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Neue
JAHRBÜCHER
für
Philologie nm Paedagogik.
Begründet
Mi Johann Christian Jahn.
Gegenwärtig herausgegeben
Alfred Fleckeisen »»d Hermann Masins
Professor in Dresden Professor in Leipzig.
TlfiRCNDDREISZICtgTfiR JA AR« A MO.
Neunzigster Band.
Leipzig 1864.
Druck und Verlag von B. G. Teubner.
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Neue
JAHRBÜCHER
für
Philologie und Paedagogik.
Zweite Afcteflug.
Herausgegeben
Hermann Maiim.
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IE1ITBR JAIR«Aie 1S44
oder
der Jahaschen Jahrbücher für Philologie und Paedagogik
Neunzigster Band.
Leipzig
Druck und Verlag von B, O. Teubner.
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HAIVARD -CCUE«f LIBMIY
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Zweite Abteilung:
fttr Gymnasialpädagogik und die übrigen Lehrfächer,
mit Ausschlusz der classischen Philologie,
Iierattsgegebei tm Professor ttr. Rcritii Masiis.
1.
Zur Gymnasialreform.
Wenn ich anders recht sehe, so kann man die verschiedenen Klagen
über das Nachlassen unserer Gelehrtenschule in ihrer Wirksamkeit in den
wenigen Worten zusammenzufassen : das Gymnasium erzieht nicht mehr.
Es wird damit nicht gesagt werden, dasz aus keinem Gymnasium annoch
wolerzogene Schüler auf die Universität übertreten, was der Augenschein
widerlegt. Vielmehr wird der Sinn jener Klage der sein , dasz die Schule
an der groszen Mehrzahl ihrer Zöglinge hinsichtlich der Erziehung nicht
das leiste, was sie leisten könnte und sollte. Wenn z. B. über den Man-
gel an Wiszbegierde und über Gleichgültigkeit gegen die Wissenschaft an
und für sich geklagt wird , so wird das nur so viel heiszen : die grosze
Mehrzahl der Gymnasialschüler ist nicht so erzogen worden, dasz die
natürliche Trägheit durch Unterricht, Uebung und vernünftige Zucht über-
wunden und die Vernunft bei den Schülern soweit entwickelt und gestärkt
erschiene, als sie vordem Uebertritt auf die Universität entwickelt und
gestärkt werden könnte und sollte, und dasz der selbständige Wille zum
Studieren, das Verlangen nach Wahrheit in der Wissenschaft und die
Lust zu wissenschaftlichem Leben in ihnen belebt worden wäre. Nimmt
man die Klage in dieser Gestalt als wolbegründet , und den Uebelstand
als einen allgemeinen, allen unsern Gymnasien mehr oder weniger ge-
meinsamen an , so wird man beim Aufsuchen der Mittel , wodurch dem
Uebelstand begegnet werden könnte, nur auf die alleu Gymnasien gemein-
samen Ursachen des Uebelstandes zurückgehen müssen ; denn alles Per-
sönliche, alles Nachteilige, was in den Lehrern oder den Schülern in-
wohnt, entzieht sich ja überall jeder Berechnung, und es ist gleich
vergeblich, die schwächere oder herabgekommene Generalion wie das Un-
geschick oder den unverständigen Eifer der Lehrer anzuklagen. Wenn
auch Hunderten von Lehrern nachzuweisen wäre , dasz sie nicht Erzieher
seien, so wäre damit für die Erklärung der Sache nichts gewonnen und
keine Handhabe geboten, wodurch man des Uebels habhaft werden könnte.
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 1. 1
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2 Zur Gymnasialreform.
Geling! es dagegen, nachzuweisen, äasz das Gymnasium nach seinem der-
mal igen und durchschnittlichen^ Bestände gar nicht erziehen könne, so
wird daraus zu erkennen sein, wie und wo man die helfende Hand an-
legen solle.
Patrone der bestehenden Einrichtungen möchten zwar vielleicht gel-
lend machen, dasz wenigstens einzelne Lehrer durch diese Einrichtungen
nidil verhindert worden seien, eine bedeutende erzieherische Thätigkeit
zu üben, wie solche z. B. der sei. Nägelsbach unter meinen Augen ge-
übt hat. Es wird sich aber in allen solchen Fällen herausstellen , dasz
eine Thäligkeit dieser Art durch jene Einrichtungen nicht gefördert, son-
dern trotz der hinderlichen und unzweckmäszigen Einrichtungen ausge-
übt worden ist.
Die Vorschriften für den Gymnasialunterricht, nemlich über die
Zahl und Art der Lehrpensen wie über den Lehrgang, sind das Gemein-
st! mste unter unsern deutschen Gymnasien: und so wird allerdings die
Prags entstehen, ob die Anwendung dieser Vorschriften in ihrer Gesamt-
heit oder im Einzelnen die erzieherische Thätigkeit der Gymnasien beein-
trächtige ? Diese Frage kann meines Erachtens nur mit einem entschiede-
nen Ja beantwortet werden.
Das erste unsern Gymnasien gemeinsame Uebel ist der durchgängige
Zwang, welchen jene Vorschriften dem Schüler hinsichtlich der Benützung
der Lehrpensen auferlegen. Alle die Gelehrten, welche in Schulpforte
gebildet wurden, bevor der altberühmten Anstalt die Preuszische Uniform
übergeworfen wurde, haben es anerkannt, dasz dort bei allem Ungemache
des PeiinaHsmus und bei mangelhaftem Unterricht viel gearbeitet und viel
gelernt worden sei, weil die bestehende Einrichtung die Freiheit in der
Wald der Arbeit begünstigt und die traditionelle Sitte das freiwillige Ar-
beiten zur Ehrensache gemacht habe. Gearbeitet wird auch jetzt und
zwar viel, von Lehrern und von Schülern unserer Gelehrtenschulen: es
mag vorkommen, dasz die Schüler einer Classe an einem Tage vier Auf-
gaben für ebensoviele Lektionen des folgenden Tags zu machen haben;
es wird auch gearbeitet der Ehre zuliebe, nemlich von solchen, welche
dem Vater eine gute Censur vorlegen oder einen Preis erlangen wollen;
auch für nutzlich wird das Arbeiten erkannt, sofern es dem Schüler,
welcher auf die Universität übergehen will, das Maturitätszeugnis erwir-
ken kann. Aber all* diese Arbeit ist nicht höher anzuschlagen, als die
ihs Schustergeseilen, welcher die Woche über so vielo Paar Schuhe fertig
bringen musz, damit er am Ende derselhen seinen Lohn erhalte. Für die
Arbeit selbst, d. h. für die Gegenstände und für das Arbeiten kann der
Schüler nicht warm werden, weil er von einem Pensum zum andern eilen
musz, um fertig zu werden, und weil er niemals wählen darf, was er ar-
beiten wilL Es versteht sich von selbst, dasz jeder Lehranstalt je nach
dein ihr vorgesteckten Ziele eine gewisse Anzahl von Lehrfächern zuge-
wiesen und bestimmte Leistungen in der Behandlung derselben auferlegt
sein müssen, wonach nicht nur die Prüfungen der Abiturienten , sondern
auch die für das Aufrücken in den Classen nicht entbehrt werden können
Ein gewisser Zwang ist auch hier wegen der natürlichen Trägheit und
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Zur Gymnasialreform. 3
Arbeitsscheu liberal! geboten. Aber wenn der Schüler in fünf Lehr-
fächern etwas Bestimmtes leisten kann , darf man mit Gewiszheit anneh-
men, dasz er in zehn, — so viele hat die Preuszische Prima, — nicht
dasselbe leisten werde , wenn ihm die zweite Pentas mit derselben Ver-
bindlichkeit wie die erste auferlegt wird. Bei der ersten ist es, wenn
die Schulgesetzgeber ihre Aufgabe verstehen, wenigstens nicht unmöglich,
eine gewisse Harmonie oder eine organische Verbindung zwischen den
einzelnen Lehrpensen herzustellen und so dem Schüler zu gestatten,
oder ihn einzuladen , dasz er seine Aufmerksamkeit auf dieselbe fixiere,
für sein Denken eine bestimmte und durchgehende Richtung gewinne ;
und es bleibt ihm dabei noch freier Raum genug für die Wahl irgend
eines andern geistigen Stoffes , woran er sich vergnügen mag. Bei zehn
Lehrpensen ist ihm 'weder diese Wahl noch die Möglichkeit, sich in irgend
einer geistigen Thätigkeit zu fixieren, übrig gelassen. Wenn ich aber als
Lehrer meinen Schüler erziehen soll, so rausz ich mich bemühen, seinen
Willen dahin zu lenken , dasz er erstlich sich in seiner Thätigkeit fixiere,
und zweitens , dasz er gerne und mit eigenem Triebe arbeite.
Wir sind mit unsern Gymnasien dahin gekommen, dasz von dem-
jenigen, was der junge Mensch vor dem Uebertritt auf die Universität
lernen könnte, geradezu nichts seiner eignen Wahl und Lust überlassen
bleibt, sondern vielmehr alles gelehrt wird und zwar mit Zwang , und
auch dasjenige , was gar nicht durch Unterricht mitgeteilt werden kann,
wie alles Aesthetische. Sogar die Bekanntschaft mit der neuern poeti-
schen Nationallitteratur ist in unsern Schuten obligatorisch geworden,
wobei man nicht bedacht hat, dasz der Schüler, welcher sich Goethe
und Schiller durch den Lehrer musz erklären lassen und Haus-
arbeiten über Dichterwerke zu liefern hat, um so gewisser seine
Unterhaltung nicht bei diesen Dichtern, jedenfalls nicht bei ihren vor-
züglichsten Werken, und sicherlich bei andrer verwerflicher Poesie
suchen werde. Diesem Zwaug aber vollends die Teilnahme aller Schü-
ler am Turnen zu unterwerfen, die Turnstunden sogar zum Teile zwi-
schen den wissenschaftlichen Unterricht hineinzuschieben, erscheint mir
dem Princip und der wahrscheinlichsten Wirkung nach gleich verfehlt
und verwerflich; dem Princip nach auch darum, weil es als eine Con-
cession erscheint, welche einer politischen, alle wirkliche Bildung an«
feindenden Partei gemacht worden ist, die gar keinen Hehl daraus macht,
was sie mit diesem von ihr geforderten Zwange beabsichtige. Der Wir-
kung nach ist es gewis nicht einerlei , ob künftig der Secundaner unter
seinen Mitschülern der angesehenste ist — ducere classem, sagt Quin-
tilian, ionge pulcherrimum — welcher ein gutes Latein schreibt, oder
der, welcher den höchsten Sprung macht. Solange das Turnen freige-
geben war, konnte solch eine Collision der Meinungen in der Schule nicht
entstehen. Sobald der Staat den Schüler — und jene Partei fordert be-
reits das Turnenkönnen auch als Bedingung für die Anstellung der Lehrer
— zur Teilnahme am Turnen verpflichtet, macht er's für den Schüler und
den Lehrer zweifelhaft, ob das Latein oder das Turnen das Wichtigere
sei. Uebrigens wird der Zwang auch hier nicht anders wirken, als bei
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4 Zur Gymnasialreform.
manchen Lehrpensen, welche dem Gymnasium aufgedrungen sind. Ich
habe bei einer und derselben Lehranstalt das Ergebnis der freien und
der gezwungenen Teilnahme am Turnen erlebt : jene hat die besten Schü-
ler zu einer gewissen Selbständigkeit und zum Wetteifer ohne Eitelkeit
erweckt; diese hat das, was man jetzt erwartet, die Uebung in freiwilli-
ger Unterordnung etc., keineswegs geleistet, und die gezwungene Teil-
nahme hat von den Wirkungen der freiwilligen nichts übrig gelassen.
Wer die Aufgabe der Erziehung mit dem Gewöhnen zu erfüllen meint,
der kennt und achtet die menschliche Natur nicht. Der Zwang in dem
aber, was nur durch eigne Lust und freie Thätigkeit gedeihen kann, ist
ein Bekenntnis davon, dasz man nicht blosz das Kind, sondern auch den
Jüngling und den Mann durch Gewöhnung erziehen wolle.
Wenn es wenige in einem gewissen organischen Zusammenhang
stehende Lehrpensen sind, an denen ich meine Schüler übe, so werde ich
sie auch da erst zum Arbeiten gewöhnen müssen; aber bei wenigen Lehr-
pensen werde ich sie auch dazu gewöhnen können, und wenn sie, was
bei vernünftiger Behandlung der Sachen und der Personen nicht ausblei-
ben kann , nach und nach eine Wirkung des Unterrichts auf ihren Geist
verspüren, wenn* sie merken, dasz man hei mir etwas lerne, so werden
sie die Arbeit und durch die Arbeit das, worin sie zu arbeiten haben,
lieb gewinnen, für den Lehrer und für das, was gelehrt wird, sich er-
wärmen ; und diese Stimmung ist der Anfang der Selbständigkeit, die den
Kern und das Element des wissenschaftlichen und des Berufslebens aus-
macht. Wenn dagegen die Schüler in zehn verschiedenen Fächern sich
durch vier, fünf oder mehr Lehrer sollen unterrichten lassen, so werden
sie immer trag und verdrossen bleiben , so können sie sich für Jkeine Ar-
beit und keinen Lehrer erwärmen. Die Ahnung hiervon hat ohne Zweifel
die Anordnung der Glassenordinariate und die Gombination verschiedener
Fächer in Preuszen veranlaszt, was ein Notbehelf ist, so lange die Fächer
selbst in so ganz verschiedenen Richtungen auseinanderlaufen. Denn das
eben ist das zweite, grosze, unsern deutschen Gymnasien gemeinsame
Uebel : die grosze Zahl verschiedenartiger , im Gymnasium zusammenge-
häufter Lehrfächer, welche das einheitliche Arbeiten der Lehrer zum
Zwecke der Erziehung unmöglich machen. Der vor wenigen Jahren ver-
storbene Geh. Ralh Dr. Eil er s, welcher alle Grade der Berufsthätigkeit
für die Gymnasial schule bis zur höchsten , einem Schulmann erreichbaren
Stufe mit Auszeichnung durchgemacht hat, gibt in seiner Autobiogra-
phie*) eine Genesis dieses Uebels, welche, wie mir scheint, dessen Ent-
stehung selbst etwas einseitig auffaszt, den gegenwärtigen Bestand des-
selben aber nach untrüglicher Autopsie darstellt, ^bie Zahl derer, die
nicht studieren , aber eine dem neuen Zeitgeiste angemessene Bildung ha-
ben wollten, wuchs. Die Gymnasien konnten mit ihrer hergebrachten
Einrichtung und ihren pedantischen Lehrern den neuen Forderungen
nicht genügen. Es entstanden Privatanstalten mit anderen Lehrgegen-
ständen nnd ganz neuen Methoden* Die Raschheit, womit diese zehnmal
*) Meine Wanderung usw. II 250 f.
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Zur Gymnasialreform. 5
kostspieligeren Anstalten die' Jugend der höhern und höchsten Stände in
ihren Kreis zogen, beweist, wie allgemein das Bedürfnis einer andern
Bildungsweise gefühlt wurde. Die Gymnasien magerten ab, und die Re-
gierangen erkannten die Notwendigkeit einer Reform derselben. Hier be-
gann nun das verderblichste Uebel der Ueberfullung der Gymnasien mit
Lehrgegenständen , wozu dann noch, um die geistigen Kräfte der Jugend
vollends zu ersticken, unter dem Einflüsse sehr unpädagogischer Fachge-
lehrten auf unklare Schulverwaltungsbehörden die ganz unvernünftige
Steigerung der Forderungen in den einzelnen Lehrgegenständen hinzu-
kam, welche ihren Ausdruck in dem Abiturientenreglement gefunden hat.
Man wollte die bildende Kraft, welche in dem Studium der classischen
Sprachen liegt, zu einer noch höheren Potenz erheben und zugleich die
früher nur beiläufig betriebenen Lehrgegenstände, deutsche Sprache, Ma-
thematik, Physik, Geschichte und Geographie, sowie die neu hinzugekom-
menen, so steigern, wie es vernünftigerweise nur in besondern, für diese
Lehrgegenstände bestimmten Schulen hätte geschehen können. Auch Ja-
kob Grimm erklärt in der akademischen Rede über Schule, Universität,
Akademie diese immersteigende Verlegenheit bringende Ueberfullung der
Lehrgegenstände für ein wahres Unheil , und findet das den Eingang zur
Universität bedingende und erschwerende Abiturientenexamen verwerflich.'
Dasz aus dieser Häufung der Lehrpensen statt einheitlicher Einwirkung
auf die Erziehung der Jugend nur ein Zerflattern der Thätigkeit der Gym-
nasien und der jugendlichen Köpfe selbst hervorgehen müsse, bedarf
nach den vorliegenden und anerkannten Ergebnissen keines Beweises. Es
ist vielleicht nötiger zu zeigen, welche irrige, übrigens von Eilers
in der angezogenen Stelle schon angedeutete Vorstellung die Zerflatterung
sanktioniert und dem Gymnasium statt seines wirklichen Zieles ein Phan-
tom zum Ziele gesetzt hat. Eine Preuszische C. 0. vom 24. Octbr, 1837
sagt unter Anderem *) : 'Die Lehrgegenstände in den Gymnasien, nament-
lich die deutsche, lateinische und griechische Sprache, die Religionslehre,
die philosophische Propädeutik, die Mathematik nebst Physik und Natur-
beschreibung, die Geschichte und Geographie, sowie die technischen Fer-
tigkeilen des Schreibens, Zeichnens und Singens .... machen die Grund-
lage jeder höheren Bildung aus , und stehen zu dem Zwecke der Gym-
nasien in einem ebenso natürlichen als notwendigen Zusammenhange.
Die Erfahrung von Jahrhunderten und das Urteil der Sachverständigen,
auf deren Stimme ein vorzügliches Gewicht gelegt werden musz*, spricht
dafür , dasz gerade diese Lehrgengenstände vorzüglich geeignet sind , um
durch sie und an ihnen alle geistigen Kräfte zu wecken, zu entwickeln,
zu stärken, und der Jugend, wie es der Zweck der Gymnasien mit sich
bringt, zu einem gründlichen und gedeihlichen Studium der Wissenschaf-
ten die erforderliche, nicht blosz formelle, sondern auch materielle Vor-
bereitung und Befähigung zu geben. Ein gleiches läszt sich nicht von dem
Unterricht in der hebräischen .... und von der französischen Sprache
*) Li. v. JRönne : Das Unterrichtswesen des Preusz, Staats usw. Zwei-
ter Band. S. 145.
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Zur Gymnasialreform.
behaupten , welche ihre Erhebung zu einem Gegenstände des öffentlichen
Unterrichts nicht sowol ihrer inneren Vortrefflichkeit und der bildenden
Kraft ihres Baues, als der Rücksicht auf ihre Nützlichkeit für das prak-
tische Leben verdankt. Wenn indessen äuszere Gründe rathen, den Unter-
richt in der hebräischen und französischen Sprache auch noch ferner iu
den Gymnasien beizubehalten, so gehen dagegen jene obengedachten Lehr-
gegenstände aus dem innern Wesen der Gymnasien notwendig hervor.
Sie sind nicht willkürlich zusammengehäuft, vielmehr haben sie sich im
Laufe von Jahrhunderten als Glieder eines lebendigen Organismus entfaltet,
indem sie, mehr oder minder entwickelt, in den Gymnasien immer vorhan-
den waren. Es kann daher von diesen Lehrgegenständen auch keiner aus
dem in sich abgeschlossenen Kreise des Gymnasialunterrichts ohne wesent-
liche Gefährdung der Jugendbildung entfernt werden, und alle dahin zie-
lenden Vorschläge sind nach näherer Prüfung unzweckmäszig und unaus-
führbar erschienen.' Wenn seit dieser Verordnung von 1837 keines der
für das Preuszische Gymnasium vorgeschriebenen Lehrfächer aus dem in
sich abgeschlossenen Kreise des Unterrichts ohne wesentliche Gefahrdung
der Jugendbildung entfernt werden kann, so musz die Jugendbildung
durch die Gymnasien vor der Peststeilung dieses Kreises, zu der Zeit, da
die Gymnasien durchschnittlich nur viel Latein und wenig Griechisch,
auszerdem aber nur nach der besondern Neigung der Lehrer das eine
oder das andere jener Lehrfächer mit Ernst betrieben, äuszerst mangel-
haft und ungenügend gewesen sein. Dagegen sagt wieder Eilers von
dem Gymnasium zu Jever, wo er sich auf die Universitäts Studien vorbe-
reitete*): cEs waren an der ganzen Anstalt eigentlich nur drei wissen-
schaftlich gebildete Lehrer, und unter diesen keiner, der ein Preuszisches
Oberlehrerexamen nach heutigem Zuschnitt hätte machen können. Was
konnte mit solchen Kräften geleistet werden? Nichts als Griechisch und
Lateinisch, und doch mehr, als jetzt von unsern Gymnasien geleistet wird,
die mit scharf examinierten Professoren, Oberlehrern und Lehrern für
alle möglichen Fächer ausgerüstet sind .... Damals waren die weniger
gelehrten Philologen begeistert für die allen Classiker, und fanden ihre
gröste Freude in dem gemeinsamen Studium derselben mit ihren Schü-
lern ; jetzt sind die viel gelehrteren philologischen Lehrer matt, kleinlich,
ohne Geist und ohne Begeisterung für Jugendbildung , selbst gequält und
ihre Schüler quälend mit todten Formen. Ich habe seit dreiszig Jahren
— der Verf. schrieb so im J. 1856 — auf die traurigen Folgen unserer
theoretischen Schulgesetzgebung aufmerksam gemacht.' Es ist hier nicht
der Ort zu zeigen , wie willkürlich in der obigen Verordnung die Ge-
schichte der encyklopädischen Gestaltung des Gyranasialunterrichts ge-
macht ist. Wenn man seiner Zeit einfach bei der Frage geblieben wäre,
welcherlei Lernen und welche Uebungen vorangehen müsten, damit der
Schüler gehörig vorbereitet und ausgestattet auf die Universität übertre-
ten könne, so hätte es nicht gefehlt, dasz aus der Lehreinrichtung der
Gymnasien ein wirklicher und wirksamer Organismus geworden wäre : es
*) Meine Wanderung usw. I 60 f.
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Zur Gymnasialreform. 7
würden dem Gymnasiuni wenige und nur solche Lehrfächer zugeteilt
worden sein, welche, durch ihr Wesen und ihre Natur mit einander ver-
bunden, die Lehrer von selbst zu einheitlicher Thätigkeit angetrieben
hätten, während jetzt bei der Abwesenheit des organischen Zusammen-
hangs unter den Lehrfächern die Lehrer einer und derselbeu Anstalt, auch
wenn sie den redlichen Willen dazu haben, in keinerlei Weise zusammen-
wirken können. Es läszt sich die apodictische Sicherheit, womit in jener
Verordnung die Encyklopädie der Gymnasiallehrfächer als eine historisch
und psychologisch so gegebene und gewordene behauptet wird , kaum
anders erklären als dadurch , dasz sich in den Gedanken der Schutgesetz-
geber unter dem Einflüsse des Zeitgeistes, dem wir je nach vorwaltender
Stimmung alles Gute und alles Böse zuschreiben, neben und über dem
wirklichen und anerkannten Ziele des Gymnasialunterrichts die Vorstel-
lung eines geistigeren, aber nur in der Phantasie und im unklaren Ge-
rede der Menge vorhandenen Zieles festgesetzt, und dasz diese Vorstellung
eines imaginären Zieles die Vorstellung von dem realen Ziele des Gym-
nasialunterrichts im Laufe der Zeit mehr und mehr absorbiert habe.
Denn wie wäre es sonst zu erklären, dasz die genannten, in ihrem Wesen
so verschiedenen Disciplinen Glieder eines lebendigen Organismus heiszen,
dasz ihre Gesamtheit die Grundlage jeder höheren Bildung genannt wird?
Dieses Nebelbild eines Zieles, in welchem das wirkliche und faszbare Ziel
des Gymnasialunterrichts verschwommen ist, wird kein anderes sein, als
jene 'Gesamlbildung' welche in den Preuszischen Verordnungen zwar nur
hier und da und wie im Vorübergehen genannt wird, aber auch unter
den anderen, sonst öfters gebrauchten Ausdrucken , wie 'höhere, allge-
mein menschliche Bildung, möglichst gleichmäszige Bildung, wissenschaft-
liche und sittliche Ausbildung' verstanden zu werden scheint. Die erste
Frage lautet so: was musz der Schüler gelernt und geübt haben, um für
die Universität gehörig ausgestattet zu sein? Die zweite aber: wie ent-
steht die Gesamtbildung, welche der Schüler gewonnen haben musz, be-
vor er zur Universität übertritt? Ebendamit war allem und jedem Wis-
sen und Können die Pforte des Gymnasiums aufgethan. Bildung ist ganz
gewis der Zweck alles Unterrichtens, sei's in der Dorfschule oder auf der
Universität, und dieser edle und grosze Zweck musz auch für den Gym-
nasialunterricht den modus abgeben. 'Aber eben, weil Bildung der Zweck
alles Unterrichtens ist, kann sie nicht das Ziel für irgend eine Art von
Unterrichtsanstalten sein. Niemand kann sagen : wer das und das gelernt
und geübt hat, der ist gebildet. Also kann ich auch nicht von irgend
einem Stadium der Bildung reden, von dem aus zu bestimmen wäre, was
alles zur Bildung erforderlich sei. Die Gesamtbildung als Ziel des Gym-
nasialunlerrichts gedacht, ist das Phantom, welches die Stelle des realen
Zieles der Gymnasien usurpiert.
