingae.  Henricus  Stadelmahn. 


XX. 

Jubiläen. 

Am  20  October  beging  der  vielverdiente  Rector  des  Gymnasiums 
St.  Nicolai  in  Leipzig,  Hr.  Prof.  Dr.  Karl  Friedrieb  August  Nobbe, 
das  60jährige  Jubiläum  seiner  Lehrthätigkeit.  Ohne  eine  eingehende 
Darstellung  des  seltenen  Festes  versuchen  zu  können,  bemerken  wir 
%  zuvörderst,  dasz  der  Jubilar,  welcher  1814  als  Collaborator  an  der 
Thomasschule  eingetreten  war,  bereits  1816  an  die  Nicolaischule  be- 
rufen wurde  und  an  dieser  fortan  ununterbrochen  als  Lehrer  und  seit 
dem  Jahre  1828  als  Rector  gewirkt  hat.  Die  gewissenhafte  Treue,  mit 
welcher  er  sich  seinem  Amte  gewidmet ,  die  väterliche  Zuneigung,  wel- 
che er  seinen  Schülern  bewiesen,  und  der  gesegnete  Erfolg  seiner  Ar- 
beit sind  in  aller  Zeit  dankbar  anerkannt  worden.  Und  so  gestaltete 
sich  denn  ungesucht  die  Feier  seines  Jubeltages  zu  einer  allgemein 
städtischen;  aber  auch  weit  über  den  Kreis  der  Stadt  und  des  Vater- 
landes hinaus  erstreckte  sich  die  ehrenvolle  und  herzliche  Teilnahme. 
Nachdem  schon  der  Morgen  mit  Gesang  begrüszt  worden,  begann  um 
9  Uhr  im  Saale  der  Buchhändlerbörse  der  Festactus.  Als  Sprecher 
des  Lehrercollegiums  von  St.  Nicolai  gab  Herr  Tertius  Dr.  Hempel, 
selbst  ein  früherer  Schüler  des  Jubilars,  ein  Lebensbild  des  letzteren 
in  lateinischer  Rede ,  während  Hr.  Conrector  Prof.  Dr:  Lipsius  ein  von 
ihm  verfasztes  s^eeimen  quaestionum  Lysiacarum  überreichte.  Ihnen 
folgten,  in  Wort  und  Schrift  ihre  Verehrung  zu  bezeugen,  die  gegen- 
wärtigen Schüler  der  Anstalt,  denen  sich  dann  in  langer  Reihe  die 
glückwünschenden  Deputationen  der  Behörden  usw.  anschlössen.  Indem 
wir  hier  nochmals  ausdrücklich  auf  jede  Vollständigkeit  des  Berichts 
verzichten,  heben  wir  unter  diesen  neuen  Auszeichnungen  des  Jubilars 
an  erster  Stelle  die  Verleihung  des  Ritterkreuzes  vom  Verdienstorden 
hervor,  welche  im  Namen  Sr.  Majestät  des  Königs  und  unter  dem  be- 
redten Ausdruck  der  Anerkennung  durch  Hrn.  Kreisdirector  von  Burgs- 
dorff  erfolgte;  sodann  die  Begrüszung  von  Seiten  des  städtischen  Pa- 
tronats  durch  Hrn.  Bürgermeister  Dr.  Koch ,  von  Seiten  der  Universität 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.Päd.  II.  .\bt.  1S64.  Hft.  10.  36 


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530  Kurze  Anzeigen  und  Miscellen. 

durch  Herrn  Rector  magnif.  Geh.  Medicinalrath  Professor  Dr.  Buete, 
und  die  Herren  Decane  Hofrath  Professor  Dr.  Drobisch  und  Domherr 
Professor  Dr.  Tuch,  von  Seiten  der  Geistlichkeit  durch  Herrn  Su- 
perintendent Professor  Dr.  Lechler  und  Pastor  Dr.  Ahlfeldt,  von  Seiten 
der  Thomasschule  durch  Herrn  Professor  Rector  Dr.  Eckstein«  In 
gleicher  Weise  erschienen  und  sprachen  als  Vertreter  der  übrigen 
Schulen  Leipzigs  die  Herren  Directoren  derselben  (Prof.  Dr.  Wagner, 
Bulnheim,  Dr.  Reuter,  Dr.  Hauschild,  Dr.  Bornemann,  Schott,  Dr. 
Eichler,  Teichmann,  Schöne,  Kransz,  Dr.  Kyn),  im  Namen  der  ehe- 
maligen Schüler  Hr.  Prof.  Dr.  Klotz,  endlich  die  Deputierten  der  Gym- 
nasien Bautzen,  Plauen,  Zwickau,  Pforta,  Meiszen,  Grimma.  Die 
werthvollen  Gaben  aufzuzählen,  welche  diese  teils  lateinischen,  teils 
deutschen  Ansprachen  begleiteten,  würde  ein  längeres  Verzeichnis  er- 
fordern. Aus  der  Zahl  der  Festschriften  insbesondere  erwähnen  wir 
noch  beispielsweise  den  von  Professor  Dr.  K.  Keil  in  Pforta  verfaszten 
f  commentariolus  de  inscriptione  Attica'  (einen  Sieger  in  der  AcuAiraön,- 
opouia  betreffend),  die  (lusus  otiosi  conjecturarum  in  Theocriti  Carmen  I' 
von  Dr.  K.  Freytag,  Archidiaconus  in  Meiszen,  ferner  rdas  grosze  Ge- 
bet der  drei  schweizerischen  Urcantone9  von  Prof.  Delitzsch  in  Erlan- 
gen (der  erste  getreue  Abdruck  eines  uralten  Schweizer  Landesgebets, 
der  zugleich  eine  alte  Verdeutschung  der  berühmten  Antiphona  Media 
rita  in  morte  sumus  und  einen  köstlichen  Gebetspruch  des  Nicolaus  von 
Flue  enthält),  endlich  Prof.  Ecksteines  (commentariolum  de  epigrammate 
latino  cellae  Auerbachiae ' ,  das  in  geistvoll  anmutiger  Weise  die  In- 
schrift eines  Faustbildes  in  Auerbachs  Keller  behandelt  und  eine  ebenso 
einleuchtende  als  zwanglose  Deutung  der  corrumpierten  Worte  gibt.  — 
Tiefbewegt  von  der  Fülle  aller  der  Liebe  und  Ehren,  die  ihm  gewor- 
den, ergriff  am  Schlüsse  der  Feier  der  Jubilar  noch  einmal  das  Wort 
und  faszte  in  herzlicher  Rede  seinen  Dank  und  seine  Wünsche  zusam- 
men, welche  wir  unsrerseits  nur  mit  dem  Gegenwunsche  erwiedern 
können,  dasz  dem  verehrten  Veteranen  noch  langehin  die  jugendliche 
Kraft  des  Geistes  und  Körpers  bewahrt  ^bleibe,  welche  ihm  sein  rei- 
ches Wirken  möglich  machte.  Nachdem  hierauf  noch  ein  von  Hrn.  Dr. 
Dohmke  gedichtetes  und  von  Hrn.  Gesanglehrer  Höpner  componiertes 
Festlied  gesungen  worden,  löste  sich  die  Versammlung  fürerst  auf,  um 
Kachmittags  an  dem  im  Schützenhause  veranstalteten  Festmahle  teil- 
zunehmen, bei  dem  es  nicht  an  neuen  und  auszeichnenden  Ueber- 
raschungen  für  den  Jubilar  fehlte.  (Unter  Anderem  gieng  ein  Tele- 
gramm von  Professor  Max  Müller  aus  Oxford  ein.)  Am  Abend  fand  ein 
Fackelzug  der  Nicolaischule  statt,  dem  als  classischer  Nachklang  des 
Festes  am  23  Octbr.,  von  Hrn.  Dr.  Fiebig  geleite jt,  eine  wolgelungene 
Aufführung  der  Antigone  folgte.  M. 


An  demselben  20  October  beging  das  groszherzogliche  Friedrich- 
Franz  -  Gymnasium  zu  Parchim  in  Mecklenburg  die  Feier  seines  300- 
jährigen  Bestehens.  Da  weitere  Details  über  dieselbe  uns  fehlen,  so 
begnügen  wir  uns  auf  die  feinsinnige,  gediegene  Festschrift  des  jetzi- 
gen Directors  Dr.  Conrad  Hense  hinzuweisen.  Sie  behandelt  'die  poe- 
tische Personifikation  in  griechischen  Dichtungen  mit  Berücksichtigung 
lateinischer  Dichter  und  Shakspere's ,'  und  verweilt  zunächst  bei  sol- 
chen Wendungen  des  sprachlichen  Ausdrucks ,  welche  in  der  Phantasie 
ein  Bild  menschlicher  Gestaltung  hervorrufen,  als  z.  B.  fcdpa,  KÖjnn, 
ndTumoV,  irpöcumov,  Kpöra<|>oc  usw. 

itf. 


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Kurze  Anzeigen  und  Miscellen.  531 

XXI. 
Erwiderung.  K 

In  den  am  3n  Juli  d.  J.  ausgegebenen  Heften  dieser  Jahrbücher 
befindet  sich  ein  mit  f£'  unterzeichneter  Aufsatz  über  'die  höheren 
Schulen  und  die  Zeitungsanzeigen'.  Wenn  in  demselben  auch  mit  Recht 
gegen  die  in  den  öffentlichen  Blättern  allzusehr  wuchernde  Reclame 
kleinerer  Schulen  geeifert  wird,  so  hat  sich  doch  der  geehrte  Hr.  Ver- 
fasser allzuweit  von  seinem  Eifer  hinreiszen  lassen  und  Dinge  behaup- 
tet, von  denen  er  wissen  muste,  dasz  sie  unwahr  sind.  Zugleich  hat 
er  Persönlichkeiten  und,  was  noch  weit  schlimmer  ist,  religiöse  Fragen 
mit  hineingezogen  und  so  seine  gerechte  Klage  in  einen  ungerechten 
Angriff  gegen  Collegen  und  Anstalten  verwandelt. 

Den  ganzen  Aufsatz  kritisch  zu  beleuchten,  fehlt  mir  die  Zeit; 
nur  will  ich  auf  zwei  besonders  auffallende  Punkte,  aufmerksam  machen, 
die  dem  geneigten  Leser  genug  beweisen  werden. 

Zunächst  stellt  Hr.  ff>'  ( f  jÜr|TU)p '  ?)  fzum  Ergötzen  der  Leser'  ein 
Beispiel  auf,  in  welchem  auch  meiner  Wenigkeit  gedacht  wird  und 
zwar  in  einer,  wie  die  obige  Bemerkung  schon  zeigt,  nichts  weniger 
als  lobenden  Weise.  Ich  erachte  es  um  so  mehr  als.  eine  Pflicht,  diesen 
gänzlich  kritiklosen  Angriff  zurückzuweisen,  als  dem  Lehrer  nach  mei- 
ner Meinung  die  Unbeflecktheit  seines  Namens  das  höchste  Gut  sein 
musz.  Hätte  der  geehrte  Hr.  Verfasser  aus  reiner  Quelle,  nemlich  aus 
Programmen  der  Schulen  geschöpft,  so  würde  er  ersehen  haben,  dasz 
ich  zu  der  Zeit,  wo  der  angeführte  Artikel  in  der  Kölner  Zeitung  ge- 
standen haben  soll*),  gar  nicht  mehr  Rector  der  höheren  Bürgerschule 
in  Grevenbroich  war,  also  durchaus  kein  Interesse  daran  haben  konnte, 
mittels  vorgeschobener  f dankbarer  Eltern',  (die  nicht  ohne  Nutzen  bei 
Hoff  und  Daubitz  Studien  gemacht',  Reclame  zu  machen.  Als  ich  be- 
reits mein  Rectorat  niedergelegt  hatte,  erschien  ein  öffentlicher  Dank 
an  mich  von  verschiedenen  Eltern  in  dem  Grevenbroicher  Kreisblatte; 
auch  diesem  Danke  stand  ich  fern,  wie  ich  überhaupt  kein  Freund  von 
solchen  Veröffentlichungen  bin.  Doch  hatten  die  dortigen  Bürger  mit 
diesen  Annoncen  hauptsächlich  einen  localen  Zweck  im  Auge ,  der  wei- 
ter nicht  hier  an  die  Oeffentlichkeit  gehört.  Dasz  nun  ein  müsziger 
Schreiber  aus  diesen  rein  örtlichen  Dingen  Anlasz  genommen,  eine 
Zeitungsannonce  oder  einen  Zeitungsartikel  zu  schreiben,  kann  mir, 
dem  abgegangenen  Rector,  in  keiner  Weise  zum  Vorwurf  gemacht 
werden.  —  Wenn  ich  nun  auch  nicht  verlange,  dasz  der  geehrte  Ver- 
fasser f£'  sich  mit  meinen  Personalien  befaszt,  so  hätte  ich  von  dem 
Rechtsgefühle  und  von  dem  kritischen  Scharfsinn  desselben  doch  er- 
warten können,  dasz  er  sich  vor  allem  von  den  Thatsachen  genau  un- 
terrichtet und  sich  solch  grober  Irtümer  enthalten  haben  würde. 

Der  zweite  Irtum,  der  dem  Hrn.  ff>'  zugestoszen,  ist  etwas  stärke- 
rer Natur.  Er  schreibt  nach  Anführung  der  Reclame  des  Emmericher 
Gymnasiums:  cEs  wäre  überflüssig,  hierzu  noch  ein  Wort  weiter  zu 
bemerken,  als  dasz  das  Gymnasium  in  Emmerich  —  nach  Angabe 
inMushacke's  Schulkalender  —  in  6  (Hassen  98  Schüler  hat.' 
Wenn  man  eine  Quelle,  wie  Mushacke,  anführen  will,  so  musz  man 
mindestens  die  neueste  Auflage  nehmen,  und  da  findet  er  nicht  f98', 
sondern  c136'  Schüler  angeführt.  Wie  darf  aber  ferner  ein  Schulmann, 
dem  die  Programme  der  Schulen  zur  Hand  sind,   aus  einer  Quelle  wie 


*)  In  dem  Aufsatze  sah  ich  den  Artikel  überhaupt  zum  ersten  Mal, 
da  ich  die  Zeitungsannoncen  durchzulesen,  nicht  die  Zeit  habe  und  da 
ich  in  denselben  auch  nach  einer  andern  Stelle  mich  umzusehen  noch 
nicht  genötigt  bin. 


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532  Kurze  Anzeigen  und  Misceilen. 

Mushacke  schöpfen?  Wenn  diesem  in  der  groszen  Masse  von  Zahlen 
und  Angaben  der  lapsns  passiert,  dasz  er  aus  dem  Schulprogramme 
statt  der  Gesamtfrequenz  r132'  die  Zahl  der  aus  dem  Vorjahre  geblie- 
benen 98  Schüler  aufnimmt,  so  ist  dies  leicht  begreiflich;  dem  Lehrer 
dagegen,  der  das  Sichtige  wissen  musz,  sobald  er  nur  will,  ist  ein 
solcher  Fehler  geradezu  unverzeihlich,  um  so  mehr  als  er  die  falsche 
Zahl  zur  Unterstützung  seiner  falschen  Deductionen  benutzt.  Wenn  der 
Herr  '£',  der  in  dem  Aufsatze  keine  kritischen  und  keine  historischen 
Lorbeern  gepflückt  hat,  verlangt,  dasz  von  den  drei  niederrheinischen 
Gymnasien  zu  Emmerich,  Wesel  und  Cleve,  das  katholische  eingehen 
soll*)  (wahrscheinlich  wegen  der  berühmten  *98'  Schüler),  so  ist  er  mit 
den  Verhältnissen  des  Niederrheins  gänzlich  unbekannt  und  zeigt  wie- 
derum eine  dem  Lehrer  nicht  ziemende  Ignoranz  oder  er  ist  jedes 
Billigkeitsgefühles  bar.  Im  Jahre  1861/62  zählte  das  Gymnasium  zu 
Emmerich  98  Katholiken  und  31  Protestanten,  das  zu  Cleve  68  (resp.52) 
Katholiken,  77  Protestanten,  das  zu  Wesel  hatte  198  Schüler,  leider 
gibt  das  Programm  über  die  confessionellen  Verhältnisse  keinen  Auf- 
schlusz;  doch  zeigt  die  Thatsache,  dasz  3  von  5  Abiturienten  Katholi- 
ken waren,  hinreichend  dasz  das  Gymnasium  kein  rein  evangelische« 
sei.  Wäre  es  wünschenswerth ,  dasz  eines  der  3  Gymnasien  fiele,  so 
stände  der  Schülerzahl  nach  nur  die  Wahl  zwischen  Cleve  und  Emme- 
rich. Da  aber  in  Wesel  ein  protestantisches  Gymnasium  vorhanden,  so 
ist  es  eine  Intoleranz ,  die  ihres  Gleichen  in  den  Annalen  der  Religions- 
kriege sucht,  zu  verlangen,  dasz  die  166  (resp.  150)  katholischen  Schü- 
ler zu  Gunsten  von  118**)  protestantischen,  welche  das  Weseler  Gym- 
nasium auszerdem  in  der  Nähe  haben,  ihrer  Anstalt  beraubt  werden 
sollten.  Wären  von  jenen  199  Schülern  in  Wesel***)  nur  40— 60  Katho- 
liken, so  wäre  es  eine  Verhöhnung  jeglichen  Gerechtigkeitsgefühles  zu 
verlangen,  dasz  für  etwa  250  Protestanten  2  Gymnasien  und  für  220 
Katholiken  keines  bestehen  soll.  Weiteres  hierüber  zu  sagen,  erscheint 
kaum  nötig.  Der  Leser  wird  wol  aus  diesen  zwei  angeführten  Beispie- 
len ersehen,  mit  welch  kritischem  Scharfsinn  und  mit  welchem  ßecht- 
lichkeitsgefühle  Herr  r£'  in  seinem  Aufsatze  verfahren. 

Ueber  die  Meinung  des  geehrten  Herrn  Verfassers,  die  wol  als 
Schluszfolgerung  seiner  kritischen  Bemerkungen  gelten  soll,  dasz  so 
ziemlich  allen  kleineren  Anstalten  das  Recht  der  Existenz  abzusprechen 
sei,  will  ich  an  dieser  Stelle  nicht  mit  ihm  streiten.  Gern  bin  ich  aher 
bereit,  offenen  Auges  gegen  ihn,  der  auch  gerade  keiner  sehr  groszen 
Anstalt  anzugehören  scheint  —  sonst  würde  er  sich  kaum  so  tief  in  das 
Annoncenwesen  einlassen  —  auf  der  nächsten  Lehrerversammlung  in 
Köln  zu  Ostern  1865  das  Existenzrecht  der  kleineren  Anstalten  zu  ver- 
theidigen. 
Dr.  Ad.  Dronke. 

*)  Eine  andere  Deutung  als  der  Wunsch ,  das  Gymnasium  in  Em- 
merich möge  verschwinden,  läszt  wol  kaum  die  Bemerkung  auf  Seite 
304  zu. 

**)  Für  das  Schuljahr  1862/63  stellen  sich  jene  Zahlen  auf  159  und 
108  (resp.  106  im  Sommersemester).  Hierbei  ist  zu  bemerken,  dasz  aus 
Cleve  und  Umgegend  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl  katholischer 
Schüler  ferner  liegende  Anstalten  beBucht. 

***)  Im  Jahre  1862/63  hatte  das  Gymnasium  zu  Wesel  190  Schüler 
und  von  9  Abiturienten  waren  2  Katholiken. 


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Zweite  Abteilung. 


Seite 

36.  Noctes  scholasticae  (2).    Von  *** 481—503 

37.  Anz.  v.  H,  G.  Migault:    Versuch  einer  englischen  Öchul- 
grammatik.    Erste  Abteilung.    Von  Dr.  R.  in  P.    .     .     .     503—509 

38.  Anz.  v.  Klaiber:    Evangelische  Volksbibliothek.      Erster 

Band.     Vom  Professor  L.  Mezger  in  Schönthal       .     .     .     510 — 513 

39.  Anz.  v.  C.Ploetz:  Lateinische  Vorschule.    Erster  Cursus. 

Vom  Gymnasiallehrer  Dr.  G.  Dzialas  in  Breslau      .     .     .     513 — 518 
Kurze  Anzeigen  und  Miscellen 519—532 

XVIII.  Versammlung  rheinischer  Gymnasial-  und  Reallehrer 

zu  Düsseldorf  am  29  März  1864.     Von  R.  R.  in  W.     .     .    519—527 
(XIII).   Litter  arische  und  culturhistorische  Mitteilungen  aus 

Griechenland  (2).    Von  Th.  Kind  in  Leipzig 527—528 

XIX.  In  memoriam  Frederjci  Jacobsii  (VI  Octbr.  1864).  Vom 
Studienlehrer  Dr.  Stadelmann  in  Memmingen       ....     528 — 529, 

XX.  Jubiläen  des  Professor  Dr.  F.  A.  Nobbe,  Rector  der  Ni- 
colaischule in  Leipzig  und 

des   groszherzogl.  mecklenb.  Friedrich -Franz -Gymnasiums- 

zu  Parchim.    Von  M. 529—530 

XXI.  Erwiderung.     Von  Dr.  Ad.  Dronke 531—532 


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Leipzig, 

Druck   und  Verlag  von   B.  G.    Teobuer. 
1864. 


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Zweite  Abteilung: 

für  Gymnasialpädagogik  und  die  Obrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschlusz  der  classischen  Philologie, 
herausgegeben  von  Professor  Dr.  Her  Mann  Mas  Ins. 


40. 

!Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwickelung  unserer 
Litteratur  während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahr- 
i  hunderts. 


Dasz  die  deutschen  Gymnasien  als  lateinische  Schulen  die  Mutter- 
sprache lange  Zeit  hindurch  nicht  blosz  vernachlässigt,  sondern  als  etwas 
der  Schulbildung  Fremdes,  ja  Nachteiliges  fern  gehalten  haben,  ist  ihnen 
oft  znm  Vorwurf  gemacht  worden.  Denn  wenn  man  auch  recht  wol  be- 
griff, wie  die  groszen  Humanisten  und  Pädagogen  des  16.  Jahrhunderts 
iß  ihrem  Eifer  für  reine  Latinität,  die  einerseits  in  einer  reichen  Littera- 
tur so  grosze  Vorbilder,  andererseits  im  Dienste  der  Kirche  und  des  Staa- 
tes so  hervorragende  Bedeutung  hatte,  bewogen  werden  konnten,  die 
wissenschaftlich  noch  wenig  fixierte  und  im  Munde  des  Volkes  noch  sehr 
rohe  deutsche  Sprache  als  ungeeignet  für  den  Schulunterricht  zurückzu- 
weisen und  selbst  aus  dem  Verkehre  der  Schüler  unter  einander  zu  ver- 
drängen; so  hatte  man  doch  Grund  zu  dem  Bedauern,  dasz  die  Schulen 
so  lange  der  mauigfachen  Anregungen  und  Förderungen,  welche  die 
Entwickelung  der  vaterländischen  Litteratur  darzubieten  schien,  sich  be- 
rauhten, während  sie  durch  die  fast  ausschlieszliche  Beschäftigung  mit 
den  Meisterwerken  des  Altertums  doch  nicht  vor  ödem  Mechanismus  und 
arger  Geschmacklosigkeit  bewahrt  worden  sind.  Es  konnte  manchen  so 
vorkommen ,  als  ständen  sie  ganz  auszerhalb  des  nationalen  Lebens. 

Aber  man  wird  im  Tadel  sich  zu  mäszigen  haben.  Die  Schulen, 
welche  seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  zu  fröhlichem  Gedeihen  kamen, 
durften  zunächst  freilich  nicht  daran  denken,  über  die  durch  grosze 
Autoritäten  festgestellten  Normen  hinauszugehen,  und  die  Kreise,  denen 
sie  dienen  sollten,  erwarteten  auch  von  ihnen  gar  nichts  anderes,  als  sie 
geben  wollten;  allein  unmerklich  stellte  sich  doch  ein  mehrfaches  Ver- 
hältnis zwischen  ihnen  und  dem  Vaterländischen  her.  Zuerst  schon  durch 
die  Kirche.  Denn  obschou  nie  Art,  wie  diese  ihre  Wissenschaft  ausbildete, 

W.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  11.  37 

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534    Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwickelung  unserer  Litteratur 

noch  besonders  dazu  beitrug,  dasz  die  überlieferten  Einrichtungen  festge- 
halten wurden,  so  rnuste  doch  bei  der  innigen  Verbindung,  in  welcher 
die  Schulen  mit  der  Kirche  standen,  dasjenige,  was  in  dieser  volkstümlich 
blieb ,  vor  Allem  das  fromme  Lied ,  erfrischend  auch  durch  die  Schulen 
hindurch  wirken,  wie  denn  auch  wieder  Rectoren  und  Cantoren  in  groszer 
Zahl  der  Kirche  Lieder  und  Sangweisen  gegeben  haben.  Es  kam  hinzu, 
dasz  die  schon  von  den  Reformatoren  empfohlene  und  von  der  Kirche  fort 
und  fort,  schon  um  der  geistlichen  Stoffe  willen,  nicht  ungern  geförderte 
Schulkomödie,  obgleich  eine  Zeitlang  lateinisch,  immer  lieber  in  deutsche 
Formen  sich  kleidete  und  so  immer  entschiedener  auch  die  Aufmerksam- 
keit der  dabei  Thätigen  auf  dasjenige ,  was  in  deutscher  Sprache  möglich 
sei,  hinlenkte.  Aber  auch  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  förderte 
mittelbar  in  mancherlei  Weise.  Er  machte  doch  immer  wieder  mit  edlen 
und  schönen  Mustern  bekannt,  und  je  mehr  man  darauf  bedacht  war,  in 
Prosa  und  in  Versen  Nachbildungen  versuchen  zu  lassen,  desto  leichter 
konnte  es  geschehen,  dasz  man  auch  in  deutscher  Sprache  Nachbildungen 
wagte.  Als  nun  durch  Martin  Opitz  die  deutsche  Poesie  festere  Regeln 
und  höhere  Geltung  gewonnen  halte,  kam  sie  auch  in  den  Schulen  zu 
einem  Einflusz ,  den  die  Männer  der  Reformationszeit  nicht  einmal  zu  ah- 
nen vermocht  hatten.  In  Schlesien  und  den  von  da  aus  bestimmten  Land- 
schaften rief  die  fröhlich  und  kräftig  entwickelte  Poesie  überall  auch  in 
den  Schulen  poetische  Bestrebungen  hervor,  und  es  ist  gar  nicht  zu  be- 
schreiben, mit  welchem  Eifer  nun  von  Lehrern  und  Schülern  auch  in 
deutscher  Sprache  gereimt  ward.  Es  entstand  jene  in  einzelnen  Ausläu- 
fern bis  in  die  Gegenwart  hereinreichende  Gelegeilheitspoesie,  die  sich 
um  alle  bedeutenderen  Vorkommnisse  des  Lebens  rankte,  zuweilen  aber 
auch  von  dem  Besondern  die  Betrachtung  auf  das  Allgemeine  lenkte  und 
zu  höherem  Aufschwünge  Mut  fand.  Und  dasz  solche  Schulpoesie  bei  den 
Bürgern  der  Städte  wie  bei  den  Herren  des  Adels  freundliche  Anerkennung 
erhielt,  läszt  doch  auch  wieder  voraussetzen,  dasz  durch  den  Unterricht 
der  Schulen  in  weiteren  Kreisen  Sinn  für  Poesie,  und  deutsche  Poesie, 
geweckt  war.  Im  Ganzen  freilich  ergab  sich  bei  diesen  Bestrebungen 
wenig  bleibender  Gewinn. 

Da  hätte  nun  der  classische  Unterricht  sehr  förderlich  werden  kön- 
nen, wenn  er  selbst  nur  von  besserer  Beschaffenheit  gewesen  wäre.  Aber 
diesem  Unterrichte  läszt  sich  für  das  ganze  17.  Jahrhundert  wenig  Gutes 
nachsagen.  Man  war  in  der  Auswahl  der  zu  lesenden  Autoren  schon  un- 
sicher; sehr  oft  erfuhr  die  Leetüre  zu  Gunsten  der  Exercitien  ungehörige 
Beschränkung;  fast  überall  lag  das  Studium  des  Griechischen  darnieder. 
Es  fehlte  durchaus  nicht  an  Männern,  welche  ihre  Classiker  gründlich 
verstanden  und  mehr  oder  weniger  geschickt  nachbildeten,  wie  denn 
überhaupt  die  zweite  Hälfte  des  siebzehnten  und  der  Anfang  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  an  trefflichen  Schulmännern  reich  gewesen  ist ;  aber 
viel  groszer  war  die  Zahl  der  in  Pedanterei  und  Schlendrian  Befangenen, 
und  nicht  selten  wurden  die  wackersten  Bestrebungen  Einzelner  durch 
zähen  Widerstand  gelähmt  oder  nach  kurzen  Erfolgen  wieder  gänzlich 
vereitelt.   Wirklieb  geistbildender  Unterricht  war  gewis  selten. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         535 

Es  ist  allgemein  bekannt,  wie  erst  durch  Gesner  und  Ernesti  in 
die  classischen  Studien  wieder  Geist  und  Leben  kam ;  nach  allen  Seiten, 
bis  in  sehr  entlegene  Winkel,  lassen  sich  die  Spuren  ihres  Wirkens  ver- 
folgen. Man  darf  dabei  jedoch  nicht  vergessen ,  dasz  fortwährend  noch, 
selbst  in  berühmten  Anstalten,  die  alte  Praxis  ihre  Freunde  behielt  und 
dasz  es  auch  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  noch  zahlreiche  Schulen 
gab,  durch  welche  nur  selten  ein  frischer  Lufthauch  strich.  Was  Chr. 
Felix  Weisze  von  dem  Unterrichte,  den  er  im  Gymnasium  zu  Altenburg 
empfangen,  zu  berichten  weisz1)^  wird  sicher  auf  viele  andere  Schulen 
jener  Zeit  passen.  'Auch  hier  war  ein  elender  Religionsunterricht  nach 
einem  ebenso  elenden  Gompendio  und  die  Verdeutschung  oder  Verstümme- 
lung etlicher  griechischer  und  lateinischer  Autoren  in  einer  bunten  halb- 
jährlichen Abwechselung,  ohne  Zweckmäszigkeit  der  Wahl,  ohne  Sach- 
kenntnis der  Auslegung,  mit  einem  pedantischen  Einkäuen  grammatischer 
Regeln ,  welche  man  mehr  als  den  Geist  des  Autors  aufsuchte,  Alles,  wo- 
mit man  sich  beschäftigte ;  an  eine  Leetüre  der  Alten  zur  Bildung  des 
Verstandes,  des  Geschmackes  und  Herzens  war  nicht  zu  denken;  das 
Sprachstudium  selbst  ward  ohne  Philosophie  getrieben  und  der  Geist  des 
Jünglings  durch  die  Beschaffenheit  desselben  mehr  eingeschläfert  und  un- 
terdrückt ,  als  aufgemuntert  und  erhoben.9  Wie  dürftig  es  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts  im  Lyceum  zu  Chemnitz  aussah,  wie  traurig  auch  um  die 
Interpretation  Homer's  durch  den  Rector  Hager,  der  doch  eine  Ausgabe 
desselben  besorgt  hatte,  davon  hatte  Heyne,  der  in  solchem  Unterrichte 
seine  erste  Bildung  erhielt,  viel  zu  erzählen.2) 

Wenn  es  sich  aber  um  das  Verhältnis  unserer  Gymnasien  zur  .Ent-. 
Wickelung  unserer  Litteratur  handelt,  so  darf  immerhin  gesagt  werden, 
dasz  jene  zu  dieser  doch  fort  und  fort  in  einer  ziemlich  regen  Wechsel- 
wirkung gestanden  haben.  Es  hat  bis  tief  in  das  18.  Jahrhundert  hierin 
an  auffallenden  Versäumnissen ,  an  starken  Schwankungen,  an  bedauer- 
lichen Misgriffen  nicht  gefehlt ;  allein  es  ist  auch  zu  zahlreichen  Versuchen 
der  Annäherung  und  Verständigung  gekommen,  und  wahrnehmen  läszt 
sich ,  dasz  einerseits  die  Schulen  manigfach  zu  dem  wundervollen  Auf- 
schwünge unserer  Litteratur,  wie  er  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhun- 
derts sich  vollzogen  hat,  beigetragen,  andererseits  auch  diese  wieder  auf 
jene  eine  immer  weiter  gehende  Einwirkung  ausgeübt.  Dies  scheint  mir 
nun  ein  der  Betrachtung  sehr  würdiger  Gegenstand,  und  je  wünschens- 
werther  es  zumal  in  dieser  Zeit  erscheinen  kann,  dasz  die  Schulen  sich 
deutlich  machen,  was  sie  für  die  nationale  Entwickelung  zu  leisten  im 
Stande  sind,  desto  mehr  darf  es  vielleicht  als  gerechtfertigt  geltep,  wenn 
ich  durch  Zusammenstellung  einiger  Thatsachen  zu  zeigen  versuche, 
wie  unsere  Schulen  allmählich  in  ein  klar  bestimmtes  Verhältnis  zu  un- 
serer Litteratur,  der  edelsten  Trägerin  der  nationalen  Entwickelung,  ge- 
treten sind. 


1)  Selbstbiographie  S.  5  f. 

2)  Heeren,  Biographische  nnd  litterarische  Denkschriften  (Gottin- 
gen  1823)  S.  19  ff.  Wie  in  diese  Schale  durch  Ernesti's  Schüler  Krebs 
neues  Leben  kam,  ist  hier  natürlich  auch  gesagt. 

37*  , 

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536     Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwickelung  unserer  Litteratur 

Fragen  wir  hierbei  zuerst,  wie  die  Entwickelung  unserer  Litteratur 
durch  die  Gymnasien  vorbereitet  worden,  so  wird  der  eigentlichen  Antwort 
das  Geständnis  vorauszuschicken  sein,  dasz  an  ein  be  wüst  voll  es  Hinstre- 
ben auf  eine  höhere  Entwickelung  der  vaterländischen  Litteratur  bei  deu 
Schulmännern  vor  und  nach  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  nicht  zu  den- 
ken ist.  Vielmehr  liesze  sich  durch  zahlreiche  Beispiele  zeigen,  dasz  auch 
diejenigen ,  welche  dieser  Litteratur  Teilnahme  zuwandten ,  meist  in  auf- 
fallender Weise  hinter  der  Entwickelung  derselben  zurückblieben.  Andreas 
Gryphius  hatte  in  unseren  Schulen  noch  seine  stillen  Verehrer,  als  sonst 
Niemand  mehr  durch  seine  Tragödien  sich  erschüttern  liesz,  und  Gott- 
sched^ Einflusz  wirkte  in  den  Schulen  noch  fort,  als  alle  Welt  schon  sei- 
nen Gegnern  Recht  gegeben  hatte  und  die  Säule  seines  Ruhms  zertrüm- 
mert am  Boden  lag.  Anderen  Schulmännern  schien  Beschäftigung  mit 
schöner  Litteratur  dem  Ernste  wissenschaftlicher  Studien  so  fern  zu  lie- 
gen, dasz  sie  eine  solche  weder  sich  selbst  noch  ihren  Schülern  gestatten 
zu  dürfen  glaubten.  Von  einer  würdigen,  weiten  und  freien  Auffassung 
des  Verhältnisses,  in  welchem  die  Litteratur  eines  Volkes  zum  Gesamt- 
leben desselben  stehe ,  wie  sie  die  tiefsten  Erregungen  und  Bedürfnisse 
desselben  zum  Ausdruck  bringen  und  wiederum  tausendfach  bestimmend 
darauf  zurückwirken  kann,  war  damals  überhaupt  noch  selten  oder  nie 
die  Rede. 

Dennoch  hatten  die  Schulen  Manches,  was  jene  Entwickelung  mit 
vorbereiten  konnte.  Irren  wir  nicht,  so  ist  das  Verdienst,  das  sie  in  die- 
ser Beziehung  sich  erworben  haben,  bisher  öfter  verkannt,  als  anerkannt 
worden,  so  nahe  es  auch  gelegen  hätte,  den  Gegenstand  in  erstere  Er- 
wägung zu  ziehen.3)  Wenn  überhaupt  festzuhalten  ist,  dasz  unsere  clas- 
sische  Litteratur  nicht  aus  einem  reich  und  energisch  sich  entfaltenden 
Volksleben  und  unter  der  liebevollen  Pflege  groszsinniger  Fürsten,  son- 
dern durch  rege,  vielseitige,  froh  aufstrebende  Thätigkeit  eines  besonde- 
ren Standes  im  Volke,  der  gelehrt  Gebildeten,  vorzugsweise,  ja  in  den 
ersten  Jahrzehnten  fast  allein  ihre  Entwickelung  gewonnen  hat4);  so 
niusz  doch  wol  in  den  Anstalten ,  aus  welchen  diese  gelehrt  Gebildeten 
hervorgiengen,  Manches  gelegen  haben,  was  diese  Entwickelung  mit  ein- 
zuleiten im  Stande  war. 

Da  haben  wir  zunächst  die  Beschäftigung  mit  den  classi- 
schen  Dichtern  des  Altertums,  wie  sie  die  Schule  vermittelte,  ins 


3)  Vgl.  Oebeke,  Ueber  den  Unterricht  im  Deutschen  auf  den 
preuszischen  Gymnasien  (Aachen  1862.  4)  S.  2:  f Selbst  damals,  als  die 
Gymnasien  noch  lateinische  Schulen  hieszen,  sind  sie  die  stille  Geburts- 
stätte  des  wiedererweckten  deutschen  Volksgeistes  gewesen  und  der 
erste  Turnplatz  desselben  «in  Liedern  und  im  Vorspiel  der  Ideen,  wel- 
che Thaten  bedeuteten».  Dort  hat  sich  jenen  empfänglichen  «Söhnen 
Teut's»  der  Prometheus-Funke  entzündet,  wodurch  sie  die  Schöpfer  der 
neueren  deutschen  classischen  Werke  geworden;  dort  sind  durch  das 
aneifernde  Wettringen  mit  der  vollendeten  Darstellungskunst  der  Grie- 
chen und  Römer  dem  deutschen  Sprachgenius  wieder  Kraftbe wustsein 
und  Flügelgewandtheit  zu  frischem  Aufschwung  gezeitigt.' 

4)  Koberstein  S.  840  f. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         537 

Auge  zu  fassen.  Noch  immer  hatten  die  Dichter  vor  den  Prosaikern  ent- 
schieden den  Vorzug,  und  wenn  etwas  Gröszeres  durchgearbeitet,  wenn 
etwas  Ganzes  erreicht  wurde ,  so  wars  bei  der  Leetüre  der  lateinischen 
Dichter.  Terenz  freilich  hatte,  als  das  siebzehnte  Jahrhundert  ihm  gegen- 
über bedenklich  geworden  und  des  Schonäus  Terentius  christianus  zu  Ehren 
gekommen  war,  das  hohe  Ansehen,  welches  er  bei  Melanchthon  und  allen 
Humanisten  jener  früheren  Zeit  genossen ,  nicht  wieder  erlangt ,  aber  er 
hatte  doch  immer  noch  ganz  andere  Geltung  als  gegenwärtig,  wo  er 
Schülern  nur  selten  in  die  Hände  kommt.  Neben  ihm  fand  Plautus  auch 
nur  sehr  bsschränkte  Anerkennung,  die  höchste  aber  Virgil.  Vorsichtige 
Schulmänner  lieszen  unentschieden ,  ob  er  vor  Homer  den  Vorzug  ver- 
diene, aber  Niemand  war  darüber  in  Zweifel,  dasz  in  ihm  Alles,  Form 
und  Inhalt,  Bilderschmuck  und  Gedankenfülle  der  höchsten  Bewunderung 
werth  sei,  dasz  man  der  geprüfteren  Jugend  für  Bildung  des  Urteils ,  des 
Geschmackes,  des  sittlichen  Gefühls  kaum  etwas  Geeigneteres  in  die 
Hände  geben  könne ,  während  ja  selbst  Männer  noch  die  Aeneide  als  ein 
Handbuch  der  Staatsweisheit  lesen  könnten.  Es  gab  nun  freilich  Schul- 
männer, die  bei  Erklärung  dieses  Epos  einer  so  übertriebenen  Genauigkeit 
sich  befleiszigten ,  dasz  sie  während  eines  ganzen  Jahres  kaum  einen  Ge- 
sang absolvierten,  aber  es  fehlte  auch  an  solchen  nicht,  die  ihre  Freude 
an  dem  Dichter  den  Schülern  völlig  mitzuteilen  verstanden  und  ein  um- 
fassenderes Verständnis  desselben  ihnen  möglich  machten.  Man  wird  kaum 
sagen  können ,  dasz  es  mit  Horaz  ganz  ebenso  gestanden.  Man  schätzte, 
man  bewunderte  ihn ,  man  lernte  ihn  auswendig ,  man  flocht  seine  Sen- 
tenzen gern  auch  in  die  gewöhnlichen  Gespräche ;  wenn  wir  aber  zu  er- 
fahren suchen ,  wie  er  in  den  Schulen  damals  gelesen  worden ,  so  begeg- 
nen uns  doch  auch  Thatsachen,  welche  befremden  können.  Er  kommt 
in  den  Lectionsberichten  seltener  vor  als  man  erwarten  sollte,  oder  es 
findet  sich  für  ihn  nur  etwa  eine  Stunde  wöchentlich  und  für  Primaner 
und  Secundaner  zugleich ;  die  Episteln  und  Satiren  scheint  man  überall 
zurückgestellt  und  auch  bei  den  Oden  mancherlei  Bedenken  gehabt  zu 
haben.5)  Im  Allgemeinen  ist  gewis  richtig,  dasz  der  eine  Hagedorn  durch 
die  Art,  wie  er  dichtend,  nachbildend  und  erläuternd  auf  die  Gedichte  des 
Horaz  hinwies ,  mehr  als  die  Philologie  seiner  Zeit  dazu  beigetragen  hat, 
die  Horazische  Lebensweisheit  in  weiten  Kreisen  so  populär  zu  machen.6) 
Unentschieden  blieb  die  Stellung  Ovid's.  Die  Metamorphosen  erscheinen 
auf  den  Lectionsplänen  jener  Zeit  viel  seltener  als  jetzt,  dafür  treffen  wir 
dann  und  wann  auf  die  Tristien  und  die  Heroiden.  Individuelle  Liebhabe- 
rei war  es  wol,  wenn  auch  der  dunkle  Persius  oder  gar  Claudian  gelesen 
wurden.  Man  musz  hierbei  aber  durchweg  im  Auge  behalten,  dasz  durch 
die  neben  den  öffentlichen  Lesestunden  einhergehenden  und  jene  manig- 
fach  ergänzenden  Privatstunden  tüchtiger  Lehrer  oder  auch  durch  den 


5)  Gewis  war  der  von  Höre  in  Meiszen  1741  herausgegebene  De- 
lectus  carminum  Horatii  ad  publicas  enarrationes  adhibitus  (Einteilung 
der  Oden  in  gewisse  Classen)  verständig  angelegt. 

6)  Hettner,  Literaturgeschichte  des  18.  Jahrhunderts  III 1,  S.  345. 


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538     Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwickelung  unserer  Litteratur 

stillen  häuslichen  Fleisz  strebsamer  Schüler  die  Bekanntschaft  mit  den  la- 
teinischen Dichtern  nicht  unerheblich  sich  erweiterte.  Seit  dem  Auftreten 
Gesner's  und  Ernesti's  bemerkt  man  weit  umher  auch  in  dieser  Beziehung 
erfreulichen  Fortschritt  und  regeres  Leben.  Besonders  ist  nun  aber  die 
Wirksamkeit  jener  Männer  den  griechischen  Dichtern ,  wie  dem  griechi- 
schen Unterrichte  im  Ganzen,  zu  Gute  gekommen.  Auf  diesem  Gebiete 
war  freilich  auch  viel  Verdienst  zu  erwerben.  Die  griechischen  Dichter 
waren  fast  überall  auf  ganz  ungebührliche  Weise  vernachlässigt,  und  in 
Gymnasien,  wo  der  griechische  Unterricht  in  Tertia  oder  gar  erst  in  Se- 
cunda  begann,  auf  wenige  Stunden  beschränkt  blieb  und  wol  auch  als 
ein  facultativer  Lehrgegenstand  angesehen  wurde,  konnte  man  nicht  wol 
über  Theognis  oder  Hesiod's  Werke  und  Tage  hinauskommen;  es  war 
unmöglich,  dasz  man  zu  einer  fruchtbaren  Homerlectüre  sich  erhob,  und 
Vermessenheit  konnte  es  genannt  werden,  wenn  doch  etwa  des  Euripides 
Phönissen  oder  des  Aristophanes  Wölken  gelesen  wurden.7)  Sehr  anzie- 
hend müste  es  sein,  den  Aufschwung  zu  betrachten,  den  seit  Gesner  das 
Studium  flomer's  genommen  hat,  an  welches  dann  wie  von  selbst  die  ein- 
gehendere Beschäftigung  mit  den  Tragikern  sich  anschlosz.  Um  1770 
hatte  sich  bereits  eine  weitgehende  Umwandlung  vollzogen.  Bis  in  die 
Anstalten  der  Brüdergemeinde  wirkten  die  Impulse  der  groszen  Philolo- 
gen. In  Nisky  las  Seh leierm acher  mit  seinem  Freunde  v.  Albertini 
(1783 — 85)  mit  groszer  Rapidität  Homer,  Hesied,  Theokrit,  Sophokles, 
Euripides  und  Pindar,  dabei  blosz  Hederich's  Lexicon  und  die  märkische 
Grammatik  benutzend. 8) 

Mit  der  Dichterlectüre  standen  nun  aber  zahlreiche  Imitationen  in 
Verbindung,  denen  hier  und  da  wol  noch  gröszerer  Fleisz  als  der  Lee- 
türe und  Interpretation  sich  zuwandte.  Man  wollte  ja  doch,  wo  möglich, 
Redner  und  Poeten  bilden  und  las  also  Redner  und  Dichter  der  Alten 
meist  nicht  um  ihrer  selbst  willen  und  um  mit  ihrer  Anschauungsweise, 
mit  ihrem  Geist  und  Charakter,  mit  den  eigentümlichen  Verhältnissen, 
unter  denen  sie  sich  entwickelt  haben  und  wirksam  gewesen  sind,  ge- 
nauer bekannt  zu  werden ,  sondern  um  Musterstücke  zu  haben ,  an  denen 
man  durch  allerlei  Uebungen,  erst  durch  mehr  mechanische  Variationen 
und  Amplificationen ,  dann  durch  freiere  Reproductionen  und  Nachbildun- 
gen zu  höherer  Fertigkeit  sich  emporarbeiten  könne.  Man  wird  nun  frei- 
lich zugeben  müssen ,  dasz  auch  diejenigen ,  welche  es  zu  gröszerer  Fer- 
tigkeit in  der  Imitation  brachten,  selten  den  Weg  zu  selbständigeren 
Productionen  fanden ;  aber  man  darf  doch  auch  sagen ,  dasz  durch  solche 


7)  Ein  Stadium  des  Griechischen,  wie  es  Winckelmann  in  dem 
einsamen  Seehausen  sich  zur  Aufgabe  machte,  dürfte  damals  äuszerst 
selten  gewesen  sein.  S.  Winckelmann's  Briefe  an  seine  Freunde,  her- 
ausgegeben von  Daszdorf,  IS.  10:  Seebussae  litteras  graecas  retraetavi 
undequaque  conquisitis  libris  veterum.  Sophoclem,  quem  vix  depono 
manibus,  ex  Scholiis  [graecis  adhibitis  coniecturis  infinitis  locis  emen- 
davi  et  interpunxi,  ut  exemplar  meum  in  reeudendo  hoc  tragico  poeta 
videatur  aliquid  lucis  afferre  posse.  , 

8)  Aus  Schleiermacher's  Leben  I  S.  8  f.  Vgl.  (Gammert)  Geschichte 
des  Pädagogiums  der  evangelischen  Brüder-Unität  (Nisky  1867.  8)  S.  8  ff. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         539 

Uebungen  ein  feinerer  Formsinn,  selbst  für  prosaische  Darstellung,  aus- 
gebildet und  ein  gründlicheres  Verständnis  des  Nachgebildeten  gewonnen 
werden  konnte.  Immerhin  haben  wir  diesen  Uebungen  bei  der  Frage,  die 
uns  hier  beschäftigt,  besondere  Teilnahme  zuzuwenden.  Es  mag  Lächeln 
erwecken,  was  uns  von  DaumhA  in  Zwickau,  einem  der  trefflichsten  Rec- 
toren  seiner  Zeit  (-f-  1687)  erzählt  wird:  assuefaciebat  discipulos  suos, 
ut  eandem  sententiam  centies  vel  saepius  carmine  redderent,  qua  in  re 
ipse  tantus  artifex  fuit,  ut  unum  versum  millies  et  amplius  versare  pos- 
set9),  und  Mitleiden  erregt  es,  wenn  man  sieht,  wie  Heyne  unter  der 
Leitung  seines  Pathen  mit  Versemachen  sich  plagen  muste 10) ;  aber  die 
Uebertreibung  war  doch  nicht  die  Regel ,  und  bei  mäsziger  und  feiner 
Behandlung  der  Sache  muste  doch  vielfach  neben  dem  sich  bildenden  Sinn 
für  schöne  Form  auch  der  Trieb  zu  ausgedehnterer  und  feinerer  Hand- 
habung derselben  sich  entwickeln.  "Da  haben  nun  gewis  die  Anleitungen 
der  Schule,  lateinische  Musterstucke  auch  in  deutschen  Versen  wiederzu- 
geben, Vielen  den  Uebergang  zu  selbständigem  Dichten  in  der  Mutter- 
sprache noch  auf  besondere  Weise  bereitet.  Aber  man  übte  die  Schüler 
ja  auch  in  deutscher  Dichtkunst  fort  und  fort.  Anleitungen  dazu  waren 
in  groszer  Anzahl  erschienen  und  die  Bemühungen,  nach  derselben  Poeten 
zu  bilden,  immer  allgemeiner  geworden.  Als  nun  im  J.  1729  Gottsched 
seinen  'Versuch  einer  kritischen  Dichtkunst  für  die  Deutschen'  herausge- 
geben hatte,  schienen  diese  Bestrebungen  einen  neuen  Impuls  erhalten  zu 
haben.  Aus  gründlichen  und  vielseitigen  Studien  hervorgegangen,  gab  das 
Werk  jedenfalls  feste  Normen,  instructive  Beispiele,  eine  ansprechende 
Uebersicht  und  war  für  die  Schulen ,  wenn  geschickte  Männer  es  behan- 
delten, gewis  auch  nützlich  zu  machen.  Solchen  Bestrebungen  blieben 
nun  selbst  die  Fürstenschulen,  obwol  ihr  Eifer  für  die  Alten  ein  fast  aus- 
schlieszender  zu  sein  schien,  keineswegs  fremd.  Hatte  doch  schon  1684 
unter  den  Alumnen  in  Meiszen  ein  Tflanzorden'  zur  Pflege  deutscher 
Poesie  sich  gebildet,  unstreitig  eine  Nachahmung  der  groszen  poetischen 
Genossenschaften  jenes  Jahrhunderts.11)  Im  J.  1712  hatte  ein  Alumnus 
der  Schulpforta  ein  so  vorzügliches  deutsches  Gedicht  geschrieben,  dasz 
der  ehrliche  Gerber  in  seinen  'Unerkannten  Wolthaten  Gottes  in  Sach- 
sen' mit  wahrem  Enthusiasmus  davon  zu  reden  sich  gedrungen  fühlt. 12) 
Im  J.  1740  konnte  der  schon  genannte  Gonrector  Höre  in  Meiszen  cEdle 
Früchte  deutscher  Poeten,  erste  Probe'  herauszugeben  sich  entschlieszen, 
eine  zunächst  doch  für  die  Jugend  bestimmte  Anthologie.13)  Manche 
Schulmänner  gewannen  wol  selbst  als  deutsche  Dichter  in  weiteren  Krei- 
sen Ansehn,  wie  der  Rector  Wenzel  in  Altenburg  und  Zittau  (f  1723), 
dessen  Gedichte  in  mehreren  Sammlungen  (Lorbeerhayn  1700,  Cypressen- 
wald  1701,  Altenb.  Rosengebüsch  1719)  erschienen  sind  und  gewis  auf 


9)  Ludovici,  Schul-Historie  III  S.  113.  , 

10)  Heeren  a.  a.  O.  S.  17  f. 

11)  Müller,  Geschichte  der  Fürsten*  und  Landschule  in  Meiszen 
.  41  f. 

12)  II  245  ff. 

13)  Müller  a.  a.  O.  II  S.  138. 


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540     Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwickelung  unserer  Litteratur 

die  unter  seiner  Leitung  stehende  Jugend  manigfach  anregend  gewirkt 
haben.  Kein  Wunder,  wenn  die  Lust  zum  Versemachen  Viele  in  das 
spätere  Leben  begleitete.  Gellert*s  Vater  erquickte  sich  noch  in  seinem 
mühevollen  Predigtamte  zu  Hainichen  an  der  Poesie,  und  die  Gedichte,  die 
er  selbst  schrieb ,  mögen  doch  wieder  für  seinen  Sohn  der  erste  Anlasz 
geworden  sein ,  dasz  er ,  als  Knabe  von  dreizehn  Jahren  und  vor  seinem 
Ein  tri ttt  in  die  Fürstenschule  zu  Meiszen,  als  Dichter  sich  versuchte.14) 
Aus  solchen  von  der  Schule  gekommenen  Antrieben  durfte  auch  die  Ent- 
stehung der  'görlitzer  poetischen  Gesellschaft'  in  Leipzig  (1697)  zu  erklä- 
ren sein ,  die  später  als  'deutsche  Gesellschaft'  unter  Gottscheds  Leitung 
eine  so  eigentümliche  Bedeutung  für  unsere  Litteratur  erhalten  sollte.15) 
Wiefern  die  im  weitern  Umkreis  sich  erhaltende  Schulkomödie 
,  weckend  und  bildend  auf  die  jungen  Geister  gewirkt  hat ,  ist  schwer  zu 
bestimmen.  Fort  und  fort  drängte  sich  auch  sehr  Geschmackloses  in  den 
Vordergrund;  ernste  Männer  beklagten  und  rügten  immer  wieder,  dasz 
durch  die  scenischen  Aufführungen  den  eigentlichen  Schulstudien  so  viel 
kostbare  Zeit  entzogen  und  die  Sittlichkeit  der  Jugend  groszen  Gefahren 
ausgesetzt  werde.  In  manchen  Fällen  verirrte  man  sich  zu  wahrhaft  kin- 
dischen Thorheiten ,  wie  z.  B. ,  wenn  in  Arnstadt  1705  von  den  Alumnen 
der  hochgräflichen  Landschule  rdie  Klugheit  der  Obrigkeit  in  Anordnung 
des  Bierbrau ens'  in  Scene  gesetzt  wurde.  '*)  Aber  auch  die  Abmahnun- 
gen, welche  aus  pietistischen  Kreisen  kamen,  und  selbst  Verbote  der  Re- 
gierungen blieben  ohne  durchgreifende  Wirkung.17)  Die  Schulkomödie 
war  beliebt  beim  Volke,  das  ja  sonst  in  solcher  Beziehung  selten  etwas 
Rechtes  sich  geboten  sah,  und  auch  die  Geldeinnahme  der  unmittelbar 
dabei  Beteiligten  kam  allezeit  mit  in  Rechnung.  Anziehend  müste  es  nun 
sein ,  zu  ermitteln ,  wie  die  Schulkomödie,  früher  doch  in  einem  ziemlich 
scharf  abgegrenzten  Kreise  sich  bewegend ,  immer  entschiedener  mit  dem 
kunstvolleren  Drama  der  Zeit  in  Zusammenhang  getreten  ist.  Wie  man 
bald  nach  dem  Ende  des  dreiszigjährigen  Krieges  in  Schlesien  Dramen  von 
Gryphius  und  Lohenstein  auf  Schultheatern  zur  Aufführung  gebracht 
hatte ,  so  bemühten  sich  auch  wieder  regsamere  Schulrectoren ,  die  Dra- 
men, welche  sie  selbst  für  ihre  Schüler  schrieben,  in  eine  höheren  An- 
forderungen entsprechende  Form  zu  bringen.  Die  zahlreichen  dramati- 
schen Arbeiten  von  Christian  Weise  stellen  eine  in  mancher  Beziehung 
doch  sehr  anerkennen swerthe  Ausgleichung  beider  Richtungen  dar.  Es 
ist  darum  auch  erklärlich,  dasz  Weise's  Leistungen,  obwol  zunächst  nur 
für  seine  Schule  berechnet  und  unter  groszem  Geschäftsdrange  meist  in 
groszer  Eile  hingeworfen ,  weit  umher  Beifall  fanden  und  besonders  gern 
auf  den  Schultheatern  aufgeführt  wurden.  Für  die  sächsischen  Schulen 
wäre  dies  wol  durch  eine  ganze  Reihe  von  Thatsachen  zu  beweisen ;  es 
kann  aber  genügen ,  an  die  Eindrücke  zu  erinnern ,  welche  durch  Auffüh- 


14)  Cramer,  Geliert's  Leben  (Leipzig  1774)  S.  10. 
16)  Danzel,  Gottsched  und  seine  Zeit  S.  79  f. 

16)  Henneberger  im  Deutschen  Museum  1856,  Nr.  48. 

17)  Gegen  die  Schulkomödie   erklärte  sich  sehr  bestimmt  auch  G. 
Arnold  in  seiner  Schrift:  Woleingerichteter  Schulbau,  1711. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         541 

rung  Weisescher  Stücke  in  Chemnitz  ebensowol  der  junge  Heyne  als  der 
gerade  in  der  Geschichte  'der  dramatischen  Poesie  später  bedeutend  ge- 
wordene Chr.  Felix  Weisze  empfangen  hat. !8)  Was  der  Letztere  bei  Dar- 
stellung einer  biblischen  Komödie  des  berühmten  Rectors  gesehen  hatte, 
das  'brachte  ihm  eine  solche  Lust  bei  nach  Allem,  was  Theater  hiesz,  dasz 
seitdem  selbst  eine  Marktschreierbühne  mit  dem  Doctor  und  Hanswurst 
für  ihn  ein  groszes  Interesse  hatte  und  er  begierig  Alles  aufsuchte  und 
las,  was  eine  Komödie  hiesz.9  Dieses  Vergnügen  an  der  Komödie  aber 
und  die  damit  rasch  sich  entwickelnde  Neigung  für  die  Dichtkunst  über- 
haupt öffnete  ihm  den  Sinn  für  die  Schönheiten  der  griechischen  und 
römischen  Dichter,  die  er  dann  in  mancherlei  Art  nachzubilden  sich  be- 
mühte. Als  Gottsched  auf  dem  Gebiete  der  Litteratur  zur  Geltung  eines 
Dictators  gekommen  war ,  fanden  natürlich  auch  seine  dramatischen  Ar- 
beiten Zugang  zu  den  Schulen.  Unter  den  sächsischen  Rectoren  waren 
Baumeister  in  Görlitz,  Gerlach  in  Zittau  und  Richter  in  Annaberg  be- 
sonders treue  Anhänger  Gottsched's,  welche  daher  auch  vor  seinen  kunst- 
mäszigeren  Werken  die  Schulkomödie  nach  altem  Zuschnitt  fast  ganz  zu- 
rücktreten lieszen. 

Inzwischen  hatte  doch  auch  der  Unterricht  in  deutscher 
Grammatik  und  Stilistik  einige  Sicherheit  gewonnen.  Dasjenige 
freilich,  was  schon  im  17.  Jahrhundert  für  die  deutsche  Grammatik,  und 
gerade  von  Schulmännern  geleistet  worden  war10),  scheint  keinen  allge- 
meineren Einflusz  geübt  zu  haben ;  aber  die  Notwendigkeit ,  Gesetz  und 
Brauch  der  Muttersprache  zu  zeigen  und  dadurch  zu  den  seit  längerer 
Zeit  betriebenen  poetischen  Uebungen  eine  Ergänzung  zu  schaffen ,  em- 
pfanden allmählich  alle  strebsameren  Pädagogen.  Der  Rector  Grosser 
in  Görlitz  erklärte  gleich  beim  Antritt  seines  Amtes  (1695),  dasz  in  sei- 
nem Gymnasium  neben  dem  Lateinischen  und  Griechischen  auch  das  Deut- 
sche gründlich  getrieben  werden  solle ;  er  berief  sich  dabei  auf  Cicero's 
Autorität,  der  ja  auch  (nach  Off.  II)  für  sehr  nötig  gehalten,  neben  dem 
Griechischen  seine  Muttersprache  zu  üben;  die  Hypothesis  mancher  Critici 
aber,  dasz  sich  das  Deutsche  bei  einem  geborenen  Deutschen  von  selber 
gebe,  wollte  er  nicht  gelten  lassen,  und  überdies  meinte  er,  dasz  die 
Rücksicht  auf  die  Erfordernisse  des  bürgerlichen  Lebens  dazu  anleiten 
könne ,  bei  manchen  Subjectis  das  Deutsche  wol  noch  sorgfältiger  als  das 
Lateinische  und  Griechische  zu  excolieren.20)  Sehr  verständig  hat  sich 
auch  Grosser' s  Zeitgenosse  Gottfried  Ho  ff  mann  in  Zittau,  wie  jener  ein 
Schüler  Christian  Weise's ,  über  deutschen  Unterricht  ausgesprochen.21) 
In  Annaberg  hatte  man  unter  dem  Rector  Clodius  (1731 — 40)  für  die 


18)  Ueber  den  Ersteren  Heeren  a.  a.  O.  S.  24;  über  den  Anderen 
seine  Selbstbiographie  8.  7  f. 

19)  K.  v.  Räumer  in  seines  Vaters  Geschichte  der  Pädagogik  III  2. 

20)  'Ausführlicher  Entwurf  der  im  Görlitzer  Gymnasio  eingerichte- 
ten Methode.' 

21)  In  seinem  trefflichen  Buche:  Das  Zittauische  Die  cur  hie  und 
hoc  age,  d.  i.  ausführlicher  Bericht  von  denen  im  Zittauer  Gymnasio 
verordneten  Lectionibus.     Zittau  1709.  4, 


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542    Das  Verhältnis  der  Gymnasien  Mir.  Ent Wickelung  unserer  Litteratur 

dritte  Ciasse  Dictate  deutscher  Stöcke  zur  Einübung  der  Orthographie, 
für  die  oberen  Glassen  Uebersetznngen  ins  Deutsche ,  selbst  Nachbildung 
horazischer  Satiren,  in  Versen;  die  eigentlich  poetischen  Uebungen,  in 
denen  Günlher's  Gedichte  als  Musterstücke  benutzt  wurden,  waren  in  die 
Privatstunden  verwiesen.*3)  Die  Leipziger  Schulordnung  von  1723  ordnete 
an ,  dasz  in  den  beiden  obern  Glassen  nächst  der  lateinischen ,  der  grie- 
chischen und  der  hebräischen  Sprache  sonderlich  die  deutsche  im  Reden 
und  Schreiben  mit  den  Knaben  vorgenommen  und  sie  auch  hierin  bei  Zei- 
ten wol  unterrichtet  werden  sollten.23)  Es  versteht  sich  nun  von  selbst, 
dasz  immer  entschiedener  auch  bei  den  Redeacten  der  Gymnasien  das 
Deutsche  zur  Geltung  gelangte.  Schon  im  J.  1698  hatte  der  Rector  Rei- 
mann am  Martineum  in  Halberstadt  bei  einem  zweitägigen  Actus  an  dem 
einen  Tage  vier  Schüler  auftreten  lassen ,  welche  in  hebräischen ,  griechi- 
schen,  lateinischen  und  deutschen  Versen  eben  diese  Sprachen  zu  preisen 
hatten,  worauf  am  folgenden  Tage  ebenso  viele  Redner  dieselben  Sprachen 
in  Prosa  verherlichten ,  um  schlieszlicli  einem  fünften  Redner  Platz  zu 
machen,  der  das  Studium  der  deutschen  Sprache  seinen  Commili  tonen 
angelegentlichst  empfehle.24)  Von  dem  Rector  Win  hold  in  Zwickau 
konnte  1717  gerühmt  werden,  dasz  er  seine  Scholaren  zierliche  deutsche 
Reden  halten  lasse,  was  mehr  Nutzen  habe,  als  wenn  sie  viel  lateinische 
oder  griechische  oder  hebräische  Reden  hielten.25)  Von  groszer  Bedeu- 
tung auch  für  die  Schulen  konnte  Gottsched* s  f Grundlegung  einer 
deutschen  Sprechkunst*  (1748)  werden.  Dasz  bei  diesem  Unterrichte  fort- 
während Vieles  dürftig  und  unbeholfen  blieb,  ist  ohne  Weiteres  anzu- 
nehmen26); wie  man  um  1740  am  Lyceum  in  Wernigerode  die  stilistischen 
Uebungen  eingerichtet  hatte,  macht  bis  ins  Einzelne  dasjenige  anschau- 
lich, was  Pröhle  aus  einer  damals  für  jene  Anstalt  veröffentlichten  Me- 
thodologie mitgeteilt  hat.27)  Die  Wirkung  konnte  doch  nicht  ausblei- 
ben, dasz  die  Schüler  auf  Gesetz  und  Schönheit  ihrer  eigenen  Sprache 
aufmerksam  wurden,  und  für  das,  was  sie  selbst  in  dieser  Sprache  sehrie- 
ben, ein  schärferes  Bewustsein  des  Zulässigen  gewannen.  Der  Einflusz 
solcher  Bestrebungen  wird  doch  auch  in  der  Schriftsprache  jener  Zeit 
mehr  und  mehr  bemerkbar,  und  wenn  auch  gewis  anzuerkennen  ist,  dasz 
die  reinere,  edlere,  leichtere  Prosa,  welche  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts 
in  den  Werken  der  Litteratur  gewöhnlicher  wird,  zu  einem  groszen  Teile 
auf  andere  Einwirkungen  zurückzuführen  ist,  so  wird  man  einiges  Ver- 
dienst dabei  doch  immer  für  die  Schule  in  Anspruch  nehmen  dürfen. 

Vergessen  wir  aber  ein  Verdienst  besonderer  Art  nicht,  das  die 
Schulen  jener  Zeit  mittelbar  um  die  höhere  Entwicklung  der  Litteratur 


22)  Spiesz,  Unterrichtsweise  des  Lyceums  zu  Annaberg  (Annaberg 
1856.   4.)  S.  13. 

23)  Stallbaum,  Die  Thomasschule  in  Leipzig  (1839.  8.)  S.  45. 

24)  Siderer,  Geschichte  des  Halb.  Martineums  (1845.  4.)  S.  20  ff. 
26)  Gerber  a.  a.  O.  II  S.  813  f. 

26)  Ueber  Grimma  vgl.  Palm  De  pristina  illustris  Moldani  disci- 
plina  (1840.   4.)  p.  24. 

27)  In  seinem  Programm:  Gleim  auf  der  Schule  S.  6  f. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         543 

sich  erworben  haben:  sie  haben  der  Jugend  zu  freierer  Entwickelung  des 
individuellen  Lebens  einen  gröszeren  Spielraum  und  zu  produktiver  Thä- 
tigkeit  mehr  Zeit  und  Kraft  übrig  gelassen,  als  dies  ihnen  nach  den  Ein- 
richtungen der  Gegenwart  möglich  sein  wurde.  Die  Zahl  der  Lehrgegen- 
stände und  der  Unterrichtsstunden  war  verhältnismäszig  gering,  die 
Anforderungen  an  den  Fleisz  der  Schüler  konnten  billige  genannt  wer- 
den, kirchlicher  Brauch  und  locale  Verhältnisse  gaben  manche  nicht  un- 
erwünschte Unterbrechungen  im  gewöhnlichen  Gange  des  Schullebens; 
leicht  also  konnte  eine  strebsame  Natur,  wenn  sie  einmal  zu  freierer  Thä- 
tigkeit  angeregt  war,  dieser  mit  unverkümmerter  Lust  sich  hingeben,  und 
wie  es  leichter  war,  in  die  Privatlectüre  der  Classiker  mit  einer  gewissen 
Harmlosigkeit,  ja  mit  innigem  Behagen  sich  zu  vertiefen,  so  fand  sich 
auch  zu  selbständiger  Production,  nach  Umständen  ausreichende  Möglich- 
keit. Es  konnte  freilich  geschehen,  dasz  trägere  Geister  bei  solcher 
Schulpraxis  nur  dürftige  Kenntnisse  sich  erwarben ;  aber  wer  seine  Zeit 
benutzen ,  seine  Kraft  üben  wollte ,  der  konnte  bei  aller  Armseligkeit  der 
Lehrmittel  etwas  vor  sich  bringen  und  zu  einer  Selbständigkeit  in  Arbei- 
ten und  Schaffen  kommen ,  deren  Bedeutung  ihm  sich  vielleicht  erst  dann 
ergab ,  wenn  die  Ueberraschung  seiner  Umgebungen  über  das ,  was  er  zu 
leisten  vermochte ,  zu  einer  Ueberraschung  für  ihn  selbst  wurde.  Jeden- 
falls konnten  auch  in  dieser  Beziehung  unsere  Schulen  bei  Vielen  frische 
Empfänglichkeit  für  tüchtige  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Litteratur 
entstehen  lassen,  und  wo  sie  Empfänglichkeit  nicht  weckten,  tödteten 
sie  doch  nicht  die  vorhandene,  weil  sie  die  jungen  Geister  mit  dem, 
was  sie  gaben,  nicht  überfüllten,  nicht  überreizten.  Zuweilen  lhaten  sie 
zu  wenig;  aber  die  Jugend  ergänzte  schon. 