Hat die Vorstellung von den Erfordernissen der Bildung in das Gym-
nasium die multa hereingebracht, welche das multum verschlingen, so
hat sie ebendamit dasselbe seines Charakters als Schule entkleidet, hat es
zu vornehm werden lassen, als dasz es noch die Erziehung als seine erste
und wichtigste Aufgabe behandeln könnte ; und das ist das dritte, grosze
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8 Zur Gymnasialreform.
unsern Gymnasien gemeinsame Uebel. Dieses erscheint vielfältig als Con-
cretum in der Person solcher Lehrer oberer Glassen, welche die Anfangs-
grunde und deren Lehrer gering schätzen und überhaupt nur den Sachen,
nicht den Personen einen Werth zuerkennen , oder auch und fast noch
öfter in der Person solcher Lehrer unterer Classen , welche ihre eigene
Aufgabe verachten und meinen, zu gut für elementarisches Lehren zu sein.
Dasz solche Einbildungen den Mann unfähig machen, mit andern zum
Zwecke der Bildung zusammenzuarbeiten, bedarf keines Beweises: der
Lehrer bleibt dadurch von seinen Collegen innerlich ebenso geschieden,
wie von seinen Schillern. Es ist aber nicht überall die Individualität des
Mannes, was die Gemeinschaft mit Collegen und Schülern abschneidet,
sondern die von jener Meinung über die Bildung dictierten Lehrpläne tra-
gen meines Erachten s den gröszeren Teil der Schuld daran, dasz der Leh-
rer je mit seinem Fach isoliert bleibt, statt sich und sein Fach als Teil
eines Ganzen zu betrachten ; dasz er da , wo noch immer am Legen und
Befestigen des Grundes zu arbeiten wäre, den Hochbau emsig betreibt,
und das, was durch fleiszige Uebung zum Verständnis gebracht werden
sollte, nur dem Gedächtnis beizubringen, mehr den Schein eines Wissens
für die Prüfungen als ein lebendiges Wissen zum Zwecke der Bildung zu
erzielen bemüht ist. Gleichwie diese Lehrpläne die Leistungen des Gym-
nasiums als ein in sich abgeschlossenes , vielmehr abzuschlieszendes Gan-
zes betrachten — 'das Gymnasium hat seinen Zweck in sich,5 sagt ein-
mal Ludwig Giesebrecht — so werden durch die gegebenen Vor-
schriften auch die einzelnen Disciplinen in den Augen der Lehrer mit
Notwendigkeit lauter einzelne, unverbunden nebeneinander stehende
Ganze , welche nicht etwa die Elemente zu Wissenschaften , sondern die
Wissenschaften selbst vorstellen. So will zwar eine Preuszische Instruc-
tion für den geschichtlich-geographischen Unterricht vom J. 1830*), dasz
die Schule der Universität sowol das Eindringen in den Zusammenhang
des Ganzen, als in viele einzelne Teile der Geschichte überlasse. Nichts-
destoweniger heiszt es unmittelbar vorher: *Die oberste Stufe (des ge-
schichtlichen Unterrichts in den höhern Gymnasialclassen) kann und musz
der Geschichte als Wissenschaft, die ihren Zweck in ihrem eigenem Werthe
hat, schon mehr Recht angedeihen lassen, und da diese wissenschaftliche
Würde keine andere ist, als dasz das Leben der Menschheit in seinem all-
mählichen Werden, und die Offenbarung des höheren Planes der Vor-
sehung in demselben gezeigt werde, so kann sich auch die Schule der
Pflicht nicht eutschlagen, den Geist, der in der Entwicklung der Mensch-
heit immer klarer und umfassender hervortritt, auch dem Geiste des
Jünglings erkennbar zu machen.' Wo Geschichte nach dieser Anweisung
gelehrt wird , da steht das Pensum doch gewis nicht als ein TTpöc Ti,
sondern als Ding für sich in der Lehranstalt : der Lehrer musz glauben,
nicht blosz ein in sich abgeschlossenes Ganzes von Geschichte, sondern
auch noch die Philosophie der Geschichte seinen Schülern mitzuteilen.
Gleich grosz erscheint die wissenschaftliche Spannung und Steigerung,
*) Bei Rönne S. 230 f.
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Zur Gymnasialreform. 9
wenn in der schon angeführten Pr. C. 0. von 1837 als 'rällilich' erkannt
wird 'das Naturlehen , das in den vier untern Classen von Stufe zu Stufe
entwickelt worden , nochmals in seinen wichtigsten Gestaltungen den
Schülern der zweiten Glasse vorüberzuführen, und ihnen die Idee dessel-
ben zum Bewustsein zu bringen'. Man mochte die Lehrer der Mathematik
darum beneiden, dasz ihr Pensum eine so poetische Fassung ihrer Auf-
gabe von selbst abstöszt und dasz sie sich selbst das hoc age immer zu
Gemüte führen müssen. Dagegen scheint in vielen Gymnasien — ich
selbst habe keine Beobachtung der Art gemacht — das aliud agere nach
allen drei Dimensionen in allzuwissenschaftlicher Behandlung des Unter-
richts in den beiden alten , zum Teil auch der deutschen Sprache einhei-
misch geworden zu sein, wodurch denn , wo dies in die Sitte der Anstalt
übergegangen ist, das Gymnasium auch für sein eigentliches und speci-
tisches Lehrfach eine Schule zu sein aufgehört hat.
Das vierte unsern Gymnasien gemeinsame Uebel geht aus den drei
ersten hervor , ist aber ein sozusagen selbständiges und das gröste Uebcl
dadurch geworden, dasz es die edelste Eigenschaft des deutschen Stam-
mes , den Sinn für die Wahrheit , in den Gemütern derjenigen , welche
künftighin unter dem Volke als Leiter und Vorbilder stehen sollen , mehr
und mehr abzuschwächen droht. Wir sagen unsern Schülern freilich
nicht, amare heisze hassen und niger heisze weisz, vielmehr bemühen
wir uns, dieselben mit einer Menge von richtigen Notizen in allen Fächern
auszustatten; aber wir pflegen mit allem Unterrichten den Schein statt
der Wahrheit, versprechen, was niemand leisten kann, z. B. Vaterlands-
liebe durch Kenntnis unserer Nationallitteratur einzupflanzen , oder was
der Lehrer gewöhnlicher Art an Schülern eines gewissen Alters und mitt-
lerer Begabung niemals leisten kann , wie die Bildung durch den Ge-
schiebtunterricht; versprechen, allen Schülern der gleichen Katego rieen
beizubringen, was nur wenige begreifen können, wie die Mathematik,
und versprechen, durch eine Vielheit verschiedenartiger Kenntnisse in
den Köpfen unserer Schüler eine Bildung zusammenzusetzen, welche nie-
mals und nirgends vorhanden und sogar unmöglich ist. Wir rühmen
vorder Welt die bildende Kraft unseres vornehmsten Lehrfachs, und be-
handeln dasselbe so , dasz der Schüler von dieser bildenden Kraft nichts
bei sich selbst wahrnimmt. Teils gebotene Einrichtungen , teils pädago-
gische Theorieen, welche der Eitelkeit des Lehrers schmeicheln, und ihn
des ernstlichen Arbeitens entheben, haben zusammen mit dem Nachah-
mungstriebe und der durchgehenden Neigung unserer Generation, sich
je in seiner Weise gehen zu lassen , eine Halbheit des Thuns in unsere
Gelehrtenschule hereingebracht , welche im nachwachsenden Geschlechte
keine Liebe zur Wahrheit der Wissenschaft und keine Wahrhaftigkeit im
Leben zu erwecken vermag.
Quibusdam aegrotis fit gratulatio , quum se aegros esse censuerunt.
Wenn nun die vorbenannten vier Uebel dem Gymnasium nicht ge-
statten, seine Schüler zu erziehen, so wird dem vierten derselben, nem-
lich der Pflege des Scheines statt der Wahrheit, nicht unmittelbar und
nicht im Allgemeinen begegnet werden können. Wenn z. B. ein ganzes
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10 Zur Gymnasialreform.
Lehrercollegium zu der Einsicht käme, dasz die Halbheit in seinem Thun
und die Pflege des Scheins im Unterrichten ihm den Zugang zu den Ge-
mulem der Schüler versperre, und die Pflicht zum Erziehen ihm aus den
Augen gerückt habe, so müsten eben die Glieder dieses Colleghims sich
in dorn guten Vorsatze, ihre Sachen anders und besser anzugreifen, wech-
selseitig zu ermuntern und zu bestärken bedacht sein, würden aber ohne
Zweifel alle zusammen bald erkennen, dasz die bestehenden Leiteinrich-
tungen der Ausführung ihrer guten Vorsätze unübersteigliche Hindernisse
in den Weg legen. Wider das vierte der gemeinsamen Uebel kann nur
durch Paränese gestritten werden. Die drei ersten Uebel aber fordern
die helfende Hand der Behörden, welche über der Gelehrtenschule stehen!
es isi Sache der einzelnen Anstalt und des einzelnen Lehrers, erziehen
?m wollen, aber Pflicht der Vorgesetzten, dafür zu sorgen, dasz die An-
stalt und der Lehrer erziehen könne. Eilers gibt freilich für Preuszen
geringe Hoffnung, indem er sagt*): 'Zur Vertheidigung des Vielerlei und
der gesteigerten Forderungen im Einzelnen hat man auf die Vervollkomm-
nung der Lehrmethoden und der Lehrmittel hingewiesen. Wie schlimm
es damit in der Wirklichkeit aussieht, wissen alle einsichtigen Schul-
rälhe; aber die, welche die Macht etwa in Händen hätten, es zu ändern,
wissen es nicht und können es nicht wissen. Ich wenigstens habe kei-
nen Präsidenten und keinen Minister kennen gelernt, der etwas Rechtes
vom Schulwesen verstanden hätte.5 So schrieb Eil er s im J. 1857. Wenn
»bftr in Preuszen nicht geholfen wird, so ist für uns Andere nicht eben
viel zu erwarten. Indessen sind im März d. J. die ungestümen Forde-
rungen der gleichbaldigen Vorlegung eines Unterrichtsgesetzes, welche
von den Schulmeistern und deren demagogisierenden Patronen in der
IV. DefMitiertenkammer ausgegangen, für die Volksschule dasselbe Quod-
libet beabsichtigten , welches in die Gelehrtenschule eingedrungen ist,
dort mit so ruhiger Entschiedenheit zurückgewiesen worden, dasz man
Wöl erkennt, wie bei der Behörde, von welcher das allerdings höchst
wünsehenswerthe und notwendige Unterrichtsgesetz ausgehen musz , ein
ganz anderer Geist walte, als derjenige, welcher die oben angezogenen
\> rnnt tiungen der dreisziger Jahre dicliert hat. Ich glaube dasz Hegel
selbiiU dessen Einflusz (allerdings neben der Autorität Fr. A. Wolfs)
überall aus diesen Verordnungen hervorblickt (der jedoch die Neigung
/.um wissenschaftlichen Aufwärtsschrauben des Gymnasial Unterrichts aus
meiner und meiner Vaterstadt mitgenommen hatte), jetzt gewis zu ernst-
lu'.hor Beschränkung und Herabslinnnung der Aufgaben der Gelehrten-
sehule rathen würde.
Vor allen Dingen wird es nötig sein, aus dem Gymnasium wieder
eine Schule zu machen, und nicht so, dasz etwa von den sechs, resp.
zehn Klassen die vier, resp. sechs untern die Schule, und die zwei, resp.
vjei' «liem eine halbe Universität vorstellen, sondern alle Klassen ohne
Unterschied den Charakter der Schule, d. h. einer solchen Unterrichts-
.üislall tragen und aufweisen, deren Aufgabe es ist, die Jugend durch
*} Meine Wanderung usw. II 252.
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Zur Gymnasialreform. 1 1
Unterricht und beim Unterricht zu erziehen, oder mit anderen Worten,
so zu unterrichten und zu gewöhnen, dasz hei den Schülern des Gymna-
siums durch den Unterricht selbst und durch die persönliche Einwirkung
des Lehrers die Vernunft soweit entwickelt und gekräftigt werde, als
dieselbe bis zum Uebertritt auf die Universität erstarken und entwickelt
werden kann. Angenommen, es wurde jetzt irgendwo in Deutschland
eine neue Instruction für Gymnasiallehrer vorbereitet, so mästen die be-
rufeneu Aesymneten des Schulwesens einen Paragraphen dieses Inhalts
zum ersten und grundlegenden machen, um zu wissen, was sie wollen,
und ebendann t ihre eigene Phantasie zu bändigen , damit sie in der Wahl
der Unterrichtsfächer nicht wieder von der Nützlichkeit und Preiswürdig-
keit der Sachen, d. h. der Disciplinen, sondern lediglich von dem Bedürf-
nis der Personen, d. h. der Lehrer und der Schüler ausgehen. Denn
jenes verrückt auch für die Volksschule den Standpunkt der Beurteilung
und des Entschlusses, wie er neuerdings in Baden verschoben worden
ist und jetzt eben in meiner Heimat verschoben wird; und zwar ist es
das Träumen von der Bildung, z. B. von der Bildung zur Vaterlandsliebe,
oder gar von der Bildung für banausische Thäligkeit, was solch eine
Verschiebung des Standpunkts uns als ein Fortschreiten erscheinen läszt.
Ist der Paragraph, welcher das Gymnasium dazu bestimmt, die Jugend
durch Unterricht zu erziehen, für die Schulgesetzgeber unentbehrlich, so
ist er auch der wichtigste für die Vorsteher und Lehrer selbst, da er mit
dem Wesen der Lehranstalt zugleich die Methode in der Behandlung der
Sachen und der Personen ausdrückt, und namentlich den Vorsteher nicht
zweifelhaft über die Art der Leistungen bleiben läszt, die er von den
Lehrern zu verlangen hat. So wie es jetzt steht, kann ein Lehrer sich
dem Vorsteher gegenüber auf die Ansprüche der Wissenschaft oder auch
auf seine Pflicht, die Schüler durch das Examen durchzubringen, berufen,
um der moralischen Anstrengung des Erziehens überhoben zu sein. Mir
wenigstens wäre es im Rectorat ungemein erwünscht gewesen, mit Hin-
deutung auf solch einen § 1 den einen und den andern von denjenigen,
mit welchen ich zu arbeiten hatte, ermahnen zu dürfen, dasz er, um er-
ziehen zu können, ein ganz anderer Mensch werden müste ; ein Zuspruch,
zu welchem jetzt meines Wissens nicht ein einziger der Hunderte von
Rectoren, die es in der Welt gibt, auch nur von ferne berechtigt ist.
Bedürfen wir dieses ersten grundlegenden Paragraphen zur Feststellung
der allgemeinen Methode für den Unterricht, so ist derselbe nicht minder
notwendig zur Herstellung und Erhaltung des einheitlichen Arbeitens der
Vorsteher mit den Lehrern und der Lehrer unter- und miteinander.
Mag auch immerhin , wie das in den Preuszischen Instructionen mit
Ernst betont wird, den Lehrercollegien ans Herz gelegt werden, dasz
nicht das Wissen an sich Werth habe, sondern nur die Frucht, welche
dem Geiste und Gcmütc des Schülers daraus erwachse: das Beibringen
des Wissens bleibt doch die nächste greifbare Aufgabe des Lehrers, und
der Wetteifer im Beibringen des Wissens musz die Arbeiter an dem glei-
chen Werke nicht einigen sondern auseinanderhalten, wenn nicht die
Thäligkeit jedes einzelnen sittlich geregelt ist. Eil er s sagt aus seiner
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12 Zur Gymnasialreform.
Erfahrung heraus *) : 'Um die den einzelnen Lehrgegensländen gesteckten
Ziele zu erreichen, muste man Fachlehrer anstellen und überhaupt die
Zahl der Lehrer vermehren. Da wurde denn das Uebel erst recht schlimm.
Jeder Fachlehrer nahm Zeit und Kraft seiner Schüler für seinen Gegen-
stand in Anspruch, und sie übten, indem sie untereinander in Streit ge-
rieften, jeder für sich nach Kräften jenen Geist und Leben tödtenden
Druck auf die Jugend, worüber sich die Aeltern mit so vielem Recht seit
Jahren beschwert haben und noch beschweren. Die classischen Philolo-
gen, welche Jacob Grimm vornehmer, streitsüchtiger und gegen Feh-
ler unbarmherziger nennt, als alle andern Fachlehrer, wollten sich ihre
alte Herschaft und ihre alte Ehre nicht nehmen lassen; die Mathematiker,
ebenso hochmütig und streitsüchtig, machten die ihnen im Abilurienten-
reglement auferlegte Pflicht geltend , und die übrigen thaten auch das Ih-
rige, um mit Ehren bestehen zu können. Es gibt nur wenige Lehrer-
conferenzen, wo es friedlich und mit harmonischer Berücksichtigung der
Leistungsfähigkeit der Schüler zugeht. Der Eine ruft: Griechisch und
Lateinisch! Der Andere: Mathematik und Physik! Der Dritte: Geschichte
und Geographie! Der Vierte: Deutsche Sprache und Nibelungen! Der
Fünfte: Neuere Sprachen! Der Sechste: Philosophische Propädeutik! und
dann will doch auch der Geistliche für den Religionsunterricht sein Recht.
So von verschiedenen Seiten her angerufen bleibt dem Director kaum et-
was anderes übrig, als die geistige' und körperliche Gesundheit der Ju-
gend den Drängern preiszugeben.' Dasz aus dem Lehrer nicht ein Drän-
ger werde, das eben kann nur eine die Thätigkeit jedes einzelnen regelnde
und leitende Idee bewirken, und weder die Wissenschaft noch die Bildung
kann diese Idee sein, sondern nur die Erziehung, weil in der Wissen-
schaft an sich nichts inwohnt, was dem selbstsüchtigen Streben einen
Zaum anlegte , und weil die Vorstellungen von der Bildung bei verschie-
denen Menschen verschieden sind.
Wenn es der Typus der Schule ist, unter welchen das Gymnasium
zur Heilung der dasselbe schwächenden und bedrängenden Uebel zu aller-
erst wieder gestellt werden musz, so tritt als das zunächst und nicht
minder Notwendige die Verpflichtung der leitenden Behörden hervor, den
christlichen Charakter dieser Schule und ebendamit den christlichen Cha-
rakter der Erziehung durch den Unterricht in derselben mit Entschieden-
heit anzuerkennen und zu erklären.
Ich zweifle nicht im geringsten daran , dasz einer Behörde , welche
sich so weit vorwagte, nicht nur aus der Mitte der Ständeversammlungen,
sondern auch von Seiten einer Anzahl von Lehrern der heftigste Wider-
stand entgegenkommen würde. Man würde in einer solchen Erklärung
einen gewaltsamen Angriff auf die Gewissensfreiheit des Lehrers erken-
nen, würde mit einem Scheine von Berechtigung zur höchsten Entrüstung
fragen: ob denn der Lehrer zur Heuchelei verpflichtet werden, ob er
künftighin einen Glauben mit dem Munde bekennen solle, den er eben ein-
mal im Herzen nicht habe? Und damit würden solche Frager jene Erklä-
*\ Meine Wanderung usw. II 251 f.
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Zur Gymnasialreform, 13
rung gleich von vorn herein zu wiederlegen und zu entkräften meinen.
Aber gerade die Allgemeinheit des Widerwillens gegen das Christentum
beweist, wie not es thue, dasz der Staat selbst sich mit Ernst und Mut
dazu bekenne, ungefähr so, wie er in deu Fall kommen kann, gegenüber
von heiszblütigen Parteien, die ihr Gerede für des Volkes Stimme halten,
mit Ernst und Mut zu erklären, dasz die Verfassung als beschworncr
Vertrag zwischen Regierung und Volk nach wie vor bestehe. Es müssen
die, welche im Regimente sitzen, in der christlichen Religion das religiöse
Denken und Leben überhaupt , wie in der für ein bestimmtes Land vor-
handenen Verfassung das constitutionelle Leben an uod für sich erhalten,
um der Anarchie des Materialismus, welchem die Wissenschaft allzuleicht
dienstbar wird, und der Anarchie der brutalen Gewalt mit Erfolg zu be-
gegnen. Es ist aber Anarchie, wenn auch noch nicht offene Empörung
überall vorhanden, wo der Untergeordnete darum gehorchen soll, weil es
dem Uebergeordneten einfällt zu sagen: tel est mon plaisir! Denn in
jedem Verhätnis der Unterordnung ist nur zweierlei möglich : der Ucber-
geordnete verlangt Folgeleistung entweder nach Willkür oder mit Be-
rufung auf das Gesetz. Wenn das Erste, so erzieht er nicht, sondern
drückt und erbittert; wenn das Zweite, so kann der Nachdruck der Er-
mahnung und Anweisung nur davon ausgehen, dasz er selbst als ein Ge-
horchender vor denen steht, welche die Ermahnung oder Anweisung
empfangen ; denn auszerdem macht sein Gebieten wieder den Eindruck der
Willkür. Ich habe als Schulvorsteher kaum jemals etwas Peinlicheres
erlebt, als da ein höchst begabter Lehrer zu mir sagte: f Warum müssen
diese Schüler mir gehorchen ? Weil ich jeden zu Boden schlagen kann,
der mir den Gehorsam verweigert.' Dasz dieser kein Erzieher war, ver-
steht sich von selbst: den Eindruck der Furcht und des Schreckens, den
er machen wollte, hat er wirklich gemacht. Der Lehrer, welcher erziehen
will, braucht nicht den Namen Gottes seinen Schüler gegenüber täglich
und stündlich im Munde zu führen ; aber wenn er selbst der Herr und
Gebieter über den Willen seiner Schüler, und nicht vielmehr selbst zum
Dienen und Gehorsam berufen zu sein glaubt, und nicht in seinen Gedan-
ken den Willen Gottes obenanstellt, so kann und will er nicht erziehen.
Derselbe Lehrer, welcher in der Kraft seines Armes die Gewähr dafür
erkannte, dasz ihm gehorcht werden müsse, verhöhnte mich in einer
Lehrerconferenz, als ich gesagt hatte, dies und das sei unsre Pflicht, mit
den Worten: 'Pflicht? Pflicht? Was wollen Sie denn mit der Pflicht? Ein
jeder fhut , was er nicht lassen kann.' Die Andern stimmten in die Ver-
höhnung nicht ein, aber auch uicht für meine entschiedene Behauptung,
dasz der Lehrer seine Pflichten habe. Es gibt keine Bändigung für den
unreinen Eigenwillen, als die freie Unterwerfung unter den Willen Got-
tes , wie dieser in der Offenbarung verkündigt ist.
Wenn die Schulgesetzgebung ihrer unerläszlichen Verpflichtung ge-
mäsz den christlichen Charakter der Gelehrtenschule bekennt und erklärt,
so übt sie keinen Glaubenszwang aus, so wenig als sie einen moralischen
Zwang dadurch ausübt, dasz sie dem Lehrer empfiehlt, au der eigenen
Fortbildung in seinem Fach zu arbeiten und seinen Schülern mit dem
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14 Zur Gymnasialreform.
Vorbild des Fleiszes und guter Sitten vorzuleuchten. Sie redet in beiden
Fällen zum Gewissen des Lehrers, und protestiert mit solch einer Erklä-
rung gegen das vierte und gröste der oben namhaft gemachten Uebel,
die Halbheit und das Scheinwesen im Unterrichten. Möglicherweise
bringt die Erklärung des christlichen Charakters der Gelehrtenschule mit
solch einer Protestation schon einen Anfang positiver Wirkungen hervor,
da eine doch gewis überall vorhandene Minderheit christlich gesinnter
Lehrer dadurch ermutigt werden wird, unter ihren Millehrern eine freie
Stimme für das Wahre und Rechte zu erheben, und namentlich vom Unter-
richt im Lateinischen und Griechischen jenen Wust abzustreifen /der in
manchen Gymnasien die edle, natürliche Gestalt dieser Disciplin überdeckt.
Aber die eigentliche Hilfe gegen das vierte Uebel kann doch nur dadurch
geschafft werden, dasz man den drei ersten mit nachdrücklichem Ernste
begegnet.
Der Anfang hierzu wird da gemacht werden, wo die Leiter der
Schulangelegenheiten ihre dritte maszgebende Erklärung dahin abgehen,
dasz das Ziel des Gymnasiums die Vorbereitung des Schülers auf die Uni-
versität sei, und dasz die ganze Lehreinrichtung des Gymnasiums, wie
auch die Behandlung des gesamten Unterrichts nach dieser Bestimmung
des Gymnasiums, Vorbereitungsanstalt für die Universität zu sein, be-
messen werden solle. Wird das Ziel des Gymnasiums nicht in solcher
Weise fixiert, so beschleicht uns wieder über Nacht jener Traum von der
Vielseitigkeit, der alle Menschen und alle Lehranstalten verdunsten läszt,
welche aus dem Traume Wirklichkeit zu machen suchen; Wenn das
Gymnasium nicht diese Vorbereitungsanstalt und nur diese sein soll, so
begehren nicht nur 'künftige Schreiber, Posthalter, Gutsbesitzer, Fabrik-
herrn, Kaufleute, Schiffskapitäne, Gewerbetreibende mancherlei Art' Ein-
lasz in seine Pforten, und nicht nur den Einlasz, sondern auch, dasz man
ihnen die Gerichte auftrage, welche ihrem Magen und Gaumen zusagen.
L. Giesebrecht, aus dessen Damaris*) ich die obige Aufzählung
entnehme, sagt unmittelbar darauf: *So entsenden unsere Gymnasien nicht
alle ihre Schüler, nicht einmal deren Mehrzahl auf die Universitäten, kön-
nen mithin auch nicht die Bestimmung haben, nurStudentenzu bil-
den.' Sunt deorum templa, sagt Cicero, ergo sunt dii. Richtiger als
Giesebrecht sagt ein Preuszisches promemoria vom J. 1831**): fDie
Gymnasien können und sollen nicht Allen Alles sein.9 Es ist nur zu be-
klagen, dasz sie mit den oben aufgezählten Erfordernissen der 'hohem
Bildung' jedenfalls allzuvielen allzuviel sein wollten. Solange die Gym-
nasien die einzigen Lehranstalten waren, in denen mehr als in den Volks-
schulen gelernt werden konnte, ist die Erweiterung des Gymnasiallehr- J[
plans über das Bedürfnis künftiger Studierender hinaus vielleicht einiger- >
maszen gerechtfertigt gewesen. Jetzt ist solch eine Erweiterung eine ^
nicht mehr zu verantwortende Einräumung, welche der von der Bildung j
träumenden und schwatzenden Welt gemacht wird, und ebendamit ein \
*) Damaris von 1861, S. 386.
**) v. Rönne, das Unterrichtswesen usw. S. 141,
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Zur Gymnasialreform. 15
Abbruch und eine Beeinträchtigung der Gelehrsamkeit, aus welcher die
wirkliche Bildung erwachsen soll. Denn auch die Universitäten , welche
mehr nnd mehr von dem Schicksale bedroht sind, Haufen von Special«
schulen zu werden, sollten alles aufbieten, ihren Charakter, die Gelehr-
samkeit, gegen die Annexionsgelüste der 'höhern Bildung' zu wahren
und aufrecht und rein zu erhalten. Sie sollten von ihrem Rechte, Stamm*
sitze der Gelehrsamkeit zu sein, kein Jota fahren lassen, und ebenso das
io der Natur der Dinge liegende , in Deutschland aber ihnen entzogene
Recht, in Sachen der Vorbereitung auf die Universität nicht nur ein Wort
mit-, sondern das entscheidende und maszgebende Wort auszusprechen,
gegenüber der Bureaukralie sich vindicieren , welche für gelehrte Theolo-
gie und Jurisprudenz gerade so viel Achtung empfindet, als für die Poli-
zeiwissenschaft. Ich glaube, dasz das dritte Postulat für das Gymnasium
als Gelehrtenschule noch zu unbestimmt gefaszt wäre, wenn man als Ziel
desselben nur überhaupt die Vorbereitung für die Universität bezeichnete;
dasz vielmehr der dritte Grundsalz so lauten müsse: Das Gymnasium ist
diejenige Lehranstalt, durch welche die für Universitätsstudien bestimmte
Jugend so erzogen und geistig ausgestattet wird, dasz sie für die gelehr-
ten Studien auf der Universität so empfänglich und so befähigt sei , als
der junge Mann bis zur Vollendung des 18. bis 20. Jahres werden kann.
Wie durch Anwendung dieser drei Grundsätze die zur Notwendig-
keit gewordene Umwandlung des Gymnasiums in der Weise erzielt wer-
den könne, dasz diese Lehranstalt wieder in Stand gesetzt werde, ihre
Schuler zu erziehen, werde ich anderweitig zu zeigen versuchen, indem
ich hier noch das Schema einer Neugestaltung des Gymnasial Unterrichts
anfüge. Zur Begründung des Vorschlags, die Teilnahme an dem Unter-
richt in der Planimetrie, Stereometrie und Trigonometrie der Wahl des
Schülers anheimzugeben , hebe ich noch das Bekenntnis aus , welches Dr.
Eil er s über dieses Unterrichtsfach abgelegt hat. Mein sei. Freund,
Gustav Seh w ab, hat mir erzählt, es habe sein Vater, ein zu seiner Zeit
als gelehrter Philosoph wolbekannter Mann, sich viele Mühe gegeben, ihn
in die Mathematik einzuführen , sei aber von dem Versuche abgestanden,
weil er bei dem Sohne durchaus keine Neigung für dieses Fach habe er-
wecken können , indem er gesagt : 'Du würdest es , mein Sohn , am Ende
wol begreifen; aber der Gewinn davon würde in keinem Verhältnis zu
der Mühe und Zeit stehen, welche darauf verwandt werden müste.'
Eilers sagt*): *So wie ich, haben wahrscheinlich auch die meisten
Directoren mit einem bösen Conflict zwischen Mathematik und Philologie
zu kämpfen gehabt. Der Grund liegt in der Natur der Sache. Sprach-
kenntnis und Mathematik gehen in der Schule nicht gleichen Schritt und
nehmen verschiedene Geisteskräfte in Anspruch. Mathematik kann nur
von Lection zu Lection in ununterbrochen fortschreitender Klarheit des
Verständnisses gelehrt werden , während es bei den Sprachen mehr auf
*) Meine Wanderung usw. II 173 f.
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16 Zur Gymnasialreform.
etil Ansammeln aus einem vorliegenden ganz fertigen Stoffe ankommt, so
(lasfc, was auf einer Stufe des Unterrichts etwa versäumt oder wieder ver-
gessen ist , auf der andern leicht nachgeholt werden kann. Dazu kommt,
dasz Talente für Sprachen, Geschichte, Geographie, viel allgemeiner sind,
ali Talente für Mathematik. Lebhafte, flatterhafte Knaben, die selten ihre
Aufmerksamkeit dauernd auf einen Gegenstand zu richten vermögen,
kaoameit oft zu Sprachkennlnissen, man weisz nicht wie; in der Mathe-
matik, wo Verstand und Urteilskraft thätig sein müssen, bringt man sie
ufl mit allen Mitteln der Güte und der Strenge keinen Schritt vorwärts.
Dagegen findet man Knaben, deren geistige Thätigkeiten mehr nach innen
gerichtet sind, die träumerisch aussehen, weil sie jeden Faden vermöge
ihrer geistigen Natur bis zu Ende ausspinnen müssen — Knaben dieser
Art machen oft überraschende Forlschritte in der Mathematik , während
ihnen in den Sprachen Alles wirre und bunt durcheinanderläuft. Nun
werden aber die Bildungsstufen und Ciasseneinteilungen unserer Gymna-
sien nach Sprachkenntnissen bemessen. Da tritt denn oft der Fall ein,
dasz ein Schüler in den Sprachen z. B. vollkommen reif für Tertia ist,
iilier in d_er Mathematik nicht einmal den Forderungen der Quarta ganz
genügen kann. Wollte man diesen Schüler doch nach Tertia setzen , so
wäre er für die Mathematik verloren; wollte man ihn in Quarta zurück-
luillcn, so würde man zu Grunde richten, was im erfreulichen Gedeihen
ist. Dies ist der leidige Conflict, der nicht selten noch dadurch geschärft
wird, dasz der mathematische Lehrer kein richtiges Urteil für die philo-
logischen Wissenschaften, der philologische kein richtiges für die mathe-
matischen hat. Dem Uebel, welches störender in das ganze Unterrichts-
wesen der Gymnasien eingreift, als man gewöhnlich glaubt, läszt sich nur
dadurch ausweichen, dasz man besondere Curse für den mathemalischen
Unterricht einrichtet. In der Geschichte und Geographie kommt es bei
Versetzungen weniger auf scharfe Abgrenzungen an , weil auch in diesen
Wissenschaften sich Gleichartiges zu Gleichartigem fügt, und oft der Fall
ein tri Li, dasz ein Schüler, der in Tertia zu den letzten gehörte, in Prima
in erster Reihe steht.'
]>as Gymnasium hat zu erziehen:
I) als Schule:
1) durch Gewöhnung,
ü) zum äuszern Anstand,
I>) zum Gehorsam,
f ) zum Arbeiten,
i) zur Uebung der Fertigkeiten: Lesen, Schreiben, Rechnen;
2) durch Unterricht in der Religion.
II) als Gelehrtenschule, durch einen auf die gelehrten Universitätsstudien
vorbereitenden Unterricht, welcher teils obligatorisch, teils facultativ ist.
lt Der obligatorische Unterricht besteht:
ü) in der Anleitung zu — und in der Uebung einer Wissenschaft,
nemlich der Wissenschaft der Sprache, welche Anleitung und
Uebung geschieht
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Zur Gymnasialreform. 17
gl) durch das Lesen und Erklären der classischen Autoren,
ß) durch Reproduction und Production in der deutschen und latei-
nischen, resp. griechischen Sprache ;
b) in der Einführung des Schülers in die Kenntnis des innern und
äuszern Lebens der beiden alten Culturvölker, unter gelegentlicher
Beiziehung andrer Eigentümlichkeiten der alten Welt, welche Ein-
fuhrung aber nur sporadisch beim Lesen der Alten geschieht;
c) durch gelegentliche Vergleichung der alten Idiome mit der Mutter-
sprache , welche Vergleichung immer von neuem und von selbst
durch das Uebersetzen geschieht;
d) durch Beiziehung einer andern Sprache, zunächst der französi-
schen, welche nicht als lebende, sondern wie eine todte Sprache
behandelt wird;
e) in der Anleitung zur Kenntnis der allgemeinen Geschichte, wie
auch der Geographie.
2) Der facultative Unterricht , an welchem nicht vor Vollendung der
Tertia , und auch da noch nur unter festen Bedingungen Anteil ge-
nommen werden darf, besteht in der zum obligatorischen Unterricht
hinzutretenden Beschäftigung der zu den einzelnen Fächern sich
freiwillig anmeldenden Schüler, welche zu diesen Fächern vorwie-
gende und entschiedene Anlage und Neigung blicken lassen und sich
damit auf die vorläufig ausersehenen Facultätsstudien vorbereiten
diese der freien Wahl anzubietenden Lehrfächer sind :
Piaaiinetrie , Stereometrie und Trigonometrie,
Botanisches , Zoologisches,
Mineralogisches , Physikalisches,
Die Sprache des alten und des neuen Testaments,
Schwerere lateinische und griechische Autoren mit Einführung in die
Metrik,
Mittelhochdeutsche Dichterwerke und deutsche Prosa des 15. und 16.
Jahrhunderts,
Römische Staatsaltertümer,
Philosophische Propädeutik nach dem von Ludwig Giesebrecht in der
Damaris von 1861 gegebenen Schema.
Tübingen. Dr. C. L. Roth.
2t. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 1. 2
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18 Fr. Lübker: der Entwickelungsgang des evang. höheren Schulwesens.
Der Entwickelungsgang des evangelischen höheren
Schulwesens.
rti-Uulrede am Geburtstage des Landesherrn, gehalten im Gymnasium
zu Parchim 1869 von Dr. Friedrich Lübker.
Der Geburtstag eines Fürsten ist für sein Land nicht blosz ein Tag
des freudigen Dankes, sondern auch der ernsten Mahnung. Man kann
seine Wünsche und Gebete für den geliebten Herrn des Landes nicht
sammeln, ohne dasz man die Gegenwart betrachtet, die Zukunft erwägt,
und das einzig an der Hand der Erfahrung. Eine Schule aber, die mit
Hirer Arbeit dem werdenden Geschlechte dienen will, bringt die Opfer
ihres Dankes und ihrer Liebe gern in den Zeugnissen ihrer Wirksamkeit
und schämet sich auch ihrer Schwachheit nicht, indem Bewustsein, dasz
noch lange nicht erschienen ist, was da werden soll, und dasz unter der
ihincl des himmlischen Pflegers auch das kleine Samenkorn und die un-
scheinbare Wurzel zu einem kräftigen Baume gedeihen kann. Und wenn
die Schule e£den Eltern ihrer Zöglinge und allen Freunden einer geistig
sich heranbildenden und sittlich sich entwickelnden Jugend, die bei sol-
chem Anlasse einmal wieder in ihre Bäume treten, gern recht klar und
vernehmlich sagen möchte, dasz sie auch eine Mithelferin ihrer
Freude zu sein wünscht, so bekennt sie damit in aller Demut und Be-
tfeiieidenheit, dasz sie nicht meint, wenn auch unter dem gnädigen Bei-
stände Gottes, allein die Zukunft ihrer Schüler, ihr Gedeihen und ihre
ftiilwickelung maszgebend und beherschend bestimmen zu können, dasz
sie vielmehr einen groszen Teil solcher Wirksamkeit anderen Einflüssen
anheim geben musz und selbst den ihr eigentümlich angewiesenen Bereich
nicht ohne mannichfaltige und starke Einwirkungen von auszen beherschen
kann. Wenn daher eine Schule einen langen Zeilraum ihres Wirkens
durchmessen und im unvermeidlichen Wechsel der Verhältnisse einen
Sdiatz reichhaltiger Erfahrung gesammelt hat, dann musz sie um so mehr
auch Zeugnis davon ablegen können, welchen Einflüssen sie ausgesetzt
gewesen ist und wie sie die Bichtungen der Zeit und die Bewegungen der
Geis I er und die Strömungen der Ideen hat an sich erfahren und tra-
gen müssen, wie sie von denselben ebenso oft behindert als gefördert
worden ist.
Diese unsere Schule feiert nach fünf Jahren das Jubelfest ihres drei-
hundertjährigeiT Bestehens. Und noch älter hinauf geht das Andenken
einer ob auch noch nicht von dem Geiste evangelischer Wahrheit und
Freiheit erleuchteten und durchdrungenen, aber doch verwandten oder
gleichen Thätigkeit in der höhern Unterweisung der Jugend. Zwar läszt
sich diese vielleicht nicht, wenigstens in nachweislichen Zügen nicht,
liis im jenen grauen Tagen dieser alten und geschichtlich ehrwürdigen
Staill zurückführen , wo drüben noch vom Bleicherberge her die Fürsten-
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Fr. Lubker: der Entwicklungsgang des evang. höheren Schulwesens. 19
bürg auf die nahe Stadt und den fernen Wald hinblickte und in einem
ernsten Kampfe , der den langwierigen Hader der beiden Nachbarländer
Mecklenburg und Pommern schlichten sollte , die Waffen unter ihren jetzt
unheimlich verfallenen Hauern klirrten. Aber doch schon in jene Zeit,
wo mit dem Aufblühen des Städtewesens auch in diesem Lande eine leben*
digere Pflege des höheren Jugendunterrichts eintrat , reicht eine solche
Kunde an diesem Orte hinauf, und schon im Anfange des 14. Jahrhunderts
unter der Regierung des thatkräftigen und kriegsmutigen mecklenburgi-
schen Heinrich 's desLöwen wird ein Name genannt, dem die Leitung
dieses höhern Unterrichts hier am Orte musz anvertraut gewesen sein.
Aber so lange die heil. Sohrift im wesentlichen als ein verschlossenes
Buch behandelt, so lange kein Zugang zu den Geistesschätzen des gebil-
deten Altertums eröffnet, so lange die Wissenschaft nicht als die freie
und reiche Spenderin der Güter und Gaben zur Erkenntnis aller Wahr-
heit gewürdigt wurde : so lange konnte von einem höhern , geistig leben-
digen, innerlich sich entwickelnden und fortschreitenden Jugendunterrichte
uicht die Rede sein. Als aber die Herzöge Johann Albrecht und
Georg in eigener Person im Kampfe für die Sache protestantischer Lehr-
freiheit ihr Leben eingesetzt, und der letztere vor Frankfurt a. M. den
Heldentod gefunden halte, da suchte der ruhmbedeckt in sein Vaterland
heimkehrende Johann Albrecht in der vertragsmäszigen Verbindung mit
talerzog e Ulrich auch in dieser Stadt eine Stätte d e r Jugendbil-
dung m pflanzen , die nach Luther 's Wort und Willen so hart über den
Sprachen, wie über dem Evangelium halten sollte. Und eine lange Reihe
von Namen betbätigt uns, auch wo wir sonst eine eingehendere Kunde
nicht besitzen , den unausgesetzten Betrieb der Studien , ohne welche
weder wissenschaftliche Bildung erlangt , noch die künftige Leitung des
Volkes in allen höheren Beziehungen des Lebens vorbereitet werden kann.
Und wenn diese Namen uns auch durch den raschen Wechsel derselben,
meist nacji dem Zwischenraum weniger Jahre, ein Zeugnis überliefern,
(iasz der Dienst der Schule mit dem der Kirche in einem nahen Zusammen-
hange gestanden haben und der Uebergang aus dem einen in den andern
ein ganz gewöhnlicher gewesen sein musz, so finden wir doch auch
solche darunter, die in verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten , in der
Theologie wie in der Geschichte, einen guten Klang auch in weiterer Um-
gebung gehabt haben, wodurch selbst der Uebergang zu dem akademi-
schen Lehramt an der vaterländischen Hochschule vermittelt worden ist.
Aber wie verborgen und still auch , und darum im Ganzen nur um so viel
schöner, das Wirken dieser Bildungsstätte hier gewesen sein mag: sie
k so wenig wie irgend eine andere im gesamten deutschen Vaterlande
(feilmächtigen Einflüssen der Zeit, den wechselnden Erscheinun-
gen der Ideen und Ansichten , den geistigen Strömungen überhaupt , die
sich an alle Phasen und Wendepunkte auch der äuszeren oder politischen
Geschicke anzureihen pflegen, in irgend, einer Weise sich entziehen können,
und wir dürfen annehmen, auch wenn uns die nachweisbaren Züge und
Belege nicht immer zu Gebote stehn , dasz dies gesamte Leben der deut-
schen Schulwelt so reich und fruchtbar, so mahnend und anziehend in
2*
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20 Fr. Lubker: der Entwicklungsgang des evang. höheren Schulwesens.
seinen -Einzelheiten , auch in diesem kleineren Kreise sich offenbart haben
müsse.
Welche Menge von groszarligen Einwirkungen aber, welcher Strom
< [ -i hütternder Ereignisse oder niederbeugender Verhältnisse hat sich nicht
des deutschen Lebens während dieser letzten dreihundert Jahre bemäch-
tigt! Das Ringen der Kirche nach evangelischer Freiheit auch unter wildem
Sturm und schwerem Druck, die Arbeit der Wissenschaft in der Erkennt-
nis der Wahrheit, die wenn sie auch manchmal ihr eigen Werk zerstört,
•lu.li am Ende immer wieder aufbauen musz, die schöpferische Macht
einer verjüngten lebensfrischen Litteratur, die aus dem Marke des classi-
schen Altertums neue Nahrung sog, ja auch die Veränderungen der Staa-
tenverhältnisse und die Entwickelung des bürgerlichen Lebens, wodurch
im sendjährige Einigungen zerrissen und neue Staaten mit jugendlicher
Lebenskraft gegründet wurden: dieses alles muste mehr oder weniger
mittelbar oder unmittelbar einen mächtigen Einflusz auch auf das Gebiet
Oben, wo die Jugend mit der edelsten Nahrung des Geistes gerüstet und
ffu den Dienst des öffentlichen Lebens erzogen wird. Heben wir aus dem
ganzen unerschöpflichen Reichtum, der sich hier uns darbietet, nur einige
der wichtigsten Puncte und glänzendsten Seiten hervor.
Freilich am liebsten möchten wir da verweilen , wo der Anfang und
Ursprung dieser ganzen Entwickelung zu suchen ist. Die e v a n g e 1 i s c h e
höhere Schule ist wesentlich oder ausschliesziich eine Tochter der
Reformation, auf ihrem Grunde ruht sie bis auf den heutigen Tag und
wird sie ruhen bleiben, so lange sie das ist, was sie heiszt. Und wie
einfach war ihre erste Aufgabe, wie köstlich ihr Streben, wie herrlich
ihr vorgestecktes Ziel ! Man wollte einzig und aHein dazu befähigen, durch
das Verständnis des Evangeliums vom Dienste menschlicher Satzungen frei
und durch Ausübung des allgemeinen prieslerlichen Berufs ein Kind Got-
Lcs zu werden. Die gewöhnlichen Stadtschulen jenerZeit, wie
deren eine auch diese unsrige gewesen ist, hatten nur die einfachen Auf-
gaben und Lehrgegenstände : Lesen und Schreiben, Latein und Christentum,
sie hatten ein einziges und festes Ziel vor Augen, das, je klarer und be-
stimmter, je schöner und erwünschter es dastand, desto leichter erreicht
werden konnte. Nur die höheren Stadtschulen, deren Zahl auf wenige
bevorzugte Städte beschränkt blieb, nahmen Griechisch und Hebräisch,
Mathematik und Philosophie in ihren Lehrplan auf, setzten sich aber da-
mit sofort auch dem Vorwurfe und der vielfach nur zu sehr begründeten
Klage aus, dasz sie diesen ausgedehuten Umfang durch eine gleich aus-
gedehnte Kraft und Tüchtigkeit in Bezug auf die Herschaft über den Stoff
und seine Behandlung keineswegs zu bewältigen im Stande wären. Und
je weniger die hinzugekommene grosze Aufgabe in einem innerlichen Zu-
sammenhange mit jener ersten einfachen stand, wenn man nicht die beiden
Grundsprachen der heiligen Schrift als unerläszlich zu ihrem Verständnisse
für einen jeden Christen selbst neben der deutschen , in der dieselbe durch
LuLher's Geist und Mut wie neugeboren war, hätte bezeichnen wollen,
desto unwahrscheinlicher muste die Erreichung eines Zieles dastehn , an
welchem noch eine viel später folgende Zeit mit weit gröszer gewordenen
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Fr. Lobt er: der Entwicklungsgang des* evang. höheren Schulwesens« 21
Mitteln eine schwere Arbeit gefunden hat. Aber ein unendlich reicher
Segen muste ja doch schon durch die gewöhnlichen Anstalten hervorge-
rufen werden , deren in kurzem fast keine irgendwie nennenswerthe Stadt
in Deutschland mehr entbehrte. Was bis dahin der Vorzug eines über-
wiegenden Standes, was der Glanz der Höfe und der Schmuck der K us-
erwählten im Gebiete geistigen Lebens gewesen war , wurde nunmehr,
da sich das Evangelium in seiner Reinheit und Ursprünglichkeit beurkun-
dete und aufs neue wieder bei den Armen und Niederen seine Statte suchte,
ein Geraeingutdes Volkes. Zugleich aber war auf diesem Wege das
eigenste, tiefste und wahrste Bedürfnis des Volkes befriedigt; denn das
Verlangen, das ein jeglicher, bewust oder unbewust, lauter oder stiller
in seinem innersten Busen hegt und trägt, die Stimme in ihm, die Ant-
wort begehrt auf seine starke und lebendige Frage, die Lösung, die er
für alle Rälhsel seines Lebens sucht, werden ihm einzig und allein auf
diesem Wege gegeben und befriedigt. Die Glaubensthat der Reformato-
ren öffnet den rechten Weg für ein jedes Gewissen, das seinen Frieden
sucht; der Unterricht, der diesen Weg der Menschenseelen zeigt, will sie
weder auf das Prokrustesbett abstracter Theorieen und allgemeiner Nasz-
nahmen spannen, noch sie nach einer Schablone selig machen, sondern
steigt mit rastloser, entsagungsvoller Thätigkeil in die Individualität jeder
zu unterweisenden Seele hinab.
So lange aber die Schrift und die Sprachen als reformatorische Mittel
genügen, um allem falschen Wesen der römischen Kirche einen festen
Damm entgegenzusetzen, so lange war eben damit auch ein vollständig
oe/r/edigender Schatz der besten Mittel gegeben , mit welchen die Kräfte
des Geistes zu nähren und zu befördern sind.
Aber freilich konnte dieser scheinbar friedselige Zustand nicht immer
bleiben. Dem jungen Leben der evangelischen Kirche musten innere und
äaszere, verborgene und offenbare Feinde entgegentreten, zu deren Be-
kämpfung, wenn sie eine wahrhaft wirksame und siegreiche werden sollte,
vor allen Dingen schon die Jugend in tfiesem kräftigsten und bildsamsten
Alter zu rüsten war. Zu den inneren und verborgenen Feinden, die frei-
lich zugleich die Hebel der vermehrten Kräfte und die Gegenstände der
erobernden und überwältigenden Macht des Evangeliums waren , rechne
ich die Entfaltung aller Wissenschaften, die, nicht ohne Zuthun der mit
der Reformation engverbundenen classischen Studien , so neu belebt und
so bedeutend erweitert wurden ; zu den äuszeren aber diejenigen Bestre-
bungen , mit welchen die römische Kirche die groszartigen Wirkungen
der Reformation zu paralysiren oder zu vernichten bemüht war.
Nur in einem gewissen Sinne aber kann die Wissenschaft in Feind-
schaft zum Evangelium stehen; wenn sie recht gelehrt und betrieben
wird , führet sie zu Gott hin , und wenn das Evangelium seiner göttlichen
Bestimmung nach ein Sauerteig ist, musz alles, was von weltlicher Er^
kenntnis in irgend einem Gebiete gewonnen wird , von seinem höheren
und belebenden Geiste geheiligt und durchdrungen werden. Aber diese
Aufgabe ist zu allen Zeiten keine leichte , sie war es vor allen in jenem
Zeiträume nicht, in welchem wie urplötzlich die Brunnen der Geisterwelt
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22 Fr. Lübker : der Entwicklungsgang des evang. höheren Schulwesens.
sich öffneten und in nie gekanntem Masze die Ströme des Wissens und
der Bildung, hier aus der, wie es schien, schon abgestorbenen allen,
dort aus der so eben entdeckten, zum. Leben erwachten neuen Welt, vor
allen Dingen über das Herz Europas , unser deutsches Vaterland sich er-
gossen. Da galt es , die rechten Mittel zu wählen und diese Mittel in sei-
nem Geiste und Wesen persönlich zu vereinigen , um die Masse des tag-
lich wachsenden Stoffes zu beherschen; da muste es sich bald zeigen,
dasz weit mehr als auf den Umfang des Wissens auf die Sicherheit und
Lebendigkeit der Auffassung und Mitteilung alles ankomme, dasz darum
die ganze Persönlichkeit des Lehrers dazu gehöre, um auf eine wahrhaft
segensreiche und eindringliche Weise zu wirken. Die Macht der fr e i en
Persönlichkeit wurde durch das Beispiel ausgezeichneter Männer be-
stätigt , die grade dadurch in weiten Kreisen eine grosze Anziehungskraft
übten und tausende von Schülern zu gleicher Zeit um sich versammelten.
Wurde so die Schule zu Straszburg die blühendste der damaligen Welt,
besucht aus allen Ständen der bürgerlichen Gesellschaft, wie fast aus
allen Ländern Europa's, aus Portugal und Polen, aus Italien und Däne-
mark , aus Spanien und England , aus Frankreich und Deutschland , so
blühten in nicht geringerer, wenn auch in anderer Weise ähnliche * An-
stalten in Schlesien und Sachsen und in anderen deutschen Ländern auf.