So  haben  wir  die  Momente  zusammengefaszt,  welche  eine  Beantwor- 
tung der  Frage  zu  enthalten  scheinen,  wiefern  überhaupt  ein  Einflusz  der 
Gymnasien  auf  die  Entwickelung  unserer  classischen  Litteratur  möglich 
gewesen  sei.  Obwol  nun  ohne  Weiteres  zuzugeben  ist ,  dasz  noch  ganz 
andere  Factoren  haben  wirksam  werden  müssen,  um  unsere  vaterländi- 
sche Litteratur  zu  so  reicher  und  glänzender  Entwickelung  zu  bringen : 
so  wird  man  doch  in  keinem  Falle  verkennen  dürfen ,  dasz  auch  jene  Mo- 
mente von  Bedeutung  gewesen  und  bei  eingehender  Schätzung  stark  mit 
in  Rechnung  zu  bringen  sind.  Dies  ergibt  sich,  wenn  man  genauer  zu 
ermitteln  sucht ,  was  die  Repräsentanten  jener  Entwickelung  den  Schulen 
zu  verdanken  gehabt  haben. 

Man  könnte  aber'  die  bedeutenden  Vertreter  unserer  Litteratur,  wenn 
die  Vorbildung  in  Betracht  kommt ,  welche  sie  durch  die  Schule  gewon- 
nen haben,  in  drei  Glassen  bringen.  In  der  ersten  Glasse  würden  die  be- 
rühmten Zöglinge  der  Fürstenschulen  zu  vereinigen  sein;  in  der  zweiten 
lieszen  sich  die  unter  dem  Einflüsse  des  Pietismus  Gebildeten  zusammen- 
stellen; in  die  dritte  würden  die  aus  besseren  Stadtschulen  Hervorgegan- 
genen gehören.  Es  ist  hierbei  kaum  nötig ,  die  dreierlei  Anstalten ,  von 
denen  die  Rede  ist,  ausführlicher  zu  charakterisieren.  Haben  wir  bei  den 
Fürsten  schulen  eine  ganz  entschieden  humanistische,  den  Neuerungen  ab- 
holde, vorzugsweise  auf  formale  Bildung  gerichtete  Unterrichtsweise,  so 


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v 
544     Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwicklung  unserer  Litteralor 

tritt  uns  bei  den  Pietistenschulen  einerseits  ein  Hinwirken  auf  Erregung 
frommer  Gefühle,  andererseits  eine  gewisse  Vorliebe  für  das  Realistische 
entgegen,  während  die  Stadtschulen  wieder,  nicht  ohne  mancherlei  Schwan- 
kungen zwischen  jenen  und  diesen,  in  der  jtfitte  sich  halten,  und  zum 
Teil  experimentierend  und  neuernd  dem  Bedürfnisse  weiterer  Kreise  zu 
genügen  suchen. 

Es  ist  nun  nicht  zu  leugnen,  dasz  die  Fürstenschulen  für  unsere  Be- 
trachtung stark  in  den  Vonlergrund  treten.  Was  ist  nicht  schon  mit  dem 
Einen  gesagt,  dasz  in  Schulpforte  Klopstock,  in  St.  Afra  Lessing  gebil- 
det worden  ist !  Aber  wir  wollen  uns  doch  auch  nicht  zu  der  Annahme 
verleiten  lassen,  dasz  der  Unterricht  dieser  ehrwürdigen  Anstalten  damals 
ein  vorzüglicher  gewesen  sei.  Vielmehr  war  die  Behandlung  der  classi- 
schen  Schriftsteller  wenig  anregend  und  bildend.  Man  liesz  Historiker, 
Redner  und  Dichter  gleich  mechanisch  übersetzen  und  gieng  wenig  auf 
Gehalt,  Geist  und  Eigentümlichkeit  der  einzelnen  Autoren  ein;  als  Haupt- 
sache galt  Imitation  in  Prosa  und  in  Versen.  Wenn  nun  auch  nicht  zu 
leugnen  ist ,  dasz  fähigere  Köpfe  es  darin  weit  brachten ,  so  war  doch 
sicher  bei  <len  Meisten  der  Gewinn  an  feinerer  Geschmacksbildung 
ziemlich  zweifelhaft.  Die  Pflege  deutscher  Sprache  und  Litteratur  war 
noch  fast  gänzlich  ausgeschlossen,  und  die  Beschäftigung  der  Schüler  mit 
Werken  deutscher  Dichter  konnte  nur  eine  verstohlene  sein.  So  urteilt 
über  die  Zustände  in  Meiszen  C ramer  (im  Leben  Geliert's  S.  12  f.). 
Sehen  wir,  was  bei  solcher  Bildungsweise  dennoch  sich  ergab. 

Da  mag  zuerst  an  die  Fürstenschüler  Geliert,  Raben  er,  Gärt- 
ner, J.  E.  Schlegel  erinnert  werden;  aber  es  genügt  für  unseren 
Zweck ,  den  Ersten  als  Schüler  von  St.  Afra ,  den  zuletzt  Genannten  als 
Zögling  der  Schulpforte  etwas  genauer  zu  betrachten.  Was  nun  Geliert 
anlangt,  so  wird  man  sagen  dürfen,  dasz  er  durch  seine  humanistischen 
Studien  zwar  nicht  ein  tieferes  Verständnis  des  classischen  Altertums, 
wol  aber  jene  Sauberkeit  und  Gefälligkeit  des  Stils  gewonnen  habe,  die 
mehr  oder  weniger  Alles ,  was  er  geschrieben  hat ,  auszeichnet.  Er  war 
übrigens  in  Meiszen  der  sanfte,  weiche  Jüngling  nicht,  als  den  man  sich 
ihn  nach  demjenigen,  was  er  später  gezeigt  hat,  denken  könnte:  er  hat 
sogar  durch  schroffes  Auftreten  in  schwere  Strafe  sich  gebracht.  Uebri- 
gcns  trug  er  kein  Bedenken,  von  den  verbotenen  Früchten  deutscher 
Poesie  zu  naschen :  neben  den  Gedichten  von  Neukirch  und  Hanke  las  er 
auch  die  des  unglücklichen,  in  Elend  untergegangenen  Günther,  und  diese 
Leetüre  machte,  nach  seinem  eigenen  Geständnis,  aus  seinem  Geiste  einen 
feuerspeienden  Aetna ,  der  alle  um  ihn  her  liegenden  gesunden  Gegenden 
verwüstete  und  die  in  seiner  Seele  aufkeimenden  Pflanzen  von  Vernunft 
in  Asche  verwandelte.  —  Ungleich  höher  erhob  sich  als  Schüler  J.  E. 
Schlegel.  Schon  unter  des  Vaters  Leitung  in  seiner  Geburtsstadt  Meiszen 
mit  altclassischer  Litteratur  und  deutschen  Dichtern  (Neukirch  und  Hanke 
auch  hier  bewunderte  Vorbilder)  bekannt  geworden,  wagte  er  in  Schul- 
pforte sich  rasch  an  Nachbildung  antiker  Muster  in  deutscher  Form.  Von 
den  lateinischen  Dichtern  fand  er  rasch  den  Uebergang  zu  den  griechi- 
schen; im  Verkehr  mit  Euripides  wurde  er  selbst  ein  dramatischer  Dichter. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         545 

Bekanntlich  schrieb  er  damals  bereits  eine  Hecuba  und  (nach  der  tauri- 
schen  Iphigenia)  die  Geschwister  in  Taurien;  ein  drittes  Trauerspiel, 
Dido,  war  unstreitig  aus  der  Aeneide  hervorgewachsen.  Ein  feuriger 
Jüngling ,  obwol  äuszerlich  von  gemessenem  Ernste ,  arbeitete  er  mit  der 
liebenswürdigsten  Begeisterung  und  gosz  die  Verse  zu  Hunderten  wie  in 
vollem  Strome  hin ;  aber  er  übte  auch  wieder  die  äuszerste  Strenge  gegen 
sich,  indem  er  bei  erneuter  Durcharbeitung  ganze  Beihen  seiner  Verse 
strich  oder  umbildete.  Kein  Wunder,  dasz  er  der  Liebling  seiner  Mit- 
schüler war ,  die  seine  dramatischen  Versuche  mit  Enthusiasmus  aufnah- 
men und,  aller  Aufsicht  zum  Trotz,  in  einer  einsamen  Zelle  bei  dürftigen 
Decorationen  und  in  sehr  unscheinbarem  Gostüm  aufführten.  Als  Schle- 
gel 1739  nach  Leipzig  kam,  um  unter  Gottscheds  Leitung  sich  zu  stellen, 
hatte  er  vom  Wesen  der  antiken  Tragödie  und  der  Tragödie  überhaupt 
wahrscheinlich  schon  eine  viel  richtigere  Ansicht  als  sein  Meister,  der 
vor  französischen  Vorbildern  sich  beugte. 

Um  dieselbe  Zeit  aber,  wo  Schlegel  die  Schulpforte  vqrliesz,  trat 
Klop stock  in  sie  ein.  Im  Verkehre  mit  den  groszen  Epikern  der  Alten 
bildete  sich  hier  der  Sänger  des  Messias.  Aber  er  widmete  den  Glassikern 
überhaupt  ein  sehr  eingehendes  Studium, 

jenen  alten  Unsterblichen, 

deren  dauernder  Werth ,  wachsenden  Strömen  gleich, 

jedes  lange  Jahrhundert  füllt. 
Ein  Jüngling,  in  welchem  Kraft  und  Zartheit,  Zutraulichkeit  und  Vorsicht, 
tiefes  Gemüt  und  ein  fast  priesterlicher  Ernst  wunderbar  sich  verbanden, 
machte  er  auf  seine  Umgebungen  den  Eindruck,  dasz  in  ihm  etwas  Ge- 
heimnisvollgroszes  reife.  Was  die  Schule  im  Besondern  dazu  beitrug,  dasz 
dieses  Beifen  mit  voller  Sicherheit  gelang,  läszt  sich  wol  nicht  ausreichend 
bestimmen ;  aber  wir  wissen  doch ,  dasz  auch  für  ihn  lateinische  Vers- 
übungen und  die  daran  sich  schlieszenden  Versuche  in  deutscher  Sprache, 
die  unstreitig  den  antiken  Musterformen  sich  näher  hielten,  als  sonst  zu 
jener  Zeit  Nachahmungen  solcher  Art,  eine  gute  Vorbereitung  gewesen 
sind  und  viel  dazu  beigetragen  haben,  dasz  Klopstock  später  als  Lyriker 
und  als  Epiker  das  Schöne  antiker  Formen  zu  so  ausgedehnter  Anerken- 
nung bringen  konnte.  Aber  ein  so  kräftiger  Geist,  wie  der  seinige  war, 
entwickelt  sich  auch  bei  unvollkommenen  Anregungen  sicher  und  stetig 
und  ergreift  auch  das  zufällig  Nahegebrachte  mit  freiem  und  groszem 
Sinne.  Wer  vermöchte  jene  eigentümliche  Verbindung  christlich-frommer 
Begeisterung  und  deutsch-patriotischer  Erhebung,  die  in  dem  von  der 
Schulpforte  scheidenden  Klopstock  bereits  sich  vollendet*  hatte,  auf  directe 
Einwirkungen  seiner  Lehrer  zurückzuführen? 

Und  wieder  ein  völlig  anderes  Arbeiten  und  Streben  bietet  sich  uns 
dar,  wenn  wir,  nach  St.  Afra  zurückgekehrt,  inLessing's  Zelle  treten. 
Aber  wir  verzichten  hier  auf  die  Charakteristik  des  in  lebendigster  Thätig- 
keit  so  schnell  über  das  ihn  Umgebende  emporwachsenden  Jünglings,  um 
nicht  unwillkürlich  in  dasjenige  hineinzugerathen,  was  so  oft  schon  dar- 
gestellt ist. 

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546     Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Eni  Wickelung  unserer  Litteratur 

Wir  haben  ja  weiter  noch  von  den  Zöglingen  der  Pielistenschulen 
zu  reden.  Da  gebührt  nun  wol  dem  Hallischen  Waisenhause  die  vorzüg- 
lichste Aufmerksamkeit.  Wir  wissen,  dasz  der  heilige  Ernst,  der  unter 
A.  H.  Francke  durch  die  weiten  Räume  der  mit  bewundernswürdiger  Um- 
sicht und  herlicher  Glaubenskraft  geschaffenen  Anstalt  waltete,  unter 
seinen  Nachfolgern  zum  Teil  in  trübe  Aengstlichkeit  und  lähmende  Pein- 
lichkeit übergieng;  aber  es  konnte  doch  auch  so  noch  Gutes  geschehen  bei 
der  Manigfaltigkeit  des  Unterrichts  und  der  Leitung,  die  für  Manches  ent- 
schädigte, Anderes  milderte,  dem  individuellen  Bedürfnis  Einzelnes  bot, 
was  an  sich  nicht  erwartet  werden  konnte. 

Was  Ramler  in  Halle  für  seine  spätere  Thäligkeit  gewonnen  hat, 
läszt  sich  wol  nicht  genauer  sagen ;  doch  ist  anzunehmen ,  dasz  der  Un- 
terricht des  Waisenhauses  durch  die  metrischen  Uebungen,  die  gefordert, 
und  durch  die  Nachahmungen,  die  so  möglich  gemacht  wurden,  viel  dazu 
beigetragen ,  ihn  zu  einem  so  sichern  Kenner  antiker  Metrik  zu  machen 
und  seinen  Dichtungen  jene  Reinheit  der  Form  zu  geben,  welche  seine 
Zeitgenossen  auch  dann  bewunderten,  wenn  die  Gedichte  sie  kalt  lieszen. 
Aber  das  Waisenhaus  hat  zwei  Jahrzehnte  später  auch  den  in  so  ganz 
anderer  Richtung  denkenden  Bürger  gebildet,  diesen  so  volkstümlichen 
und  die  stärksten  Gefühle  mit  so  leidenschaftlicher  Offenheit  aussprechen- 
den Dichter.  Wie  derselbe  als  Zögling  des  Pädagogiums  im  Waisenhause, 
ungehemmt  durch  die  Aengstlichkeit  des  Inspektors,  die  Vorschule  zu 
einem  die  Schranken  des  von  Kirche  und  Sitte  Geheiligten  so  kühn  durch- 
brechenden Dichterlebens  gehabt  bat,  ist  bekannt;  zunächst  freilich  ver- 
söhnte er  noch  durch  den  Anschlusz  seiner  poetischen  Versuche  an  Klop- 
stock's  Messias  mit  manchen  gewagten  Neuerungen  den  Inspector ,  dem 
doch  selbst  Klopstock's  Orthodoxie  etwas  verdächtig  war.28)  Und  wie 
ist  nun  Bürger's  Altersgenosse  und  Mitschüler  von  Göckingk  unter 
demselben  Einflüsse  auch  wieder  ein  so  ganz  anderer  geworden ! 

Im  diesem  Zusammenhange  ist  noch  des  berühmtesten  Schulers,  den 
das  stille  Klosterbergen  gehabt  hat,  Wieland' s,  zu  gedenken.  Der 
unter  der  Leitung  eines  pietistischen  Vaters  früh  reifende  Wieland  hat 
bekanntlich  schön  als  Knabe  von  neun  Jahren,  lateinische  und  deutsche 
Verse  gemacht ;  in  seinem  dreizehnten  Jahre  war  er  mit  Virgii  und  Horaz 
bekannt  geworden,  hatte  er  Gottscheds  Dichtkunst  studiert,  an  der  from- 
men Lehrdichtung  von  Brockes  sich  erfreut,  den  Plan  zu  einem  Epos 
edas  zerstörte  Jerusalem'  entworfen.  Als  Zögling  von  Klosterbergen 
unter  den  Einflusz  des  frommen  Abtes  Steinmetz  gestellt,  erhielt  er  ne- 
ben den  Studien,  zu  denen  sein  unersättlicher  Wissensdurst  ihn  führte, 
und  unter  den  Aufregungen  seines  Gemüts,  die  teils  hieraus,  teils  aus 
den  gehäuften  Andachtsübungen  der  Anstalt  sich  ergaben,  zu  poetischen 
Versuchen  manigfachen  Antrieb  durch  den  Unterricht  selbst,  wie  ein  noch 
vorhandenes  Schulheft  von  ihm  (aus  dem  Sommer  des  J.  1748)  bis  in  das 


28)  Daniel,  Bürger  auf  der  Schule  (Halle  1845.  4.)  S.  20—22. 
Vgl.  Pröhle,  G.  A.  Bürger,  sein  Leben  und  seine  Dichtungen.  Leip- 
zig 1866.  8. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         547 

Einzelnste  erkennen  läszt. 29)  Er  gewann  damals  schon  jene  ganz  auszer- 
ordentliche  Leichtigkeit  in  Handhabung  der  poetischen  Formen,  die  seine 
Zeitgenossen  an  ihm  bewunderten.  Die  ganze  erste  Periode  seiner  poeti- 
schen Thätigkeit  —  man  hat  sie  die  seraphische  genannt  —  läszt  die 
Nachwirkung  der  frommen  Erziehung,  die  er  empfangen  hatte,  erkennen, 
aber  auch  den  plötzlichen  Umschwung  ahnen,  den  seine  vor  Steinmetz 
verborgen  gehaltene  Leetüre  französischer  Poeten  und  Philosophen  auch- 
schon  vorbereitet  hatte. 

Unter  den  Schulen  der  dritten  Art,  den  städtischen  Gymnasien,  tref- 
fen wir  da  und  dort  solche,  welche  eine  ausgedehntere  Beachtung  der 
vaterländischen  Sprache  und  Poesie  sogar  als  Aufgabe  ansahen.  Lassen 
wir  zuletzt  auch  aus  diesem  Kreise  einen  Repräsentanten  hervortreten, 
den  liebenswürdigen  Gieim.  Die  Oberpfarrschule  in  Wernigerode,  die 
ihn  von  1734 — 38  unter  ihre  Schüler  zählte,  hatte  gerade  damals  unge- 
mein zahlreiche  und  manigfaltige,  poetische  Uebungen:  neben  denen  in 
lateinischer  Sprache  regelmäszig  auch  deutsche,  nur  nicht  so,  dasz  man 
auch  im  Deutschen  antike  Versmasze  nachgebildet  hätte,  aber  sonst  sehr 
verschiedene  Metra ,  auch  Bilderreime ,  Akrosticha ,  Chronosticha ,  Frage- 
reime, Anagramme  und  andere  Spielereien.  Welche  Liebe  für  Anakreon 
und  Horaz  der  junge  Gleim  damals  in  sich  entwickelte,  braucht  nur  flüch- 
tig angedeutet  zu  werden,  und  keinem  Zweifel  unterliegt  es,  dasz  er  als 
Schüler  schon  zu  jener  leichten,  behaglichen,  gutmütigspielenden  Art  des 
Dichtens  kam,  die  ihm  unter  den  Anakreontikern  unserer  classischen  Lit- 
teraturperiode  eine  gesicherte  Stellung  verschafft  hat.  Aber  freilich  hat 
Gleim  durch  alle  Beschäftigung  mit  der  antiken  Poesie  niemals  eine  tie- 
fere Einsicht  in  dieselbe  gewonnen,  und  so  ist  ja  auch  in  seinen  späteren 
Nachahmungen  alter  Dichter  von  deren  Geiste  kaum  ein  Hauch  zu  spü- 
ren. Nichtsdestoweniger  wird  Gleim  in  der  Geschichte  unserer  Littera- 
tur  allezeit  mit  Teilnahme  genannt  und  eine  immerhin  bedeutsame  Ent- . 
Wickelung  dieser  Litteratur  mit  seinem  Namen  in  enge  Verbindung  gesetzt 
werden.  Hatte  ihn  das  Spiel  mit  so  manigfachen  poetischen  Formen, 
welches  die  Schule  ihn  treiben  lehrte,  die  Energie  nicht  gewinnen  lassen, 
welche  poetische  Vertiefung  macht  und  wiederum  zu  freierem  Auf- 
schwünge befähigt;  so  hatte  er  dafür  etwas  Anderes  gelernt:  durch  die 
Poesie  das  Leben  zu  verschönen  und  zu  beglücken,  sein  ganzes  langes 
Leben  in  Poesie  zu  verwandeln.  —  Wie  Uz  als  Schüler  des  Gymnasiums 
in  Ansbach  durch  die  Beschäftigung  mit  Anakreon  und  Horaz  zum  Dichter 
geworden  ist ,  wollen  wir  hier  eben  nur  berühren. 

Es  versteht  sich  übrigens  von  selbst,  wie  sehr  die  Schüler  der  städti- 
schen Gymnasien  dadurch  noch  für  eine  freiere  Bildung  Anregung  und 
Nahrung  erhalten  konnten ,  dasz  sie  in  vielfachem  Zusammenhange  mit 
dem  litterarischen  Leben  der  sie  umgebenden  und  in  den  Schulen  gern 
auch  ihre  Mittelpunkte  erkennenden  Kreise  standen.30) 


29)  S.  Ho  che' s  Mitteilungen  über  ein  Schulheft  "Wieland's,  Neue 
Jahrbücher  88,  253  ff. 

30)  Für  einen  interessanten  Fall  zeigt  dies  Knothe  in  seinem  Pro- 
gramm: K.  F.  Kretschmann,  der  Barde  Kingulph  (Zittau  1858.  4.)  S.  2  f. 


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548    Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Ent  Wickelung  unserer  Litteratur 

Aber  es  ist  Zeit,  dasz  wir  zu  der  anderen  F?age,  die  uns  hier  be- 
schäftigen musz,  übergehen  und  uns  deutlich  zu  machen  suchen,  wie 
unsere  Gymnasien  durch  die  Entwickelung  der  Litteratur  in  der  zweiten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  bestimmt  worden  sind.  Wir  werden  uns 
natürlich  auch  hier  auf  Andeutungen  zu  beschränken  haben. 

Zunächst  ist  nun  freilich  von  den  Gegenwirkungen  und  Hemmungen 
zu  reden ,  welche  ziemlich  lange  noch  die  Litteratur  in  den  Schulen  er- 
fahren hat.  Die  hervorgebrachten  Nethoden  hatten  für  das  Neue  keine 
Stelle ;  religiöse  und  sittliche  Bedenken  wirkten  mit  ein ;  die  Erneuerung 
der  classischen  Studien  durch  Gesner  und  Ernesti  empfahl  gerade  den 
strebsamsten  Schulmännern  so  energisch  die  alte  Litteratur,  dasz  ihnen 
für  die  des  eigenen  Volkes  nicht  viel  Teilnahme  übrig  blieb.  In  den 
sächsischen  Fürstenschulen  war  lange  durch  strenge  Gesetze  das  Lesen 
'deutscher  Bücher'  verpönt  und  auch  dadurch  niedergehalten ,  dasz  mit 
solcher  Begriff  und  Vorwurf  unwissenschaftlichen  Sinnes  sich  verband. 
Man  duldete  später  Klopstock ,  Rabener  und  Geliert ;  aber  man  gestattete 
auch  den  reiferen  Schülern  nur  mil  Zögern  die  Beschäftigung  mit  Lessing's 
Werken  und  mit  dem  Besten,  was  man  von  Goethe  besasz,  und  es  konnte 
vorkommen ,  dasz  ein  Lehrer  beim  Unterricht  in  der  Geschichte  sorgfal- 
tiglich  vor  den  Schülern  seine  Bekanntschaft  mit  Schiller's  Jungfrau  von 
Orleans  zu  verbergen  suchte ,  weil  er  in  den  Verdacht  der  Zeitverschwen- 
dung und  der  Ungründlichkeit  zu  kommen  fürchtete.  Wie  Schiller's  Räu- 
ber den  Grimmensern  zunächst  nur  in  einer  mühsam  gefertigten  Abschrift 
zugänglich  wurden ,  welche  Aufregung  in  die  jungen  Geister  durch  die 
plötzlich  vermitlellte  Bekanntschaft  mit  dem  Wallenstein,  mit  Maria  Stuart 
mit  der  Jungfrau  von  Orleans  geworfen  wurde ,  wissen  wir  aus  deu  Auf- 
zeichnungen von  Baumgarten-Crusius.81)  Beachtens werth  ist  übri- 
gens, dasz  der  Brief ,  in  welchem'  der  junge  Baumgarten-Crusius  seine 
Teilnahme  für  die  neue  Litteratur  und  die  gewaltigen  Umwandlungen 
seiner  Zeit  ausspricht,  in  einem  ganz  vorzüglichen  Deutsch  geschrieben 
ist  und  ein  sehr  gutes  Zeugnis  für  die  Schule  ablegt,  die  er  durchgemacht 
hatte.  Auch  wollen  wir  nicht  verschweigen ,  dasz  in  Grimma  1797  durch 
den  Bector  Mücke  eine  deutsche  Lesebibliothek  für  die  Alumni  begründet 
worden  war.82) 

Wo  Schulmänner  zu  Anerkennung  der  vaterländischen  Litteratur 
und  zu  Berücksichtigung  derselben  auch  beim  Unterrichte  sich  bestimmen 
lieszen,  traten  doch  auch  wieder  sehr  wunderliche  Dinge  zu  Tage.  In 
Rastenburg  wurde  1765  von  der  Schule  aus  bekannt  gemacht:  f Damit 
auch  die  grösten  Dichter  in  unserer  Muttersprache  unserer  Jugend  nicht 
gänzlich  unbekannt  bleiben  möchten,  so  hat  Rector  einige  lehrreiche  Ge- 
dichte des  wellberühmten  Baron  von  Ganitz ,  des  Freiherrn  von  Haller, 
des  Herrn  von  Hagedorn  und  des  preuszischen  Dichters  Herrn  Prof.  Bock 


31)  Leben  des  Rectors  Baumgarten-Crusius,  nach  den  von  ihm  hin- 
terlassenen  Mitteilungen  zusammengestellt  von  seinem  Sohne  (Oschatz 
X853.  8)  S.  33  ff. 

32)  Palm  p.  24. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         549 

unvergleichliches  Gedicht  «die  Furcht  vor  Gott,  das  gröste  Grundgesetz 
der  Thronen»  auswendig  lernen  und  hersagen  lassen.'33)  Aber  im  J.  1772 
(unter  einem  neuen  Rector)  ist  von  solcher  Concession  nicht  mehr  die 
Rede.  —  Der  Rector  Bauer  in  Hirschberg  (1767 — 99),  ein  Schüler 
Ernesti's ,  kam  über  Haller  und  Geliert  eigentlich  nie  hinaus.  Er  kannte 
zwar  auch  Lessing's  Werke  und  liesz  sogar  Dramen  desselben  in  seiner 
Schule  auffuhren ,  aber  in  seinen  Schriften,  wenn  auch  ohne  Nennung  des 
Namens,  polemisierte  er  gegen  ihn  und  konnte  sich  nie  in  seine  Ansichten 
vom  Drama  finden.  Klopstock  war  ihm  zu  überspannt  und  dunkel, 
Wieland  und  Goethe  aber  verabscheute  er  geradezu  und  nannte  sie  ge- 
legentlich Narren;  besonders  widerwärtig  waren  ihm  Werther's  Leiden. 
Und  doch  machte  er  selbst  deutsche  Gedichte,  und  noch  1795  konnte  es 
geschehen,  dasz  die  Universität  Wittenberg  ihn  als  Dichter  krönte.84) 

Anders  freilich  stellte  sich  die  Jugend  zu  dem  Neuen.  'Wenn  in 
einem  Zeitalter  eine  neue  Sonne  durchbricht,  reflectieren  die  jungen  Leute 
immer  am  lebhaftesten  ihre  Strahlen.9  Es  wäre  nun  wol  ein  lohnendes 
Geschäft  darzustellen,  wie  die  groszen  Dichter  jener  Zeit  auf  unsere 
Jugend  im  Allgemeinen  wirkten;  aber  wir  dürfen  hier  uns  nur  darauf 
beschränken,  zu  den  nach  dieser  Seite  schon  gemachten  Bemerkungen 
noch  einige  Ergänzungen  zu  fügen.  Kaum  zu  ermessen  ist  der  Einflusz, 
den  Klopstock  auf  dje  Jugend  ausgeübt  hat.  Beschränkter  war  die  Gel- 
tung Wieland's,  da  diesem  mit  gutem  Rechte  auch  die  Wachsamkeit  der 
Erzieher  und  Lehrer  entgegenarbeitete;  wie  dem  jungen  F.  A.  Wolf  sein 
Rector  Wieland's  Musarion  aus  der  Hand  schlug ,  erzählen  seine  Biogra- 
phen.35) Viele  strebsamere  Geister  zog  Lessing  an;  die  Kühnheit  seiner 
Gedanken,  die  Originalität  seiner  Leistungen ,  die  Wahrhaftigkeit  seines 
ganzen  Wesens  wirkten  unwiderstehlich.  Wir  wissen,  mit  welcher  Be- 
wunderung der  junge  Friedrich  Jacobs  und  sein  Freund  Georg  Schatz  zu 
Lessing  emporschauten.36)  Was  soll  ich  nun  von  den  Wirkungen  sagen, 
die  Goethe's  Götz  und  Werther  hervorriefen ,  oder  von  dem  Eindrucke, 
den  Schiller's  erste  Dramen  machten!87)  Man  brauchte  da  durch  beson- 
dere Veranstaltungen  nicht  nachzuhelfen,  und  als  ein  seltsamer  Einfall 
konnte  es  gelten,  dasz  Gleim  sein  Buch  Halladat  hundertfach  an  Schulen 
verschenkte.  Kleine  Vereine  von  Schülern  zu  verstohlenem  Genüsse  oder 
auch  zu  emsiger  Nachbildung  des  von  den  groszen  Meistern  Dargebotenen 
mag  es  an  vielen  Orten  gegeben  haben;  bestimmtere  Nachrichten  aber 
über  solche  Bestrebungen  hat  nur  in  seltenen  Fällen  der  Zufall  uns  er- 


33)  Heinicke,  Zur  ältesten  Geschichte  des  GymnasiumB  in  Rasten- 
burg (1846.  8.)  S.  59. 

34)  Dietrich,  Zur  Geschichte  des  evangelischen  Gymnasiums  in 
Hirschberg  (1862.   4)  S.  17  f. 

35;  Arnoldt,  F.  A.  Wolf  I  S.  14. 

36)  Ja c ob's  Personalien  S.  19  f.  S.  336  f. 

37)  Vgl.  Köpke,  Ludwig  Tieck  I  S.  6  f.  31  f.  Goethe's  Werther 
fand  selbst  bei  den  Jesuitenschulen  in  Dillingen  Eingang.  Christoph 
v.  Schmid,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben  (Augsb.  1863)  I  S.  122  f. 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  11.  38 


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550    Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwickelung  unserer  Lilteratur 

halten.88)  Dabei  konnte  es  indes  immer  geschehen,  dasz  selbst  sehr  be- 
gabte Schüler,  und  in  bedeutenderen  Städten,  noch  am  Ende  des  Jahr- 
hunderts von  den  gröslen  Leistungen  unserer  Dichter  nichts  erfuhren. 
Kohlrausch  bekennt,  dasz  er  während  seiner  Schuljahre  in  Hannover 
(bis  Ostern  1799)  nichts  von  Schiller  oder  Goethe  gelesen  und  erst  in 
Göttingen  mit  des  Letzteren  Tasso  bekannt  geworden,  nun  aber  auch 
sogleich  den  mächtigsten  Eindruck  erhalten.39) 

Es  war  kein  Wunder,  wenn,  ganz  besonders  unsere  dramatische 
Poesie,  die  seit  Lessing  so  energisch  sich  entwickelte,  die  jugendlichen 
Geister  in  Anspruch  nahm.  Und  diese  wirkte  nun  auch  noch  dadurch 
auf  das  Gesamtleben  der  Schulen  ein%  dasz  sie  da,  wo  man  scenische  Dar- 
stellungen noch  nicht  aufgeben  mochte,  die  zum  Teil  so  thörichten  Schul- 
komödien nach  altem  Schnitt  verdrängte  und  die  Leistungen  wirklicher 
Dichter  dafür  zur  Geltung  brachte.  Die  Geschichte  des  Schul thealers 
schlieszt  mit  der  Aufführung  dramatischer  Arbeiten  von  Lessing  und 
Weisze.  Freilich  gieng  in  diesen  Dingen  Alles  nach  individueller  Ansicht 
und  Bestimmung,  namentlich  der  Rectoren.  Während  manche  diesen  Auf- 
führungen bereits  ein  Ende  machten ,  hielten  andere  mit  Zähigkeit  an  der 
überlieferten  Praxis  fest ;  auch  ist  es  wol  geschehen ,  dasz  man ,  nachdem 
das  Schultheater  schon  geschlossen  worden,  noch  einmal  es  wieder  eröff- 
nete ,  weil  entweder  der  entstandene  Ausfall  in  der  Einnahme  der  Veran- 
stalter auf  andere  Weise  nicht  zu  ersetzen  war,  odef  die  beteiligten  Kreise 
der  Bevölkerung  eine  Wiederaufnahme  des  Abgeschafften  ausdrücklich 
wünschten.  Der Rector  Richter  in  Zittau  nahm  gleich  im  Jahre  nach  dem 
Hubertusburger  Frieden,  zu  einer  Zeit  also,  wo  die  Stadt,  im  Sommer 
1757  durch  die  Oesterreicher  in  Trümmer  geschossen,  noch  in  keiner 
Weise  sich  erholt  hatte,  die  scenischen  Darstellungen  wieder  auf  und 
führte  in  drei  aufeinander  folgenden  Tagen  seinem  Publicum  folgende 
Stücke  vor:  am  ersten  Tage  Voltaire' s  Tancred  in  deutscher  Uebersetzung, 
mit  Geliert's  Orakel  als  Nachspiel,  wozu  der  Cantor  Gössel  die  Musik  ge- 
setzt hatte;  am  andern  Tage  Geliert's  Loos  in  der  Lotterie,  mit  einem 
Nachspiele  Mer  Wolf,  welches  als  kleines  Schäferstück  bezeichnet  wird; 
am  dritten  Tage  Don  Ranudo  de  Colibrados  von  üolberg,  mit  Wieder- 
holung von  Geliert's  Orakel  Richter* s  Nachfolger  Sintenis  erklärte 
sich  1784  in  einem  Schulprogramme  rv.on  dem  Unnützen,  Schädlichen  und 
Lächerlichen  der  Schaubühne'  gegen  die  bisherige  Praxis;  allein  vier 
Jahre  später  kündigte  er  doch  wieder  'jugendliche  Theaterübungen'  an, 
die  sich  1789  als  *Redeübungen  durch  Schauspiele'  wiederholten ;  indes 
machte  1790  ein  Verbot  der  städtischen  Behörde  diesen  Aufführungen 
ein  Ende. 

Aehnlich  war  der  Verlauf  in  den  schlesischen  Gymnasien.  Der  Rec- 
tor Bauer  in  Hirschberg,  dessen  wir  schon  gedachten,  liesz  auszer  der 
Minna  von  Barnhelm  auch  Emilia  Galotti  und ,  was  weniger  bedenklich 


38)  Wir  erinnern  an  den  Primanerverein,  den  J.  H.  Vosz  als  Schü- 
ler in  Neubrandenburg  zn  Stande  brachte. 

39)  Erinnerungen  aus  meinem  Leben  S.  48  f. 


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während  Her  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.        551 

war ,  die  Juden  und  den  Schatz  von  Lessing  auffuhren ;  daneben  wurden 
in  Scene  gesetzt  von  Weisze:  List  über  List ,  Richard  III. ,  die  Poeten 
nach  der  Mode;  von  Holberg:  das  arabische  Pulver  und  die  honnette 
Ambition ;  ferner  Goldoni's  Vormund,  Moliere's  Geiziger,  Mercier's  Deser- 
teur u.  a.  Bauer  hatte  übrigens  schon  mit  der  Auswahl  viel  Plage,  da 
stets  für  drei  aufeinander  folgende  Tage  wenigstens  ebenso  viele  Stücke 
zu  beschaffen  waren;  auszerdem  aber  fühlte  er  sich  verpflichtet,  Alles, 
e  was  ihm  zu  frei ,  leichtsinnig ,  wild ,  heftig ,  auch  zuweilen ,  was  ihm 
allzu  zärtlich  vorkam9,  nicht  minder  dasjenige ,  was  ihm  Händel  zuziehen 
konnte,  zu  ändern;  endlich  hatte  er  auch  Prologe  und  Epiloge  auszu- 
arbeiten und  für  die  Einladungsschriften  Abhandlungen  auszuarbeiten,  in 
denen  er  ästhetische  und  litterarische  Fragen  behandelte.  Weil  nun  zu- 
gleich die  Eiuübung  der  Schüler  für  die  bezeichneten  Aufführungen  grosze 
Mühe  machte  und  viel  Zeit  kostete,  fühlte  er  sein  Herz  sehr  erleichtert, 
ja  zu  einer  leidenschaftlichen  Freude  erregt,  als  1776  an  die  Stelle  dieser 
Aufführungen  ein  kurzer  dreistündiger  Redeactus  gesetzt  ward. 

Wie  eifrig  aber  in  dieser  Zeit  einzelne  Rectoren  noch  sein  konnten, 
zeigt  das  Beispiel  des  in  anderer  Beziehung  ganz  tüchtigen  Fromm  i- 
chen  in  Hildesheim,  durch  dessen  Veranstaltung  1773  vierzehn  Stücke 
nach  einander  zur  Aufführung  gebracht  Wurden:  am  4  October  cder  Mi- 
nister' von  Gabler  und  eder  Schatz'  von  Lessing ;  am  5  October  fTrau, 
schau,  wem?'  von  Brandes  uud  Mas  arabische  Pulver'  von  Holberg;  am 
6  October  'Ugolino'  von  Gerstenberg  und  fWolthaten  gewinnen  das  Herz' 
aus  dem  Russischen;  am  7  October  'Ernst'  und  *Evander  und  Alcimna' 
von  Geszner;  am  8  October  Mer  Schein  betrügt'  von  Geszner  und  cArmut 
und  Tugend'  von  Weisze;  am  11  October  cClementine'  von  Gabler  und 
Mas  Band'  von  Geliert;  am  12  October  endlich  'Emilia  Galotli'  von  Les- 
sing und  *Waldcr'  von  Weisze.  Dabei  wurde  ein  gar  nicht  zu  verant- 
wortender Aufwand  gemacht,  —  man  hatte  z.  B.  für  einige  Hundert 
Thaler  Goulissen  angeschafft,  —  das  eingenommene  Geld  aber  teilweise 
von  Schülern  unterschlagen.40) 

Wie  Goethe  noch  am  Anfange  dieses  Jahrhunderts  die  Gymnasiasten 
von  Weimar  für  den  Chorgesang  der  Opern  und  die  Nebenrollen  im 
Schauspiel >  zu  groszem  Verdrusse  des  Ephorus  Herder,  in  Anspruch 
nahm,  das  mag  hier  eben  nur  berührt  werden.41) 

Als  eine  Wirkung  der  Teilnahme,  welche  der  so  reich  und  glänzend 
sich  entwickelnden  Litteratur  zugewandt  wurde,  werden  wir  auch  die 
Hebung  des  Unterrichts  in  der  deutschen  Sprache  anzusehen  haben.  Was 
unter  den  unmittelbaren  Anregungen  Friedrich's  d.  Gr.  zunächst  am  Joa- 
chimsthaler  Gymnasium  in  Berlin  durch  Meierotto  ausgeführt  wurde, 
gehört  vielleicht  nicht  völlig  hierher;  aber  es  wirkte!  auch  dies  in  der 
bezeichneten  Richtung  mit.     Friedrich  blieb  freilich  bis  zum  Schlüsse 


40)  Fischer,  Geschichte  des  Gymnasium  Andreanum  in  Hildesheim 
(1862.  8)  S.  61  f. 

^41)  Heiland,   lieber  die  dramatischen  Aufführungen  im  Gymna- 
sium zu  Weimar  (1858.  4)  S.  18  f. 

38* 

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552     Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwidmung  unserer  Litleratur 

seines  Lebens  unbekannt  mit  dem,  was  rings  um  ihn  in  seinem  Volke 
reifte,  und  drückte  die  Bfisachtung  des  Vaterländischen  noch  spät  In  her- 
ausfordernder Weise  aus;  aber  er  hatte  doch  ein  lebendiges  Gefühl  für 
das ,  was  not  that ,  und  die  Anregungen ,  die  er  gab ,  wurden  dann  von 
Männern  aufgenommen,  welche  in  einem  näheren  Verhältnis  zur  Litleratur 
standen.42)  Es  ist  bekannt,  in  welchen  Zusammenhang  mit  diesen  Beslre- 
bnngen  die  Arbeiten  Adelung 's  traten:  seine  im  J.  1781  erschienene 
deutsche  Sprachlehre  war  zunächst  von  der  Regierung  Friedrich*«  veran- 
laszt  und  tzum  Gebrauche  in  den  königlich  preuszischen  Staaten9  be- 
stimmt.43) 

Schon  hatte  auch  in  Sachsen  die  Regierung  auf  diesen  Gegenstand 
ihre  Aufmerksamkeit  gelenkt.  Nach  der  unter  Em  es  ti  's  Mitwirkung 
entstandenen  Schulordnung  von  1773  sollte  das  Deutsche  künftig  allen 
Classen  mit  gleicher  Sorgfalt,  Orduung  und  Genauigkeit,  wie  die  frem- 
den Sprachen,  gelehrt  werden,  damit  die  Schüler  ihre  Muttersprache 
regelmäszig  und  gut  reden,  sowie  ohne  Fehler  schreiben  lernten.  Neben 
den  grammatischen  Unterriebt  sollte  auch  das  Lesen  deutscher  Bücher 
treten ,  welche  in  reiner  und  edler  Schreibart  abgefaszt  wären ,  so  dasz 
zuerst  gute,  wolgeschriebene,  andächtige  Lieder,  Fabeln  und  Erzählun- 
gen, z.  B.  von  Geliert,  hernach  auch  andere  nützliche  und  leichte  Bücher 
erklärt  würden.  Was  die  Schüler  gelesen,  das  sollten  sich  die  Lehrer 
mündlich,  zuweilen  auch  schriftlich  wiedererzählen  lassen.  —  Dasz  die 
Schulpraxis  hinter  diesen  Vorschriften  noch  lange  zurückblieb,  haben  wir 
zum  Teil  oben  schon  gesehen.  An  einzelnen  Schulen  war  man  indes  in 
mancherlei  Form  vorausgeeilt.  Dies  gilt  z.B.  von  der  Einrichtung  einer  aus 
Schülern  der  Prima  sich  bildenden  deutschen  Gesellschaft  in  Annaberg 
durch  den  Rector  Gottleber  (1763 — 71),  der  selbst  die  Leitung  über- 
nahm. Zweck  dabei  war  Uebung  in  der  deutschen  Dicht-  und  Redekunst, 
die  durch  Vorlesung  teils  von  eigenen  Ausarbeitungen  der  Mitglieder, 
teils  von  Uebersetzungen  aus  griechischen,  lateinischen  und  französischen 
Schriftstellern  erreicht  werden  sollte.  Die  Arbeiten  konnten  Abhandlun- 
gen, Briefe,  Reden,  Gedichte,  Fabeln,  Erzählungen,  Gespräche,  Ueber- 
setzungen sein ;  überall  sollte  dabei  die  Reinheit  der  Sprache  auf  das  Ge- 
naueste beobachtet  werden.  Als  Muster  galten  die  Werke  von  Geliert, 
Cramer,  J.  A.  Schlegel,  Klopstock,  Mosheim,  auch  die  von  Gronegk,  Kleist, 
Jerusalem.44) 

Anderwärts  war  Förderung  des  deutschen  Unterrichts  mehr  der 
individuellen  Neigung  überlassen ;  aber  diese  erscheint  nun  vielfach  doch 


42)  Vgl.  Th.  He  in  si  us,  Die  Germanologie  auf  deutschen  Lehr- 
stühlen (Berlin  1848.  8.)  S.  7  ff.  und  Giesebrecht  in  Mützell's  Zeit- 
schrift für  das  Gymnasialwesen  1856  S.  114  ff.,  wozu  ergänzend  L ob  e  11, 
Die  Entwicklung  der  deutschen  Poesie  I  S.  327  ff.  und  Trendelen 
burg,  Friedrich  d.  Gr.  und  sein  Staatsminister  Freiherr  von  Zedlitz 
(Berlin  1859.  8.)  S.  16  ff. 

43)  H.  v.  Raumer  a.  a.  O.  III  2  S.  88  ff. 

44)  Spiesz  S.  20.    Vgl.  über  die  sehr  verständigen  Anweisungen 
für  das  Pädagogium  der  Brüdergemeinde  in  Nisky  Gammert  S.  17  f. 


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während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.         553 

durch  die  Entwicklung  der  Litteratur  bestimmt.  So  lenkte  der  Rector 
Baurmeister  in  Hildesheim  (1768 — 72)  durch  seine  "Gedanken  von 
Bildung  der  Jugend  in  den  Schulen'  die  Aufmerksamkeit  sehr  nachdrück- 
lich auch  auf  die  Pflege  der  Muttersprache.  fDie  Muttersprache  verdient 
wie  das  Vaterland,  eine  vorzügliche  Achtung  vor  den  übrigen  Sprachen. 
Ein  Lehrer  musz  die  Jugend  unterrichten ,  wie  sie  ihre  Gedanken  darin 
deutlich,  genau,  nett  und  schön  ausdrücken  kann ;  er  musz  ihr  die  besten 
Schriftsteller  an  die  Hand  geben  und  sie  gewöhnen,  ihre  Denkungsart  und 
ihren  Ton  nachzuahmen.  Ich  bitte ,  ich  ermahne  Euch ,  Ihr  Lehrer  der 
Schulen,  die  Ihr  die  Verdienste  der  Griechen  und  Römer  verehrt,  ver- 
gesset doch  die  Hochachtung  gegen  die  deutschen  Musen  nicht.'  Baur- 
meister's  Nachfolger  Frömmichen  erklärte  1775,  obenan  in  Prima 
müsse  die  deutsche  Sprache  stehen,  und  zwar  Sprachlehre,  Kritik  und 
Geschichte,  Uebungen  in  Reden,  Briefen  und  Erzählungen;  es  seien  kate- 
chetische Fragen  und  Antworten  anzustellen,  zur  Bildung  des  Geschmackes 
solle  man  deutsche  Musterstücke  vorlegen,  die  Dramen  von  Lessing,  Stel- 
len aus  Klinker's  Reisen ,  den  Hofmeister  von  Lenz ,  Geliert's  Briefe  lesen 
und  erklären.45) 

Solches  Lesen  ^deutscher  Classiker'  wurde  noch  vor  dem  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  mehr  und  mehr  als  zweckmäszig  erkannt.  Als  eine 
sehr  gewichtige  Autorität  trat  dafür  Herder  ein  in  einer  Schulrede  *von 
der  Ausbildung  der  Rede  und  Sprache  in  Kindern  und  Jünglingen'  (So- 
phron  17.  Rede).  Er  empfiehlt  darin  vielfaches  Lesen  classischer  Stücke 
und  Auswendiglernen  derselben  und  wendet  sich  dann  mit  der  Frage  an 
die  Schüler:  'Wer  unter  Euch  kennt  Uz  und  Haller,  Kleist  und  Klopstock, 
Lessing  und  Winckelraann ,  wie  die  Italiener  ihren  Ariost  und  Tasso ,  die 
Brüten  ihren  Milton  und  Shakspeare,  die  Franzosen  so  viele  ihrer  Schrift- 
steller kennen  und  ehren?' —  Ein  besonderes  Verdienst  erwarb  sich  nach 
dieser  Seite  hin  der  Rector  Jördens  in  Lauban.  Gleich  nach  dem  An- 
tritt seines  Amtes  (1796)  schrieb  derselbe  zwei  Programme  zur  Behand- 
lung der  Frage:  f Sollen  auch  deutsche  Schriftsteller  auf  Schulen  gelesen 
und  erklärt  werden?'  Vier  andere  Programme  des  verdienten  Mannes 
gaben  dann  eAnzeige  einiger  neueren  Hülfsmittel  zur  Erklärung  deutscher 
Dichter  und  Prosaisten  in  Schulen'. 

Aber  dies  waren  zunächst  doch  immer  vereinzelte  Bestrebungen  oder 
Anregungen ;  im  Ganzen  blieb  der  deutsche  Unterricht  noch  sehr  mangel- 
haft. Es  fehlte  darum  auch  von  Seiten  der  Aufmerksameren  an  scharfen 
Rügen  nicht.  Wir  erwähnen  in  dieser  Beziehung  nur  die  tief  einschnei- 
denden Bemerkungen  Rieht  er 's  'über  einige  Ursachen  der  gewöhnlichen 
Vernachlässigung  unserer  Muttersprache'  in  seiner  Schrift:  Philosophi- 
sche Blicke  auf  Wissenschaften  und  Menschenleben  (Halle  1789.  8)  I  2 
S.  129  ff.  Und  doch  hatte  man  schon  auch  das  Bedürfnis  empfunden,  in 
historischer  Betrachtung  die  neuesten  Entwickelungen  an  das  in  früheren 
Zeiten  Geleistete  anznknüpfen.  Es  dürfte  aber  den  ersten  Versuch,  die 
Geschichte  der  deutschen  Litteratur  in  den  Gymnasialunterricht  einzu- 


45)  Fischer  S.  57  f.  u.  60. 

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554  Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwickelung  unserer  Litteralur  Usw. 

fahren,  Meierotto  gemacht  haben;  entschiedener  nahm  dann  Fr.  Ge- 
dike  dieses  Gegenstandes  sich  an,  und  merkwürdig  genug  ist,  dasz  er 
auch  schon  Anlasz  erhielt,  gegen  Uehertreibungen  sich  zu  erklären.46) 
Uebrigens  konnte  es  geschehen ,  dasz  man  auf  der  einen  Seite  einen  sehr 
unvollkommenen  Unterricht  in  der  Grammatik  gab  und  auf  der  andern 
doch  Proben  aus  Schilter's  Thesaurus  von  Ulfilas  mitteilte. 47)  Allein  erst 
später,  als  unter  dem  Einflüsse  der  Romantiker  auch  die  Poesie  des  Mit- 
telalters Gegenstand  lebhafterer  Aufmerksamkeit  geworden  war  und  be- 
wundernswürdige Forschungen  Sprache  und  Litteratur  des  Mittelalters  in 
ihrer  ganzen  Fülle  und  Schönheit  aufgeschlossen  hatten,  während  zu- 
gleich das  Erleben  ungeheurer  Ereignisse  ein  stärkeres  Nationalgefühl 
hervorgerufen ,  schien  es  eine  un  ab  weisliche  Pflicht ,  die  Geschichte  der 
deutschen  Litteratur  als  einen  vollberechtigten  Lehr  gegenständ  für  die 
Gymnasien  anzuerkennen. 

Darauf  müssen  wir  hier  verzichten,  genauer  zu  zeigen,  dasz  die- 
jenigen, welche  unsere  Litteratur  zu  so  erfreulicher  Entwickelung  brach- 
ten ,  durch  die  Art ,  wie  sie  in  ihren  Werken  ein  tieferes  Verständnis  der 
Alten  und  den  Einflusz,  den  diese  auf  sie  geübt,  offenbarten,  in  ganz  be- 
sonderer Weise  auch  die  Schulmänner  zu  lebendigerem  Eingehen  auf  das 
in  den  Meisterwerken  der  Alten  Niedergelegte  und  zu  geschmackvollerer 
Behandlung  des  von  demselben  für  die  Schule  Benutzbaren  angeregt 
haben.  Dabei  wird  freilich  sofort  anzunehmen  sein,  dasz  die  mehr  geist- 
reiche, als  gründliche  Behandlung,  welche  Wieland  seinen  Lieblingen 
unter  den  Alten  angedeihen  liesz,  und  die  modernisierende  Manier,  in 
welcher  er  die  alte  Welt  überhaupt  seinen  Zeitgenossen  darstellte,  stren- 
geren Schulmännern  nicht  sonderlich  gefallen  haben  wird,  die  doch  Vieles 
von  ihm  lernen  konnten  und  um  des  Guten  willen,  das  er  ihnen  bot, 
mancherlei  kleine  Sünden  ihm  verzeihen  durften.  Dies  wenigstens  ist 
sicher,  dasz  Wieland  in  keinem  Kreise  so  wenig  für  eine  feinere  und 
freiere  Auffassung  des  Altertums  und  seiner  edelsten  Ueberresle  gewirkt 
hat,  als  in  dem  der  Schulmänner.  Anders  war  es  doch  mit  Lessing. 
Wem  seine  poetischen  Leistungen  nicht  Anerkennung  abnötigten ,'  dem 
flöszte  seine  Klarheit  und  Schärfe  in  der  Behandlung  jedes  von  ihm  er- 
griffenen Gegenstandes,  noch  mehr  vielleicht  seine  überall  heimische  und 
auf  dem  Gebiete  der  antiken  Kunst  und  Wissenschaft  so  sicher  auftretende 
Gelehrsamkeit  Respect  ein.  Und  was  sollen  wir  von  Goethe  sagen?  Seine 
Iphigenia  allein  hat  zu  rechtem  Verständnis  der  antiken  Tragödie  mehr 
beigetragen,  als  ganze  Ausgaben  der  groszen  Tragiker  thun  konnten.  Im 
Allgemeinen  ist  unleugbar,  dasz  die  Entwickelung  unserer  dramatischen 
Poesie,  welche  durch  ihn  und  Schiller  herbeigeführt  worden  ist,  sehr 
Viele  zu  ausgedehnterem  und  eindringenderem  Studium  jener  geführt  und 
mittelbar  wenigstens  auch  die  Einführung  derselben  in  den  Gymnasial- 
unterricht entschieden  hat.  Aber  wir  sind  hier  auf  ein  Feld  gekommen, 
wo  selbst  in  Andeutungen  nichts  abzuschließen  ist.   Es  mag  daher  nur 


46)  Mützell  in  der  Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen  I  S.  36  f. 

47)  So  in  Gotha.    Fr.  Jacob 's  Personalien  S.  16, 

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F.  Bässler:  Willfried.  Episches  Gedicht  in  neun  Gesängen.     555 

noch  daran  erinnert  werden,  dasz  von  besonderer  Bedeutung  für  unsere 
Schulen  dasjenige  geworden  ist,  was  Vosz  als  Meister  in  der  Ueber- 
setzungskunst  geleistet  hat.  Man  wird  nicht  zu  viel  behaupten,  wenn 
man  sagt,  dasz  die  Einführung  der  antiken  Versmasze  in  die  deutsche 
Litteralur ,  wie  sie  den  bisherigen  poetischen  Schulübungen  eine  Ende 
gemacht ,  auch  die  Schulmänner  erst  zu  rechter  Einsicht  in  die  Kunstfor- 
men der  antiken  Poesie ,  zu  rechter  Einsicht  in  diese  Poesie  selbst  ge- 
führt hat. 

Bei  dieser  erfreulichen  Thatsache  angelangt,  dürfen  wir  unsere  Dar- 
stellung, zu  deren  Fortführung  und  Erweiterung  rechts  und  links  noch 
viel  Stoff  vorläge ,  mit  einigem  Recht  abbrechen. 

Zittau.  H.  Kämmet. 


41. 

Ferdinand  Bässler,  Wilfried.  Episches  Gedicht  in  neun 
Gesängen.  Berlin  1 859.  Verlag  der  Königl.  Geheimen  Ober- 
hofbuchdruckerei (R.  Decker).    Schillerformat.    S.  13*2. 

Das  vorliegende  Epos  hat  bereits  in  mehreren  Zeitschriften  die  ihm 
gebührende  Anerkennung  gefunden,  doch  da  dieselben  meist  nur  eine 
kurze  empfehlende  Anzeige  gebracht  haben,  glauben  wir  dasz  es  nicht 
überflüssig  ist ,  das  Gedicht  einer  eingehenderen  Analyse  des  Inhaltes  der 
Composition  und  der  leitenden  Idee  zu  unterziehen. 

Dasz  des  Verfassers  Vorbild  Hermann  und  Dorothea  war,  ist  bereits 
bemerkt  worden.  Es  führt  hierauf  nicht  blosz  die  äuszere  Einteilung  in 
neun  Gesänge,  sondern  vielmehr  der  Umstand,  dasz  auf  dem  Hintergrunde 
groszartiger  geschichtlicher  und  nationaler  Bewegungen  sich  die  kleinen 
Geschicke  des  Helden  und  der  Hauptfiguren  des  Gedichts  vollziehen.  Doch 
möchten  wir  hierbei  zu  Gunsten  unseres  Verfassers  den  Umstand  hervor- 
heben, dasz  bei  ihm  Wol  und  Wehe  der  Helden  seines  Epos  auf  das  In- 
nigste mit  der  Entscheidung  der  groszen  Zeitfrage  verknüpft  sind,  dasz 
davon,  ob  das  deutsche  Vaterland  bei  Leipzig  frei  wird  oder  nicht,  auch  des 
Helden  und  der  Seinigen  persönliches  Schicksal  abhängt  und  somit  unser 
Interesse  für  das  Ganze  wie  für  die  einzelnen  besonders  im  Gedicht  her- 
vortretenden Persönlichkeiten  von  Anfang  bis  zu  Ende  in  gleichem  Masze 
erregt  und  in  Spannung  gehalten  wird.  Diese  Verknüpfung  macht  nicht 
nur  dem  dichterischen  Geschick ,  sondern  noch  weit  mehr  der  Gesinnung 
des  Verfassers  Ehre ,  dessen  ganzes  Palhos  bei  dem  groszen  Kampfe  ist. 

Wollte  nun  hierbei  jemand  dem  Dichter  Einseitigkeit  und  Beschränkt- 
heit vorwerfen,  weil  sein  Willfried  der  deutsche  Held  als  ein  Bild  der 
Mannhaftigkeit  und  Bravheit,  die  deutschen  Feldherrn  als  edle  Männer  er- 
scheinen ,  dagegen  der  französische  Oberst  Malcoeur  und  der  verrätheri- 
sche  Mühlknappe  Görge  in  häszlkher  Bosheit  sich  darstellen;  so  ist  da- 
gegen zu  sagen,  dasz  diese  Auffassung  die  geschichtliche  Wahrheit  für 


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556      F.  Bässler:  Willfried.    Episches  Gedicht  in  neun  besangen. 

sich  hat.  Denn  waren  nicht  wirklich  alle  guten  Mächte  in  diesem  Kampfe 
auf  Seiten  der  Verbundelen ,  dagegen  die  Mächte  der  Bosheit,  der  Luge 
und  des  Vcrraths  auf  der  Seite  der  Feinde? 

Doch  gehen  wir  nunmehr  zu  der  Betrachtung  des  Einzelnen  über. 
Der  erste  Gesang  führt  uns  den  Willfried,  den  Sohn  eines  alten  würdigen 
Müllers  vor,  wie  er  spät  Abends  in  Verkleidung  in  das  heimatliche,  un- 
weit Leipzig  gelegene,  damals  von  Franzosen  besetzte  Dorf  sich  schleicht 
und  vor  dem  elterlichen  Hause  Einlasz  erbittet.  Er  kommt  aus  dem  Heere 
der  Verbündeten ,  dem  er  angehört ,  von  dem  Feldherrn  selbst  insgeheim 
gesendet ,  um  zu  erkunden ,  ob  sich  Blücher  an  der  Parthe  durchgeschla- 
gen und  den  Bücken  des  Feindes  bedrohe.  Den  Zweck  dieser  seiner  Sen- 
dung vertraut  er  im  zweiten  Gesänge  den  Eltern  an,  nachdem  er  sich 
denselben  kurz  zuvor  zu  erkennen  gegeben.  Hocherfreut  verkündet  ihm 
der  Vater,  wie  er  mit  eigenen  Augen  das  flammende  Möckern  und  Blüchers 
siegreiche  Schaaren  gesehen  habe.  Nachdem  nun  der  Zweck  seiner  Wan- 
derung erreicht,  die  Pflicht  gegen  das  Vaterland  erfüllt  ist,  gedenkt  der 
junge  Krieger  auch  der  Geliebten  seines  Herzens ,  der  Tochter  des  Schul- 
zen, Maria.  Auf  seine  Fragen  erwidert  der  Vater,  oft  komme  die  treff- 
liche Jungfrau  und  wisse  stets  bald  auf  ihn  das  Gespräch  zu  lenken  und 
Nachricht  über  ihn  zu  erlangen.  Er  ist  beruhigt  und  bereitet  sich  zum 
Scheiden ,  tröstend  die  über  die  gefahrvolle  Lage  des  Sohnes  jammernde 
Mutler,  geleitet  vom  Segen  des  Vaters.  Da  tritt  ein  böswilliger  Lauscher 
ein,  der  Mühlknappe  Görge,  welcher  Alles  gehört  hat  und  sie  in  Schrecken 
setzt  durch  die  Mitteilung,  die  ganze  Sache  an  den  im  Orte  lagernden 
französischen  Oberst  Malcoeur  verralhen  zu  wollen.  Vergebens  ermahnt 
ihn  der  alte  Müller  in  ernsten  strafenden  Worten ,  erinnert  ihn ,  wie  er 
einst  halbverhungert  neben  der  Leiche  seiner  Mutter  von  ihm  aufgefunden 
und  gerettet  worden  sei.  Höhnisch  erwidert  der  Knappe,  nicht  wisse  er 
es  ihm  Dank,  ihn  der  Freiheit  beraubt  zu  haben,  reichlich  sei  der  Müller 
auszerdem  durch  seine  Dienste  bezahlt  —  doch  gegen  ein  stattlich  Gebot 
sei  er  bereit,  dem  Sohne  das  Leben  zu  schenken.  Die  jammernde  Mutter 
bietet  ihm  Alles  an,  was  im  Besitze  des  Müllers  sich  findet,  doch  Görge 
verlangt  auszer  der  Teilung  des  Erbes  noch  besonders ,  dasz  ihm  Maria, 
die  Braut  Willfried's ,  überlassen  werde.  Da  reiszt  dem  jungen  Krieger 
die  Geduld,  zürnend  hält  er  dem  frechen  Bösewicht  das  Terzerol  vor, 
läszt  ihm  vom  Vater  die  Hände  auf  dem  Bücken  zusammenbinden  und 
nimmt  ihn  in  schneller  Flucht  mit  sich  fort.  Stumm  wandern  die  Beiden 
durch  die  Nacht  dahin.  Da  auf  einmal  nahet  sich  eine  französische  Dra- 
gonerpatrouille, Willfried  sieht  sich  genötigt,  rasch  die  Bande  Görge's  zu 
lösen,  um  allein  in  eiligerer  Flucht  den  nahen  Wald  erreichen  zu  können. 
Doch  noch  früher  holen  ihn  die  Dragoner  ein ,  ein  Säbelhieb  wird  auf  ihn 
gefürt,  er  weicht  rasch  aus  und  schieszt  den  Verfolger  vom  Pferde.  In 
der  Verwirrung,  welche  die  üebrigen  aufhält,  entkommt  WiUfried  glück- 
lich in  das  Dickicht.  —  So  weit  der  Inhalt  des  dritten  und  vierten  Ge- 
sanges. Der  fünfte  schildert  den  weiteren  Verlauf  der  Flucht ,  wie  sie 
durch  verborgene  Waldpfade  fortgesetzt  wird  bis  zu  einem  am  Bande  des 
Waldes  gelegenen  Hügel ,  von  welchem  aus  Willfried  schon  die  preuszi- 


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F.  Bässler:  Willfried.    Episches  Gedicht  in  neun  Gesängen.      557 

sehen  Wachtfeuer  flimmern  sieht.  Da  auf  einmal  leuchtet  auch  von  der 
andern  Seite  ein  rothlicher  Schein  auf,  die  Richtung  ist  unverkennbar 
nach  der  Mühle  des  Vaters  hin:  das  ist  Görge's  und  der  französischen 
Feinde  niedrige  Rache !  Sie  haben  das  väterliche  Besitztum  in  Brand  ge- 
steckt —  und  hier  steht  nun  Willfried  ohnmächtig  den  Seinen  zu  helfen. 
Auf  das  Tiefste  bekümmert  gelangt  er  in  das  preuszische  Lager ,  er  wird 
zum  Feldherrn  geführt,  den  er  unter  seinen  Generälen  bei  den  Schlacht- 
plänen findet  (drei  jüngere  Offiziere  lesen  den  Gesang  von  Chriemhield's 
Leiden  und  Rache,  was  uns  etwas  unwahrscheinlich  vorkommen  will). 

Er  stattet  seinen  Bericht  ab.  Aber  der  dankbare  gütige  Fürst  merkt, 
dasz  auf  Willfried's  Herz  ein  schwerer  Kummer  laste,  und  fragt  teilneh- 
mend nach  der  Ursache  desselben.  Willfried  erzählt,  wie  der  verräthe- 
Mühlknappe  die  Rache  der  Franzosen  auf  seinen  Vater  gelenkt,  der  gewis 
nun  statt  seiner,  des  entkommenen  Spions,  in  ihren  Händen  sich  befinde, 
und  wie  er  seine  ganze  Hoffnung,  den  Vater  zu  befreien,  auf  den  morgen- 
den Schlachtlag  gesetzt  habe.  Leider  aber  sieht  sich  hier  der  Fürst  ge- 
nötigt, ihm  auch  diesen  Halt  zu  nehmen ,  da  der  morgende  Tag  notwen- 
diger Weise  ein  Rasttag  sein  müsse ,  damit  die  erschöpften  Krieger  zum 
letzten  entscheidenden  Stosze  wieder  Kraft  sammeln  könnten.  —  Wir 
verlassen  den  tief  betrübt  sein  Lager  aufsuchenden  Willfried,  um  im  sech- 
sten Gesänge  die  Vorgänge  in  der  Heimat  zu  vernehmen.  Der  junge  Krie- 
ger hatte  das  Richtige  geahnt,  wir  finden  die  Mühle  niedergebrannt,  den 
Vater  Willfried's  im  Kerker,  verurteilt  zu  Pulver  und  Blei  wegen  Ver- 
raths  an  des  Kaisers  Sache.  Vergebens  hat  der  wackere  Schulze  den 
Oberst  Malcoeur  bestürmt,  dieser  besteht  herzlos  auf  dem  gefällten  Spru- 
che. —  Die  Tochter  des  Schulzen,  Maria  geht  in  ihres  Herzens  Betrübnis 
in  das  Gärtchen,  um  in  der  Einsamkeit  Trost  zu  suchen.  Da  tritt  der 
tückische  Görge  ein ,  von  niederer  Begierde  entflammt ,  verspricht  er  ihr 
den  Alten  zu  reiten  durch  eine  Stelle  der  Wand ,  an  der  die  Ziegel  leicht 
sich  lösen  lieszen,  nur  ihm  sei  die  Stelle  bekannt  und  er  wolle  das  Wag- 
stück unternehmen ,  falls  Maria  auf  das  Kreuz  schwöre ,  sein  Weib  wer- 
den zu  wollen.  Aber  Maria  weist  ihn  in  stolzer  Verachtung  ab ,  je  lei- 
denschaftlicher er  in  sie  dringt,  um  so  fester  bleibt  sie,  und  als  er  zuletzt 
in  drohende  Flüche  ausbricht,  flüchtet  sie  in  ihr  stilles  Kämmerlein.  Dort 
sucht  sie  im  brünstigen  Gebet  Ruhe  und  Trost,  und  als  sie  hier  auf  den 
Knieen  liegt,  durchzuckt  sie  plötzlich  wie  aus  höherer  Eingebung  der 
Gedanke,  sich  selbst  aufzumachen  und  im  deutschen  Lager  dem  gefange- 
nen Greise  Hülfe  zu  suchen.  Soweit  der  siebente  Gesang.  —  Der  achte 
führt  uns  in  das  preuszische  Lager.  Bei  erbeutetem  Weine  lagert  eine 
Schaar  munterer  Krieger.  Zu  ihnen  tritt  ein  alter  brandenburgischer 
Husar  und  erzählt,  er  habe  mit  seinen  Kriegsgefahrten  auf  der  Patrouille 
einen  seltenen  Fang  gethan.  Im  Dunkel  der  Nacht  hätten  sie  plötzlich 
einen  Hülferuf  gehört,  man  habe  eine  französische  Schaar  erblickt,  sei 
darauf  losgestürmt  —  und  als  die  Feinde  verjagt  sind,  habe  sich  plötz- 
lich zitternd  und  hülfeflehend  ein  Mägdlein  gezeigt,  wie  er  nie  ein  so 
schönes  gesehen.  Sie  habe  verlangt  den  Fürsten  zu  sprechen  und  ihm 
dem  Graubart,  den  das  Alter  vor  Thorheit  schütze,  sei  der  Auftrag  ge- 


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558     F.  Bässler:  Willfried.   Episches  Gedicht  in  neun  Gesängen. 

worden,  die  holde  Beute  in  das  Lager  zu  geleiten.  —  Wilfried,  der  an- 
ter den  Zuhörern  sich  befindet ,  ahnt  gleich ,  wer  wol  die  Wallerin  sein 
möge,  doch  ehe  er  weitere  Entschlösse  fassen  kann,  wird  er  zum  Fürsten 
entboten,  der  ihm  das  Geschehene  erzählt  und  ihn  beauftragt,  mit  zwölf 
wackern  Männern  durch  geschickten  Handstreich  den  alten  Willfried  aus 
französischen  Händen  zu  befreien.  Der  Bote,  fugte  der  gütige  Fürst 
hinzu,  der  jene  Nachrichten  gebracht,  harre  noch  seiner.  Willfried  eilt 
davon  und  hält  bald  seine  Maria  in  den  Armen. 

Im  Anfange  des  neunten  Gesanges  sehen  wir  uns  in  des  alten  Win- 
fried* s  Kerker  versetzt.  Ruhig  schlummert  er  noch  am  Todesinorgeii,  da 
weckt  ihn  der  teuflische  Görge  an  der  Spitze  der  Schergen  mit  höhni- 
schen Worten  zum  letzten  Gange,  den  er  würdig  und  ehrfurchtgebietend 
antritt.  Vergebens  fleht  unterwegs  der  Schulze  noch  einmal  den  kalten 
Malcoeur  an.  Hart  weist  ihn  dieser  zurück.  Der  alte  Willfried  aber  er- 
klärt ,  er  sei  bereit  zu  sterben  und  sterbe  gern ,  da  es  ein  Tod  für  das 
Vaterland  sei.  —  Und  weiter  geht  der  Zug  sich  dem  Ziele  nähernd.  Da 
ertönt  auf  einmal  Schusz  um  Schusz.  Dem  Lärme  sprengt  Malcoeur  mit 
den  Seinen  entgegen.  Ihn  aber  trifft  aus  sicherem  Verstecke  Willfried's, 
des  jungen  Kriegers  nie  fehlende  Kugel.  Im  Todeskampfe  zerrt  seine 
Hand  den  Zügel  des  Pferdes ,  das  wild  aufbäumend  sich  überschlägt  und 
in  seinem  Falle  den  danebenstehenden  Görge  unter  sich  zermalmend  be- 
gräbt. —  Rasch  hintereinander  feuern  die  Büchsen  der  preuszischen 
Jäger  unter  den  verwirrten  Haufen,  jede  Kugel  trifft  ihren  Mann,  was 
noch  steht,  wird  in  schnellem  Bajonnetangriff  vertrieben.  —  Und  wie 
hier  so  singen  in  selbiger  Zeit  ringsum  die  deutschen  Schaaren .  und  der 
helle  Jubeilon  der  Freude  unseres  Willfried  über  die  Rettung  seines  Vaters 
geht  über  in  den  Hymnus  der  Freude  und  des  Dankes  für  die  Rettung  des 
gesamten  deutschen  Vaterlandes. 

Der  leichte  Fortschritt  und  deutliche  Verlauf  der  Handlung  wird 
nach  der  eben  angegebenen  Darlegung  jedem  Leser  klar  geworden  sein. 
Das  Ganze  ist  voll  Bewegung ,  Leben  und  Farbe  und  ist  doch  echt  episch 
gehalten ,  denn  auch  auf  nebensächlichen  Momenten  ruht  die  dichterische 
Schilderung  in  behaglicher  Breite.  So  gleich  im  ersten  Gesänge  bei  der 
Beschreibung  der  Häuslichkeit  des  alten  Müllers,  die  in  einigen  Punkten 
an  Vosz  siebzigsten  Geburtstag  erinnert.  Echt  homerischen  Geistes  sind 
die  Schilderungen  des  vierten  Gesanges  S.  51  u.  53  vom  Stier,  der  wider- 
strebend zum  Schiachten  geführt  wird,  und  vom  flüchtigen  Hirsch,  auch 
im  fünften  Gesänge  (S.  72)  sind  die  aufsteigenden  Raketen  wol  im  Geiste 
von  Odyss.  2,  147  ff.  wie  ein  cfjjüia  aufgefaszt,  und  ein  echter  Abkömm- 
ling der  Kampfesscenen  der  Ilias  ist  Gesang  neun  die  Darstellung  vom 
Falle  Malcoeur's  und  des  durch  das  Rosz  zerschmetterten  Görge.  —  Der 
Vers  ist  mit  Leichtigkeit  und  der  Freiheit  behandelt,  die  sich  schon  Goethe 
nahm  und  ohne  die  der  epische  Hexameter  im  Deutschen ,  wo  wir  kein 
Quantitäts  -  sondern  nur  ein  Betonungsgesetz  haben ,  nicht  zu  denken  ist. 

Magdeburg.  Dr.  Siegfried. 


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F.  Bässler:  Legenden  und  Balladen.  559 

42. 

Ferdinand  Bässler,  Legen^u  und  Balladen.  Neue  Ausgabe. 
Mit  12  Holzschnitten.  Berlin  1851*  Verlag  der  Deckerschen 
Geheimen  Oberhofbuchdruckerei.    Schillerformat.   S.  144. 

Ein  Legendendichter  hat  manche  Klippen  zu  vermeiden.  Er  soll  in 
seinem  Liede  einen  volksmäszigen  Ton  anschlagen,  ohne  zu  der  Trivialität 
des  Leiermanns  herabzusteigen,  er  soll  die  erhabenen  Gestalten  des  christ- 
lichen Altertums  dem  kindlichen  Sinne  des  Volks  nahe  bringen,  und  doch 
sollen  jene  von  ihrer  Grösze,  ihrer  Erhabenheit  nichts  einbüszen,  endlich 
soll  sein  Lied  nicht  eine  blosze  Erzählung  enthalten ,  sondern  es  soll  in 
diese  zugleich  höhere  Wahrheiten  einkleiden,  welche  mit  der  Geschichte 
dem  Leser  in  das  Herz  gegeben  werden. 

Dem  Verfasser  der  vorliegenden  Legenden  ist  es  gelungen,  diesen 
schwierigen  und  vielseitigen  Anforderungen  gerecht  zu  werden.  Seine 
Dichtungen  haben  etwas  von  jener  schönen  Simplicität  der  Form  und 
Herzlichkeit  des  Tones,  welche  uns  in  der  herlichen  Legende  Goelhe's: 
fals  noch  verkannt  und  sehr  gering  unser  Herr  auf  Erden  gieng',  so  an- 
ziehen ,  und  schlieszen  sich  in  ihrer  ganzen  Art  den  geschichtlichen  Stoff 
aufzufassen  und  einzelnen  Zügen  desselben  durch  sinnige  Deutung  ein  hö- 
heres geistiges  Gepräge  zu  verleihen  am  nächsten  den  Legenden  Gustav 
Schwab's ,  besonders  der  von  den  heiligen  drei  Königen  an. 

Die  drei  ersten  Gedichte  behandeln  Stoffe  aus  der  apokryphischen 
Geschichte  von  der  Kindheit  des  Heilandes  und  beruhen  vorzugsweise  auf 
den  Erzählungen  des  Evangelium  Thomae.  Die  erste  Legende  erzählt, 
wie  die  heilige  Familie  auf  der  Flucht  nach  Aegypten  in  der  Wüste  dem 
Verschmachten  nahe  von  zwei  Dattelpalmen  gespeist  wird ,  welche  ihre 
hoch  in  den  Kronen  prangenden  Früchte  in  demütigem  Neigen  dem  gött- 
lichen Kinde  darbieten.  Schön  ist  in  diesem  Gedichte  der  Gegensatz  der 
Herlichkeit  des  gelobten  Landes  und  der  schrecklichen  Oede  der  Wüste 
dargestellt.  —  Aus  der  zweiten  Legende,  welche  uns  das  Jesuskind 
vorführt,  wie  es  auf  dem  Dache  mit  seinen  Gespielen  Federchen  in  die 
Luft  fliegen  läszt  und  einen  herabgestürzten  kleinen  Gefährten  wieder 
vom  Tode  erweckt,  heben  wir  die  sinnige  Deutung  der  fliegenden  Feder 
auf  die  Menschenseele  heraus,  die  von  der  Gewalt  der  Erde  ebenfalls 
hinabgezogen,  durch  des  heiligen  Geistes  sanftes  Wehen  aber  himmelan 
geführt  werde. 

In  der  dritten  Legende  von  dem  Jesuskinde,  das  Vöglein  aus  Thon 
bildet  und  solche  dann  fliegen  läszt,  ist  die  Wendung  neu,  dasz  Letzteres 
in  dem  Augenblicke  geschieht ,  in  welchem  ein  alter  Pharisäer  das  ganze 
Spiel  werk,  weil  es  Sabbatsarbeit  sei,  zertrümmern  will.  Dadurch  nun, 
dasz  Gott  selbst  im  entscheidenden  Augenblicke  den  Vögeln  Leben  ver- 
leiht, richtet  sich  der  Vorwurf  des  thörichten  Eiferers  nunmehr  gegen 
diesen. 

Das  fünfte  und  sechste  Gedicht  bringen  Scenen  aus  dem  Leben  des 
Auferstandenen ,  di&  ebenfalls  der  apokryphischen  Geschichte  von  Christo 


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560  F.  Bässler:  Legenden  und  Balladen. 

angehören.  Jenes  erzählt ,  wie  der  Auferstandene  der  Dornenkrone  wie- 
der Wurzel  zu  schlagen  und  zu  knospen  gebietet.  Diese  aber  sich  ent- 
setzend ob  den  noch  blutigen  von  ihr  eingedruckten  Spuren  auf  des  Hei- 
landes Stirn  blüht  als  weisze  Rose  auf. 

Die  sechste  Legende  ist  'vom  Rah'  und  Zeisig'.  Der  schwarze  Vogel 
laszt  ein  verräterisches  Krächzen  ertönen ,  als  der  Heiland  das  Grab  ver- 
läszt ,  und  wird  zur  Strafe  dafür  von  dem  Herrn  zum  Vogel  des  Hochge- 
richts verdammt.  Dem  Zeisig,  der  dem  Auferstandenen  ein  leises  lieb- 
liches Triumphlied  entgegenbringt,  spricht  dieser  zum  Danke  dafür 
Sicherheit  seines  Nestes  zu. 

Die  vierte  und  siebente  Legende  gehören  der  Heiligengeschichte  an. 
'Klein  Benedict'  geht  zum  Brunnen  und  wirft  seinen  Krug  entzwei ,  aber 
auf  sein  .Gebet  setzen  sich  die  Scherben  wieder  zusammen.  Sinnig  ist 
hier  die  Deutung  auf  das  zerbrochene  Lebensglück ,  das  Gott  auf  unsere 
Bitte  so  oft  wiederherstellt.  Die  Schilderung  ist  an  manchen  Stellen 
von  besonderer  Lieblichkeit.    So  heiszt  es,  als  das  Unglück  geschehen: 

'ins  hohe  Riedgras  warf  er  sich 

Und  weint'  und  schluchzte  ängstiglich. 

Und  allen  Blümlein  rings  umher 

Vor  Kummer  ward  das  Köpfchen  schwer, 

Sie  weinten  um  den  schönen  Krug 

Den  dort  der  böse  Quell  zerschlug , 

Doch  spöttisch  rann  der  böse  Quell  vorbei 

Und  rief:  Klein  Benedict!  ei,  ei 

Wie  gieng  der  schöne  Krug  entzwei?' 

'St.  Petri  Tod'  berichtet,  wie  St.  Peter  dem  Märtyrertode  entrinnen  will. 
Auf  sein  Gebet  Öffnet  sich  wie  ehemals  die  Kerkerpforle ,  er  schleicht 
durch  Roms  Straszen.  Da  erscheint  ihm  des  Herrn  leidende  Gestalt  und 
mahnt  ihn  an  seine  Pflicht.  Freiwillig  kehrt  er  um  'und  trug  getrost  am 
andern  Tag  sein  Kreuz  dem  lieben  Meister  nach'.  Dieses  Gedicht  bat  mit 
groszer  Kunst  erhabene,  ja  ergreifende  Züge  wie  die  Schilderung  der  Lei- 
densgestalt Christi  vereinigt  mit  recht  volksmäszigen  neckischen,  wie  sie 
z.  B.  in  folgenden  Versen  hervortreten :  'der  Mond  barg  schelmisch  sein 
Gesicht  und  sprach:  Lauf!  ich  verrath'  dich  nicht!' 


Unter  den  Balladen  führt  die  'Alpenreise  der  Pflanzen'  in  phantasie- 
reicher Schilderung  voll  Glanz ,  Farbe  und  Bewegung  den  Gedanken  aus, 
wie  die  Pflanzenwelt  nach  der  Schöpfung  aus  der  Ebene  in  die  bisher 
kahlen  Berge  zieht.  Wie  ein  gewaltiges  Heer  machen  sich  Bäume  und 
Sträucher  auf;  die  Gebieter  der  Höhen,  der  Nebel,  der  Frost,  die  Stürme 
und  Wetter  widersetzen  sich  den  Eindringlingen.  Vergebens !  Die  hohe 
knorrige  Eiche  trotzt  allen  Stürmen,  mit  ihren  wuchtigen  Armen  führt 
sie  mächtige  Streiche  nach  links  und  rechts  und  presst  endlich  die  ge- 
fesselte Windsbraut  an  ihre  Brust.  Die  Wetter  fliehen  'mit  flatternden 
Locken'.   Die  Bäume  breiten  sich  zum  dichten  Wald  auf  den  Höhen  aus. 

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F.  Bässler:  Legenden  und  Balladen.  561 

—  Doch  hoher  noch  und  weiter  treibt  der  Wagemut  die  Före,  die  Fichte 
und  die  Tanne.  Mit  *nadelscharfer  Wehr'  dringen  sie  in  dichten  Reihen 
vor.  Die  Lawine  bereitet  sich  mit  jähem  Sprunge  unter  sie  zu  schmettern, 
doch  der  Alte  der  Alpenkrone  hält  sie  zurück,  es  genügt,  dasz  er  seinen 
Eiseshauch  sende.  Die  riesigen  Tannen  spaltet  der  Winter,  nur  weni- 
gen gelingt  es,  kümmerlich  am  Boden  sich  krümmend  ihr  Dasein  zu  fri- 
sten. —  Und  doch,  was  den  Riesen  nicht  gelang,  dem  winzigen  Völkchen 
der  Gräser,  der  Maszliebchen ,  der  Primeln  gelingt  es,  dem  starren  Win- 
ter Raum  abzudringen,  denn  auch  ihn  erfüllt  mit  Lust  das  holde  Spiel  der 
Frühlingskinder  und  hoch  oben  pflanzt  die  Alpenrose  csiegerglühend*  das 
Banner  auf. 

Die  Ballade  'Suchen  und  Verfehlen'  kann  sich  an  Innigkeit  der  Em- 
pfindung und  Anmut  der  Form  den  besten  Sachen  Uhland's  an  die  Seite 
stellen.  —  An  diesen  Dichter  erinnert  auch  die  Ballade  cam  Lauscheberg', 
verwandte  Züge  hat  sie  wenigstens  mit  Uhland's  Harald.  —  Das  'Alp- 
drücken' behandelt  in  äuszerst  anmutiger  zarter  Weise  die  bekannte  deut- 
sche Sage,  nach  welcher  der  Alp  eine  schöne  Fee  ist,  die  sich  Nachts 
einschleicht  und  durch  Verstopfen  des  Schlüssellochs  gebannt  werden 
kann.  —  Ebenfalls  der  deutschen  Sage  entnommen  ist  die  Ballade  'am 
St.  Brigittentag'.  Derselbe  ist  zuerst  Unglückstag,  denn  er  trennt  durch 
trauriges  Geschick  Mutter  und  Kind,  später  aber  nach  12  Jahren  wird  er 
Freuden  tag,  denn  er  führt  beide  wieder  zusammen. 

Aus  der  Reformationsgeschichte  sind  zwei  Stoffe  vom  Verfasset*  be- 
handelt. 'Magdalena  Luther'  erzählt  den  Traum  der  Katharina  Luther, 
welche  die  kranke  Magdalena  von  zwei  schönen  Jünglingen  zum  Hoch- 
zeitsreigen abgeholt  sah,  was  jene  auf  Genesung,  Mclanchthon  aber  auf 
Heimführung  zur  himmlischen  Hochzeit  deutete.  —  'Elisabeth  von  Bran- 
denburg' die  flüchtige  Gattin  Joachim's  wird  von  Luther  getröstet  durch 
die  Weissagung,  dasz  aus  ihrem  Hause  des  Evangeliums  festester  Hort 
erstehen  werde.  —  Die  Geschichte  vom  *  Skieiäufer  %  der  die  Feinde  ge- 
zwungen über  den  Kiölengrat  führt,  das  Vaterland  aber  dadurch  rettet, 
dasz  er  jene  an  einen  Abgrund  bringt,  in  welchen  er  sich  zuerst  stürzt, 
ist  bekannt,  gewinnt  aber  hier  durch  die  spannende  Darstellung  neues 
Interesse.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Ballade  'die  Polen  vor  Rakel',  welche 
von  Irrlichtern,  die  ihnen  als  gespenstisches  Heer  erscheinen,  in  die  Mo- 
räste gelockt  werden  und  versinken. 

Die  letzte  Baliade:  Mas  rettende  Lied'  ist  im  Geiste  unserer  mittel- 
hochdeutschen Poesie  geschaffen.  Vielfache  Wendungen  erinnern  an  das 
Nibelungenlied  (wie  *Wol  mir  ob  dieser  Sendung,  vgl.  so  wol  mich  dirre 
raaere,  oder  fnie  mochten  Waidgesellen  so  frohgemutet  sein',  oder  *mit 
Treuen  sprach  er  so '  u.  dg!.).  Auch  die  Strophe  ist  abgesehen  vorf  dem 
Schluszverse  nach  der  Heldenstrophe  gebildet.  Die  dämonische  Macht  des 
Gesanges  über  den  Sänger  selbst  und  seiner  mächtig  strömenden  Wogen 
gewaltige  Wirkung  glaubt  man  beim  Lesen  dieses  Liedes  mit  zu  durch- 
leben, das  trotz  der  in  ihm  herschenden  aufregenden  Klänge  zuletzt  doch 
wieder  zur  ruhigen,  echt  epischen  Haltung  zurückkehrt. 


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562  F.  Bässler:  Hellenischer  Heldensaal  oder  Geschichte  der  Griechen. 

Wir  glauben  genug  gelhan  zu  haben,  um  in  dem  Leser  das  Verlangen 
zu  erregen ,  statt  dieser  farblosen  Umrisse  die  trefflichen  Gedichte  selbst 
durchzulesen. 

Magdeburg.  Dr.  Siegfried. 


48. 

Ferdinand  B  äs  zier ,  Hellenischer  Heldensaal  oder  Geschichte 
der  Griechen  in  Lebensbeschreibungen  nach  den  Darstellun- 
gen der  Allen.  2.  Auflage.  Mit  32  in  den  Text  gedruckten 
Holzschnitten.  Berlin  1862.  Verlag  der  Königl.  Geh.  Ober- 
hofbuchdruckerei (R.  Decker),  gr.  8.   S.  VIII.  359. 

•  Das  vorliegende  Werk,  das  jedem  Lehrer  der  Geschichte  auf  höheren 
Schulen  bekannt  sein  musz,  von  keinem  ohne  Nutzen  gebraucht  sein  wird, 
bedarf  keiner  eigentlichen  Empfehlung,  da  es  sich  bereits  selbst  einen 
weitgezogenen  Kreis  seiner  Wirksamkeit  geschaffen  hat.  Wir  beschrän- 
ken uns  daher  beim  Erscheinen  dieser  2.  Auflage,  die  sich  von  der  ersten 
materiell  nur  durch  unerhebliche  Zusätze  und  Veränderungen,  äuszerlich 
durch  gröszeres  Format  und  in  den  Text  eingedruckte,  fein  ausgeführte 
Holzschnitte  unterscheidet,  darauf,  die  hauptsächlichsten  Vorzuge  des  Bu- 
ches kurz  zu  bezeichnen.  —  Als  den  wichtigsten  möchten  wir  das  Ge- 
schick hervorheben,  mit  dem  diese  für  die  Jugend  berechnete  biographi- 
sche Geschichtserzählung  auf  die  fast  überall  selbst  redenden  Quellen 
zurückgeführt  ist.  Die  Heroen  des  griechischen  Volkes  treten  so  vor  den 
jugendlichen  Geist  hin,  wie  sie  von  den  unübertroffenen  Historikern  der 
Alten  selbst  aufgefaszt  und  dargestellt  wurden.  Die  Ereignisse  werden 
vorgeführt  in  der  ergreifenden  Einfachheit  und  Treue,  mit  der  nur  die 
Alten  das  Geschehene  zu  schildern  wüsten.  Die  Reden,  welche  in  den 
weltgeschichtlichen  Momenten  zündend  einschlugen  und  jene  gewaltigen 
Wirkungen  hervorbrachten ,  von  denen  die  Geschichte  berichtet ,  werden 
meist  in  treuer  und  geschickter  Uebersetzung  nach  den  Quellen  gegeben. 
—  Es  werden  auf  diese  Weise  dem  Schüler,  indem  ihm  dem  Anscheine 
nach  nur  der  geschichtliche  Stoff  geboten  wird,  unvermerkt  zugleich  be- 
deutende Schätze  aus  der  griechischen  Litteratur  zugeführt  und  ein  Fer- 
ment der  Bildung  wird  in  seine  Seele  gesenkt ,  das  der  Verfasser  mit  Ge- 
schick aus  den  Alten  herzuleiten  weisz,  indem  er  zugleich  sich  selbst 
und  seine  grosze  Mühe  bei  dieser  Behandlung  des  Gegenstandes  mit 
Selbstverleugnung  zurücktreten  laszt.  Diese  nach  Inhalt  und  Form,  wir 
möchten  sagen  classische  antike  Haltung  des  ganzen  Werkes,  welche 
durch  die  hier  und  da  passend  eingefügten  Anführungen  aus  der  neueren 
Litteratur  keineswegs  gestört  wird ,  zeichnet  dasselbe  vor  vielen  andern 
Büchern  verwandten  Inhaltes  aus.  ■—  Dasz  der  Verfasser  keine  allgemeine 
Schilderungen  der  Zeitalter,  ihrer  Zustände,  Sitten  u.  dgl.  gegeben  hat, 
ist  jedenfalls  zu  billigen ,  denn  nichts  pflegt  in  den  historischem  Lehr- 


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H.  Rheinliard:  Roma  vetus.  563 

büchern  im  höheren  Grade  unklar,  einseitig  und  unvollständig  zu  sein  als 
derartige  allgemein  gehaltene  Charakteristiken.  —  Ueber  den  Vorzug  der 
biographischen  Geschichtserzählung  für  das  jugendfiche  Alter  braucht 
wol  in  jetziger  Zeit  kein  Wort  mehr  verloren  zu  werden.  So  möge  denn 
das  Buch  seine  Wanderung  zum  Wole  der  Schulen  von  Neuem  antreten. 
Je  mehr  der  Lehrer  aus  ihm  lernen  wird,  selbst  zu  schweigen  und  in 
seiner  Geschichtserzählung  die  Alten  aus  sich  heraus  reden  zu  lassen, 
je  besser  wird  es  um  den  geschichtlichen  Unterricht  in  den  mittleren 
Classen  unserer  höheren  Schulen  bestellt  sein. 

Magdeburg.  Dr.  Siegfried. 


Roma  vetus.  Inusum  scholarum  edidit  Hermannus  Rhein- 
Aarrf,  gymn.  Stuttgart  professor.  Stuttgart,  Krais  et  Hoff- 
mann; groszer  Plan  in  4  colorierten  Blättern. 

Hr.  Prof.  Rheinliard,  der  schon  durch  seine,  mit  einem  Vorwort 
des  Hrn.  Prälaten  v.  Roth  herausgegebenen  griechischen  und  römischen 
Kriegsaltertümer  der  studierenden  Jugend  die  Bekanntschaft  mit  der  rea- 
len Seite  des  classischen  Altertums  durch  Ermöglichung  eigner  Anschau- 
ung erleichtert  hat,  hat  sich  durch  diesen  Plan  von  Rom  ein  neues  Ver- 
dienst um  dieselbe  erworben,  indem  er  die  Gelegenheit  bot,  die  Schul- 
ziramer  mit  einer  Wandkarte  zu  schmücken,  deren  Betrachtung  dem 
strebsamen  Schüler  an  sich  von  groszem  Interesse  sein  musz  und  für  so 
manche  Stelle  eines  römischen  Schriftstellers,  welche  ohne  Orientierung 
in  der  Oertlichkeit  nur  halb  oder  gar  nicht  verstanden  werden  kann ,  das 
beste  Erklärungsmittel  abgibt.  Der  Plan  an  sich  kostet  l%Thlr.,  auf  Lein- 
wand aufgezogen  3  Thlr.  Auf  demselben  ist  die  Ausdehnung  der  Stadt,  so 
weit  sie  die  Servianische  Mauer  umschlosz,  so  wie  diejenige,  welche  sie 
zur  Zeit  der  Aufführung  der  Aurelianischen  Mauer  hatte,  zu  sehen,  und, 
was  eigentlich  über  die  auf  dem  Titel  gestellte  Aufgabe  hinausgeht,  auch 
die  Vergröszerung  angegehen,  welche  die  Stadt  unter  Urban  VIII  erfuhr. 
Die  14  Districte  (regiones)  der  Stadt  sind  durch  verschiedene  Farben  kennt- 
lich gemacht.  Es  ist  dabei  ein  kleines  Versehen  vorgefallen,  indem,  we- 
nigstens auf  dem  uns  vorliegenden  Exemplare,  die  Farbe  der  VII.  Region 
statt  bis  zur  via  Flaminia  nur  bis  zu  dem  Rande  des  Blattes  geht,  welches 
von  der  linken  Seite  her  in  dieselbe  hineinreicht,  das  sich  überhaupt  nicht 
ganz  richtig  anschlieszt,  indem  die  Zeichnung  nach  oben  etwas  verkürzt 
ist.  Die  einzelnen  Regionen  sind  mit  römischen  Ziffern  bezeichnet  und 
mit  ihren  Namen  versehen.  Der  freie  Raum  an  den  vier  Ecken  ist  zu  Ab- 
bildungen der  bedeutendsten  Reste  von  alten  Gebäuden  benützt,  teils  in 
ihrer  jetzigen  Gestalt,  wie  die  schiffähnliche  Untermauerung  der  Tiber- 
insel, das  Theater  des  Marcellus,  das  forum  Romanum,  die  moles  Ha- 


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564  U.  Rheinhard:  Roma  velus. 

driani  (Engelsburg),  das  araphilheatrura  Flavii  (Colosseum) ,  der  Bogen 
des  Sepltmius  Severus,  teils  nach  Möglichkeit  restauriert,  wie  das  Pan- 
theon und  der  Titusbogen.  Was  die  Gontroversen  der  römischen  Topo- 
graphen betrifft,  ist  er  in  mehreren  Punkten,  und  wol  mit  Recht,  der 
Ansicht  W.  A.  Becker's  gefolgt,  so  in  der  Stelle,  welche  er  dem  Jupiler- 
tempel  auf  dem  Gapitol  anweist,  in  der  Ordnung  der  unter  dem  Capilol 
gelegenen  Tempel ,  ferner  darin ,  dasz  er  keine  navalia  unter  dem  Aven- 
tin  annimmt,  sondern  nur  oben,  den  pratis  Quinctiis  gegenüber;  dagegen 
weicht  er  darin  von  ihm  ab ,  dasz  er  unter  der  porta  Triumphalis  nicht 
einen  Triumphbogen  auf  dem  Marsfelde  versteht,  sondern,  wie  hier  aus- 
drücklich bemerkt  ist,  nach  Bunsen,  ein  Thor  am  Ende  der  via  triumpha 
lis,  etwas  westlich  von  den  navalia,  und  den  pons  sublicius  nicht  inner- 
halb der  Stadtmauer  am  forum  Boarium,  sondern  nach  der  gewöhnlichen 
Annahme  auszerhalb  der  porta  Trigemina  angibt.  In  allen  solchen  Fällen 
wäre  namentlich  für  den  Gymnasiallehrer,  welchem  die  hier  maszgeben- 
den  Untersuchungen  wenig  oder  nicht  bekannt  sind,  wünschenswert!!, 
dasz  eine  kurze  Erläuterung  beigegeben  wäre,  welche  über  die  Autori- 
täten der  aufgenommenen  Angaben  und,  in  zweifelhaften  Fällen,  über  die 
Gründe ,  aus  welchen  diesen  der  Vorzug  gegeben  wurde ,  belehrte. 

Eine  schätzbare  Zugabe  bestellt  darin ,  dasz  derselbe  Plan  des  alten 
Rom  in  kleinem  Maszstabe  gedruckt  worden  ist,  welchen  sich  die  Schü- 
ler um  2%  Sgr.  anschaffen  und  zur  Repetition  dessen,  was  ihnen  auf  der 
groszen  Wandkarte  gezeigt  worden  ist,  benützen  können.  Da  in  dem 
kleinen  Raum  nicht  alle  Namen  Aufnahme  fanden,  sind,  wo  deren  viele 
zusammen  kommen ,  blosze  Zahlen  beigeschrieben  und  diese  mit  den  Re- 
gionen an  der  Seite  erklärt.  Statt  der  Abbildungen ,  welche  sich  auf  der 
Wandkarte  finden,  ist  hier  blosz  der  capitolinische  Hügel  samt  dem  forum 
Romanum  und  den  östlich  und  nördlich  anstoszenden  Gebäuden  in  etwas 
gröszerem  Maszstabe  beigegeben. 

Dieser  kleine  Plan  Gndet  sich  übrigens  auch  im 

Atlas  orbis  antiqui.  In  usum  scholarum  edidit Herrn. 
Rheinhard,  gymn.  Stuttg. prof.^ 
welcher  eben  in  demselben  Verlage  erschienen  ist,  als  letzte  der  10  Kar- 
len, welche  in  der  Mitte  zusammengeschlagen,  in  bequemen  Lexikonfor- 
mat zusammengebunden  sind.  Die  übrigen  Karten  sind:  1)  Orbis  terra- 
rum  antiquis  notus,  mit  einer  kleinen  Weltkarte  nach  Ptolemäus;  2)  Ae- 
gyptus  et  Palaestina  mit  kleinen  Planen  von  Alexandrien  und  Jerusalem; 
3)  Imperia  Persarum  et  Macedonum  mit  den  vorderasiatischen  Reichen  in 
kleinerem  und  der  Gegend  am  Paropamisus  und  Indus  in  gröszerem 
Maszstabe;  4)  Asia  minor,  Syria  et  Armenia;  5)  Graecia  cum  insulis,  co- 
loniis  Asiaticis  et  Thracicis  et  Macedonia,  mit  den  Umgebungen  von  Sparta. 
Athen  nebst  der  Stellung  der  Flotten  in  der  Schlacht  bei  Salamis,  Korinth 
und  Troja;  6)  Hispania,  Mauretania  et  Africa  mit  Bezeichnung  der  Be- 
sitzungen der  Karthager;  7)  Gallia,  Germania  et  Britannia;  8)  Imperium 
Romanum  saec.  IV  p.  Ch.  n.;  9)  Italia  mit  einer  besondern  Karte  von  La- 
tium  und  den  Umgebungen  von  Karthago  und  Syrakus.  Der  Druck,  ins- 
besondere der  Namen,  ist  gut,  die  Colorierung  weniger  auf  Schönheit  be- 

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Härtung:  Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen.  565 

rechnet  als  zweckmäszig ,  so  dasz  die  einzelnen  Karten  trotz  des  be- 
schränkten Raumes  ein  anschauliches  Bild  der  betreffenden  Länder  und 
ihrer  politischen  Verhältnisse  geben  und  die  wichtigsten  Wander-  und 
Kriegszüge ,  wie  die  der  Israeliten  aus  Aegypten,  des  Xerxes,  des  jungern 
Cyrus  und  des  Xenophon,  des  Alexander,  des  Hannibal,  bequem  verfolgen 
lassen. 

Erlangen.  L.  f>.  Jan. 


45. 

Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen  für  reifere  Gymnasial- 
schüler,  zugleich  als  Anleitungen  zum  Eindringen  in  den 
Geist  der  besten  deutschen  Dichter  von  J.  A.  Härtung, 
Gymnasialdirector.  Leipzig  1862,  Verlag  von  W.  Engelmann. 
1  fl.  39  xr.  rh. 

Der  deutsche  Unterricht  an  unseren  Gymnasien  ist  in  neuerer  Zeit 
sowol  von  Seite  der  Regierungen  als  der  Fachmänner  besonderer  Auf- 
merksamkeit gewürdigt  worden.  Was  die  Thätigkeit  der  letzleren  be- 
trifft, so  erschienen  sowol  Anleitungen  zum  Stile  als  auch  Aufgabensamm- 
lungen in  groszer  Menge  schnell  auf  einander ,  ein  Zeichen ,  dasz  nach 
solchen  Dingen  groszes  Verlangen  ist,  weil  eben  ein  Bedürfnis  besteht. 
Es  fühlt  nemlich  jeder,  der  mit  dem  deutschen  Unterrichte  zu  thun  hat, 
wol,  dasz  derselbe  noch  immer  bedeutender  Vervollkommnung  bedarf, 
dasz  eine  gewisse  Unsicherheit  herscht  und  die  verschiedensten  Ansichten 
sich  kreuzen  und  oft  schnurstracks  sich  widersprechen.  Wie  schwer  ist 
es  daher  für  den  Einzelnen,  zumal  wenn  er  wie  in  Bayern,  nicht  Fachleh- 
rer der  deutschen  Sprache  ist ,  sondern  noch  den  lateinischen ,  griechi- 
schen und  Geschichtsunterricht  zu  behandeln  hat,  durch  dieses  Gewirr 
sich  durchzufinden  und  zu  einem  sicheren  Urleile  und  zu  einer  festen  und 
zugleich  richtigen  Ueberzeugung  zu  gelangen!  Wie  leicht  aber  auch  bil- 
det er  sich  eine  falsche  Ansicht  und  verschlieszt  dem  nachkommenden 
Besseren  Aug  und  Ohr,  zu  starr  am  Alten  festhaltend,  ein  laudator  tem- 
poris  aeli!  Inzwischen  sind  gerade  in  der  jüngsten  Zeit  so  erfreuliche 
Producte  im  Gebiete  des  deutschen  Unterrichts  zu  Tage  getreten  und  hat 
man  über  viele  Hauptpunkte  des  stilistischen  Unterrichts  sich  soweit  ge- 
einigt, dasz  nur  gedeihliche  Fortschritte  für  die  Schule  daraus  zu  hoffen 
sind. 

Allgemein  wird  wol  jetzt  zugestanden,  dasz  der  deutsche  Unterricht, 
speciell  der  deutsche  Aufsatz,  auf  den  wir  uns  hier  beschränken  wollen, 
sich  an  die  Leetüre  der  Schüler  anschliesze  und  mit  ihr  in  die  engste  Ver- 
bindung trete,  und  dasz  die  Aufgaben  aus  dem  Gesichtskreise  der  Schüler 
genommen  werden  sollen.  So  werden  also  die  antiken  und  modernen 
Classiker,  Geschichte  und  die  Naturwissenschaften  den  passendsten  Stoff 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Pid.  II.  Abt.  1864.  Qft.  11.  39 


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566  Härtung:  Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen. 

zu  deutschen  Aufsätzen  liefern.  Dasz  aber  hiemit  ein  groszer  Ideenkreis 
umschlossen  werde,  sieht  jeder  ein.  Der  Schüler  bewegt  sich  zwar  nur 
zwischen  Elternhaus  und  Schulstube  und  kommt  nur  seilen  in  andere 
Umgebungen,  aber  dennoch  bleibt  er  nicht  auf  diesen  kleinen  Baum,  auf 
die  wenigen  Erfahrungen,  die  er  hier  macht,  beschränkt,  sondern  durch 
den  lebendigen  Unterricht  und  die  Leetüre  wird  sein  Gedankenreich  und 
auch  seine  Erfahrung  bedeutend  erweitert  und  bereichert. 

Wenden  wir  nun  diese  allgemeinen  Bemerkungen  zunächst  auf  das 
obige  Buch  an ,  so  werden  wir  finden ,  dasz  der  auch  sonst  rühmlich  be- 
kannte Hr.  Verf.  seine  Themata  aus  dem  Schülerkreise,  wie  er  eben  be- 
zeichnet wurde,  mit  Ausnahme  der  Naturwissenschaften,  genommen  habe: 
Leetüre  der  Classiker  und  Geschichte  bilden  die  Hauptgrundlage.    Wie 
Firnhaber's  Materialien  zum  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Lateini- 
sche auf  den  Grund  vorausgegangener  Leetüre  lat.  Prosaiker,  ls  Hefi: 
die  Reden  des  Cicero  für  Dejotarus  und  Milo ;  2s  Heft :  die  Samniterki  iege 
nach  der  Darstellung  des  Livius ,  und  SeyfFert's  Uebungsbuch  für  Secunda 
im  Anhange  sich  auf  die  Classiker  stützen ,  eine  Methode,  welche  von  be- 
währten Autoritäten  als  vortrefflich  und  gediegen  bezeichnet  wurde  und 
die  Bef.  selbst  mit  groszem  Nutzen  bei  seinen  Schülern  geübt  hat  und 
übt,  so  sind  auch  bei  Hrn.  Härtung  Leetüre  und  Stilübung  in  eine  die 
Kenntnis  der  Sprache  und  des  Ausdruckes  und  Erfassung  des  Inhalts  wahr- 
haft fördernde  innige  Verbindung  gebracht  worden.    Nach  dem  Grund- 
sätze :   f  das  Beste  ist  für  die  Schule  gut  genug',  sind  auch  die  grösteu 
und  besten  Meister  vorzüglich  zu  Aufgaben  benutzt:  Homer,  Sophokles, 
Euripides,  Demosthenes,  Horaz,  Cicero,  Livius,  Tacitus,  Nibelungenlied, 
Shakespeare,  Lessing,  Goethe,  Schüler,  Unland.   Doch  sind  auch  Bürger, 
Calderon ,  Heine ,  Platen ,  Rückert  usw.  nicht  vergessen.   Die  gröste  Aus- 
heute haben  natürlich  Goethe,  Schiller  und  Shakespeare  gewährt,  und 
mit  Recht  hat  der  Hr.  Verf.  dem  unübertrefflichen  Britten  soviel  Raum 
gewidmet,  damit  die  Schüler  ihn,  der  weder  in  der  deutschen  Litterattir* 
geschieh te  noch  als  deutsche  Leetüre  eine  besondere  Behandlung  erfährt, 
privatim  lesen  und  so  ihre  Litteraturkenntnis  und,  was  noch  mehr  werth 
ist,  ihre  Herzens-  und  Verstandesbildung  vervollständigen.   Diese  Art  die 
Schüler  zur  Thätigkeit  zu  nötigen  und  zur  guten  Leetüre  anzueifern 
erscheint  mir  als  der  heilsamste  und  zugleich  anschuldigste  Zwang. 

Die  Themata  hat  der  Hr.  Vf.  unter  folgende  Gesichtspunkte  verteilt 
A.  Aus  der  Dichter  weit.  Ganz  natur-  und  sachgemäsz  beginnt  er 
hier  mit  I.  Erzählungen,  geht  dann  über  zu  U.  Charakterschilderungen, 
an  welche  sich  III.  die  Behandlung  paralleler  Charaktere  und  Zustände 
anschlieszt.  IV.  Vergleichungen;  diese  stellt  der  Hr.  Vf.  als  eigene  Rubrik 
dar;  man  könnte  sie  auch  unter  die  Parallelen  bringen.  Doch  daran  liegt 
wenig.  V.  Mythologie  als  Grundlage  von  Gedichten.  Ueberblickt  man  diese 
fünf  Classen,  so  vermiszt  man  ungern  die  Rubrik:  Beschreibungen,  die 
eine  gute  Vermittlung  zwischen  den  Erzählungen  und  Charakterschilderungen 
bilden  würden ;  sie  sind  schwieriger  als  die  Erzählungen  und  leichter  als 
die  Charakterschilderungen ;  sie  lehnen  sich  mehr  an  das  Aeuszere  an  und 
lehren  ordentliche  Beschäftigung  des  Auges;  das  Sehen  und  Beobachten 

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Härtung:  Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen.  567 

aber  musz  der  Schüler  erst  recht  lernen.  Vgl.  hierüber  Bone  in  der 
Vorrede  zu  seinem  deutschen  Lesebuche.  —  Für  Schüler  zu  schwer  und 
unverständlich  und  daher  für  unpassend  hält  Ref.  Nr.  V.  Die  Mythologie 
ist  für  den  gereiften  Mann  eine  gefährliche  Klippe ;  wie  soll  der  Jüngling 
über  sie  wegkommen?  Wagt  er  sich  aber  dennoch  an  diese  Themata, 
vielmehr  werden  ihm  solche  zur  Bearbeitung  gegeben,  so  wird  er  zu  der 
Angabe  noch  einige  Worte  machen ,  welche  aber  im  Grunde  nichfs  sind 
als  Umschreibung  des  im  Buche  Gegebenen ;  er  wird  in  Geschwätz  und 
Faselei  verfallen.  Dieses  Uebel  wünscht  aber  der  Hr.  Verf.  ebenso  wenig 
als  Ref.   Vgl.  die  Vorr. 

Es  folgen  B.  Nachahmungen  und  Erfindungen.  Die  Gliede- 
rung ist  hier  folgende.  I.  Nachahmungen ,  z.  B.  lat.  Geschichtsreden ,  die 
nicht  genug  zu  lobenden  Auszüge  aus  gröszeren  Abhandlungen  usw. 
11.  Poetische  Erfindungen  und  Nachahmungen,  z.  B.  Fabeln  aus  Sprüch- 
wörtern ,  Veränderungen  bekannter  Fabeln  usw.  Man  vgl.  hierüber  Les- 
sing. Einen  Anhang  hiezu  bilden  metrische  Aufgaben.  Ref.  hat  zwar 
irgendwo  gelesen :  'Metrische  Aufgaben  wird  kaum  Jemand  mehr  empfeh- 
len', aber  dennoch  hält  er  die  deutschen  wie  die  lateinischen  (und  hier 
hat  er  den  Philosophen  Seh  ellin  g  auf  seiner  Seite)  für  sehr  nützlich 
und  anregend ,  wenn  sie  nur  nicht  gar  zu  prosaisch  betrieben  werden. 
Daher  haben  denn  auch  Andere ,  z.  B.  Kehrein  und  Götzinger  solche  me- 
trische Aufgaben  angehängt.  Vor  Allem  aber  ist  nicht  zu  vergessen  Vie- 
hoff. G.  Aus  der  Societät;  und  zwar  I.  Beschäftigungen  und  Stände; 
II.  Zustande  im  geselligen  Leben;  HI.  Gesellschaft  und  Staat;  IV.  Regierende 
und  Regierte.  Sieht  man  blosz  diese  Ueber Schriften  oder  auch  die  nackten 
Titel  der  Aufgaben,  so  könnte  der  Hr.  Vf.  leicht  in  den  Verdacht  kommen, 
als  wolle  er  die  Jünglinge  zu  Politikern,  zu  demagogischen  Schwätzern  er- 
ziehen. Was  kann  ein  unreifer  Verstand  von  der  Staatsform  u.  dgl.  verste- 
hen? Ist  es  doch  gerade  ein  Uebel  unserer  Zeit,  dasz  politische  Unklarheit 
in  so  vielen  Köpfen  herscht,  diese  aber  doch  Tonangeber  und  Stimmführer 
sein  und  überall  mitschwätzen  wollen!  —  Nun,  gar  so  schlimm  steht 
es  denn  mit  den  Aufgaben  in  diesem  Kapitel  nicht,  dasz  eine  Gefahr  für 
den  Staat  zu  befürchten  wäre.  Der  Hr.  Vf.  weiset  aber  selbst  S.  VII,  IX 
u.  X  der  Vorr.  darauf  hin ,  warum  er  solche  Themata  gegeben  und  wie 
sie  zu  behandeln  seien.  Wie  unschuldig  ist  auch  das  Thema:  fDas  Eleu- 
sische  Fest  von  Schiller',  oder  *Lob  des  Waldes',  oder  selbst  Tac.  Ann. 
3,  26 :  postquam  —  provenere  dominationes ,  da  die  Aufsätze  ja  nur  die 
Darstellung  des  Schriftsteilers  teils  ergänzen ,  teils  mit  Hülfe  anderer  ge- 
schichtlichen Thatsachen  beleuchten  sollen.  Freilich  musz  der  Lehrer 
sich  selbst  zu  beherschen  wissen,  um  nicht  ins  Politisieren  zu  verfallen. 
—  Es  folgt 

D.  Aus  der  Geschichte.  I.  Zustände  und  Entwickelungen  oder 
Ursachen  und  Wirkungen ;  II.  Geistige  Entwiekelungen ,  besonders  in  Re- 
ligion und  Wissenschaft;  III.  Charaktere,  Thaten  und  Schicksale;  IV.  Hi- 
storische Parallelen.  —  Der  Hr.  Verf.  sagt  im  Vorwort  S.  XV:  *  Unsere 
Schüler  sollen  Mühe  haben,  den  Stoff  zu  bewältigen,  sowie  jeder,  der 
etwas  Gedachtes  schreiben  will,  aber  nicht  Sklaven  des  Stoffes  bleiben, 


39* 

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568  Härtung:  Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen. 

was  zur  Verdummuug,  nicht  Geislesbildung  führt  Hinwiederum  über 
alltägliche  Dinge  die  Schüler  reden  zu  lassen,  sowie  jeder 
reden  kann,  scheint  mir  der  Würde  der  Sache  nicht  ange- 
messen.' Ganz  richtig;  triviale  Aufgaben,  z.  B.  Beschreibung  der  Es- 
sigbereitung, der  Pflasterung,  das  Heramen  der  Wagen  durch  Hemmschuh 
oder  Kette,  wie  sie  Götzinger  in  seiner  sonst  so  vortrefflichen  *  Stil- 
schule9 gibt,  tragen  zur  Humanitätsbildung  gewis  recht  wenig  bei;  aber 
ebenso  sehr  zu  vermeiden  sind  die  *  verstiegenen*  (besser:  die  sich  ver- 
steigenden) Aufgaben ,  die  in  Regionen  sich  bewegen ,  welche  über  das 
Verständnis  des  Schülers  hinaustiegen  und  für  welche  die  Schwingen 
seiner  Phantasie  noch  zu  schwach  sind  (vgl.  Hör.  a.  p.  229.  230  mit 
Döderlein's  Note).  Wragl  er  sich  trotzdem  hinan,  so  wird  eintreffen, 
was  der  Hr.  Verfasser  S.  XV  sagt:  fWenn  aber  solches  oberflächliches 
Reden  gar  auf  höhere  Gegenstände  übergetragen  wird,  so  hat  es  die 
schlimme  Folge ,  Schwätzer ,  Heuchler  und  Hohlköpfe  zu  bilden ,  welelie 
mit  Allem  fertig  zu  sein  glauben,  weil  sie  über  Alles  ohne  Einsicht  und 
Empßndung  zu  raisonnieren  gewöhnt  sind.'  Was  soll  selbst  ein  tüchtiger 
Primaner  mit  dem  Thema  machen:  'Gegenseitiges  Verhalten  des  Papst- 
tums und  Kaisertums'?  Wir  Alle  wissen,  welch'  erbitterter  Streit  in 
neuester  Zeit  von  den  bedeutendsten  Historikern  und  andern  tüchtigen 
Männern  über  dieses  Verhältnis  geführt  wurde  und  wie  dieser  Streit  noch 
nicht  entschieden  ist.  Wenn  nun  solche  Männer  eine  ganze  Lebenserfah- 
rung und  ein  ganzes  reiches  Studium  auf  die  Geschichte  jener  Zeit  und 
dieses  Verhältnis  anwenden  können  und  doch  das  Thema  nicht  allbefrie- 
digend zu  lösen  im  Stande  sind,  sollen  es  dann  Schüler  können?  So  fin- 
den sich  noch  mehrere  derartige  zu  hoch  gegriffene  Aufgaben,  z.  B.  Sha- 
kespeares Protestantismus  und  Calderon's  Katholicismus  (wobei  noch  in 
Frage  kommt,  ob  denn  das  Thema  überhaupt  richtig  gestellt  ist;  denn 
über  den  Protestantismus  Shakesp.  herscht  Differenz).  Hiebei  mag  nach- 
traglich erwähnt  werden,  dasz  auch  unter  den  früheren  Kapiteln  das  eine 
oder  andere  Thema  zu  hochgehend  ist,  z.  B.  die  Natürlichkeit  der  Geister- 
erscheinungen bei  Shakespeare.  Doch  ist  andrerseits  nicht  zu  verkennen, 
dasz,  wie  der  Hr.  Vf.  die  näheren  Gesichtspunkte  angegeben  hat,  sich  dem 
Thema  auch  von  Seiten  eines  Schülers  Manches  abgewinnen  läszt.  Und 
dieser  gute  Tact  mag  wieder  von  der  Vortrefflichkeit  des  Buches  Zeugnis 
geben. 

Endlich  E.  Ueber  Handeln,  Wissen  und  Glauben.  I.  Der 
Mensch  gegenüber  der  Natur;  II.  Der  Mensch  gegenüber  den  Menschen; 
III.  Ueber  die  Förderung  unseres  innern  Menschen;  IV.  Zeitliches  und 
Ewiges ;  V.  Definitionen  und  Unterscheidungen.  —  Dieses  Kapitel  behan- 
delt, wie  man  sieht,  neben  den  philosophisch  gehaltenen  Aufgaben,  wor- 
über der  Hr.  Vf.  ebenfalls  in  der  Vorrede  das  Nähere  angibt ,  vorzüglich 
die  sog.  moralischen  Themata.  Gegen  diese  ist  in  neuerer  Zeit  ein  groszer 
Feldzug  unternommen  worden,  indem  man  ihnen  zum  Vorwurf  machte, 
dasz  die  Schüler  dabei  nur  zu  leicht  in  den  Predigerton,  ins  Moralisieren 
verfallen  und  Heuchler  werden.  Mit  Recht.  Wie  oft  schreiben  Schüler 
die  besten  und  schönsten  Gedanken  über  die  gute  Benützung  der  Jugend- 


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Härtung:  Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen.  569 

zeit  u.  dgl.  nieder,  während  gerade  sie  dieselbe  am  schlechtesten  anwen- 
den und  sich  über  die  Schulgesetze  frech  erheben!  Darum  sind  auch 
Themata  einer  bekannten  Sammlung,  wie:  fDer  grosze  Werth  und  die 
Wichtigkeit  der  Religion  in  den  Jugendjahren '  oder  c  Werth  der  Arbeit- 
samkeit' (diesen  kennt  der  Schüler  ohnehin),  oder  'der  Segen  aus  dem 
Anschauen  des  Todes*  usw.  nach  Meinung  des  Ref.  im  Schulunterrichte 
durchaus  ungeeignet.  Wie  kann  man  auch  einem  lebensvollen  achtzehn- 
jährigen Jünglinge  zumuten,  sich  tief  in  die  Anschauung  des  Todes  zu  ver- 
senken? Aber  es  soll  hiermit  nicht  behauptet  werden,  dasz  die  moralischen 
Aufgaben  gänzlich  zu  verwerfen  seien.  Stoffe  aus  der  praktischen 
Moral  werden  dann  gewählt  werden  können,  wenn  sie  so  concret  als 
möglich,  ich  möchte  sagen  individuell  behandelt  werden;  denn  dann 
wird  das  allgemeine  Raisonnieren  keinen  Platz  finden.  So  möchte  Ref. 
selbst  das  Thema:  Werth  und  Nutzen  der  Classiker,  nicht  so  hinstellen, 
sondern  in  concreter  Frageform:  'Was  wiszt  ihr  über  den  Nutzen  und 
die  Notwendigkeit  der  alten  Classiker  zu  sagen?'  Vgl.  Nägelsbach,  Gym- 
nasialpädagogik, herausg.  v.  Autenrieth,  S.  86. 

Hr.  Härtung  nun  hat  hier  zwar  nicht  alle  Gefahr  vermieden,  aber  doch 
lassen  sich  die  meisten  Themata  vermöge  der  Art,  wie  sie  näher  gezeich- 
net sind,  billigen.  Auch  Einl.  S.  XI  spricht  sich  des  Näheren  darüber  aus. 
Dadurch  dasz  er  vorzüglich  Beispiele  von  Personen  aus  antiken  und 
modernen  Schriftstellern  anführt,  wird  die  Sache  anschaulich  und  kann 
mehr  concret  gehalten  werden.  Und  wie  bei  uns  es  einmal  steht,  lassen 
sich  solche  Themata  nicht  durchweg  entbehren.  Aeltere  und  jüngere 
Lehrer  sind  ihrer  gewohnt,  erstere  durch  die  selbstgeübte  Praxis,  letz- 
tere durch  die  an  ihnen  geübte  Praxis ;  von  oben  werden  z.  B.  in  Bayern 
bei  den  Abiturientenprüfungen  dergleichen  Aufgaben  gegeben;  endlich 
mag  auch  hier  ein  allmähliches  Verschwinden  der  unpassenden  erfolgen. 

Die  Themata  sind  originell  oder  doch  wenigstens  so  selbständig  be- 
arbeitet, dasz  sie  auf  Originalität  Anspruch  machen  können;  z.  B.  eventus 
stultorum  magister  est  (auch  bei  Herzog) ;  dimidium  facti  qui  bene  coepit 
habet;  sapere  aude  (Bomhard);  das  Leben  eine  SchiflTahrt  (Hopf);  die 
Gegenwart  die  Mutter  der  Zukunft  (Veen)  usw. 

Die  logische  Durchführung  der  Themata  ist  im  Allgemeinen  lobens- 
wert}]. Ansprechender  möchte  hie  und  da  eine  andere  Form  sein;  so 
sagt  dem  Ref.  die  Disposition  über  f  Herraann's  Charakter9  bei  Kehre  in 
mehr  zu.  Dasz  die  Themata  nicht  so  nackt  hingestellt  sind  wie  bei  Rinne 
groszen  Teiles,  ist  nur  zu  billigen;  denn  sonst  weisz  oft  der  Schüler 
nicht,  was  er  damit  anfangen  soll.  Jedoch  sind  dieselben  auch  nicht 
haarscharf  in  alle  möglichen  Unterabteilungen  zerlegt  wie  bei  Herzog. 

Mit  Recht  ist  auch  auf  die  Chrie  gehörige  Rücksicht  genommen. 
Man  vergleiche,  was  der  gelehrte  Seyffert  Schol.  lat.  II  p.  V  u.  VI  sagt; 
auszerdem  Nägelsbach  1.  1.  S.  89.  Treffend  äuszert  sich  unser  Hr.  Vf. 
S.  XIII:  'Ganz  wie  die  Chrie  kann  auch  eine  jede  Sentenz  behandelt 
werden ;  nur  musz  man  dabei  die  wesentlichen  Teile  von  den  unwesent- 
lichen unterscheiden  und  auch  wissen,  dasz  die  Anordnung  nicht  immer 
die  nemliche  sein  müsse.' 


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570  Harlung:  Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen. 

Noch  verdienen  die  Worte  S.  VI  gewis  Erwägung  und  Beherzigung, 
daher  sie  hier  eine  Stelle  finden  mögen.  'Kein  Unterricht  taugt,  in  welchem 
die  Schäler  nicht  auf  irgend  eine  Weise  zur  Selbständigkeit  veranlaszt 
werden,  und  die  Beschäftigung  mit  deutschen  Dichtwerken  kann  gar  zu  leicht 
eine  Wosze  Unterhaltung  werden,  wenn  der  Lehrer  nicht  die  Mittel  findet, 
sie  zum  Gegenstande  ernsten  Arbeitens  zu  machen.  Wer  von  solchen 
Arbeiten  keinen  Begriff  hat,  dem  verdenken  wir  es  nicht,  wenn  er  die  Lec- 
tflre  deutscher  Dichtwerke  nur  dann  und  wann  wie  Zuckerbrod  im  Unter- 
richte gönnen  will ;  und  von  dem  nemlichen  Standpunkte  aus  wird  auch 
die  Vorlegung  derartiger  Themata,  zu  denen  der  Stoff  erst  mit  Hülfe  des 
Lehrers  mühsam  gewonnen  werden  rousz,  widerrathen  werden.  Von 
demselben  Standpunkte  aus  erwarten  wir  auch ,  dasz  man  uns  mit  den 
bekannten  Schlagwörtern :  pectus  facit  disertum,  und  le  style  est  Thomme, 
entgegentrete.  Man  gebe,  spricht  man,  den  Schulern  einen  Stoff,  bei  dem 
sie  warm  werden  können,  denn  iin  Affecte  ist  Jedermann  beredt  genug; 
Bilder,  Metaphern  und  aller  mögliche  Schmuck  der  Rede  strömen  dem 
begeisterten  Redner  von  selbst  zu  in  wolgebildeten  Sätzen  und  gelenkigen 
Satz  verschlingungen : 

Da  ist  Jedem  die  Zunge  gelöst,  es  sprechen  die  Greise, 
Männer  und  Junglinge  laut,  voll  hohen  Sinns  und  Gefühles. 
Mit  andern  Worten  hiesze  das:  laszt  nur  eure  Schuler  recht  viel  unge- 
waschenes Zeug  über  gewisse  Gemeinplätze,  wie  Vaterlandsliebe,  Tugend, 
Freundschaft ,  ohne  klare  Begriffe  zu  Markte  bringen  und  eignet  euch  Ge- 
duld an,  dasz  ihr  es  anhören  könnt ;  übt  sie  nur  recht  fleiszig  in  leerer 
Tugendschwätzerei,  Affection  und  Schönthuerei  mit  den  heiligsten  Gefüh- 
len ;  fangt  nur  gleich  mit  dem  pathetischen  Stile  an  und  laszt  euere  Zög- 
linge nur  gleich  ohne  weiteres  auf  den  Pegasus  steigen ,  der  schon  ge- 
wohnt ist ,  sich  von  den  Jungen  reiten  zu  lassen.'  Diesem  Eifer  gegen 
leeres  Geschwätz  entsprechend  ist  es  denn  auch ,  dasz  der  Hr.  Verf.  vor 
den  langen,  in  der  Regel  nichtssagenden  Einleitungen  warnt  und 
es  empfiehlt,  sich  gleich  in  medias  res  (Hör.  a.  p.  148)  zu  versetzen. 

Sollen  wir  noch  ein  Gesamturteil  über  das  Buch  aussprechen,  so 
kann  dasselbe  nach  der  obigen  Ausführung  nur  ein  günstiges  sein.  Und 
so  empfehlen  wir  es  denn  allen  Lehrern  und  selbstthätigen  Schülern 
um  so  mehr,  als  ein  nicht  zu  hoher  Preis  und  elegante  Ausstattung  diese 
Empfehlung  unterstützen. 

A.  G. 


46. 

Ein  Wort  über  lateinische  Anmerkungen  in  den  Ausgaben 
griechischer  Prosaiker. 

Da  die  Demosthenische  Schullectüre  zumeist  auf  die  Philippischen, 
vielfach  bearbeiteten  Reden  beschränkt  ist,  so  habe  ich  einen  schon  frü- 
her gefaszten,  längere  Zeit  beseitigten  Plan  wieder  aufgenommen  und 


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Ein  Wort  über  lat.  Anmerkungen  in  den  Ausgaben  gricch.  Prosaiker.  571 

die  Reden  für  die  Megalopoliten  (XVI)  und  für  die  Freiheit  der 
Rhodier  (XV)  und  zwar  in  dieser  von  der  Zeilfolge  gebotenen  und  vom 
Dresdner  Codex,  dessen  Varianten  am  Schlüsse  beigefugt  sind,  befolgten 
Ordnung  herausgegeben.  Die  Bearbeitung  ist  in  lateinischer  Sprache  ab- 
gefaszt  und  zwar  aus  folgenden  Gründen.  Nachdem  eine  Zeit  lang  die 
Grenzen  des  Lateinischsprechens  und  -Schreibens  in  Gymnasien  beengt 
worden  waren,  hat  man  neuerdings  dieselben  wieder  zu  erweitern  be- 
gonnen: diesem  Zwecke  durften  lateinische  Anmerkungen  in  den  Aus- 
gaben griechischer  Prosaiker —  um  jetzt  nur  diese  ins  Auge  zu  fassen  — 
förderlich  sein:  der  Schuler  wird  dadurch  an  das  lateinische  Denken,  wel- 
ches für  das  Schreiben  nicht  entbehrt  werden  kann,  gewöhnt.  Wenn 
nun  die  Erklärung,  z.  B.  eines  griechischen  Redners  und  die  Besprechung 
über  den  Inhalt  und  die  Bedeutung  seines  Vortrags  von  dem  Lehrer  in 
lateinischer  Sprache  geführt  wird,  so  müssen  meines  Erachtens  auch  die 
Anmerkungen  zu  der  Ausgabe,  die  man  dem  Schüler  in  die  Hand  gibt,  in 
dieser  Sprache  abgefaszt  sein;  dadurch  wird  derselbe  in  den  Stand  ge- 
setzt, der  lateinischen  Erklärung  zu  folgen  und  erforderlichen  Falles  sich 
selbst  auszudrücken.  Ein  zweiter  Grund  ist  die  geistige  Gymnastik:  sie 
ist  bekanntlich  ein  Hauptzweck  unserer  Gelehrtenschulen,  und  es  darf 
kein  Mittel  unversucht  bleiben ,  welches  dazu  führt ,  dieselbe  zu  fördern. 
Für  eines  derselben  gjlt  auch  die  Notwendigkeit,  in  weiche  der  Lernende 
versetzt  wird,  Gegenstände,  welche  sich  für  den  Gebrauch  der  latein. 
Sprache  eignen,  in  dieser  selbst  behandeln  zu  lernen.  Ich  weisz  recht 
wol,  was  sich  für  die  Anwendung  unserer,  mir  überaus  theueren  Mutter- 
sprache sagen  läszt,  ich  weisz,  was  die  Ausgaben  der  Haupt-Sauppeschen 
Sammlung  Treffliches  geleistet  haben  und  noch  leisten ;  indessen  solange 
die  allen  Glassiker  noch  den  Mittelpunkt  des  Gymnasialunterrichts  bilden, 
wird  man  auch  lateinischen  Noten  eine  Stelle  wenigstens  unter  dem  Texte 
griechischer  Prosaiker  aus  den  angegebenen  Gründen  gönnen  und  mein 
Verfahren  gerechtfertigt  finden. 

Schlieszlich  sei  noch  erwähnt,  dasz  ich  in  der  Textreceusion  mög- 
lichst dem  bekannten  C  gefolgt  bin  und  folglich  in  den  meisten  Stellen, 
wenn  auch  nicht  durchgängig  der  trefflichen  Ausgabe  meines  verehrten 
Freundes ,  Professor  Voemel ,  Halle  1857.  Ihm  und  dem  hochverdienten 
I.  Bekker  (1824.  1864),  dem  Begründer  einer  neuen  Aera  für  den  Text  des 
Redners,  welchem  die  Zürcher  Ausgabe  (1839 — 43)  undW.  Dindorf  (1825. 
1855)  selbständig  und  kritisch  gefolgt  sind,  glaubte  ich  es  schuldig  zu 
sein,  die  Abweichungen  von  ihren  Ausgaben  anzugeben,  was  in  mög- 
lichster Kürze  unmittelbar  unter  dem  Texte  geschehen  ist.  So  ist  man 
von  allen  neuen  Leistungen  zugleich  in  Kenntnis  gesetzt.  Zur  geschicht- 
lichen Erläuterung  dienen  auszer  den  Anmerkungen  die  vorausgeschick- 
ten Prolegomena  und  der  einigen  Stellen  beigefügte  historische  Commen- 
tar.  Bei  der  sprachlichen  Erklärung  habe  ich  Lehrende  und  Lernende 
berücksichtigt,  und  für  die  ersteren  die  Verweisungeu  auf  die  betreffende 
Litteratur,  für  die  letzteren  die  auf  die  gangbaren  Grammatiken  von  Krü- 
ger und  Curtius  bestimmt.  In  wiefern  ich  das  richtige  Masz  getroffen 
und  mein  Ziel  immer  im  Auge  behalten  habe,  mögen  Andre  nachsichtig 


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572  Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

beurteilen  und  ihre  Billigung  oder  Misbilligung  des  eingeschlagenen  Ver- 
fahrens gefälligst  kund  geben :  ich  wollte  mich  nur  gegen  den  Vorwurf 
der  Inconsequenz  möglichst  verwahren. 

Dasz  die  freundliche  Aufnahme,  welche  die  erste  Frucht  meiner  De- 
mosthenischen  Studien  1817  und  1818  fand,  mir  auch  im  vorgerücktem 
Alter  zu  Teil  werde,  und  dasz  die  Leser  sich  für  die  Megalopoliten 
und  die  Rhodier,  für  welche  beide  sich  Demosthenes  bei  den  Alheiiien- 
sern  verwendete,  teilnehmend  interessieren,  ist  der  innige  Wunsch  des 
Unterzeichneten. 

Dresden.  C.  A.  Rüdiger. 


Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  statistische 
Notizen,  Anzeigen  von  Programmen. 