Wir aber beschauen noch heute mit der lebendigsten Freude das Bild jener
Zeit und jener Männer, die den Schatz der edelsten Bildung durch die
groszartige persönliche Wirkung ihres Geistes und Charakters einer zahl-
reichen empfänglichen Jugend überlieferten , die den Sinn und die Richtung
des ganzen Strebens vollständig und glücklich beherschten und aus diesem
Grunde sittlich wie geistig die schönsten Wirkungen erzielten.
Diese Gewalt einer lehrenden Persönlichkeit und einer indi-
viduellenEinwirkung auf die jugendlichen Gemüter entging dem auf-
merksamen und scharfberechnenden Beobachter innerhalb der römischen
Kirche nicht, und die Diener und Nachfolger des lgnaz von Loyola suchten
mit ungeheurer Anstrengung sich der Jugenderziehung und Seelsorge nicht
minder wie des Einflusses auf die Gabinette und der Missionswirksam keil
zu bemächtigen. Der Wetteifer , der so auf beiden Seiten sich entzündete,
muste, so verschieden auch der Ausgangspunct in der protestantischen
und in der römischen Auffassung war, doch am Ende auf verwandte Er-
gebnisse führen, in den Jesuitenschulen durfte alles gelehrt werden , was
nicht gegen die Interessen der Hierarchie verstiesz; in den protestanti-
schen Schulen hielt man die Strenge der kirchlichen Lehre fest , und beide
ahnten nicht, dasz unter dem starren Mechanismus und der todten Form
das reiche Leben entschwinde , dessen Blüte die Reformation in dem Evan-
gelium und in den Sprachen gefunden und enthüllt hatte. Jenen engen
Zusammenhang zwischen de/* göttlichen Gnade und der menschlichen Frei-
heit, den Luther wieder neu erlebt und gelehrt hatte, konnten selbst die
Gegner der Jesuiten, die Jansenisten, bei aller Tiefe ihrer sittlichen Prin-
cipien nicht finden; statt auf den weiten Markt des Lebens hinauszutreten,
zogen sie sich mit ihrer mehr contemplativen Wirksamkeit auf die Ge-
müter in die Stille klösterlicher Einsamkeit zurück.
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Fr. Lübker: der Entwicklungsgang des evang. höheren Schulwesens. 23
Das Reformationszeitalter war geeignet gewesen, mit seinem schöpfe-
rischen Geiste und lebenweckenden Streben tüchtige Charaktere und Per-
sönlichkeiten hervorzurufen; die Zeit des 30jdhrigen Krieges war einer
gleichen Hervorbringung durchaus ungünstig. War zuvor der Lehrer
als die wahrhaft lebendige Methode erkannt worden, so suchte man nun
dieselbe auszerhalb seiner in einer objectiven Norm und Behandlung. Was
aber der Geist verloren hat, das kann der Buchstabe nimmermehr ersetzen.
Da griff man denn nach den verschiedenartigsten Mitteln und Hülfen ; die
einen wollten lieber mit menschlichen , die andern mit göttlichen Kräften
an den Seelen der Jugend arbeiten. Humanisten und Pietisten, Philan-
ihropisten und Eklektiker stritten sich um den Vorrang , wie um jeden
Fuszbreit Landes auf dem Boden ihrer gemeinsamen Wirksamkeit. Wer
von ihnen am Ende der Sieger geblieben sei, ist eine Frage, deren Beant-
wortung wir uns wol durch die unverkennbare Einseitigkeit aller dieser
Theorieen und Systeme überhoben sehen dürfen. Es waren Abstractionen
und Ideen , die , auch wenn sie eine Zeitlang mit der eisernsten Gonse-
quenz festgehalten werden , doch vor der Macht des Lebens und der Tha-
ten verschwinden und oft plötzlich und schroff ihr eigenes Dasein zer-
stören. Die mächtigen Ereignisse und Bewegungen des 18. Jahrhunderts
auf dem Gebiete des Staatslebens wie der Litteratur wirkten gesunder und
heubringender als alle Theorieen. Was aber war denn in diesen Bewe -
güngea was da förderte und tiefere Impulse gab für eine gesunde Rich-
tung auf diesem Gebiete des Geistes? was waren die Gefahren und Kämpfe,
die daraus erwuchsen? Was andrerseits die Momente und Quellen, durch
welche das sonst erstarrende Leben wieder erquickt und befruchtet ward?
Wir dürfen es uns nicht verhehlen : die politische Seite der Refor-
mation hatte sich überwiegender geltend gemacht und war durch den
groszen König eines groszen protestantischen Staats mit aller ihrer Ein-
seitigkeit zu einer abgeschlossenen Thatsache geworden. Die dadurch
unwillkürlich geförderte Richtung , die in ihrem letzten Ziele und Aus-
gangspunkte weder deutsch noch evangelisch war, konnte nicht anders
als einen Gegenkampf nationalen und christlichen Ernstes erwecken, der
früher oder später das ganze Leben ergreifen und durchdringen, daher
auch mit seinem unausbleiblichen Erfolg oder Rückschlag die Schule be-
rühren muste. Jener religiös und politisch bis auf seine höchste Spitze
getriebene Geist, der in Frankreich seinen Ursprung und seine blutige
Entwickelung , in der Knechtung und der Wiedererhebung Deutschlands
seinen Lohn nicht minder als sein Grab gefunden, hatte nach verschiede-
nen Seiten hin mittelbar und unmittelbar auch für das höhere Schulwesen
seine gewaltigen Folgen. Der durch Begünstigung des Fremden ver-
absäumte oder durch die Gewalt des Eroberers unterdrückte nationale
Geist des deutschen Volkes machte sein Recht und seine Kraft aufs neue
geltend und verjüngte sich zu einer frischen Blüte goldener Zeit; die ver-
weltlichende Herschaft des Staates über die Kirche gab das religiöse Ele-
ment der Jugenderziehung der Willkür menschlicher Ideen und armselig
sler Leerheit preis, während sie die Kirche mit neuem Weckerufe trieb,
ihres heiligen Werkes mit gottgegebener innerer Macht zu pflegen. Hatte
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24 Fr. Lübker: der Entwickelungsgang des evang. höheren Schulwesens.
sich die schöpferische Kraft des nationalen Geistes auf alles geworfen,
was aus irgend einer Zeit das Gepräge classischer Vollendung
an sich hat, muste auch der Humanismus eine Selbstgenügsamkeit ge-
winnen, die vor dem eigenen Schatze jedes andere Gut geringschätzen
lernte, das nicht die Vollkommenheit der künstlerischen Form an seiner
Stirne trug. Das Uebermasz und die Einseitigkeit dieser Wege reicht
noch bis in unsere, der Aelteren, Jugendzeit hinein. Ein verlorenes Gut
ist aber immer nicht, wenn man seinen Verlust auch endlich fühlt, so
rasch wieder gewonnen. Und unser Volk vor allen läszt viel von seinem
Gut sich rauben , ehe es wach und aufmerksam wird. Erst wenn es den
Hufschlag des Feindes auf der Brust fühlt, ermannt der alte Löwe sich
und schüttelt seine Mähnen und blickt mit finsterer Miene ihm ins Ange-
sicht. Es liegt aber ein reicher Schatz auf dem tiefen Grunde unseres
Volks, aus seinen Schachten ist das edle Erz hervorgeholt: o dasz wir
und unsere Enkel es zu heben nie vergessen noch verlernen möchten!
Wir stehen blind und leer, kalt und undankbar da, wenn wir sol-
chen Lehren der Geschichte gegenüber nicht Ernst mit dem Vorsatze ma-
chen wollten , es uns das Beste an unserem Mut und Eifer , an unserer
Arbeit und Anstrengung kosten zu lassen, um unsere Jugend, das nach
uns folgende Geschlecht , damit zu nähren und zu schmücken. Die Schatz-
kammern , aus denen wir nehmen sollen , sind weit geöffnet : die ewige
Quelle der Wahrheit sprudelt lebensfrisch mit immer junger Kraft und
reichet jedem , der daraus schöpfen will mit dem reinen Sinne gläubigen
Verlangens , das Wasser des Lebens umsonst. Die Musterbilder des Schö-
nen stehen aus alter wie aus neuer Zeit, aus dem Leben unseres eigenen
Volkes in seiner frühsten Jugend wie in seinem reifsten Mannesalter , in
klaren Gestalten vor uns , wir haben horchen gelernt auf die Stimmen
der Völker in ihren Liedern und Sagen , auf die Gesetze der Natur in ihrem
fruchtbaren und groszartigen Zusammenhange. Die Verirrungen in der
Pflege Einer Seelenkraft vor den andern liegen mit warnender Mahnung
in langer Beihenfolge vor uns: nicht das Gedächtnis noch der Verstand,
nicht der Wille noch das Gemüt dürfen in der Pflege höherer Jugend-
bildung verabsäumt oder vergessen yverden. Und wenn wir dennoch
immer wieder, nachdem das düstere Grau der Theorie und das falsche
Gelb der Reflexion schon oft als giftig für die Jugend verworfen und be-
seitigt worden ist, zu dem Verlassenen zurückkehren wollen, dann machen
wir uns des Segens unserer eigenen Arbeit quitt. Aber wenn wir's als
unsere Pflicht erkannt haben, die Jugend selber zu den reinen Bildern
der Wahrheit und der Schönheit hinzuführen und uns dann nicht davor-
zustellen, als hätten dieselben nicht reines Licht genug an sich, sondern
könnten nur durch den Spiegel unseres Geistes erkannt werden: o dann
wollen wir auch mit Manneskraft darnach ringen, dasz wir allem fal-
schen Intellectualismus, aller einseitigen Ausbildung des bloszen
Erkennens, wie und woher sie auch kommen möge, wehren und die ju-
gendlichen Seelen gesund und frisch in der reinen Quelle baden mögen,
mit welcher Gott den wahrhaftigen Menschengeist zu aller Zeit geträn-
ket hat.
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Fr. Kohlrausch: Erinnerungen aus meinem Leben. 25
Solche Gelübde, in treuer Liebe zu dem anvertrauten Werke dar-
gebracht, sind die schönsten Opfer ehrfurchtsvollen Dankes, die wir dem
erhabenen Fürsten dieses Landes und Schutzherrn dieser Schule an seinem
Ehrentage darzubringen im Stande sind. Nichts Erfreulicheres könnten
wir erleben, als wenn der, dem wir aus der Jugend die vor uns sitzt,
ein treues und williges , ein tüchtiges und wohlbereitetes Geschlecht vor*
führen sollen , an jedem Tage hineinblicken könnte in unser Werk und
sähe in allen Zellen Bienenemsigkeit und von unserer Arbeit honigsüsze
Frucht. Weil Gott der Herr zu aller fröhlichen Arbeit seinen Segen gibt,
so können wir's, wenn wir's mit rechter Lust und Freude thun. Und
wenn wir ihn täglich in tiefer Demut und fesler Zuversicht um diesen
Geist der Freudigkeit und des gelrosten Mutes in unserem wahrlich nicht
leichten Berufe bitten, dann stehen wir im wahren Sinn in unserer Arbeit
und dürfen vor und mit unserer Jugend auch betende Herzen und Hände
für unsern Landesherrn zu ihm erheben.
3.
Armierungen aus meinem Leben von Fr. Kohlrausch, königl.
tatfioe. General- Schuldirector. Mit dem Bildnisse des Ver-
fassers. Hannover, Hahnsche Hof buchhandlung. 1863. Xu.
472 S. gr. 8.
Dem Namen des ehrwürdigen Mannes , welcher in diesem Buche den
Gang seines Lebens und Wirkens uns darstellt , ist für alle Zeit in der
Geschichte des deutschen Unterrichts wesens eine Ehreustelle gesichert,
und kaum dürfte unter den vielen , welche in diesem ^Zeitalter der Staats -
schule' berufen gewesen sind , ordnend und gestaltend das Unterrichts-
wesen weiterer Kreise zu bestimmen, noch einer gefunden werden, der
auf gleiche Weise bis in ein selten erreichtes Greisenalter für ein edles
und besonnenes Streben immer auch den rechten Platz gefunden , immer
auch die entsprechende Unterstützung und die gehofften Erfolge sich ge-
sichert hätte. Ein wahrhaft gluckliches Berufsleben haben wir vor uns.
Von einem engen Kreise aus entwickelt es sich in immer ausgedehntere
Kreise hinein , und so , dasz die in dem einen Kreise treu und eifrig aus-
gerichtete Arbeit jedesmal wieder gerade die angemessenste Vorbereitung
lffid Ausrüstung gibt für den zunächst weitern Kreis, der denn auch ohne
äüszerliehe Mühe und Bewerbung dem tüchtigen Manne sich aufthut.
Dabei ergeben sich ihm im Fortgange seines Lebens zahlreiche, für Geist
und Gemüt überaus anregende Berührungen oder Verbindungen mit aus-
gezeichneten Persönlichkeiten , durch welche er ganz unmittelbar auch in
die groszen geistigen Bewegungen des Jahrhunderts sich hineingezogen
sieht und wiederum für das eigene Schaffen und Bauen neue Gesichtspunkte,
feste Normen , nachhaltige Ermunterungen empfängt.
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26 Fr. Kohlrausch: Erinnerungen aus meinem Leben.
Die eingehende Darstellung eines solchen Lebens und Wirkens musz
allen , welche die Bedeutung eines solchen Mannes zu würdigen im Stande
sind, in hohem Grade anziehend und erfreulich sein. Was bisher davon
den ferner Stehenden bekannt war, beschränkte sich so ziemlich auf das-
jenige , was über Kohlrausch selbst im Conversationslexikon der Gegen-
wart Bd. III und über das hannoversche Schulwesen in Schmid's Encyklo-
pädie des Erziehungs- und UnterrichtswTesens (s. v. Hannover) und in der
gehaltreichen Schrift *Das höhere Schulwesen des Königreichs Hannover
seit seiner Organisation im J. 1830' (H. 1855) mitgeteilt ist. Jetzt aber
haben wir eine Selbstbiographie vor uns, deren Verfasser von einer nur
wenigen erreichbaren Höhe aus eine Rückschau auf die durchmessenen
Bahnen, zunächst für seine Familie, dann aber doch auch für die vielen,
denen ein solcher Lebensgang ernster Betrachtung werth erscheinen kann,
sich zur Aufgabe gemacht hat. Wir glauben, dasz für Leiter, Lehrer
und Freunde des höhern Schulwesens in der so entstandenen Darstellung
ein ungemein reicher Stoff zum Nachdenken und Vergleichen vorliege.
Blicken wir nun zunächst mit dem Verf. in sein Jugendleben,
die Jahre der Vorbereitung , zurück. Er gibt uns da sogleich eine Reihe
sehr ansprechender Charakterbilder. Der humoristische Erzähler Konrad
Günther, die edle Frau von Beaulieu, der stattliche Conrector Kohlrausch
mit der treuherzigen Freundlichkeit und dem furchtbaren Zorne, der pe-
dantische , bis in die kleinsten Einzelheiten pünktliche Onkel Detmering,
der wol wollende, alles Schein wesen hassende, entschieden auf das Reelle
gerichtete Lieutenant Inland treten in festen Umrissen vor uns , wie über-
haupt die harmlose Kindheit in Landolfshausen , wo K. den 15. Novbr. 1780
geboren ist, und die Wechsel des Schullebens in Hannover trefflich ge-
zeichnet sind. Die akademischen Studien in Göttingen (1799 — 1802), vor-
zugsweise theologische , wandten sich doch auch der Geschichte und Litte-
ratur, der Mathematik, Physik und Naturgeschichte zu; indes bekennt
der Verf. S. 48, dasz er, mit alleiniger Ausnahme der Geschichte bei Hee-
ren und der Mathematik bei Thibaut, eine tiefer eingreifende Anregung
nicht empfangen habe, zu selbständigen Studien, in einer bestimmten Rich-
tung nicht getrieben worden sei. Die ganze geistige Atmosphäre Göttin-
gens war damals nicht der Art, dasz eine tiefere, mächtiger von innen
heraustreibende Begeisterung so leicht möglich gewesen wäre ; selbst bei
Heyne hat K. fast gar nichts gehört. Das theologische Examen (examen
praevium) bei dem Consistorialrath Sextro in Hannover war ohne Schwie-
rigkeit, und nicht ohne Humor hebt der Vf. hierbei hervor, dasz er, dem
es beschieden gewesen , fast fünfzig Jahre lang in Kreisen sich zu bewegen,
in denen Prüfungen recht eigentlich zur Tagesordnung gehören , der so
vielen Prüfungen beigewohnt und manche Prüfungs-Ordnungen abgefaszt
habe, niemals wieder mit einem Examen geplagt worden sei, wie er denn
auch in seiner wechselvollen amtlichen Wirksamkeit nur für einen Eid
in Anspruch genommen worden sei (S. 51 f.)- Als Hauslehrer nach Hol-
stein in die Familie Baudissin gerufen, gewinnt er aus unmittelbarem Le-
bensverkehre , erst auf dem einsamen Schlosse zu Rantzau , dann in dem
vielgestaltigen Treiben zu Berlin zunächst während des Winters 1802 — 3)
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Fr. Kohlrausch: Erinnerunger aus meinem Lehen. 27
die förderlichsten Anregungen , besonders wichtig aber wird es für ihn,
dasz er durch Fichte 's philosophische Vorlesungen , bald auch durch
persönlichen Umgang mit dem charaktervollen Hanne, für strengere phi-
losophische Studien gewonnen wird. Aber er hat auch Gelegenheit,
Vorlesungen von A.W. Schlegel und Gall zu hören, und in Hufeland's
Hause lernt er dann auch andere bedeutende Männer, Joh. Malier, Wolt-
mann, Schiller, F. H. Jacobi, kennen; durch den Erzieher der königlichen
Priuzen, den Geh. Rath Delbrück , tritt er mit seinen Zöglingen auch der
königlichen Familie näher und bei einem Kinderballe im Hause des Mini-
sters von Schrötter hat er Gelegenheit, die Königin Luise und die Frau
von Staöl neben einander zu sehn. Später folgt ein ziemlich unstätes
Leben : er sieht Kiel und Kopenhagen, kommt als Mentor (im Herbste 1806)
wieder nach Göttingen, wo er eine Reihe von Gollegien (Aber Geschichte
und Statistik, Staatsrecht und Finanzkunde, Literaturgeschichte, juristi-
sche Encyclopädie und römische Rechtsgeschichte) benutzt und für eine
akademische Wirksamkeit sich vorzubereiten beginnt , aber auch die Braut,
die schon in Rantzau sein Herz gewonnen hat , heimführt. Er sieht hier-
auf nach sehr gefahrvoller Seereise ein zweites mal Kopenhagen, um
dann wieder seinen Zögling, den Grafen Wolf von Baudissin, nach Heidel-
berg zu geleiten , wo Heinrich Vosz und dessen Vater ihm freundlich sich
erweisen. An diesen Aufenthalt schlieszt sich eine genuszreiche Schweizer-
rme, deren Erlebnisse uns ein Anhang des Buchs S. 438 ff. vergegenwär-
tigt. Es folgte hierauf ein dritter Aufenthalt in Göttingen (seit dem Herbste
1808), Bad jetzt wurde besonders der geistige Verkehr mit Herbart,
jd desseü pädagogische Gesellschaft er eintrat, förderlich für ihn. Aus
den hier erhaltenen Anregungen, welche eine direkte Aufforderung Nie-
meyer's verstärkte, ergaben sich ihm die c Geschichten und Lehren des
Alten und Neuen Testaments für Schulen' ; dagegen war es mehr ein Nach-
wirken der Eindrücke, welche Fichte's Vorlesungen auf ihn gemacht hal-
ten , dasz er bald nachher seine Ideen über die beste Gestaltung der öffent-
lichen Verhältnisse, mit besonderer Rücksicht auf die Utopia des Thomas
Monis, in einer Schrift, welche den Titel Kosmos erhalten sollte, aber
nie erschienen ist, niederzulegen unternahm. Aber schon hatte er die
Einladung erhalten, in Barmen eine Unterrichts- und Erziehungsanstalt zu
begründen, und nachdem er noch einen Besuch in Weimar gemacht hatte,
wo er mit Goethe und Wieland zu verkehren Gelegenheit erhielt (S.
115 ff.), begann er im Frühjahr 1810 eine Berufstätigkeit, die reiche
Erfahrungen ihn sammeln liesz.
Die Wirksamkeit in Barmen (vom Mai 1810 bis zum Februar
1814) hatte zunächst freilich auch ihre Schwierigkeiten. Kohlrausch sollte
die Kinder reicher Kauf- und Fabrikherren , und zwar Knaben und Mäd-
chen neben einander, vom Alter der ersten Schulbildung bis über die Con-
firmation hinaus in der Weise unterrichten oder unterrichten lassen , dasz
neben den Gegenständen, die ihm selbst vertraut waren, auch solche, die
ihm ziemlich fremd geblieben, gelehrt werden musten; überdies sollten
Pensionäre ins Haus genommen werden. Für einen Mann, der eben
noch den akademischen Lehrstuhl im Auge gehabt hatte , war diese Auf-
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28 Fr. Kohlrausch: Erinnerungen aus meinem Leben.
gäbe doppelt schwierig , und an Durchfuhrung von Herbart's Ideen war
zunächst kaum zu denken. Es ist anziehend zu lesen, wie er seinen Ver-
pflichtungen entsprochen, welches Vertrauen er gewonnen, wie er mit
gleichgesinnten Freunden in einer ^platonischen Gesellschaft9 sich geistig
erfrischt und doch auch für das nächste Bedürfnis den 'chronologischen
Abrisz der Weltgeschichte9 gearbeitet hat. Bald freilich nahmen auch
die groszen Weltereignisse seine Aufmerksamkeit stark in Anspruch : er
sah im Novbr. 1811 Napoleon zu Düsseldorf im blendenden Glänze des
Glückes einziehen , aber nach kaum zwei Jahren , als der furchtbare Um-
schwung eingetreten , den aus Gassei verjagten König Hieronymus durch
Barmen fliehen. Und schon hatte auch für sein Leben eine bedeutsame
Veränderung sich eingeleitet; aber noch in Barmen entstanden seine eReden
über Deutchlands Zukunft 9, bei denen noch einmal , und in sehr energi-
scher Weise Fichte' s Einwirkungen ihn geleitet zu haben scheinen. Der
Verf. berichtet mit unverkennbarer Freude über den Inhalt dieser Redeu,
worin nach offener Erklärung (S. 149) noch der Greis sein politisches
Glaubensbekenntnis wiederfindet. Merkwürdig ist der Bericht über die
verschiedene Aufnahme, welche diesen Reden damals zu Teil wurde:
eine herzlich anerkennende bei Gneisenau, eine wahrhaft enthusiastische
bei Rahel , eine kühl abweisende bei Gentz.
Einen sehr wichtigen Uebergang bildete für Kohlrausch die Wirk-
samkeit in Düsseldorf (vom Februar 1814 bis zum September 1818).
Er trat hier in die innigste Verbindung mit Kor tum, der die Leitung und
Erneuerung des unter der französischen Herschaft tief herabgekommenen
Lyceums übernommen und auch des Freundes Berufung veranlaszt hatte.
Die beiden Männer haben diese Verbindung länger als vierzig Jahre fest-
gehalten , obwol das gemeinschaftliche Wirken in Düsseldorf nur ein kur-
zes war. *Auf dem Boden der religiösen Ueberzeugungen, der tief ge-
wurzelten Liebe zur Wahrheit und Verschmähung alles Scheinwesens zeigte
sich unsere Uebereinstimmung so probehaltig, dasz nicht nur in dem per-
sönlichen engen Zusammenwirken für den nächsten Beruf nie eine ernst-
liche Differenz vorgekommen ist, sondern dasz auch in den 41 Jahren
nach unsrer Trennung in dem lebhaften brieflichen Verkehr die Gemein-
samkeit des Urteils über die gröszern Weltbegebenheiten wie über klei-
nere Lebensverhältnisse, über menschliche Charaktere, litterarische Er-
scheinungen , Geschäftssachen , Schulverwaltung und was sonst das Leben
an bemerkenswerthen Dingen mit sich bringt, oft auf überraschende Weise
hervortrat. Ja es konnte der eine der Freunde meistens mit Bestimmtheil
voraussagen, wie der Andere in groszen und kleinen Dingen über eine
Sache urteilen würde9 (S. 171). Von den übrigen Collegen war wol
Brüggemann der bedeutendste, ein noch junger Mann, der mit unge-
wöhnlicher Energie seinem Berufe sich hingab und rasch zu der einflusz-
reichsten Wirksamkeit sich emporarbeitete. Aber näher verbunden mit
K. war unstreitig Strack, der jedoch schon 1817 die Direction der Vor-
schule in Bremen übernahm. Kohlrausch selbst hatte das Ordinariat der
Secunda; mit dem entschiedensten Erfolge scheint er als Lehrer der Ge-
schichte in der obern Hälfte des Gymnasiums gewirkt zu haben. Er liesz
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Fr. Kohl rausch: Erinnerungen aus meinem Leben. 29
zunächst die deutsche Geschichte stark hervortreten, und dasz er bei sei-
nem Unterrichte fort und fort noch ein Lernender war, brachte in dem-
selben gerade eine eigentümliche Frische und Lebendigkeit, die der ge-
lehrtere Kenner der Geschichte nicht immer sich zu sichern weiss. Aus
den für diesen Unterricht gemachten Studien ging bald nachher auch das
mit gröstem Beifall aufgenommene Werk *die deutsche Geschichte' (Eiber-
feld 1816) hervor; dasz dieselbe in ihren letzten Abschnitten, welche den
Freiheitskampf zu schildern hatten, völlig die freudige Erregung der Zeit
reflektierte , diente ihr natürlich zu ganz besonderer Empfehlung. Nicht
ohne Bedeutung war für K. auch dies, dasz er für einige Zeit, durch Ver-
fügung des Generalgouverneurs Grüner, Mitglied eines Schul ralhs war,
der unter dem Vorsitze des Staatsrathes Georg Jacohi ein organisches
Statut für das Volksschulwesen des bisherigen Groszherzogtutns Berg ent-
werfen und zur Ausführung bringen sollte. Es kann nun nicht auffallet,
dasz der so tüchtig arbeitende Mann schon im Sommer 1817 einen Ruf
nach Mainz erhielt und bald nachher, als er vorläuGg durch den Minister
von Schiickmann in Düsseldorf sich hatte festhalten lassen , ausersehen
ward, als Schulrath in dem Consistorium und der Regierung zu Münster
das höhere Schulwesen der Provinz Westphalen nach der neueren preu-
szischen Schulordnung einzurichten.