Programme  aus  dem  Königreiche  Sachsen  1863. 
Büdissin.]  Abhandlung  von  Gymnasiallehrer  Dr.  Schubart:  Zur 
Geschichte  des  Gymnasiums  in  Büdissin.  1.  Abteilung,  Es  ist  unter  alles 
Umständen  interessant,  die  Geschichte  eines  Gymnasiums  von  den  ersten 
Anfängen  an,  soweit  es  die  oft  lückenhafte  Ueberlieferung  gestattet, 
bis  auf  die  Gegenwart  zu  verfolgen;  um  ein  Bedeutendes  aber  wird 
dieses  Interesse  dann  erhöht,  wenn  die  betreffende  Schule  einer  Stadt 
und  einem  Landesteile  angehört,  die  in  den  früheren  Jahrhunderten 
eine  eigentümliche,  fast  in  sich  abgeschlossene  -  Entwicklung  gehabt 
haben.  Es  ist  daher  als  ein  sehr  dankenswertes  Unternehmen  zu  be- 
grüszen,  dasz  der  Verfasser  es  unternommen  hat,  die  innere  Geschichte 
des  Gymnasiums  zu  Büdissin  von  der  Zeit  an,  wo  die  ersten  Quellen 
vorliegen,  zu  schildern;  nicht  minder  aber  ist  der  Fleisz  und  die  Um- 
sicht anzuerkennen,  womit  das  zum  Teil  schwer  zugängliche  Material 
benutzt  und  zu  einer  übersichtlichen,  von  Anfang  bis  zu  Ende  anzie- 
henden Darstellung  verarbeitet  ist.  Seine  Quellen  waren  auszer  den 
Programmen,  die  jedoch  aus  der  altern  Zeit  keineswegs  vollständig  er- 
halten sind,  besonders  die  Praxis  lectionum  und  die  Schulnachrichten 
von  Rector  Theil  (1641—1679),  dann  die  leges  scholasticue  vom  J.  1700, 
welche  in  ihrer  wesentlichen  Anlage  zurückgehen  auf  die  alten  Schal- 
gesetze vom  J.  1592.  Diese  sind  abgefaszt  vom  Rector  Nehrkorn, 
der  nach  der  kurzen  Wirksamkeit  von  zwei  Jahren  von  dem  Rathe  der 
Stadt  nach  Gutachten  der  Frankfurter  theologischen  Facultät  seines 
Amtes  entsetzt  wurde,  weil  er  fdas  Gift  des  Crjptocalvinismus  verbrei- 
tet habe'.  Diese  Gesetze  enthalten  eine  für  ihre  Zeit  musterhafte 
Schulordnung.  Auffällig  erscheint  uns  darin  allerdings  die  Einrichtung 
einer  Art  von  Beamtenstand  unter  den  Schülern  selbst,  um  Controle 
der  verschiedensten  Art  auszuüben,  eine  Einrichtung,  die  in  der  kurz 
darauf  (1596)  von  Rector  Gerlach  vollzogenen  Revision  der  Nehrkorn- 
schen  Gesetze  noch  weiter  bis  ins  Ein  zeigte  ausgebildet  ist.  Vieles 
davon  war  jedenfalls  der  Zeit  entsprechend;  und  Aehnliches  hat  sich 
ja  in  Schulen,  die  eine  continuierliche  Tradition  aus  früherer  Zeit  sich 
bewahrt  haben,  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten;  Anderes  aber  hat 
gewis  yon  vornherein  nur  auf  dem  Papier  gestanden  und  ist  nie  zur 
lebendigen  Ausführung  gekommen.  Es  finden  sich  da  Anordnungen, 
die  lebhaft  an  die  neueste,  ihrerzeit  viel  besprochene  Bunzlauer  Schul- 
ordnung erinnern,  und  dem  Verfasser  derselben  leicht  den  Ruhm  der 
Originalität  rauben  könnten;  genug,  das  Alles  musz  in  der  Schulpraxis, 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen.   573 

die  einmal  schlechterdings  sich  nichts  Widernatürliches  aufdringen 
läszt,  schon  längst  aufgehoben  gewesen  sein,  ehe  die  neue  Abfassung 
der  Schulgesetze  vom  Jahre  1700  es  auch  äuszerlich  beseitigte.  — •  Die 
größte  Teilnahme  wird  jeder  Leser  den  Abschnitten  zollen,  wo  über 
die  Art  und  Einteilung  des  Unterrichts,  über  die  schriftlichen  und  dis- 
putatorischen  Uebungen,  über  die  alten  Schulfeierlichkeiten  die  Rede 
ist.  Hier  tritt,  soviel  behandelt  auch  der  Gegenstand  ist,  immer  noch 
des  Neuen  und  Wissenswerthen  viel  entgegen;  wir  sehen  in  den  Haupt- 
zügen das  innere  Leben  der  alten  Gelehrtenschule  vor  uns  mit  ihren 
Licht-,  wie  ihren  Schattenseiten.  Von  den  letzteren  hier  nur  ein  Wort, 
weil  wir  dem  Verf.  in  seinen  Ansichten  nicht  durchaus  beizustimmen 
▼ermögen.  So  einseitig ,  sagt  er ,  das  Princip  des  damaligen  Unterrichts 
auch  sein  mochte ,  so  erfolgreich  sei  es  doch  gewesen :  die  Schüler  der 
alten  lateinischen  Schule  wüsten  nicht  sonderlich  viel,  aber  sie 
konnten  wirklich  etwas  und  waren  in  einem  Fache  gründlich  und 
tüchtig,  wenn  auch  einseitig  gebildet,  usw.  Aber,  so  fragen  wir,  was 
ist  es  denn  eigentlich,  was  die  damaligen  Schüler  gründlich  und  tüch- 
tig konnten?  Etwa  das  Lateinsprechen  und  -schreiben?  Das  mag  zuge- 
geben werden,  wenn  man  unter  Latein  den  entsetzlich  corrumpierten 
und  der  classischen  Latinität  vollkommen  fremdartigen  Jargon  versteht, 
der  damals  als  Gelehrtensprache  verbreitet  war.  Dasz  er  damals  tüch- 
tig gelernt  wurde,  daran  haben  wir  nichts  auszusetzen,  denn  er  war 
in  gewissem  Sinne  eine  lebende  Sprache  und  für  die  wissenschaftliche 
Mitteilung  unentbehrlich;  allein  dieses  Sonst  kann  doch  unmöglich  als 
Muster  für  unsere  Zeit  aufgestellt  werden.  Oder  weiter,  lernte  man 
damals  die  alten  Schriftsteller,  die  gelesen  wurden,  verstehen?  In  der 
Schule  wenigstens  und  durch  den  Unterricht  nicht,  das  gibt  der  Verf. 
selbst  zu.  Endlich  auch  auf  die  formale  Bildung  in  dialektischer  Ge- 
dankenentwickelung, die  durch  die  vielfachen  Disputierübungen  erreicht 
wurde,  ist  so  viel  nicht  zu  geben,  und  am  allerwenigsten  können  wir 
es  für  unsere  Schule  brauchen.  Mit  einem  Worte,  wünschen  wir  uns 
den  Geist,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  und  im  fol- 
genden Jahrhundert  die  Gelehrtenschule  beherschte,  nicht  zurück!  Er 
war  doch  nur  ein  Ableger  des  starren  Formalismus  und  der  geistigen 
Erschlaffung,  die  leider  jene  Periode  kennzeichnet.  Endlich  zum  Schlusz 
noeh  ein  äuszerer  Beweis,  oder  vielmehr  Hinweis  zum  Vergleich  für 
sonst  und  jetzt,  womit  wir  speciell  zu  den  Verhältnissen  des  Budissiner 
Gymnasiums  zurückkehren.  Es  ist  rührend  zu  lesen,  sowol  mit  wie 
geringen  Mitteln  das  Gymnasium  sich  in  jenen  Zeiten  behelfen  muste, 
als  auch  wie  es  den  Unterricht  mühsam  von  den  ersten  Anfangsgründen 
des  Lesens  an  aufnehmen  muste,  und,  was  die  notwendige  Folge  der 
beschränkten  Lehrkräfte  war,  wie  verschiedenartige  Elemente  oft  in 
einer  Classe  zusammengepfercht  sein  mochten.  Sollte  da  jetzt  nichts 
Besseres  und  Tüchtigeres  geleistet  werden,  wo  die  meisten  Gymnasien 
unter  der  unmittelbaren  Obhut  der  Staatsbehörde  stehen,  wo  ansehn- 
liche Fonds  jährlich  für  dieselben  verwendet  und  die  tüchtigsten  Lehr- 
kräfte nach  freiester  Wahl  herangezogen  und  verwendet  werden?  In 
gleichem  8inne  liesze  sich  noch  einigen  anderen  Anspielungen  auf  die 
Gegenwart,  die  der  Verf.  gelegentlich  fast  mit  einer  gewissen  Bitter- 
keit einstreut,  entgegentreten;  doch  wir  unterlassen  das  als  nicht  hier- 
her gehörig. 

Aus  dem  Jahresbericht.  Am  4.  Oct.  1862  wurde  der  G.- Lehrer, 
Herrn.  Trautzsch,  als  Diaconus  nach  Chemnitz  berufen,  und  trat  an 
dessen  Stelle  der  Candidat  des  Predigtamts,  Dr.  J.  Fr.  Wild.  Der 
wendische  Unterricht  wurde  an  Diaconus  Mros  übertragen. 

Dresden.]  Gymnasium  zum  h.  Kreuz.  De  aliquot  locis  Gorgiae 
Plalomci  scr.M.  Wohlrab.  Die  vorstehende  Abhandlung  zeichnet  sich 
zunächst  dadurch  vorteilhaft  aus,  dasz  sie,  ehe  sie  zur  Behandlung 
der  einzelnen  Stellen  übergeht,  eine  allgemeinere  Frage  von  Wichtig- 


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574  Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

keit  behandelt.  Der  Verf.,  der  der  Bonner  Schule  angehört  und  durch 
sie  die  Grundsätze  methodischer  und  besonnener  Kritik  sich  angeeignet 
hat,  tritt  mit  Recht  gegen  die  Behandlung  weise  auf,  welche  Hirschig, 
einer  der  namhaftesten  Vertreter  der  neuen  holländischen  Schule,  am 
Platonischen  Text  geübt  hat.  Es  sei  fern  von  uns  Cobet's  hervorragende 
Verdienste  im  Gebiete  der  Texteskritik  zu  unterschätzen;  im  Gegenteil 
wünschen  wir,  dasz  das  viele  Treffliche,  was  er  geschaffen,  und  die 
Art,  wie  er  es  geschaffen,  immer  mehr  zum  Gemeingut  auch  der  deut- 
schen Philologen  werden  möge;  allein  das  darf  auch  nicht  verschwie- 
gen werden,  dasz  bisher  sein  glänzender  Name  mehr  als  billig  das 
verdeckt  und  geschützt  hat,  was  manche  seiner  Anhänger  gesündigt 
haben  und  noch  sündigen.  Hier  ist  eine  durchgreifende  Antikritik 
dringend  nötig;  mit  dem  Ignorieren,  wie  bisher  meist  geschehen,  ist  es 
nicht  abgethan.  Darum  hat  der  Vf.  der  vorliegenden  Scbulschrift  ganz 
wol  daran  gethan,  die  Differenzpunkte  gegen  Hirschig's  Verfahren  kurz 
aufzustellen  und  seine  Ausstellungen  durch  einige  schlagende  Beispiele 
zu  belegen.  Gleich  der  erste  Punkt,  die  von  Hirschig  mit  groszer  Vor- 
liebe herbeigezogene  ävdhrKr)  logica  sive  diabetica  betreffend,  bringt  Sa- 
chen, die  kaum  glaublich  sind.  Obgleich  hier  schon  Deuschle  oppo- 
niert hat,  so  können  wir  doch  nicht  unterlassen,  das  Widersinnige  des 
in  Gorgias  S.  460  C  von  Hirschig  eingeschobenen  dcl  durch  ein  Beispiel 
zu  belegen.  Jedermann  wird  zugeben,  dasz  der  Satz:  Ein  ehrlicher 
Mann  achtet  fremdes  Eigentum,  zugleich  den  weiteren  Satz  in  sich  ent- 
hält: also  wird  er  niemals  stehlen.  Allein  Herrn  Hirschig  ist  das  nicht 
genug;  er  würde  bei  dem  ersten  Satze  noch  ein  immer  verlangen, 
weil  sonst  der  ehrliche  Mann  doch  manchmal  noch  stehlen  könnte!  — 
Ebenso  stimmen  wir  dem  Vf.  in  Betreff  der  beiden  andern  gegen  Hir- 
schig aufgestellten  Punkte  im  Princip  bei ,  worauf  wir  des  Nähern  hier 
nicht  eingehen  können.  —  Was  die  einzelnen  vom  Verf.  behandelten 
Stellen  betrifft,  so  bemerken  wir,  dasz  die  Annahme  eines  umfäng- 
licheren Glossems  S.  460,  die  in  sorgfältigster  Weise  durch  äuszere 
wie  innere  Gründe  bekräftigt  wird,  viel  Wahrscheinliches  für  sich  hat; 
ferner  heben  wir  hervor,  dasz  die  schwierige  Stelle  S.  473 C  in  einfach- 
ster Weise  durch  Annahme  einer  disjunetiven  Frage  erklärt  wird;  end- 
lich, dasz  S.  485  E  das  vielfach  misverstandene  xal  iicavöv  durch  Nach- 
weisung einer  sogenannten  gtadatio  ad  minus  über  allen  Zweifel  ge- 
rechtfertigt wird.  Es  sei  hier  zur  Vergleichung  die  Stelle  bei  Demo- 
sthenes  3,  27  angeführt,  die  erst  durch  Annahme  einer  solchen  Grada- 
tion ihre  rechte  Bedeutung  erhält:  vuvl  bk  iriöc  Vjuiv  imö  xu»v  xpt]CTWV 
tüiv  vöv  t&  TrpdtMaT'  £%€i;  äpd  T€  öjaoudc  xal  irapairXr)c(u)c;  —  es  ist 
vorher  die  vergangene,  schöne  Zeit  Athens  geschildert  worden ,  und  die 
Antwort  auf  die  Frage ,  wie  die  jetzige  Lage  sei,  lautet  bitter,  dasz  es 
nicht  gleich,  nicht  einmal  ähnlich  stehe  wie  sonst.  —  Zurückzu- 
weisen ist  die  S.  483  A  vorgeschlagene  Aenderung  toüt3  für  iräv.  Ab- 
gesehen von  der  Unwahrscheinlichkeit,  wie  das  letztere  aus  dem  erste- 
ren  verschrieben  werden  konnte,  spricht  entschieden  dagegen  das  gleich 
folgende  öirep,  wofür,  wenn  man  einmal  toOto  liest,  ein  öti  oder  fjircp 
stehen  müste:  von  Natur  ist  dies,  das  Unrecht  leiden,  schimpflicher,  weü 
(oder  insofern)  es  schlechter  ist.  Aber  öirep  schützt  offenbar  das  hand- 
schriftliche iräv,  und  dies  wieder  führt  notwendig  zur  Auswerfung  des 
Glossems  tö  äbiX€ic8m,  ohne  dasz  jedoch  mit  Dobree  auch  die  Worte 
vö|miu  bk  tö  doixetv  zu  tilgen  wären.  Uebrigens  bleibt  der  Gedanke 
derselbe,  nur  dasz  dem  Leser  zugemutet  wird,  zu  dem* allgemeinen 
Satze  iräv  crtcxiöv  £ctiv  öirep  xal  xdxiov  gleich  den  besonderen  (also 
auch  das  Unrecht  leiden'  sich  hinzuzudenken. 

Aus  den  Schulnachrichten.  Wegen  Kränklichkeit  wurde  der 
seit  1824  an  der  Schule  thätige  Conrector  Dr.  theol.  u.  phil.  Böttcher 
pensioniert,  jedoch  blieb  er  noch  durch  Erteilung  des  hebräischen  Un- 
terrichts für  die  Schule  thätig.   In  das  Ordinariat  der  Obersecunda  trat 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  staust.  Notizen.  575 

Dr.  Hultsch  ein.     Das  Conrectorat  erhielt  Professor  Heibig.    Neu 
angestellt  wurden  Dr.  Hölbe  und  Cand.  theol.  Ehrt. 

Dresden.]  Vitzthumsches  Gymnasium.  Abhandlung  über  die 
Reform  des  Religionsunterrichts  auf  den  Gymnasien.  Vom  Oberlehrer  M  i  - 
chael.  Beform  des  Religionsunterrichtes  auf  den  Gymnasien  ist  ein 
Titel,  der  viel  besagt,  der  aber  auch  zugleich  die  »Schrift,  die  ihn 
führt,  einem  höhern  Maszstabe  der  Beurteilung  unterwirft,  als  ihn 
sonst  Schulprogramme  zu  beanspruchen  pflegen.  Schon  aus  diesem 
Grunde  würden  wir  es  uns  versagen  müssen,  hier  auf  eine  erschöpfende 
Besprechung  der  genannten  Abhandlung  einzugehen.  Dazu  kommt,  dasz 
derselben  schon  in  einer  verwandten  Zeitschrift  (Zeitschr.  für  Gymna- 
sialwesen 1863  S.  536)  zwei  ausführliche  Recensionen  von  competente- 
ren  Richtern  gewidmet  worden  sind.  Auch  der  Unterzeichnete  ist  der 
Meinung,  dasz  eine  Durchführung  der  vorgeschlagenen  Reform  nicht 
blosz  aus  inneren  Gründen  unthunlich,  sondern  schon  deshalb  unmög- 
lich sei,  weil  sie,  das  ist  wol  sicher  vorauszusetzen ,  gegen  die  Ueber- 
zeugung  der  dabei  Beteiligten  verstoszen  würde.  Sicherlich  werden 
die  meisten  Religionslehrer  vorziehen  festzuhalten  an  dem  Boden  der 
gesetzlichen  Regulative,  die  bisjetzt  den  Religionsunterricht  ordnen 
und  die  mit  gerechter  Würdigung  aller  Verhältnisse  so  wol  auf  der  einen 
Seite  die  feste  Norm  vorschreiben,  als  auf  der  andern  der  Individuali- 
tät des  Lehrers  die  Freiheit  lassen,  ohne  welche  ein  gedeihliches  Wir- 
ken unmöglich  ist.  Hiermit  nähern  wir  uns  zugleich  wieder  dem  Ver- 
fasser. Seine  Schrift  ist  alles  andere,  nur  nicht  objectiv;  allein  wenn 
irgend  eine  eigentümliche  subjective  Meinungsäuszerung,  sobald  sie  nur 
auf  einem  tüchtigen  Fond  beruht,  berechtigt  ist,  so  verdient  die  sei- 
nige wolwollende  Anerkennung.  Es  weht  ein  eigentümlich  frischer, 
fesselnder  Hauch  durch  die  Schrift  vom  Anfang  bis  zum  Ende ;  es  sind, 
was  man  anderwärts  in  langen  Abhandlungen  oft  vergeblich  sucht,  Ge- 
danken, lebendige  Gedanken  darin,  die  selbst  für  den,  der  sich  zum 
Widerspruch  veranlasst  sieht,  fruchtbringend  sein  müssen;  es  ist  end- 
lich darin  das  Feuer  der  tiefinnersten  Begeisterung  für  die  erwählte 
Sache,  welches  vor  Allem  zündend  wirken  musz  in  den  Herzen  der 
hörenden  Jugend.  Mag  also  immerhin  der  von  ihm  vorgezeichnete  Weg 
nicht  der  allgemein  maszgebende  sein,  noch  je  es  werden  können;  von 
dem  Verfasser  selbst  ist  er  gewis  mit  Glück  und  gutem  Erfolge  einge- 
schlagen worden,  dafür  gibt  die  ganze  Schrift  beredtes  Zeugnis.  — 
Einige  sachliche  Bemerkungen  fügen  wir  noch  hinzu  über  den  ersten 
Teil  des  vom  Vf.  vorgezeichneten  Cursus,  fden  Gang  durch  die  heidni- 
schen Religionen9.  Hier  fehlt  es  an  der  genügenden  Beherschung  des 
Materials;  würde  der  Vf.  tiefer  in  dasselbe  eindringen  und  zunächst 
erkennen,  wie  fast  unendlich  weitläufig  dasselbe  ist,  gewis,  er  würde 
den  Gang  durch  die  heidnischen  Religionen  wenigstens  nicht  eher  vor- 
schlagen, als  bis  ein  auf  Quellenstudium  beruhendes  Compendium  dem 
Lehrer  den  Weg  selbst  möglich  machte.  Denn  mit  so  kurzen  Bemer- 
kungen, wie  z.  B.  dasz  noch  100  Millionen  Menschen  dem  Scham  an  en- 
tume  und  Fetischismus  angehören,  ist  es  nicht  abgethan.  Oder,  und 
das  ist  noch  viel  auffälliger,  gibt  es  für  die  indische  Religion,  oder 
richtiger  gesagt,  Religionen,  keine  anderen  Quellen  als  die  vom  Vf. 
(S,  32  f.)  angeführten?  Wo  bleiben  die  Vedas,  die  hier  unbegreiflicher 
Weise  fehlen  und  erst  später  gelegentlich,  aber  irtümlich  als  Helden- 
bücher angeführt  werden?  wo  bleibt  die  umfängliche  theologische  Lit- 
teratur  der  gelehrten  Hindus,  von  deren  Ausdehnung  allerdings  nur  der 
einen  Begriff  haben  kann,  der  die  indischen  Studien  eingehend  gepflegt 
hat?  dann  den  Hitopadesa  (nicht  Hitopatesa!)  als  Quellenbuch  für  in- 
dische Religion  zu  nennen,  ist  ebenso  bedenklich,  als  wenn  man  etwa 
Geliert'«  Fabeln  als  christliches  Religionsbuch  anführen  wollte.  Uebri- 
gens  ist  der  Hitopadesa  nur  ein.  dürftiger,  verflachter  Auszug  aus  dem 
vortrefflichen  Pantschatantra,  welcher  den  ursprünglichen  Geist  der  in- 


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576  Berichte  Ober  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen. 

dischen  Fabellitteratur  viel  besser  zeigt;  aber  indische  Religion  würde 
man  auch  hier  vergeblich  suchen.  Und  endlich,  mit  welchem  Rechte 
werden  die  durch  und  durch  weltlichen  Schauspiele,  Sakuntala  und  Ur- 
wasi,  bestimmt  für  den  glänzenden  Hof  eines  prunkliebenden  Fürsten, 
als  Religionsquellen  angeführt?  Aehnliches  liesze  sich  noch  Vieles  aus 
diesem  Teile  anführen. 

Aus  der  Chronik  des  Gymnasiums.  Professor  Dr.  K.  A.  Müller 
starb  am  16.  Februar  1863  nach  langjähriger,  verdienstvoller  Wirk- 
samkeit. 

Grimma.]  Dissertatio  de  nonnullis  figuris,  quibus  poetae  Laiini  utun- 
iurt  in  exemplum  adhibitis  septem  primis  libris  metamorphoseon.  Scripsit 
H.  Loewe.  Die  altclassische  Philologie  gehört  sicher  zu  den  duld- 
samsten Disciplinen,  die  man  sich  denken  kann.  Von  jeher  daran  ge- 
wöhnt, mit  den  verschiedenartigsten  Bedürfnissen  der  Schulpraxis  und 
des  elementaren  Unterrichts  sich  verschwistert  zu  sehen,  misgönnt  sie 
es  keinem  ihrer  Jünger,  wenn  er  ein  noch  so  beschränktes  Plätzchen 
in  der  Wissenschaft  zur  Bebauung  sich  vornimmt,  sie  weisz  selbst  für 
die  kleinste  Frucht,  die  da  gezeitigt  wird,  zu  danken,  weil  es  doch 
ein  wenn  auch  noch  so  geringer  Beitrag  zum  Ganzen  und  Groszen  ist. 
Doch  gewisse  Grenzen  gibt  es  schlieszlich  auch  hier.  Eine  gar  zu  geist- 
lose Compilation,  eine  allzu  oberflächliche  Untersuchung,  die  nirgends 
scharf  auf  die  Sache  eingeht,  ja  kaum  ihres  Zweckes  sich  selbst  be- 
wust  ist,  rausz  auch  vor  dem  duldsamsten  Forum  zurückgewiesen  wer- 
den. Eine  dissertatio  de  nonnullis  ftguris,  quibus  poetae  Latim  utuntur 
könnte  ihrem  Titel  nach  gewis  viel  Interessantes  bieten;  allein  was 
diese  vorliegende  dissertatio  biete  und  welchem  Zwecke  sie  diene,  das 
fragen  wir  erwartungsvoll  jeden  der  sie  gelesen  hat,  weil  wir  selbst 
die  Antwort  nicht  zu  finden  vermögen.  Soll  sie  etwa  dazu  führen,  um 
in  die  geheimnisvolle  Werkstätte  einzudringen,  wo  der  Genius  des 
Dichters  schafft  und  bildet?  Nach  der  Abhandlung  kann  man  sich 
diese  Werkstätte  kaum  anders  denken  als  wie  einen  Apothekerladen, 
wo  verschiedene  Fächer  mit  den  Aufschriften  antithesis,  apostrophe,  as- 
sonantia  usw.  beklebt  sind  und  dann  bald  in  den,  bald  in  jenen  Kasten 
gegriffen  wird,  um  die  nötigen  Ingredienzen  herauszunehmen.  Oder 
soll  aus  der  Dissertation  für  die  Schullectüre  des  Ovid  geschöpft  wer- 
den? Darüber  spricht  sich  der  Vf.  selbst  zweifelnd  aus:  quantum  autem 
ex  his  rebus  impertiri  debeat  inferiorum  ordinum  discipuHs}  ea  quaestio  est 
artis  didacticae,  non  huius  loci.  Wir  maszen  uns  nicht  an  diese  f didak- 
tische9 Frage  zu  lösen;  aber  bedauern  müsten  wir  aufrichtig  die  armen 
Schüler,  die  in  den  Ovidstunden  bei  jedem  fünften  oder  zehnten  Verse 
hören  müsten:  hier  ist  copia  (?),  hier  ein  constructum  dtrö  koivoö,  ein 
kujAov  oder  KÖ^a,  hier  negatio  et  afftrmatio  coniunctae  de  eadem  re,  hier 
peripkrasis,  dort  polyptotum  usw.  Endlich  auch  nicht  einmal  als  Mate- 
rialsammlung ist  das  Vorliegende  zu  brauchen,  zunächst  aus  dem  ein- 
fachen Grunde,  weil  die  Sammlung  blosz  bis  zur  Hälfte  des  achten 
Buches  (jedenfalls  eine  originelle  Abteilung,  es  ist  mathematisch  genau 
die  Hälfte  des  Ganzen)  sich  erstreckt.  Aber  auch  mit  der  Art,  wie  die 
Kategorien  aufgestellt  und  diesen  die  einzelnen  Fälle  subsumiert  sind, 
wird  schwerlich  jemand  sich  einverstanden  erklären.  Was  ist  unter 
figura  zu  verstehen?  Die  Abhandlung  selbst  schweigt  darüber;  sie  ci- 
tiert  nur  in  einer  Anmerkung  zur  ersten  Zeile  die  Definition  Hermann's. 
Aber  eine  nähere  Untersuchung  war  hier  doch  unbedingt  notwendig; 
sie  würde  auch  zu  einem  Hauptpunkte  geführt  haben,  den  der  Vf.  ganz 
ignoriert,  zur  Unterscheidung  der  dichterischen  und  rhetorischen  Figur. 
Und  dann  die  einzelnen  Kategorien!  Wir  nehmen  beispielsweise  asso- 
nantia  et  allilteratio.  Was  der  Vf.  darunter  versteht,  darüber  bleiben 
wir  wieder  im  Ungewissen;  er  citiert  nur  in  einer  Anmerkung  Diller, 
Pontanus ,  Näke ;  auszerdem  hat  natürlich  Niemand  weder  in  alter  noch 
in  neuer  Zeit  darüber  geschrieben!  Controlieren  wir  nun  die  einzelnen 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen.  577 

Beispiele,  so  lernen  wir,  dasz  zur  Assonanz  und  AUitteration  gehört 
Metam.  2,  476  prensis  a  fronte  capillis,  oder  536  niveis  argentea  pennis,  oder 
6,  148  ante  suos  Niobe  thalamos  (!).  Wenn  das  noch  Assonanz  oder  über- 
haupt eine  figura  sein  soll,  so  könnte  eine  hohe  Preisaufgabe  darauf 
gesetzt  werden,  irgend  einen  Vers  nicht  blosz  bei  Ovid,  sondern  bei 
irgend  welchem  lateinischen  Dichter  aufzufinden,  in  dem  keine  figura 
vorkäme;  ja  es  musz  dann  schon  der  schlichteste  und  anspruchloseste 
aller  Sätze,  mensa  est  rotunda,  für  eine  solche  Figur  gehalten  werden. 
—  Dann  die  Kategorie  der  copia.  Hierher  gehören  Ausdrücke  wie: 
glacies  adstrieta  pependitt  vieta  iacet  pietas,  iaculum  fixum  constitit!  Mit 
welchem  Rechte?  Hier  müssen  wir  den  Vf.  selbst  reden  lassen:  copiam 
nunc  voco  plenum  quoddam  dicendi  genus,  quo  veteres  non  raro  multo  quam 
nos  uberius  et  fusius  res  describunt,  eoque  vocabulo  utor  nostri  potissimum 
sermonis  ratione  habita(!),  qui  Uta  brevius  plerumque  et  exilius  dieimus,  Re- 
tuli  kuc  illum  usum,  quo  Ovidius  eandem  vel  similem  notionem  saepius  quam 
nos  fere  solemus,  sed  vario  semper  modo  repetit;  inprimis  autem  illum,,  quo 
Homani  verbo,  quod  iam  per  se  rem  non  solum  nominat,  sed  etiam  describit 
(graphicum  possis  dicere),  constanti  more  partieipium  vel  adiectivum  addunt 
similis  notionis,  ex  quo,  si  vernaculam  linguain  comparas,  nascitur  quaedam 
dictionis  dbundantia.  Jedenfalls  ein  eigentümliches  Princip  den  Sprach- 
gebrauch eines  lateinischen  Dichters  zu  erklären!  Aber  es  hat  zu  wich- 
tigen Aufschlüssen  geführt,  das  sehen  wir  bei  der  Behandlung  der  eU 
lipsis.  Beispiel  dafür  5,  55:  iaculo  quamvis  distantia  misso  figere  doclus 
ei*aty  sed  tendere  doctior  arcus.  Wo  ist  hier  eine  Ellipse?  Bei  doctior 
fehlt  noch!  Armer  Ovid!  du  hast  das  in  deiner  Unschuld  geschrieben; 
aber  was  eigentlich  dahinter  steckt,  hast  du  doch  nicht  gemerkt.  Das 
nauste  dir  nach  fast  2000  Jahren  ein  Deutscher  sagen ,  ein  Nachkomme 
jener  schlimmen  Barbaren,  gegen  die  schon  die  Legionen  deines  Kai- 
sers nichts  ausrichten  konnten.  Du  hast  die  deutschen  Worte  (er  war 
noch  geschickter'  ins  Lateinische  übersetzt  mit  Weglassung  des  noch 
und  damit  die  Figur  einer  etlipsis  angewendet!  Lies  das  Programm 
eifrig  durch,  und  du  wirst  noch  Manches  finden,  wovon  du  nichts  ge- 
ahnt hast! 

Aus  der  Chronik  der  Landesschule.  Der  7.  Professor  Dr.  Lipsius 
übernahm  das  Conrectorat  der  Nicolaischule  zu  Leipzig.  In  seine  Stelle 
rückte  Professor  Dr.  D i n t e r.  Dr.  Frohberger  erhielt  das  Ordinariat 
von  Secunda.  Für  die  9.  Oberlehrerstelle  wurde  angestellt  Dr.E. G.K  o eh. 

Leipzig.]  Nikolaigymnasium.  Nobbit interpretatio  carminum  So- 
phocleorum  Oedipi  regis  lyricorum  metrica.  Der  Vf.  ist  römischer  gesinnt 
als  die  Römer  selbst.  Die  lateinischen  Dichter  haben  mit  richtigem 
Tacte  sich  nicht  daran  gewagt,  die  schwierigen  Metra  der  griechischen 
Chorgesänge  in  ihre  Sprache  zu  übertragen;  sie  wüsten  nur  zu  gut, 
dasz  wenn  auch  Fusz  für  Fusz  der  Quantität  nach  wiedergegeben 
würde,  damit  doch  noch  kein  lateinisches  Gedicht  zu  Stande  käme. 
Indessen  wäre  es  ungerecht,  diesen  Maszstab  an  die  interpretatio  carmi- 
num Sophocleorum  anzulegen.  Mit  demselben  Recht,  wie  man  sich  ab- 
müht, Sophokleische  Metra  ins  Deutsche  genau  zu  übertragen,  musz  es 
auch  gestattet  sein  eine  lateinische  Uebersetzung  zu  versuchen.  Auch 
Cicero  hat  ja,  obgleich  er  bekanntlich  nichts  weniger  als  Dichter  war, 
viel  versificiert,  besonders  gern  aus  griechischen  Originalen  metrisch 
übersetzt;  er  empfiehlt  diese  Uebung  angelegentlich  der  Jugend,  weil 
er  meint,  dasz  sie  dazu  beitrage,  zum  Schreiben  einer  guten  Prosa  zu 
gelangen.  Ob  dieser  Zweck  immer  erreicht  wird,  lassen  wir  dahinge- 
stellt sein. 

Aus  dem  f  Jahresbericht  des  Studiencursus  \  Nach  der  Berufung 
des  1.  Adjunct  Dr.  Gebauer  zum  Conrectorat  in  Zwickau  erhielt  Dr. 
Hultgren  die  erste,  Dr.  Dohmke  die  zweite  Adjunctur.  Conrector 
Dr.  Forbiger  legte  sein  Amt  nieder,  nachdem  er  seit  1824  am  Gym- 
nasium thätig  gewesen  war.    An  seine  Stelle  trat  Prof.  Dr.  Lipsius, 


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578  Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  Statist.  Notizen. 

Meiszkh.]  General  Dietrich  von  Miltitz,  sein  Leben  und  sein  Wohn- 
sitz. Nebst  vier  noch  ungedruckten  Briefen  an  ihn  von  NovaUs  und  einem 
Facsimiie  von  dessen  Handschrift.  Von  Prof.  Dr.  Peters.  c£s  gibt  aus- 
gezeichnete Menschen,  deren  schöpferische  Th'ätigkeit  sich  nicht  nach 
augenscheinlichen  Ergebnissen  messen,  nicht  in  einer  Reihe  glänzen- 
der Einz elthat en  aufzählen  läszt,  wol  aber,  wenn  auch  im  Stillen,  doch 
nachweisbar,  die  grosze  Summe  weltgeschichtlicher  Entwickelungen  bil- 
den hilft.  Zu  diesen  gehörte  General  Dietrich  Ton  Miltitz'.  Mit  diesen 
Worten  leitet  der  Verf.  die  Lebensbeschreibung  eines  Mannes  ein,  der 
das  Ehrendenkmal,  welches  ihm  durch  diese  Schrift  gesetzt  wird,  in 
vollem  Masze  verdient.  Ein  Edelmann  im  schönsten  Sinne  des  Wortes, 
frei  von  jedem  Standesvorurteil,  empfänglich  und  begeistert  für  die 
groszen  Ideen  seiner  Zeit,  treu  und  aufopfernd  fhätig  nicht  blosz  in 
seinem  Stammsitz,  nicht  blosz  für  sein  engeres  Vaterland,  sondern  auch 
im  Kampfe  für  die  Befreiung  Deutschlands  von  fremdem  Joch,  so  hat 
sich  Dietrich  von  Miltitz  das  Anrecht  auf  ein  bleibendes,  dankbares 
Andenken  erworben.  Dasz  dies  geschehe,  dazu  hat  der  Verf.  der  Bio- 
graphie in  vortrefflicher  Weise  beigetragen.  Mit  Benutzung  der  Quel- 
len, die  ihm  das  Miltitzsche  Familienarchiv  bot,  hat  er  ein  treues,  le- 
bensfrisches Bild  des  Mannes  entworfen.  Fern  davon  sein  eignes  Urteil 
unzeitig  dem  Leser  aufzudrängen,  läszt  er  die  Thatsachen,  die  Briefe 
und  andere  Documente  für  sich  sprechen;  wo  er  aber  selbst  das  Wort 
ergreift,  da  thut  er  es  überall  mit  der  vollständigsten  Hingabe  an  den 
Stoff,  den  er  behandelt  Nur  an  zwei  Stellen  wäre  es  vielleicht  wün- 
schenswerth  gewesen ,  durch  eigene  Reflexion  wichtige  Wendepunkte  in 
Dietriches  von  Miltitz  Leben  in  ein  helleres  Licht  zu  setzen.  Einmal 
tritt  der  kluge,  wolberechnete  Plan,  mit  dem  die  Mutter  zum  Glück 
für  ihren  Sohn  dessen  Uebertritt  in  die  Dienste  des  französischen  Ja- 
cobinismus verhinderte,  nicht  recht  im  Zusammenhang  hervor;  ferner 
erscheint  (S.  23)  der  Uebertritt  Dietriches  in  prcuszische  Dienste  nicht 
hinreichend  motiviert.  Nach  dem,  was  vorher  über  die  Wirksamkeit 
desselben  berichtet  ist,  kommt  dieser  Schritt  dem  Leser  einigermaszen 
unerwartet;  und  doch  liesz  sich  die  Begründung,  worauf  wir  hier  nicht 
näher  eingehen  können,  leicht  genug  geben.  Die  zusammenhängende 
Charakteristik,  die  der  Vf.  am  Schlusz  der  Biographie  (S.  25  ff.)  hin- 
zufügt, scheint  uns  fast  zu  doctrinär  oder,  sollen  wir  sagen,  schemati- 
sierend gehalten.  Der  Excurs  von  S.  28  an  kann  nur  mit  Bücksicht 
auf  locale  Verhältnisse  entschuldigt  werden.  Dagegen  sind  die  Bei- 
gaben von  Novalis  Briefen  und  das  Facsimiie  von  einem  derselben 
höchst  dankenswerth. 

Veränderungen  im  Lehrercollegium  sind  nicht  eingetreten. 

Plauen.]  Commentatio  de  Iphigeniae  Tauricae  Euripideae  prologo. 
Scr.  Dr.  H.  Leonhardt.  Der  Vf.  äuszert  sich  zunächst  darüber,  dasz 
er  über  den  dichterischen  Werth  der  Euripideischen  Stücke  im  Allge- 
meinen weder  sprechen  könne  noch  wolle,  ebenso  wenig  auch  über 
eine  Vergleichung  der  Goetheschen  Iphigenie  mit  dem  Drama  des  Eu- 
ripides.  Nach  diesen  Vorerinnerungen  beschränkt  er  sein  Thema  anf 
den  Prolog  der  taurischen  Iphigeneia.  Nachdem  er  über  denselben 
Einiges  im  Allgemeinen  bemerkt  hat,  was  freilich,  wenn  die  Saehe  ein- 
mal berührt  war,  nicht  ausreicht,  wendet  er  sich  ad  expHcanda  protogi 
verba.  Nun  folgt  ein  Mittelding  zwischen  kritischem  und  exegetischem 
Commentar,  in  welchem  Vers  für  Vers  die  verschiedenen  Ansichten 
der  Herausgeber  weitläufig  besprochen,  dazwischen  auch  Sachen  er- 
zählt werden,  die,  wie  die  Sage  vom  Pelops,  lediglich  in  eine  Schul- 
ausgabe gehören.  An  den  meisten  Stellen  trifft  der  Vf.  seine  Entschei- 
dung dahin,  dasz  er  der  Meinung  eines  der  bisherigen  Herausgeber, 
am  häufigsten  Klotz,  beipflichtet.  Wir  haben  hierüber  keine  Bemer- 
kungen hinzuzufügen ,  da  dieselben  eben  nicht  dem  Vf.,  sondern  dessen 
jedesmaligem    Gewährsmann    gelten   würden.    Eine  eigene  Vermutung 


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Berichte  über  gelehrte  Anstalten,  Verordnungen,  statist.  Notizen.'  579 

des  Verf.  erscheint  zuerst  S.  8,  Euripides  habe  die  Beschreibung  des 
Enripos  (V.  6  f.):  äyqrt  bfvmc  Sc  6dfjt'  €öpttroc  iruicvctfc  aöpatc  £Aiccujv 
Kuav^av  ä\a  crp&pei  vom  Philosophen  Anaxagoras  entlehnt;  dasselbe 
konnte  ihm  freilich  auch  jeder  Matrose  sagen,  der  den  Gurs  durch  den 
Euripos  kannte.  Eine  lange  Besprechung  folgt  über  V.  16  f.,  wo  aller- 
dings ein  Verderbnis  in  den  Handschriften  vorliegt.  Der  Vf.  schlägt, 
anscheinend  als  eigene  Vermutung  vor:  öetvfic  b'  dTrAoiac,  irvcujutdriuv 
od  Tirfxdvwv;  aber  eben  dies  steht  doch  bereits  in  Ausgaben  des 
Stückes.  So  in  der  von  Schöne,  die  auffallender  Weise  vom  Vf.  eben- 
sowenig berücksichtigt  wird  als  die  KÖchlyschen  Emendationes  in  Eu- 
ripidis  Iphigeniam  Tauricam.  (Die  Köchlysche  Ausgabe  des  Stückes 
konnte  nicht  benutzt  werden,  weil  sie  erst  nach  Abfassung  des  Pro- 
gramms erschienen  ist)  Uebrigens  billigt  der  Unterzeichnete  weder 
die  eben  angeführte  Lesart,  noch  irgend  einen  der  bisher  vorgeschla- 
genen Verbesserungsversuche  —  die  übrigens  der  Vf.  keineswegs  voll- 
ständig aufzählt  —  vielmehr  scheint  nach  den  deutlichen  Spuren  der 
Handschriften  geschrieben  werden  zu  müssen:  &€ivfjc  ö*  änXoiac  irv€U- 
udxujv  toO  Tutxäveiv  €tc  Ijiirup'  flXGe,  sodasz  toö  TUYX^veiv  Infinitiv 
des  Zweckes  ist,  was  an  einem  andern  Orte'  näher  begründet  werden 
soll.  —  So  weit  über  Einzelheiten.  Im  Ganzen  liegt  es  nicht  in  unse- 
rer Absicht,  etwa  ein  absprechendes  Urteil  über  die  Abhandlung  zu 
fällen;  sie  ist  ohne  Prätension  und  jedenfalls  mit  Fleisz  geschrieben. 
Fernere  Studien  auf  dem  erwählten  Gebiete  werden  den  Vf.  ganz  von 
selbst  zu  weiteren  Resultaten  und  zu  einem  selbständigeren  Urteil 
führen. 

Aus  dem  Jahresbericht.  An  der  mit  dem  Gymnasium  verbunde- 
nen Realschule  wurde  eine  neue  Oberlehrerstelle  gegründet  und  an  die- 
selbe Dr.  R.  T.  Ho  ff  mann  berufen. 

Zittau.]  De  nonnullis  locis  Hippolyti  Euripideu  "V*on  Dr.  Seidler. 
Eine  vortreffliche  Abhandlung,  die  in  gewandtem  Stil  und  mit  voll- 
ständiger Beherschung  des  Stoffes  geschrieben  ist.  Wir  glauben  die- 
selbe mit  Recht  allen,  die  sich  speciell  mit  Euripides  beschäftigen, 
empfehlen  zu  können,  und  überlassen  es  diesen  die  von  dem  Vf.  vor- 
geschlagenen Aenderungen  einer  näheren  Prüfung  zu  unterziehen.  Die 
zu  V.  3  versuchte  Erklärung  von  irövxou  xepfiövuiv  t'  'ArXervTueOuv 
wird  schwerlich  Billigung  finden;  vielmehr  ist  Matthiä  Recht  zu  geben, 
der,  gestützt  auf  ähnliche  Stellen,  nachweist,  dasz  der  Pontus,  uem- 
lich  Euxeinos,  und  die  Säulen  des  Herakles  sprichwörtlich  für  die  En- 
den der  Welt  im  Osten  und  Westen  gegolten  haben.  Unter  den  Con- 
jecturen  weisen  wir-  besonders  hin  auf  die  Verbesserung  V.  468  öokoC 
für  oöfjun,  die  durch  die  glückliche  Zusammenstellung  mit  den  Scholien, 
wo  die  Spur  des  Verderbnisses  noch  deutlich  aufzufinden  war,  über 
jeden  Zweifel  erhoben  ist. 

Aus  dem  Jahresbericht.  An  Stelle  des  Cantor  Scheibe,  der 
nach  fast  vierzigjähriger  Wirksamkeit  sein  Amt  niederlegte,  trat  Paul 
Fischer,  bisher  Gesanglehrer  am  Gymnasium  zu  Zwickau.  Dr.  Jahn 
erlag  einem  Brustleiden ,  und  es  trat  nach  Aufrückung  der  nächstfolgen- 
den Lehrer,  der  bisherige  Vicar  Schiefer  in  die  16.  Lehrstelle  ein. 

Zwickau.]  Quatenus  Vergüiusin  epithetis  imitatus  sit  Theoeritum,  Vom 
Conrector  Dr.  Gebauer.  Die  Abhandlung  steht  in  engem  Zusammen- 
hange mit  der  bereits  früher  vom  Vf.  veröffentlichten  Schrift:  De  poe- 
tarum  Graeeorum  bucolicorum  —  carminibus  in  eclogis  a  Vergilio  expressis 
(Leipzig  1860).  Dieselbe  handelt  im  ersten  Buche  de  imitatione  universa, 
im"  zweiten  (von  S.  142  an)  de  singvlis  eclogis  ac  versibus.  Dieses  zweite 
Buch  aber  ist  nach  der  Angabe  des  Titels  nicht  vollendet;  es  sollte 
ein  zweiter  Teil  die  Nachahmung  im  Einzelnen  weiter  behandeln.  Da- 
von liegt  nun  in  dem  eben  angeführten  Programm  ein  wichtiger  Ab- 
schnitt vor,  die  Nachahmung  in  den  Epithetis.  Für  Leser,  die  der 
Sache  weniger  nahe  stehen,  gestatten  wir  uns  eine  kurze  Bemerkung 


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580   Berichte  über  gelehrte  Anstalten ,  Verordnungen ,  Statist.  Notizen. 

vorauszuschicken.  Im  Allgemeinen',  glauben  wir,  herscht  ein  Vorurteil 
gegen  eine  Untersuchung,  welche  es  sich  zur  Aufgabe  macht,  nachzu- 
weisen, wie  ein  Dichter  dem  andern  bis  in  das  Einzelste  nachgeahmt 
habe.  Das  Wesen  des  dichterischen  Schaffens  scheint  am  allerwenig- 
sten mit  einer  genauen,  bisweilen  selbst  peniblen  Nachahmung  eines 
vorliegenden  Originals  vereinigt  werden  zu  können.  Insbesondere,  so 
sagt  man,  musz  der  Dichterruhm  Vergil's  in  dem  Masze  verringert  wer- 
den, als  mehr  und  mehr  die  Nachahmung  Theokrit's  nachgewiesen  wer- 
de, die  Absicht  des  Verf.  also,  der  doch  offenbar  aus  Hinneigung  und 
Vorliebe  für  Vergil  die  Arbeit  unternommen  habe,  drohe  in  das  Gegen- 
teil, eine  Herabsetzung  des  Dichters  umzuschlagen.  Allein  selbst  zu- 
gegeben ,  dasz  das  richtig  wäre,  so  würde  es  nicht  gegen  den  Vf.  spre- 
chen. Denn  die  Wahrheit  bis  auf  den  Grund  zu  erforschen  ist  unter 
allen  Umständen  die  Aufgabe  der  Wissenschaft,  die  sich  dabei  nicht 
an  Nebenrücksichten  binden  darf.  Ueberdies  ist  gerade  für  die  buko- 
lischen Gedichte  VergiPs  der  Satz  längst  zugestanden,  dasz  sie  durch- 
aus eine  Nachahmung  der  Theokritischen  Idylle  seien ,  und  es  kam  nur 
noch  darauf  an,  diese  Imitation  bis  ins  Einzelste  nachzuweisen.  Frei- 
lich hat  dies  seine  groszen  Schwierigkeiten;  es  ist  nicht  leicht  die 
Grenze  zu  finden,  bis  zu  der  man  Nachahmung  annehmen  soll,  nicht 
leicht  sich  vor  der  Klippe  zu  hüten,  auch  die  zufällige,  unwillkürliche 
Aehnlichkeit  für  eine  absichtliche  Nachbildung  auszugeben.  Dieser 
Schwierigkeiten  ist  sich  der  Verf.  in  dem  vorliegenden  Programme  wol 
bewust;  er  geht  —  was  nur  zu  billigen  ist  —  im  Verhältnis  zu  sei- 
nem frühern  Werke  vorsichtig  einen  Schritt  zurück,  indem  er  eine 
Menge  von  Epitheta,  obwol  sie  ihre  Analogien  bei  Theokrit  haben, 
nicht  unter  die  Kategorien  der  imitatio  rechnet  (S.  9  ff.).  Ferner  weist 
er  mit  richtigem  Tacte,  um  ein  vollständiges  Bild  der  Vergilischen 
Poesie  zu  geben t  auch  diejenigen  Epitheta  nach,  die  bei  den  griechi- 
schen Bukolikern  sich  nicht  finden,  also  selbständig  von  Vergil  gebil- 
det sind  (S.  13  ff.),  wobei  zuletzt  noch  besonders  auf  die  bei  den  Kö- 
mern so  beliebten  geographischen  Epitheta,  die  dem  einfachen  Stile 
Theokrit's  fremd  sind,  aufmerksam  gemacht  wird.  Dies  der  negative 
Teil  der  Abhandlung.  Die  Fälle,  in  denen  Imitation  angenommen 
wird,  werden  im  ersten  Teile  behandelt.  Das  Meiste  ist  hier  ganz 
schlagend  und  evident;  gegen  Einiges  dagegen  ist  Bedenken  zu  erhe- 
ben. Wenn  z.  B.  Theokrit  und  Vergil  die  Milch  weisz  nennen,  so 
wäre  dem  letztern  dabei  schwerlich  bewußte  Nachahmung  zuzuschrei- 
ben; aber  so  steht  die  Sache  nicht  einmal;  vielmehr  sagt  Theokrit 
XeuKoTo  YO^aKTOC,  Vergil  nivei  (actis;  das  ist  keine  Nachahmung,  son- 
dern Ueberbietung,  Steigerung  des  Theokritischen  Ausdruckes.  Das 
Gleiche  liesze  sich  noch  von  manchem  andern  Epitheton  ausführen; 
bei  anderen  wiederum  dürfte  es  gerathener  erscheinen,  sie  unter  die 
andere  Kategorie,  die  der  unbewusten  oder  zufälligen  Uebereinstim- 
mung  zu  setzen.  Doch  das  ist  Sache  des  subjectiven  Ermessens;  jeder 
Einzelne  wird  hier  nach  seinem  Gutdünken  sich  die  Grenze  ziehen 
wollen ,  und  kann  es  um  so  leichter  thun ,  nachdem  vom  Vf.  das  Mate- 
rial so  sorgsam  zusammengestellt  ist.  Denn,  um  dies  noch  zum  Schlusz 
hervorzuheben,  das  ist  ein  Hauptvorzug  der  Schrift,  dasz  sie  in  sich 
die  Gewähr  der  strengsten  Gewissenhaftigkeit  trägt,  dasz  der  Steif  in 
der  Weise  erschöpfend  ist,  wie  es  bei  jeder  Untersuchung  der  Fall 
sein  musz ,  wenn  nicht  jeder  folgende  die  ganze  mühsame  Arbeit  noch 
einmal  von  vorn  anfangen  soll. 

Aus  dem  Jahresbericht.  Dr.  Michel  schied  aus  dem  Collegium, 
um  das  Diaconat  in  Frankenberg  anzutreten.  Neu  angestellt  wurden 
der  Gymnasiallehrer  Wendler  und  der  Religionslehrer  Lesch. 

Dresden.  Fr.  Hnltsch. 


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Miscelle.  —  Personalnotizen.  581 

Miscelle. 

Zur  Verbesserung  des  Schillerschen  Textes. 

Fiesko  —  V  Aufzug  8  Auftritt.  —  Bourgognino:  cIn  dieser  schönen 
herlichen  Nacht ,  wo  ganz  Genua  seine  Freiheit  feiert  wie  den  Bund 
der  Liebe.  Dies  Schwert,  noch  roth  vom  Tyrann enblut ,  soll  mein 
Hochzeitsschmuck  sein'  usw.  So  in  allen  Ausgaben,  die  ich  zu  ver- 
gleichen Gelegenheit  hatte. 

Der  erste  Satz  musz  ohne  Zweifel  geschrieben  werden:  fIn  dieser 
Nacht,  wo  ganz  Genua  seine  Freiheit  feiert,  feiern  wir  den  Bund 
der  Liebe'  usw.  j 

Der  Setzer  und  Corrector  haben  die  Verdoppelung  des  Wortes 
ffeiern'  übersehen  und  dann  fwie'  statt  cwir'  durchschlüpfen  lassen. 

Heidelberg.  Dr.  Wilhelm  Oncken. 


Personalnotizen. 

(Unter  Mitbenutzung  des  f Centralblattes '  von  Stiehl  und  der  'Zeit- 
schrift für  die  österr.  Gymnasien'.) 


Ernennungen,  Beförderungen,  Versetzungen,  Auszeichnungen. 

Bader,  ord.  Lehrer  an  der  königstädt.  Realschule  zu  Berlin,  zum 
Oberlehrer  befördert. 

Bärwinkel,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Erfurt  an- 
gestellt. 

Bis singer,  Studienlehrer  am  Gymnasium  zu  Erlangen,  als  'Professor' 
prädiciert. 

Brüggemann,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Progymnasium  zu  Jülich 
angestellt. 

Carus,  Dr.  Karl  Gust.,  königl.  sächs.  Geheimrath,  erhielt  aus  Anlasz 
seines  50jährigen  Amtsjubiläums  das  Ritterkreuz  des  königl.  sächs. 
Albrechtsordens,  den  kais.  russ.  Stanislausorden  II  Classe  mit  dem 
Stern,  das  kais.  österr.  Ritterkreuz  des  Leopoldordens,  das  königl. 
hannöv.  Ritterkreuz  des  Guelphenordens,  und  den  herzogl.  Sachsen- 
Ernestin.  Hausorden  II  Classe  mit  dem  Stern. 

Collin,  SchAC,  als  wiss.  Hülfslehrer  am  Friedrichscollegium  zu  Kö- 
nigsberg angestellt. 

Eggeling,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Krotoschin,  zum  Oberlehrer 
befördert. 

Fedde,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Krotoschin,  als  Collaborator  am 
Elisabeth- Gymnasium  zu  Breslau  angestellt. 

Fisch,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Düren,  als  ord.  Lehrer  am  Gymna- 
sium zu  Münstereifel  angestellt. 

Fürst,  Dr.  Jul.,  Professor  an  der  Universität  Leipzig,  von  dem  f Freien 
deutschen  Hochstift'  in  Frankfurt  a.  M.  zum  Ehrenmitglied  er- 
nannt. 

Glo*el,  Dr.  A.,  als  Lehrer  an  der  höheren  Bürgerschule  zu  Gladbach 
angestellt. 

Gommer,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Münstereifel 
angestellt. 

Heil  ermann,  Dr.,  bisher  Director  der  Pro v. -Gewerbschule  zu  Coblenz, 
zum  Director  der  Realschule  in  Essen  ernannt. 

Hilgers,  Dr.  Jos.,  bisher  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Trier,  zum  Di- 
rector der  höheren  Bürgerschule  in  Saarlouis  ernannt. 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  11.  40 


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582    ,  Personalnoüzen. 

Ho  ff  mahn,  ord.  Lehrer  an  der  Realschale  zu  Münster,  zum  Ober- 
lehrer befördert. 

Holle,  Hülfslehrer  am  Gymnasium  zu  Minden,  als  ord.  Lehrer  am 
Gymnasium  zn  Duisburg  angestellt. 

Huilemann,  Dr.,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Landsberg  a.  d.  W.,  als 
Subrector  am  Gymnasium  zu  Ploen  in  Holstein  angestellt. 

Janiach,  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Frankfurt  a.  d.  O.,  zum  Director 
der  Realschule  in  Landeshut  ernannt. 

Immhcb,  provis.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Annaberg,  zum  Ober- 
1  ehrer  daselbst  ernannt. 

Kiel  man  n,  Gandidat  des  Predigtamts,  als  ord.  Lehrer  am  Progymna- 
siiim  zu  Trarbach  angestellt. 

Vütt  Kaltenborn,  Dr.  K.,  Professor  an  der  Univ.  Königsberg ,  zum 
Ui.-i  r'.iratl.  hessischen  Legationsrath  und  vortragenden  Rath  im  Mi- 
nisterium des  Auswärtigen  ernannt. 

Kubier,  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Neusz,  zum  Oberlehrer  be- 
fördert. 

Le  ebner,  M.,  Professor  am  Gymn.  zu  Erlangen,  erhielt  die  Lehrstelle 
drr  I  Gymnasialclasse  in  Hof. 

Lorberg,  Dr.,  bisher  an  der  Realschule  in  Barmen,  zum  Oberlehrer 
nn  i\vt  Realschule  zu  Ruhrort  befördert. 

Lukv,  bisher  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Inowraclaw,  als  ord.  Lehrer 
am  Ofafmnasium  zu  Culm  angestellt. 

l$?njre,  bisher  Lehrer  am  Progymnasium  in  Andernach,  als  ord.  Leh- 
rer am  Gymnasium  zu  Düsseldorf  angestellt. 

Mertons,  Candidat  des  Predigtamts ,  als  wiss.  Hülfslehrer  an  der  höh. 
Bürgerschule  zu  Crossen  angestellt. 

Mellitus  sei,  Albert,  herzogl.  braunschweigischer  Hofkapellmeister, 
erhielt  am  6  October  aus  Anlasz  seines  80.  Geburtstages  von  der 
Universität  Jena  das  Ehrendiplom  eines  Dr.  phil.  (Im  Diplom  heiszt 
es:  Universitatis  Jenensis  oHm  alumno,  melodiarum  vere  popula- 
riuiji  iuventori  egregio  sqq.) 

Mil  iijivrgki,  SchAC.,  als  ordentl.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Tilsit 
angestellt. 

Mosüuthal,  Dr.  Hermann,  in  Wien,  erhielt  das  Ritterkreuz  II  Cl. 
<[es  herzogl.  Sachsen-Ernestinischen  Hausordens. 

Mörike,  Eduard,  in  Stuttgart,  erhielt  das  Ritterkreuz  des  königl.  wür- 
fe rnberg.  Friedrichsordens. 

Müller,  Dr.  Iwan,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Erlangen,  zum  ordentl. 
Professor  der  altclassischen  Philologie  an  der  Universität  daselbst 
«.mannt. 

Naumann,  Dr.,  bisher  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Barmen,  zum 
Überlehrer  befördert. 

NigIo,  SchAÖ.,  als  ord.  Lehrer  an  der  städtischen  Gewerbeschule  zu 
Fiei  lin  angestellt. 

P  :i  n  1  i ,  Dr.,  SöhAC,  als  Collaborator  an  der  Friedrich-Wilhelms-(Real-) 
Scli nie *zu  Stettin  angestellt. 

P  f  b  t  i,  Dr.,  Professor  am  Gymnasium  zu  Hof,  in  gleicher  Eigenschaft 
als  Lehrer  der  I  Classe  an  das  Gymnasium  zu  Erlangen  versetzt. 

Piüttuer,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  an  der  höh.  Bürgerschule  zu  Lan- 
gensalza angestellt. 

Fra®t,  jirov.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Barmen,  ebendas.  als  ord. 
Lehrer  angestellt. 

Keiuckens,  Lehrer  am  Progymnasium  in  Linz,  als  ord.  Lehrer  am 
Gymnasium  zu  Trier  angestellt. 

Ei  gl  er,  Friedrich,  emer.  Schulrath  und  Gymnasialinspector  für  Steier- 
mark und  Kärnthen,  ist  in  den  Adelstand  des  österr.  Kaiserstaats 
mit  dem  Ehrenwort  eEdler  von'  erhoben. 


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Personalnotizen.  583 

Schirrmacher,  Dr.,  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  auf  der  Burg  zu 
Königsberg,  zum  Oberlehrer  befördert. 

Schmieder,  Dr.,  Oberlehrer  aus  Cleve,  zum  Oberlehrer  an  der  Real- 
schule in  Barmen  ernannt. 

Schumann,  Dr.,  bisher  Oberlehrer  an  der  Realschule  zu  Ruhrort,  zum 
ßector  der  höh.  Bürgerschule  in  Solingen  ernannt. 

Schupf  er,  Dr.  Franz,  Privatdocent  an  der  Universität  Padua,  zum 
ao.  Professor  der  deutschen  Reichs-  und  Rechtsgeschichte  (mit  ita- 
liän.  Vortragssprache)  an  der  Univ.  Innsbruck  ernannt. 

Schwarz,  Dr.,  ord.  Lehrer  an  der  höh.  Bürgerschule  zu  Düren,  zum 
Oberlehrer  ernannt. 

Streck,  prov.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Chemnitz,  zum  Oberlehrer 
befördert. 

Streit,  Dr.,  Gymnasiallehrer  zu  Greifswald,  als  ord.  Lehrer  an  der 
Realschule  zu  Wittstock  angestellt. 

Szelinski,  Dr.,  SchAC.,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Hohen- 
stein  angestellt. 

Thele,  Candidat  des  Predigtamts,  als  Lehrer  an  der  höheren  Bürger- 
schule zu  Mayen  angestellt. 

Wachsmuth,  Dr.  Wilh.,  ord.  Professor  der  Geschichte  an  der  Univ. 
Leipzig,  Senior  der  philos.  Facultät  daselbst,  bei  seinem  Eintritt 
in  das  hundertste  Docenten-Semester  zum  königl.  sächs.  gehei- 
men Hofrath  ernannt. 

Weber,  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Münster,  zum  Oberlehrer 
befördert. 

Wiel,  Dr.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Progymnasium  zu  Linz  angestellt. 

Wildenhahn,  prov.  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Annaberg,  zum 
Oberlehrer  befördert. 

Zahn,  Dr.,  bisher  ord.  Lehrer  am  Progymnasium  zu  Mors,  als  Ober- 
lehrer an  die  Realschule  zu  Barmen  versetzt. 

Zimmermann,  bisher  erster  Lehrer  zu  Schönau,  zum  Oberlehrer  an 
der  Realschule  zu  Chemnitz  befördert. 

In  Ruhestand  versetzt  i 

Blümeling,  Lehrer  an  der  Realschule  zu  Cöln,  am  1  Octbr. 

Hopf,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Hamm,  unter  Verleihung  des 
königl.  preusz.  rothen  Adlerordens  IV  Cl.  (am  1  Juli). 

Kautz,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Arnsberg,  am  1  Octbr. 

Richter,  Dr.  Friedr.  Aug.,  Oberlehrer  u.  Professor  am  Gymnasium  zu 
Elbing,  am  1  Octbr. 

von  Rücker,  Dr.  Friedr.,  Professor  am  Gymnasium  zu  Erlangen,  un- 
ter Bezeugung  allerhöchster  Anerkennung  und  Beibehaltung  seiner 
Function  als  Religionslehrer  (am  9  Octbr.). 

Scheele,  Dr.,  Professor  u.  geistl.Inspector  am  Pädagogium  U.L.Frauen 
zu  Magdeburg,  am  1  Octbr. 

Weckerle,  Hülfslehrer  am  Gymnasium  zu  Rössel,  am  1  Octbr. 

Gestorben: 

Beilhack,  Dr.  Joh.  Georg,  Professor  u.  Rector  des  Maximiliansgym- 
nasiums zu  München  u.  Kreisscholarch,  f  am  21  Octbr.  im  63  Le- 
bensjahre. 

Deutzinger,  Dr.  Martin,  Prediger  und  Professor  an  der  Universität 
München,  starb  im  Septbr.  zu  Bad  Pfäffers. 

^erth,  Dr.,  Professor  am  Pädagogium  zu  Putbus,  t  »m  27  Octbr. 

<*orski,  Constantin,  Professor  der  Zoologie  an  der  Univ.  Warschau, 
starb  im  Anfang  Septbr. 


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584  Erklärung.  —  Nachträgliche  Berichligungsn. 

Graul,  Dr.  Karl,  Professor  an  der  Universität  Erlangen,  starb  nach 
schweren  Leiden  am  10  Novbr.  (Bereiste  den  Orient  und  besonder- 
Ostindien  in  den  Jahren  1849 — 53  nnd  erwarb  aich  bedeutende  Ver- 
dienste am  die  tamulische  Sprache  und  Litteratur). 

Jacoby,  H.,  Professor  am  Friedr.-Wilhelms-Gymnasium  zu  Posen. 

Jasmin,  Jacques,  der  berühmteste  neuere  Patoisdichter  Frankreichs, 
f  am  7  October.  1798  in  Agen  (dem  Geburtsorte  Jos.  Scaliger's) 
geboren,  ward  er  Haarschneider,  'weil  Friseure  und  Poeten  als  Kopf- 
arbeiter zusammengehören'.  Sein  bekanntestes  Werk  l'Abuglo  de 
Castel  Cuille*  erschien  1836. 

Lindner,  Friedr.  Wilh.,  Dr.  Theol.  u.  Phil.,  Professor  der  Katechetik 
u.  Pädagogik  an  der  Univ.  Leipzig,  f  am  2  Novbr.  im  fast  vollen- 
deten 85  Lebensjahre. 

Osann,  Dr.  Eduard,  Privatdocent  in  der  phil.  Fac.  der  Univ.  Gieszen, 
f  im  Septbr.  zu  Jena. 

Schmidt,  Dr.  Karl,  Seminardirector  und  Schulrath  zu  Gotha,  starb 
am  8  Novbr.  (Eifriger  pädagogischer  Schriftsteller.  'Die  Geschichte 
der  Pädagogik  in  weltgeschichtlicher  Entwicklung'.  4  Bde.) 

Speke,  Capitän,  der  berühmte  Nilforscher,  f  38  Jahr  alt,  am  15  Septbr. 
zu  London. 

Streber,  Dr.  Franz,  Professor  der  christlichen  Kunstgeschichte  an  der 
Universität  München,  starb  nach  langem  Leiden  am  21  Novbr. 
(Eine  der  ersten  Auetori  täten  auf  dem  Gebiete  der  Numismatik.) 

Struve,  Fr.  G.  W.,  berühmter  Astronom,  geb.  1793  zu  Altona,  f  am 
23  Novbr.  zu  Petersburg.  Er  übernahm,  nachdem  er  früher  Dire- 
ctor  der  Sternwarte  zu  Dorpat  gewesen,  im  Jahre  1839  die  Dire- 
ction  des  groszartigen  astronomischen  Instituts  zu  Pulkowa  nnd 
leitete  in  dieser  Stellung  die  ausgedehntesten  astronomischen  Un- 
tersuchungen und  geodätischen  Messungen,  bis  1858  ihn  schwere 
Krankheit  nötigte,  der  anstrengenden  Thätigkeit  zu  entsagen. 

Wachler,  Dr.,  Consistorial-  und  Schulrath  zu  Breslau. 


Erklärung. 

Die  e Erwiderung'  des  Herrn  Dronke  im  10.  Heft  S.  531  habe  ich 
gelesen,  finde  es  aber  nicht  nötig,  auf  seine  Insinuationen  ein  Wort 
zu  entgegnen.  ß. 

Nachträgliche  Berichtigungen. 

S.  278  Z.  29  lies  ' Generationen'  für  'Generation' 

S.  279  Z.  33  ist  'Euch'  zu  streichen. 

S.  280  Z.  43  lies  'seines'  st.  'eines'. 

S.  281  Z.  18  fehlen  nach  'Tacitus'  die  Worte:  'wie  durch  deutsche  und 

lateinische  Ausarbeitungen'. 
S.  282  Z.  25  lies  'um'  statt  'nur'. 
S.  286  Z.  45  lies  'Gegensätze'  statt  'Gegenstände. 
S.  287  Z.  41  lies  'Aber  dennoch'  statt  'Allerdings'. 
S.  288  Z.  27  lies  'sittlichen'  statt  'christlichen'. 


S.  446  Z.  17  v.  u.  der  Mittwoch  statt:  die  M. 
„     „    „    12  v.  u.  den  M.  u.  S.  statt;  die  M.  u.  S. 
„  457  Z.  20  v.  u.  Jahre  statt:  Jahren. 
„  459  „    10  v.  u.  nur  noch  statt:  nur. 


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Zweite  Abteilung. 


40.  Das  Verhältnis  der  Gymnasien  zur  Entwicklung  unserer 
Litteratur  während  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts.   Vom  Director  Prof.  Kämmet  in  Zittau     .     .    . 

41.  Anz.  v.  F.  Bässler:  Wilfried,  episches  - 

Gedicht.    Berlin  1859.  Vom  Gymna- 

42.  Anz.  v.  F,  Bässler:  Legenden  u.  Balla-      siallehrer Dr. 
den.     Neue  Ausgabe.    Berlin  1857.  J  Siegfried    zu 

43.  Anz.  v.  F,  Bässler;    Hellenischer   Hei-        Magdeburg 
densaal.    2e  Auflage.     Berlin  1862. 

44.  Anz.  v.  H.  fiheinhard:  Roma  vetus.  Vom  Studienrector 
Prof.  Dr.  L.  von  Jan  in  Erlangen  .     .     » 

45.  Anz.  v.  J.  A.  Härtung:  Themata  zu  deutschen  Ausarbei- 
tungen.    Leipzig  1862.    Von  G.  in'A 

46.  Ein  Wort  über  latein.  Anmerkungen  in  den  Ausgaben 
griechischer  Prosaiker,  Vom  Rectör  emer.  Dr«  Rüdiger  in 
Dresden 

Gymnasial-Programme  aus  dem  KÖnigr.  Sachsen.  Vom  Ober- 
lehrer Dr.  /'.  Hultsch  in  Dresden 

Budissin  (572),  Dresden  (574  —  576),  Grimma  (576  —  577), 
Leipzig  (577—578),  Meiszen  (578),  Plauen  (578—579),  Zittau 
(579—580). 

Miscelle.  Zur  Verbesserung  des  Schill  ersehen  Textes.  Vom 
Privatdocenten  Dr.   W.  Oncken  in  Heidelberg      .... 

Personalnotizen 

Erklärung.    Von  />.      ♦ 

Nachträgliche  Berichtigungen 


Seite 
533—555 

555—563 

564—565 
565—570 

571-572 
572—580 


581 

581—584 
584 
584 


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Leipzig, 

Druck   und  Verlag  von   B.   6.    Teobner. 
1964. 


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Zweite  Abteilung: 

ffir  Gymnasialpädagogik  und  die  übrigen  Lehrfächer, 

mit  Ausschluss  der  classischen  Philologie, 
herausgegeben  ym  Professor  Dr.  Herrn  ans  Masin  s. 


47. 


Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den 

Schulen. 


4)  Die  Leibesübungen.  Eine  Darstellung  des  Werdens  und  We- 
sens der  Turnkunst  in  ihrer  pädagogischen  und  culturhisto- 
rischen  Bedeutung  von  Dr.  Fr.  M.  Lange.  Gotha,  Besser 
1863.    159  S.  8. 

2)  Ueber  die  Vereinigung  der  militärischen  Instruction  mit  der 

Volkserziehung  und  insbesondere  über  militärische  Gymna- 
stik. Vier  Preisschriften  herausgegeben  von  der  schweizeri- 
schen Militärgesellschaft  Bern,  Rieder.  1863.  IV  u.  108  S.  8. 

3)  Turnschule  für  die  deutsche  Jugend,  als  Anweisung  für  die 

Turnlehrer  in  Württemberg  bearbeitet  von  Dr.  0.  H.  Jäger, 
vormals  ao.  Professor  der  praktischen  Philosophie  und  Pä- 
dagogik an  der  Hochschule  Zürich,  derzeit  Lehrer  an  der 
Turnschuh  in  Stuttgart  Mit  2  Tafeln  Zeichnungen.  Leipzig, 
E.Keil.  1864.  XX  u.  232  S.  8. 

4)  H.  F.  Dieter1  s  Merkbüchlein  für  Turner.    Herausgegeben 

von  Dr.  E.  Angerstein.  5.  Auflage.  Halle,  Buchhandlung 
des  Waisenhauses.    1863.   Taschenformat.   XII  u.  300  S. 

5)  Turn- Merkbüchlein  für  Schul-  Turnanstalten.    Zum  Handge- 

brauche für  Turnlehrer,  Vorturner  und  Turnschüler  von 
M.  Kloss.  Leipzig,  Weber  1864  (5  Ngr.). 

6)  Anleitung  zur  Betreibung  des  Turnunterrichts  in  den  Zürche- 

rischen Volksschulen.   Zürich  1863. 

7)  Neue  Jahrbücher  für  die  Turnkunst.   Blätter  für  die  Angele- 

genheiten des  deutschen  Turnwesens ,  vornehmlich  in  seiner 
Richtung  auf  Erziehung  und  Gesundheitspflege.  Zugleich 
Organ  der  deutschen  Turnlehrerschaft   IX.  Band.    In  Ge- 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  «.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  12.  D|l  ed  by  QoC 


586    Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen. 

meinschaft  mit  Friedrich,  Kawerau,  Lion,  Schild- 
back,  Waszmannsdor ff  herausgegeben  von  M.  Kloss. 
Dresden,  Schönfeld.  1863.  366  S.  gr.  8  (2  Thlr.) 
8)  Die  Freiübungen  und  ihre  Anwendung  im  Turnunterricht  Von 
Dr.  Maul,  Lehrer  am  Realgymnasium  in  Basel  Darmstadt 
1863. 

Die  auf  das  Turnen  bezügliche  Litteratur  der  neueren  Zeit  dreht 
sich  immer  noch  häufig  um  die  Frage :  wie  der  Turnunterricht  in  nähere 
Beziehung  zur  Waffenführung  und  zum  Wehrwesen  im  Allgemeinen  zu 
setzen  sei.  Bei  der  14n  Versammlung  deutscher  Lehrer  in  Mannheim  kam 
diese  Frage  zur  Discussion,  wozu  Professor  Schröder  den  Anstosz  gab 
durch  seinen  Vortrag:  'Ueber  den  Mangel  an  aller  wehrhaften  Erziehung 
der  Jugend.'  Die  Verhandlungen  über  diesen  Gegenstand  waren  nicht 
unwichtig,  besonders  da  hierbei  das  Capitel  von  den  Jugendwehren 
berührt  wurde,  worüber  dann  in  der  Pfingstwoche  1864  zu  Bruchsal 
noch  specielle  Berathungen  auch  unter  Teilnahme  yra  hervorragenden 
Pädagogen  und  Schulmännern  Süddeutschlands  ihre  Fortsetzung  erhielten. 
Die  Resultate  dieser  Berathungen  über  Jugendwehren  sind  wenig  erheb- 
lich gewesen,  und  es  bleibt  bemerkenswerth,  wie  namentlich  von  der 
Schweiz  aus,  wo  sich  das  Gadettenwesen  am  meisten  auf  günstigem  Bo- 
den entwickeln  konnte,  die  gewichtigen  Stimmen  immer  häufiger  werden, 
welche  die  Bedeutung  des  Gadettenwesens  aus  mehrfachen  Gründen  an- 
zweifeln. 

Bei  uns  hat  sich  namentlich  im  Süden  Deutschlands  das  Bestrehen 
kund  gegeben ,  jene  Schweizereinrichtung  zu  adoptieren ;  die  sogenannten 
Jugendwehren  zu  Stuttgart  und  Frankfurt  a.  M.  sind  in  dieser  Beziehung 
wol  die  hervorragendsten  Erscheinungen ,  über  deren  Bedeutung  die  Er- 
fahrungen abzuwarten  sind. 

Im  Allgemeinen  dürfte  jene  in  neuerer  Zeit  mehr  hervorgetretene 
Neigung,  dem  Jugendturnen  militärische  Ziele  zu  stecken  und  eine  mili- 
tärische Form  zu  geben,  zunächst  nur  ein  Entwickelungsstadium 
bezeichnen ,  wie  es  die  Turnsache  in  mannigfacher  Form  hei  ihrer  Wei- 
terentwickelung zu  durchlaufen  hat.  Es  hat  Zeiten  gegeben,  wo  man  dem 
Turnen  vorwiegend  ein  nationales  oder  selbst  politisches  Colorit 
zu  gehen  bemüht  war;  ein  anderes  Mal  sah  man  es  ausschlieszlich  als 
Diätetikum  an;  gegenwärtig  haben  es  die  Zeitströmungen  wieder  ein- 
mal mit  sich  gebracht,  dasz  man  bemüht  ist,  die  Turnplätze  mehr  als 
seither  zu  Vorschulen  für  den  Krieg  zumachen.  Ueber  die  Art, 
wie  solches  Ziel  erreicht  werden  soll ,  ist  man  zur  Zeit  noch  verschiede- 
ner Meinung ,  was  wir  berühren  werden ,  wenn  es  sich  um  Besprechung 
vorstehender  Schriften  handelt.  Im  Allgemeinen  bleibt  Ref.  bei  der  An- 
sicht stehen,  welche  schon  A.  Spiesz  aussprach,  der  in  der  Schweiz  viel- 
fache Gelegenheit  hatte,  das  Gadettenwesen  kennen  zu  lernen  und  sich 
vom  Standpunkte  des  Erziehers  und  Turnlehrers  also  aussprach:  eNur 
wenn  in  den  Schulen  der  gesamten  Jugend  auch  in  der  Gemein*  und  Ord- 
nungsübung, wie  sie  das  Turnen  neben  der  bisher  vorwaltenden  Einzel- 


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Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen.     587 

Übung  zu  erzielen  hat,  geschult  wird  (denn  der  Leib  der  geordneten 
Schaar  bedarf  ebensosehr  der  Uebung ,  wie  der  Leib  des  Einzelnen),  kann 
das  Turnen  mit  Recht  als  Grund  und  Boden  angesehen  werden,  auf  wel- 
chem die  Ordnungsfertigkeit  und  damit  die  Kriegsfertigkeit  des  ganzen 
Volkes  wurzelt  und  wächst.  Dann  kann  auch  die  allgemeine  Jugendbil- 
dungsanstalt, wie  wir  sie  in  den  öffentlichen  Schulen  aller  Art  erkennen, 
die  eigentliche  Vorschule  werden  für  das  stehende  Heer  und  die  Land- 
wehr und  bildet  die  nie  versiegende  Quelle  der  Wehrkraft  des  gesamten 
Volkes.  Nur  möge  man  nicht  den  Schlusz  ziehen,  als  wollten 
wir  die  Schule  zur  Kriegsanstalt  verkehren,  das  Kriegs- 
wesen zu  einer  Schularbeit  machen.9  Das  Referat  aber  die  vor- 
stehenden Schriften  wird  uns  Gelegenheit  bieten,  nochmals  auf  den  Ge- 
genstand zurückzukommen. 

Beginnen  wir  sogleich  mit  der  historisch -kritischen  Arbeit  des  Dr. 
Lange,  so  ist  dieselbe  der  Aufmerksamkeit  der  gelehrten  Schulmänner 
ganz  besonders  zu  empfehlen,  weil  hier  etne  ganz  treffliche  Uebersicht 
der  Entwickelung«  des  pädagogischen  Turnwesens  von  seinen  Anfängen 
im  Aitertume  bis  auf  die  neueste  Zeit  gegeben  wird.  Ein  solches  Werk 
wird  alle  denen  gute  Dienste  leisten ,  welche  sich  mit  Gewissenhaftigkeit 
in  das  rechte  Verhältnis  zum  heutigen  Erziehungswesen  stellen  wollen 
und  auf  eine  Vermittelung  beider  Gebiete  hingewiesen  sind. 

Es  war  die  Arbeit  des  Dr.  Lange  zunächst  für  Schmid?s  fEncyclopädie 
des  Erziehungs-  und  Unterrichts  wesens '  bestimmt -und  liegt  nun  hier  in 
eigener  Ausgabe  mit  vielfachen  Veränderungen  und  Erweiterungen  vor. 
Weil  der  Verf.  seine  Aufgabe  cals  Turner,  als  Liebhaber  historischer  For- 
schungen und«als  Lehrer*  mit  der  lebhaftesten  Vorliebe  ergreift,  ist  sie 
ihm  auch  in  allen  einzelnen  Teilen  recht  wol  gelungen. 

Dr.  Lange  hat  seine  geschichtsphilosophischen  Untersuchungen  in 
10  Abschnitten  dargelegt,  welche  für  die  geschichtliche  Ent Wickelung 
der  Sache  sehr  bezeichnend  sind :  Begriff  und  Wesen  der  Leibesübungen 
—  die  Gymnastik  der  Hellenen  und  der  Römer  —  die  Leibesübungen  des 
Mittelalters  und  ihre  Ausläufer  in  der  Gegenwart — Entstehungsgeschichte 
des  Turnwesens.  Gutsmuths  —  Jahn  und  die  deutsche  Turnkunst  — 
Entwickelung  des  Schulturnens.  Spiesz  —  Ausländische  Sprossen.  Ling. 
Rothstein  —  Das  Turnen  der  Mädchen  —  Das  Turnen  in  der  Volksschule 
und  die  Bedeutung  des  Schulturnens  für  das  Heerwesen  —  Die  Litteratur 
und  Leibesübungen,  die  Hülfswissenschaften  und  die  wichtigsten  Pflege- 
stätten der  Gegenwart. 

Während  die  ersten  3  Abschnitte  für  die  Leser  dieser  Blätter  meist 
Bekanntes  bieten  durften,  da  es  sich  hier  vornehmlich  um  die  antike  Gym- 
nastik dreht,  so  bietet  die  Langesche  Schrift  von  S.  50  ab  Neues,  da 
nun  die  Entwickelung  des  modernen  Turnwesens  sehr  eingehend  verfolgt 
wird.  Von  Guthsmuths  an  zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts  datiert  der 
Verf.  diese  neuere  Turngeschichte ,  deren  Charakter  damit  bezeichnet 
wird,  dasz  das  Turnen:"  1)  sich  nun  eng  an  die  Erziehung  anschlieszt,  2) 
Gemeingut  Aller  zu  werden  strebt,  und  3)  nach  systematischer  und  kunst- 
mäsziger  Vollendung  trachtet. 

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588    Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen. 

Die  Entwickelung  dieser  Momente  weist  unser  Gewährsmann  im 
Speciellen  nach,  indem  er  die  eigentumliche  Wirksamkeit  von  Guts- 
muths,Jahn  und  S  p  i  e  s  z ,  offenbar  die  Hauptvertreter  von  Geschichts- 
epochen des  deutschen  Turnens ,  ganz  treffend  schildert  und  dabei  immer 
die  Stellung  der  Turnsache  innerhalb  der  Geschichte  der  Pädagogik  mit 
groszer  Umsicht  und  kritischem  Auge  verfolgt.  Während  nach  Dr.  L. 
Gutsmuths  (die  allgemeine  Teilnahme  für  den  Aufbau  der  Leibesübungen 
gewonnen  hatte9,  gab  Jahn  'denselben  in  Deutschland  eine  ganz  bestimmte 
Richtung ,  mit  der  nach  mancherlei  Wandlungen  noch  heute  die  wesent- 
lichsten Vorzüge  und  Fehler  der  mächtig  herangewachsenen  Sache  zu 
sammenhängen.'  Während  bei  Gutsmuths  ein  Anknüpfen  an  die  helleni- 
sche Gymnastik  bemerkbar  ist,  verliert  sich  dasselbe  bei  Jahn,  der  so  viel 
als  möglich  sachliche  und  sprachliche  Anknüpfungspunkte  an  die  Leibes- 
übungen unserer  deutschen  Vorfahren  hervorsuchte. 

Die  Bedeutung  des  mit  Jahn  auftretenden  Gerätturnens,  das  nament- 
lich in  den  Barren-  und  Reckübungen  seinen  Mittelpunkt  findet,  bringt 
Dr.  Lange  sehr  geschickt  in  Zusammenhang  mit  der  industriellen  Ent- 
wickelung der  Neuzeit,  indem  er  nachweist,  dasz  die  moderne  Turnkunst 
im  Anschlüsse  an  praktische  Zwecke  viel  mehr  als  die  hellenische  Gym- 
nastik mannigfaltigere  Motion  entwickeln  könne  und  deshalb  eine  reichere 
Auswahl  von  Bewegungsformen  bedürfe  ohne  doch  das  Princip  der  ver- 
geistigenden und  veredelnden  Durchbildung  des  Leibes  aufzugeben. 

Sehr  beachtenswerth  ist  eine  sich  daran  schlieszende  Kritik  der 
Reck-  und  Barrenübungen  im  Besonderen,  welche  vom  physiologischen 
und  ästhetischen  Standpunkte  aus  sowol  dem  Turnen  der  Vereine  wie 
der  Schulen  sehr  ersprieszlich  sein  kann.  Ist  auch  heutzutage  in  das  Ge- 
rätturnen schon  ein  gut  Teil  ratio  mehr  gekommen,  als  früher,  so  ist 
doch  noch  nicht  immer  und  nicht  überall  das  Einfache,  das  Nützliche  und 
Schöne  des  Vorhersehende,  sondern  häufig  genug  dominiert  noch  das 
Complicierte,  das  Unnütze  und  Häszliche.  Dr.  Lange's  Hinweisungen  und 
Winke  sind  in  dieser  Beziehung  so  zutreffend ,  weil  sie  von  der  richtigen 
Auffassung  des  Turnens  als  Kunst  und  Wissenschaft  ausgehen. 

Der  6.  Abschnitt:  c Entwickelung  des  Schulturnens9  verbreitet  sich 
ausführlich  über  die  Bestrebungen  von  A.  Spiesz  in  Beziehung  auf  die 
Einordnung  des  Turnens  in  den  Organismus  der  Schule,  womit  die  Rich- 
tung in  Betracht  gezogen  wird ,  welche  die  Sache  heutzutage  im  Allge- 
meinen genommen  hat.  Dr.  Lange  legt  mit  Kennerblick  die  Stärken  und 
Schwächen  des  Spieszschen  Turnsystems  zu  Tage  und  stellt  den  Refor- 
mator des  neueren  Schulturnens  dar  als  den  Mann  fder  nicht  nur  ein 
neues  Turnsystem  schaffen,  sondern  es  auch  mit  Geist  und  Gemüt  he- 
ieben konnte.9 

Nicht  minder  einverstanden  ist  Ref.  mit  den  Urteilen  Dr.  Lange's  im 
7.  Abschnitte,  wo  er  auf  Ling  und  Rothstein  zu  sprechen  kommt  und 
z.  B.  S.  109  sagt:  'Das  Lingsche  Turnen  ist  für  die  ganze  Entwickelung 
der  Sache  der  Leibesübungen  von  groszer  Wichtigkeit  geworden,  nicht 
etwa  wegen  des  Lärms,  den  die  mit  ihm  verbundene  Heilgymnastik  iu 
Europa  gemacht  hat,  noch  weniger  wegen  des  Anspruchs  ausschliesz- 


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Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen.     589 

1  icher  Wissenschaftlichkeit,  welchen  einseitige  Anhänger  Ling's  in  Deutsch- 
land erhoben  haben,  wol  aber  wegen  der  sorgfältigen  Erhaltung  und  ener- 
gischen, wenn  auch  nicht  eben  glücklichen  Fortbildung  solcher  Keime  der 
deutschen  Ueberlieferung,  welche  durch  Jahn's  Persönlichkeit  und  die 
Ungunst  der  Zeiten  diesseits  der  Ostsee  fast  in  Vergessenheit  gerathen 
waren.  Das  verfehlte  Bestreben ,  Lingsches  Turnen  zur  ausschlieszlichen 
Geltung  zu  bringen,  hat  in  Deutschland  andrerseits  auch  zu  einer  Berüh- 
rung der  verschiedenen  Richtungen  geführt ,  welche  sich  nach  Abklärung 
des  erbitterten  Streites  und  Beseitigung  der  Bedrohung  eines  nationalen 
Gutes  höchst  fruchtbar  erweisen  musz ,  ja  die  vielleicht  notwendig  war, 
um  das  Turnen  wieder  in  jene  reine  Bahn  zu  lenken ,  in  welcher  es  be- 
stimmt ist ,  gerade  auf  deutschem  Boden  zuerst  ein  bleibender  Bestandteil 
der  Nationalerziehung  zu  werden.5 

In  dem  9.  Abschnitte,  wo  von  der  Bedeutung  des  Schulturnens  für 
das  Heerwesen  die  Rede  ist,  trifft  der  Vf.  unseres  Erachtens  das  Rechte, 
indem  er  von  dem  Gesichtspunkte  ausgeht,  fdasz  in  der  Erziehung  immer 
die  Erziehung  die  Hauptsache  bleiben  musz,  dasz  aber  auch  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  von  dem  ohnehin  niemals  rein  darzustellenden  ab- 
stracten  Ideale  zu  Gunsten  der  concreten  Aufgaben  des  staatlichen  Lebens 
abgewichen  werden  darf.  Unsere  Aufgabe  wird  um  so  glücklicher  gelöst 
sein,  je  mehr  es  gelingt,  gerade  in  der  Vorbereitung  auf  den  Kriegs- 
dienst ein  allgemein  pädagogisches  Element  und  innerhalb  der  rein  er- 
zieherischen Thätigkeit  ein  dem  Wehrsystem  dienendes  herauszufinden 
und  diese  beiden  Elemente  zu  einem  neuen ,  einheitlichen  Lebenskeim  für 
den  Turnunterricht  der  männlichen  Jugend  zu  verschmelzen.  Wir  ver- 
werfen demnach  jenen  einseitigen  Ausgang  vom  Bedürfnis  derVaterlands- 
vertheidigung ,  der  sich  in  einem  allgemeinen,  vollständig  organisierten 
und  vom  Turnunterrichte  getrennten  Cadettenwesen  ausspricht.'  Dr. 
Lange  spricht  sich  mehrfach  anerkennend  über  das  schweizerische  Cadet- 
tenwesen aus  und  bezeichnet  es  nur  als  verwerflich,  'dasz  ein  solches 
Cadettenwesen  sich  von  den  eigentlichen  Erziehungszwecken  völlig  ab- 
sondert'. Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wendet  sich  Dr.  Lange  einge- 
hend demjenigen  Teile  des  Spieszschen  Turnens  zu,  welcher  offenbar  den 
jungen  Turner  für  die  Vorkommnisse  bei  dem  heutigen  Heerdienste  zweck- 
mäszig  vorbereitet  und  dennoch  sich  immer  innerhalb  des  Kreises  einer 
pädagogischen  Turnkunst  hält.  Im  Anschlüsse  an  die  theoretische  Be- 
handlung dieser  Frage  gibt  Dr.  Lange  noch  den  Abrisz  eines  Stufenganges 
für  den  Turnbetrieb  der  öffentlichen  Schule,  wobei  die  innere  Beziehung 
des  Turnens  zum  Exercieren  durch  eine  ganz  praktische  Verteilung  na- 
mentlich der  turnerischen  Frei-  und  Ordnungsübungen  auf  4  Altersstufen 
festgehalten  wird.  Dr.  Lange  trifft  in  diesem  Abschnitt  den  Nagel  auf 
den  Kopf,  indem  er  darlegt,  welche  Modifikationen  und  Erweiterungen 
der  Turnunterricht  erhalten  kann,  um  in  einer  durchgreifenderen  Weise, 
ohne  ein  eigentliches  Cadettenwesen,  auf  die  Wehrtüchtigkeit  vorzube- 
reiten. Nach  des  Ref.  Ansicht  ist  damit  der  allein  richtige  Weg  bezeich- 
net worden,  der  in  dieser  Beziehung  von  den  Schulturnanstalten  Deutsch- 
lands einzuschlagen  sein  wird,  zum  Teil  auch  schon  eingeschlagen  ist. 


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590    Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheilspflege  in 


Der  10.  und  letzte  Abschnitt  des  Langeschen  Werkes  ist  eine  recht 
willkommene  Beigabe  für  Orientierung  auf  dem  Gebiete  der  Litteratur 
des  Turnens  wie  der  Hauptrichtungen  der  verschiedenen  Turnschulen. 

Wir  sind  aberzeugt,  dasz  nicht  blosz  Fachleute,  sondern  auch  Ge- 
lehrte und  Schulmänner  die  Langesche  Schrift  mit  besonderer  Befriedigung 
lesen  werden,  und  können  sie  gerade  für  diese  Kreise  als  wichtig  und  in- 
structiv  empfehlen. 

Nr.  2  unseres  Schriftenverzeichnisses  enthält  vier  Preisschriften, 
welche  das  Centralcomite  der  schweizerischen  Militärgesellschaft  in  Lu- 
gano veröffentlicht,  nachdem  sie  zur  Concurrenz  die  Preisfragen  ausge- 
schrieben hatte:  l)  In  welcher  Weise  und  in  welchen  Richtun- 
gen kann  die  militärische  Instruction  mit  der  Volkserzie- 
hung vereinigt  werden?  2)  Worin  soll  die  Aufgabe  der 
militärischen  Gymnastik  bestehen  und  in  welcher  Art  kann 
die  bürgerliche  Gymnastik  mit  ihr  in  Einklang  gebracht 
werden? 

Das  Preisgericht  hat  den  1.  Preis  dem  eidgen.  Stabsmajor  Stooker 
in  Luzern,  den  2.  dem  Hauptmann  Lemp  in  Bern,  den  3.  dem  Turnlehrer 
Nippeler  in  Zürich  und  den  4.  dem  Advocaten  Gaduft  in  Chur  zuer- 
kannt, und  in  dieser  Reihenfolge  werden  auch  die  Preisschriften  geboten, 
welche  nicht  nur  ein  specifisch  militärisches ,  sondern  ein  hohes  allge- 
meines, insbesondere  pädagogisches  Interesse  darbieten  und  deswegen 
zur  Kenntnis  der  schweizerischen  Erziehungsbehörden  gebracht  wurden. 

Beziehen  sich  diese  Arbeiten  auch  zunächst  auf  schweizerische  Ver- 
hältnisse ,  so  haben  die  angeregten  Fragen  doch  auch  für  uns  allgemeine 
Bedeutung ,  da  sie  das  Erziehungs-  und  Unterrichtswesen  so  nahe  berüh- 
ren und  mancherlei  wichtige  Erfahrungen  zu  Tage  fördern. 

Für  unser  Referat  und  den  darin  geltend  gemachten  Grundsatz  bleibt 
es  wichtig,  dasz  gerade  die  schweizerischen  Militärs  sich  im  Allgemeinen 
keineswegs  zu  Gunsten  des  Gadettenwesens  aussprechen,  sondern  in  der 
rationellen  turnerischen  Ausbildung  der  Jugend  ein  unerläszliches  Mittel 
zur  militärischen  Vorbildung  erblicken.  Wo  es  sich  um  die  Zugrunde- 
legung eines  Turnsystems  handelt,  sprechen  sich  die  Preisschriftstücke 
durchweg  für  die  Spieszsche  Turnmethode  aus;  z.  B.  Major  Stooker  S. 43. 
€Eine  dem  Zwecke  entsprechende  Turnmethode  scheint  mir  aber  die  für 
unsere  Schüler  von  Hrn.  Nippeler  bearbeitete  Spieszche  zu  sein  (Turnin- 
spector  Nippeler  zu  Bern  ist  ein  Schüler  von  Spiesz  und  unter  den 
schweizerischen  Turnlehrern  ein  Hauptvertreter  der  Spieszschen  Rich- 
tung) ,  welche  sich  bereits  in  dem  Ganton  Zürich  einer  Einführung  in  den 
Volksschulunterricht  erfreut  und  gewis  die  glänzendsten  Erfolge  haben 
wird.  Bei  dieser  Methode  wirkt  der  Lehrer  nicht  nur  physisch,  sondern 
direct  intellectuell ,  und  wie  bei  dem  Turnen  der  alten  Spartaner  auch 
moralisch ;  es  turnt  eben  Geist  und  Körper/ 

Die  Forderungen,  welche  zu  Gunsten  des  Turnunterrichtes  in  Betreff 
der  Lectionspläne  gemacht  werden,  sind  ziemlich  weitgehend,  aber  doch 
erreichbar.   Wir  wünschten,  dasz  diese  Preisschriften  von  solchen  Gym- 


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Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheilspflege  in  den  Schulen.     591 

nasialdirectoren  eingesehen  würden ,  weiche  auszer  sich  gerathen ,  wenn 
sie  einmal  von  12  wöchentlichen  Lateinstunden  einer  Unterclasse  eine 
oder  zwei  zu  Gunsten  des  Turnens  opfern  sollen.  In  den  Masznahmen 
der  schweizerischen  Erziehungsbehörden  macht  sich  ein  gesunder  prakti- 
scher Sinn  bemerkbar,  der  immerhin  auch  für  deutsche  Verhältnisse  Be- 
deutung hat.  In  diesem  Sinne  sei  auch  auf  das  unter  6)  aufgeführte 
SchriFtchen  hingewiesen,  das  von  dem  Director  des  Zürcherischen  Er- 
ziehungswesens Dr.  Suter  redigiert  und  dafür  bestimmt  ist,  den  für  die 
Durchführung  der  Turnfrage  zunächst  in  Betracht  kommenden  Schul  - 
behörden  die  erförderlichen  Winke  und  praktischen  Fingerzeige  zu 


Als  hierher  gehörige  Gegenstände  werden  behandelt:  Umfang  der 
Schulturnübungen  —  Verteilung  des  Turnunterrichtsstoffes  auf  die  ein- 
zelnen Schulabteilungen  —  die  Zeit ,  welche  den  Leibesübungen  einzu- 
räumen ist  —  Turarämne  —  Schulbehördliche  Masznahmen  für  Beauf- 
sichtigung und  Leitung  der  Schulturnanstalten.  Für  Schulräthe  und 
Schulinspectoren  werden  hier  alle  die  Einzelnheiten  geboten  und  mit 
Motiven  versehen,  welche  für  gedeihliche  Leitung  des  Turnens  von  Be- 
deutung sind. 

Die  Turnschule  des  Professor  Dr.  J  äger  (Nr.  3)  steht  im  Gegensatze 
zu  dem  von  uns  als  stichhaltig  bezeichneten  Princip,  welches  die  rein 
menschliche  Ausbildung  der  Jugend  beim  Turnen  festhält  und  dabei  den- 
noch realen  Zwecken  Rechnung  trägt,  wie  das  namentlich  von  Spiesz  und 
Lange  hinsichtlich  des  Turnens  als  Propädeutik  für  den  Wehrdienst  theo- 
retisch und  praktisch  nachgewiesen  wurde.  Prof.  Jäger  will  Nichts  wis- 
sen von  der  allgemeinen  Bedeutung  des  Turnens,  wie  man  sie  seither  in 
Zusammenhang  brachte  mit  Gesundheit,  Frische,  Rüstigkeit,  Kraft,  Ge- 
wandtheit, Behendigkeit,  Mut,  Ausdauer,  Besonnenheit,  Selbstbeherschung, 
Geistesfreiheit,  harmonischer  Ausbildung  u.  dgl.  Er  verlangt  vielmehr, 
dasz  ier  ideale  Zweck  des  Turnens  bei  Seite  gestellt  werde  und  dafür 
der  reale  dominiere.  Er  setzt  das  Wesen  der  deutschen  Turnkunst  darein, 
'dasz  inihrdasNützlichkeitsprihcip  herscht,  es  sich  handelt  um  die 
Wehrhaftmachung  des  Volkes  für  den  Kampf  um  das  Vaterland 
gegen  äuszere  Gewalt,  und  sie  selbst  somit,  dem  Ernste  des  praktischen 
Lebens  dienstbar,  als  Mittel  zu  gelten  habe  für  diesen  bestimmten  Zweck.' 
Indein  Professor  Jäger  ganz  entschieden  nur  die  Wehrtendenzen 
des  Turnens  zur  Geltung  bringen  will  und  das  Jugendturnen  nur  auf 
das  allgemeine ,  'männerwürdige*  Ziel  der  Waffenführung  und  Wehrtüch- 
tigkeit bezieht,  löst  er  davon  alle  die  in  der  Sache  selbst  liegenden  Trieb- 
federn und  Hülfsmittel  los ,  wie  sie  von  den  Pflegern  des  Turnens  von 
Gutsmuths  bis  auf  unsere  Tage  mit  so  glücklichen  Erfolgen  zur  Geltung 
gebracht  wurden.  Wir  wTollen  die  Gründe  nicht  wiederholen,  welche 
dagegen  sprechen,  das  Jugendturnen  also  dem  Nützlichkeitsprincip  zu 
opfern,  wie  es  Prof.  Jäger  thut,  sondern  nur  seinen  Plan  verfolgen,  wie 
er  sich  die  Ausgestaltung  des  Turnunterrichtes  in  seiner  steten  Beziehung 
zur  Waffenführung  denkt  und  angelegen  sein  läszt. 

Seinem  Grundsatze  gemäsz  gibt  Prof.  Jäger  den  Turnübungen ,  na- 


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592    Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen. 

mentlich  den  Frei-  und  Ordnungsübungen  gleich  von  vornherein  die  Form 
von  militärischen  Exercitien,  die  als  Ordnungsschule  'durch  die  Beziehung 
auf  den  ihrer  harrenden  Ernst  des  Lebens,  die  Zucht  des  Mannes  im  Heere 
und  überhaupt  die  Manneszucht  als  solche  ausmachen.'  Diese  militärische 
Form  wird  namentlich  in  der  Bevorzugung  von  fechtartigen  Bewegungen 
festgehalten,  denen  sich  selbst  ein  Surrogat  der  Waffe  zugesellt.  Prof. 
Jäger  hält  es  nemlich  für  verkehrt,  wenn  die  Turnschüler  mit  leeren 
Händen  die  Freiübungen  vornehmen  sollen ,  ähnlich ,  wie  schon  Jahn  von 
den  leeren  Lufthieben  Pestalozzis  Nichts  wissen  wollte.  Demgemäsz  be- 
lastet Prof.  Jäger  die  Turnschüler  mit  Stab  -  und  Guszeisen ,  wovon  die 
Hanteln  schon  längst  bekannt  sind,  während  eine  Erfindung  Jäger's  als 
neu  und  eigentümlich  auftritt,  —  ein  Eisenstab,  um  die  Freiübungen 
ean  die  waffenartige  Führung  eines  Handgerätes'  zu  knüpfen.  Hat  die 
Turnkunst  die  Stabübungen  schon  längst  gekannt,  so  wird  der  Jägersche 
3  Fusz  lange,  runde,  glatte,  an  seinen  Enden  flach  abgerundete  und  ge- 
stählte walzeiserne  Stab ,  der  für  4  Altersstufen  nach  einem  Gewicht  von 
3—7  Pfd.  in  Gebrauch  kommt,  hier  zum  ersten  Male  eingeführt  und  auf 
eine  eigentümliche  Weise  motiviert.  Die  Turnschüler  sollen  sich  nemlich 
dieses  Eisenstabes  als  eines  Wurf-  und  Belastungsgeräthes  als  einstweili- 
gen Ersatzes  des  Schieszgewehres  bedienen.  Da  der  Stab  die  Form  eines 
Flintenlaufs  hat ,  so  sollen  sich  die  Knaben  gleich  von  vornherein,  an  die 
Vorstellung  gewöhnen,  als  hätten  sie  ein  Gewehr  selbst  in  der  Hand; 
denn  der  Eisenstab  könnte  ja  später  hohlgebohrt  und  mit  Feuerschaft 
versehen  werden.  Haben  die  Schüler  sich  mit  dieser  Idee  befreundet,  so 
sollen  sie  eine  lange  Reihe  von  Stabschwüngen  und  Stabführungen 
durchüben,  deren  Ausführung  der  Vf.  sämtlich  an  16  Zeiten  knüpft.  Warum 
der  Vf.  von  diesen  Vorder-,  Hinter-,  Unterum-  und  Ueberumschwüngen 
so  und  so  viel,  und  nicht  mehr  oder  nicht  weniger  gibt,  ist  nicht  gesagt; 
Prof.  Jäger  hat  diese  Stabübungen  herausgeklügelt,  und  die  Turnjugend 
soll  sie  in  Kppf ,  Hand  und  Fusz  bekommen ,  nachdem  sie  *  vom  Lehrer 
Takt  für  Takt  musterhaft  vorgemacht,  erklärt  und  befehligt  worden.' 
Abgesehen  davon ,  dasz  die  Turnschüler  schwerlich  das  in  den  Eisenstab 
legen,  was  Professor  Jäger  mit  seiuer  geschraubten  Deduction  hineinlegt, 
erhalten  diese  Stabführungen  einen  hohen  Grad  von  Monotonie,  womit 
zugleich  der  Grundsatz  einer  mannigfaltigen  Entwickelung  des  Uebungs- 
stoffes  ausgeschlossen  ist,  welcher  z.  B.  von  Spiesz  bei  der  Behandlung 
der  Freiübungen  mit  soviel  Glück  und  Geschick  zur  Geltung  gebracht 
worden.  Die  Gesetze  der  Freiheit  und  Kunst,  von  welchen  sich  Spiesz 
leiten  liesz,  werden  hier  aufgehoben,  um  das  militärische  Öommando  mit 
Ruck  und  Zuck  in  gleichmäszigem  Tempo  einzuführen. 

Von  den  ersten  Freiübungen  an  sollen  die  Turnschüler  jenen  Eisen- 
stab als  steten  Begleiter  mit  sich  führen,  eine  Forderung ,  die  weder  dem 
Wesen  der  Jugend,  noch  dem  Zwecke  der  Leibesübung  entspricht.  Auszer 
den  Stabschwüngen  bietet  die  Turnschule  noch  eine  reiche  Auswahl  von 
Hantelübungen,  welche  Prof.  Jäger  nach  Faustschwüngen,  Stoszen,  Ruck- 
stöszen,  Ruckstreckstöszen,  Würfen,  Schlägen,  Hieben  usw.  geordnet  hat. 
Wie  an  Ort,  so  werden  die  Eisenstab-  und  Hantelübungen  alsdann  auch 


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Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen,     593 

von  Ort  mit  Tritten  und  Schritten,  Gängen  und  Sprüngen  behandelt,  so 
dasz  180  Seiten  der  Turnschule  damit  ausgefüllt  sind. 

Diese  Behandlung  der  Frei-  und  Ordnungsübungen  nur  mit  Rück- 
sicht auf  taktische  Zwecke  steht  der  Spieszschen  Methode  stricte  entgegen. 
Während  Spiesz  gerade  hier  die  ganze  Fülle  seiner  Erfindungskraft  ent- 
wickelte und  dem  Turnlehrer  einen  Standpunkt  anwies,  auf  welchem  er 
sich  selbständig  und  eigentümlich  entwickeln  kann,  werden  hier  bei  Jäger 
alle  naturgemäszen  Anregungs-,  Belebungs-  und  Ordnungsmittel ,  welche 
in  der  Sache  selbst  liegen,  unbenutzt  gelassen  und  eine  willkürliche  Aus- 
wahl von  Uebungen  nach  dem  starren  Commando  eingeführt.  Es  mag 
diese  Behandlung  der  turnerischen  Frei-  und  Ordnungsübungen  für  den 
ersten  Anblick  recht  verständig  aussehen ,  schwerlich  aber  wird  sie  das 
Interesse  der  Turnjugend  dauernd  in  Anspruch  nehmen. 

Da  Prof.  Jäger  ganz  neue  Uebungen  aufstellt,  so  führte  er  auch  neue 
Namen  dafür  ein,  wovon  einige,  z.  B.  Seitschaltschwung ,  Oberschlauf- 
schwung, Vorderbogenschlaufschwung,  Hinterrückstreckstosz  usw.  ziem- 
lich barbarisch  klingen  und  an  die  schwedische  Schule  erinnern ,  welche 
z.  B.  von  einer  Ruhschenkelgegenwendknickstehenden  Stellung,  von  einer 
Linksstreckrechtsklafterrechtsseitfallrechtshalbstehenden  Stellung  u.  dgl. 
sprach. 

Ref.  sieht  zunächst  in  dieser  Umgestaltung  der  turnerischen  Frei- 
und  Ordnungsübungen  Nichts  weiter,  als  einen  Versuch,  die  turnerischen 
Bildungsmittel  den  Wehrtendenzen  unterzuordnen,  welches  Bestreben  un- 
vermeidlich zur  Einseitigkeit  führen  musz ,  welche  denn  auch  der  Jäger- 
schen  Arbeit  nach  ihrem  ersten  Teile  ilicht  abzusprechen  ist,  welcher 
die  Vorübung  bietet,  während  im  zweiten  Teile  die  Haupt  Übungen 
folgen,  unter  denen  der  Vf.  Lauf,  Sprung,  Weitwurf,  Zielwurf, 
und  Ringen  versteht. 

In  diesen  Hauptübungen  begegnen  wir  einer  Modernisierung  des 
altgriechischen  Pentathlons,  wobei  an  Stelle  des  Diskos  Vollkugeln  von 
5 — 10  Pfd.,  und  statt  des  Speeres  Eisenstäbe  nach  erwähnten  Maszen  zur 
Verwendung  kommen. 

Bekanntlich  hat  Prof.  Jäger  sich  sehr  eingehend  mit  der  altgriechi- 
schen Gymnastik  beschäftigt  und  davon  in  seinem  Werke :  'Die  Gymnastik 
der  Hellenen.  Esslingen  1850'  Zeugnis  abgelegt.  Hier  folgen  nun  die 
praktischen  Consequenzen  seiner  Studien.  Der  Versuch,  das  Pentathlon 
zu  erneuern,  ist  jedenfalls  interessant.  Freilich  steht  damit  eine  vollstän- 
dige Umgestaltung  der  Turnräume  und  Unterrichtsmittel  im  Zusammen- 
hange und  das  von  Prof.  Jäger  construierte  Turnhaus  ist  nach  ganz  an- 
deren Forderungen  hergestellt,  als  die  seither  bekannten;  namentlich 
sind  Lauf-  und  Wurfbahnen  darin  angebracht,  welche  viel  Raum  er- 
fordern. 

Die  Idee,  das  Pentathlon  wieder  einzuführen,  hat  jedenfalls  viel  An- 
sprechendes ;  Prof.  Jäger  hat  die  Einzelnheiten  desselben  ziemlich  genau 
beschrieben.  Nur  ist  die  praktische  Lösung  der  Frage  die  Hauptsache  : 
ob  das  Pentathlon  eine  dem  Griechentum  blosz  äuszerlich  entlehnte  Pflanze 
ist,  oder  ob  es  nach  der  Jägerschen  Reform  eine  eindringende  Kraft  be- 


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594     Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schalen. 

sitzt,  welche  als  das  Resultat  einer  organischen  Herausbildung 
aus  den  vorhandenen  Anlagen  der  modernen  Turnkunst  unter  den  heuti- 
gen Culturverhältnissen  erscheint.  Uns  will  es  scheinen ,  als  If ge  diese 
organische  Entwicklung  der- Jägerschen  Arbeit  nicht  vor.  Auch  bleibt 
es  eine  wichtige  Frage :  wie  sich  die  Einführung  des  Pentathlons  bei  den 
heutigen  Schulturnanstalten  ermöglichen  lasse.  Während  hier  ein  Massen- 
und  Gemeinturnen  vorwiegend  sein  musz ,  am  die  turnerische  Ausbildung 
unserer  Jugend  in  der  Gesamtheit  zu  fördern,  ist  bei  den  5  Uebungen  des 
Pentathlons  die  Einzelübung  vorhersehend  und  durch  die  Turnräume 
auch  bedingt.  Es  bleibt  also  nicht  klar:  wie  die  Gesamtheit  der  Ju- 
gend von  diesen  Uebungen  ausgiebigen  Vorteil  für  ihre  Leibesübung  zie- 
hen kann. 

Prof.  Jäger  hat  mit  seinen  Bestrebungen  und  in  specie  mit  seiner 
Turnschule  bereits  viel  Widerspruch  in  turnerischen  Kreisen  erfahren, 
weil  er  von  der  seitherigen  Ent Wickelung  des  Schulturnens  abweicht. 
Ob  er  mit  dieser  Abweichung  epochemachend  für  die  Gestaltung  des 
Schulturnens  sein  wird,  dürfte  namentlich  von  den  praktischen  Erfolgen 
mit  abhängen,  welche  die  Jägersche  Turnschule  erzielt.  Bis  jetzt  fehlen 
diese  gänzlich.  Ein  dritter  noch  zu  erwartender  Teil  der  Tumschule 
wird  dieselbe  erst  zum  Abschlüsse  bringen ,  so  dasz  wir  auf  das  Werk 
nochmals  zurückkommen  müssen. 

Zur  Zeit  ist  die  Jägersche  Turnschule  eine  der  hervorragendsten 
Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Turnlitteratur.  Bedauerlich  ist  es, 
dasz  die  Turnschule  dem  Verständnis  der  Turnlehrer  wenig  zugänglich 
ist,  da  die  Beschreibung  der  Uebungen  durch  Wort  und  Bild  zu  wenig 
unterstützt  wird.  Nur  wer  Gelegenheit  hatte ,  den  Demonstrationen  Jä- 
ger's  selbst  beizuwohnen ,  wird  so  viel  gewonnen  haben,  um  die  ziemlich 
aphoristisch  aufgeführten  Uebungen  zu  begreifen.  Es  dürfte  dartun  die 
Turnschule  zunächst  in  Württemberg  ihr  Publicum  finden,  wo  der  Verf. 
in  seiner  Stellung  als  Oberleiter  des  Turnwesens  Gelegenheit  hat,  die 
Turnlehrer  mit  seinem  System  bekannt  zu  machen. 

Von  den  zahlreichen  Merkbüchlein  für  Turner  ist  das  Dietersche 
wol  das  am  häufigsten  verbreitete  und  namentlich  auch  bei  den  Gymna- 
sialturnlehrem  wol  bekannt  und  beliebt.  Es  bietet  im  Anschlüsse  an  die 
Eiselenschen  Turntafeln  eine  gute  Uebersicht  aller  Turnübungen  nach  den 
bekannten  4  Stufen  und  hat  sich  als  brauchbar  erwiesen ,  was  aus  dem 
Umstand  hervorgeht,  dasz  es  bereits  in  5.  Auflage  vorliegt.  Die  4.  u.  5. 
Auflage  hat  der  Berliner  Turndirector  Dr.  Angerstein  besorgt,  welcher 
bemüht  war,  das  Büchlein  mit  dem  jetzigen  Entwickelungsstandpunkte 
des  Turnens  in  Einklang  zu  bringen.  Es  geschah  das  namentlich  durch 
eine  Erweiterung  der  Frei-  und  Ordnungsübungen,  durch  Beifügung  einer 
geschichtlichen  Skizze  und  durch  Umänderungen  und  Zusätze  bei  den 
einzelnen  Abschnitten,  so  dasz  das  Buch  viel  stärker  geworden  ist,  als 
früher.  Im  Einzelnen  hätte  hie  und  da  eine  mehr  systematische  Reihen- 
folge der  Turnübungen  festgehalten  werden  können;  z.  B.  bei  den  Barren- 
übungen ,  wo  gleich  als  4.  Uebung  der  Knickstütz  auftritt  Nach  dem 
bekannten  Streite  über  das  Barrenturnen,  welches  bekanntlich  von  der 


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Neues  vom  Turnen  und  von  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen.     595 

sogenannten  rationellen  Gymnastik  verworfen  wurde ,  hätte  man  voraus- 
setzen können,  dasz  Dr.  Angerstein  solche  Misgriffe  vermeiden  werde. 
Denn  der  Knickstütz  musz  durch  eine  lange  Reihe  von  Uebungen  im 
Streckstütz  erst  vorbereitet  sein,  wenn  er  durch  die  damit  zusammen- 
hängende starke  Erregung  der  Brustmuskulatur  und  der  Brustorgane  auf 
den  Organismus  nicht  nachteilig  wirken  soll.  Wird  der  Anfänger  im 
Turnen,  welcher  sogleich  an  diese  Uehung  geht,  nicht  immer  Blut 
speien  oder  andere  Nachteile  davon  tragen,  so  ist  es  doch  princi- 
p  i  e  1 1  festzuhalten ,  solche  stark  angreifende  Uebungen  wie  den  Knick- 
stOtz  am  Barren  erst  auf  den  höheren  Stufen  auftreten  zu  lassen.  Im 
Allgemeinen  ist  die  Anordnung  des  Dieterschen  Merkbüchleins  namentlich 
den  Turnvereinen  Erwachsener  wie  etwa  den  Turnschülern  der  oberen 
Classen  höherer  Schulen  zu  empfehlen. 

Mehr  auf  die  Bedürfnisse  der  Schulturnanstalten  nimmt  das  Turn- 
Merkbüchlein  unter  Nr.  5)  Rücksicht.  Es  ist  für  den  Zweck  berechnet, 
die  hei  den  Schulturnanstalten  gebräuchlichen  Turnübungen  ihrer  zweck- 
mässigen Reihenfolge  nach  im  Besonderen  zu  bezeichnen  und  so  Turnleh- 
rern, Vorturnern  und  Turnschülern  selbst  zur  Richtschnur  beim  Einhalten 
einer  notwendigen  Stufenfolge  zu  dienen.  Während  das  Dietersche  Merk- 
büchlein sich  namentlich  an  Jahn -Eiselen  anschlieszt,  hat  das  Klosssche 
die  Reformen  des  Schulturnens  durch  Spiesz  vorzugsweise  berücksichtigt. 
Die  Jahrbücher  für  die  Turnkunst  (Nr.  8)  liegen  in  ihrem 
9.  Jahrgange  mit  6  Heften  vor  und  fahren  fort,  dem  Bedürfnisse  der  Turn- 
lehrer und  der  Schulen  dadurch  zu  entsprechen ,  dasz  sie  einen  Sprech- 
saal erhalten  für  die  gesamten  Angelegenheiten  des  Turnwesens ,  zu  wel- 
chem Zwecke  hier  Abhandlungen ,  eingehende  Besprechungen  aller  hier- 
hergehörigen Schriften  und  vielerlei  Nachrichten  geboten  werden.  Unter 
den  Abhandlungen  des  vorliegenden  Jahrganges  seien  hervorgehoben :  das 
System  der  Stabübungen,  von  Dr.  Münchenberg,  über  das  Verhältnis 
des  Turnens  zur  Heilgymnastik,  von  Dr.  Schildbach,  Sonderung  und 
Zusammenhang  des  Schul-  und  Vereins turnens,  von  Hesse,  der  wissen- 
schaftliche und  officielle  Abschlusz  der  Barrenfrage  in  Preuszen ,  Bemer- 
kungen über  die  seitliche  Verkrümmung  des  Rückgrates,  von  Dr.  Berend, 
die  Turnsprache,  von  Dr.  Waszmaünsdorff,  Zusammenstellung  von 
Uebungsgruppen  einfacher  Frei-,  Ordnungs-  und  Gerätübungen,  von 
Kluge,  Verhandlungen  der  3.  deutschen  Turnlehrerversammlung  usw. 
Einige  und  dreiszig  Recensionen  von  Turnschriften  und  zahlreiche  Nach- 
richten bilden  den  übrigen  Stoff  der  Jahrbücher,  die  sich  neuerdings  auch 
in  die  Bibliotheken  der  Gymnasien  Eingang  verschafft  haben ,  z.  B.  in 
Bayern  von  der  Regierung  den  Gymnasialbibliotbeken  zur  Anschauung 
anempfohlen  wurden. 

Bei  der  Berücksichtigung  der  Freiübungen  beim  Schulturnen, 
welche  mit  Recht  allgemeiner  geworden  ist,  erwähnen  wir  hier  dies 
Werk  von  Maul  (Nr.  8),  als  ganz  besonders  beachtenswerth  von  Seiten 
der  Gymnasialturnlehrer.  Spiesz,  der  eigentliche  Erfinder  und  Lehrer 
der  Freiübungen,  welche  cfrei  von  Geräthen,  in  Zuständen,  welche  die 
Thätigkeit  zulassen,  den  Leib  des  Turners  frei  machen  sollen',  war 


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596  Geographische  Repetitionen. 

Meister  in  der  richtigen  Behandlung  dieser  Turnart,  und  die  Stellung 
derselben  zum  Ganzen  der  Turnkunst  ist  von  ihm  in  seinen  Schriften  hiß- 
reichend bezeichnet  worden.    Trotzdem  herschte  häufig  genug  ein  Mb- 
Verständnis  in  Betreff  dieser  Freiübungen ,  da  die  Turnlehrer  nicht  selten 
alle  nur  denkbaren  Bewegungsmöglichkeiten  zu  erschöpfen  sieb  bemüh- 
ten und  damit  die  Sache  offenbar  zur  Carricatur  verzerrten.     Auf  diese 
Abwege  gerieth  man  beim  Turnen,  wenn  man  sich  nächst  dem  allgemei- 
nen pädagogischen  Princip  nicht  auch  durch  das  ästhetische  lei- 
ten liesz,  wie  dazu  Spiesz  selbst  ein  treffliches  Beispiel  gab.  Spiesz  wurdet 
mit  seinen  Freiübungen  lange  mis  verstanden ,  da  man  nach  seinem  be- 
kannten Werke  alle  einzelnen  Uebungen  durchturnen  liesz  und  so 
Turnschüler  entsetzlich  langweilte.    Erst  nach  und  nach  brach  sich  das 
Richtige  Bahn  und  das  Werk  von  Maul  hat  das  Verdienst ,  einmal  Allel 
gründlich  erörtert  zu  haben,  was  sich  auf  Begriff  und  Werth  9  auf  Au 
Ordnung  und  Auswahl  der  Freiübungen,  auf  die  Unterrichtsstufen  dersel< 
ben  u.  dgl.  bezieht.   Vor  Allem  kommt  es  darauf  an,  beim  Turnen  in  de« 
Freiübungen  die  richtige  Auswahl  mit  Rücksicht  auf  die  Entwicklung* 
stufe  und  Natur  der  Turnschüler  zu  treffen,  so  dasz  in  dieser  Beziehung 
die  Turn  seh  ick  igk ei  t  der  Freiübungen  ermittelt  wird,  für  deren  Auf- 
stellung nach  Theorie  und  Praxis  das  Maulsche  Werk  von  groszer  Bedeu- 
tung ist. 

Im  Allgemeinen  ist  das  Turnen  gegenwärtig  nach  mancherlei  Käm- 
pfen und  erledigten  Streitfragen  auf  dem  ruhigen  Wege  der  Weiterent- 
wickelung angekommen,  und  es  läszt  sich  für  die  Folgezeit  erwarten,  dasz 
es  innerlich  und  äuszerlich  weitere  Fortschritte  auf  den  verschiedenen 
Erziehungsgebieten  mache. 

Dresden.  Moritz  Kloss. 


48. 

Geographische  Repetitioneh. 

Skandinavien. 

Das  preuszische  Reglement  bestimmt,  dasz  in  den  beiden  oberen 
Glassen  der  Gymnasien  3  Stunden  wöchentlich  für  Geschichte  und  Geo- 
graphie angesetzt  werden.  Da  in  den  unteren  und  mittleren  Glassen  das 
Gesamtgebiet  der  Geographie  ein  oder  zweimal  selbständig  behandelt  ist, 
so  soll  in  den  oberen  das  Erlernte  nur  repetiert  und  durch  enge  Verbin- 
dung mit  der  Geschichte  erweitert  werden.  Zu  dem  Zwecke  läszt  der 
Unterzeichnete  in  jeden  Ferien  eine  Karte  zeichnen  und  repetiert  dann 
nach  Vorschrift  das  dargestellte  Land.  Wie  sich  in  der  Praxis  der  Prima 
eine  solche  Repetition  gestaltet,  erlaubt  sich  der  Unterzeichnete  in  den 
folgenden  Abhandlungen  darzulegen.  Er  kann  versichern,  dasz  die  Dar- 
stellung der  Praxis  entnommen  ist,  und  kann  sich  dabei  auf  alle  diejeni- 

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Geographische  Repetitionen.  597 

gen  beziehen,  welche  ihm  die  Ehre  erwiesen  haben  seinen  Stunden  bei- 
zuwohnen. 

Man  versteht  unter  Skandinavien  gewöhnlich  nur  die  Königreiche 
Norwegen  und  Schweden  —  und  in  dem  Sinne  nehmen  wir  es  hier  — 
oder  man  rechnet  auch  wol  noch  Dänemark  hinzu,  dann  pflegt  man  frei- 
lich meist  vom  Skandinavischen  Norden  zu  sprechen.  Der  Name  Skandi- 
navien ist  schwer  zu  erklären ;  vielleicht  —  und  das  ist  H.  Leo's  Meinung 
hängt  das  Wort  mit  skedan,  scheiden  oder  mit  skindan,  schinden  zu- 
sammen. Skandinavien  hiesze  demnach  entweder  Scheide  oder  Räuber- 
land. Dasz  Jutland  scedeland  genannt  wurde,  wissen  wir  aus  dem  Beo- 
wulfsliede;  die  Uebertragung  auf  Skandinavien  aber  ist  wenn  auch  nicht 
unmöglich,  doch  nicht  gerade  wahrscheinlich,  da  wol  Jütland  leicht  als 
Scheideland  der  beiden  Meere  erscheinen,  bei  Skandinavien  aber  seiner 
gröszeren  Breite  wegen  diese  Vorstellung  nicht  so  bald  entstehen  konnte. 
Die  Bedeutung  c Räuberland9  bezieht  sich  natürlich  auf  die  Züge  der  Wi- 
kinger. Die  Halbinsel  wird  vom  60.  und  70.  Parallelkreise  durchschnitten, 
liegt  also  in  der  nordlichen  gemäszigten  und  kalten  Zone.  Selbstverständ- 
lich geht  der  nördliche  Polarkreis  hindurch.  Am  21.  Juni  haben  die  Be- 
wohner dieses  Kreises  24  Stunden  Tag,  am  21.  December  dauert  die  Nacht 
dann  ebenso  lange.  Die  Zeit  des  Mitsommertages,  die  Zeit  der  hellen 
Nächte  ist  für  die  Bewohner  jener  Gegenden  eine  Zeit  der  Wonne.  Wie 
schön  hat  Jean  Paul  die  Leiden  und  Freuden  eines  Landpastors  in  jenen 
Wochen  geschildert!  Dann  eilen  die  Fremden,  besonders  die  reiselustigen 
Engländer  nach  Hammerfest,  um  den  seltsamen  Anblick  zu  genieszen,  wie 
die  Sonne  nicht  vom  Horizonte  ver^hwindet. 

Leicht  erklärlich  ist  es,  dasz  die  Nordländer  diesen  Tag  dem  hellen, 
schönen ,  freudigen  Baidur  weihten ,  von  dem  ein  Licht  ausgieng  durch 
Himmel  und  Erde;  begreiflich  ist  es,  dasz  seine  Gemahlin  Nanna,  die 
Blüte  war  und  dasz  ihr  hei  seinem  Tode  das  Herz  brach.  An  die  Stelle 
des  Baidur  hat  die  christliche  Kirche  den  Apostel  Johannes  gesetzt ,  den 
sanften  und  milden  Jünger,  dessen  Hauptpredigt  die  war:  Liebet  euch 
unter  einander,  meine  Kindlein!  Da  Baldur's  Leiche  verbrannt  worden 
ist ,  so  zündet  das  Volk  heute  noch  am  Johannistage  Feuer  an.  Dieser 
Gebrauch  ehrt  also  eigentlich  den  Baidur,  nicht  den  Apostel  Johannes. 
Der  Mitsommertag  gilt  auch  heute  noch  für  einen  Glückstag  Und  die  Kin- 
der, welche  an  ihm  das  Licht  der  Welt  erblicken,  sollen  mit  besonderen 
Gaben  gesegnet  sein.  —  Von  diesen  hellen  Nächten  hatten  schon  die  Al- 
ten Kunde  und  manche  Züge  in  der  Apollo-  und  Hyperboräersage  bezeu- 
gen das. 

Von  den  Meridianen,  welche  das  Land  durchschneiden,  merken  wir 
nur  den  30sten,  weil  er  durch  viele  wichtige  Punkte  Europas  geht.  So 
berührt  er  Rom ,  Venedig,  die  Dreiherrenspitze,  das  Fichtelgebirge,  Leip- 
zig, Kopenhagen  und  Gothenburg. 

Die  Grösze  der  Halbinsel  beträgt  über  14,000  Quadratmeilen,  wovon 
6000  auf  Norwegen ,  8000  auf  Schweden  kommen.  Jedes  der  beiden  Kö- 
nigreiche ist  also  gröszer  als  Preuszen ,  doch  mit  ihm  an  Einwohnerzahl 


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598  Geographische  Repetitionen. 

nicht  zu  vergleichen,  denn  Norwegen  hat  höchstens  2,000,000  und  Schwe- 
den 4,000,000  Einwohner. 

Im  Norden  wird  Skandinavien  vom  nördlichen  Eismeer  begrenzt,  in 
welchem  die  Reihe  der  Klippeninseln,  der  Loffoden,  liegt.  Im  Westen 
wird  das  Land  vom  atlantischen  Oceane  und  von  der  Nordsee  bespült. 
Das  Meer  hier  an  der  Westseite  ist  ein  stürmisch  bewegtes  Meer. 

Deshalb  hat  die  nordische  Mythologie  den  Ocean ,  welcher  die  Erde 
umschlingt,  als  eine  Schlange  dargestellt,  als  ein  böses,  den  Göttern 
feindliches  Wesen,  als  eine  Tochter  Loris,  des  Götterriegels  und  der  An- 
gurboda,  der  Angstverkündigerin.  Odin  hat  diese  Schlange  um  Midgard, 
die  Erde  gefugt  und  sie  bleibt  da,  bis  der  letzte  Kampf  der  Götter  und 
Riesen  beginnt,  der  letzte  Kampf  des  Geistes  mit  der  Materie.  Dann  er- 
hebt sie  sich  in  ihrer  schouszlichea  Ungestalt  zu  furchtbarem  Streite. 
Greulich  ersohien  den  Normännern  das  Meer  in  seiner  Aufregung ,  wie 
folgende  Erzählung  der  Edda  beweist.  Thor  fuhr  einst,  so  lautet  die- 
selbe, mit  einem  Riesen  auf  die  hohe  See,  um  die  Schlange  zu  angeln 
und  dann  zu  tödten.  Sie  bisz  auf  den  Köder  und  der  Gott  begann  sie 
aus  dem  Meere  herauszuziehen.  Das  grimme  Haupt  erhob  sieh  aus  der 
Flut,  war  aber  so  entsetzlich  anzuschauen,  dasz  der  Riese  den  Anblick 
nicht  ertragen  konnte,  den  Strick  der  Angel  durchschnitt  und  so  die 
Schlange  wieder  in  die  Tiefe  zurücksinken  machte.  Wenn  man  diese 
Vorstellungen  der  nordischen  Mythologie  beachtet,  dann  wird  man  ver- 
stehen ,  wie  gerade  an  der  Norwegischen  Küste  die  Sage  von  der  See- 
schlange und  von  dem  Kraken  entstehen  und  sich  bis  auf  unsere  Zeil 
erhalten  konnte.  Die  Schilderung  von  diesem  Ungetüm,  welches  60  Fusi 
lang  sich  aus  dem  Meere  erheben,  seine  wallende  Mähne  schüttelnd  auf 
den  Feind  losschieszen  soll,  gleicht  doch  auffallend  jenem  Bilde  aus  der 
Edda.  Welche  Seethiere  zu  dieser  Darstellung  mit  Veranlassung  gegeben 
haben ,  das  ist  trotz  aller  Vermutungen  noch  eine  Streitfrage.  Der  Krake 
ist  einfacher  zu  erklären.  Er  soll  ein  Ungetüm  sein,  welches  sich  wie 
eine  Insel  aus  dem  Meere  erhebt.  Schiffer  landeten  auf  ihm,  zündeten 
Feuer  an  und  sahen  dann  zu  ihrem  Schrecken  das  Unthier  in  die  Tiefe 
versinken.  Einmal  soll  ein  solcher  Krake  in  einen  Fjord  gekommen  und 
dort  gestrandet  sein.  Verfaulend  verpestete  er  die  Luft  so ,  dasz  die  An- 
wohner fortziehen  musten.  Nun  zum  Bilde  dieser  Meerriesen  hat  wol  der 
Walfisch  gedient.  Merkwürdig  aber  ist  es,  dasz  an  die  Existeaz  dieser 
Wunderthiere  viele  Norweger  glauben.  —  Der  Walfiseh  zeigt  sich  oft  an 
diesen  Küsten  und  ist  zu  Zeiten  ein  getreuer  Gehülfe  des  Normanns. 
Wenn  nemlich  die  dichtgeschaarten  Züge  der  Häringe  ihren  Weg  längs 
der  Küste  ziehen,  dann  begleiten  die  Walfische  sie,  um  sich  an  ihnen  zu 
sättigen.  Sie  drängen  den  kleinen  Fisch  an  die  Küste  und  erleichtern  dem 
Normann  den  Fang.  Seit  dem  lt.  Jh.  haben  die  Häringszuge  die  Ostsee 
verlassen  und  die  Anwohner  der  Nordsee  durch  ihr  massenhaftes  Erschei- 
nen beglückt.  Der  Normann  beschäftigt  sich  eifrig  mit  dem  Fange  dieser 
Fische,  versteht  es  aber  nicht,  sie  so  gut  zuzubereiten  wie  die  Engländer 
und  Holländer.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  Stockfisch.  Die  Orte,  von 
wo  aus  dieser  Fischhandel  schwunghaft  betriehen  wird,  sind  Dronthejm, 


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Geographische  Repeütionen.  599 

Bergen  und  Gothenburg.  —  An  die  Westkäste  Skandinaviens  spülen  die 
Ausläufer  des  Golfstroms,  wodurch  bei  den  Loffoden  der  gefährliche 
Strudel 7  der  Malstrom,  entsteht.  Diese  warmen  Gewässer  ermäszigieu 
die  Temperatur  der  Küste  und  bewirken ,  dasz  dieselbe,  da  sie  auszerdem 
durch  die  Gebirgswand  vor  den  kalten  Ostwinden  geschützt  wird,  ein 
verhältnismässig  müdes  Klima  hat.  Die  kältesten  Winde  sind  hier  die 
Ostwinde,  was  durch  die  Lage  Skandinaviens  und  durch  die  bekannte 
Theorie  von  der  Polarströmung  der  Luft  hinreichend  erklärt  wird. 

Deshalb  zieht  auch  Thor,  wenn  er  die  Eis-  und  Frostriesen  bekäm- 
pfen will,  aus  seinem  Lieblingslande,  aus  Norwegen  ostwärts. 

Im  Süden  wird  Norwegen  vom  Skager  Rack  begrenzt.  Es  ist  eine 
bekannte,  in  unserer  Zeit  vielfach  besprochene  Hypothese ,  dasz  früher 
das  Skager  Rack  durch  den  Wenern-  und  Wettersee  mit  der  Ostsee  und 
diese  durch  den  Ladoga-  und  Onegasee  mit  dem  weiszen  Meere  verbunden 
gewesen  sei.  Jetzt  liegt  derWenernsee  300  Fusz  über  dem  Meere.  Diese 
ThaUache  vernichtet  jedoch  nicht  die  eben  angeführte  Hypothese.  Wir 
wissen  nemlich,  dasz  Skandinavien  sich  hebt,  und  zwar  erkennen  wir  das 
an  den  Flutmarken ,  die  deutlich  sichtbar  eine  über  der  andern  an  den 
Küsten  sich  aller  Orten  zeigen.  Man  hat  wol  früher  behauptet ,  dasz  das 
Meer  abgenommen  habe  und  so  jene  Marken  entstanden  seien,  doch  ist 
diese  Ansicht  längst  widerlegt.  La  andern  Gegenden  der  Erde  ist  ein  pe- 
riodisches Heben  und  Senken  der  Landmassen  beobachtet  worden ,  so 
correspondieren  Italien  und  die  Hämushalbinsel.  Wie  Skandinavien  sich 
gehoben,  hat  sich  Grönland  gesenkt,  als  ob  auch  diese  beiden  Regionen 
auf  einander  Bezug  hätten.  Ebenso  zeigen  Schweden  und  Pommern  ein 
ähnliches  Verhältnis.  Wie  das  zu  erklären  ist,  musz  ich  den  Physikern 
überlassen ;  nur  eine  Deutung  dieser  Erscheinung  für  Skandinavien  will 
ich  kurz  berühren,  nach  welcher  die  Hebung  der  Halbinsel  aus  dem  Meere 
durch  die  allmähliche  Ausdehnung  der  Granitmassen  selbst  dargestellt 
wird.  Aus  dem  Skager  Rack  führt  nach  Süden  das  Kattegat,  das  gefähr- 
liche Katzenloch,  und  aus  ihm  leitet  die  enge  Verbindung  der  drei  bekann- 
ten Straszen  in  die  Ostsee.  Wenn  die  Ostsee  einstmals  ein  groszes  Süsz- 
wasserbecken  gewesen  ist,  worauf  doch  viele  Erscheinungen  hinweisen, 
dann  erklärt  sich  ihr  geringer  Salzgehalt  aus  diesen  schmalen  Verbindun- 
gen ebenso  leicht,  wie  der  fast  nicht  zu  bemerkende  Unterschied  des 
Wasserstandes  bei  Ebbe  und  Flut.  Skandinaviens  Westküste  ist  den  Ein- 
flüssen des  Oceans  ausgesetzt,  die  Ostküste  denen  eines  Binnenmeeres, 
der  Ostsee.  Diese  verbindet  Pommern,  Preuszen  und  Südschweden  aufs 
innigste.  Es  hat  dieser  Umstand  stets  die  groszen  Monarchen  des  Nordens, 
wie  Gustav  Adolf  und  Peter  den  Groszen ,  auf  den  Gedanken  gebracht, 
ein  mächtiges  Ostseereich  zu  gründen.  Im  Anfange  des  Mittelalters  haben 
die  Dänen  versucht,  eine  solche  Macht  in  der  Ostsee  zu  erwerben.  In  den 
Odermündungen  herschten  sie  von  der  Jomsburg  aus,  vielleicht  haben  sie 
Danzig  gegründet,  bis  nach  Ruszland  sind  sie  vorgedrungen,  denn  Reval 
ist  von  ihnen  erbaut.  Noch  heute  gehört  ihnen  der  Burgunderholm 
(Bornholm).  Dann  hat  der  Hansabund  dort  so  geherscht,  wie  die  Kartha- 
ger vor  dem  zweiten  punischen  Kriege  in  Spanien.   Die  gebildeten,  rei- 

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600  Geographische  Repetitionen. 

chen  Kaufleute  standen  unter  einander  in  einer  festen  Gemeinschaft  und 
überragten  weit  in  ihrer  bürgerlichen  Klugheit  und  Humanität  die  kleinen 
Junker  und  die  rohen  Bauern  jener  Kästenlande.  Zum  Hansabunde  ge- 
hörte einst  die  Insel  Gottland,  deren  Hauptstadt  Wisby  eine  bedeutende 
Handelsstadt  war.  Noch  heute  zeigt  sie  Spuren  ihrer  einstigen  Grösze; 
sie  hat  wie  Nürnberg  und  Danzig  eine  Fülle  des  Altertümlichen  bewahrt. 
Während  aber  jene  Städte  in  neuer  Regsamkeit  erblühen ,  liegt  sie  todt 
da  wie  eine  versunkene  Stadt.  Dem  Hansabunde  entrisz  Schweden  die 
Herschaft;  der  Schweden  Macht  brachen  die  Russen,  ohne  dasz  sie  jedoch 
den  Principal  in  der  Ostsee  erlangt  hätten. 