Unstreitig hatte die Wirksamkeit in Münster (vom September
\%\% bis zum Juni 1830) zunächst ganz eigentümliche Schwierigkeiten.
Der protestantische Consistorialrath sollte in dem gut katholischen Münster
die Basis zu einer umfassenden Thätigkeit erkennen, sollte katholische
Gymnasien unter seine Leitung nehmen und in lebendigen Zusammenhang
mit dem gesamten Schulwesen des preuszischen Staates setzen , in wel-
chen die Westphalen z. Th. auch noch fester sich einzuleben hatten. Aber
sein ebenso entschiedenes als besonnenes Auftreten half ihm über manche
Schwierigkeiten schnell hinweg. Von groszem Interesse sind nun die
Mitteilungen über seine Inspectionsreisen (S. 186 ff.) ; wir erhallen dabei
wieder eine Reihe anziehender Charakterbilder, namentlich von den Di-
rectoren K u i t h a n in Dortmund , Im a n u e 1 in Minden , K r ö n i g in Biele-
feld, Kapp in Hamm. Nicht minder beachten s wer th erscheint sodann,
was der Verf. über die von ihm eingerichteten Directorenconferenzen und
die aus demselben im J. 1829 hervorgegangene Instruction für den Ge-
schichtsunterricht, sowie über sein Verhältnis zu dem ausgezeichneten
Oberpräsidenten Freiherrn von Vinke und zu den evangelischen Collegen
im Consistorium N a t o r p und Möller berichtet hat. Für manche Leser
dürfte auch das S. 206 ff. gegebene Bild der damaligen geselligen Verhält-
nisse in Münster einen eigentümlichen Reiz haben; die Stellung Immer-
maun's zum General Lützow und dessen Frau erhält bei dieser Mittel-
Iung~~woI eine etwas andere Betrachtung als gewöhnlich. Auch dasjenige
wird auf Teilnehmer rechnen können, was S. 214 ff von dem Conflicte
zwischen der Regierung und dem Generalvicar Droste zu Vischering (in
Bezug auf den Hermesianismus, von welchem der strenge Prälat die jungen
Theologen der Münsterschen Diözese durch das Verbot des Besuchs der
Universität Bonn zurückhalten wollte) erzählt ist. Es war ein Vorspiel
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30 Fr. Kohlrausch : Erinnerungen aus meinem Lehen.
gröszerer Conflikte , in einer Zeit, wo doch der confessionelle Gegensatz
noch mannichfache Yermittelungen zuliesz. In einen ganz andern Gegen-
satz sah sich der Verf. hineingestellt, als im J. 1824 auf Betrieb des Geh.
Raths von Kamplz , ^welcher jede freisinnige Richtung zu unterdrücken
suchte9, die 'deutsche Geschichte' durch ein Ministerialrescript för den
Schulunterricht verboten wurde, weil sie in der zweiten Auflage des
Wartburgfestes mit Teilnahme gedacht hatte, überdies aber' durch Auf-
nahme einer Stelle des Tacitus die Ursprünglichkeit des Adels bei den
Deutschen in Frage gestellt und durch eine Bemerkung über die in Folge
des westphälischen Friedens eingetretene Schwächung der Kaisergewall
das Recht des deutschen Fürstentums gefährdet zu haben schien. Aber
schon die dritte Auflage hatte das Wartburgfest nicht mehr erwähnt , und
da in der gerade damals unter der Presse befindlichen vierten auch die
sonst noch angefochtenen Stellen sich ändern lieszen , so konnte die Wir-
kung des übereilten Verbotes wieder aufgehoben werden. Als dann K.
1826 an der Seite des Geh. Oberregierungsrathes Johannes Schulze eine
Inspectionsreise durch Westphalen machte, erhielt er von diesem eine
Einladung nach Berlin. Auf dieser Reise, die im Sommer 1827 unter-
nommen wurde, hatte er ausreichende Gelegenheit, das Vertrauen zu
sich vollkommen wieder herzustellen; aber von noch gröszerer Bedeutung
war es für ihn , dasz er eine Anzahl der vorzuglichsten Gymnasien Preu-
szens genauer kennen lernte und bei dem vielfach anregenden Aufenthalte
in der Hauptstadt mit einer Reihe der tüchtigsten Männer (Meineke,
Köpke, Spill eke, Schleier macher) näher bekannt wurde, auf
der Heimreise aber auch I lg e n in Schulpforte und Döring in Gotha spre-
chen konnte. Im J. 1829 beschäftigte ihn die Errichtung der beiden katho-
lischen Gymnasien in Coesfeld und Recklinghausen. Unter der Thätigkeit,
die er nach dieser Seite zu entwickeln hatte , konnte das Leid sich mindern,
das er während der zunächst vorhergegangenen Zeit in seinem Hause zu
tragen gehabt hatte. Aber schon bereitete sich ihm der Uebergang in
einen neuen und weitern Wirkungskreis vor, durch Vermittelung seines
alten Freundes Abeken in Osnabrück, der uns S. 254 f. in der anspre-
chendsten Weise charakterisiert wird.
Die nun beginnende Wirksamkeit in Hannover scheidet sich
von selbst in zwei Hälften, in der Weise, dasz die erstere bis zum J.
1 848 reicht. Als Vorsitzender des neu errichteten Oberschulcollegiums
hatte K. eine umfassende und vielseitige Aufgabe zu lösen , an die er zu-
nächst , viel körperlich leidend , nicht ohne Sorgen denken konnte. Aber
es ist ihm beschieden gewesen , Groszes und Erfreuliphes auf dem neuen
Arbeitsfelde zu vollbringen. Er schildert uns zunächst S. 270 IT., was
er in den höhern Schulen Hannovers vorfand, auf überaus belehrende
Weise, und auch hier erhalten wir eine Reihe fein gezeichneter Charakter-
bilder (von Grotefend in Hannover, von Haage in Lüneburg, von
Wiedasch in Ilfeld, von Fr. Ranke in Göttingen, von Seebode in
Hildesheim, von Müller in Emden), die Niemand ohne Befriedigung be-
trachten wird. Man sieht , wie K. überall eben so scharf und sicher in
seinen Beobachtungen , als human und besonnen in seinen Entscheidungen
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Fr. Kohlrausch : Erinnerungen aus meinem Leben. 31
gewesen ist; manches, wie die Erzählung von den Wirren in Ilfeld, ist
von ganz besonderem Interesse. Die unter sehr verschiedenen Verhält-
nissen entwickelten Schulen in engern Zusammenhang zu setzen und durch
eine möglichst gleichmäszig durchgeführte Organisation zu höherem Leben
zu bringen , war unstreitig eine sehr schwierige Aufgabe. Der Verf. be-
richtet nun auch, wie durch Einsetzung einer wissenschaftlichen Prüfungs-
commission , durch Begründung eines pädagogischen Seminars , durch An-
wendung einer Maturitätsprüfung das zunächst Nötige erreicht wurde,
und wiederholt hebt er hervor, dasz man, statt sogleich in einem um-
fassenden Gesetze ein Ideal zu proclamieren , lieber durch Einzelverord-
nungen das Bessere anzubahnen gesucht habe. Rascher, aber immer
belehrend, ist der Verf. über seine Teilnahme an dem Jubiläum der Georgia
Augusta (1837) und an der Philologen- und Schulmännerversammlung
in Gotha (1840) , wo er K. Fr. Hermann für Göttingen gewann , hinweg-
gegangen. Dann wendet er sich zur Organisation des Realunterrichts in
Hannover, die durch die Gonferenz in Emden (1847) ihre Entscheidung
erhielt und später auch im Königreiche Sachsen (in Plauen und Zittau)
Nachahmung fand. Auf die Bedenken, welche Vollprecht in seiner
Abhandlung * höhere Bürgerschulen, Gesamtgymnasien und Gymnasien'
[Clausthal 1852) gegen die Verbindung von Gymnasium und Realschule
erhoben hat , ist hier nicht Rücksicht genommen.
Die andere Hälfte der Wirksamkeit in Hannover — seit dem
J. 1848 — eröffnet sich für K., in ähnlicher Weise, wie die erslere, mit
Ae/Ügen körperlichen Affectionen , die diesmal eine Folge der groszen
durch die allgemeine Erschütterung der politischen Verhältnisse herbei -
ge/unrten Aufregungen zu sein schienen. Aber er war doch gleich anfangs
imStande, finanzielle Verbesserungen für den Realunterricht, für Lehrer-
gehaJte, für den Pensionsfond , für das Turnwesen zu erlangen und hatte
dann im Herbste 1848 die Genugtuung, dasz eine zahlreich besuchte
Lehrerversammlung in Hannover, unter der tüchtigen Leitung des Directors
Schmalfusz aus Lüneburg mit Takt und Mäszigung berathend, die
bisherige Wirksamkeit des Oberschulcollegiums fast durchaus anerkannte.
Erunterläszt nicht, heim Rückblick auf jene Tage, die im Ganzen grosze
Besonnenheit, welche unter so verwirrenden Verhältnissen der Lehrer-
stand (und auch die Schuljugend) Hannovers bewiesen , rühmend hervor-
zuheben. Die im Dece raber jenes Jahres zusammengetretene Gonferenz
von Vertretern des Volksschullehrerstandes , die besonders mit der Ein-
'thtung der Schullehrerseminarien sich zu beschäftigen hatte, war
'Unfalls nicht unerfreulich. Specieller wird dann berichtet, wie das
"taschulcollegium, in welches zu Anfange des J. 1849 Schmalfusz als
Scklrath eintrat, eine Reihe einzelner Verbesserungen herbeigeführt hat.
We Erzählung von dem 25jährigen Jubiläum des Oberschulcollegiums
1855), das ihm selbst eine hohe Auszeichnung brachte, gibt Anlasz zu
Rückblicken auf das in dieser Zeit Erreichte. Dieselben enthalten in ge-
drängtester Fassung , was die eben damals erschienene Schrift *das höhere
Schulwesen des Königreichs Hannover seit seiner Organisation im J. 1830*
Hannover, Culemann) in detaillirler Darstellung vorgeführt hat. Mit be-
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32 Fr. Kohlrausch : Erinnerungen aus meinem Lehen.
sondrer Teilnahme verweilt der Verf. sodann bei dem Feste der Ein-
weihung des Georgianum in Lingen (12. Octbr. 1859); die Hauptsteilen
der bei dieser Gelegenheit von ihm gehaltenen Rede hat er hn Anhange
S. 433 ff. mitgetheilt. Besonderer Aufmerksamkeit der Schulmänner em-
pfehlen wir die Bemerkungen , welche S. 392 ff. über die Maturitätsprü-
fung und S. 400 ff. über das System des gelehrten Unterrichts gemacht
worden. Kürzere Notizen über das Gewerbschulwesen des Königreichs
Hannover, dem K. ebenfalls seine Sorgfalt zu widmen gehabt hat, über
seine Teilnahme an dem historischen Verein für Niedersachsen, über die
Herausgabe der * Bildnisse der deutschen Könige und Kaiser ' schiieszen
sich an. Das den edlen Mann umgebende und so lange reich beglückende
Familienieben erscheint in dieser letzten Periode durch schwere Heim-
suchungen getrübt ; doch ist ihm das einsamere und von manchem Unge-
mach getroffene Alter noch keineswegs eine drückende Bürde, wie er
denn auch in den allgemeinen Betrachtungen, womit er schlieszt, neben
denjenigen Momenten, welche bange Besorgnisse rechtfertigen könnten,
andere hervortreten läszt, an welche Hoffnungen sich knüpfen lassen.
Wenn wir den ziemlich ausgedehnten Mitteilungen des ehrwürdigen
Verfassers über die Entwickelung seines Familienlebens hier nur vorüber-
gehend Aufmerksamkeit zugewandt haben, so ist dies mit Rücksicht auf
die Zwecke dieser Zeitschrift geschehen. Aber wir wollen nicht unter-
lassen, diese Mitteilungen zu eingehender Beachtung allen denen zu
empfehlen , welche Sinn und Empfänglichkeit für Familienglück und häus-
liches Stillleben sich bewahrt haben.
Durch unsere Uebersicht glauben wir einigermaszen erkennen zu
lassen , wie inhaltreich das Buch zumal für pädagogische Leser ist. Diese
werden auch nicht selten ganz beiläufig beachlenswerthe Lehren einge-
streut finden , wie sie der Familienvater, der Schulmann , der Aufsichls-
beamte aus vielseitiger Erfahrung darbieten konnte. Hieher dürfen z. B.
gerechnet werden die Bemerkungen über die Vorteile der Erziehung auf
dem Lande S. 11, über die Vernachlässigung philosophischer Studien in
der Gegenwart S. 71 , über die Stellung der Jugend zum politischen Trei-
ben S. 81, über die Thätigkeit des praktischen Schulmanns S. 170, über
die Entwöhnung der kleinen Kinder vom Schreien S. 185 f. , über die Ein-
führung der Jugend in die Natur S. 221 f. , über den bildenden Einflusz
häuslicher Leiden S. 250, über das Zusammenleben in Alumnaten S. 282,
vgl. 241, über die Vorteile der Gymnasien in kleineren Städten S. 289,
über den Mangel an Originalität und Schwung bei der Jugend unsrer Zeil
S. 401 f. , über die Einrichtung einer Selecta an den Gymnasien S. 409 ff.
Gewis wird jeder unbefangene Leser mit herzlichem Danke von dem
hochverdienten Verfasser scheiden. Es sollte uns freuen , wenn die vor-
stehende Anzeige etwas dazu beitrüge, dem Buche die verdiente Aner-
kennung und Benutzung in einem weiteren Kreise zu sichern.
Zittau. H. Kümmel.
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G.Wendt: gesammelte Aufsätze zur deutscheu Lilteratur von Hiecke. 33
4.
Gesammelte Aufsätze zur deutschen Litter atur von Robert
Heinrich Hiecke. Herausgegeben von Dr. G. Wendt,
Director des Gymnasiums zu Hamm. Hamm, G. Grotesche
Buchhandlung (C. Müller). 1864. 331 S. 8.
Der verstorbene Director H i ec ke in Greifs wald hat auf die Gestaltung
des deutschen Unterrichts in unseru Gymnasien einen segensreichen Ein-
flusz ausgeübt. Steht hier in didacüscher Beziehung das 1842 erschie-
nene Buch über den deutschen Unterricht auf Gymnasien obenan , so hat
doch die darin entwickelte Theorie erst ihre rechte Bedeutung und ihr
volles Licht durch die Beispiele und Muster erhalten , welche R. selbst für
die Erklärung unserer deutschen Dichter gegeben hat. Schon als Schüler
war er durch seinen trefflichen Lehrer W i e c k in Merseburg dazu ange-
leitet worden auch den tieferen Gehalt der echten Classiker zu erkennen,
und hatte sich dazu später durch gründliche philosophische Studien in Berlin
unter Hegel wissenschaftlich weiter befähigt. In diesen Ideenkreisen wurde
er als junger Merseburger Lehrer durch den regen Verkehr mit den Halle-
schen Jung-Hegelianern, mit Buge, Echlermeyer u.a. immer mehr befestigt.
Zwar hatte er bereits 1834 ein Programm überGoethe's Iphigenie geschrie-
en, aber erst im Jahre 1838 trat er mit seinen Gedanken , wie auch die
poetische Leetüre eine Aufgabe angestrengter geistiger Thätigkeit werden
lind damit ihren berechtigten Platz unter den Uuterrichtsgegenständen
höherer Lehranstalten behaupten könne, an die Ocffentiichkeit in der Bede
über den Ideengehalt inUhland's Ballade 'des Sängers Fluch', und es folg-
ten nun in dem folgenden Jahre die Betrachtungen über Goethe's Tasso
in den Halleschen Jahrbüchern, an deren Begründung er den lebhaftesten
Anteil genommen hatte. Während der vierziger Jahre hat er, festhaltend
an der Ansicht, dasz die sorgfältige Erklärung kleinerer Gedichte, Balla-
den, Bomauzen, Lieder, Elegicen, besser als die gröszerer Dichtwerke
dazu führen könne das Denken bei der Leclüre von Gedichten nicht zu
vergessen, in den Zeitschriften von Viehoff, von Low und Körner, von
Herrig und Viehoff eine Menge solcher Gedichte namentlich von Uhland,
ferner von Hebel, Bückert, Platen, auch eines von Goethe in seiner
Weise besprochen und damit vielen Lehrern ein Vorbild zur genaueren
Auffassung gegeben. Ich sage absichtlich , in seiner Weise , die aus dem
Inhalte der Dichtungen ihren Ideengehalt ableitet, dabei aber manche an-
dere Seilen der Erklärung , wie die geschichtliche und die sprachliche,
ziemlich unbeachtet iäszt. Seine letzten Arbeiten auf diesem Gebiete be-
ziehen sich hauptsächlich auf Schiller's Dramen, die allerletzte, eine Bede,
Gehandelt (1860] Goethe's Grösze in seinem bürgerlichen Epos Hermann
und Dorothea.
Diese in Zeitschriften zerstreuten oder in kleineren Schul Schriften
weniger bekannt gewordenen Aufsätze hat Herr Director Weudt in der
hier zu besprechenden Schrift gesammelt. Das ist mit allem Danke von
jedem Lehrer anzuerkennen, dem die Erklärung deutscher Dichtungen
K. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1S«1. Hft. 1. 3
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34 fr Wendt: gesammelte Aufsätze zur deutschen LilteraLur von Hiecke.
obliegt. Wo so viel gefehlt wirrt, wie gerade auf diesem Gebiete, da thut
ein rechter Führer Not. Mir kann es jetzt nicht darum zu thun sein auf
eine Beurteilung der Hieekeschcn Aufsätze selbst einzugehen; nur des
Herausgebers Arbeit gibt mir zu einigen Bemerkungen Veranlassung.
Üie Aufsätze sind , so weit mir eine Vergleichung der Originaldrucke
möglich war, genau abgedruckt, aber nicht blosz in dem Aufsatze über
Goethc's Tasso sind die auf Einzelheiten in dem Buche von Lewilz ein-
gehenden Stellen fortgelassen (vgl. S. 125), auch in der Rede über die
Uhlaodsehe Ballade ist eine Stelle und zwar mit Fug und Recht gestrichen,
wogegen ich S. 165 den Glückwunsch, mit welchem H. die Rede über
Hermann und Dorothea dein Gymnasium in Stralsund zu dessen dritter
Saecularfeier dargebracht hat. ungern vermisse. Der Herausgeber hat die
Aufsatze nach ihrem Inhalte geordnet bis auf eine kleine, in der Vorrede
durch äussere Umstände entschuldigte Abweichung. Ich hätte die chrono-
logische Folge festgehalten, weil diese dem Leser die Einsicht in dieEnl-
wickelung, welche Hiecke selbst auf diesem Gebiete des Unterrichts durch-
gemacht hat, sehr erleichtert haben würde. Wenn wir in dem Programm
von 1834 sehen, wie er fein und sinnig den Inhalt der Goetheschen
Iphigeme darlegt, so gibt er in der Rede aus dem Jahre 1838 (die übri-
gens nicht in dem Programme des Merseburger Gymnasiums von 1838,
wie es in dem Inhalts Verzeichnisse heiszt, sondern erst in dem des Jahres
1839 erschienen ist) schon seinen Zweck und seine Methode ganz bestimmt
au und hat es 1846 in der Vorrede zu dem Buche über Shakespeare'*
Macbeth noch genauer gothan. Da Hiecke aber ein ganzer Lehrer war und
als solcher immer fort lernte und seine Methode weiter ausbildete, so
würde der Fortschritt von seinen Erstlingsarbeiten bis zu der meisterhaf-
ten Festrede über Schiller'a Grösse in den Dichtungen seiner reiferen Jahre
und zu dem ebenbürtigen Vortrage über Goethe's Grösze bei der chro-
nologischen Anordnung deutlicher hervorgetreten sein. Selbst die Anord-
nung nach dem Inhalte ist nicht festgehalten darin, dasz die Uhlandschen
Dichtungen die Reihe eröffnen und dann erst die Resprechung der ersten
Gedichte in der Echtermc versehen Sammlung folgt, welche viel passen-
der an die erste Stelle gesetzt worden wäre.
Der Herausgeber hat sich, wie der Titel sagt, auf die Aufsätze zur
deutschenLilleratur beschränkt und uns damit die auf Shakespere's
Dramen bezüglichen Arbeiten entzogen. In der Schule rechnen wir den
grossen britischen Dichter zu den unsrigen und schlieszen einige seiner
historischen Dramen von der Erklärung nicht aus. Deshalb würden wir
den Wiederdruck der betreffenden Hiecke sehen Aufsätze sehr gern gesehen
haben. Die Rechte der Verleget1 an dieselben können doch Herrn Wendt
schwerlich abgehalten haben 1 da er die durch den Ruchhandel zu be-
ziehende Rede über Goethe's Grösze unbedenklich hat abdrucken lassen.
Aber selbst fiir die deutsche Litteratur hätte ich die Aufnahme der Be-
merkungen gewünscht, welche Hiecke in dem Ruche über den deutchen
Unterricht in Betreff einiger Gedichte von ühland (Schwäbische Kunde,
die Rache) und Justinus Kerner (der reichste Fürst) gegeben hat. Gerade
die stoffliche Anordnung der Sammlung muszte dies rechtfertigen.
.
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H. Masius : die gesamten Naturwissenschaften. 35
Neu ist nur ein Aufsatz S. 201 — 226 über die Idee der Wahlver-
wandtschaften von Goethe, der in seiner Methode an die erste Arbeit über
die Iphigenie erinnert und wol auch aus einer früheren Zeit herrühren
mag; seine letzte Feile hat er sicherlich nicht erhalten.
Wir danken dem Herausgeber für die Sorgfalt, mit welcher er sich der
gewisz beschwerlichen Sammlung unterzogen hat, wünschen aber drin-
gend, dasz er sein Versprechen , auch noch eine Reihe philologischer und
pädagogischer Arbeiten Hiecke's der Oeflentlichkcit zu übergeben, recht
bald erfüllen möge. Nur so wird das Bild der schriftstellerischen Thätig-
keit unseres Hiecke vollständiger werden , der freilich immer mehr Leh-
rer als Schriftsteller sein wollte.
Leipzig. Fr. A. Eckstein.
Die gesamten Naturwissenschaften. Für das Verständnis weite-
rer Kreise und auf wissenschaftlicher Grundlage bearbeitet
cot! Dippel, Gottlieb, Koppe, Lottner, Mädler, Masius, Moll,
Nauck, Nöggerath, Querstedt, Romberg undeon Rus&dorf.
umgeleitet von H. Masius. Zweite, verbesserte und berei-
cherte Auflage. In drei Bänden. Essen bei Bädeker. 1861.
Io einem Zeitalter, in dessen Charakter die Anteilnahme des groszen
Publikums au den Ergebnissen der Naturforschung einen scharf ausgepräg-
ten Zug bildet, kann eine populäre Encyclopädie der Naturwissenschaften
auch für die Schule nicht ohne Interesse sein. Nehmen doch viele Zöglinge
auch solcher Anstalten , bei denen diese Wissenschaften nicht einen haupt-
sächlichen Teil des Lehrstoffes ausmachen, angeregt durch das gelegentliche
Lesen von Zeitschriften, welche ihre Spalten mit Naturkundlichem würzen,
sowie durch die Gespräche geselliger Kreise, in denen Notizen und Urteile
aus jenem Bereiche, welche in populären Vorträgen, in Feuilletons oder
in populären Schriften vorgekommen sind, oft zum Unterhaltungsstoff
dienen , an gewissen Thatsachen und Erörterungen der Naturwissenschaft
regen Anteil und suchen in guten oder schlechten populären Schriften,
deren es von beider Art in Fülle gibt, weitere Aufschlüsse über Fragen,
die auf der Tagesordnung der Gegenwart stehn, und ersuchen den Lehrer
um Nachweisung empfehlenswerter Bücher.
So wenig hoch man auch den bildenden Werth der ohne Nachhilfe
von Lehrern und ohne sinnliche Anschauung von Naturobjekten gewonne-
nen naturwissenschaftlichen Kenntnisse in vielen Fällen anschlagen möge,
su wenig läszt sich doch verhindern , dasz die Jugend das , was ihr von
der Schule unvollständig oder gar nicht geboten wird, auf eigne Faust
zu erwerben suche und zur Unterhaltung populäre Bücher lese. Nun ist
aber die Lektüre einer zusammenhängenden , den groszen planmäszigen
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36 H. Masius : die gesaraten Naturwissenschaften.
Bau der Wissenschaft ahnen lassenden Uebersicht des Gesamtgebietes ge-
wiss weil nützlicher, als ein gelegentliches Umherflattern in verschiede-
nen Bezirken desselben , wozu die Journale durch ihre, oft mehr nach dem
Reisenden als belehrenden strebenden und nicht selten gefallsuchtig auf-
geputzten Artikel leicht verlocken. Darum erscheint eine Encyclopädie
der Naturkunde, welche durch edle populäre Darstellung in die verschie-
denen Bezirke eines Tür die Gegenwart unendlich bedeutsamen Reiches
einführt, ein Lesebuch, welches anmutig belehrend unterhält, ohne den
Ernst der Wissenschaft zu verleugnen, welches Kenntnisse mitteilt und
das Urleil weckt, ohne zu vorschnellem Aburteilen, zu schöngeistiger
Sentimentalität und zu seichter Vielwisserei zu verführen , für alle Schulen
und besonders für solche, welche den naturwissenschaftlichen Unterricht
auf wenige Stunden beschränken müssen, eine sehr wünschenswerthe
Erwerbung. Zum Beweise , dasz ein solches Werk nach dem Mode-Aus-
drucke einem wahren Bedürfnis entgegenkomme, läszt sich das insbe-
sondere Gymnasien , Real - und höheren Bürgerschulen gewidmete' Schöd-
lersche Buch der Natur anführen, welches schon in elfter Auflage vorliegt.
Das hier zu besprechende Werk, welches das Schödlersche an Um-
fang um mehr als das vierfache übertrifft, hat — wie die nach einigen
Jahren nötig gewordene zweite Auflage beweist — in den * weitern Krei-
sen', für welche es bestimmt ist, Anklang gefunden. Eignet sich dasselbe
nun auch als Lehrbuch für die Schule, so dasz es der Jugend, für die das
Beste eben gut genug ist, zur Lektüre iu Muszestunden empfohlen wer-
den kann und die Ehrenstelle in der Schulbibliolhek verdient? Zur Beant-
wortung dieser Frage soll das hier versuchte Referat über den Plan des
Ganzen und die Ausführung der einzelnen Teile die Entscheid ungsgrütule
geben.
Ueber die richtige Zumessung des StofFes läszt sich in Bezug auf
eine Schrift , die nicht für einen scharf begrenzten Leserkreis berechnet
ist, schwer urteilen. Das vorliegende Werk behandelt nicht blosz alle in
ähnlichen Encyclopädicfi vorkommende Fächer mit gröszerer Ausführlich-
keit, es enthalt auch einige Abschnitte, welche in verwandten Werken
fehlen und gerade Tür die Schule höchst dankenswerte Gaben darstellen.
Solche sind die besonderen ausführlichen Abhandlungen über das Meer
und die Schiffahrt, über die Dampfmaschine, die Telegraphie und Photo-
graphie, über Bergbau- und Hüttenwesen. Und doch möchte man urtei-
len, dasz das Werk für die Schule trotzdem eher zu wTenig, als zu viel
enthalte. Mit demselben Rechte, wie die Meereskunde, dürfte die phy-
sische Geographie des Festlandes, obgleich mehrere ihrer Gegenstände
in der Physik, Geologie, Botanik und sonst gelegentlich besprochen wer-
den, eine besondere Abhandlung beanspruchen; neben, ja vor der um-
fassenden Dampfmaschinen-Lehre wäre ein populärer Abrisz der Mechanik,
na pi entlieh eine Erörterung der im Alltagsleben gebrauchten Werkzeuge
und Maschinen, wie des Pfluges, des Spinnrades, der Uhr, der Mahl-
und Sägemühle wünsd Jens wer th ; endlich würde neben der Physiologie
ein Lehrbüchlein der Diätetik nützlich sein. Vielleicht werden einmal diese
bis jetzt nicht vertretenen Fächer als Nachträge zur gegenwärtigen Auf-
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H. Masius: die gesamten Naturwissenschaften. 37
läge oder als Zugabe zu einer neuen hinzugefugt ; dann liesze sich das
Werk als vollständigste Encyclopädie bezeichnen, welche auch nicht einen
Teil des für Schulen wichtigen Stoffes vermissen lasse.
Die Ansprüche, welche das Werk an das Masz der zum Verständnis
mitzubringenden Kenntnisse und Fähigkeiten stellt, sind — wie es die Be-
stimmung für eweitere Kreise' mit sich bringt — im allgemeinen so ge-
halten, dasz die Schüler der oberen Klassen eines Gymnasiums keine
Schwierigkeiten finden werden. Namentlich sind die Anforderungen an
mathematische Vorkenntnisse sehr mäszig gestellt. Die Physik gibt das
Verhältnis des Kreisumfanges zum Durchmesser an , die Astronomie er-
läutert die Grundgesetze der Ellipse und setzt nur das Wissen voraus,
welches die Schüler in den Lehrstunden der mathematischen Geographie
der unteren Klassen erwerben. Vollkommen elementar ist indessen die
Behandlung nicht, und der Schüler wird hier und da eines Fingerzeiges
der Lehrer bedürfen. Einige Schwierigkeit könnten Anfänger bei der
Auffassung des Körpermaszes finden, dessen anschauliche Vorführung
Schödler mit Recht gegeben hat; schwerer noch wird ihnen das Verständ-
nis einiger Durchschnittszeichnungen von Maschinen und mancher Quer-
und Längsschnitte mikroskopischer Pflanzen -Präparate sein, wozu das
Werk wol an einer geeigneten Stelle einen Wink hätte geben können.
Leider berücksichtigt fast kein populäres Buch die Schwierigkeit, die
viele Laien bei der Betrachtung von Diagrammen abschreckt oder zur Un-
klarheit verführt.
Einer Schwierigkeit, welche sich allen Lesern naturwissenschaft-
licher Werke ohne Ausnahme entgegenstellt und darin besteht, dasz es
gilt, aus Worten eine anschauliche Vorstellung von Naturdingen und
Kunsterzeugnissen zu gewinnen, ist in der vorliegenden Schrift durch
eine grosze Menge eingedruckter Holzschnitte in vielen Fällen glücklich
abgeholfen. Für Physik und Astronomie und die angewandten Natur-
wissenschaften ist durch wolgelungene Illustrationen ausreichend gesorgt.
(Die Physik ist mit 198, die Astronomie mit 20 eingedruckten Holzschnit-
ten und mit drei besonderen Sternkarten ausgestattet.) Die Holzschnitte
sind richtig und verstandlich , ohne nach der realistischen Virtuosität jener
Künstler zu streben , welche nach Art der Genrebildmaler alle Glanzlichter
und Spiegelbilder auf Glasgefäszen darzustellen suchen, was übrigens
nicht immer zum Vorteile naiver Beschauer dient. In den beschreibenden
Naturwissenschaften war eine solche Vollständigkeit der bildlichen Dar-
stellung nicht möglich, viele Thiere und Pflanzen, die der Leser gern
auch illustrirt sähe, musten, wenn das Werk nicht zum Bilderatlas wer-
den sollte, unberücksichtigt bleiben; aber auch hier ist eine Vollständig
keit erzielt, wie sie nur wenige ähnliche Werke aufweiszen. (Die Thier-
kunde ist durch 180, die Pflanzenkunde durch 134, die Mineralogie durch
129, die Geologie durch 63 Holzschnitte illustrirt).
Eine wesentliche Eigentümlichkeit dieser Encyclopädie besteht darin,
dasz sie das Werk einer Association von zwölf Mitarbeitern darstellt,
deren jeder einen besonderen Abschnitt selbständig verfaszt hat. In dieser
bei einem so umfangreichen Werke fast unumgänglichen Thatsache (denn
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38 H. Masius: die gesamten Naturwissenschaften.
wer ki nute sich nach Humboldt rühmen, in allen Bezirken des unabseh-
baren Wissensfeldes gleichinäszig bewandert zu sein?) trat der Bearbeitung
t'ine nc^ue schwierige Aufgabe entgegen. Es scheint notwendig und ist
doch last unmöglich, bei einem durch vereinigte Kräfte gestalteten Werke
dieselbe durchgängige Gleichmäszigkeit herzustellen, welche die Arbeit
eines Einzigen aufweist. Wird doch jeder einzelne Mitarbeiter in dem
Mas/e der an den Leser zu stellenden Voraussetzungen, sowie in der
Darsleilungsart sich von seinen Collegen etwas verschieden erweisen , so
schuf! auch der Redactionsplan den Grundcharakter und die Gliederung
des zu schaffenden Werkes vorher entworfen haben mag. In einigen
Punkten scheint in unsrem Falle wirklich der Spielraum, welcher den
Assoütirten für ihr besonderes Fach gestattet wurde, weniger scharf ein-
gehiillen worden zu sein, so dasz — wie weiter unten angedeutet wird
— iIh: Darstellungsart des einen oder andern sich nicht recht an das Kon-
zert der übrigen anschmiegt. Der populäre Lehrton des einen Mitarbeiters
ttäharl sich mehr der elementaren Vortragsweise, während ein andrer
Schriftsteller zu einem Kreise von höherer Bildung zu sprechen scheint;
dar Verfasser der Geologie verweist an einzelnen Stellen auf die Schriften,
welche ausführliche Belehrung bieten, während in den übrigen Abschnit-
ten «Ire litterarischen Nach Weisungen fehlen und die Hauptförderer der
Wissenschaft nur in der kurzen Geschichte derselben angeführt sind.
Aber alle diese, bei der Association kaum vermeidlichen Ungleich-
mäaztgkejten werden aufgewogen durch den Vorteil, dasz jedes Fach
durch einen besonderen Verfasser, welcher dasselbe vorzugsweise anbaut,
bearbeitet wird. Denn nur dadurch gewinnt der populäre Vortrag seinen
groszten Reiz, dasz der Hörer oder Leser lebhaft fühlt, wie der Darstel-
lende seinen Stoff nicht nur beherscht, sondern con amore betreibt und
bei der Mitteilung seinen individuellen Charakter frei entfaltet. So wie es
den Schülern einer Lehranstalt wohlthut, die verschiedenen Disciplinen in
der verschiedenen Lehrweise der einzelnen Lehrer kennen zu lernen: so
wird es den Lesern eines eucyclopädischen Werkes erwünscht und anregend
sein, wenn der Bearbeiter jedes einzelnen Faches in der seiner Individua-
lität um meisten angemessenen Weise, gleichsam in seinem natürlichen
Urusiiune spricht, wenn also im Notwendigen die strenge Einheit, im
l n wesentlichen die freie Selbständigkeit waltet.
lias ganze Werk, welches 1980 enggedruckte Seiten umfaszt, ist so
gegliedert, dasz der erste Band (von 630 S.) die Physik und Chemie, der
zweile (auf 664 S.) die Physiologie des Menschen, die Thier- und Pflan-
zenkunde, der dritte (auf 686 S.) die Mineralogie, Geologie und Astrono-
noinie enthält.
Hie von K. Koppe, dem als Verfasser weitverbreiteter Schulbücher
rühmlich bekannten Professor in Soest, bearbeitete Pliysik und Me-
teorologie entwirft in schlichter, klarer Darstellung die Grundzüge der
Wisseiu&haft für Leser, welche nur die mathematische Vorbildung einer
Volksschule mitbringen. Sie eignet sich daher zum Lesebuch für solche
Jüngere Schüler, welche sich, schon ehe sie in der Klasse Unterricht in
der Naturlehre erhalten, in dem anziehenden Wissensfelde umsehen wol-
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H. Masras: die gesamten Naturwissenschaften. 39
Ien, und für solche ältere, welche — wie Goethe — einen unüberwind-
lichen Widerwillen gegen die mathematische Behandlung der Naturphäno-
mene fühlen. . Die letzteren finden in dieser populären Physik einen von
'ihrem Koppe9 darin abweichenden Lehrer , dasz er auch dem drr€U)|i£-
TprjTOC vollkommen verständlich ist und einen solchen zugleich zur Ein-
sicht in die Unentbehrlichkeit jener wissenschaftlichen Grundlage für den
höhern Aufbau unaufdringlich hinleitet.
Höchst erwünscht werden Schülern , welche in ihren Physikstunden
nur kurze Mitteilungen über die physikalische Technologie erhalten kön-
nen, die beiden folgenden Abschnitte hier, welche von S. 247 — 352 die
Dampfmaschine und von S. 355 — 440 die elektrische Telegra-
phier eGalvanoplas tik, Da guerrotypie und Photographie
behandelu. Die Verfasser, Ingenieur G. L. Moll und Dr. E. Nauck,
Director der Provinzialgewerbschule zu Grefeld, haben das Allgemein-
interessante dieser jungen Wissenschaften in leichtverständlicher Weise
mit einer für Laien ausreichenden Ausführlichkeit dargestellt, sie haben
überdies durch 72 treffliche Holzschnitte die wichtigsten Apparate veran-
schaulicht und in der Geschichte jener mechanischen und optischen Künste
anziehende kulturgeschichtliche Bilder entworfen.
Die von S. 443—623 reichende, durch 23 Holzschnitte iilusrirte, von
Professor Dr. J. Gottlieb bearbeitet C h e m i e und chemische Tech-
nologie bietet Schülern, welche autodidaktisch Einblick in diese Wis-
senschaft erlangen wollen, ohne sich nach Stöckhardt's trefflicher heuri-
stischer Methode durch eignes Experimentiren einarbeiten zu können, eine
anmutig belehrende Lektüre. Dankenswerth ist die ausführliche Bespre-
chung der für die Gewerbe wichtigsten Stoffe (z. B.Leuchtgas, Schiesz-
pulver,Soda, Glas, Eisen, Brod); vermiszt wird dagegen eine kurze Ein-
fuhrung in die Ackerbauchemie, deren wichtigste Fragen oft in der ge-
selligen Unterhaltung erwähnt werden.
Der zweite Band beginnt mit den bis S. 93 reichenden Grundzügen
der Physiologie, entworfen von Dr. E. v. Ruszdorf in Berlin. Die-
ser Abschnitt scheint für die Einführung der Jugend nicht wohi geeignet
zu sein. Für junge Leser wäre zunächst eine elementare Schilderung des
menschlichen-Organismus nötig, welche hier weder durch die gelegent-
lichen kurzen Erörterungen, noch durch Abbildungen (es sind deren nur
elf) vermittelt wird. So vermiszt man eine Illustration eines Muskels und
einiger Muskelgruppen , einiger Gelenke , des feineren Baues der Drüsen
— Bilder, ohne deren Anschauung ein gehöriges Verständnis der mecha-
nischen und chemischen Vorgänge in jenen Teilen nicht zu gewinnen ist
Auch ist der Stil der physiologischen Erörterungen an mehreren Stellen
nicht der Art, dasz er, wenigstens für die Schule, ein der echten Popu-
larität entsprechender genannt werden kann. Einige derselben mögen
dies Urteil belegen. S. 25. 'Man hat sie Proteusstoffe, Mutterstoffe, ge-
nannt, die ähnlich wie jene Kröte (!), der Proteus, ebenfalls in wandel-
baren Formen schillern.' S. 76. 'In der strengen Wissenschaft, geschäftig
mit dem Pflugschaar des sondirenden Experimentes , reist der Gedanke
die chinesischen Mauern des gelehrten Handwerker- und Kastengeistes
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40 II. Masius: die gesamten Naturwissenschaften.
nieder, indem er die natitr wissenschaftlichen Einzelfächer nur als Glieder
eines Organismus betrachtet,' — S. 88. eWenn wir Gemüt den allgemei-
nen Gefühlszustand nennen, dessen Grundton das Ichgefühl ist, so sind
alle Gemütsgefilhle Variationen dieses Gefühls, und alle Strebungen, alle
Wtllensregungen unmittelbare Reflexe, unmittelbare Uebertragungen die-
ser Gefühle auf den Sinn der That, welchen durch die Willensrichtungen
ein Ziel der Wirkung angewiesen wird.'
Die Z o 0 I o g i e v o 1 1 Dr. H. Masius, der umfangreichste Abschnitt
des ganzen Werkes (S. 97 — 400), darf unter der ansehnlichen Zahl ver-
dienstlicher populärer Thierkunden als eine empfehlenswerthe Leistung
von eigentümlichem Charakter genannt werden. Während andere Werke,
wie die zoologischen Briefe Vogt's, sich als Hauptaufgabe steilen, die
Abstufungen des anatomischen Baues vom niedern zum höheren und die|
Entwicklung der Geschöpfe nach ihren Altersphasen vorzuführen; wäh-
rend andre, wie die Naturgeschichte von Lenz, sich durch die Fülle ihrer
naiv -epischen Erzählungen aus dem Leben der Thiere auszeichnen; wäh-
rend Leunis' synoptische Handbücher durch übersichtliche Diagnostik und
knappe Zusammeiiprcssimg der wichtigsten Notizen sich besonders zum
Nachschlagen und zum Einüben des Bestimmens eignen: liegt der Schwer-
punkt dieser SchrifL in der planmäszigen und wohlgelungenen Thier-
physiognomik. welche nicht sowol die oft versteckten und dem Natur-
menschen als künstlich gesuchte Wahrzeichen erscheinenden streng wis-
senschaftlichen Merkmale, als die bei der naiven Anschauung unmittelbar
sich aufdrängenden Charakterzüge des Habitus berücksichtigt und in mar-
kigen Zügen ein lebendiges Bild der Gestalt und des Gebahrens der ver-
schiedenen Geschöpfe entwirft. Man könnte diese Methode eine Natur-
ästhetik nennen; sie verwandelt aber die sinnliche Realität der Gestalten
nicht in abstrakte Begriffe, sondern bildet sie gleichsam als anschauliche
Erlebnisse plastisch nach und weist überdies (z. B. S. 379) darauf hin,
dasz bei dorn Urteil über die Rangordnung der Naturwesen das ästhetische
Urteil über die Formschön beit nicht maszgebönd sei. Das bekannte Talent
ies Verfassers, das Aussehn und Benehmen, die leihliche und seelische
Physiognomik von Pflanzen und Thieren in treffender, lebendiger Weise
zu kennzeichnen, bewahrt sich auch hier, wo es galt, in engen Rahmen
vielerlei Thiergcstallen in systematisch geordneten Gruppen vorzuführen.
Die Thierbihtcr dieser Zoologie , oft in knappen, epigrammatischen Zügen
skizzirt, zuweilen bis ins kleinste Detail sauber ausgeführt, werden von
Lesern, welche die Natur vom naiven, ästhetischen Standpunkte aufzu-
fassen vorziehen (und solche sind ja fast alle jugendlichen Naturfreunde),
zur anmutigen Unterhaltung gern betrachtet und mit Nutzen studiert
werden. Nächst der Physiognomik ist das Verhältnis der einzelnen Thiere
zum Menschen, ihre Benutzung und Bekämpfung und besonders auch der
ästhetische Einflusz .derselben auf Kunst und Religion einzelner Völker
eingehend berücksichtigt, Die wörtliche Anführung von Sprüchwörtern
und Volksreimen , sowie von Stellen aus alten und neuen Schrifstellern,
welche die künstlerische Auffassung einzelner Thiergestalten durch ge-
bildete und rohe Nationen andeuten, sind. eine dankenswerte Zugabe. Dasz
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H, Masius: die gesamten Naturwissenschaften. 41
bei einem solchen Grundplaue die Wirbelthiere als die höheren , für die
ästhetische Anschauung reizenderen und dankbareren und zugleich für
das wirtschaftliche Leben des Menschen weitaus wichtigsten bevorzugt
werden musten, ist selbstverständlich, und man kann keine Ausstellung
dawider machen, dasz sie 307 S. innehaben, während den wirbellosen, die
in einer strengwissenschaftlichen Uebersicht wenigstens den gleichen
Baum beanspruchen könnten , nur 165 S. eingeräumt ist. Aber die volle
Berücksichtigung, die ihnen gebührt, haben die letzteren doch woi nicht
gefanden, da die allgemeine Charakteristik ihrer Glassen die genauere
Schilderung einzelner besonders merkwürdiger Arten nicht ersetzt. So
vermiszt man mit Bedauern bei den Krustern eine wenigstens kurze Schil-
derung des den Kindern oft vorkommenden Oniscus und des Flohkrebses,
bei den Würmern den Regenwurm und Blutegel , bei den Polypen die ein-
heimische Hydra. In Betreff der Illustrationen wäre zu wünschen, dasz
statt der Abbildungen einiger bekannten Thiere (wie des Pferdes , Huhns
und Wiedehopfes) lieber die Bilder einiger Polypen und Infusionsthierc
und eine Zeichnung des inneren Baues der Weich - und Slrahlthiere ge-
geben werden möge.
In der B o t a n i k (S. 403—664) behandelt der Verfasser , Dr. D i p p e 1
inldar, in ansprechender und ausführlicher Weise zuerst die Geographie
und Aeslhetik der Gewächse, dann von S. 437 — 457 die mikroskopische
Anatomie der Gewebsteile, von. S. 458 — 491 die Organographie und Phy-
siologie der Pflanzen, namentlich auch der Gryptogamen, welche in ähn-
iichen Schriften oft stiefmütterlich angesehen sind, dann gibt er von
S. #3—622 die Beschreibung der wichtigsten , besonders vollständig der
für die menschlichen Verhältnisse einfluszreichsten Pflanzen , unter deren
Zahl nur wenige (wie das Mutterkorn) vermiszt werden, während wol
auch die Uebertragung des Karloflelkrautpilzes auf die Knollen und die
Verbreitung des Traubenpilzes eine Angabe verdient hätten. Von S. 622
—643 wird die Verwendung der Pflanzenstoflfe im Dienste des Kultur-
lebens erörtert und zum Schlusz ein Abrisz der Geschichte der Wissen-
schaft gegeben. Zu wünschen wäre, dasz die so vollständige Abhandlung
auch einen Gegenstand, den leider die meisten populären W7erke bei Seite
lassen , vorgeführt hätte. Dies ist eine faszliche Darstellung der strengen
and genauen Methode, nach welcher die Wissenschaft die Arten durch
kurze, scharf bestimmte Ausdrücke kennzeichnet und mehrere Arten zu
Gattungen und Familien gruppirt. Durch die streng wissenschaftliche
Beschreibung einiger bekannten Pflanzen (etwa der Stachel- und Johannis-
beere, der Schlehe und des Kirschen- und Pflaumenbaumes) hätte der
Laie eine Vorstellung von der ihm unverständlichen und zuweilen als
lächerliche Kleinigkeitskrämerei erscheinenden diagnostischen und grup-
pirenden Thätigkeit der Systematiker gewonnen. Sonst sind dem Referen-
ten noch folgende Punkte vorgekommen , mit denen er sich nicht einver-
standen erklären kann. In der Darstellung der mikroskopischen Anatomie
ist leider weder das Verfahren der Präparation beschrieben , noch bei den
Abbildungen die Stärke der Vergröszerung angegeben, weshalb der Laie
über manches unklare und unrichtige Vorstellungen bekommen wird. In
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[I. Musiusi die gesamten Naturwissenschaften
-■
Betreff der llkisE r^l iuneii wären wo! slalt der Abbildungen allbekannter
Pflanzen (wie des Gänseblümchens, Veilchens, der Lilie und Gerste und
zumal stau der wenig gelungenen Ullrichen von unsern Waldbäumen) die
Zeichnungen von der Blut« de* Nadelhölzer undBecherfrüchller, vom Bau
der Üivhishluiue und von mehreren, in der Geographie vielgenannten
Kulturpflanzen (Oclhaum, Batate. Maniok, Yam u. dgl.) vorzuziehn. Der
Stil des Verfassers neigt an mehreren Stellen, namentlich in der Einleitung,
zu einem leider viel verbreiteten , unpassenden Poetisiren. Es scheint
werler der populären Wissenschaft angemessen, noch von besonderem
- stilistischem Verdienste , wenn in der Schilderung des Jahreslebens der
Flora der Winter bezeichnet wird als 'der düster blickende Alte, der
seine Eisbluuien an die Fenster malt und den Schneemantel fester wie im
Grimme um die Schulter schlägt* Abgesehen von diesen kleinen Mängeln
bietet aber die Abhandlung der Jugend eine Fülle wissenswerthen Stoffes
in ansprechender Form.
Den dritten Band eröffnet die Mineralogie (S. 1 — 104), bearbei-
te* von dem als Forscher wie als populärer Schriftsteller anerkannten
Professor Quenstedl in Tübingen. Er hat die schwierige Aufgabe,
Laien, ohne jL-leichzeiiig Sehaustücke vorzeigen zu können, die wesent-
lichsten Eigenschaften, Gcwinnuugs- und Verwendungsarten der Minera-
lien faszlicli und anziehend zu erzählen , glücklich gelöst. Sein Vortrag
ist natürlich, munter, der lebendigen , nicht auf besoudere Zierlichkeit
berechneten Rede ähnlich und durch anekdotische Zugaben gewürzt. Die
Abhandlung ist jungen Lesern als erste Einführung zu empfehlen; zu
wünschen wäre für solche eine kurze Anleitung zum Sammeln der ge-
wöhnlichen Vorkommnisse und zu deren näherem Studium gewesen.
Die Geognosie und Geologie von Dr. J. Nöggerath, Berg-
ralh und Professor, dem als Verfasser populärer Schriften allgemein be-
kannten Gelehrten, überschreitet in der Zumessung des Stoffes (S. 107 —
329) wol die Grenzen des für junge Leser notwendigen (so durch die aus-
führliche Angabe der zahlreichen Unterabteilungen der einzelneu Forma-
tionen und ihrer britischen und französischen Aequivalente, und durch
die Aufzahlung der Kamen vieler Lcitpetrefakte, deren Beschreibung und
Zeichnung nicht beigegehen ist); sonst verdient aber diese Abhandlung
eines zuverlässigen Sachkenners, welcher die geologische Urgeschichte
mit der Bescheidenheit eines Forschers ohne verwegene Hypolheseu und
ohne die bengalische Flammen beleuchtung der Phantastik erzählt, der
Jugend empfohlen zu werden. Besonders ist als Illustration und weitere
Ausführung mancher in den Unterrichtsstunden der physischen Geographie
erwähnten Thatsachen den Schülern der oberen Classen das Studium der
Abschnitte vom Vulkanismus (S. 117— 145), von den Gletschern und von
den Korallen anzuralhen.