Die  Ostsee  ist  ein  gefährliches  Meer,  wie  die  meisten  Binnenmeere. 
Die  Winde  wechseln  unberechenbar,  die  Wellen  sind  zwar  nicht  so  hoch 
wie  im  Ocean ,  aber  die  kurzen  Wellen  sind  namentlich  nach  dem  Auf- 
hören eines  Sturmes  sehr  gefährlich. 

Die  eigentliche  Ostsee  gefriert  nur  selten  in  gröszerer  Ausdehnung; 
viel  häufiger,  fast  alljährlich  der  bottnische  Meerbusen,  welchen  die 
Alands-Inseln  von  der  Ostsee  trennen.  Sie  bilden  eine  Brücke  von  Finn- 
land nach  Schweden ,  wie  die  Adamsbrücke  zwischen  Ceylon  und  Vorder- 
indien. Durch  die  Quarken ,  eine  andere  Inselreihe ,  wird  der  Meerbusen 
in  zwei  Teile  gesondert.  Die  Russen  benutzten  diese  natürliche  Brücke 
im  Winter  des  Jahres  1809  und  giengen  mit  einer  Armee  über  das  Eis 
von  dem  finnischen  Städtchen  Wasa  herüber  nach  dem  schwedischen  Umea. 
Dasz  die  Ostsee,  das  Gürtel-  oder  baltische  Meer ,  seine  Hauptausdehnung 
von  Norden  nach  Süden  hat,  merken  besonders  die  deutschen  Gestade. 
hn  Mai  nemlich  pflegen  erst  die  Eismassen  in  den  nördlichen  Gegenden 
zu  schmelzen  und  musz  dann  das  daraus  entstehende  kalte  Wasser  der 
Ausgleichung  wegen  nach  Süden  hinströmen.  So  lange  bis  die  Tempe- 
ratur der  Wassermassen  sich  ausgeglichen  hat,  bewirken  die  kälteren 
Strömungen  eine  Erniederigung  der  Lufttemperatur  und  erklärt  sich 
daraus  das  Phänomen  der  sogenannten  kalten  Tage  des  Mais. 

Die  West-  und  Ostküste  Skandinaviens  ist  zerrissen;  voll  von  Buch- 
ten, Vorgebirgen  und  kleinen  Inseln.  An  der  Ostküste  ist  das  alles  zier- 
licher und  feiner  ausgearbeitet,  für  Seeraub  und  Schmuggelbandel  wie 
geschaffen.  Um  dieses  Gewirre  von  Landbrocken,  diese  Skären,  zuhe- 
herschen,  hat  man  in  Schweden  eine  eigentümliche  KüstenflotUle,  die 
Skärenflotte,  gebildet,  deren  kleine  Schiffe  mit  nicht  tiefgehendem  Kiele 
wol  geeignet  sind,  in  alle  Engen  und  Winkel  dieses  Strandes  einzu- 
dringen. 

Die  Hauptsenkung  Skandinaviens  geht  von  Westen  nach  Osten;  das 
Land  ist  eine  Granitplatte ,  welche  steil  zur  Nordsee  und  in  Terrassen 
zur  Ostsee  abfällt. 

Der  Streit,  ob  der  Granit  geschichtet  oder  nur  massig  vorkomme, 
ist  bis  jetzt  noch  nicht  entschieden,  doch  gewinnen,  wie  es  scheint,  die 
Neptunisten  den  Vulkanisten  in  dieser  Frage  immer  mehr  Terrain  ab. 

So  viel  steht  für  Skandinavien  fest,  dasz  der  Granit  in  groszen 
Platten  liegt,  bei  denen  nur  fraglich  ist,  ob  sie  dem  Feuer  oder  dem 
Wasser  ihre  Bildung  verdanken.  Der  Granit  der  Alpen  verwittert  starker, 


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Geographische  Repetitionen.  601 

als  der  Skandinaviens ;  man  hat  diese  Thatsache  dadurch  zu  erklären  ver- 
sucht ,  dasz  man  —  die  Schichtung  des  Granites  voraussetzend  —  in  den 
Alpen  die  Schichten  senkrecht  neben  einander  stehend,  in  Skandinavien 
wagerecht  auf  einander  liegend  fand.  Im  ersteren  Falle  dringt  alle  Feuch- 
tigkeit leichter  ein  und  befördert  den  Process  der  Verwitterung.  —  Man 
hat,  wie  schon  oben  erwähnt,  ein  groszes  europäisches  Binnenmeer  an- 
genommen ,  welches  die  sarmatische  und  deutsche  Tiefebene  bedeckt  ha- 
ben soll.  Eisschollen  haben  von  Skandinavien  und  von  den  Karpathen  her 
die  Geschiebe  über  dasselbe  hingeführt.  Diese  Massen  sind  dann  als  erra- 
tische Blöcke  nach  dem  Zergehen  der  Eisschollen  liegen  geblieben ;  noch 
in  der  Lausitz  findet  man  Geschiebe  von  Skandinavischem  Granit ,  dort 
stoszen  sie  zusammen  mit  denen,  welche  von  den  Karpathen  hergekom- 
men sind. 

Diese  Plattenform  des  Gebirges  findet  sich  am  schärfsten  ausgeprägi 
im  Süden  Skandinaviens,  in  den  sogenannten  Fjelds.  Das  Gebirgsland 
zerfallt  nemlich  in  drei  wol  zu  unterscheidende  Teile :  1)  in  die  Fjelds, 
welche  vom  Gap  Lindesnaes  bis  zum  Drontheim  Fjord  und  Sneehättan  rei- 
chen; 2)  in  die  Kjölen,  von  dort  bis  zum  Sulitelma ,  bis  zum  nördlichen 
Polarkreise  und  3)  in  die  Lappländischen  Plateaus,  die  vom  Sulitelma 
bis  zum  Warangerfjord ,  Enarasee ,  und  bis  zum  Tornea  und  Muonioflusz 
sich  erstrecken. 

Diese  südlichen  Fjelds  erhalten  durch  die  Lagerung  der  Granitplat- 
ten etwas  sehr  Einförmiges.  Unendlich  weite,  3 — 4000  Fusz  hohe  Flächen, 
auf  denen  das  Ansteigen,  die  Erhebung  so  allmählich  vor  sich  gehet,  dasz 
es  kaum  zu  merken  ist.  Dann  ausgedehnte  Gletscher,  Jökuls,  wie  weisze 
Leichentücher  ohne  Abwechslung  hingespreitet.  Auf  den  Fjelds  liegen 
die  Wasserscheiden  oft  als  sumpfige  Wiesen,  nicht  wie  in  den  Alpen  als 
Wände  und  Passhöhen.  In  diese  Platten  sind  enge,  steile  Thäler  einge- 
rissen, wie  wenn  die  Wände  nur  ein  wenig  von  einander  gerückt  wären. 
Auf  den  Fjelds  findet  sich  nur  dürftige  Vegetation,  Birken  und  Nadelholz, 
und  an  den  höheren  Stellen  schon  im  August  oft  entsetzliche  Kälte.  Dort 
oben  erstarrte  in  diesem  Monate  Carl  dem  XII  im  Oststurm  ein  ganzes 
Heer.  Was  Wunder ,  dasz  sich  hier  herauf  die  Geächteten  flüchten.  So 
wollte  Gustav  Wasa,  als  er  vergebens  zu  den  Thalkerlen  in  Mora  geredet, 
hier  eine  Zuflucht  mit  einem  Dänen  suchen,  der  friedlos  wegen  Mordes 
in  den  Wald  geflüchtet  war.  — -  Von  den  steilen  Bergwänden  herab  stürzt 
sich  das  Wasser  in  prächtigen  Fällen ;  nirgend  sieht  man  sie  so  schön  und 
so  zahlreich  als  hier.  Ueber  diese  Fjelds  ragen  die  hohen  Berge  heraus : 
die  Tindes,  Nadeln  oder  Hättan,  Haube  genannt  werden,  denn  der  Granit 
bildet  oft  spitze  Gipfel :  Hörner,  Aiguilles,  Piks  oder  hauben-  und  buckei- 
förmige Höhen  wie  der  Monte  Rosa,  welcher  durch  Verwitterung  die 
Form  einer  aufgeblätterten  Rose  erhalten  hat.  Nach  Westen  hin  zum 
Meere  fällt  das  Gebirge  steil  ab,  nach  Osten  in  Terrassen  in  die  Tief- 
ebene bis  zu  den  vier  groszen  südschwedischen  Seen,  zum  Wener-,  Wel- 
ter-, Mälar-  und  Hielmarsee.  Dieser  südliche  Teil  des  Gebirges  ist  nun 
wieder  in  eine  Reihe  Plateaus  zerteilt ,  welche  durch  tief  eingeschnittene 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.   II.  Abt.  1864.  Hft.  12.  42 

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602  Geographische  Repetitionen. 

Meerbusen  Fjords  und  durch  Flusse  von  einander  getrennt  werden.  Die 
Fjords  sind  nichts  Anderes,  als  mit  Wasser  ausgefüllte  Alpenihäler.  Wie 
Gebirgsthäler  überhaupt  nicht  schnurgerade  nach  einer  Himmelsgegend 
hin  streichen,  sondern  aus  mehreren  Abteilungen  bestehend  bei  jedem 
neuen  Thalabschnitte  eine  Biegung  machen,  so  auch  die  Fjords,  welche 
sich  in  der  Art  viele  Meilen  weit  ins  Land  hineinziehen.    Diese  Fjords 
hat  nun  die  Poesie  mit  ihrem  Zauberlichte  erhellt,   und  es  mag  wol 
herlich   sein    zwischen    den  steilen  Felswänden  dahinzusegeln  an  dem 
schmalen,  grauen  Küstenstreifen  oder  an  den  kleinen  Inseln,  den  Holmen, 
vorbei ;  wie  mag  der  Fremde  staunen ,  wenn  sein  Steuermann  gerade  los- 
segelt auf  eine  Felswand,  welche  die  Scene  zu  schlteszen  scheint,  und 
wenn  dann  eine  kühne  Wendung  um  eine  scharfe  Felskante  das  Schiff  in  ein 
anderes  Wasserbecken  führt.  Dazu  rauschen  von  den  Felsen  Wasserfälle, 
denn  die  kleinen  Flüsse  der  Westseite  stürzen  vielfach  in  dieser  Weise 
von  den  Plateaus  ins  Meer.    Der  berümteste  Fjord  ist   der  Hardanger 
Fjord,  in  welchem  Harald  Harfagr  (Schönhaar)  die  kleinen  norwegischen 
Jarle  besiegte  und  durch  diesen  Sieg  König  von  Norwegen  wurde.  Die- 
jenigen Edlen  aber ,  welche  sich  dem  neuen  Herscher  und  dem  von  ihm 
begünstigten  Ghristentume  nicht  fügen  mochten,  suchten  eine  andere 
Heimat  und  fanden  sie  teils  in  Island,  teils  in  der  Normandie.  —  Die  ein- 
zelnen Fjelds ,  wie  das  Hardanger,  Dovre,  Sagnefjeld  werden  ferner  durch 
die  groszen  Flüsse  von  einander  getrennt,  welche  ost-  und  süd ostwärts 
über  die  dorthin  sich  senkenden  Terrassen  abflieszen.   Wir  merken  vor 
allen  als  noch  zu  Norwegen  gehörenden  Strom  den  Glommen  mit  seinem 
groszen  Nebenflusse  Lougen.  Das  Thal  des  Lougen  heiszt  Guldbrandslhal. 
In  ihm  wohnt  der  echte  norwegische  Bauer ,  der  edle  Bonde  werth ,  der 
Odalsbauer;  ein  Nachkomme  oft  von  den  alten  Königen  sitzt  er  auf  seinem 
Gute,  seinem  Odal,  Uodal  oder  Adal,  in  Wahrheit  ein  Uodalrich,  Adels- 
reich.  Diese  Südfjelds  enthalten  Alles ,  was  in  Norwegen  von  Bedeutung 
ist.    Da  liegt  im  Süden  die  jetzige  Hauptstadt  Christiania,  da  Friedrichs- 
hall,  vor  dem  im  J.  1718  Carl  XII  erschossen  wurde.   Es  ist  bekannt,  dasz 
man  diese  Thal  dem  schwedischen  Adel  zugeschrieben  hat.   Zwar  hat  man 
in  neuester  Zeit  durch  eine  Untersuchung  am  Leichnam  des  Königs  be- 
weisen wollen ,  dasz  der  Schusz  von  der  Seite  des  Feindes  her  gefallen 
sein  müste,  indessen  ist  dadurch  kein  sicheres  Resultat  erzielt  worden 
und  die  Sache  bleibt  nach  wie  vor  unaufgeklärt.    An  der  Westküste  fin- 
den wir  Bergen,  wo  die  Hansa  ihr  berühmtes  Gomptoir  hatte,  und  weiter 
nördlich  Drontheim.    Von  Bergwerken  merken  wir  Röraas,  nicht  weit  von 
den  Quellen  des  Glommen  etwas  südöstlich  von  Drontheim.  —  Wahrlich! 
ein  hartes  Leben  führt  auch  in  diesem  mildesten  Teile  seines  Landes  der 
Normann.    Der  Acker  trägt  nicht  viel  Getreide,  nicht  so  viel,  dasz  der 
Bewohner  nicht  von  auszen  her  Zufuhr  gebrauchte;  jedes  Körnlein  Salz 
musz  ihm  gebracht  werden.   Dem  Meere  musz  er  auch  die  Nahrung  unter 
harten  Kämpfen  abgewinnen.    Kein  Wunder  also ,  dasz  oft  sein  Leib  un- 
terliegt, dasz  der  schreckliche  Aussatz  ganze  Familien  auf  Kind  und  Kin- 
deskinder heimsucht ;  kein  Wunder,  dasz  oft  seine  Religiosität  eine  düstere 
Färbung  annimmt,  dasz  in  dem  einsam  liegenden  Bauerngehöft  in  seltsam 


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Geographische  Repetitionen.  603 

mystischer  Weise  Gott  verehrt  wird.  Anders  ist  doch  schon  Alles  in  dem 
Vorlande,  in  Südschweden. 

Dies  erstreckt  sich  so  weit  nach  Süden,  dasz  nur  ein  Teil  bis  zu 
den  schon  oben  genannten  groszen  Seen  von  den  Terrassen  der  Fjelds 
erfüllt  wird ,  das  Land  aber  südwärts  von  diesen  Wasserbecken  erhebt 
sich  zu  einem  eigenen,  etwa  700  Fusz  hohen  Plateau,  Smaland  genannt. 
Diese  Hügellandschaft  senkt  sich  von  Norden  nach  Süden  so,  dasz  die 
kleineren  Flüsse  von  ihr  nach  allen  Seiten  in's  Meer  strömen.  In  diese 
Gegenden  sind  die  germanischen  Stämme  eingewandert  und  allmählich 
von  Süden  nach  Norden  gegen  die  mongolischen  Ureinwohner  vorgedrun- 
gen. Noch  heute  gebrauchte  Ortsnamen  bekunden ,  dasz  Finnen  einst  in 
diesen  Gegenden  lebten.  Wie  die  Assyrier  ihre  groszen  Eroberungszuge 
alle  der  Semiramis,  wie  die  Tyrier  ihre  Handelsfahrten  dem  Melkarth  und 
die  Griechen  dem  Hercules  zugeschrieben  haben ,  so  die  Skandinavier  die 
Golonisation  des  Landes  dem  Äsen  Heimdallur,  dem  vielkundigen  Rigr. 
Am  Meere  entlang  auf  grünem  Pfade  wanderte  der  As ,  wie  die  Edda  im 
Bigsmal  singt,  und  von  ihm  und  durch  ihn  entsproszten  die  3  Stände: 
die  Jarle,  die  Carle  und  die  Thräle.  Blondhaarig  und  blauäugig,  wie  Ta- 
citus  die  Deutschen  schildert ,  so  stellt  das  Lied  den  Jarl  dar ,  dessen  Au- 
gen wie  Schlangen  lauerten,  Hunde  hetzen  lernt  er,  und  Hengste  reiten 
und  den  Sund  durchschwimmen;  aber  der  Gott  unterrichtet  diesen  seinen 
liebsten  Sohn  auch  in  den  Runen:  Zeit-  und  Zukunftsrunen  lernt  er,  er 
lernt  die  See  stillen  und  der  Winde  Brausen  dämpfen  und  erregen.  Ger- 
manisch ist  auch  der  Carl ,  der  freie  Bauer,  dessen  Hauptgott  Thor  ist, 
der  Kerl  der  Kerle,  wie  ihn  die  Edda  nennt  und  ihn  deswegen  auch  in 
seinem  Korbe  Hering  und  Habermus  tragen  läszt.  Die  Thräle  aber,  die 
Tagelöhner,  sind  nicht  rein  germanisch;  dunkel  ist  ihre  Haut,  fratzig  ihr 
Antlitz,  kurz,  die  ganze  Schilderung  der  Edda  läszt  in  ihnen  Mongolen 
erkennen.  Eins  ist  aber  wol  zu  merken ,  dasz  es  —  soweit  wir  Kunde 
haben  —  in  Schweden  nie  leibeigene  Leute  gegeben  hat  und  dasz  ein 
gewaltiger  Unwillen  unter  den  Bauern  entstand,  als  die  Königin  Christine 
einmal  von  wanbördigen  Leuten  redete.  —  In  diesem  Südteile  Schwedens 
vom  Cap  Falsterbo  bis  zum  Dal  Elf  hin  lieszen  sich  zwei  deutsche  Stämme 
nieder:  die  Gothen  und  die  Sueonen.  Ihre  Grenze  liegt  zwischen  den 
vier  Seen.  Es  wird  nemlich  der  Mälar-  und  Hiclmarsee  von  dem  Wener- 
und  Wettersee  durch  ein  bergiges  Waldland  getrennt.  In  alten  Zeiten 
war  die  Gegend  mit  Wald  bedeckt ;  sieben  Tagereisen  entlang  erstreckte 
sich  die  Grenzwaldung,  welche  Tiweden  und  Colmärden  hiesz.  Zwischen 
Pommern,  Polen  und  der  Mark  lagen  auch  solche  Wildnisse.  Wie  dort 
durch  sie  der  heilige  Ansgarius  pilgerte,  so  durchzog  die  pommerschen 
Grenzwälder  der  Bischof  Otto  von  Bamberg. 

Diese  beiden  Stämme  haben  wol  in  den  ältesten  Zeiten  bittere  Feh- 
den unter  einander  geführt,  wie  sich  das  in  den  Kämpfen  der  Äsen  und 
Vanen  widerspiegelt.  Als  dann  die  beiden  Völker  sich  aussöhnten ,  ver- 
schmolzen auch  die  beiden  Götterkreise  zu  einem.  —  Bekanntlich  hat 
Norwegen  so  lange  zu  Dänemark  gehört,  dasz  die  gebildeten  Einwohner 
das  dänische  Idiom  als  Schrift-  und  Umgangssprache  gebrauchen  und  erst 

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604  Geographische  Repelitionen. 

in  neuester  Zeit  begonnen  haben ,  durch  Verfeinerung  ihrer  Volksdialecle 
und  durch  Belebung  des  Altnordischen  ein  eigenes  Hochnordisch  zu  schaf- 
fen. Nicht  ganz  so  lange  wie  Norwegen,  nur  bis  ins  17e  Jahrhundert  hin- 
ein haben  die  Dänen  die  südwestlichsten  Provinzen  von  Schweden ,  neu- 
lich Hailand,  Schonen  und  Blekingen,  besessen.  Selbst  die  grosze  Handels- 
stadt Götaborg  war  lange  dänisch.  Hier  im  Süden,  in  Gothlaod,  finden 
wir  neben  einander  einen  mächtigen  Adel  und  reiche  Bauern,  hier  schon 
frühe  wolhabende  Städte,  welche  sich  zur  Hansa  hielten.  Wenn  man  die 
Hügellandschaften  hier  durchwandert,  so  trifft  man  stattliche  Edelhöfe. 
reiche,  wol  dotierte  Pfarreien  und  grosze  Bauerndörfer.  Freilich  wird 
dies  freundliche  Bild  dadurch  umdüstert,  dasz  das  Laster  des  Trunkes,  die 
sogenannte  Branntweinpest,  an  dem  Marke  des  Landes  zehrt.  An  der 
Küste  merken  wir  die  Festung  Malmoe,  die  in  neuester  Zeit  durch  der. 
Vertrag  von  1852  so  verhängnisvoll  geworden  ist,  dann  den  berühmteD 
Ueberfahrtsort  Ystadt  und  an  der  Südostküste  Galmar  am  gleichnamigen 
Sunde.  —  Das  Bild  zweier  gewaltiger  Persönlichkeiten  zaubert  der  Name 
jener  Stadt  hervor ;  erstens  das  der  Margarethe ,  der  Semiramis  des  Nor- 
dens, wie  Voltaire  sie  nennt,  und  dann  das  Carls  X,  der  hier  so  lange  seine 
Residenz  hatte,  als  seine  launische  Base  Christine  regierte.  —  Die  Skan- 
dinavischen Seen  sind  entweder  Quellseen  und  liegen  dann  selbstredend 
meist  auf  den  Höhen  oder  sie  sind  Fluszseen  und  erstrecken  sich  dann 
wie  der  lago  maggiore,  Corner-  und  Garda-,  wie  der  Boden-  und  Genfer* 
see  aus  den  höheren  Gebirgsgegenden  in  die  Vorberge  hinein. 

Die  vier  groszen  südschwedischen  Seen  aber  liegen  in  der  Tiefebene, 
in  der  Einsenkung  zwischen  den  Fjelds  und  dem  Smalands  Plateau.   Der 
Wenersee  ist  ein  ausgesprochener  Fluszsee,  denn  es  strömt  in  ihn  die 
Clara  Elf  hinein  und  die  Göta  Elf  bildet  seinen  Abflusz  zum  Meere.  Da 
der  See,  wie  oben  schon  bemerkt  worden,  300  Fusz  über  dem  Meere 
liegt ,  so  erklärt  es  sich  leicht,  dasz  der  Abflusz  des  Wenern,  der  Götaelf, 
den  groszen  Wasserfall  Trollhättan  (die  Riesenhaube)  bildet.     Um  diesen 
Fall  herum  ist  ein  Canal  geführt,   so  dasz  man  von  Götaborg  in  den 
Wenern,  aus  diesem  durch  den  Götakanal  in  den  Wettersee,  von  da  durcL 
denselben  Canal  in  die  Motalaelf  und  so  in  die  Ostsee  gelangt.     Ein  Herr 
v.  Platen  hat  diesen  Canal  gebaut,  der  dadurch  sehr  merkwürdig  ist,  dasz 
er  über  eine  Erhebung  von  300  Fusz  führt.    Der  Canal  du  midi  übersteigl 
nur  150  Fusz.  —  Nördlich  von  den  beiden  genannten  Seen  liegt  bis  zum 
Dal  Elf  hin  das  Land  der  Sueonen ,  das  eigentliche  Suealand.    Hier  ist 
durchweg  der  eigentlich  classische  Boden  nordischer  Geschichte.    Wer 
kennt  nicht  das  blaue  Regiment   Südermannland,   welches   der  Oberst 
Gustav  Wrangel  führte?    Es  trägt  seinen  Namen  von  der  Landschaft  zwi- 
schen den  4  Seen.   Auf  dem  Eise  des  Mälarsees,  auf  der  Flucht  nach 
Stockholm  starb  im  Jahre  1519  der  edle  Steu  Sture,  der  Reichsverweser 
von  Schweden,  und  bald  darauf  feierte  Christian  II  dort  sein  berühmtes 
Blutbad.   Stockholm,  das  nordische  Venedig,  liegt  am  Ausflusz  des  Mälar- 
sees.   Wie  Madrid  Hauptstadt  von  Spanien  wurde ,  als  Castilien  und  Ara- 
gonien  zu  einem  Reiche  verschmolzen  waren ,  so  wurde  Stockholm  erst 
im  12.  Jh.  gegründet,  als  ein  gröszeres  Reich  sich  hier  gebildet  hatte. 


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Geographische  Repetitionen.  605 

Was  für  gewaltige ,  fast  möchte  man  sagen ,  herserkermäszige  Zuge  ha- 
ben die  öffentlichen  Gebäude,  die  groszen  Plätze  dem  Wanderer  zu  be- 
richten !  Schau  hin !  siehst  du  auf  dem  Markte  das  Blutgerüst  und  auf 
ihm  den  Henker  in  voller  Arbeit?  Mit  Seufzen  und  Stöhnen  bejammert 
die  Menge  das  Blutbad!  Siehst  du  wol  unter  dem  Volke  die  beiden  ern- 
sten Männer?  Betend,  tröstend  gehen  sie  umher;  ja,  das  sind  die  Peders- 
söhne  Olav  und  Lorenz ,  welche  Luther's  Lehre  aus  Wittenberg  nach 
Schweden  gebracht  haben.  Siehst  du  jene  stolzen,  schönen  Herren?  das 
ist  der  Hörn,  der  Fersen,  das  ist  ein  Brahe,  ein  Stenbock,  ein  Ribbeek, 
ein  Ankarström,  und  das?  Ja,  wer  kann  sie  Alle  aufzählen,  die  stolzen 
Gesellen ,  welche  in  kühnem  Frevelmute  die  Hand  gegen  die  Krone  und 
das  Leben  ihres  Herrn  und  Königs  erhoben  haben.  Sie  haben  es  den 
Wasas  nie  vergeben  und  vergessen  können ,  dasz  sie  aus  ihrer  Mitte  em- 
porgestiegen die  Herscher  sein  sollten.  Und  jetzt!  nun  jetzt  beherscht 
sie  der  Enkel  eines  Advokaten.  Lasz  die  trüben  Bilder!  fahren  wir  lieber 
hinaus  auf  den  Mälarsee,  besuchen  wir  eine  jener  unzähligen  Inseln  des 
Stockholmer  Thiergartens  und  zwar  jene,  auf  welcher  an  den  Anakreon 
des  Nordens,  an  Otto  Bellmann,  sein  Denkmal  erinnert.  Welch  heiteres 
Leben  herscht  da!  Zu  lustig  fast;  aber  bedenken  wir,  dasz  Stockholms 
und  Münchens  Sittlichkeit  übel  berüchtigt  sind.  —  Gesättigt  von  dem 
nordischen  Venedig  wenden  wir  uns  zu  der  alt  heiligen  Hauptstadt  Up- 
sala.  Nicht  steht  der  alte  Odhinstempel  mehr  da,  aber  die  ganze  Stadt  ist 
jetzt  ein  Tempel;  ein  Tempel  der  Wissenschaft.  Linne  und  Berzelius  ha- 
ben sie  weltberühmt  gemacht. 

Im  nördlichen  Teile  des  alten  Suealandes  herscht  in  den  Bergen  ein 
lebendiges  Treiben;  vor  Allem  in  dem  groszen  Bergwerke  von  Falun. 
Nun  sind  wir  am  Dal  Elf,  am  Thalflusz,  im  Lande  Dalarne,  wo  die  riesi- 
gen Thalkerle  wohnen.  Am  Flusse  liegen  schöne  Wiesen,  anf  den  Bergen 
streckt  sich  der  Fichtenwald  hin ;  weit,  schaurig  still,  denn  es  fehlen  fast 
alle  Singvögel.  Kleine  Hütten  liegen  hier  und  da  verstreut.  Aus  ihnen 
treten  colossale  Gestalten ,  wahrhaft  nordische  Hünen.  In  dunkelm  Ge- 
wände, einen  Lederschurz  vorgebunden,  die  Axt  auf  der  Schulter  oder 
den  Spitzhammer  in  der  Faust,  so  schreitet  der  Thalkerl  in  den  Wald 
oder  fährt  in  den  Schacht.  Mächtiger  Nacken,  harte,  feste  Züge,  ein 
Doppelkinn  verkünden  die  Thatkraft  dieser  Leute,  aber  ihre  Züge  sind 
nur  in  der  Jugend  recht  frisch ,  bald  werden  sie  welk !  Die  Not  des  Le- 
bens ,  die  schlechte  Nahrung  zerstören  schnell  den  Schmelz  der  Jugend. 
Wenn  nemlich  die  Ernte  nicht  recht  geräth,  und  das  ist  oft  der  Fall,  so 
backt  der  Thalkerl  zerriebenes  Fichtenmark  zwischen  sein  Knakebrod; 
davon  wird  er  wol  satt,  aber  nicht  froh.  Zu  diesen  Leuten  flüchtete, 
wie  bekannt,  der  geächtete  Gustav  Wasa.  Denken  wir  ihn  uns  vor  diesen 
Leuten  stehend  in  seiner  ganzen  Lieblichkeit,  in  der  ihn  sein  Biograph 
schildert.  Seine  Grösze ,  sagt  derselbe ,  war  von  mittelmäsziger  Mannes- 
länge, etwas  über  3  Ellen.  Er  hatte  einen  runden  Kopf,  blondes  Haar; 
schönen,  groszen,  langen  Bart,  scharfe  Augen,  kleine  gerade  Nase,  wol- 
gebildeten  Mund,  rothe  Lippen,  blühende  Wangen,  einen  rothbraunen 
Leib,  so  wolgestaltet,  dasz  nicht  ein  Fleck  sich  an  ihm  fand,  eine  Nadel- 


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606  Geographische  Repetitionen. 

spitze  darauf  zu  setzen ;  schöne  Hände,  starke  Arme?  vollen  Körper,  Bein* 
und  Füsze ;  mit  einem  Worte,  er  war  so  wolgestall  und  ebenmäszig,  wie 
einen  solchen  ein  kunstreicher  Maler  aufs  beste  hätte  malen  mögen.  Ist's 
nicht  der  eddische  Jarl  in  aller  Herlichkeit?  Darum  folgten  ihm  die  Thal- 
kerle und  besiegten  bald  die  Dänen  an  der  Brunnbäks  Fähre  des  Dal  Elf. 
wovon  ein  altes,  schönes  Lied  singt: 

Schneerypen  and  Föhrenhüpfer  im  Baum 

Der  Thalpfeil  trifft  gar  gut. 
Christiern,  dem  blutigen  Schinder,  wol  kaum 

Wird's  werden  besser  zu  Mut. 

Sie  trieben  den  Juten  in  Brunn eb äks  Elb, 

Das  Wasser  umsprudelt  ihn  rings: 
Kur  that's  ihnen  weh,  dasz  dem  Christiern  selb 

Nicht  auch  geschah  gleicherdings. 

So  flüchten  die  Juten  nun  alle,  gar  laut 

Anstimmend  solch  kläglichen  Sang: 
Da  trinke  der  Teufel  das  Porschbier,  gebraut 

Bei  des  Dalkerls  Ambos  und  Zang. 

Vom  Drontheimer  Fjord  bis  zum  Sulitelma  erstreckt  sich  der  zweite  Teil 
des  Gebirges,  die  Kjölen,  silva  carbonaria,  genannt.  Nach  Norden  zu 
nimmt  die  Kammhöhe  des  Gebirges  ab ,  wenn  auch  noch  in  diesem  zwei- 
ten Teile  die  einzelnen  Bergspitzen  bis  über  7000  Fusz  emporragen.  Die 
Plateaus  der  Kjölen  sind  schmaler  und  auf  ihnen  zeigen  sich  vielfach 
Rücken  und  Kämme.  Nördlich  vom  Sulitelma  werden  die  Plateaus  niedri- 
ger und  breiter;  die  Schneegrenze  steigt  immer  tiefer  und  an  einigen 
Stellen  reichen  die  Gletscher  bis  ans  Meer.  Nach  Osten  zu  fällt  das  Ge- 
birge in  Terrassen  ab.  Auch  hier  findet  sich  überall  wie  im  Süden  Eisen, 
nur  kann  es  aus  Holzmangel  an  vielen  Stellen  nicht  bearbeitet  werden. 
Von  den  Gebirgen  strömt  eine  Fülle  Wassers  herunter;  es  sammelt  sich 
teils  in  groszen  Seebecken,  teils  bildet  es  Sümpfe;  das  Uebrige  führen 
die  Flüsse,  die  Elfs,  ins  Meer.  An  der  Ostseite ,  in  der  schwedischen  Hü- 
gelebene wohnen  im  Norrlande  teils  Schweden,  teils  ausgewanderte  Fin- 
nen. Letztere  sind  wol  zu  unterscheiden  von  den  Lappen ,  welche  den 
Norden  beider  Reiche,  namentlich  aber  von  Norwegen  bewohnen.  Sie 
leben  meist  alle  entweder  als  Nomaden  von  Rennthierzucht  oder  als  An- 
wohner der  See  vom  Fischfange.  Die  nomadischen  Lappländer  ziehen  im 
Sommer  nach  Norden ,  im  Winter  nach  Süden  in  die  Nähe  ihrer  Kirche. 
Christen  sind  sie  wol  jetzt  alle ;  aber  trotz  der  Reiseprediger  hören  sie 
oft  nur  das  Evangelium  verkünden  in  den  Wochen,  da  sie  in  der  Nähe  der 
Kirche  ihre  Heerden  hüten.  Die  Rennthierlappen  werden  oft  durch  den 
Handel  mit  Rennthierfleisch  recht  wolhabend,  bleiben  aber  immer  bei  den 
Ihren  und  in  ihrer  Beschäftigung. 

Brechen  wir  hier  ab  und  blicken  noch  einmal  zurück  auf  jene  nor- 
dischen Lande,  so  müssen  wir  doch  gestehen ,  dasz  namentlich  Norwegen 
ein  sehr  glückliches  und  verständig  eingerichtetes  Land  ist.  Alle  Einwoh- 
ner haben  eine  Religion,  alle  sind  in  politischer  Beziehung  eines  Standes; 
Bildung  und  Reichtum  allein  bringen  die  Unterschiede  hervor. 


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Fr.  Palm:  Fr.  Kraner.  Eine  Auswahl  aus  seinen  Schnlreden.     607 

Und  auch  Schweden  bietet  viel  Vorzüge  vor  anderen  Staaten.  Das 
Leben  ist  hier  bunter,  mannigfaltiger,  als  in  Norwegen;  der  Adel  ist  noch 
immer  reich,  er  ist  vertreten  in  einer  Adelskammer;  die  Geistlichkeit  ist' 
aristokratisch  gegliedert  unter  einem  Erzbischof  und  11  Bischöfen;  Bür- 
ger und  Bauer  und  Geistliche  sind  in  dem  Reichstage  gesondert  vertreten, 
so  dasz  derselbe  aus  4  Abteilungen  besteht.  Beide  Länder  haben  nur  ein 
kleines,  stehendes  Heer;  die  Hauptmasse  wird  in  Kriegszeiten  aus  der  In- 
delta  (eingeteilten)  Miliz  genommen,  die  von  Carl  XI  in  passendster  Weise 
eingerichtet  ist.  Kurz,  man  darf  wol  behaupten,  dasz  der  Staat  hier  den 
Unterthanen  in  seinem  Kampfe  mit  der  Natur  aufs  beste  unterstützt. 

Berlin.  Ä.  Foss. 


Ü9. 

Friedrich  Kr  an  er.  Eine  Auswahl  aus  seinen  Schulreden 
nebst  Nachrichten  über  sein  Leben  und  Wirken  herausge- 
geben von  Friedrich  Palm.  Mit  Porträt  Leipzig  1864. 
Verlag  von  Bernhard  Tauchnitz. 

Als  im  Januar  vorigen  Jahres  der  Rector  der  Thomasschule  zu  Leip- 
zig ,  Friedrich  Kraner ,  plötzlich  starb ,  wurde  unter  seinen  ehemaligen 
Meiszner  Schülern  der  Gedanke  angeregt,  dem  Frühvollendeten  ein  Denk- 
mal zu  setzen.    Dieser  Wunsch  ist,  wenn  auch  in  anderer  Weise,  in  Er- 
füllung gegangen.    Es  wrar  kaum  ein  Jahr  nach  Kraner's  Tode  verflossen, 
als  das  vorgenannte  Buch  erschien ,  das  beste  Denkmal,  was  dem  Geschie- 
denen gesetzt  werden  konnte.    Dasselbe  zerfällt,  wie  schon  der  Titel  be- 
sagt, in  zwei  Teile,  die  Lebensnachrichten  und  die  Reden.  Wäre  es  auch 
selbst  für  den  Fernerstehenden  möglich  gewesen ,  sich  lediglich  nach  den 
letzleren  ein  Bild  von  Kraner's  Persönlichkeit  zu  entwerfen ,  da  sich  der- 
selbe, um  mit  Palm  S.  103  zu  reden,  in  ihnen  am  treuesten  und  wahrsten 
selbst  gezeichnet  hat,  so  werden  es  doch  Alle  dem  Herausgeber  Dank 
wisssen,  dasz  er  die  Mühe  nicht  gescheut  hat,  ezu  zeigen,  wie  Kraner 
das  geworden ,  als  was  er  sich  in  seinen  Reden  darstellt ',  und  zu  diesem 
Zwecke  die  ausführlichen  Lebensnachrichten  zusammenzustellen.  Sie  um- 
fassen 103  Seiten  und  zerfallen  in  fünf  Abschnitte.   Der  erste  handelt  von 
Kraner's  Elternhaus,  Schul-  und  Universitätszeit  (1812 — 1835),  der  zweite 
von  seiner  Wirksamkeit  in  Annaberg  (1835 — 1838);  der  dritte  von  der 
in  Meiszen  (1838 — 1857),  der  vierte  schildert  ihn  als  Director  in  Zwickau 
(1857 — 1862),  der  fünfte  als  Rector  in  Leipzig  (1862—63).    Der  Heraus- 
geber, seit  der  Universitätszeit  mit  Kraner  auf  das  Innigste  befreundet, 
hat  bei  der  Abfassung  der  Lebensbeschreibung ,  wie  er  selbst  S.  17  sagt, 
hauptsächlich  den  Briefwechsel  benutzt,  in  welchem  er  seit  1835  mit  seinem 
Freunde  ununterbrochen  gestanden  hat,  und,  da  er  dies  mit  groszer  Ge- 
wandheit  gethan,  dem  Leser  den  Genusz  bereitet,  Kraner  selbst  reden  zu 


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608    Fr.  Palm:  Fr.  Kraner.  Eine  Auswahl  aus  seinen  Schulreden. 

hören  und  gewissermaszen  mit  ihm  wieder  in  persönliche  Berührung  zu 
treten.  Unterstützt  wurde  er  dabei  in  anerkennenswerter  Weise  durch 
die  Mitteilungen,  welche  ihm  andere  Freunde  des  Verstorbenen  machten; 
ich  erwähne  namentlich  G.  Meutzner  in  Plauen,  dem  wir  die  Schilderung 
des  Elternhauses  und  der  ersten  Studienjahre  zu  danken  haben.  Auch  die 
früheren  Collegen  Kraner's  (für  Meiszen  besonders  Professor  Milberg,  ftr 
Zwickau  Prof.  Schmidt)  haben  reichlich  beigesteuert,  und  ebenso  baten 
ehemalige  Schüler  aus  ihrer  Erinnerung  eine  Charakteristik  von  ihrem 
geliebten  Lehrer  zu  geben  versucht.  So  ist  es  denn  dem  Verf.  gelungen, 
ein  vollständig  treues  Bild  seines  Freundes  zu  geben ,  und  man  empfingt 
bei  dem  Lesen  des  Buches  den  vollen  ungetrübten  Eindruck  von  dessen 
ganzer,  liebenswürdiger  Persönlichkeit ,  wie  ihn  eben  die  Biographie  ver- 
mitteln soll.  Das  Büchlein  ist  den  Freunden  und  Schülern  Kraner's  ge- 
widmet. Ich ,  der  ich  zu  den  letzteren  gehöre ,  aber  mich  auch  zu  den 
ersteren  rechnen  darf,  glaube  daher  im  Sinne  Aller  zu  handeln,  wenn  ich 
hier  dem  Herausgeber  den  aufrichtigsten  Dank  für  den  Genusz  ausspreche, 
welchen  er  durch  dasselbe  Allen  bereitet  hat  und  bereiten  wird ,  welche 
dem  Verstorbenen  in  der  einen  oder  anderen  Beziehung  nahe  gestanden 
haben.  Erfüllt  sonach  das  Buch  vollständig  seinen  nächsten  Zweck,  so 
erhält  es  für  den  Schulmann  noch  einen  besondern  Werth  dadurch,  dasz 
es  zugleich  eine  Geschichte  des  sächsischen  Gymnasialwesens  während 
der  letzten  dreiszig  Jahre  enthält ;  ich  erinnere  beispielsweise  an  das,  was 
S.  17  IT.  über  die  Verwandlung  der  lateinischen  Schulen  und  Gymnasien 
und  ihren  Uebergang  an  den  Staat ,  S.  55  ff.  über  die  Entstehung  des  Re- 
gulativs für  die  Gelehrtenschulen  uud  die  Beformbestrebungen ,  S.  68  ff. 
über  die  Abiturientenexamina,  S.  78  ff.  über  das  Gymnasium  zu  Zwickau 
gesagt  ist.  Lieszen  sich  nun  auch  Andeutungen  hierüber  bei  der  Lebens- 
beschreibung eines  Schulmanns,  der  an  allem,  was  die  Gymnasien  betraf, 
den  regsten  Anteil  nahm,  nicht  umgehen,  so  verdient  es  doch  auch  aner- 
kannt zu  werden,  dasz  der  Herausgeber  sich  nicht  auf  das  Notwendige 
beschränkt,  sondern  sich  über  viele  Punkte  ausführlicher  verbreitet  und 
seine  Studien  auf  diesem  Gebiete  in  das  Buch  hineingearbeitet  hat.  Zu 
bedauern  ist  nur ,  dasz  der  Verfasser  die  Beformbestrebungen ,  die  bei 
vielen  Verirrungen  doch  auch  vieles  Gute  gehabt  haben,  nicht  so  ein- 
gehend behandelt  hat,  als  es  im  Interesse  der  Sache  wünschenswert}]  und 
gerade  ihm,  der  an  denselben  einen  so  hervorragenden  Anteil  genommen 
hat ,  möglich  gewesen  wäre.  Das  Buch  wird  in  dieser  Hinsicht  für  Stu- 
dierende der  Philologie  und  angehende  Lehrer  eben  so  anregend  als  bil- 
dend sein  und  ersetzt  wenigstens  für  die  Zeit  seit  1835  den  Hangel  einer 
sächsischen  Schulgeschichte,  die  sich  freilich  leichter  wünschen  als 
schreiben  läszt.  Aber  auch  abgesehen  von  diesem  speciellen  Nutzen  kön- 
nen alle,  welche  die  Lebensnachrichten  lesen,  daraus  lernen,  wie  auf- 
richtiges Gottvertrauen  und  redliches  Streben  im  Stande  sind,  alle  äusze- 
ren  Schwierigkeiten  zu  überwinden  und  ein  sicheres  Lebensglück  zu  be- 
gründen, und  mancher,  der  sich  in  ähnlicher  Lage  befindet,  wie  Kraner 
in  seiner  Jugend,  wird  sich  durch  sein  Beispiel  gehoben  und  gestärkt 
fühlen. 


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Fr.  Palm :  Fr.  Kraner.   Eine  Auswahl  aus  seinen  Schulreden.     609 

Auf  die  Lebensnachrichten  folgen  neun  Schulreden.  Die  erste  (Wie 
feiert  die  Schule  den  Geburtstag  des  Königs  zu  wahrhaft  sittlicher  Erhe- 
bung ihrer  Zöglinge?)  ist  von  Kraner  noch  in  Meiszen  am  Geburtstag  des 
Königs ,  die  folgenden  sechs  sind  von  ihm  als  Director  in  Zwickau ,  die 
letzten  zwei  in  lateinischer  Sprache  in  Leipzig  gehalten.  Die  erste  Stelle 
nehmen  darunter  jedenfalls  die  beiden  Antrittsreden  ein ,  von  denen  die 
erste  über  das  Wesen  der  Gymnasialbildung,  die  zweite  de  disciplinae 
severitate  handelt,  und  von  denen  namentlich  die  letztere  in  einer  kräf- 
tigen und  körnigen  Sprache  eine  Fülle  pädagogischer  Wahrheiten  enthält, 
die  gerade  in  unserer  Zeit  nicht  genug  beherzigt  werden  können.  Da- 
gegen zeigen  die  Reden ,  welche  von  Kraner  in  Zwickau  bei  Entlassung 
der  Abiturienten  gehalten  wurden  (es  sind  deren  fünf),  welche  hohe  Auf- 
fassung er  von  dem  wissenschaftlichen  Berufe  hatte  und  welche  Forde- 
rungen er  demgemäsz  an  studierende  Jünglinge  stellen  zu  müssen  glaubte. 
Die  letzte  Rede  endlich  ist  bei  der  in  der  Thomasschule  üblichen  Sylvester- 
feier gehalten.  Als  Anhang  sind  noch  eine  Rede  bei  der  Säcularfeier  von 
Scliiller's  Geburtstag  in  Zwickau  und  ein  humoristischer  Vortrag  bei  dem 
Stiftungsfest,  der  naturwissenschaftlichen  Gesellschaft  Isis  in  Meiszen 
beigegeben.  Ersieht  der  Leser  aus  der  erstem ,  welch  tiefes  und  inniges 
Verständnis  Kraner  für  Poesie  besasz  und  wie  er  auch  auf  dem  Gebiete 
der  schönen  Wissenschaften  zu  Hause  war,  so  wird  er  durch  den  zweiten 
eine  Seite  seines  Wesens  kennen  lernen ,  die  in  den  Schulreden  natürlich 
nicht  hervortreten  konnte,  aber  im  persönlichen  Verkehr  mit  ihm  oft  ge- 
nug sich  geltend  machte  und  ihm  auch  als  Erzieher  manche  Erfolge  ver- 
schaffte. 

Zum  Schlusz  kann  ich  nicht  unerwähnt  lassen,  dasz  der  Verleger 
das  Buch  nicht  nur  mit  bekannter  Liberalität  ausgestattet,  sondern  sich 
auch  durch  die  Zugabe  von  Kraner's  gelungener  Lithographie  alle  Freunde 
desselben  zu  besonderem  Danke  verpflichtet  hat 

Budissin.  Carl  Schubart 


Anm.  Ich  benutze  diese  Gelegenheit,  um,  soweit  als  meine  Er- 
innerung zurückreicht,  d.  h.  bis  zum  Jahre  1843,  eine  Zusammenstel- 
lung der  in  Sachsen  gedruckten  Schulreden  zu  geben.  Nicht  berück- 
sichtigt habe  ich  dabei  alle  Vorträge  religiösen  Inhalts,  Grabreden 
und  solche ,  welche  an  kirchlichen  Gedenktagen  in  Gymnasien  gehalten 
worden  sind;  eben  so  habe  ich  die  sogenannten  Sylvesterreden  Stall- 
baum's,  welche  derselbe  fast  jährlich  durch  den  Druck  veröffentlicht 
hat,  nicht  besonders  aufgeführt.  Sollte  ich  bei  dieser  Uebersicht  eine 
oder  die  andere  Beda  übersehen  haben ,  so  bitte  ich  dafür  um  Ent- 
schuldigung. 

Durch  Programme  sind  folgende  Reden  veröffentlicht  worden: 

Tres  orationes  scholasticae  (von  dem  Geh.  Kirchen-  u.  Schulr.  Schulze, 
Weichert  und  Wunder).     Grimma  1843. 

Stallbaum:  Das  Griechische  und  Lateinische  in  unseren  Gymnasien 
und  seine  wissenschaftliche  Bedeutung  für  die  Gegenwart.  Leip- 
zig 1846. 

Hoffmann:  Quid  istud  sit,  quod  nunc  vulgo  postulatur,  gymnasiorum 
institutionem  ad  temporum  rationes  accommodare.    Budissin  1847. 


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610  Conrad  Schwenck. 

Dr.  Meissner,  Geh.  Kirchen-  und  Schulrath:    Rede  bei  der  Einführung 

des  Rector  Palm  und  dessen  Antrittsrede.    Plauen  1851. 
—  « —  Rede  bei  der  Einführung  des  Director  Rieck  und  dessen  Antritts- 
rede.   Zwickau  1861. 
Palm :  Rede  bei  dem  Antritt  des  Rectorats  in  Budissin  und  Begrüszungs- 

rede  des  Conrector  Jahne.    Budissin  1862. 
Scheibe:  oratio  de  commodis  quibusdam  pubücae  et  communis  educa- 

tionis.    Dresden  1862. 
Eckstein:    Antrittsrede.    Leipzig  1864. 

Besonders  erschienen  sind : 
Baumgarten-Crusius:    Rede  bei  der  800jährigen  Jubelfeier  der  k.  Lan- 
desschule eu  Meiszen.    1843. 
Wunder:     Schulrede  am   Stiftungsfeste    der  k.  Landesschule  Grimma. 

1845. 
Dr.  A.  Schäfer:  Jugenderziehung  und  Volksbildung.    Dresden  1845. 
Wunder:    Jubelrede  bei  dem  300jährigen  Stiftungsfest  der  k.  Landes- 
schule  Grimma  1850  (über  die  heilsame  Wirkung  der  wesentlichen 
Eigentümlichkeiten  der  Landesschulen  auf  die  Bildung  und  Erzie- 
hung der  Jugend)  bei  Lorenz,  Bericht  usw.  Beilagen  S.  59  ff.. 
Dr.  Gilbert,   Geh.  Kirchen-  und  Schulrath:    Die  Aufgabe  unserer  Ge- 
lehrtenschulen in  der  Gegenwart.    Leipzig  1857. 
Kämmel:    Wodurch  kann  das  Haus  die  Thätigkeit  der  Schule  unter- 
stützen?   Zittau  1860. 
Dr.  Gilbert,  Geh.  Kirchen-  und  Schulrath  und  Prof.  Dr.  Dietsch:  Zwei 

Schulreden.    Leipzig  1861. 
Lipsius:     Schulreden  bei   verschiedenen  Gelegenheiten  gehalten.    Mit 

der  Lebensbeschreibung  des  Verfassers.  Leipzig  1862. 
Die  durch  Verordnung  vom  30  Oct.  1851  angeordnete  Feier  des  könig- 
lichen Geburtstages  hat  ebenfalls  Veranlassung  gegeben,  die  bei.  dieser 
Gelegenheit  gehaltenen  Festreden  zu  publicieren.  Durch  die  Programme 
haben  dies  gethan:  Prölss,  Freiberg  1858.  Brause,  Freiberg-  1859. 
Hultgren  (über  Dante's  Charakter),  Leipzig  1861  (Nicolaischule) ;  durch 
die  Jahrbücher :  Dietsch  (die  Grundlagen  der  Gymnasialbildung),  Bd.  72 
S.  1  ff.  Hultsch  (die  staatsmännische  Wirksamkeit  des  Demosthenes\ 
Jahrg.  1863,  2.  Abt.  4.  Heft  S.  149  ff.  Wohlrab  (was  verstand  Plato  un- 
ter den  Worten:  glücklich  der  Staat,  in  welchem  die  Könige  Philoso- 
phen sind?),  Jahrg.  1864,  2.  Abt.  8.  Heft  S.  411  ff.  Besonders  gedruckt 
sind  die  Festreden  von:  Wagner  (über  königlichen  Sinn),  Dresden  1853. 
Hempel ,  Leipzig  1854.  Flathe  (die  Mark  Meiszen),  Leipzig  1857.  Ge- 
bauer (die  Bedeutung  des  Lateinischen  und  Griechischen  für  das  Gym- 
nasium der  Gegenwart),  Leipzig  1860. 


50. 

Conrad  Schwenck 


war  der  Sohn  des  Johann  Schwenck ,  eines  Schuhmachers  in  Lieh  an  der 
Wetter,  einem  Städtchen  im  Groszherzogtum  Hessen.  Er  war  geboren 
am  21  October  1793.  Die  frühe  sich  entwickelnden  reichen  Geistesgaben 
des  Knaben  und  dessen  eigner  Wunsch  bestimmten  die  Eltern,  ihn  durch 
Privatlehrer  für  das  Pädagogium  (Gymnasium)  in  Gieszen  vorbereiten  zu 
lassen,  in  dessen  Prima  er  als  fünfzehnjähriger  Jüngling  eintrat.  Hier 
war  es,  wo  er  den  von  seinem  zweijährigen  Aufenthalte  zu  Rom  in  seine 

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Conrad  Schwenck.  611 

Stelle  am  Pädagogium  zurückkehrenden  F.  G.  Welcker  im  Namen  der 
Classe  mit  einer  kurzen  Anrede  begrüszte.  Lehrer  und  Schüler  machten 
bei  dieser  Gelegenheit  einen  gleich  günstigen  Eindruck  auf  einander ,  so 
dasz  Welcker  darüber  an  einen  Freund  ungefähr  so  sich  äuszert:  fder 
junge  Schwenck  sah  mich  dabei  mit  Augen  an,  die  mich  ahnen  lieszen, 
dasz  er  mir  für  das  ganze  Leben  angehören  .werde.'  Und  in  der  That 
hatte  sich  Welcker  in  diesem  ersten  Eindruck  nicht  getäuscht,  es  be- 
währte sich  derselbe  durch  stets  zunehmendes,  niemals  unterbroche- 
nes Vertrauen,  durch  eine  innige  Freundschaft  und  durch  eine  ganz 
besondere  Zuneigung  des  anfänglichen  Schülers  zu  den  Studien  und 
Ansichten  seines  ursprünglichen  Lehrers  bei  vollkommener  Selbständig- 
keit und  Freiheit  des  Geistes.  Ein  ähnliches  Verhältnis  zwischen  Schüler 
und  Lehrer  möchte  sich  nicht  allzuoft  finden.  —  In  dieser  Prima  be- 
freundete Schwenck  sich  namentlich  mit  August  Follenius,  genannt  Adolf 
Folien,  mit  dem  jetzigen  Professor  Diez  in  Bonn  und  mit  dem  jetzt  als 
Baumeister  in  Frankfurt  lebenden  Rumpf.  In  einem  Schulprogramm  April 
1810  liesz  Prof.  Welcker  die  metrische  Uebersetzung  eines  Homerischen 
Hymnus  von  dem  17jährigen  Schwenck  abdrucken. 

Im  Frühjahr  1810  bezog  er  die  Universität  zu  Gieszen  als  Studiosus 
der  Theologie ,  ohne  jedoch  theologische  Vorlesungen  zu  besuchen.  Als 
1812  das  philologische  Seminar  errichtet  wurde,  trat  er  sofort  mit  Folle- 
nius, Diez,  Thudichum,  dem  jetzigen  Oberstudienrath  in  Darmstadt,  u.  A. 
m.  in  dasselbe  ein.  Die  Lehrer  waren  Pfannkuche,  Rumpf  und  Welcker. 
BeiPfannkuche  hörte  er  z.  B.  lateinische  Grammatik,  bei  Rumpf  Horazi- 
sche  Oden,  bei  Welcker  unter  anderem  Pindar,  griechische  Dramen  und 
privatissime  mit  Folien  und  Diez  Platon's  Symposium.  Welcker  war  für 
die  Genannten  die  Hauptperson ;  sie  hiengen  mit  wahrer  Liebe  an  dem 
edlen  Manne,  der  bei  seiner  schon  damals  ausgebildeten  Humanität  das 
Unfertige  der  Jugend  zu  tragen ,  zu  lenken  und  den  guten  Kern  zu  ent- 
decken wüste.  Welcker's  anregende  Kraft  wirkte  begeisternd  auf  Schwenck 
und  alle  Studierende ,  die  mit  ihm  in  nähere  Beziehung  kamen,  und  ohne 
dessen  freundliche  und  wahrhaft  aufopfernde  Leitung  und  Unterstützung 
wäre  damals  das  Studium  der  Humaniora  in  Gieszen  eine  Unmöglichkeit 
gewesen.  Schwenck  stand  vor  seinen  Studiengenossen  diesem  trefflichen 
Manne  am  nächsten ,  der  sogar  etwas  später  mit  ihm  einen  lateinischen 
Briefwechsel  führte,  als  er  in  seinem  nahen  Geburtsort  studierend  ver- 
weilte. Schwenck's  Collegienbesuch  war  nicht  immer  regelmäszig,  zu 
Hause  aber  studierte  er  sehr  fleiszig,  mehr  dem  Griechischen  als  dem 
Lateinischen  sich  widmend.  Daneben  war  er  der  deutschen  Litteratur  in 
hohem  Grade  zugeneigt  und  interessierte  sich  besonders  für  Lessing, 
Goethe  und  Jean  Paul.  Unter  den  Aelteren  schätzte  er  Opitz  und  mehr 
noch  Flemming.  Schon  damals  beschäftigte  ihn  deutsche  Etymologie, 
wobei  ihm  der  alte  Frisch  behülflich  war.  Auch  las  er  zu  diesem  Zwecke 
fleiszig  das  Heldenbuch.  Ueberdies  liebte  er  Italiänisch  zu  lesen,  z.  B. 
Pastor  Fido,  Petrarca,  und  auch  hier  war  es  Welcker's  Vielseitigkeit, 
welche  diese  Neigung  in  ihm  geweckt  hatte.  Entzückt  von  A.  W.  Schle- 
gel's  Blumensträuszen  entwarf  er  mit  Diez  den  Plan,  eine  ähnliche  Samm- 


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612  Coarad  Seh  weit  ck. 

lung  unter  dem  Titel  'Dichtungen  aus  dem  Süden*  herauszugeben,  w 
er  Ueherselzungen  aus  der  griechischen  Anthologie  lieferte;  allein  tht 
Unternehmen  scheiterte  an  der  Schwierigkeil  einen  Verleger  zu  finden. 
—  Ein  burschikoser  Student  war  Schwenck  nicht ,  doch  interessierte  er 
sich  für  Studentensachen,  gehörte  einer  Landsmannschaft  an  und  hat  sich 
mehrmals  geschlagen. 

Nach  seinem  Abgänge  von  der  Universität  lebte  Schwenck  vom  April 
bis  November  1813  als  Hauslehrer  in  dem  benachbarten  Müntzenberg, 
von  wo  er  sich  in  seinen  Geburtsort  Lieh  zurückbegab.  Aus  dieser  Zeit 
stammt  seine  mit  Follenius  zusammen  unternommene  Uebersetzung  der 
Homerischen  Hymnen  (Homerische  Hymnen  metrisch  übersetzt  von  Aug. 
Follenius  und  Konrad  Schwenck  4.  Gieszen  1814  Heyer's  Verlag) ,  welche 
er  1825  in  8.  bei  Brönner  in  Frankfurt  a/M.  verbessert,  umgearbeitet  und 
mit  Anmerkungen  herausgab. 

1815  liesz  sich  Schwenck  zu  einer  Lehrstelle  am  Pädagogium  zu 
Gieszen  examinieren ,  sah  sich  aber  in  seiner  Hoffnung  die  Stelle  zu  er- 
halten getäuscht,  indem,  wie  man  sagt,  eine  kleinliche  Cabale  ihn  zu  be- 
seitigen wüste.  Diese  Zurücksetzung,  dieser  unverdiente  Schlag  seines 
Schicksals  wirkte  auf  den  sehr  originellen ,  aus  Phantasie ,  tiefem  Gefühl, 
aus  Witz ,  Humor  und  Satire ,  zugleich  aber  aus  einer  zur  Hypochondrie 
geneigten  Empfindsamkeit  zusammengesetzten  Charakter  sehr  nachteilig 
und  störend. 

Im  September  1815  begab  er  sich  nach  Utrecht ,  um  daselbst  eine 
Hofmeisterstelle  anzutreten ,  die  er  mit  strenger  Gewissenhaftigkeit  ver- 
waltete. Mit  mehreren  der  dortigen  Professoren,  welche  ihn  hoch  schätz- 
ten ,  war  er  befreundet.  Seine  Stimmung  aber  war  damals  oft  sehr  trüb 
und  hypochondrisch ,  eine  Nachwirkung  der  kurz  zuvor  in  Gieszen  ge- 
machten Erfahrung.  Gegen  Ende  des  Sommers  1818  gab  er  [diese  Stelle 
auf  und  kehrte  nach  Lieh  zurück.  Auf  Grund  seiner  Schriften  erwarb  er 
sich  jetzt  in  Gieszen  den  philosophischen  Doctortitel.  Schon  zu  Ende 
October  desselben  Jahres  erhielt  er  von  dem  Vater  seiner  holländischen 
Zöglinge  eine  dringende  Einladung,  unter  sehr  annehmlichen  Bedingungen 
in  sein  altes  Verhältnis  wieder  einzutreten.  Er  entschlosz  sich  dazu  ohne 
langes  Bedenken,  gewis  mit  Rücksicht  auf  einenjüngeren  Bruder,  den  er 
freigebig  unterstützte.  Am  6  November  1818  trat  er  mit  seinem  Freunde 
Diez ,  mit  welchem  er  wie  mit  Welcker  bis  zu  seinem  Ende  in  freund- 
schaftlichem und  litterarischem  Verkehr  gestanden  hat,  eine  Fuszreise 
nach  Heidelberg  an ,  wobei  ihm  viel  darauf  ankam ,  den  von  ihm  hochge- 
schätzten alten  Vosz  kennen  zu  lernen ,  was  ihm  auch  gelang ;  aber  er 
scheint  weder  mit  dem  Vater  noch  dem  Sohne  Heinrich  in  näheren  Ver- 
kehr getreten  zu  sein. 

Am  27  Januar  1819  reiste  er  zur  Wiederübernahme  seiner  früheren 
Stelle  nach  Utrecht  ab  und  verwaltete  sie  wiederum  mit  derselben  Ge- 
wissenhaftigkeit. Im  Jahre  1821  begab  er  sich  mit  seinem  älteren  Zög- 
ling nach  Bonn,  um  daselbst  dessen  Universitätsstudien  zu  leiten.  Hier 
halte  man  in  ihm  die  Hoffnung  erregt,  dasz  er  eine  Stelle  am  Gymnasium 
erhalten  würde ,  aber  diese  Hoffnung  und  Aussicht  auf  eine  angemessene 

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Conrad  Schwenck.  613 

Wirksamkeit  scheiterte  durch  Ereignisse,  welche  wir  gleich  berühren 
wollen.  Auch  hätte  es  leicht  geschehen  können,  dasz  Schwenck  ein 
Mitglied  der  Bonner  Universität  geworden  wäre,  denn  der  dermalige  Cu- 
rator,  Graf  von  Laubach,  erklärte  sich  bereit,  ihn  zum  Extraordinarius 
vorzuschlagen ,  was  aber  Schwenck  ablehnte. 

Im  Spätsommer  1822  löste  sich  sein  pädagogisches  Verhältnis,  als 
sein  Zögling  nach  Utrecht  zurüokkehrte. 

In  dieser  Zeit  machte  sich  die  in  Folge  der  Garlsbader  Beschlüsse  in 
der  Centraluntersuchungscommission  in  Mainz  (1819)  verwirklichte  poli- 
tische Reaction  auch  in  Bonn  geltend,  und  man  inquirierte  hier  gegen  die 
Professoren  Arndt  und  beide  Welcker.  Weil  die  vertraute  Verbindung 
Schwenck's  mit  dem  älteren  Welcker  bekannt  war,  so  wurde  der  in  Hol 
land  wie  vorher  in  Deutschland  allem  demagogischen  Treiben  absolu 
fremd  gebliebene  Schwenck  vorgeladen ,  um  über  eine  lächerliche  Klei- 
nigkeit Auskunft  zu  erteilen.  Ueberrascht  durch  die  Frechheit,  dasz  auf 
solche  Art  der  Schein  eines  Grundes  zu  untersuchen  auf  seinen  Lehrer 
und  Freund  geworfen  werden  sollte,  mag  er  seine  Antwort  nicht  mit 
dem  Respect  bemessen  haben,  welchen  in  solcher  Stellang  auch  die  nied- 
rigsten Werkzeuge  fordern  zu  können  glauben :  kurz ,  Schwenck  erhielt 
Befehl  die  Stadt  Bonn  binnen  vierundzwanzig  Stunden  zu  verlassen. 

Im  Juni  1825  liesz  sich  Schwenck  in  Frankfurt  nieder ,  wo  er  sich 
zunächst  auszer  seinen  ausgedehnten  Studien  mit  Privatunterricht  be- 
schäftigte. Bald  hatte  man  hier  die  Bedeutung  des  Mannes  erkannt  und 
man  benützte  die  erste  Gelegenheit  ihn  dauernd  an  Frankfurt  zu  fesseln. 
Als  nemlich  der  mit  Schwenck  befreundete  Professor  der  Geschichte  am 
Gymnasium,  Dr.  Ed.  Hufnagel,  nach  einer  Krankheit,  während  welcher 
Schwenck  die  Stelle  des  Freundes  versehen  halte,  gestorben  war,  wurde 
dieselbe  am  12  April  1825  Schwenck  übertragen.  In  dem  Schulprogramme 
berichtete  er  über  sein  Leben  Folgendes: 

Conradi  Schwenckii  Vita. 
Natus  sum  Lichae  die  XXI  Oct.  1793.  patre  Joanne,  sutore,  matre 
Elisabetha.  Puer  quindecim  annorum  Gymnasio  Gissensi  traditus  biennium 
in  schola  illa,  tunc  triennium  in  Universitate  litterarum,  quae  in  eadem 
urbe  exstat,  perduravi.  Postea  in  Hollandiam  profectus,  instituendae  lu- 
ven tu  ü  per  septem  annos  operam  dedi.  Historiarum  Professor  Francofurti 
factus  sum  Senatus  decreto  de  die  XII  April.  1825. 

Schwenck's  Name  hatte  schon  damals  in  der  Gelehrtenwelt  einen  so 
guten  Klang,  dasz  der  damalige  Director  des  Gymnasiums,  Vömel,  diese 
Ernennung  in  demselben  Programm  mit  folgenden  Worten  mitteilte:  'An 
die  erledigte  Stelle  wurde  Hr.  Dr.  Schwenck  ernannt,  welcher  als  Mensch, 
Gelehrter  und  Schulmann  im  In-  und  Auslande  auf  das  Vorteilhafteste 
und  Entschiedenste  zu  allgemein  anerkannt  ist,  als  dasz  ich  zu  seiner 
vorstehenden  Lebensbeschreibung  etwas  zuzusetzen  hätte.9  Nachdem  er 
diese  Stelle  2%  Jahr  zur  vollsten  Zufriedenheit  seiner  Behörde  bekleidet 
hatte,  erwirkte  er  sich  einen  Urlaub  zu  einer  Reise  nach  Italien.  Diese 
trat  er  im  November  1827  an  mit  seinem  Jugendfreunde,  dem  jetzigen 


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614  Conrad  Schwenck. 