Höchst anziehend für Knaben* welche fast alle, wrie der junge Theo-
dor Körner, im Bergmannsheruf ein Leben von eigentümlichen poetischen
Beizen erblicken, wird der Ahrisz der Bergbau- und Hüttenkunde
sein, welche auf S. 323—426 der Bcrgrath L ottner in faszlicher Dar-
stellung gibt.
n
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H. Masius: die gesamten Naturwissenschaften. 43
Ebenso dürfte der folgende Abschnitt: das Meer vonDr. H.Rom -
berg, Navigationslehrer zu Bremen, eine Lieblingslektüre der Jugend wer-
den. Die Physik des Weltmeeres , der Einflusz des Oceans auf die klima-
tischen Verhältnisse der Erde , die Strömungen , Wellen und Gezeiten,
die Eisbildung , der Grund und die Ufer des Meeres, das organische Leben
im Salzwasser und die wissenschaftlichen Grundlagen der Schiffahrt finden
darin (von S. 427 — 546) eine ausreichende , klare und anziehende Dar-
stellung.
Die Astronomie (S. 547 — 640), verfaszt vom Professor M 9dl er in
Dorpat, ist — wofür schon der Name des Verfassers bürgt — ein Muster
populärer Darstellung im höheren Stil, welches, ohne der Würde der
Wissenschaft im geringsten zu vergehen , die ernste Lehre von der Me-
chanik des Himmels durch Einwebung von geschichtlichen Thatsachen und
vod geistvollen Reflexionen zur anmutigen Lektüre macht. Zur allerersten,
elementaren Einführung weniger geeignet, wird diese Abhandlung dagegen
reiferen Schülern zum ebenso anziehenden, als nützlichen Studium dienen.
Die Ausstattung des Buches ist schön. Der Druck läszt nur in der
ßotanik durch manche Druckfehler in den lateinischen Pflanzennamen zu
wünschen übrig. Die Holzschnitte sind allermeist lobenswert; nur ein-
zelne, welche organische Naturkörper darstellen (z. B. das Bilsenkraut,
die Lilie, manche deutsche Bäume), sind nach unvollkommenen Zeichnun-
gen gemacht und einige in der technischen Ausführung weniger gelungen.
Nach dem Mitgeteilten darf denn woi die vorliegende Encyclopädie
.ils ew für die Schüler von Gymnasien und Realschulen empfehlenswertes
Lesebuch bezeichnet werden, welches an Reichhaltigkeit die meisten
andern übertrifft. Jüngeren Lesern werden namentlich die naturgeschicht-
lichen Abteilungen und die Abhandlungen über den Bergbau und das Meer,
älteren die Geologie, die Lehre von der Dampfmaschine, von der Tele-
graphie, Galvanoplastik und Photographie und von der Astronomie anzu-
raten sein, Zu wünschen wäre, dasz die Verlagshandlung, wie es mit
der Zoologie geschehn ist*), Unbemittelten auch den Ankauf einiger an-
dern Abschnitte als Einzelwerke ermöglichen könnte. Gewisz möchten
viele junge Leute die Abhandlung von der Dampfmaschine, die Meeres-
kunde und andre Abschnitte gern als Zugabe zu 'ihrem Koppe' und 'ihrem
Daniel5 erwerben.
R. • Dr. S.
*) Die Thierwelt. Charakteristiken von Dr. Hermann Masius.
Zweite unveränderte Auflage. Essen, Bädeker. 1862.
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44 Berichl über ilir Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
6.
Bericht über clie Verhandlungen der zweiundzwanzigsten
Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in
Meiszen vom 29. September bis 2. October 1863.
[Vorbemerkung: Durch besondre Güte der Redaktionscommission ist
der unterzeichnete Berichterstatter in der Lage gewesen, neben
seinen eignen Aufzeichnungen auch die offiziellen Niederschriften
benutzen und teilweise Einsicht in die Manuscripte der Redner neh-
men zu können. Wenn er trotzdem die ganzen Verhandlungen nur
im Ansznge mitteilt > so hat ihn dazu die naheliegende Rücksicht
bestimmt, dnsz dem Vertrieb der in gleichem Verlage erscheinen-
den f Verhandlungen7 durch das Referat in dieser Zeitschrift nicht
allzusehr Abbruch gcthan werden dürfe.]
Auf der vorjährigen Versammlung deutscher Philologen und Schul-
männer zu Augsburg (s. Jahrg. 1863. Heft 2. 3 dies. Zeitschr.) war
Meiszen zum Ort der nächsten, zweiundzwanzigsten, Versammlung und
als Präsident derselben liector Prof. Dr. Franke daselbst gewählt wor-
den j dem die Wahl eines zweiten Präsidenten überlassen bleiben sollte.
Diese Wahl fiel auf den Director Prof. Dr. Dietsch in Plauen.
Ein groszer Teil der gelehrten Gäste traf bereits am 28. September
in Welszen ein, jeder Bahnzug brachte neue Schaaren, welche, von
Mitgliedern des Lük&leomite's geleitet, durch die mit sächsischen und
deutschen Fahnen und zahlreichen Laubgewinden geschmückten Stra-
szen der altehrwürdigen Misnia nach dem auf dem Rathhaus eingerich-
teten Wohnnngsbureau wanderten. In den späteren Abendstunden ver-
einigten flieh die bereits eingetroffenen zu einer geselligen Zusammen-
kunft tu den festlich geschmückten Lokalitäten des cFelsenkellers.'
Nach den in den folgenden Tagen ausgegebenen Präsenzlisten stieg die
Zahl der Mitglieder auf 312, so dasz die diesjährige Versammlung zu
den stärker besuchten gehört. Sachsen war in der Präsenzliste mit 144
Nummern vertreten (darunter 15 Universitätslehrer, 9 Gymnasialrecto-
ren, 53 Gymnasiallehrer,!. Die übrigen 168 Nummern verteilen sich un-
ter die andern deutsehen und auszerdeutschen Länder folgend ermaszen:
Preuszen 101; Oesten-eich 9; Bayern 8; Hannover und Oldenburg 5;
Württemberg und Baden 2; Sächsische Herzogthümer 9; Mecklenburg 3;
die beiden Hessen 8; Holstein, Braunschweig, Frankfurt 3. — Rusz-
land 10 (Dr. Fritsehe, v. Siennitzky, Schiehowsky, v. Bradke,
vt Slepzoff, Engelmann, Graff, v.Paucker, Krannha^s, Berk-
holz); Norwegen 1 (Lökke); Niederlande 1 (Juynboll); Frankreich 1
(Oppertj; Schweiz 2 (titähelin, Vischer*); Italien 1 (Ettore de
Ruggiero]: Türkei 1 (Mordtmann aus Constantinopel); Asien 2 (Ro-
sen aus Jerusalem, Long aus Calcutta); Amerika 1 (Comfort aus
Neuyork).
Der Berichterstatter unterläszt es, einen specielleren Auszug aus
der Präsenzliste zu geben, da es äuszerst schwierig ist, für die Aus-
wahl aus einer so groszen Anzahl hervorragender, in den verschieden-
sten Zweigen der philologischen Wissenschaft ausgezeichneter Gelehr-
ten ein festes Prineip zu finden und dasselbe zugleich consequent und
mit kundigem Urteil durchzuführen.
*} Prof. Lazarus aus Bern traf erst am dritten Versammlungstage
ein, ist daher in der Präsenzliste nicht mit aufgeführt.
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 45
I. Allgemeine Sitzungen.
Erste Sitzung, deu 29. September. Präsident: Rector Prof. Dr. Franke.
Dienstag, den 29. Sept. 9V4Uhr wurde die erste allgemeine Sitzung
der zweiundzwanzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schul-
männer in Gegenwart des Staatsministers Dr. v. Falkenstein, Exe.
und des Geheimen Kirchen- und Schulraths Dr. Gilbert im Festsaale
der Fürstenschule durch den Präsidenten eröffnet. Wir lassen die kurze
Ansprache, mit der derselbe die Versammlung begrüszte, dem Wort-
laute nach folgen:
'Hochgeehrte Herrn! Ich heisze Sie im Namen der hohen Staats-
regierung, im Namen der Stadt Meiszen und auch in dem der Schule,
in deren Räumen Sie versammelt sind, auf das Herzlichste bei uns will-
kommen. Wir wissen, welchen Segen die wissenschaftlichen Verhand-
lungen und der persönliche Verkehr so vieler bedeutender Gelehrten
und Jugendlehrer auch für unsere Schule haben wird; wir wissen, dasz
jeder Fortschritt in der Wissenschaft mehr oder weniger für die Schu-
len verwendet wird und ihnen zu gute kommt, und dasz diese Tage
nicht blosz für uns eine reiche Quelle vielfacher Anregung und mannig-
facher Belehrung sein werden. Darum haben wir uns gefreut und dan-
ken Ihnen dafür, dasz Sie diese alte Fürstenstadt zu Ihrem diesjähri-
gen Versammlungsorte gewählt haben. Sind auch die Räumlichkeiten,
die wir Ihnen zu Ihren Versammlungen bieten können, enger und be-
schränkter, als Ihnen an anderen Orten zu Gebote gestanden haben,
so sind sie doch geheiligt durch das Andenken an die groszen Fürsten,
welche sich durch die Stiftung der Landesschulen ein so wesentliches
nnd bleibendes Verdienst um die Pflege der Wissenschaften und gauz
besonders um die Befestigung der Reformation erworben haben, gehei-
ligt durch die Erinnerung an die groszen Männer, welche in diesen
3/aaern den ersten Grund zu ihrer Grösze und ihrem Ruhm gelegt ha-
ben. fChristo et studiis', der Wahlspruch der Landesschule, ist auch
der Wahlspruch dieser Versammlung. Lassen Sie uns daher mit Gott
unsere Verhandlungen beginnen! Er wolle dieselben für die Wissen-
schaft und somit auch für die Schulen und für das Vaterland segnen!
Hochgeehrteste Herren! Sie haben auf Ihrer 21. Versammlung in
Augsburg mich zum Präsidenten der diesjährigen Sitzung gewählt. Ich
babe diese Ehre angenommen, nicht als ob ich mich derselben für
würdig gehalten oder als ob ich geglaubt hätte, den Pflichten, welche
mir dieselbe auferlegt, zu Ihrer Zufriedenheit gerecht werden zu kön-
nen, sondern weil ich die Ueberzeugung habe, dasz Sie durch diese
Wahl diese altehrwürdige Schule haben ehren wollen, deren Vorstand
zu sein ich so glücklich bin. Darum glaube ich auch Ihrer gütigen
Nachsicht gewis sein zu können, und bitte Sie um dieselbe, wenn ich
in der Verwaltung meines Amtes bei meiner Unbekanntschaft mit den
Formen parlamentarischer Verhandlungen weit hinter Ihren Erwartun-
gen zurückbliebe. Ich erkläre hiermit die 22. Versammlung deutscher
Philologen und Schulmänner für eröffnet.'
Nach diesen Eröffnungs Worten wurde zuvörderst das Bureau con-
stituiert Auf Vorschlag des Präsidenten wurden zu Sekretären er-
wählt: Prof. Dr. Döhner aus Meiszen, Dr. Grautoff aus Glogau, Dr.
Richter aus Plauen und der unterzeichnete Berichterstatter. Hierauf
wurde die Commission zur Bestimmung des nächsten Versammlungs-
ortes ernannt; dieselbe ward zusammengesetzt aus dem diesjährigen
Präsidium und den Präsidenten der früheren Versammlungen, den Her-
ren Proff. DD. G. T. A. Krüger, Vischer, Eckstein, Haase,
Halm, Fleckeisen, und noch zu ernennenden Deputierten der orien-
talischen und germanistischen Section. Es folgte hierauf die Verlesung
der ersten Präsenzliste, der Berliner Statuten von 1850, sodann ge-
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46 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
scfaaftlicha Mitteilungen des Präsidenten, in der Hauptsache bezüglich
auf das aufgestellte Festprogramm, und die Verteilung' der der Philo-
lu^enversaintnlung gewidmeten litterarischen Festengaben. [Alle diese
werden am Sehlusz des Berichts über die allgemeinen Verhandlungen
im Zusammenhange aufgeführt werden.]
Hierauf ward zur Tagesordnung übergegangen. Vicepräsident Prof.
Biets eh bat zunächst im Namen des Präsidiums um Entschuldigung,
dasz dasselbe mit seiner Ankündigung und dem Programm der dies-
jährigen Versammlung so spät hervorgetreten sei und die Zusendung
der Programm? an «Jle einzelnen Anstalten und Gelehrten unterlassen
habe. Eh sei schlechterdings unmöglich gewesen, den Bestimmungen
der Statuten in diesem Punkte genau nachzukommen. Sodann moti-
vierte er die Verteilung der Vorträge auf die einzelnen Tage. Das
reiche Material habe zum Teil den Sectionen zugewiesen werden müs-
sen p doch würden sieh die Vorstände derselben gewis bereit finden
lassen, für einzelne Vorträge von allgemeinem Interesse (z. B. für die
Gedächtaisrede auf Jacob Grimm, Gosche über phrygische Inschrif-
ten, Mordtmann über die Zigeuner) Stunden anzusetzen, in denen
die ganze Versammlung zugegen sein könne. (Es erfolgt kein Wider-
spruch.)
Der Präsident machte hierauf den Vorschlag, der sofort ange-
nommen ward, den von der vorjährigen Versammlung gebliebenen Rest
von 34 Thlr, auf den Ankauf einer Anzahl Exemplare der cVerhand-
lungen der Augsburger Philologenversammlung' zu verwenden und die-
selben an diejenigen zu verteilen, welche die Zwecke jener Versamm-
hing hauptsächlich gefordert hätten.
Nach Erledigung dieser Aeuszerlichkeiten hielt Vicepräsident Direc-
tor D i eU eh den ersten der angekündigten Vorträge: cüb er G. E. Les-
sing als Phi lolo gen.'
Nichts könne einem zu Meiszen versammelten Kreise von Philolo-
gen näher liegen, damit beginnt der Redner, als das Andenken an den
grosten Schüler der Schule zu St. Afra, Gotthold Ephraim Les-
sing, der vom '21. Juni 1741 bis zum 30. Juni 1746 an dieser' Stätte
die Vorbereitung zur gelehrten Bildung erhalten habe, in dankbarer
Anerkennung seiner ausz erordentlichen Verdienste um unser Volk, un-
sere Liitcratur und speciell die philologische Wissenschaft zu erneuern.
Sei es doch neben Wiukelmann vor allem Lessing gewesen, der den
Morgen einer neuen kulturhistorischen Periode und gleichsam 'das
zweite Wiederaufleben des Altertums' herbeigeführt, der die philolo-
gische Wissenschaft nicht allein durch die Resultate seiner Forschung,
sondern besonders durch Aufzeigung der richtigen Methode, umfängliche
Aufsuchung der Quellen, gründliche Wort- und Sacherklärung, elas-
tische Form der Darstellung mächtig gefördert und in engste Be-
ziehung zum 'National leben gesetzt habe. Nenne ihn doch Dan -
Sei (Leben L. I ß, 26) geradezu einen cPhilologen'; die pädagogische
Bedeutung des grossen Mannes aber sei in schönster Weise von G.
Baur (Encyel. d. Krziehungs- und Unterrichtswesens v. Schmid III
S. 4Ü 1—415) nachgewiesen und ins gebührende Licht gesetzt worden.
LessLng's Schulzeit in Meiszen sei von Danzel in einem für die
Schule zu ungünstigen Lichte dargestellt worden. Die grosze Zahl
der Religionsstunden und Religionsübungen sei in dem Geist und den
Anschauungen der damaligen Zeit begründet gewesen, die ungünstigen
Aeuszerungen L.Ts aber über den Geist der Schule und ihrer Lehrer,
besonders über den Conrector Höre (W. XII S. 23), seien wol nur als
Aeuszerungen augenblicklichen Mismutes zu fassen, da L. an einer an-
dern Stolle sich die im engen Bezirk der klostermäszigen Schule ver-
lebten Jahre (W. IV S. 4) als die glücklichsten seines Lebens zurück-
wünsche, und dankbar anerkenne, dasz er den festen Grund seines
Wisaens dieser Anstalt au verdanken habe. Besonders sei die Grund-
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Bericht übe r die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 47
einrichtuug der Fürstenschulen, nach der dem selbständigen Studium
möglichst viel freie Zeit eingeräumt werde, für Lessing wie für Klop-
stock sehr förderlich gewesen; durch dieses Selbststudium sei er schon
auf der Schule. mit Theophrast, Plautus und Terentius gründlich ver-
traut worden. Dasz aber der deutsche Unterricht, den L. genossen,
sich nicht blosz auf die Einübung des Canzlei- und Uebersetzungsstils
beschränkt habe, das beweise der Stil, den Lessing schon als Schüler
geschrieben. Seien doch Gärtner, Geliert und Rabener wahrscheinlich
schon in Meiszen zur Schriftstellerei angeregt worden, habe doch L.
selbst nach Danzel's Nachweis (I S. 49) bereits als Schüler den Plan
zu seinem 'jungen Gelehrten' entworfen. Auch die Behauptung des ge-
nannten Biographen, dasz die Entfremdung von der Heimat 'nicht die
schönste Frucht von L.1s Aufenthalt auf der Fürstenschule' gewesen
sei, sei auf das rechte Masz zurückzuführen: L. habe in Meiszen bald
eine gewisse Persönlichkeit und ein sehr bestimmtes Gepräge des Cha-
rakters erhalten, aber weder die Liebe zu Eltern und Geschwister noch
die Hauptgrundsätze seines elterlichen Hauses habe die Schule in ihm
zerstört.
Der Einflusz dieser auf der Schule begonnenen und auf der Univer-
sität mit Eifer (unter Ernesti's und Christas Leitung) fortgesetzten alt-
classischen Studien zeige sich schon in den -frühesten Schriften 'in den
Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters' und in der 'Ab-
handlung über Plautus'. Letztere Abhandlung, obgleich nach dem
Musterschema der frühern Philologen angelegt und in der Aufzählung
der Ausgaben und Behandlung einzelner gelehrter Fragen der neuern
Wissenschaft gegenüber manche Blöszo bietend, zeuge doch unwider-
stehlich von der Gründlichkeit seiner Forschung, seiner straffen Me-
thode und der Selbständigkeit seines Urteils; sie habe zuerst z. B. die
volkstümliche Komik der Captivi ins rechte Licht gesetzt, oberfläch-
liche Urteile von Bayle u. a. abgewiesen und das des Horaz (a. p. 270.
sqqj limitiert; richtige Winke und gute Muster für eine zweckenspre-
chende Uebersetzung gegeben, wie wir von ihm bekanntlich auch
lebersetzungen aus Horaz, Aristoteles* Poetik, Terentius, Tertnllian
besäszen. Aber in den Arbeiten über Plautus habe Lessing auch die
Kritik und Exegese vieler andrer Schriftstoller gefördert. Selbst wenn
seine Conjecturen, wie man es ihm vorgeworfen, in der Mehrzahl rois-
glückt wären, habe er sich doch meist um die Erklärung der behan-
delten Stellen ein groszes Verdienst erworben dnreh seine Exegese,
scharfsinnige Aufspürung von Fehlern und Widersprüchen und selten
and mit Vorsicht angewendeten Geschmacksurteile. Die Unkenntnis der
Grundsätze diplomatischer Textkritik werde ihm kein billiger Beurteiler
zur Last legen, zumal da Lessing so bescheiden von seinen philologi-
schen Bemühungen gedacht habe fW. VIII S. 8).
Ebenso verdient habe sich Lessing um Horaz gemacht durch sein
rVademecum für Herrn Samuel Gotthold Lange7 und die 'Rettungen
des Horaz', obgleich er in der letzteren Schrift in fast allen Punkten
über das Ziel hinausgehe. Wenn auch Lessing in der Erklärung ein-
zelner Stellen mehrfach selbst irre, so habe er doch das grosze Ver-
dienst, den Dichter gegen die Verunglimpfungen durch anmaszende Un-
wissenheit und erbärmliche Verleumdung siegreich vertheidigt zu ha-
ben. In der Abhandlung 'über die Tragödien des Seneca' zeige sich
Lessing zwar noch in den Theorieen der französischen Aesthetiker be-
fangen, doch bereite sich schon die Freiheit des Urteils vor, die im
Laokoon so siegesfroh heraustrete. Auch die in den Abhandlungen
'von der Fabel' gegebenen kritischen und exegetischen Bemerkungen,
besonders aber die scharfsinnige Definition und Charakteristik dieser
Dichtgattung habe viel zum besseren Verständnis derselben und zur
rechten Würdigung der Leistungen der Alten in ihr beigetragen. In
den Arbeiten 'über das Epigramm' aber und 'die vorzüglichsten Epi-
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
.trram misten' habe Lessing erstens mit unerbittlicher Consequenz alle
Afterarten dieser Gattung ausgeschieden und dann viele schätzbare Bei-
träge zum Verständnis wie Logau's und Wernike's, so besonders des
Martial geliefert. Viel bestimmter aber als in allen früheren Schrif-
ten sei der Satz, dasz fdie altclassische Litteratur für die deutsche das
wahre Muster und Correctiv' sei, ausgesprochen in den Litteratur-
b riefen, in denen zugleich die in der Geschichte der Pädagogik so
denkwürdige Bekämpfung der seichten Basedöw'schen Unterrichtsprin-
eiplen und manches beherzigenswerthe Wort über den Werth der Alter-
tumes tu dien, den Unterschied von Altertumskunde und Altertumskräme-
rci, von r Gelehrten' und f schönen Geistern' sich finde. Ueber fdas
Leben des Sophokles' beruft sich der Redner auf das Zeugnis von Th.
Berg-k und ala unläugbar richtige Resultate der Schrift bezeichnet er
den Nachweis der Zugehörigkeit des Triptolemus zur ersten Tetralogie
des Sophokles, die Erörterungen über den Tritagonisten bei Aeschylos
und über die Masken des Thamyris, über das Abhängigkeitsverhältnis
des Sophokles und Aeschylos u. a. m. Die schönste Frucht dieser Studien
aber sei der 'Laokoon', jenes vom 18jährigen Goethe mit Begeiste-
rung aufgenommene, in die ästhetische Anschauung der ganzen Zeit
tiefe umgreifende Meisterwerk Lessing's, in dem die von Winkelmann
entdeckten Gesetze der Kunst philosophisch begründet, ergänzt und
berichtigt und zugleich an den hervorragendsten Litteraturwerken nach-
gewiesen seien» Irtümer Lessing's — sowol in der Bestimmung der
Qrenaeti von Malerei und Plastik als auch in der Deutung der Lao-
koongruppe und der Feststellung ihrer Entstehungszeit — lieszen sich
nicht abläugnen, aber sie verschwänden neben den groszartigen Siegen,
die Leasings Dialektik erfochten habe über die Vergötterer der römi-
schen Kiinstimesie, die Verehrer der Malerei in der Dichtung und die
antiquarischen Exegeten, welche in unverständiger Weise antike Kunst-
werke zur Erklärung der Schriftsteller herbeizogen. Der Redner ent-
wickelte hierauf die groszen Verdienste, die sich Lessing in der Ura-
nia tnrgie' iLm die Poetik des Aristoteles erworben, indem er zuerst
in dieser Heb ritt mit Scharfsinn Schwierigkeiten und Widersprüche auf-
gedeckt und den Weg angebahnt habe, den in neuerer Zeit Bernays
mit Lessing'schem Geist weiter verfolgt habe. Hieran knüpfte der Red-
ner den Nachweis, in wie vielfacher Weise in dieser Schrift von Les-
sing das Studium des Euripides, Aeschylos, Aristophanes und Terentius
durch Behandlung allgemeiner Fragen und Besprechung einzelner Stel-
len gefördert worden, während die wahre philologische Methode der
Archäologie gegen Klotz und ähnliche Geister in den 'antiquarischen
Briefen' und durch die Discussionen über fdie homerischen Gemälde, Bil-
der der Furien' und über rdie geschnittnen Steine' und andere gröszere
und kleinere Aufsätze mit ebenso viel Scharfsinn als Akribie und Sach-
kenntnis von ihm vertheidigt und festgestellt worden sei.
Zum Schlusz warf der Redner noch einen Blick auf L.'s Tkätigkeit
als Bibliothekar zu Wolfenbüttel, die sowol durch Förderung
der Arbeiten Andrer als durch die Publikation wichtiger Funde (Paulus
Süentiarius, die angebl. Anecdota des Antoninus, Ergänzungen zu Ju-
lius Firmieus) so ersprieszlich für die Wissenschaft gewesen sei, sowie
auf seine Verdienste um die ältere deutsche Litteratur (Heldenbuch,
Minnesänger, Boner, Andreas Scultetus, Friedrich v. Logau) und schlosz
mit den Worten: rWäre eine Zeit denkbar, in der es keine Aufgaben
mehr für die Philologie zu lösen gäbe, so lange Lessing's Geist auf
innere selbständige Durchdringung und Aneignung der Wahrheit fort-
wirkt, wird man Philologie treiben. Und drängten der Zeit hochgehende
Wogen diese Wissenschaft in einen entlegenen Winkel zurück, solange
dann die Deutschen der Sehnsucht nach einer Wiedererweckung jener
Blüte, die unser Volk über alle andern stellt, fähig sind, wird man sie
an der Quelle suchen, welche Lessing aufzeigt,'
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 49
r Specialit'äten aus diesem reichhaltigen Vortrag anzuführen haben
wir daran) am so weniger für angemessen gehalten, da die Begründung
und weitere Ausführung vieler Behauptungen in den zahlreichen Anmer-
kungen enthalten ist, die der Redner in den gedruckten 'Verhandlungen*1
seinem Vortrage beizugeben versprochen hat.