Baumeister  Rumpf  in  Frankfurt  a.  M.  und  dehnte  sie  aus  bis  nach  Neapel 
und  Umgegend.  Wirkte  diese  Reise  schon  an  und  für  sich  vorteilhaft  auf 
Geist  und  Körper  Schwenk's  ein,  so  hatte  er  in  Rom  noch  die  besondere 
Freude  mit  August  von  Platen  bekannt  zu  werden ,  mit  welchem  er  viel 
verkehrte.  Für  den  leider  zu  frühe  (5  Decbr.  1835)  verstorben«!  Dichter 
hegte  er  immer  die  gröste  Verehrung  und  schätzte  ihn  ungemein  hoch. 

Im  Herbst  1829  wurde  Seh.  eine  seiner  Richtung  und  seinen  Studien 
angemessenere  und  angenehmere  Stellung  zu  Teil,  indem  er  an  die  Stelle 
des  als  Director  und  Professor  an  die  Gelehrtenschule  nach  Bremen  be- 
rufenen Prorectors  und  Prof.  Dr.  Ernst  Wilh.  Weber  zum  Prorector  und 
ordentlichen  Glassenlehrer  ernannt  wurde.  Jetzt  hatte  er  noch  mehr  Ge- 
legenheit die  reichen  Schätze  seines  Geistes  und  Wissens  für  die  Schüler 
der  drei  obersten  Classen  nutzbar  zu  machen.  Auch  war  er  jetzt  peeo- 
niär  weit  besser  gestellt ,  so  dasz  er  daran  denken  konnte ,  sich  seinen 
eignen  Herd  zu  gründen.  1831  vermählte  er  sich  mit  Fräulein  Louise 
Therese  von  Stracka,  mit  welcher  er  eine  äuszerst  glückliche,  durch 
seinen  Tod  allzufrüh  unterbrochene  Ehe  führte. 

Am  27  Novbr.  1838  wurde  er  zu  der  Stelle  des  emeritierten  Con- 
rectors  und  Professors  Daniel  Schaeffer  befördert,  und  am  21  April  1&4 
fand  'unser  berühmter  Gonrector',  wie  sich  Rector  Vömel  im  Frankfurter 
Programm  der  Wahrheit  gemäsz  ausdrückt ,  die  verdiente  Auszeichnung 
und  Anerkennung,  zum  correspondierenden  Mitglied  des  Instituto  Archeo- 
logico  in  Rom  ernannt  zu  werden.  Am  8  März  1853  wurde  er  mit  Bei- 
behaltung seines  Titels ,  Ranges  und  ganzen  Gebaltes  unter  Anerkennung 
seiner  langjährigen  Leistungen  in  den  Ruhestand  versetzt. 

Die  letzten  Jahre  seines  Lebens  brachte  er  abwechselnd  in  Frankfurt 
a.  M.,  abwechselnd  in  Bisenz  in  Mähren  bei  seiner  dort  an  Hrn.  Karelier 
verheiratheten  Tochter  zu.  Ungeahndet  von  Allen  raffte  ihn  nach  einer 
kurzen  aber  schmerzhaften  Krankheit  der  Tod  am  14  Febr.  1864  im  71c 
Jahre  seines  Lebens  hinweg.  Einen  Trost  hatte  er  in  seiner  Scheide- 
stunde, dasz  er  seine  ganze  Familie  um  sich  versammelt  sah,  denn  seine 
ältere  Tochler  war  mehrere  Wochen  vorher  zum  Besuche  nach  Frankfurt 
gekommen ,  und  ihr  Gemahl  traf  noch  frühe  genug  ein ,  um  die  letzten 
Tage  bei  seinem  geliebten  Schwiegervater  zuzubringen.  Schwenck  hin- 
terläszt  auszer  der  trauernden  Gemahlin  und  der  verheiratheten  Tochter 
einen  Sohn  Fritz,  welcher  Dr.  med.  und  praktischer  Arzt  in  Frankfurt 
ist,  und  eine  jüngere  Tochter  Auguste.  fBei  seiner  Bestattung,  welche 
am  17  Febr.  unter  Beteiligung  vieler  Freunde,  so  wie  des  Lehrercollegiums 
des  Gymnasiums  stattfand,  gab  Prof.  Eberz,  nach  der  trefflichen  Gedächt- 
nisrede des  Hrn.  Consislorialrath  Dr.  Kirchner,  durch  die  lebendige  Schil- 
derung der  ausgezeichneten  Persönlichkeit  und  der  groszen  Verdienste 
des  Verstorbenen  den  dankbaren  Empfindungen  seiner  zahlreichen  Schü- 
ler  warmen  Ausdruck.9    (Progr.  Fft.  1864.) 

Schwenck  war  ein  edler  Mann  von  seltner  Herzensgute ,  welche  die 
ihm  näher  Stehenden  leicht  erkannten,  welche  aber  den  Ferneren  durch 
seinen  sprudelnden  Witz  und  Humor  und  seine  nicht  selten  beiszende 
Satire  oft  entgieng.   Er  war  ein  treuer  Freund,  ein  trefflicher  Familien- 


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Conrad  Schwenck.  615 

vater  und  ein  ungemein  anregender  Lehrer,  welcher  die  reichen  Gaben 
seines  Geistes  und  Wissens  seinen  Schülern  widmete.  Ein  so  gründlicher 
und  hervorragender  Philologe  er  war,  und  sa  sehr  er  immer,  selbst  noch 
bis  zu  seinen  letzten  Tagen,  auf  dem  Gebiete  seiner  Wissenschaft  rüstig 
fortarbeitete  und  forschte ,  so  übertrug  er  doch  diese  specielle  Richtung 
nicht  in  seinen  Unterricht.  Er  bedachte  alle  seine  Schüler  gleichmäszig, 
und  gleichmäszig  waren  alle  für  seinen  Unterricht  begeistert,  welchem 
gelehrten  Berufe  sie  sich  auch  widmen  wollten.  Ihm  war  das  Gymnasium 
nicht  eine  blosze  Vorbereitungsschule  für  künftige  Philologen.  Als  Ge- 
lehrter hat  er  sich  bewährt  durch  einen  weiten  Kreis  von  schriftstelleri- 
schen Arbeiten ,  unter  denen  mehrere  von  seltener  und  epochemachender 
Vortrefflichkeit  sich  befinden.  Ein  besonderes  Talent  hatte  er  für  Etymo- 
logie, Mythologie,  für  ästhetische  Beurteilung  und  für  metrische  Ueber- 
setzungen,  in  welchen  er  seine  poetische  Begabung  deutlich  bekundete. 
So  geachtet  und  geschätzt  auch  bei  Vielen  der  litterarische  Name  Seh wenck's 
ist,  so  ist  doch,  wie  sich  einer  seiner  Freunde  in  einem  Briefe  an  den 
Berichterstatter  ausdrückt,  nicht  zu  bezweiflen,  'dasz  er  im  Ganzen  weit 
höher  stehen  würde,  wenn  er  zu  den  Schulhäuptern  und  ihrer  Aristokra- 
tie im  Verhältnis  gestanden  hätte.5  Man  könnte  besser  sagen :  wenn  er 
sich  in  Verhältnis  zu  ihnen  hätte  setzen  können.  Denn  'Schwenck  war' 
wie  sich  ein  anderer  seiner  Freunde  ausdrückt  'schon  sehr  frühe  zur 
Selbständigkeit  bis  zur  äuszersten  Grenze  augelangt.  Das  Gefühl  seiner 
Ueberlegenheit  war  ihm  oft  hinderlich  auf  seinem  Wege.  Es  hinderte  ihn 
auch,  gewissermaszen  zünftig  zu  werden ,  denn  dazu  darf  man  nicht  vor- 
zugsweise seine  eignen  Wege  gehen/ 

Von  Schwenck's  Schriften  erwähnen  wir  auszer  der  oben  genannten 
Uebersetzung  der  homerischen  Hymnen: 

Aeschyli  Septem  contra  Thebas  cum  scholiis  notisque  edidit  C.  Schwenck. 
Traiecti  ad  Rhenum  (Lps.  Weigel)  1818. 

—  Choephori  ibid.  (prostant  Ups.  apud  F.  Fleischer)  1819. 
"  —  Eumenides.    Bonnae  apud  Marcus  1821. 

Etymologisches  Wörterbuch  der  lat.  Sprache  mit  Vergleichung  der  grie- 
chischen und  deutschen.    Frankfurt  a.  M.  1827.  Brönner. 

Beitrag  zur  Wortforschung  der  latein.  Sprache.  Frankfurt  a.  M.  1833. 
Sauerländer. 

Zweiter  Beitrag  zur  Wortforschung  der  lat.  Sprache,  ibid.  1835. 

Etymologisch-mythologische  Andeutungen  mit  einem  Anhang  von  F.  G. 
Welcker.    Bonn  1823. 

Mythologische  Skizzen.     Frankfurt  a.  M.  1836.    Sauerländer. 

Die  Mythologie  der  Asiatischen  Völker ,  derAegypter,  Griechen,  Römer, 
Germanen  und  Slaven,  herausgeg.  von  Conrad  Schwenck.  Frank- 
furt a.  M.  Sauerländer  1843  u.  ff.  1.  Bd.  Griechen,  2.  Römer,  3. 
Aegypter,  4.  Semiten,  5.  Perser,  6.  Germanen,  7.  (mit  General- 
register) Slaven. 

Die  Sinnbilder  der  alten  Völker.  Erklärt  von  C.  S.  Frankfurt  a.  M. 
Sauerländer  1851. 

Kallimachus  Hymnen  übersetzt  von  C.  Schwenck.  Nebst  Anhang,  We  - 
ber  1821. 

—  Werke.    Hymnen  und  Epigramme  übersetzt  von  C.  Schwenck.  Stutt- 

gart 1833.  Metzlersche  Buchhandlung. 
Das  zehnte  Buch  der  Odyssee  metrisch  übersetzt.    Bonn  1822.  Weber. 


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616  Supfle:  Aufgaben  zu  lat  Stilübungen. 

Das  fünfte  Buch  der  Odyssee.    Frankfurt  a.  M.  1826,  Bronner. 

Das  siebente  Buch  der  Odyssee.  Programm  Gymnas.  Francf.  1834. 
Ostern. 

Das  zweite  Buch  der  Odyssee.    Progr.  Gymn.  Francf.  1835.  Herbst. 

Das  eilfte  Buch  der  Odyssee.    Progr.  Gymn.  Francf.  1841.  Ostern. 

Metrische  Uebersetzung  des  Catullus  (Anhang:  das  sechste  Bach  der 
Odyssee).    Frankfurt  a.  M.  1829,  Sanerländer. 

Die  sieben  Tragödien  des  Sophokles.  Erklärungen.  Frankfurt  a.  M. 
1846.  (üeher  die  Antigone  auch  Progr.  Fft.  Ostern  1842.  Philok- 
tetes  Herbst  1844). 

Goethe' 8  Werke.    Erklärungen.    Frankfurt  a.  M.  1845,  Sanerländer. 

Schillers  Werke.    Erklärungen.    Frankf.  a.  M.  1861,  SauerL 

Litterarische  Charakteristiken  und  Kritiken.  Frankf.  a..  M.  1847,  Sauerl. 
(Sammlung  von  Aufsätzen,  welche  in  den  Jahren  1823—45  in  ver- 
schiedenen Zeitschriften  erschienen  waren.) 

Wörterbuch  der  deutschen  Sprache  in  Beziehung  auf  Abstammung  und 
Begriffsbildung.     Frankf.  a.  M.  1834,  Sauerl. 

Zweite  Ausgabe  1836;  dritte  vielfach  verbesserte  und  vermehrte  Aus- 
gabe 1838;  vierte  Ausgabe  1856. 

Auszer  den  angegebenen  Schriften  hat  Schwenck  zahlreiche  gröszere 
und  kleinere  Aufsätze  in  das  rheinische  Museum,  in  den  Philologus,  in 
die  Zeitschrift  für  die  Altertums wissenschft,  in  Jahns  Jahrbücher  u.  a. 
Zeitschriften  geliefert. 

Ein  sehr  interessanter  Aufsatz  über  Cicero  ist  gedruckt  in  der 
3n  Ausgabe  des  Staatslexicons,  3r  Teil  S.  566 — 572. 

Frankfurt  a.  M.  Anton  Eben. 


51. 

Aufgaben  zu  lateinischen  Stilübungen  von  Karl  Süpfle^  gros*- 
herzoglich  Badischem  Hofralh.  Erster  Teil:  Aufgaben  für 
untere  und  mittlere  Classen.  (Mit  besonderer  Berücksichti- 
gung von  Krebs' Anleitung  zum  Lateinschreiben  undZumpts, 
Schulto's  und  Feldbausch' s  latein.  Grammatiken  und  mit  An- 
merkungenversehen.) 13.  Auflage.  Karlsruhe  1862.  Groos. 
XVI  u.  303  S. 

Nach  dem  Vorwort  zu  dieser  neuen  Ausgabe  hat  der  Hr.  Verf.  mit 
derselben  keine  wesentliche  Veränderung  vorgenommen  9  '  mit  Ausnahme 
der  wahrgenommenen  Druckfehler  und  einiger  Redactions  Verbesserungen.7 
—  Auch  enthält  das  Vorwort  einzelne  Nachverbesserungen,  die  der  Verf. 
vor  dem  Gebrauche  des  Buches  zu  berücksichtigen  bittet.  Zunächst  mö- 
gen diese  hier  ihre  Stelle  finden,  vor  einer  Besprechung  des  Anderweiti- 
gen. —  In  Nr.  19  Argus.  In  der  Anm.  1  Fabeldichter,  fabularum  scriptor 
und  fabulator  werden  a.  a.  0.  emendiert  durch  fabularum  auctor  als  ci- 
ceronisch;  da  auch  98,  1  bereits  dieser  Ausdruck  gebraucht  worden  ist 


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Süpfle:  Aufgaben  zu  lat.  Stilübungen.  617 

Allerdings  bezeichnet  Tabulator  ausschlieszlich  einen  Fabeldichter  nur  bei 
Gellius ,  während  bei  fabularum  scriptor  weniger  Austosz  zu  nehmen  ist. 
—  Nr.  46 ,  1  Scythes ,  -ae  für  Scytha.  (Vgl.  cometes  und  sophistes  Nr. 
114, 1.)  Cicero  namentlich  zieht  diese  Form  vor.  — Nr.  102.  *  Dadurch 
(geschah  es')  nachzutragen  ea  re.  Wäre  aber  nicht :  quo  facto  (quo  factum 
est,  ut)  genauer?  —  Nr.  180,  14  auszer  immemor  wird  oblitus  für  obli- 
viscens  empfohlen.  Das  Participium  praesentis  würde  aber  hier  recht  das 
Momentane  schildern ,  um  anzuzeigen,  dasz  die  Tochter  selbst  bei  diesem 
Anblicke  gegen  ihren  entleibten  Vater  solche  Abscheulichkeit  verüben 
konnte.  —  Nr.  195  Anm.  'Fürst  von  Benevent. '  Beneventinus.  Hier  musz 
man  freilich  dergleichen  Endungen  proleptisch  auffassen.  —  Nr.  216  fso- 
wol  durch  die  Jahre,  als  durch  die  Erfahrung  belehrt9;  für  Jahre:  aetas. 
In  der  That  können  wir  in  Ausdrücken  wie :  in  den  besten  Jahren  stehen, 
Jahr,  nur  durch  aetas  übersetzen:  aetate  florere,  oder  esse  integrä  aetate; 
so  selbst  Nepos  Miltiad.  I  1  (quum)  eäque  esset  aetate,  da  er  in  den  Jah- 
ren stand,  wo  in  allen  diesen  Fällen  aetas  eine  begrenzte  Lebenszeit  be- 
zeichnet. —  S.  137  Anm.  Z.  4  (über  die  unbestimmte  Person  Man)  für: 
quae  optamus ,  credimus  wird  jetzt :  Caesar  de  b.  gall.  2 ,  27  citiert  und 
empfohlen:  quae  volumus,  credimus  libenter,  was  aber  keinen  wesentlich 
veränderten  Ausdruck  gewährt.  Ebd.  nach  finge  noch  beizusetzen:  fac,  man 
setze  den  Fall  (Z.  7  v.  u.).  —  Nr.  314  *  festhaltend  an '  retinens  mit  dem 
Genitiv  (wobei  die  Grammatik  wegen  des  hier  notwendigen  Genitivs  und 
nicht  des  Accusativs  zu  eitleren  wäre,  bei  Z.  §  438,  der  auch  retinens 
mit  aufführt.)  —  Nr.  355  am  Schlüsse,  enoch  in  derselben  Nacht '  ist  die 
Note  nachzutragen:  ea  ipsa  nox.  Nemlich  um  das  volle  und  gerade  Masz 
zu  bezeichnen.  (Hiebei  wäre  zu  citieren :  Z.  §  695.)  —  Nr.  397  Z.  2.  *Und 
sah ,  wie  Jedermann'  —  ist  für f wie*  Acc.  c.  Inf.  zu  bemerken.  Die  Stelle 
lautet:  rund  sah,  wie  Jedermann  an  der  Dämpfung  des  Feuers  arbeitete.' 
Nicht  leicht  dürfte  ein  einigermaszen  eingeübter  Schüler  hier  die  erwähnte 
Construction,  abgesehen  von  der  Emendation ,  verfehlen  und  vielmehr  an 
das  verbum  sentiendi  denken. —  Die  Uebersetzungsaufgaben  werden  übri- 
gens, ihres  auserlesenen  und  interessanten  Inhalts  wegen,  gewis  ferner- 
hin im  Gebrauch  verbleiben;  zumal  sie  nicht  leicht  in  andern,  ähnlichen 
Büchern ,  in  solchem  bündigem  Zusammenhang  auf  die  syntaktischen  Re- 
geln Bezug  nehmen.  Besonders  findet  man  in  der  ersten  Abteilung  eine 
annehmliche  Mannigfaltigkeit  an  ausgewählten  mythologisch  historischen 
und  litterarischen  Aufgaben.  Doch  wären  hier  auch  einige  grammatische 
Citate  nicht  ganz  überflüssig  gewesen,  z.  B.  Nr.  10  die  Sonne,  die  Len- 
kerin,—  Beherscherin,  oder  die  Frage:  Warum  nicht  durch  das  Femi- 
ninum zu  übersetzen?  —  Nr.  12  (Tantalus)  pflegte  was  er  gehört  hatte, 
zu  verrathen.  Anm.  3  Conjunctiv.  warum?  Vgl.  Z.  §  569.  —  Nr.  18  An- 
denken an  diese  Begebenheit,  res,  objeetiver  Genitiv,  wobei  eine  der 
namhaften  Grammatiken  zu  citieren  wäre.  —  Die  zweite  Abteilung  nimmt 
in  den  Citaten  meistens  auf  Krebs  Rücksicht,  aber  auch  zugleich  auf 
Zumpt,  Schulz  und  Feldbausch.  Die  aus  der  römischen  Geschichte  ent- 
nommenen Aufgaben  sind  dem  wesentlichen  Inhalt  nach  zwar  viel  früher 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  Hft.  12.  43 


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618  Niemeyer:  Deutsche  Grammatik. 

von  Döring  aufgenommen  worden,  aber  die  Sprache  in  uuserm  Lehrbache 
ist  moderner,  gewählter,  und  die  Stellen  sind  nicht  zu  wörtlich  und  der 
Reihe  nach  aus  den  Ciassikern  entlehnt.  Auch  die  Abwechslung  der  hi- 
storischen Aufgaben  mit  moralischen,  philosophischen,  mit  Briefen  usw. 
ist  gut  zur  Vermeidung  des  einseitigen  Stoffes:  eben  so  der  Uebergang 
von  der  römischen  zur  griechischen  Geschichte  und  umgekehrt.  Die  vom 
Verfasser  zum  Teil  erweiterten  grammatischen  Erläuterungen  sind  beson- 
ders zu  beachten:  so  über  das  bereits  oben  besprochene  unbestimmte 
Pronomen  Man  S.  137.  Allerdings  ist  hier  die  lateinische  Sprache  reich- 
licher in  ihren  Ausdrücken,  als  die  deutsche.  —  Von  den  Zeilen  der  Ver- 
ben (S.  141).  Hier  ist  auch  die  Gelegenheit  gegeben,  den  Infin.  historicus 
anzuwenden.  Einige  Hinweisungen  auf  die  Syntaxis  ornata  wären  von- 
nöten  gewesen;  so  z.  B.  S.  149  bei  Grede  mihi  usw.  auf  Zumpt  usw.  jj 
101  f.  —  S.  152  Consecutio  temporum.  S.  153  heiszt  es:  Auszer  dem 
Praesens  kann  im  Briefstil  auch  das  Perfectum  stehen.  Nach  Z.  $  503 
musz  es  heiszen :  Imperfectum  und  Perfectum,  je  nachdem  die  dermalige 
Dauer,  oder  das  Ende  der  Handlung  ausgedrückt  werden  soU.  —  Dritte 
Abteilung.  Freie  Aufgaben  für  die  Vorgerückten.  Hier  wären  Hinwei- 
sungen auf  eine  der  Grammatik  sich  anschliessende  rhetorische  Schrift 
mit  Bezugnahme  auf  Synonymen,  wie  etwa  auf  die  lateinische  Stilistik 
von  Berger  nicht  unersprieszlich.  Die  Aufgaben,  enthallend  Alexanders 
des  Groszen  Leben  und  Cicero's,  sind  interessant.  Die  Anmerkungen  sind 
rein  classisch,  zumal  die  Latinität,  da  wo  Stellen  aus  späteren  Autoren 
entnommen  sind,  in  eine  classischere  umgewandelt  worden  ist,  wie  die- 
ses auch  vom  Verf.  im  zweiten  Teil  der  Aufgaben  für  obere  Classen  ge- 
schehen ist ,  bei  der  aus  späteren  Autoren  entnommenen  Beispielen.  — 
Vielleicht  könnte  das  Register,  das  nur  ein  Index  ist,  in  ein  kleines  Wör- 
terbuch umgestaltet  werden,  wie  dieses  z.  B.  in  der  'Praktischen  Anlei- 
tung zum  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Lateinische9  von  Dr.  August 
der  Fall  ist.  Jedenfalls  hat  das  Uebungsbucb  auch  durch  die  neuen  Ver- 
besserungen gewonnen. 

Mühlhausen  in  Thüringen.  Dr.  Mühlberg. 


Deutsche  Schulgrammatik.  Ein  Leitfaden  für  höhere  Schu 
len  von  Dr.  E.  Niemeyer,  Rector  der  Neust  Realschule  tn 
'  Dresden.     IL   Teil:    Deutsche   Wortbildung  und   Syntax. 
Dresden,  Verlag  von  L.  EU  ermann.   7%  Ngr. 

Mit  diesem  zweiten  Teile  der  deutschen  Grammatik  ist  das  ganze 
Werkchen,  dessen  dritter  Teil,  'die  Satzlehre',  zuerst  erschien,  glücklich 
vollendet  und  damit  ein  Ueberblick  über  das  Ganze  ermöglicht,  der  seinem 


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,    Niemeyer:  Deutsche  Grammatik.  619 

sachlichen  Gehalte  nach  in  diesem  Teile  durch  ein  vollständiges  Inhalts- 
verzeichnis über  alle  drei  Werkchen  erleichtert  wird.  Auch  der  vorlie- 
gende Teil ,  basierend  auf  durchaus  historisch  wissenschaftlicher  Auffas- 
sung des  Hochdeutschen  unserer  Tage  behält  doch  überall  nur  das  prak- 
tische Bedürfnis  der  Schule  im  Auge  und  gibt  eine  gediegene  Grundlage, 
welche  dem  Lehrer  eine  treffliche  methodisch  geordnete  Stütze  gewährt, 
ihm  in  zweifelhaften  Fällen  einen  sicheren  Anhalt  darbietet,  und  auf  wel- 
cher der  angeregte  Schüler  erfolgreich  weiter  bauen  kann.  Wie  schon 
in  einer  Recension  des  I.  und  III.  Teils  in  diesen  Blättern  bemerkt ,  ver- 
langt auch  dieser  Teil  einen  e  denkenden '  Lehrer  von  tüchtiger  Vertraut- 
heit mit  seinem  Stoffe  und  hingebender  Liebe  zu  ihm,  da  auch  hier  häu- 
fige Bemerkungen,  nur  für  den  Lehrer  bestimmt,  vorkommen,  die  zum 
Nachdenken  wie  zum  Weiterstudieren  auffordern  (ein  gutes  Lehrbuch 
für  Schüler  wird  aber  immer  bei  aller  methodisch  geforderten  Auswahl 
und  Besonderheit  dem  Lehrer,  dem  es  Ernst  mit  seiner  Sache  ist,  eine 
breitere  Grundlage  seines  Wirkens  abgeben).  —  Dieser  zweite  Teil  zer- 
fällt gleich  dem  erstem  in  zwei  Abschnitte ,  wie  der  Titel  sagt  in  *Wort- 
bildungslehre'  und  e  Syntax',  und  mit  pädagogischer  Sorgfalt  ist  überall 
das  praktische  Bedürfnis  der  Schülerwelt  höherer  Anstalten  ins  Auge  ge- 
faszt  und  ^prunkende  Gelehrsamkeit'  fern  gehalten.  In  der  Wortbildungs- 
lehre ist  'der  überreiche  Stoff  auf  eine  übersichtliche  Auswahl  Grund  legen- 
der Behandlung  zurückgeführt  und  alle  gewagte  Deutung'  ausgeschlossen ; 
im  Groszen  und  Ganzen  ist  das  'grammatische  Originalwerk  J.  Grimm's  nach 
dem  Vorgange  Kehrein's  bei  der  Wortbildungslehre  wie  bei  der  Syntax  zu 
Grunde  gelegt,  aber  natürlich  überall  mit  dem  ausgesprochenen  Grundsatze 
praktischer  Beschränkung.'  So  beschränkt  sich  z.B.  bei  den  consonantischen 
Ableitungen  in  der  äuszeren  Wortbildung  der  Hr.  Vf.  *wegen  der  Undeut- 
lichkeit  der  meisten  Bildungstriebe  auf  eine  Auswahl  derjenigen  Formeln, 
deren  Bedeutung  mehr  gefühlt  werden  kann  und  die  deshalb  die  Möglich- 
keit fortgesetzter  Wortschöpfung  an  die  Hand  geben.'  —  Die  Syntax  be- 
handelt *  den  Gebrauch  der  Wortarten  im  Satze',  und  wird  dadurch  von 
der  eigentlichen  Satzlehre,  die  den  III.  Teil  der  ganzen  Grammatik  bildet, 
gesondert;  denn  letztere  behandelt  den  Begriff  und  die  Arten  der  Sätze 
und  ihrer  Verbindung  vom  einfachen  Satze  bis  zur  Periode.  Die  Satzlehre 
zerlegt  sich  naturgemäsz  in  zwei  Hauptabschnitte,  von  denen  der  eine 
das  *Verbum  im  Satze  (Genus,  Modus  usw.)%  der  zweite  *das  Nomen  im 
Satze  (Nominalellipsen,  Genus  usw.,  Rectionslehre,  Absolute  Casus  usw.)' 
enthält.  Auch  hier  überall  Klarheit  und  Durchsichtigkeit  der  Anordnung, 
und  neben  aller  praktischen  Knappheit  des  Schulbedarfs  doch  Vollstän- 
digkeit für  den  Schulbedarf  und  in  den  mannigfaltigen  Anmerkungen 
reichlicheres  Material  und  zahlreiche  Winke  für  den  Lehrer.  Wir  heben 
auch  hier  nur  ein  Capitel  heraus,  wie  es  uns  gerade  unter  die  Hand 
kommt,  das  Capitel  von  den  Pronomen.  Neben  dem  jetzigen  Gebrauche 
des  Plurals  für  den  Singular  in  der  Anrede,  der  majestätischen  Plural- 
form, der  Titel  usw.  werden  auch  kurz  interessante  Mitteilungen  über 
die  Anredeform  früherer  Zeiten  gegeben  (§  10);  also  auch  hier /die  Ge- 
schichte der  Sprache  in  angemessener  Weise  mit  angezogen.  —  Entspre- 

4%*tizedbyG00<; 


620  Paldamus :  Deutsches  Lesebuch. 

chend  dem  Zwecke  des  Buches,  das  für  f höhere  Lehranstalten' bestimmt 
ist ,  sind  bisweilen  Mindeutungen  auf  die  lateinische  Grammatik  mit  ein- 
gemischt ;  so  heiszt  es  bei  dem  possessiven  Genitiv,  den  Grimm  mit  unter 
den  prädicativen  faszt ,  dasz  die  'lateinische  Grammatik  den  Genitiv 
des  Besitzes  von  dem  der  Beschaffenheit  unterscheidet'  (§  15).  Wer  da 
weisz,  wie  das  Studium  anderer  Sprachen  und  namentlich  der  lateinischen, 
die  klarere  Auffassung  der  Muttersprache  und  ihrer  grammatischen  For- 
men erleichtert,  wird  nicht  gegen  solche  Hindeutungen  sein.  —  Wie  ent- 
fernt der  Verfasser  von  dem  oft  unbequemen  Streben  mancher  neuerer 
Grammatiker  ist,  alte  erprobte  Regeln  oder  praktische  Handgriffe  zwar 
anzuerkennen ,  aber  doch  in  einer  neuen ,  nur  anderen  Form  wiederzu- 
geben und  damit  dem  Lehrer  in  kleinen  Dingen  oft  unnötige  Schwierig- 
keiten oder  mindestens  Unbequemlichkeit  zu  bereiten,  spricht  unter  an- 
derem auch  daraus,  dasz  er  bei  der  Präpositionenrection  die  alten  prak- 
tischen Versregeln  Heise' s  als  willkommene  Zugabe  gibt,  also  nicht,  m 
wir  dies  häufig  (besonders  bei  neuen  lateinischen  Schulgrammatikern 
finden ,  sich  neue  Verschen  zu  machen  abmüht.  —  Nach  alledem  können 
wir  wol  dem  praktischen,  nun  vollständigen  Werkchen  denselben  Wunsch 
einer  wolverdienten  Aufnahme  aussprechen ,  den  wir  schon  für  den  I.  u. 
III.  Teil  hatten;  es  ist  unsere  aufrichtige  Ueberzeugung,  dasz  es  gute 
Dienste  leisten  und  nicht  blosz  den  Unterricht  im  Deutschen  an  und  für 
sich  heben,  sondern  auch  Lust  und  Liebe  dazu  in  der  Schülerwelt  zu  er- 
wecken im  Stande  sein  wird. 

Dresden.  E.  Petwtdt. 


Dr.  F.  C.  Paldamus ,  Director  der  höheren  Bürgerschule  tu 
Frankfurt  am  Main:  Deutsches  Lesebuch.  Mittlere  Stufe. 
Zweiter  Cursus.  Mit  einer  Uebersicht  der  Satzlehre.  Mainz 
1862,  Verlag  von  C.  G.  Kunze.  XXIV  u.  302  S.  8. 

Die  früheren  Teile  dieses  Lehrbuchs,  von  denen  der  Verf.  im  Vor- 
wort spricht ,  sind  uns  nicht  bekannt  geworden.    Es  erschienen  im  letz- 
ten Decennium  so  viele  deutsche  Lesebücher,  dasz  uns  allmählich  eine 
Scheu  anwandeln  musz,  noch  mehr  Lesebücher  kennen  zu  lernen,  da  wir 
deren  wirklich  schon  manche  recht  gute  haben.    Das  vorliegende,  also 
die  mittlere  Stufe  und  deren  zweiter  Cursus ,  scheint  für  die  Tertia  der 
höheren  Lehranstalten  bestimmt  zu  sein.    Es  soll  c  dem  geschichtlichen. 
erdkundlichen,  naturgeschichtlichen  Unterricht  ergänzend  und  erweiternd 
zu  Hülfe  kommen.   Das  nationale  Element  tritt  dabei,  der  im  Ganzen  be- 
folgten historischen  Anordnung  gemäsz,  in  diesem  Teile  entschieden  in 
den  Vordergrund.*   Der  Vf.  setzt  voraus,  dasz  auf  der  betreffenden Sto/e 
eine  zusammenfassende,  strengere  Behandlung  des  grammatischen  fc* 


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I 


Paldamus:  Deutsches  Lesebuch.  621 

biets  nötig  werde,  und  dasz  für  die  Satzlehre  kaum  eine  andere  Stelle 
sich  finden  werde  als  diese  Stufe.  Deshalb  läszt  der  Verfasser  zur  Unter- 
stützung des  Unterrichts  'eine  thunlichst  kurz  und  präcis  gefaszte  Ueber- 
sicht  der  Satzlehre'  als  Einleitung  folgen,  die  *dem  Schüler  als  Anhalts- 
punkt dienen  möge.'  Dieselbe  umfaszt  etwa  14  Seiten,  und  haben  wir 
nichts  dagegen  einzuwenden,  wenn  der  Schuler  diese  'Uebersicht*  sich 
oft  und  wieder  ansieht ,  wenn  dieselbe  nur  nicht  memoriert  werden  soll ; 
dies  wäre  unseres  Erachtens  ein  Misbrauch  der  Muttersprache.  Aus  dem 
Inhalt  der  vorgelegten  Satzlehre,  die  man  im  Ganzen  als  solche  nur  billi- 
gen kann,  heben  wir  nur  eins  hervor ,  was  uns ,  obgleich  es  immer  wie- 
ler  so  gelehrt  wird,  immer  wieder  anstöszig  ist.  Wir  meinen  dies:  'der 
\ccusativ  ist  der  Casus  des  transitiven  Objects,  der  bei  der  Umwandlung 
des  activen  Satzes  in  den  passiven  zum  Nominativ  (Subject)  wird.'  Schon 
durch  den  folgenden  Satz:  f neben  dem  Passivum  ist  das  Subject  selbst 
der  von  der  Thätigkeit  ergriffene  Gegenstand '  wird  unser  Widerspruch 
gegen  die  hergebrachte  Behandlung  der  Passivsätze  begründet  oder  doch 
unterstützt.  Es  kann  nur  zur  gröszeren  Klarheit  in  den  Anschauungen 
des  Schülers  dienen,  wenn  man  sich  endlich  entschlieszt,  das  Object  Ob- 
ject  sein  zu  lassen,  mag  der  Satz  activisch  oder  passivisch  sein.  Man  sage 
dem  Schüler  nur  immer:  das  Object  steht  im  Passivsatze  im  No- 
minativ. Ohnedies  ist  es  ja  selbstverständlich,  dasz  jeder  Passivsatz, 
von  dem  der  Anfänger  etwas  sieht  oder  hört,  in  den  Activsatz,  den  ent- 
sprechenden, der  denselben  Gedanken  ausdrückt,  verwandelt  wer- 
den musz ,  sei  es  auch  nur  zur  Uehung.  Von  einem  Passivsatze  wird  er 
nicht  eher  etwas  gewahr,  als  nachdem  er  von  dem  Object  oder  demjeni- 
gen Gegenstande  des  Satzes  gehört  hat ,  der  auf  die  Frage :  wen  oder 
was?  steht.  Wenn  dies  Letztere  aber  geschehen  und  durch  Uebung  ihm 
geläufig  geworden  ist,  dann  wird  es  gut  sein  ihm  beizubringen,  dasz  das 
Object  im  Passivsatze  auf  die  Frage:  wer  oder  was?,  also  im  Nominativ 
steht.  Denn  er  weisz  ja  schon ,  dasz  das  Object  der  Gegenstand  der  Thä- 
tigkeit des  Verbums  ist,  und  dies  Verhältnis  ändert  sich  durchaus  nicht, 
mag  der  Satz  Activ-  oder  Passivsatz  sein. 

Was  die  Auswahl  der  Lesestücke  betrifft,  so  möchten  wir  wünschen, 
dasz  in  diesem  vorliegenden  Lesebuche,  wie  überhaupt  in  unseren  deut- 
schen Lesebüchern,  nicht  blosz  die  Namen  der  Schriftsteller,  sondern  auch 
die  betreffenden  Werke ,  aus  denen  die  Stücke  entnommen  sind ,  hinzuge- 
fügt wären.  Das  ist  einer  der  Vorzüge  neben  anderen ,  den  das  deutsche 
Lesebuch  von  Th.  Colshorn  und  K.  Gödeke  hat,  dasz  es  seine  Quellen 
?enau  angibt.  Nicht  nur  für  den  Lehrer  allein  ist  dies  wünschenswerth. 
Votwendig  aber  wird  es  geradezu,  wenn  die  Herausgeber  von  Lesebüchern 
rieh  nicht  beschränken ,  sondern  auch  aus  solchen  Schriftstellern  Stücke 
entnehmen,  die  nicht  allgemein  bekannt  sind.  Wir  wollen  nur  einige 
Beispiele  aus  dem  vorliegenden  Gursus  anführen:  'Scipio's  und  HannibaPs 
Ausgang'  von  L.  Stacke.  'Die  Schlacht  bei  Cannae'  von  demselben.  'Auf 
ien  Gipfeln  der  Berge'  von  K.  Fresenius.  cDie  Ebbe  und  die  Flut'  von 
?•  E.  Heger.  'Die  Baumwolle*  von  A.  Berlhelt.  'Von  den  schädlichen 
Heuschrecken '  von  E.  L.  Taschenberg  usw.    Der  Vf.  scheint  eine  beson- 


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622  Frickc:  Dekiamatorik. 

dere  Vorliebe  für  Onno  Klopp  zu  haben,  der  nicht  überall  in  deutschen 
Landen  sonderlich  populär  ist.  Unter  den  etwa  60  Prosastücken  sind 
sieben  allein  von  diesem  eigentümlichen  Historiker.  Doch  das  ist  Ge- 
schmacksache. Uns  sagt  die  Auswahl  der  poetischen  Stücke  in  dem  Buche 
mehr  zu,  als  die  der  prosaischen.  J.  von  Müller  fehlt  ganz;  doch  erklärt 
sich  dies  vielleicht  dadurch,  dasz  das  Buch  die  deutsche  Geschichte  nur 
bis  zu  Rudolf  vou  Habsburg  im  Auge  hat.  ' Die  Baumwolle'  von  A.  6er- 
thelt  hätte  der  Vf.,  wenn  dieser  Gursus  jetzt  erscheinen  sollte,  wol  lieber 
weggelassen.  Denn  wir  haben  keinen  sonderlichen  Grund  mehr,  die 
Engländer  zu  preisen ,  wenn  es  sich  darum  handelt,  f das  Erstarken  natio- 
nalen und  patriotischen  Sinnes  bei  der  deutschen  Jugend  zu  fördern'! 

Lennep.  Th.  Hansen. 


54. 

Dr.  Wilhelm  Fricke:  Declamatorik.  Praktischer  Teil  oder: 
Sammlung  deutscher,  französischer  und  englischer  Deck- 
mationsstücke.  Zur  Unterstützung  des  Geschichtsunterrklis 
historisch  geordnet.  Erste  Abteilung:  Deutsche  Declama- 
tionsstücke.  Zweite  Abteilung:  Französische  und  englische 
Declamationsstücke.  Mainz  1862,  Verlag  von  C.  6.  Kunze. 
XXIV  u.  264  S.,  VIu.  HOS.  8. 

In  der  Vorrede  weist  der  Verf.  auf  den  theoretischen  Teil  seiier 
Declamatorik  zurück,  der  uns  nicht  bekannt  ist,  auf  den  hier  also  nicht 
zurückgegangen  werden  kann.  Uebrigens  wiederholt  der  Verf.,  wie  er 
sagt ,  die  bez.  Stellen  in  diesem  seinem  Vorwort  zum  praktischen  Teil. 
Der  Zweck  ist,  den  Geschichtsunterricht  zu  unterstützen,  damit  dieser 
mehr  Haltung  und  Leben  gewinne.  In  so  weit  hat  also  dieses  Werk  den- 
selben Zweck,  wie  F.  K.  KeiTs  'Deutsches  Vaterlandsbuch%  K.  Wag- 
n  e  r's  *  Poetische  Geschichte  der  Deutschen '  u.  a.  m.  Es  unterscheidet 
sich  von  diesen  Werken  dadurch,  dasz  es  den  ausgesprochenen  Haupt- 
zweck durch  den  Titel  mitbringt,  zur  richtigen  Declamation  anzulei- 
ten. Deshalb  schickt  der  Verf.  einen  eigenen  kurzen  Aufsatz  *über  die 
Vorbereitung  zur  Declamation9  voraus.  Da  man  in  Schulen  'niemals  Ge- 
dichte oder  Reden  vortragen  lassen  sollte,  bevor  sie  nicht  nach  alles 
Richtungen  hin  besprochen  sind,1  so  gibt  der  Vf.  ein  Schema  für  die 
Erklärung ,  das  so  sorgfältig  ausgeführt  ist  in  Abteilungen  und  Unterab- 
teilungen usw.,  dasz  wir  es  hier  ganz  mitteilen  müsten.  Es  zerfällt  zu- 
nächst in  die  litterarische  und  die  deklamatorische  Erklärung.  Erläutert 
wird  es  sofort  durch  ein  Beispiel,  wozu  der  Vf.  'Kassandra'  von  Schiller 
wählt.  Die  ganze  'Erklärung',  wie  sie  sich  an  diesem  Beispiele  uns  ver- 
körpert, wird  nur  für  die  oberste  Glasse  einer  höheren  Schule  zum  Teil 


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Fricke:  Deklamatorik.  623 

begreiflich  und  verständlich  sein,  in  einer  höheren  Töchterschule  ist  sie 
schwerlich  brauchbar,  da  sie  gar  zu  logisch  gespalten  und  dadurch  für 
die  weibliche  Jugend  ungenieszbar  ist.  In  der  haarspaltenden  Schärfe, 
mit  welcher  die  Richtung  und  Haltung  der  Hand,  ja  des  Daumens,  bei- 
spielsweise für  die  einzelnen  Verse  der  ersten  Strophe  von  fKassandra' 
bestimmt  wird,  vermag  höchstens  ein  Schauspieler  dem  Verf.  zu  folgen. 
Unsere  Kinder  werden  wir  mit  derartigen  Kleinmeistereien  wie  bisher 
verschonen ;  wir  brauchen  für  wichtigere  Dinge  die  Zeit,  Besonders  wenn 
wir  den  edlen  Zweck  verfolgen ,  den  Geschichtsunterricht  zu  schmücken 
und  zu  beleben.   Die  unsägliche  Sorgfalt  des  Vf.s  ist  anzuerkennen. 

Die  Sammlung  der  Gedichte  selbst  ist  nach  Jahrhunderten  und  Völ- 
kern geordnet.  Der  Vf.  hat  auch  die  Geschichte  der  orientalischen  Völker 
durch  Gedichte  illustrieren  wollen.  Wenn  aber,  wie  er  selbst  zugibt, 
*das  Feld  der  Geschichte  bekanntlich  zu  grosz  geworden  ist,  um  den 
Schüler  in  zwei  wöchentlichen  Stunden  auf  demselben  heimisch  zu  ma- 
chen9, wenn  die  Gestalten  der  Geschichte  c  meist  überschnell  vor  seinen 
Blicken  vorüberziehen  und  ebenso  wenig  Haltung  und  Leben  gewinnen, 
wie  eine  von  dem  Dampfwagen  aus  gesehene  Landschaft',  nun  dann  wird 
man  auch  mehr  und  mehr  dahin  kommen,  die  ganze  orientalische  Ge- 
schichte —  wenn  doch  Israel  im  Religionsunterricht  bedacht  werden 
musz  —  mit  möglichster  Kürze  abzumachen;  sie  aber  durch  Gedichte  zu 
schmücken,  kann  uns  vollends  schwerlich  einfallen.  Ob  Mycerin  des 
Gheops  Sohn  gewesen  und  wann  er  gelebt  usw.,  ist  wirklich  selbst  für 
den  Primaner  höchst  gleichgültig,  und  H.  Lingg's  Gedicht  über  denselben 
kann  er  entbehren. 

Nach  dem  Grundsatz :  cFür  die  Jugend  ist  das  Beste  eben  gut  genug5 
wird  man  in  allen  derartigen  Sammlungen  sehr  wählerisch  verfahren 
müssen.  Von  den  anerkannt  classischen  Gedichten  unserer  Nation  wird 
man  so  viele  heranziehen  wie  zur  Sache  gehören,  von  anderen  so  wenige 
wie  möglich  hineinmischen.  Für  die  griechische  Sage  und  Geschichte 
können  wir  Tiedge's  c  Herakles '  und  Dreves'  c  Alexanders  letzter  Wille 9 
entbehren.  Das  mehr  als  8  Seiten  lange  Gedicht  *Die  Zerstörung  von  Her- 
kulanum  und  Pompeji  *  vom  Verf.  selbst ,  das  wie  ein  Bruchstück  oder 
Stück  aus  einem  Drama  erscheint,  wollen  wir  nicht  verwerfen;  es  ist 
überhaupt  ein  eigen  Ding,  mit  Verfassern  derartiger  Sammelwerke  zu 
rechten,  wenn  sie  ihre  eigenen  poetischen  oder  prosaischen  Producte 
vorführen.  Der  in  der  Prosa  sehr  gewandte  H.  Masius  hat  in  dieser  Be- 
ziehung eine  gerade  entgegengesetzte  zu  grosze  Scheu  in  seinem  Lese- 
buche bewiesen.  Von  den  sieben  Gedichten  des  Verf.s  sind  zwei  für  den 
vorliegenden  Zweck  recht  passend ,  '  die  Parade  von  Rossbach '  und  f  Kai- 
ser Joseph  und  der  Postverwalter'.  Im  vorliegenden  Buche  finden  sich 
auch  einige  Gedichte  ohne  Angabe  der  Dichter ,  was  wir  für  Schulen  um 
so  eher  an  dieser  Stelle  misbilligen  dürfen,  da  der  Vf.  ausdrücklich  for- 
dert, dasz  der  Lehrer  'am  Schlüsse  jedes  Vortrags  consequentnach 
Namen  und  Geburtsjahr  des  Verfassers  frage!'  Wir  sind  weit 
entfernt,  dieser  Forderung  beizustimmen,  wenn  man  sich  nicht  auf  ganz 
classische  Gedichte  beschränkt.   Denn  was  in  aller  Welt  soll  es  dem  Schü- 


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624  Fricke:  Deklainatorik. 

ler  nützen,  allerlei  Namen  nebst  Geburtsjahren  sich  einzuprägen,  wie  sie 
unser  Buch  uns  vorführt,  z.  B.  Rese,  Hutterus,  Dreves,  v.  Lepel,  Da- 
maschka,  Parucker,  Haltaus,  Eberwein,  Aulenbach,  Schramm,  Wiehert, 
Rappard,  Fischer,  Nooris,  Oebeke,  Wilhelmi,  Sternberg,  Henriette  Otten- 
heimer  — ? 

Wenn  wir  diejenigen  Nummern  bezeichnen  sollen,  welche  wir  weg- 
gelassen wünschten,  so  wären  es  z.  B.  folgende,  auszer  den  die  orienta- 
lische Geschichte  angehenden :  ^Herakles'  von  Tiedge,  f  Alexanders  letzter 
Wille '  von  Dreves ,  f  Gelimer  *  von  ?,  f  die  Kreuzzüge '  von  Wilhelmi  % 
'0  Richard  usw.*  von  Gretry,  'Manfred's  Tod'  von?',  c Friedrich  der 
Gebissene'  von  Schramm,  cTimur'  von  Lingg,  eAlhambra'  von  Lingg, 
^Luther's  Vorgang'  von  Schramm,  'Karl  der  Fünfte*  von  Aulenbach,  *Max 
und  Dürer'  von  Fischer,  *  Friedrich  d.  Gr.  bei  Rosabach'  von  Sternberg, 
c General  York'  von  Wiehert,  'Napoleon  im  Kifihäuser'  von  Reinecke, 
f  Abdul  Meschid's  Reformen '  von  Fricke  u.  a.  m.  Einige  von  diesen  sind 
nicht  wahre  Gedichte ,  weil  entweder  der  Stoff  nicht  würdig  genug  oder 
die  Form  nicht  einfach  und  klar  und  edel  genug,  oder  die  Verschmelzung 
von  Stoff  und  Form  nicht  ausreichend  ist;  andere  sind  zu  kurz  für  die 
Declamation  in  einer  Oberclasse ,  für  die  sonst  das  Buch  allein  passt ;  an- 
dere sind  zu  phrasenhaft  und  langweilig ,  noch  andere  illustrieren  eine 
Partie  der  Geschichte ,  die  auszerhalb  der  Schule  liegt  usw.  Dies  hier  im 
einzelnen  nachzuweisen  ist  unthunlich ;  wir  wären  dazu  bereit ,  wenn  es 
sein  müste.  Der  Vf.  hat  'Ziethen'  von  Fontane  aufgenommen,  wer  v.  Sal- 
let's  gleichnamiges  Gedicht  kennt,  besinnt  sich  nicht  lange,  welches  er 
wähle,  wenn  wir  auch  das  Gedicht  des  hie  und  da  bevorzugten  Fontane 
nicht  tadeln  wollen.  Der  Vf.  hat  'die  Leiche  zu  St.  Just'  von  Anast.  Grün. 
So  sehr  wir  diesen  in  seiner  Art  anerkennen,  musz  doch  Platen  mit  sei- 
nem verwandten  Gedicht  den  Vorzug  in  unserer  Nation  behalten,  also 
auch  in  unserer  Schule. 

Auf  die  zweite  Abteilung,  die  Sammlung  französischer  und  engli- 
scher Declamationsstücke,  näher  einzugehen ,  überlassen  wir  lieber  Fach- 
lehrern der  betr.  Sprachen.  Wir  möchten  nur  wünschen,  dasz  z.  B.  zu 
den  aus  dem  Deutschen  in  das  Englische  übersetzten  Gedichten,  wie  eTail- 
lefer*  u.  a.,  hinzugefügt  wäre,  von  wem  die  Uebersetzung,  ob  z.  B.  von 
Longfellow;  denn  dieser  versteht  es  vorzüglich;  hat  er  doch  in  seiner 
Uebersetzung  des  dänischen  Nationalliedes  rKong  Christian  stod  ved  höien 
Mast'  das  Original  unbedingt  übertroffen! 

Schlieszlich  erlauben  wir  uns ,  auf  unsere  Anzeigen  von  Dr.  Roderich 
Benedk:  fder  mündliche  Vortrag*  und  von  Th.  Colshorn :  'der  Declamator' 
in  der  Zeitschr.  f.  Gymn. Wesen  Jahrgang  1861  S.  254  ff.  u.  1862  S.  184  ff. 
zu  verweisen,  um  uns  nicht  zu  wiederholen.  Unsere  Ansichten  über  Vor- 
trag und  Declamation  usw.  sind  noch  heute  im  wesentlichen  dieselben. 

Lenncp.  TA.  Hansen. 


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J.  Leunis:  Synopsis  der  drei  Naturreiche.  625 

55. 

loh.  Leunis:  Synopsis  der  drei  Naturreiche.  Ein  Handbuch 
für  höhere  Lehranstalten  und  für  Alle,  welche  sich  mit  Na- 
turgeschichte beschäftigen  und  sich  zugleich  auf  die  zweck- 
mäszigste  Weise  das  Selbstbestimmen  der  Naturkörper  er- 
leichtern  wollen.  Mit  vorzüglicher  Berücksichtigung  aller 
nützlichen  und  schädlichen  Naturkörper,  besonders  Deutsch- 
lands, sowie  der  wichtigsten  vorweltlichen  Pflanzen  und 
Thiere.  Zweite,  gänzlich  umgearbeitete,  mit  mehreren  tau- 
send Holzschnitten  und  mit  der  etymologischen  Erklärung 
sämtlicher  Namen  versehene  Auflage.  Zweiter  Teil.  Bo- 
tanik. Erste  Hälfte.  Bogen! — 25.  Mit  557  Holzschnitten. 
Hannover  1864.   Hahnsche  Hofbuchhandlung.    (2  Thlr.) 

Die  neue  Auflage  eines  tüchtigen  botanischen  Handbuches ,  welches 
seit  seinem  ersten  Erscheinen  im  Jahre  1847  Vielen  und  darunter'  gewis 
auch  manchem  Lehrer  dankenswerthe  Dienste  geleistet  hat,  darf  in  päda- 
gogischen Kreisen  einer  freundlichen  Aufnahme  gewis  sein.  Für  den 
Besitzer  der  1860  erschienenen  2.  Auflage  der  zoologischen  Synopsis  des- 
selben Vf.  bedarf  es  zur  Kennzeichnung  des  vorliegenden  Werkes  nur 
der  Angabe,  dasz  es  gleich  jener  mit  zahlreichen,  instructiven  Holz- 
schnitten versehen  und  derart  bereichert  und  vervollständigt  ist ,  dasz  es 
seinen  Vorgänger  ebenso  an  Umfang  überbieten  wird,  wie  die  1014  Seiten 
starke  2.  Auflage  der  Zoologie  die  nur  476  Seiten  zählende  erste  über- 
trifft. Während  nemlich  die  1.  Auflage  der  Botanik  mit  Ausschlusz  des 
Registers  530  Seiten  umfaszt ,  ist  diese  erste  Abteilung  der  neuen  Aus- 
gabe (welche  blosz  die  dort  140  Seiten  füllende  Einleitung  und  Naturge- 
schichte der  ersten  Pflanzenordnung  enthält),  schon  400  Seiten  stark,  die 
ganze  Synopsis  wird  also  ihre  Vorgängerin  wenigstens  um  das  Doppelte 
überbieten.  Und  dabei  ist  durch  Knappheit  der  Darstellung,  sowie  durch 
typographische  Maszregeln  für  Raumersparnis  thunlichst  gesorgt. 

Um  aber  auch  Lesern,  welche  von  diesem  Werke  noch  keine  Kennt- 
nis gewonnen,  den  Werth  desselben  schätzen  zu  lassen,  werden  folgende 
Andeutungen  genügen.  Das  Buch  entspricht  vollkommen  der  etwas  brei- 
ten Ankündigung  des  Titels,  es  gibt  eine  erstaunliche  Fülle  von  Material 
in  gedrängter,  übersichtlicher  Form.  Der  Vf.  hat  durch  diese  Arbeit  eine 
neue  Probe  seines  bewundernswerthen  Fleiszes  und  seiner  Geschicklich- 
keit gegeben.  Seine  umfassende  Belesenheit,  seine  schone  Gabe,  durch 
zweckmäszige  Anordnung  ein  massenhaftes  Material  leicht  überschaubar 
zu  machen  und  das  Thatsächliche  klar  und  knapp  zu  berichten,  sowie 
seine  besondere  Kunst,  durch  Tabellen,  dichotomische  Diagnosen  und 
typographische  Hülfsmittel  das  Zurechtfinden  zu  erleichtern  —  verdienen 
volle  Anerkennung,  und  man  sagt  nicht  zu  viel,  wenn  man  diese  Synopsis 
ein  auf  diesem  Felde  der  Litteratur  hervorragendes  Werk  nennt.  Als 
besondere  Vorzüge  sind  hervorzuheben  die  etymologischen  Erklärungen 


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626  J.  Leunis:  Synopsis  der  drei  Naturreiche. 

aller  Kunslausdrücke  und  Pflanzennamen  and  die  stete  Rücksicht  auf  die 
Technologie  und  auf  die  Wechselbeziehungen  des  Pflanzen-  undThier- 
reiches.  Es  sind  in  der  That  für  alle  irgend  bedeutenden  deutschen  Pflan- 
zen die  Thiere  tabellarisch  aufgeführt,  welche  als  Kostgänger,  Förderer 
oder  Feinde  derselben  von  Wichtigkeit  werden  können.  Die  zahlreichen 
Illustrationen,  welche  nur  da  auftreten,  wo  es  der  Veranschaulichung 
wirklich  bedarf,  sind  —  mit  wenigen  Ausnahmen,  z.  B.  die  Abbildung 
der  Ficaria  S.  323  —  nach  guten  Zeichnungen  gemacht  und  schlicht, 
aber  treu  und  verständlich  ausgeführt.  Der  Druck  ist  —  was  bei  den 
vielen  Fremdwörtern  und  Zahlen  und  den  verschiedenen  Schriftformen 
grosze  Sorgfalt  erfordert  haben  mag  —  so  correct,  dasz  dem  Referenten 
nur  wenige  Druckfehler  aufgestoszen  sind  (z.  B.  S.  139  fehlt  Darwin's 
Name  bei  dem  von  Bronn  übersetzten  Werke;  S.  268  Necklase  statt 
Necklace). 

Unter  den  einzelnen  Abschnitten  des  allgemeinen  Teiles,  der  von 
S.  1 — 268  reicht,  zeichnen  sich  durch  Stoffreichtum  und  Uebersichtlich- 
keit  besonders  aus;  die  Phytochemie  (von  S.  148—163),  die  Lehre  von 
den  Misbildungen  und  Krankheiten  von  S.  163 — 177,  die  Pflanzengeogra- 
phie (von  S.  177 — 212)  und  die  Lehre  von  der  Nutzanwendung  der  Ge- 
wächse (von  S.  234 — 268),  welche  auch  die  modischen  Umversalhumbug- 
mittel  vorführt.  Gröszere  Ausführlichkeit  wäre  dagegen  für  die  mikros- 
kopische Anatomie  wünschenswert));  nirgends  ist  das  Verfahren  beschrie- 
ben, nach  dem  die  Forscher  den  feinen  Bau  und  die  Entwicklungsge- 
schichte zu  ergründen  suchen,  so  dasz  der  Laie  kein  anschauliches 
Verständnis  über  den  Zusammenbau  der  Elementarorgane  und  namentlich 
über  die  Entwickelung  der  zusammengesetzteren  Formen  aus  der  Urform 
gewinnt;  bei  der  Darstellung  der  Bestandteile  des  Holzkörpers  hätten 
wol  die  besonders  durch  Hartig  und  Sanio  neuerdings  unterschiedene» 
Modifikationen  der  Elementarorgane  Anführung  verdient.  Lieber  hätte 
man  die  von  S.  212 — 214  reichende  Darstellung  der  Geogonie  vermiszt, 
welche  die  für  die  Vegetationsgeschichte  bedeutsame  Eiszeit  nicht  er- 
•  wähnt  und  doch  erst  im  dritten  Bande  ausführlicher  gegeben  werden 
kann.  —  Die  specielle  Botanik  gibt  von  S.  269—364  einen  trefflichen 
analytischen  Schlüssel  über  die  deutschen  Pnanerogamengattungen  nach 
dem  Linneschen  System,  welcher  durch  eingestreute  Abbildungen  die 
Diagnose  der  schwierigsten  Familien,  namentlich  der  Gräser,  Doldenpflan- 
zen, Kreuz-  und  Vereinsblumen  wesentlich  erleichtert.  Von  S.  365— 
400  wird  die  besondere  Naturgeschichte  der  Ordnung  der  Hülsenpflanzen 
abgehandelt.  Die  wichtigsten  Gattungen  und  Arten  derselben  und  auch 
die  ausländischen,  werden  kurz  charakterisiert  und  über  die  Benutzung 
und  Geschichte  viele  interessante  Notizen  beigebracht. 

Schlieszlich  erlaubt  sich  der  Ref.  dem  Vf.,  der  sich  durch  diese 
mühevolle  Arbeit  aufs  Neue  um  die  Verbreitung  der  Scientia  amabilis 
verdient  gemacht  hat,  einige  Stellen  anzudeuten,  welche  bei  einer  neuen 
Auflage,  die  bei  einem  so  brauchbaren  Werke  nicht  lange  ausbleiben 
wird,  einer  Vervollständigung  oder  Berichtigung  zu  bedürfen  scheinen. 
S.  1.  Der  Unterschied  der  Pflanzen  von  den  Thieren,  dasz  letztere  bei 


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F.  Schubert:  Lehrbuch  der  Mineralogie  für  Schulen.  627 

ihrer  Geburt  schon  ihrer  ganzen  Anlage  nach  vorhanden  seien,  scheint 
auf  die  sprossenbildenden  Thiere,  z.  B.  Bandwürmer  nicht  zu  passen.  — 
S.  47  wären  einige  Erläuterungen  über  die  häufigen  Drehungen  der 
Baumstämme  wünschenswerth.  —  S.  136.  Neben  Goethe  hätte  C.  F.  Wolf 
als  Begründer  der  Lehre  von  der  Metamorphose  Erwähnung  verdient.  — 
S*  137  Z.  4  v.  u.  sollte  es  statt  Genusz  *Anbau'  heiszen.  —  S.  142. 
tUnsere  ersten  Frühlingsblumen  sind  weisz  und  gelb.'  Hepatica  und  Ve- 
ronica!  —  S.  151  wäre  zu  bemerken,  dasz  Thonerde  als  regelmäszige. 
Aschenbestandteil  in  Lycopodium  complanatum  gefunden  wird.  —  S.  155 
' Kork  bestehe  aus  Gellulose.'  Dies  gilt  nur  von  den  jungen  Kork- 
zellen, die  alten  sind  chemisch  wesentlich  verschieden.  —  S.  169.  Dasz 
die  Ueberwallung  zuweilen  stattfinde,  wo  weder  die  Wurzeln  verwachsen 
sind  noch  der  Stumpf  Blätter  trägt,  zeigen  untrügliche  Beobachtungen. 
—  S.  169.  *PiIze  sind  nicht  Ursache  der  Kartoffelkrankheit. '  Sollte  hier 
nicht  die  durch  de  Bary  bestätigte  Entdeckung  Speerschneider's  angeführt 
werden ,  dasz  die  Knolle  durch  Einimpfung  der  Sporen  des  Blattpilzes  in 
wenigen  Tagen  erkrankt?  Der  beweisende  Versuch,  der  äuszerst  leicht 
anzustellen  ist,  wurde  von  Ref.  wiederholt  mit  Erfolg  gemacht.  —  S.  177. 
Amelanchier  wächst  nicht  blosz  auf  Kalk,  sondern  auch  auf  Thonschiefer, 
z.  B.  im  Schwarzathale  Thüringens.  —  S.  212.  fDie  Kugel  ist  die  Form, 
wo  alle  Teile  in  gröstmöglicher  Nähe  sein  können.'  (?)  —  S.  367.  Die 
Thatsache,  dasz  bei  vielen  neuholländischen  Akazien  die  Blätter  senkrecht 
stehen,  hätte  wol  eine  Stelle  verdient.  —  S.  369.  Bei  Algarobia  glandu- 
losa  scheint  der  Anführung  werth ,  dasz  ihre  Hülsen  in  Texas  als  Vieh- 
futter dienen ;  dagegen  fiele  besser  aus  die  für  Lehranstalten  bedenkliche 
Notiz  über  die  Kraft,  welche  die  Wilden  der  Acacia  virginalis  zuschreiben. 
Ref.  schlieszt  seine  Anzeige*  mit  dem  Wunsche,  dasz  die  zweite 
Hälfte  dieses  trefflichen  Werkes,  die  nach  Angabe  der  Verlagsbuchhand- 
lung unter  der  Presse  ist,  bald  erscheinen  möge. 

Sigismund. 


56 

Dr.  F.  Schubert:  Lehrbuch  der  Mineralogie  für  Schulen,  mit 
kurzem  Ueberblick  der  Petrographie  und  Geognosie  und  mi- 
neralogischem Wörterbuch.  Mit  20  Holzschnitten.  Erlangen 
1863.  Verlag  von  F.  Enke.    109  S.   8. 

Nach  achtzehnjähriger  Lehrpraxis  entschlosz  sich  der  Vf.  (wie  die 
Vorrede  angibt)  zur  Bearbeitung  eines  Leitfadens ,  der  das  enthalten  soll, 
was  dem  Schüler  bei  der  beschränkten  Zahl  von  Stunden,  welche  auf 
Mineralogie  verwendet  werden  kann,  mitzuteilen  sei.  Die  zeitliche  Um- 
grenzung des  Cursus  ist  leider  nicht  angegeben,  so  dasz  dahin  gestellt 
bleiben  musz,  ob  die  Stoffauswahl  ganz  zu  rechtfertigen  sei,  ob  nicht  die 


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628  F.  Schubert:  Lehrbuch  der  Mineralogie  für  Schulen. 

Pelrographie  und  Geognosie,  welche  für  den  jungen  Dilettanten  fast 
wichtiger  ist  als  die  Kenntnis  seltener  fremder  Mineralien,  mit  vier 
Seiten  zu  kurz  komme.  Vorausgesetzt  wird  die  Kenntnis  der  Chemie, 
namentlich  Uebung  im  Gebrauche  des  Löthrohrs.  Da  der  Anhang  eines 
mineralogischen  Wörterbuches ,  das  die  Namen  und  chemischen  Formeln 
aller  bekannteren  Fossilien  enthält,  40  Seiten  (von  S.  69 — 109),  also  fast 
die  Hälfte  des  Raumes  einnimmt,  so  war  knappe  Fassung  nötig,  um  die 
Minerale  kennen  zu  lehren,  c welche  bis  jetzt  ein  technisches  oder  land- 
wirtschaftliches Interesse  gewonnen  haben9,  zumal  auszer  diesen  einige, 
nicht  in  diese  Ciasse  gehörige  (z.  B.  Leucit,  Tremolith)  angegeben  wer- 
den werden.  Die  von  S.  1 — 10  reichende  Einleitung,  welche  17  krystal- 
lographische  Abbildungen  enthält,  gibt  die  Erklärung  der  wichtigsten 
physikalischen  Kennzeichen.  Manche  dieser  Definitionen  bedürfen  der 
weiteren  Erklärung  des  Lehrers,  einige  scheinen  an  Unbestimmtheit  oder 
Unklarheit  zu  leiden.  So  wird  auf  S.  1  gesagt:  bei  den  Krystallen  stimme 
der  innere  Bau  mit  der  äuszeren  Begrenzung  überein,  was  bekanntlich  nur 
in  Bezug  auf  die  Kernform  gibt.  —  S.  7.  *  Angeflogen  heiszen  so  dünne 
Ueberzüge  eines  Minerals  auf  einem  anderen ,  dasz  man  häufig  (!)  keine 
Dicke  mehr  unterscheiden  kann.'  Ganz  unerwähnt  sind  die  Gesetze  der 
Hemiedrie.  —  Die  specielle  Oryktognosie  (S.  11—62)  gibt  die  fallernot- 
wendigsten '  Kennzeichen  der  oben  erwähnten  Auswahl  von  Mineralien 
nebst  Andeutung  der  wichtigsten  Fundorte  und  der  Benutzung.  Eine 
Eigentümlichkeit  und  ein  Hauptverdienst  dieses  'Lehrbuches*  liegt  in  den 
diagnostischen  Andeutungen.  Bei  jedem  Minerale  sind  nemlich  die  damit 
zu  verwechselnden  genannt.  Wird  nun  der  Schüler  stets  angehalten,  die 
unterscheidenden  Merkmale  dieser  dem  oberflächlichen  Beschauer  ähnlich 
erscheinenden  Naturkörper  aufzusuchen,  so  gewinnt  er  nicht  nur  eine 
sichere  Kenntnis  der  Mineralien,  er  übt  auch  seinen  Scharfsinn  für  andere 
Naturstudien  in  der  förderlichsten  Art.  Solche  kurze  Verweisungen  auf 
die  zu  vergleichenden  Mineralien  sollten  in  der  That  in  keinem  Elementar- 
buche der  Mineralogie  fehlen.  Die  Systematik  folgt  dem  chemischen  Ein- 
teilungsgrunde. Etymologische  Erklärungen  sind  nur  für  einzelne  Namen 
gegeben  und  zwar  fehlen  sie  für  manche  schwerverständliche  (z.  B.  für 
Apalit),  während  sie  für  manche  vorhanden  sind,  bei  denen  es  kaum  not- 
thut  (z.  B.  Cölestin).  —  Die  Pelrographie  und  Geognosie  gibt  die  wich- 
tigsten Kennzeichen  der  Verbindung  der  Gemengteile  und  der  Lagerung 
der  Gebirgsarten  und  auf  S.  65 — 67  eine  tabellarische  Uebersicht  des 
petrographischen  Systems.  Der  Ueberblick  des  orographischen  Systems 
(S.  67 — 68)  enthält  blosz  die  Namen  der  Formationen.  —  Das  Buch  ist 
hübsch  ausgestattet,  der  Druck  übersichtlich  eingerichtet.  Druckfehler 
finden  sich  einzelne  in  den  Namen  der  Mineralien;  durch  einen  solchen  ist 
wol  auch  der  Satz  auf  S.  3  entstellt  ('Krystallsystem  ist  der  Inbegriff 
aller  Formen,  denen  dieselben  Axenverhältnisse  zu  Grunde  liegen  und 
sich  nach  dem  Gesetze  der  Symmetrie  mit  einander  combinieren  lassen9). 

Sigismund. 


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H.  Wagner:  Entdeckungsreisen.  629 

H.  Wagner:  1)  Entdeckungsreisen  in  Feld  und  Flur.  Mit  JOO 
in  den  Text  gedruckten  Abbildungen ,  sowie  mehreren  Bunt- 
und  Tonbildern.  2)  Entdeckungsreisen  in  Wald  und  auf  der 
Haide.  Mit  130  Abbildungen,  zwei  Buntdruck-,  drei  Ton- 
bildern und  einer  Extrabeilage  von  getrockneten  Moosen. 
Leipzig,  Verlag  von  Otto  Spamer. 

Der  Vf.,  der  sein  schönes  Talent,  die  Kinder  unterhaltend  zu  be- 
lehren, schon  in  zwei  ähnlichen  illustrierten  Schriften  bewährt  hat,  in 
denen  er  die  Wohnstube  und  Haus  und  Hof  im  Bezug  auf  die  darin  ent- 
haltenen Naturdinge  und  technologischen  Merkwürdigkeiten  bespricht, 
schildert  hier  kleine  Ausflüge,  die  er  mit  Kindern  ins  Freie  anstellt,  und 
knüpft  an  diese  in  gefalliger  Weise  naturgeschichtliche  Belehrungen  über 
die  dabei  beobachteten  Vorkommnisse  und  verwandte  Erscheinungen 
fremder  Landschaften  an.  Mehrere  der  darin  enthaltenen  Naturbildchen 
in  Worten  sind  Muster  liebevoller  Kleinmalerei ;  manche  der  in  reicher 
Fülle  beigegenen  Illustrationen ,  namentlich  einzelne  der  gröszeren  Vig- 
netten sind  von  wahrem  künstlerischen  Werthe.  Der  Ton  des  Erzählers 
ist  ansprechend  kindlich ,  ohne  ins  Kindische  zu  verfallen ,  so  dasz  auch 
zehn-  bis  zwölfjährige  Zöglinge  höherer  Schulen ,  die  das  Glück  haben, 
naturgeschichtlichen  Unterricht  zu  genieszen  und  mit  ihrem  Lehrer  ähn- 
liche Entdeckungsreisen  in  der  Wirklichkeit  zu  machen,  diese  Schriften 
gern  und  mit  Nutzen  lesen.  Die  erzählten  Thatsachen  beweisen,  dasz  der 
Vf.  die  heimatlichen  Naturerscheinungen  durch  eigne  Beobachtung  näher 
kennt  und  durch  den  Umgang  mit  Kindern  weisz,  was  diese  besonders 
anzieht.  Der  Berücksichtigung  bei  folgenden  Auflagen  dürfte  Folgendes 
zu  empfehlen  sein.  Auf  S.  133  II  sollte  neben  dem  Grünspecht  auch  der 
oft  mit  diesem  verwechselte  Grauspecht  erwähnt  sein.  —  S.  138  wird 
die  Spechtmeise  ziemlich  *eine  Hand  lang'  genannt;  besser  wäre  wol, 
um  die  Jugend  früh  an  genaue  Maszbestimmung  zu  gewöhnen ,  die  An- 
gabe der  Länge  in  Zollen.  —  S.  147  wird  erzählt ,  dasz  calle  gelehrten 
Leute  die  Blindschleichen  zu  den  Eidechsen  zählen',  ohne  für  diese  das 
Kind  befremdende  Meinung  einen  Grund  anzuführen.  —  Ist  das  Trom- 
meln des  Spechtes,  das  man  doch  während  der  ganzen  Brütezeit  hört, 
wirklich  das  Hochzeitslied,  womit  das  Weibchen  angelockt  wird?  — 
S.  134  wird  erzählt,  dasz  eine  kleine  Kaulquappe  eine  winzige  Schnecke 
verschluckt  habe ;  verhält  sich  wirklich  die  Larve  des  Frosches  in  dieser 
Hinsicht  wie  die  der  Tritonen?  —  Die  versprochene  Fortsetzung  dieser 
Entdeckungsreisen  werden  Kinder  und  Kinderfreunde  freudig  begrüszen. 

Sigismund. 


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630  ^  Ackermann:  The  Christian  element  in  Plato  etc. 


The  Christian  element  in  Plato  and  ihe  Piatonic  phüosopky,  m- 
folded  an  set  forth  by  C.  Ackermann.  Translated  from 
the  German  by  S.  Ralph  Asbury,  B.  A.  With  an  introductory 
note  by  W.  G.  T.  Schedd,  D.   Edinburgh:  T.  Clark  1861. 

Schon  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  christlichen  Kirche  war  man 
vielfach  bemüht,  Plato's  religiöse  Ansichten  mit  der  Lehre  des  Christen- 
tums in  Vergleichung  zu  ziehen ,  und  gieng  man  dabei  oft  auch  von  thö- 
richten  Voraussetzungen  aus,  nach  denen  man  meinte,  dasz  Plato  seine 
religiösen  Ideen  auf  seinen  Reisen  durch  Bekanntschaft  mit  den  Juden 
und  Büchern  des  A.  T.  gewonnen  habe ,  sodasz  ihn  Clemens  Alex,  nach 
Numenius  als  töv  Municfiv  dtriKKovia  oder  töv  i£  ^ßpatuiv  qpiXö- 
coqpov  bezeichnete,  so  blieb  doch  bei  bedeutenden  Vätern  der  Kirche 
dem  griechischen  Philosophen  hohe  Verehrung  erhalten  und  in  Folge 
davon  das  Streben ,  eine  Vergleichung  zwischen  dem  Evangelium  und  den 
Lehren  der  platonischen  Philosophie  anzustellen.  Ein  Augustinus  konnte 
in  seinen  Bekenntnissen  erklären:  esi  primo  sanctis  tuis  literis  (h.  e. 
evangelio)  informatus  essem ,  et  in  earum  familiaritate  obdulcuisses  mihi, 
et  postea  in  illa  volumina  (sc.  Piatonis)  incidissem ,  forlasse  aut  abripuis- 
sent  me  a  solidamento  pietatis :  aut ,  si  in  affectu,  quem  salubrem  imbi- 
beram,  perstitissem ,  putarem  etiam  ex  Ulis  libris  eum  concipi  posse,  si 
eos  solos  quisquam  didicisset';  in  der  späteren  Zeit,  in  welcher  ein  Teil 
der  Scholastiker  den  Plato  hochhielt ,  wurde  ein  Bernhard  von .  Clairvaui 
bei  dem  Papste  angeklagt  'quod  multum  sudaret,  quomodo  Platonem  fa- 
ceret  Christianum' ;  in  der  Zeit  des  Wiederauflebens  der  griechischen  Li- 
teratur in  Italien  schrieb  Bessarion  Nie.  gegen  Gorgias  Trapez,  sein  Buch 
in  calumniatorem  Piatonis.  Zur  Zeit  der  Reformation  forderte  besonders 
Erasmus  in  der  cohortatio  ad  Christianae  philosophiae  Studium  zur  Lee- 
türe des  Plato  auf  und  erklärte  freimütig,  dasz  die  platonische  Philoso- 
phie in  vielen  Sätzen  mit  der  christlichen  Lehre  übereinstimme;  in  der 
späteren  Zeit  gab  es  neben  römischen  Theologen  auch  protestantische, 
wie  der  Engländer  Cudworth,  welche  auf  die  Aehnlichkeit  der  beiden 
Lehren  aufmerksam  machten,  andere,  wie  vorzüglich  Wucherer  und 
Winckler,  welche  in  Vorurteil  befangen  gegen  die  griechische  Philoso- 
phie auf  den  Gegensatz  zwischen  Piatonismus  und  Christentum  hinwiesen. 
Im  19.  Jahrhundert  hat  Stäudlin,  um  von  anderen  zu  schweigen,  in  dem 
Programm  'de  philosophiae  Platonicae  cum  doctr.  religionis  Jud.  et  Christ, 
sqq.  Gott.  1819'  Plato's  religiöse  Ansichten  mit  den  christlichen  vergli- 
chen, die  Georgia  Augusta  zwei  Preisschriften  veranlaszt,  von  Grotefend 
'commentat.,  in  qua  doctrina  Piatonis  ethica  cum  Christ,  comparatur,  Gott. 
1820',  von  Mehlisz  ecomparat.  Piatonis  doctr.  de  vero  Reipublicae  exemplo 
cum  Christ,  de  regno  divino  doctr.,  Gott.  1844P.  Beide  Abhandlungen  be- 
handeln die  verschiedenen  Beziehungen,  die  in  Christi  und  Plato's  Lehre 
gefunden  werden  können,  der  erstere  mit  gewisser  Anerkennung  Plato's, 


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Ackermann:  The  Christian  element  in  Plato  etc.  631 

die  sich  auch  in  seinen  letzten  Worten  kund  gibt  (p.  76 :  *  quodsi  Plato- 
nem  divinum  esse  concesserimus,  Christum  Deum  confiteamur  necesse  est.9) 
Mehlisz,  ohwol  er  zugibt  p.  116:  evere  magnae  sunt  cogitationes  et  Evan- 
gelio  valde  propinquae,  in  quibus  versatur  philosophia  Piatonis',  fügt 
doch  in  einem  seiner  Schluszsätze  hinzu:  eDeerat  Piatoni,  quod  omnibus 
veteribus ,  vere  omnipotentis  absque  interno  illo ,  quod  in  nobis  est ,  dis- 
sidio  redimentis  nos  Dei  conscientia:  hac  ipsa  destituti  omnes  fere  altioris 
ingenii  veteres  in  tristem  illam  desperationem  inciderunt,  quae,  penitus 
si  spectamus,  Platonem  quoque  cepit  et  ad  miseram  illam  fati  opinionem 
prope  adduxit.' 

Auszer  diesen  Gelehrten  haben  in  der  Neuzeit  demselben  Gegenstand 
vorzugsweise  Beachtung  gewidmet:  L.  Ackermann,  das  Christliche  in 
Plato  und  in  der  platonischen  Philosophie,  Hamburg  1835  (recens.  von 
Ritter  und  Nitzsch  in  Theol.  Slud.  und  Kritik.  Jhg.  1836,  H.  2,  S.  461  f. 
486  f.)  und  der  Tübinger  Theolog  Baur,  das  Christliche  des  Piatonismus 
oder  Sokrates  und  Christus,  Tübingen  1837.  Indem  dieser  gleich  Acker- 
mann eine  unverkennbare ,  in  manchen  Punkten  überraschende  Verwandt- 
schaft zwischen  Piatonismus  und  Christentum  anerkennt  (S.  6),  die  Mo- 
mente dann  bespricht,  welche  Ritter  und  Nitzsch  gegen  die  Ausführung 
Ackermann's  geltend  gemacht  haben,  stellt  sich  seiner  Ansicht  nach  als 
wesentlicher  Mangel  der  Ackermannschen  Untersuchung  dar  (S.  17) ,  dasz 
ihr  bei  allem  Schönen  und  Trefflichen,  was  sie  enthalte,  und  bei  der  war- 
men Liebe,  mit  der  sie  ihren  Gegenstand  behandle,  doch  der  Begriff  der 
zu  lösenden  Aufgabe  nicht  vollkommen  klar  geworden  sei,  weil  alle  soge- 
nannten spekulativen  Fragen  ausgeschlossen  würden.  Als  eigene  Ansicht 
ergibt  sich  Baur  (S.  153),  dasz  alles  Göttliche  der  platonischen  Ideenwelt 
für  das  menschliche  Bewustsein  noch  immer  ein  jenseitiges  bleibe ,  es  sei 
aus  dem  Gebiete  der  Philosophie  noch  nicht  in  das  der  Religion  und  des 
Glaubens  herabgestiegen ,  aus  der  Vielheit  der  Ideen  müsse  erst  der  Eine 
göttliche  Logos  zum  Bewustsein  kommen,  und  der  Logos  hinwiederum 
müsse  erst  Fleisch  werden,  wenn  die  Einheit  des  Göttlichen  und  Mensch- 
lichen nicht  mehr  blosz  eine  geahnete  und  ersehnte,  sondern  eine  wahr- 
haft offenbare  und  faktisch  gewisse  sein  solle. 

Ich  kann  dem  nicht  durchaus  beistimmen:  Ackermann  hat  nicht  alle 
speeulative  Fragen  aus  dem  Kreise  seiner  Untersuchung  ausgeschlossen 
und  verbreitet  sich  mit  groszer  Ausführlichkeit  über  manche  Gegenstände 
der  Speculation.  Sind  auch  die  Erklärer  des  Plato,  ein  Hermann,  Suse- 
mihl,  Steinhart,  Bonitz,  Stallbaum,  Sauppe  u.  a.,  die  Philosophen,  die 
sich  mit  der  Geschichte  der  Philosophie  beschäftigen,  in  ihren  Unter- 
suchungen vorwärts  gegangen,  und  haben  sie  dunkle  Sätze  platonischer 
Philosophie  besser  beleuchtet,  immerhin  bleibt  Ackermann's  Verdienst  un- 
bestritten :  bei  inniger  Liebe  für  das  lautere  Christentum  hat  er  es  ver- 
standen ,  Begeisterung  für  Plato  zu  erwecken ,  und  meisterlich  sind  so 
manche  Partien  seines  Buches  dargestellt.  Dazu  die  schwungvolle  Spra- 
che, die  seine  Schrift  auszeichnet,  die  an  einzelnen  Stellen  sich  fast  zu 
poetischer  Schilderung  erhebt,  die  reiche  Litteratur,  die  er  seinem  Buche 
mitgibt! 


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632  Ackermann:  The  Christian  element  in  Plato  etc. 

Es  kann  aber  meine  Absicht  nicht  sein ,  die  Ackermannsche  Schrift 
einer  neuen  Würdigung  zu  unterziehen,  nur  das  Eine  sei  hier  erwähnt, 
dasz  die  Anerkennung,  die  sie  gefunden  hat,  sich  auch  in  der  oben  an- 
gezeigten englischen  Uebersetzung  von  Asbury  ausspricht     Die  Ueber- 
setzung  erschien  in  demselben  Verlag  zu  Edinburgh  durch  welchen  auch 
die  Uebersetzung  einer  Reihe  von   theologischen  und  philosophischen 
Werjten  der  deutschen  Litteratur  veröffentlicht  worden  ist;  ein  Vorwort 
des  Prof.  Schedd  hebt  die  Verdienste  Ackermann's  rühmend  hervor.    r  He 
shows',  sagt  er  darin  von  demselben ,  cthat  at  the  very  utmost  Platonism 
could  awake  aspirations,  and  create  a  hunger  and  thirst.   Itcould  not 
satisfy  the  immortal  longing ;  it  could  not  supply  the  bread  and  water  of 
life.   The  reader  will  find,  for  example,  in  the  fifth  chapter  of  the  second 
Part  of  the  work,  an  exceedingly  accurate  and  striking  account  of  huma- 
nity  as  it  is  by  sin ,  and  of  the  utter  imposibility  of  iU  regeneration  by 
philo  sophy.'    Der  Uebersetzung  selbst  ist  von  Schedd  reichliches  Lob  ge- 
spendet ,  und  sie  verdient  dieses  im  Ganzen  mit  Recht.   Einzelne  Irtümer 
kommen  vor.     So  ist  p.  3  der  Ackermannschen  Schrift  *  einzuschalten ' 
durch  noting  übersetzt,  p.  5  'lang  wirksam  gewesen'  durch  long  exis- 
ting,  p.  25  c Göttern  und  Menschen  angenehm'  durch  looked  up  by  the- 
wise,  p.  131  'widerhaarig'  durch  previous,  'Gute'  durch  for  God,  p.  162 
'Stadium'  durch  study,  p.  170  'Haus-,  Hof-,  Feld-  und  Stallwirthschaft' 
durch  family  and  the  forum,  p.  168  'schwunghaft'  durch  changeful,  an 
anderen  Stellen  sind  Zusätze  aus  Plato  gemacht,  wie  p.  33  nach  emit  sich 
selbst  befreundet'  and  so  nourish  them;  aber  solche  Versehen  abgerech- 
net ist  die  Uebersetzung  wolgelungen,  auch  der  blühende  Stil  Ackermann's 
gut  nachgeahmt.   Zu  beklagen  bleibt,  dasz  die  zahlreichen,  in  den  An- 
merkungen beigegebenen  Zusätze  des  Verfassers  in  der  Uebersetzung 
meistens  fehlen,  und  doch  bilden  sie  einen  nicht  unwesentlichen  Teil  des 
Ackermannschen  Buches ,  die  nicht  nur  einen  Beleg  geben  für  die  grosie 
Belesenheit  des  Verfassers ,  sondern  auch  wirklich  zur  Erläuterung  und 
Vervollständigung  des  Dargestellten  beitragen.  Diese  durfte  daher  Asbury 
nicht  weglassen ,  eher  wol  Ackermann's  Citate  aus  deutschen  Dichtern. 
Eigene  Anmerkungen   bringt  der  Uebersetzer  nur  ausnahmsweise;  so 
p.  256  und  noch  einmal,  wo  er  zur  Erklärung  des  platonischen  Eros  eine 
hübsche  Stelle  aus  Milt.  Par.  Lost  anzieht.  Den  Schlusz  der  Uebersetzung 
bildet  die  Aufzählung  einer  Reihe  von  namentlich  deutschen  Werken, 
welche  sich  mit  Plato  beschäftigen;  dadurch  glaubt  der  Uebersetzer,  wie- 
wol  irrig ,  der  wörtlichen  Uebersetzung  der  Anmerkungen  Ackermanns 
enthoben  zu  sein. 

Eisenach.  6r.  Schwanitz. 


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Ed.  Putsche :  Erinnerungen  an  Schiller,  Goethe,  Gesncr,  Geliert  usw.  633 

59. 

Erinnerungen  an  Schüler,  Goethe,  Gesner,  Geliert,  Anna  Amalia, 
Carl  August,  Friedrich  August  I  und  Friedrich  August  II 
von  Sachsen.  Zum  Behuf e  deutsch  -  lateinischer  lieber  - 
Setzungsübungen  nach  neulateinischen  Classikem  ausge- 
arbeitet und  mit  grammatisch-stilistischen  Winken,  Wörtern 
und  Redensarten  versehen  von  Dr.  Carl  Eduard  Put- 
sche, Professor  am  gros&herzogl.  Gymnasium  in  Weimar. 
Jena,  Hauke  1864. 

Herr  Putsche,  der  bekannte  Verfasser  einer  weit  verbreiteten  latei- 
nischen Schulgrammatik,  hat  sich  durch  Herausgabe  des  vorstehenden 
Buchs  ein  neues  Verdienst  um  die  Schule  erworben.  Was  ihn  veranlaszt 
hat,  die  nicht  unbedeutende  Anzahl  solcher  Bücher)  welche  Materialien 
oder  Aufgaben  zum  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen  in  das  Lateinische 
für  obere  Gymnasialclassen  enthalten ,  durch  das  seinige  zu  vermehren, 
darüber  erklärt  er  sich  in  der  Vorrede.  Er  spricht  nemiich  seine  Erfah- 
rung aus ,  dasz  den  Schülern  der  Uebergang  vom  Uebersetzen  altclassi- 
scher  Stoffe  zur  Uebertragung  selbst  leichterer  Stücke  aus  deutschen 
Classikem  in  das  Lateinische  und  die  Aufgabe  freier  Arbeiten  in  echt 
lateinischer  Sprache  (soweit  man  natürlich  dies  von  Schülern  verlangen 
kann)  zu  fertigen,  schwer  zu  werden  pflegen.  Daher  wählte  er  Stoffe"* 
aus  neulateinischen  Classikem  in  einer  deutschen  Uebersetzung,  die  in 
der  Form  weder  zu  sehr  von  dem  Original  abwiche,  noch  dasselbe  auf 
Kosten  des  deutschen  Ausdruckes  mit  allzu  groszer  Treue  wiedergäbe. 
Die  Wahl  solchen  Stoffes  empfiehlt  sich  aber  dadurch,  dasz  darin  Vieles 
vorkommt,  was  unserer  modernen  Anschauungsweise,  den  Verhältnissen 
unseres  modernen  staatlichen  und  bürgerlichen  Lebens  entspricht,  wofür 
der  Schüler  bei  den  römischen  Classikem  nach  angemessenem  Ausdrucke 
vergebens  sich  umsehen  würde.  Man  wird  dem  Verf.  beistimmen,  wenn 
er  die  Beobachtung  geltend  macht,  dasz  junge  Leute,  seien  es  Primaner 
oder  Studierende,  die  zu  irgend  einem  Zwecke  ein  sogenanntes  curricu- 
lum  vitae  anfertigen  wollen ,  oft  in  Verlegenheit  sind ,  wie  sie  Modernes 
in  lateinischer  Sprache  ausdrücken  sollen.  Dabei  hat  aber  der  Verf.  seinen 
aus  neulateinischen  Ciassikern  entlehnten  Stoff  weder,  wie  schon  gesagt, 
wörtlich  übersetzt,  noch  vollständig  aufgenommen,  sondern  frei  bearbei- 
tet. Zur  Unterstützung  ferner  und  Anleitung  der  Schüler  hat  sich  der 
Verf.  viel  weniger  auf  Citate  aus  der  .Grammatik  eingelassen,  die  bekannt- 
lich der  Schüler  in  der  Regel,  wenn  er  nicht  ausdrücklich  vom  Lehrer 
zum  Gegenteil  genötigt  wird ,  unbeachtet  läszt ,  soudern  vielmehr  in  den 
Anmerkungen  eine  reiche  Anzahl  von  Wörtern  und  Redensarten  darge- 
boten, die  nicht  immer  aus  den  Originalen  entlehnt,  sondern  auch  aus  dem 
Schatze  der  eigenen  Belesenheit  geschöpft  sind.  Und  in  der  That  findet 
man  in  diesen  Anmerkungen  treffliche  Winke,  sei  es  in  Bezug  auf  lateini- 
schen Ausdruck  im  Einzelnen ,  oder  in  Bezug  auf  Satzbau.    Dem  etwaigen 

N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  II.  Abt.  1864.  EU.  12.  44 


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634  Ed.  Putsche:  Erinnerungen  an  Schiller,  Goethe, Gesner,  Geliert  usw. 

Vorwurf,  dasz  er  hierin  des  Guten  zuviel  gethan  habe ,  tritt  er  mit  der 
Absicht  entgegen ,  dasz  dadurch  der  Gebrauch  eines  deutsch-lateinischen 
Wörterbuches  entbehrlich  gemacht  werde.  Und  dieser  Grund  ist  aller- 
dings ein  gewichtiger,  wenn  man  erwägt,  wie  die  Mehrzahl  der  Schüler 
sich  gar  zu  gern  und  gar  zu  oft  auf  ein  solches  Wörterbuch  verläszt  und 
wie  selbst  die  besseren  und  reiferen  ohne  weiteres  Nachdenken  und  ohne 
Unterscheidung  das  erste  beste,  was  ihnen  jenes  Hfilfsmittel  bietet,  auf 
Treue  und  Glauben  hinnehmen.  In  diesen  Anmerkungen  dagegen  finden 
sie  nur  Brauchbares  und  zwar  in  einer  Form ,  die  sie  nötigt  das  eigene 
Nachdenken  anzuwenden  und  selhstthätig  zu  sein.  Aus  diesem  Grunde 
verdient  das  Buch  auch  solchen  Primanern  in  die  Hände  gegeben  zu  wer- 
den ,  die  privatim  lateinische  Stilübungen  vornehmen  wollen.  Aber  auch 
dem  Lehrer  der  Prima  ist  durch  dasselbe  ein  sehr  zweckmäsziges  Mittel 
zu  Extemporalien  an  die  Hand  gegeben;  Ref.  bekennt  es  gern,  dasz  es 
ihm  in  dieser  Beziehung  schon  sehr  gute  Dienste  geleistet  hat. 

Was  endlich  den  Stoff  anlangt,  so  gibt  schon  der  Titel  hierüber 
Auskunft.  Es  sind  die  bekannten  panegyristischen  Biographieen  und 
Schilderungen  der  genannten  Personen  aus  der  Feder  eiues  Ernesti,  Eich- 
städt,  Gottfried  Hermann.  Das  oratorisch-pathetische  Gepräge,  welches 
sie  tragen,  konnte  freilich  trotzdem,  dasz  der  Verf.  meint,  sie  zum  Teil 
ihres  oratorischen  Gewandes  entkleidet  zu  haben,  nicht  verwischt  werden, 
doch  ist  dies  ja  nicht  zu  verwundern,  da  es  in  dem  Charakter  der  lateini- 
schen Sprache  liegt  Vielleicht  aber  steht  bei  der  getroffenen  Wahl  des 
Stoffes,  wie  z.  B.  auch  bei  den  bekannten  ähnlichen  Bächern  von  Zumpt 
und  Forbiger  zu  befürchten ,  dasz  der  Schüler  sich  die  Originale  zu  ver- 
schaffen weisz  und  gebraucht ,  wenn  auch  Herr  Putsche  hier  und  da  im 
Texte  Veränderungen  vorgenommen  hat.  Es  bedarf  also  hier  der  Wach- 
samkeit des  Lehrers.  Eine  andere  Gefahr  für  den  erweiterten  Gebrauch 
des  Buches  liegt  darin,  dasz  obwol  Schiller,  Goethe,  Geliert  (weniger 
natürlich  Gesner),  Männer  sind,  die  für  die  gesamte  deutsche  Gymnasial- 
jugend von  hohem  Interesse  sein  müssen,  doch  Anna  Amalia,  Carl  August, 
die  beiden  Könige  von  Sachsen  Persönlichkeiten  sind,  die  vorzugsweise 
für  Schüler  königlich  und  groszherzoglich  sächsischer  Gymnasien  anzie- 
hend sind.  Diese  Beschränkung  des  Gebrauches  scheint  aber  der  Verf.  nach 
seiner  Aeuszerung  in  der  Vorrede  S.  XI  erkannt  zu  haben  und  wird  dem- 
nach die  Folgen  als  Opfer  der  Anhänglichkeit  an  seine  Heimat  und  die 
Universitäten  Jena  und  Leipzig,  an  denen  die  Männer,  aus  deren  Schriften 
er  seinen  Stoff  schöpfte ,  einst  lehrten ,  denen  er  selbst  *  als  Lernender 
und  Lehrender'  einst  angehörte,  zu  erwarten  haben.  So  sei  denn  das 
Buch  den  werthen  Amtsgenossen  an  den  königlich  sächsischen  Gymnasien 
bestens  empfohlen  t 

Eisenach.  K.  H.  FunkkaeneL 


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feuert 

Wörter  der  deutschen  Schriftsprache  usw.  635 


60. 

Wörter  der  deutschen   Schriftsprache,  welche  niederd.  cht 
für  hochd.  ft  tragen. 


Schon  in  der  älteren  niederdeutschen  und  niederländischen  mundart 
zeigt  sich  die  Verwandlung  von  ft  in  ckt,  z.  b.  achter  (after,  auch  engl,), 
hackt  (haft),  heckt  (heft),  gekeckt  (geheftet,  fest;  im  Sachsenspiegel), 
brülöcht  (mhd.  hrütlouft,  hochzeit),  kracht  (kraft),  luckt  (luft),  sachte 
(sanft,  engl,  soft),  stickten  (stiften),  suchten  (mhd.  siuften,  seufzen), 
grackt  (graft,  graben;  vgl.  haft  v.  haben),  schockt  (schaft).  In  der  jetzi- 
gen Holland,  und  niederd.  spräche  hat  sich  dies  Verhältnis  fortgesetzt; 
während  jedoch  einige  plattdeutsche  Wörter  nicht  leicht  anders  als  mit 
jenem  laute  versehen  gehraucht  zu  werden  pflegen,  z.  b.  achter  (nicht 
eigentlich  *  nach  %  sondern  c  hinter'),  lückten  (vom  boden  heben;  vgl. 
hochd.  lüften  und  engl,  lift),  haben  formen  wie  lucht,  stickt  in  manchen 
gegenden  Niederdeutschlands  vyenigstens  den  Wechsel  mit  den  hochdeut- 
schen luft,  stift  sich  gefallen  lassen  müssen;  vgl.  stiefelsckeften,  wofür 
in  Holstein  überall  sckeckten  gesagt  wird. 

Am  deutlichsten  offenbart  das  adv.  sacht  oder  sachte  den  unhoch- 
deutschen Ursprung,  weil  sanft  und  engl,  soft  danebenstehn.  Ueber  den 
ausfall  des  n  vergl.  Grimm  gramm.  II  211.  Schlucht  steht  für  sckluft, 
mhd.  sluft  (von  sliefen;  vgl.  schlüpfen);  schluft  findet  sich  bei  dichtem 
daneben  (Schlegel,  Tieck,  Unland,  Wackernagel).  Wie  zu  der  lat.  form 
nepos  im  hochd.  nefTe  stimmt,  so  entspricht  mhd.  niftel,  abgesehen  von 
der  deminution  (altfries.  nift),  dem  lat.  neptis  (frz.  niece,  früher  niepce); 
aber  der  nhd.  spräche  gilt  nur  nickte.  In  dem  ausdruck  'die  anker  lich- 
ten' ist  das  verb  weder  insofern  niederdeutsch,  dasz  es  dem  engl,  lighten 
(hochd.  gleichsam  leichten)  entspräche ,  noch  hat  es  mit  dem  subst.  licht 
zu  thun ;  sondern  lichten  steht  jenem  schon  oben  als  niederd.  für  hochd. 
lüften  angeführten  und  mit  engl,  lift  verglichenen  tüchten  zur  seite. 
Dasz  beschwichtigen  von  schweigen  stamme,  mag  bei  naheliegendem 
vergleiche  von  bezichtigen  u.  zeihen  und  wegen  durchaus  bequemer  Ver- 
einigung der  begriffe  anzunehmen  leicht  fallen ;  gleichwol  ist  der  Ursprung 
ein  ganz  anderer.  Für  mhd.  steiften  (stillen ;  vgl.  ensweben,  einschläfern 
NibeL  7376)  setzt  die  niederländische  mundart  zwichten,  swichten;  hier- 
aus leitet  sich  das  jetzige  durch  die  vorsilbe  be-  und  ableitendes  -ig- 
erweiterte  wort  beschwichtigen.  Auf  die  mittelniederd.  subst.  gerückte 
und  ruckte,  denen  die  mhd.  formen  geruofte,  gerüefte,  ruoft  (:  ruof, 
ruf  =  louft:  louf,  lauf)  gegenüberstehn,  gründen  sich  gerückt,  ruchtbar 
und  berüchtigt,  welches  letztere  mit  verrufen  daher  auch  etymologisch 
zu  vergleichen  ist.   Dasz  das  adj.  echt*)  mit  dem  subst.  ehe,  welches  in 


*)  Unleidlich  ist  die  schreibang  cächt%    welche  sich  nicht  einmal 
auf  einen  umlaut  stützen  kann. 

44* 


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636  Personalnotizen. 

alter  zeit  (and.  ewa,  mhd.  e)  gesetz  bedeutet  hat,  zusammenhange,  ist 
richtig,  keinesweges  aber,  dasz  das  ch  des  einen  Wortes  aus  demA  des 
andern ,  dem  ja  ursprünglich  vielmehr  w  innewohnt,  entstanden  sei.  Wie 
im  altfries.  sich  wirklich  die  form  eft  findet,  welche  als  eine  zusammen- 
gezogene dem  mhd.  ihaft  *)  entspricht,  so  liegt  unserem  echt  eine  nie- 
derd.  form  ehacht  zu  gründe.  Dasz  auch  sichten  unter  die  Wörter  zu 
rechnen  sei,  welche  niederd.  cht  trageu,  ist  unwahrscheinlich,  obgleich 
hochd.  sieben  und  namentlich  engl,  sift  zu  dieser  annähme  einladen; 
sichten  scheint  vielmehr  von  seihen  abgeleitet,  wie  verzichten  von  ver- 
zeihen. 

Mülheim  a.  d.  Ruhr.  K.  G.  Andreren. 


*)  legitimus;  vgl.  das  plurale  gabst,  ehehaften,  gesetzliche  hinder- 
nisse,  in  der  Juristensprache. 


Personalnotizen 

die  Gymnasien  in  Schleswig-Holstein  betreffend. 


Es  wird  einer  Rechtfertigung  nicht  bedürfen,  wenn  wir  im  Folgen- 
den, getrennt  von  der  Programmbesprechung  und  den  Personalnotizen, 
einen  Ueberblick  über  die  jetzige  Besetzung  der  Gymnasien  in 
den  Herzogtümern  geben. 

Im  Herzogtum  Schleswig  ist  den  21  Februar  1864  dem  Gymnasial- 
director  a.  D.,  Dr.  theol.  et  philol.  Friedr.  Lübker  ein  Constitutorinm 
zur  Visitation  der  höheren  Bildungsanstalten  in  Flensburg,  Schleswig 
und  Hadersleben  erteilt  und  dasselbe  den  9  März  auf  Husum  ausge- 
dehnt. 

An  der  Domschule  in  Schleswig  stehen  jetzt  folgende  Lehrer:  als 
Rector  Dr.  H.  Keck,  bisher  Subrector  in  Ploen;  als  Conrector  Dr. 
Aug.  Mommsen,  bisher  Lehrer  in  Parchim;  als  Subrector  Cand.  theol. 
Beckmann,  bisher  5r  Lehrer  in  Meldorf;  als  Collaborator  Dr.  Vol- 
quardsen,  bisher  Privatdocent  in  Kiel;  als  5r  Lehrer  Dr.  F.  Hörn, 
bisher  8r  Lehrer  in  Ploen;  als  6r  Lehrer  Grünfeld,  früher  7r;  als 
7r  Dr.  Sach,  früher  Hülfslehrer  hier;  als  8r  Hinrichsen,  früher  In- 
stitutslehrer; als  9r  Johannsen,  als  lOr  cand.  theol.  F.  Wallichs. 

An  der  Flensburger  Gelehrten-  und  Realschule  stehen  jetzt  folgende 
Lehrer:  Gymnasialdirector  Dr.  theol.  et  phil.  F.  Lübker  als  Rector, 
als  Conrector  Schumacher,  als  Subrector  Dr.  Dittmann  (beide  ge- 
blieben); als  Collaborator  Dr.  A.  Wallichs,  bisher  4r  Adjunct  in 
Rendsburg;  gleichfalls  als  5r  Lehrer  Dr.  A.  Christensen;  als  6r  ist 
der  Adjunct  Schnack  geblieben;  als  7r  Dr.  phil.  C.  Heimreich; 
als  8r  der  Schulamtscandidat  O.  Wohl  er;  als  Hülfslehrer  fungieren 
Dr.  Dethlefsen,  bekannt  durch  seine  Arbeiten  für  den  Plinius;  die 
Schulamtscandidaten  Diedrichsen,  H.  Hansen  und  einige  Semi- 
naristen. 

An  der  Haderslebener  Gelehrtenschule  steht  als  Rector  Prof.  Dr. 
Jessen,  bisher  Rector  in  Glückstadt,  als  Conrector  Dr.  Chr.  Jessen, 
bisher  Privatdocent  in  Kiel;  als  Subrector  der  bisherige  Institutsvor- 
steher in  Marne,  Petersen;    als  Collaborator  der  bisherige  3e  Colla- 

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Personalnotizen.  637 

borator  in  Rendsburg,  H.  Volbehr;  als  2r  Collaborator  und  5r  Leh- 
rer Dr.  H.  Behrns,  bisher  in  Wetzlar;  als  6r  Lehrer  der  bisherige 
Institutslehrer  in  Neumünster,  Dr.  Hartz;  als  7r  Lehrer  Dr,  L.  8 le- 
rn onsen  aus  Husby  und  als  Hülfslehrer  die  Candidaten  J.  Braun- 
eis  er  und  C.  A.  Volquardsen,  als  Lehrer  der  Vorbereitungssehnta 
der  bisherige  Lehrer  der  Bürgerschule  P,  Möller.  Den  18  Juli  ist  die 
deutsehe  Unterrichtssprache  gesetzlich  wieder  eingeführt. 

An  der  Husumer  St.  Aegidienschule  stehen  jetzt  als  Rector  der  Hoi> 
rath  Ehr.  W.  Gidionsen,  bisher  in  Oldenburg  Erzieher  des  Prinzen 
Elimar;  der  Conrector  fehlt,  weil  eine  Prima  noch  nicht  eröffnet  ist: 
als  Subrector  Dr.  L.  Matthiesen,  bisher  Lehrer  in  Jever;  als  Coltab. 
Dr.  P.  D.  Ch.  Hennings,  bisher  2r  Adjunct  in  Rendsburg;  als  5r 
Lehrer  Dr.  E.  Petersen,  bisher  Privatdocent  in  Erlangen;  als  Or  ist 
Lehrer  Kühlbrandt,  bisher  3r  Lehrer  an  der  höheren  Bürgerschule, 
wozu  die  Dänen  das  Gymnasium  reduciert  hatten,  geblieben;  als  7r, 
nachdem  der  Hülfslehrer  cand.  theol.  Weiland  aus  Oldenswurth  zum 
Pfarrverweser  in  Bedstedt  ernannt  ist,  der  cand.  theol.  KlinckerT  bis- 
her an  der  Realschule  in  Ohrdrup;  und  als  Hülfslehrer  fungieren  der 
Lehrer  Vierth  aus  Busenwurth  und  der  Cand.  Wiggers  aus  Floen. 

Im  Herzogtum  Holstein  ist  der  Gymnasialdirector  Prof.  Dr-  Horu 
in  Kiel  zum  Inspector  der  höheren  Schulanstalten  bestellt;  der  Sub- 
rector Dr.  Müller  in  Kiel  den  7  October  gestorben,  bekannt  durch 
seine  Arbeiten  für  den  Cäsar;  als  lOr  Lehrer  der  cand.  theol.  O.  Lahr 
aus  Heide  angestellt. 

Am  Rendsburger  Realgymnasium  ist  der  te  Adjunct  Chr.  Hausen 
den  24  August  gestorben,  der  bisherige  4e  Collab.  cand.  theol,  J.  M. 
M ichler  zum  3n  und  der  bisherige  3e  Adjunct  Dr.  E.  J.  H.  Bobs  tedt 
zum  4n  Collaborator,  der  Lehrer  J.  Ferchen  in  Kiel  zum  4n  Adjunc- 
ten  ernannt;  als  Hülfslehrer  fungieren  seit  Ostern  Dr.  Schul th es s 
und  die  Candidaten  Baurmeister  und  Mannhardt. 

Am  Altonaer  Christianeum  ist  Dr.  O.  Jasper  vor  längerer  Zeit  an 
die  Stelle  des  gestorbenen  7n  Lehrers  Wiese  gesetzt,  und  als  9r  Leh- 
rer der  Seminarist  Berghof  wieder  angestellt. 

An  der  Glückstädter  Gelehrtenschule  ist  den  23  Nov.  der  bisherige 
Subrector  Dr.  E.  G.  C.  Volbehr  zum  Rector  ernannt,  als  8r  Lehrer 
ist  schon  voriges  Jahr  an  Stelle  des  zum  5n  aufgerückten  Dr.  thor 
Straten  der  Dr.  Berblinger  ernannt. 

An  der  Ploener  Gelehrtenschule  ist  als  Subrector  den  1  ßept,  Dr. 
Hudemann,  bisher  Oberlehrer  in  Landsberg  a.  d.  W.;  als  5r  Lehrer 
Dr.  Bahnsen,  bisher  6r;  als  6r  Lehrer  H.  H.  Kuphaldt,  biaher  7r; 
als  7r  Dr.  H.  C.  Matthiesen,  bisher  Hülfslehrer  daselbst,  ernannt. 

An  der  Meldorfer  Gelehrtenschule  ist  der  8e  Lehrer  J.  F.  Paul- 
sen  zum  Postmeister  ernannt,  als  Hülfslehrer  dagegen  der  Candidat 
E.  HC  seier  wieder  angestellt. 


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638  Personalnotizen.  ( 

Personalnotizen. 

^Unter  Mitbenutzung  des  'Centralblattes'  von  Stiehl  und  der  f  Zeit- 
schrift für  die  österr.  Gymnasien'.) 


Ernennaagea,  Beförderungen,  Versetnnngen ,  Ansneiekmnngen. 

Bernhardi,   bisher  Lehrer  an  der  Louisenstädt.  Realschule  \ 

zu  Berlin,  jetst  am  Louisenstädt.  Gymnasium  daselbst,  J  als  ord. 

Bode,  bisher  Adjunct  am  Pädagogium  zu  Putbas,  jetzt  amf  Lehrer 
Gymnasium  zu  Greifswald,  /    ange- 

B  recher,    Dr.,    SchAC.   am  Friedrichsgymnasium   und   deri    stellt, 
damit  verbundenen  Realschule  zu  Berlin  / 

Busch,  Dr.  O.,  Oberlehrer  an  der  Landesschule  zu  Meiazen,  zum 
'Professor'  ernannt. 

Eberhardt,  Dr.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Wilhelmsgymnasium  zu 
Berlin  angestellt. 

Frey  er,  Dr.,  bisher  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Schweidnitz,  in 
gleicher  Eigenschaft  am  Gymnasium  zu  Frankfurt  a.  d.  O.  an- 
gestellt. 

Fürst,  Dr.,  Professor  an  der  Universität  Leipzig,  erhielt  das  Ritter- 
kreuz des  königl.  preusz.  Kronenordens  IV  Cl. 

Gauss,  bisher  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Borg,  in  gleicher  Eigen- 
schaft an  das  Gymnasium  zu  Landsberg  a.  d.  W.  versetzt. 

Hultsch,  Dr.  0.,  Oberlehrer  an  der  Kreuzschule  zu  Dresden,  zum 
f  Professor'  ernannt. 

Jahns,  Dr.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Inowraclaw 
angestellt. 

Jung,  Dr.,  am  Gymnasium  zu  Neisse  zum  ord.  Lehrer  ernannt. 

Korn,  Dr.,  SchAC.,  am  Gymnasium  zu  Wesel,       )     als  ordentliche 

Kössler,  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Sagan    J  Lehrer  angestellt. 

Krause,  Dr.,  SchAC,  als  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Neisse  an- 
gestellt. 

Kühner,  bisher  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Landsberg  a.  d»  W., 
in  gleicher  Eigenschaft  am  Gymnasium  zu  Spandau  angestellt. 

Laves,  Dr.,  SchAC,  als  ord.  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Lyck  an- 
gestellt. 

Märkel,  Ör„  bisher  Prorector  am  Gymnasium  zu  Königsberg  i.  d.  N., 
als  Oberlehrer  an  der  mit  dem  Friedrichsgymnasium  verbundenen 
Realschule  zu  Berlin  angestellt. 

Möbius,  Dr.  Theod.,  bisher  ao.  Professor  an  der  Univ.  Leipzig,  zum 
ord.  Professor  der  nordischen  Sprachen  an  der  Univ.  Kiel  ernannt. 

Nake,  Dr.,  bisher  an  der  Königsstädt.  Realschule' 
zu  Berlin,  jetzt  am  Louisenstädt.  Gymnasium 
daselbst, 

Nesemann,  Dr.,  SchAC,  am  Gymnasium  zu  Lissa, 

Noss,  Dr.,  bisher  am  Gymnasium  zu  Pyritz,  jetzt 
am  Gymnasium  zu  Schweidnitz, 

Paul,  SchAC.,  am  Wilhelmsgymnasium  zu  Berlin  J 

Perthes,  Dr.,  SchAC,  am  Joachimsthalschen  Gymnasium  zu  Berlin 
als  Adjunct  angestellt. 

Praetorius,  Dr.,  SchAC,  am  Gymnasium  zu  Braunsberg  als  ord. 
Lehrer  angestellt. 

Ribbeck,  Dr.,  bisher  Lehrer  am  Kölnischen  Real- 
gymnasium zu  Berlin,  jetzt  am  Louisenstädt. 
Gymnasium  daselbst, 

Ritt  eher,  bisher  Lehrer  an  der  höh.  Töchterschule 
zu  Bromberg,  jetzt  am  Gymnasium  zu  Lands- 
berg a.  d.  W., 

Sehultz,  Franz}  SchAC,  am  Gymnasium  zu  Konitz 


als  ord.  Lehrer  an- 
gestellt. 


als  ord.  Lehrer  an- 
gestellt. 


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Personalnotizen.  639 

Stawitzky,  Dr.,  als  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Neisse  angestellt. 
Stimpel,  Anton,  zum  k.  k.  Schulrath  in  der  Statthalterei  Innsbruck 

ernannt. 
Szelinski    Dr.,  SchAC.,  am  Gymnasium  zu  Lyck,|  {    ord.  Lehrer  an. 
Urban,  SchAC,  am  Gymnasium  zu  Bneg,  \  t  11t 

Wutke,  Collaborator  am  Gymnasium  zu  Neisse      )  geaieui. 

In  Rvaestand  versetzt: 

Kayser,  Dr.,  Director  der  Realschule  zu  Landeshut. 

Anderweitig  ausgeschieden: 

Natorp,  Dr.,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Dortmund, 
Uhlemann,  Oberlehrer  an  der  Realschule  zu  Lippstadt. 

Gestorben  s 

G  He  mann,  Professor  Wilh.,  Conrector  am  Gymnasium  zu  Salzwedel, 
starb  nach  mehr  als  50jähriger  Lehrthätigkeit  in  den  letzten  Tagen 
des  December.    (Bekannt  als  gründlicher  Orientalist.) 

Hirzel,  Dr.  Heinr.,  aus  Leipzig,  starb  noch  nicht  25  Jahre  alt,  am 
28  Decbr.  zu  Rom.  (fDe  Euripidis  in  componendis  diverbiis  arte.» 
Bonn  1862.) 

Junghans,  Dr.  Wilh.,  ord.  Professor  der  Geschichte  in  Kiel,  starb 
am  27  Januar  1865  im  31n  Lebensjahre. 

Konnard,  Dr.  C,  ord.  Professor  an  der  Universität  Bonn,  starb  in  der 
Nacht  vom  11/12  Januar  1865. 

Ulimann,  Dr.  theol.  Karl,  Prälat  u.  Director  des  evang.  Oberkirchen- 
raths  zu  Karlsruhe,  starb  am  12  Januar  1865.  (Als  Exeget,  Dog- 
matiker  und  Kirchenhistoriker  von  hervorragender  Bedeutung.) 

Viererdt,  Dr.  Karl  Friedr.,  geh.  Hofrath,  früher  Director  des  Lyceums 
in  Karlsruhe,  starb  am  19  Decbr. 


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Inhaltsverzeichnis. 


Ackermann:  the  Christian  Clement  in  Plato  and  the  Piatonic  philosophy. 
Translated  from  the  German  by  S.  Ralph  Asbury,  B.  A.  With  an 
introductory  note  by  W.  G.  T.  Schedd,  D.    (Sohwanitz)  S.  630  f. 

Albanesische  Sprachfrage.    (Kind)  S.  118  f. 

Amor  and  Psyche.    (Stadelmann)  S.  202  ff. 

Anleitung  zur  Betreibung  des  Turnunterrichts  in  den  Zürcherischen 
Volksschulen.    (Kloss)  S.  685  ff. 

Anmerkungen,  lateinische,  in  den  Ausgaben  griech.  Prosaiker.  (Rü- 
diger) S.  671  f. 

Bässler:  Wilfried,  episches  Gedicht.  * 

Hellenischer  Heldensaal.    2e  Aufl.        }  (Siegfried)  S.  565  ff. 

Legenden  und  Balladen.    Neue  Ausg. ' 

Berichtigungen.     S.  380.  381.  684. 

Bomhard:  zur  Erinnerung  an  denselben.    (Thomas)  S.  318. 
Brandes:  die  neugriech«  Sprache  und  die  Verwandtschaft  der  griech. 
Sprache  mit  der  deutschen.    (Kind)  S.  117  f. 

Deutsche  Litteratur  und  deutsche  Gymnasien  während  der  zweiten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts.     (Kämmel)  S.  633  f. 

Dieter:  Merkbüchlein  für  Turner.  Herausgegeben  von  Dr.  Angerstein. 
6e  Aufl.    (Kloss)  S.  685  f. 

Döderlein.    Eine  biographische  Charakteristik.    S.  320  f. 

,  den  Manen  desselben.    (Stadelmann)  S.  325. 

Elspergers  Amtsjubiläum.    (G.  Fr.)  S.  319. 

,  Festgrusz  an  denselben.    (Stadelmann)  S.  326. 

Erklärung.    GM  S.  684. 

Erlebtes  und  Bewährtes  aus  dem  Gebiete  der  Erziehung.    S.  333  f. 

Erwiderung.    (Dronke)  S.  631  f. 

Frieke:  Declamatorik.  Sammlung  deutscher,  französischer  und  engli- 
scher Declamationsstücke.    (Hansen)  S.  622  f. 

Geographische  Repetitionen.    Skandinavien.    (Foss)  S.  696  f. 
Geschichtsvortrag  in  der  Prima  eines  Gymnasiums.    (Muther)  S.  277  f. 
Goethes  elegische  Dichtungen  in  ihrem  Rechte.    (Düntzer)  S.  180  f. 
Griechenland,  litterarische  und  culturhistorische  Mitteilungen.    (Kind) 

S.  427  f.  476  f.  627  f. 
Gymnasialreform.    (Roth)  S.  1  f. 

Hager:  hebräisches  Vocabularium  für  Primaner  und  Secundaner. 
(Buddeberg)  S.  375  f. 


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Inhaltsverzeichnis.  641 

Hortung:    Themata  zu  deutschen  Ausarbeitungen.    (G.  in  A.)  S.  565  f. 

Hebräische  Poesie,  Form  derselben*     (Ley)  S.  246  f. 

Herbst:  historisches  Hülfsbuch  für  die  oberen  Classen  von  Gymnasien 

und  Realschulen.     (Jäger)  S.  422  f. 
Hiecke:    gesammelte    Aufsätze    zur    deutschen    Litteratur.      (Eckstein) 

S.  33  f. 
Hitzig:  die  Psalmen  übersetzt  und  ausgelegt.     \flu[  \  a    um* 

Hupfeld:  die  Psalmen  übersetzt  und  ausgelegt.  ] ^ezger;  ö.  iö±  t. 
Horaz:  die  sechs  Römeroden  desselben.    (Goebel)  S.  128  f. 

Jacobs:  m  memoriam  Fr.  J.  (Stadelmann)  S.  528. 

Jäger:  Turnschule  für  die  deutsche  Jugend.    (Kloss)  S.  585  f. 

-ieren,  die  deutsche  Verbalendung.     (Andresen)  S.  373  f. 

Klaiber:  Evangelische  Volksbibliothek,    Erster  Band.  (Mezger)  8.  510  f. 
Kloss:  Turn-Merkbüchlein  für  Schulturnanstalten.)   /jn      *  fl    -ÖR  ~ 

.•  Neue  Jahrbücher  für  die  Turnkunst.         J   1*iobs;  ö.  585  t. 

Kohlrausch:  Erinnerungen  aus  meinem  Leben.     (Kämmel)  S.  25  f. 
König:  Vocabulaire  systematique  anglais-francais.    (R.  in  P.)  S.  74  f. 

Lange:  die  Leibesübungen.    Eine  Darstellung  des  Werdens  und  Wesens 

der  Turnkunst.    (Kloss)  S.  585  f. 
Leunis:  Synopsis  der  drei  Naturreiche.    Zweiter  Teil:  Botanik.    (Sigis- 

mund)  S.  625  f. 
Lothholz:   das  Verhältnis  Wolfs  und  W.  Humboldts,   (-ck  in  S.)  S.  120. 

(Masius):  die  gesamten  Naturwissenschaften.    Zweite  Aufl.   (Sigismund) 

S.  36  f. 
Mathematik,  was  ist  für  den  Anfänger  Schweres  an  derselben?  (Büchner) 

S.  66  f. 
Maul:  die  Freiübungen  und  ihre  Anwendung  im  Turnunterricht  (Kloss) 

S.  585  f. 
Middendorf  und  Grüter:    latein.  Schulgrammatik  \ 

für  untere  Gymnasialclassen.  (  «,,,«  «    Q„-  - 
~:    lat.  Schulgrammatik  für  mittlere!  (rtxlM)  ö-  611  '• 

und  obere  Gymnasial  classen.  * 

Migault:    Versuch  einer  englischen  Schulgrammatik.  «Erste  Abteilung. 

(R.  in  P.)  S.  503  f. 

Neander,  Michael :  aus  dem  Jugendleben  desselben.  (Latendorf)  S.  169  f. 
Nibelungenstrophe,  ihre  prosodische  und  metrische  Messung.  (Olawsky) 

S.  258  f.  S.  361  f.  S.  381  f.  S.  461  f. 
Niederdeutsches  cht  und  hochdeutsches  ft.    (Andresen)  S.  635  f. 
Niemeyer:  deutsche  Schulgrammatik.   Ein  Leitfaden  für  höhere  Schulen. 

Zweiter  Teil.    (Petzoldt)  S.  618  f. 
Nobbe,  Amtsjubiläum.    (Herausgeber)  S.  529. 
Noctes  scholasticae.     S.  233  f.  S.  481  f. 

Paldamus:  deutsches  Lesebuch.  Mittlere  Stufe.  Zweiter  Cursus.  (Hansen) 
S.  620  f. 

Palm:  Friedrich  Kraner.  Eine  Auswahl  aus  seinen  Schulreden  nebst 
Nachrichten  über  sein  Leben  und  Wirken.     (Schubart)  S.  607  f. 

Parchim,  Jubiläum  des  Gymnasiums  daselbst.     (Herausgeber)  S.  530. 

Personalnotizen.  (Herausgeber)  S.  56.  S.  229 f.  S.  329  f.  S.  378 f.  S.  477  f. 
S.  581  f.  638  f. 

Personalnotizen,  die  jetzige  Besetzung  der  Gymnasien  in  Schleswig- 
Holstein  betreffend.    (Hennings)  S.  636  f. 

Peucker:  kurze  Grammatik  der  neugriechischen  Sprache.   (Kind)  S.  327. 


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642  Inhaltsverzeichnis. 

Philologenversammlung  au  Meiszen,  Bericht.    (Vogel)  S.  44  f.  S.  81  f. 

Pisano:  la  practica  geometriae.    (-h  in  -n)  S.  304  f. 

Plaio,  über  dessen  Aassprach:  Glücklich  der  Staat,  in  welchem  die  Könige 

Philosophen  sind.    Eine  Feftrede.    (Wohlrab)  8.  411  f. 
Plöiz:  lateinische  Vorschule.    Erster  Gnrsus.    (Dzialas)  S.  513  f. 
Programmbesprechungen.    (Ostermann)  S.  160  f.  S.  213  f.  S.  313  f. 

(Hultsch)  S.  572  f. 

Putsche:  Erinnerungen  an  Schiller,  Goethe,  Gessner,  Geliert  usw.  Zum 
Behufe  deutsch -lateinischer  Uebersetzungsübungen.  (Funkhaenel) 
S.  633  f. 

Raschke:  proben  und  grundsäze  der  deutschen  Schreibung  aus  fünf  Jahr- 
hunderten.   (Lange)  S.  79  f. 

Religionsunterricht  auf  den  Gymnasien.  (Verf.  der  noctes  scholasticae] 
S.  57  f. 

"**"*•■  Ä  Ä-antiqui]  (*■  '-)  8-  ■«  * 
Rödiger:  Wilhelm  Gesenius'  hebräische  Grammatik,     lr  Teil.    19e  Aufl. 
(Mühlberg)  S.  309  f. 

Schäfer ,  Dr.  Karl,  Professor  in  Erlangen,  Nekrolog.    S.  228  f. 
Schülers  Fiesco ,  eine  Textverbesserung  zu  demselben.  (Oncken)  S.  581. 
Schilling:  die  verschiedenen  Grundansichten  über  das  Wesen  des  Geistes. 

(Fritzscbe)  S.  344  f. 
Scholl:  Grundrisz  der  Naturlehre.   6e  Aufl.  (2  =  Sigismund)  S.  328  f. 
Schubert:  Lehrbuch  der  Mineralogie  für  Schulen.     (Sigismund)  S.  627  f. 
Schulreden.    (Von  Lübker,  Muther,  Sigismund,  Wohlrab,  Schone)  S.  18. 

S.  277.  S.  398.  S.  411.  S.  429. 
Schulwesen,    das    evangelische    höhere  in  seinem  Entwicklungsgänge. 

Schulrede.    (Lübker)  S.  18  f. 
,  Expose*  über  einige  Fragen  desselben  und  der  Gesetzgebung. 

(Herausgeber)  S.  115  f. 
Schwende,  Conrad.    Ein  Lebensbild.     (Eberz)  S.  610  f. 
Shakespeare,    als    Schulschriftsteller.      Eine    Schulrede.      (Sigismund) 

S.  398  f. 
r,    zum  Gedächtnis    desselben.    Eine   Schulrede.    (Schöne) 

S.  429  f. 
Skandinavien,  s.»  geographische  Repetitionen. 
Stundenpläne.    Vortrag  für  die  Versammlung  rheinischer  Schulmänner. 

(Hansen)  S.  443  f. 
Süpfle:   Aufgaben  zu  lateinischen  Stilübungen,     lr  Teil  für  untere  und 

mittlere  Classen.    13e  Aufl.  (Mühlberg)  S.  616  f. 

Turnen  und  Gesundheitspflege  in  den  Schulen.    (Kloss)  S.  585  f. 

Vereinigung  der  militärischen  Instruction  mit  der  Volkserziehung  und 
insbesondere  über  militärische  Gymnastik.  Vier  Preisschriften. 
(Kloss)  S.  585  f. 

Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner  zu  Meiszen,  s. 
Philologenversammlung. 

rheinischer  Gymnasial-  und  Realschullehrer  zu  Düsseldorf. 

(R.  H.  in  W.)  S.  619  f. 

von  Gymnasial-    und  Realschullehrern   zu  Oschersleben. 


S.  466  f. 

von  Gymnasial-  und  Realschullehrern  zu  Seehausen.  (D. 


in  S.)  S.  472  f. 

mittelrheinischer  Gymnasiallehrer  zu  Weinheim.    (K.  B.) 


S.  469  f. 
Versetzungen,  über  dieselben.    (Kruse)  S.  121  f. 

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Naroensverzeichnis.  643 

Veicker:  das  Schulwesen  der  Jesuiten.     (Kämmel)  S.  142  f.  • 

Welantfa  Schülerjahre  betreffend.    Miscelle.    (Niemeyer)  S.  474.  •              >, 

Zeichenunterricht,  über  denselben  auf  Gymnasien  und  den  einschlägig  h 

gen  Lehrplan  vom  2  Octbr.  1863.    (Gennerich)  S.  290  f.  8.  363  f.  4! 

Zeitungsanzeigen  und  höhere  Schulen,    (fi)  S.  300  f.  |i 


-! 


Namensverzeichnis 
der  an  diesem  Bande  beteiligten  Mitarbeiter. 


indresen,  Dr.,  Oberlehrer  an  der  Realschule  zu  Mülheim  an  der  Ruhr. 

K.  B. 

Buddeberg ,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Essen. 

Büchner ,  Dr.,  Professor  in  Hildburghausen. 

?*  in  S. 

D.  in  8. 

Dronke,  Dr.  A.,  Director  der  Provinzialgewerbeschule  in  Coblenz. 

Düntzer,  Dr.,  Professor  u.  Bibliothekar  in  Köln. 

DzüUas,  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Breslau. 

Eberz,  Dr.,  Professor  in  Frankfurt  am  Main. 

Eckstein,  Dr.,  Gymnasialdirector  u.  Professor  in  Leipzig. 

Foss,  Dr.,  Professor  in  Berlin. 

Fr.,  <?.,  in  A. 

Fritzsche,  Dr.  Herrn.,  Professor  in  Leipzig. 

Funkhaenel,  Dr.,  Hofrath  und  Gymnasialdirector  in  Eisenach. 

G.  in  A. 

Gennerich ,  Zeichenlehrer  u.  Geschiohtsmaler  in  Berlin. 

Goebel,  Dr.,  Gymnasialdirector  in  Konitz. 

-A  in  -n. 

H.  in  W. 

Hansen,  Dr.,  Director  der  Realschule  zu  Mülheim  an  der  Ruhr. 

Hennings,  Dr.,  Collaborator  an  der  St.  Aegidienschule  zu  Husum. 

Hultsch,  Dr.,  Professor  am  Gymnasium  zum  h.  Kreuz  in  Dresden. 

von  Jan,  Dr.,  Professor  u.  Studienrector  in  Erlangen. 

Jaeger,  Dr.  O.,  Rector  des  Progymnasiums  zu  Mors. 

Kaemmel,  Dr.,  Professor  u.  Gymnasialdirector  in  Zittau. 

Kind,  Dr.,  Justizrath  in  Leipzig. 

Kloss,  Dr.,  Director  der  Turnlehrerbildungsanstalt  in  Dresden. 

Kruse,  Dr.,  Oberlehrer  an  der  Realschule  in  Stralsund. 

Lange,  Dr.  G.,  in  Berlin. 

Latendorfy  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Schwerin. 

Ley,  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Saarbrücken. 

Lübker,  Dr.  th.,  Director  in  Flensburg. 

Masiust  Dr.,  Professor  in  Leipzig. 

Mezger ,  Dr.  L.,  Professor  in  Schönthal. 

Muther,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Coburg. 

Mühlberg,  Dr.,  Conrector  em.  zu  Mühlhausen. 

Niemeyer,  Dr.,  Rector  der  neustädt.  Realschule  in  Dresden. 

Qlamsky,  Professor  am  Gymnasium  zu  Lissa. 

pncken,  Dr.,  Privatdocent  in  Heidelberg. 

wtermann,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Fulda. 

fttzoldt,  Dr.,  Oberlehrer  an  der  neustädt.  Realschule  zu  Dresden. 


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644 


Ortsverzeichnis. 


Pfuhl,  Dr.,  Professor  am  Vitzthumschen  Gymnasium  zu  Dresden. 

Ä.,  Dr.  in  P. 

Roth,  Dr.  th.,  Professor  u.  Prälat  in  Tübingen. 
Rüdiger,  Dr.,  Rector  em.  zu  Dresden. 

Schone,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  cum  h.  Kreuz  in  Dresden. 
Schubart,  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Budissin. 
SckmanitZj  Dr.,  Professor  in  Eisenach. 
Siegfried,  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Magdeburg. 

Sigismund,  Dr.  Berthold,  Professor  am  Gymnasium  zu  ßudolstadt.  f 
Stadelmann,  Dr.,  Studienlehrer  in  Memmingen. 
Vogel,  Dr.,  Gymnasiallehrer  in  Zwickau. 

Wohbrah,  Dr.,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zum  h.  Kreuz  in  Dresden. 
Der  Verfasser  der  rNoctes  scholasticae'. 

Der  Verfasser  von  f  Erlebtes  und  Bewährtes  aus  dem  Gebiete  der  fr 
Ziehung9. 


Ortsverzeichnis 
der  in  diesem  Bande  besprochenen  Programme. 


Aachen  221. 
Arnsberg  215. 
Bedburg  224. 
Bielefeld  216. 
Bonn  224. 
Braunsberg  160. 
Brilon  215. 
Budissin  672. 
Burgsteinfurt  216. 
Cleve  226. 
Coblenz  226. 
Coesfeld  216. 
Culm  160. 
Danzig  160. 
Deutsch-Crone  161. 
Dortmund  216. 
Dresden  574. 
Duisburg  225. 
Düren  226. 
Düsseldorf  226. 
Elberfeld  226. 
Elbing  162. 
Emmerich  227. 
Essen  227. 


Grimma  576. 
Gumbinnen  162. 
Gütersloh  217. 
Hamm  217. 
Herford  217. 
Hohenstein  162. 
Insterburg  162. 
Kempen  227. 
Konitz  164. 
Köln  313. 
Königsberg  163. 
Kreuznach  315. 
Landshut  150. 
Leipzig  577. 
Lyck  165. 
Marienwerder  165. 
Meiszen  578. 
Memel  166. 
Metten  151. 
Minden  218. 
München  151. 
Münnerstadt  154. 
Münster  218. 
Münstereifel  315. 


Neuburg  155. 
Neusz  315. 
Neustadt  i.  W.  167. 
Nürnberg  155. 
Paderborn  219. 
Passau  156. 
Plauen  578. 
Rastenburg  167. 
Hecklinghansen  219. 
Begensburg  157. 
Saarbrücken  315. 
Schweinfurt  157. 
Soest  219. 
Speier  158. 
Straubing  159. 
Thorn  167. 
Tilsit  168. 
Trier  316. 
Warendorf  219. 
Wesel  316. 
Wetzlar  816. 
Würzburg  159. 
Zittau  579. 
Zweibrücken  160. 


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Zweite  Abteilung. 

Seite 
47«,    Neues  vom  Turnen    und    der   Gesundheitspflege  in  den 

Schulen.    Vom  Director  Dr.  M.  Kloss  in  Dresden  .     .    .     586—596, 

48.  Geographische  Kepetitionen.  I.  Skandinavien.    Vom  Prof. 

Dr.  R.  Foss  in  Berlin • 596—607 

49.  Friedrich  Kraner.  Eine  Auswahl  aus  seinen  Schulreden 
nebst  Nachrichten  über  sein  Leben  und  Wirken  von 
Friedrick  Palm.  Angez.  vom  Oberlehrer  Dr.  Schubart  in 
Budissin 607—610 

50.  Conrad  Schwende.    Vom   Prof.  Dr.  A.  Eberz  in  Frankfurt 

am  Main 610—616 

51.  Süpfle:  Aufgaben  zu  lateinischen  Stilübungen.  Erster  Teil. 
13e  Aufl.  (Karlsruhe  1862.)  Angez.  vom  Conrector  Dr. 
Mühlberg  in  Mühlhausen 616—618 

*  52.  Niemeyer:  Deutsche  Schulgrammatik.  Ein  Leitfaden  für 
höhere  Schulen.  II.  Teil.  (Dresden).  Angez.  vom  Ober- 
lehrer Dr.  Petzoldt  in  Dresden 618—620 

53.  Paldamus:  Deutsches  Lesebuch.  Mittlere  Stufe.  2r  Cur- 
sus.  (Mainz  1862.)  Angez.  vom  Director  Dr.  Hansen  in 
Lennep 620—622 

54.  Fricke:  Declamatorik.  Sammlung  deutscher,  französischer 
und  englischer  Declamationsstücke.  Zur  Unterstützung 
des  Geschichtsunterrichts.  (Mainz  1862).  Angez.  von 
Demselben 622—624 

55.  Leunis:  Synopsis  der  drei  Naturreiche.  Ein  Handbuch 
für  höhere  Lehranstalten.  II.  Teil:  Botanik.  Erste 
Hälfte      (Hannover  1864.)    Angez.  vom  Prof.  Dr.  Sigis- 

mund  in  Rudolstadt 625—527 

56.  Schubert:  Lehrbuch  der  Mineralogie  für  Schulen.  (Er- 
langen.)   Angez.  von  Demselben 627 — 628 

57.  Wagner:  Entdeckungsreisen  in  Feld  und  Flur. 

:  Entdeckungsreisen  im  Wald  und  auf  der  Haide. 

(Leipzig,  Spamer.)    Angez.  von  Demselben 629 

58.  Ackermann:  The  Christian  Element  in  Plato.  Translated 
froin  the  German  by  S.  Ralph  Asbury.  (Edinburgh  1861.) 

Angez.  vom  Prof.  Schwanitz  in  Eisenach 630—632 

59.  Putsche:  Erinnerungen  an  Schiller,  Goethe,  Gesner,  Gel- 
iert, Anna  Amalia,  Carl  August,  Friedrich  August  I  und 
Friedrich  August  II  von  Sachsen.  Zum  Behufe  deutsch- 
lateinischer Uebersetzungsübungen,  nach  neulateinischen 
Classikern  ausgearbeitet.     (Jena,   Mauke  1864.)    Angez. 

vom  Hofrath  Prof.  Dir.  Dr.  Funkhaenel  in  Eisenach     .     .    633—634 

60.  Andresen:  wörter  der  deutschen  Schriftsprache,  welche 
niederd.  cht  für  hochd.  ft  tragen 635—636 

Die  jetzige  Besetzung  der  Gymnasien  in  Schleswig-Hol- 
stein   636—637 

Personalnotizen 638—639 

Inhaltsverzeichnis  des  ganzen  Bandes 640—643 

Namensverzeichnis  der  an  demselben  beteiligten  Mitarbeiter  643—644 

Ortsverzeichnis  der  in  demselben  besprochenen  Programme  644 


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Leipzig, 

Druck  und  VerUg    von    B.    G.    Tenbner. 


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