Prof. Overbeck aus Leipzig ergreift das Wort, um gegenüber
der von dem Redner dargelegten Auffassung der Laokoongruppe, die
in der Hauptsache mit der Lessing'schen übereinstimmte, die neuere
Ansicht zu wahren, die auszer Welcker und ihm auch Brunn teile,
auf dessen Zeugnisz Dietsch sich mit Unrecht berufen habe. Diese
gehe allerdings dahin, dasz Laokoon schreie; nur dürfe man an kein
Brüllen denken, sondern etwa an ein schmerz erfülltes (h "AiroXXov,
"AttoXXov! Dem physiologischen Zeugnisz des Marburger Gelehrten
könne er die Gutachten der sachkundigsten Leipziger Mediciner gegen-
überstellen, welche sich dahin ausgesprochen hätten, dasz die Gestal-
tung von Laokoon' s Unterleib keineswegs hindere, einen Ausruf oder
Aufschrei anzunehmen, zumal wenn man mehr an das Ende als an den
Ansatz des Schreiens denke.
Vicepräsident Prof. Dietsch: Man habe ihn miszverstanden. Er
habe weder die neuere Ansicht von Overbeck und Andern bekämpfen
noch eine eigne aufstellen, sondern einfach das anführen wollen, was
zur Verteidigung von Lessing's Auffassung von Archäologen älterer
und neuerer Zeit geltend gemacht worden sei.
Prof. Overbeck: Es handle sich nicht um seine Ansicht, sondern
um die, welche die ganze neuere Wissenschaft, nicht gegen Lessing,
sondern über ihn hinaus und auf seine Fundamente sich stützend, in
dieser Frage einnehme.
Rector Eckstein aus Leipzig widerspricht der Auffassung und Be-
hauptung des Redners, 'dasz L. schon auf der Meiszner Schule durch
seine altclassischen Studien die Richtung gegen den französischen Ge-
schmack seiner Zeit erhalten habe. Nach Dietsch solle dieser Um-
schwung unmittelbar nach L.'s Abgang zur Universität hervorgetreten
sein. Er glaube, dasz L. damals noch ganz im Gottschedschen Geschmack
befangen gewesen sei; seine Jugenddramen mit ihren Lisetten und
mechanischen Figuren trügen noch ganz das Gepräge der Leipziger
Schule. Erst in Breslau nach langen Jahren des Ringens und ernster
Arbeit habe sich L. zu seiner spätem Richtung hindurchgearbeitet. —
Zum Schlusz richtet derselbe eine launige Anfrage an den Redner in
Betreff einer von Danzel wiedergegebnen Notiz des Litteraten R o c h -
litz, nach der der Leipziger Rector Joh. Fr. Fischer, welcher eine
Zeit lang als Student mit einem sehr gelehrten, besonders im Griechi-
schen wolbewanderten Studenten Lessing zusammengewohnt habe, über
L.'s spätere Laufbahn als Comödiendichter ein höchst verwerfendes Ur-
teil gefällt haben solle. Er halte die Anekdote für apokryph.
Der Redner erwidert, dasz er nur die von Lessing (Werke III
S. 8) etwa 2 Jahre nach seinem Abgang zur Universität gethane Aeu-
szerung mit der Stelle der Dramaturgie zusammengestellt habe fman
könne kein gutes Trauerspiel schreiben, wenn man nicht die Alten
flott studiert habe.' Er habe in der ersteren Stelle keineswegs einen
gründlichen Umschwung von Lessing's ästhetischer Anschauung, son-
dern nur eine Andeutung und Vorbereitung seiner späteren Richtung ge-
fanden. An der Glaubwürdigkeit der erwähnten Anekdote zweifle auch
er; er werde derselben in seinen Noten Erwähnung thun.
Rector Klee aus Dresden: Die Unzuverlässigkeit der Rochlitz-
schen Anekdoten habe O. Jahn in seinem f Leben Mozart's' mehrfach
nachgewiesen ; somit möge man auch der Angabe über das Zusammen-
wohnen von Fischer und Lessing und über des ersteren strenge Kritik
nicht viel Glauben schenken.
N. Jfthrb. C Phil. u. P&d. II. Abt. 1964. Hft. 1. 4
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50 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
Prof. Bursian aus Tübingen nimmt Anstosz an der nach seiner
Ansicht allzu apodiktisch hingestellten Behauptung des Redners: fdie
Entgtehnngazeit der Laokoongruppe sei durch Welcker und O. Mül-
l e r festgestellt«' Es sei noch jetzt eine controverse Frage, ob
wirklich Lessing die Entstehung des Bildwerks in zu späte Zeit versetzt
habe» Er wolle auf die Streitfrage nicht eingehen und nur anführen,
dasz auch Auktoritäten wie Lachmann, Hermann, O. Jahn die
Welcker sehe Ansicht nicht teilen, sondern nach dem Zeugnisz des
riinius <lcn Laokoon erst unter Titus entstehen lassen.
Diüt-gch will auch auf diese eine genaue Prüfung der vielfachen
Zeugnis* e des Altertums erfordernde Streitfrage nicht eingehen und lie-
ber privatim mit dem Vorredner seine Ansichten austauschen.
Nach einer kurzen Pause und nach einigen auf das Festprogramm
bezüglichen Mitteilungen des Präsidenten besteigt Prof. Curtius aus
Leipzig die Rednerbühne und hält seinen angekündigten Vortrag:
eUeber die lokalistische Casustheorie mit besondrer Rück-
sicht auf das Griechische und Lateinische.' Er weist im Ein-
gange hin auf die grosze Wichtigkeit, welche die Feststellung der
Grundbedeutungen der Casus nicht nur für die philosophische Sprach-
wissenschaft, sondern für die gesamte Philologie sowie für die Schul-
praxis habe, da diese Grundanschauungen nicht blosz auf die Erklärung
des speziellen Gebrauchs der Casus, sondern auch auf die einzelner
Stellen der Classiker von grösztem Einflusz sein müszten. Auch die
Schulmänner dürften sich der Verpflichtung nicht entziehen, über diese
wichtige Frage sich klar zu werden; die als unrichtig sich erweisende
Theorie müsse, selbst wenn sie didaktisch bequemer sei, unbedingt der
richtigeu Platz machen.
Die lokalistische Casustheorie sei in ihnen Grundzügen schon von
den byzantinischen Grammatikern Phile mon, Theodosius und PI a-
nudes aufgestellt worden, welche die 3 obliquen Casus auf die Fragen
iroflev, ttoü, tto! zurückgeführt hätten. Diese Theorie sei — anschei-
nend unabhängig von jenen Vorgängern — um 1830 wiederholt worden
von Wüllner, K. F. Becker, Kühner; am ausführlichsten aber sei
Hie von Härtung dargelegt und entwickelt worden. Seitdem gelte die-
selbe unter den Jüngern Gelehrten trotz der groszen Schwierigkeiten,
in welche dieselbe — besonders bei Erklärung des Dativgebrauches —
verwickle, als feststehendes Dogma. Er wolle nicht die innern, logi-
schen Widersprüche und Schwierigkeiten der Lokaltheorie entwickeln,
sondern lediglich an den vorliegenden sprachlichen Formen dieselbe
prüfen.
Die Intention der Sprache bei der Casusbildung erhelle offenbar
am besten aus dem formellen Zusammenfallen einiger Casus
und der formellen Trennung anderer. Auch die L okalisten hätten
diesen Punkt nicht unbeachtet gelassen, indem Härtung eine ursprüngl.
HriitiUÜ. des lat. Ablativ und Dativ behaupte, andre den griech. Dativ
mit dem Lokativ zusammengestellt und auf das teilweise Zusammen-
fallen des Gen. und Abi. im Sanskrit hingewiesen hätten. Allein diese
Behauptungen seien unhaltbar; die ursprüngliche Verschiedenheit des
lat Dat. und Abi. erhelle aus den altlat. und oskischen Ablativformen
auf d, entsprechend den indischen und persischen auf t; der Genetiv
des Sanskrit habe nur im Sing, mit dem Abi., im Dual, dagegen mit
dein Lokativ Aehnlichkeit; der Ablativ endlich teile im Plur. des Sans-
krit uud Latein und im Dual der erstgenannten Sprache vielmehr die
Form des Dativs, der doch in der Theorie der Lokalisten dem Abi
viel ferner liege als der Genetiv, der Casus des Woher. — Aus dem
Angeführten gehe zugleich das hervor, dasz das Casussystem in den
ver&chiedneu Numeri ein verschiednes sei und somit der Sprache kein
$q bestimmtes Bewusztsein des einzelnen Casus vorgeschwebt haben
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 51
könne, als die Lokalisten annähmen; auch hierin zeige sich das Indi-
viduelle als das Frühere, die Einheit als das Resultat späterer Ent-
wicklung.
Aus dem Zusammenfallen und der Verschiedenheit der Casusendun-
gen ergebe sich zuvörderst ein bestimmtes positives Resultat, welches der
Lokaltheorie schroff entgegenstehe: die in den Formen bestimmt aus-
geprägte Scheidung zweier Casusgruppen, des Nom. Acc. Voc. einerseits
und der übrigen Casus andrerseits. Die erste Gruppe falle im Neutrum
und im Dual aller indogermanischen Sprachen formell durchweg zusam-
men und auch sonst habe vielfach der Nom. mit dem Acc. oder Vocat.
gleiche Form. Durch diese Erscheinung würde der Acc. offenbar aus
der Reihe der lokalen Casus herausgehoben, da undenkbar sei, dasz
die Sprache je den Ausgangspunkt und Zielpunkt einer Thätigkeit mit
derselben Form habe bezeichnen können , dasz z. B. t^kvo-v f das Kind'
zugleich habe bedeuten können: czu dem Kinde hin'. — Zweitens
lehre die Sprachvergleichung, dasz die Casus der ersten Gruppe formell
nie mit denen der zweiten Gruppe zusammenfielen. Die Lokalisten
hätten diese Erscheinung erklärt durch die Annahme präpositioneller
Suffixe, welche den Casus der zweiten Gruppe angehängt seien. Zur
Stützung dieser Ansicht habe man auf das französische de beim Gene-
tiv hingewiesen; allein wie erkläre sich dann die Verbindung von ä (ad)
mit dem Wocasus? Auszerdem werde der formell stets mit dem Nom.
zusammenfallende Acc. der neueren Sprachen abgesehen von einzelnen
singulären Wendungen (czum Führer wählen' u. ä.) nie durch präposi-
tionelle Verbindungen ersetzt.
Durch das häufige formelle Zusammenfallen des Acc. mit Voc. und
"Som. aber werde zugleich die aprioristische Behauptung der Lokalisten
erschüttert, dasz die Sprache bei der Casusbildung von lokalen An-
schauungen ausgegangen sein müsse. Dasz die räumlichen Anschau-
ungen die nächstliegenden und ursprünglichsten aller sinnlichen An-
sciiantmgen seien, könne man wol zugeben, ohne deshalb den Schlusz-
satz anzuerkennen, dasz darum alle Casus auf Lokalanschauungen zu
reduciren seien, zumal wenn festgestellt sei, dasz die Sprache beim
Acc. eben von andern als räumlichen Anschauungen ausgegangen sein
müsse.
Hierzu komme, dasz die Lokaltheorie begründet sei auf die casus-
arme lateinische und die noch ärmere griechische Sprache. Von den
8 Casus des Sanskrit fänden sich aber mehrfache Reste auch in den
europäischen Sprachen (Spuren des Abi. in den griech. Adverbien auf
wc; der Instrumentalis im Altdeutschen; der Locativ und Instrumentalis
in den slawisch -lettischen Sprachen), woraus erhelle, dasz diese Casus
schon vor der Spraehentrennung vorhanden gewesen seien. Mit dem
Aassterben einzelner Glieder aus dieser reicheren Casusreihe sei ihre
Funktion an andere Casus gefallen und daraus Mischcasus entstan-
den, die unmöglich auf eine Grundbedeutung zurückgeführt werden
könnten. So sei z, B. der griechische Dativ ein dreifacher (echter Da-
tiv, Instrumentalis, Lokativ); der Lokativ ferner sei im Latein durch
den Ablativ (nicht Dativ!), der Instrumentalis durch denselben Casus,
im Griechischen dagegen durch den Dativ ersetzt worden. Wie vertrage
sich diese Inconsequenz mit der Theorie der Lokalisten? Ferner, wie
sei der Lokativ neben dem Dativ zu erklären, wenn man denselben als
den Wocasus auffasse!» Falle nicht der Genetiv mit dem Ablativ in der
Bedeutung des Woher zusammen? Wo erscheine im Latein der Dativ
in der von den Lokalisten ihm zugeschriebnen Grundbedeutung? Welche
lokale Bedeutung wolle man dem Instrumentalis zuweisen? Somit sei
die hauptsächlich auf die casusarme griechische Sprache begründete
Lokaltheorie nach allen Seiten hin unhaltbar; es sei eben unmöglich
die einzelnen Casus, die vielfach als Mischcasus mit suppletorischen
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nl* Bericht über die Versammln uy deutscher Philologen usw. iu Meiszen.
Funktionen sieh erwiesen, auf eine scharf zugespitzte Grundbedeutung
zu r ü c k zu f i i h re n.
Nur die Grundbedeutung der Casus erster Gruppe lasse sich mit
einiger Wahrscheinlichkeit feststellen, obgleich die Analyse der Formen
auch rüeksichtlich der genannten Casus noch nicht abgeschlossen sei.
Von den beiden sieh entgegen stehenden Ansichten, von denen die eine
die Casusendungen als Pronominalstämme, die andre als Präpo-
sitionalsnf fixe ailffaist, empfehle sich die erstere am meisten zur
Erklärung der Camus erster Reihe; der zweiten stehe auszerdem auch
das entgegen, dasz viele Präpositionen sich als 'erstarrte Casus', somit
als jüngere Bildungen erwiesen*
Der Redner stellt hierauf folgende Erklärung als f wenigstens an-
nehmbar* hin. Im Vocativ erscheine der reine Stamm, das Ding werde
ohne allen syntaktischen Zusammenhang einfach angerufen; das s des
Nominativs im persönlichen ücsehlechte identificirt er nach Bopp mit
dem PronommyJstanim sa = hie, von dem auch der griech. Artikel ö
stamme; die Aceusativendung m oder am führt er mit Grassmann und
Bopp auf das Sanskritprononu'n amu = jener zurück. Er nimmt also
an, daaz die Sprache Subjekt und Objekt durch ein postponiertes Pro-
nomen hervorgehoben habe, eine Hervorhebung, die beim Neutrum fer-
ner gelegen habe und daher unterlassen worden sei. Somit sei: deus
donum dat zu übersetzen etwa: rGott hier — Gabe da — geben er.'
Der Redner schlieft mit dem Wunsche, dasz die Untersuchungen
über die sprachlichen Forme ti der Casus mehr als bisher mit denen auf
dem Gebiet der JSyutax Hand in Hand gehen möchten, und gedenkt
dabei des jüngst heim gegangenen Meisters Jacob Grimm, der in den
r4 Bänden seiner deutschen (Grammatik ein grpszartiges Muster tief-
sinniger Verbindung von Formenlehre und Syntax der Nachwelt hinter-
lassen habe*'
Prof. Lange aus Giosseu erklärt zunächst, dasz er nicht die Lokal*
theone Härtung'», KiihnerTs u. a. gegen den Vorredner in Schutz
nehmen wolle, sondern nur den Grundgedanken der Lokalisten. Dieser
erscheine ihm richtig* Die Bp räche habe offenbar wenigstens die Ten-
denz lokaler Ansehauunng gehabt, wenn dieselbe auch nicht durchge-
führt sei, sondern bei einer unbestimmten instinetmäszigen Untersuchung
stehen geblieben eei. die das von C. betonte Zusammenfallen ver-
seht edner Casus in verschiedene Numeri gestattet habe; die zweite
Gruppe von Casus (Gen. Dat. etc.) müsse doch wol lokal gefaszt werden,
wenn auch nicht in der Bestimmtheit der Grundbedeutung, wie sie die
Lokalisten festgestellt hatten. Dasz die räumlichen Anschauungen,
weil aus einem Zusammen wirken von Gesichts- und Tastsinn hervor-
gehend, die einnnszreicbsten.und am festesten haftenden unter allen
sinnlichen Anschauungen seien, habe besonders Lotze überzeugend
nachgewiesen. Daher nehme er an, dasz allerdings räumliche Anschau-
ungen, wenn auch ganz unbestimmte und allgemeine, nach deren Analo-
gie Geistiges durch Metapher aufgefaszt worden sei, den Casus ursprüng-
lich zu Grunde gelegen haben. Er nehme ferner nicht mit dem Vorredner
Anstosz daran , dasz neben dem Dativ als Wocasus ein Locativ existiert
habe. Nach seiner Kenntnis vom Sanskrit, besonders der Sanskrit-
dichtung, prävaliere beim Locativ das Lokale, beim Dativ das Geistige,
d;kher letzterer auch häufig im finalen Sinne sich finde. Vielleicht seien
übrigens beide Casus ursprunglich identisch gewesen und erst später
das i des Lokativ, wenn geistige Beziehungen ausgedrückt werden soll-
ten, d. i, im Dativ, zu ei gesteigert worden. — Auch der Instrumentalis
ferner lasse sieh auf eine unbestimmte räumliche Anschauung zurück-
führen ; denn im epischen Sanskrit finde er sich ja oft in einer Bedeu-
tung, die Bopp bezeichnet habe als die: sociative oder comitative.
Die scharfe Scheidung des Soeiativen und Instrumentalen sei erst das
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 53
Werk späterer Reflexion, wie ja auch im Bewusztsein uns res Volkes
im Gebranch der Präposition 'mit' die verschiednen Anschauungen
durcheinanderflössen.
Ferner stimme er der Theorie des Vorredners von Mischcasus
nicht bei, da diese das Problem nicht löste, sondern nur hinausschöbe
und von der unerweisbaren Voraussetzung ausgehe, dasz vor der
Sprachenspaltung das Sanskrit eine ganz scharfe Scheidung der 5 casus
obliqui gehabt habe. Schon im Sanskrit habe der Ablativ eine vage
Bedeutung und finde sich bald auf die Frage Woher, bald auf die Frage
Wo als Antwort; dasz aber der griech. Dativ als Lokativ auch Instru-
mentalis werden konnte, erkläre sich einfach daraus, dasz beide letzt-
genannten Casus ursprünglich Brüder gewesen seien. — Endlich sei
durchaus nicht nötig, alle Casusendungen entweder aus pronominalen
oder aus präpositioneilen Suffixen herzuleiten. Wenn auch die erste
Casusgruppe durch postponierte Pronomina gebildet sei, so stehe nichts
der Annahme im Wege, dasz die andern Casus entstanden seien aus
Znsammensetzung mit Urpräpositionen; an Anhängung fertiger
Worte wie aput, ad, inter etc. sei freilich nicht zu denken. So lasse
er das i des Lokativ als eine virtuelle Präposition etwa mit der Kraft
eines demonstrativen Adverbs ; oikoi bedeute: <Haus da', was nach dem
Zusammenhang durch Differenzierung der Grundbedeutung bald cim
Hanse', bald fbeim, am Hause' usw. bedeuten könne. In diesem ge-
schichtlichen Process der Differenzierung^ habe z. B. unleugbar der
Ablativ in einer gewissen Zeitperiode die vorhersehende Tendenz
des Woher, sowie dies auch vom Genetiv in einer bestimmten Zeit der
Sprachgeschichte gelte. Somit lasse er den Satz des Vorredners nicht
gelten, dasz rdie Lokaltheorie der TJeberrest einer veralteten Casus-
auschauung' sei; das gelte nur von den Lokalisten, welche wie Här-
tung aües Räumliche in die Fragen des Woher? Wo? Wohin? gezwängt
hUten,
Prof. Curtius erklärt hierauf, dasz er eben nur diesen Hartung-
schen Lokalismus, nicht den neueren, vom Vorredner dargelegten, habe
bekämpfen wollen , da derselbe litterarisch noch nicht niedergelegt sei.
Er habe selbst ja keineswegs geleugnet, dasz räumliche Anschauungen
bei der Casusbildung gewaltet haben könnten , ja er nehme dieselben
für einzelne Casus selbst entschieden an. Er habe nur die Möglich-
keit bestritten, auf lokale Anschauungen eine der Form wie der Be-
deutung der Casus Genüge leistende allgemeine Casustheorie zu
begründen.
Director Ahrens aus Hannover: Er sei in der angeregten Frage,
über die er sich schon vor 20 Jahren in Cassel zur Bekämpfung der
Doderleinschen Ansicht und später in seiner 'griechischen Formenlehre'
ausgesprochen habe, mehr mit Prof. Curtius als mit Prof. Lange
einverstanden. Er scheide aber nfcht wie Ersterer die Casus nach der
Form, sondern nach der Bedeutung in zwei Gruppen: in topische
und logische. Die topischen Casus, im Sanskrit vollständig, in
den andern Sprachen nur in Trümmern erhalten, hätten entschieden
lokale Bedeutung: klar ausgeprägt finde sich ein Casus des Woher,
des Wo und ein Comitativus; dazu müsse man aber in der Idee auch
noch einen Casus des Wohin statuieren, Obgleich er in der Sprache in
abgesonderter Gestalt nicht vorkomme. Ihnen gegenüber ständen nun
die logischen Casus. Als solche gäben sich der Genetiv, Dativ und
Accusativ zu erkennen, schon dadurch, dasz sie in allen Sprachen sich
erhalten hätten. In den lokalen Casus zeige sich eine Art Luxus der
Sprache, da sie durch Präpositionen hätten füglich ersetzt werden
können; die logischen dagegen seien unentbehrlich. Nicht zufällig sei
die Dreiheit der logischen Casus, die im Zusammenhang mit den drei
Hanptwortklassen stehe. Das Substantiv regiere nur den Genetiv , das
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54 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Moisz™.
Adjectiv den Genetiv und Dativ, das Verbum alle drei Caeus. Der Ao
cusativ, der das Princip der Bewegung enthalte, entspreche am meisten
dem Verbum, der Genetiv dem Substantiv, der Dativ stehe zwischen
beiden in der Mitte. Die lokalen Casus seien — da sie überhaupt ein
Luxus der Sprache seien — in manchen Sprachen fast ganz verschwun-
den, dagegen in andern sehr zahlreich vertreten; so weise z. B. das
Finnische deren 14 auf. Die Ansicht von Lange, dasz alle Casus ur-
sprünglich von räumlichen, wenn auch unbestimmten, Anschauungen
ausgegangen seien und die geistige Verhältnisse bezeichnenden Casus
aus ursprünglichen Lokalcasus sich heraus entwickelt hätten, hält der
Sprecher für eine Theorie, die sich durch bestimmte Beläge aus der
Sprachgeschichte zur Zeit nicht und schwerlich j e werde erweisen
lassen.
Dr. Wagler auz Luckau :v Er wolle als Schlichter Schulmeister'
nur zwei Bemerkungen sich erlauben. Die Lokaltheorie empfehle sich
dadurch , dasz auch auf andern Gebieten der Sprache die Priorität der
sinnlichen Anschauung und ein allmähliches Aufsteigen zum Geistigen
hervortrete ; die Theorie von Curtius verwickle in neue Schwierigkeiten,
indem sie die bisher vorhandnen aufdecke und beseitigen wolle, und
komme in der Feststellung des Nominativs und Accusattvs als Hier-
und Dortcasus wieder — auf den Lokalismus hinaus. Sodann sei die
Lokaltheorie sehr praktisch, um den Gabrauch des Acc. als Objekts-
casus , des Ablativs beim Passiv, der Städtenamen u. a. m. den Schü-
lern klar 'zu machen. Er rathe daher nicht gegen die bisher ange-
wandte Theorie die f nicht einmal vollständig durchgeführten Hypothe-
sen' von Curtius einzutauschen.
Prof. Steinthal aus Berlin: Wenn er Prof. Lange recht verstan-
den habe, so müsse er ihm in zwei Punkten widersprechen. Wenn der-
selbe behaupte, die Sprache müsse bei der Casusbildung von lokalen
Anschauungen ausgegangen sein, da diese die frühesten und einflusz-
reichsten aller sinnlichen Wahrnehmungen seien, so bemerke er da-
geg*en, dasz die Sprache nicht eine Schöpfung von Kindern, sondern
von Erwachsenen sei, denen auch andere als räumliche Anschauungen
zu Gebote gestanden haben, die also nicht notwendig bei der Casus-
bildung von letzteren hätte ausgehen müssen. Zweitens erklärt er sich
gegen die Annahme, dasz funbestimmte Raumanschauungen' der Spra-
che bei den einzelnen Casus vorgeschwebt. Die lebendige Sinnlichkeit
eines Wilden oder Urmenschen habe sich sicherlich das Wo und Wo-
hin usw. nur individuell und bestimmt, nicht als allgemeine Kategorieen
denken können und daher auch gewis nicht im Gebrauche durcheinan-
dergeworfen. Er gehe noch weiter, fährt der Redner fort, als Cur-
tius; er sondere die drei Casus: Nom., Acc. und Voc. nicht blosz we-
gen ihrer Form, sondern wegen ihrer Bedeutung als die Grundcasus,
die eigentlichen und wahren Casus von den übrigen ab. Er spreche
daher gerade den Sprachen, die am reichsten an Casus seien, z. B.
dem Finnischen und Ungarischen, weil sie keinen ausgeprägten Accu-
sativ und Nominativ hätten, Casus überhaupt ab. Logische Casus
erkenne er nicht an; räumliche Verhältnisse seien keine reinen Formen.
Im Finnischen und Ungarischen freilich seien alle sogenannten Casus
logisch, indem sie alle möglichen räumlichen Beziehungen ausdrück-
ten, aber darum seien sie eben keine. Denn jedem Casus müsse eine
logische, kategorische Bedeutung zu Grunde liegen. Darum fasse er
auch nicht mit Curtius den Nom. als Casus der Nähe, den Acc. als den
der Ferne, da seine begrifflichen Formen aus solchen immerhin mate-
riellen sich nicht hätten entwickeln können. Er identificiere daher
nicht das s des Nominativ mit dem Demonstrativ $«, sondern meine,
dasz das erstere, wenn auch onomatopoetisch desselben Ursprungs,
doch weniger materiell aufzufassen sei als jenes und nur cThätigkeit,
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 55
Lebendiges, Bewegung9 bezeichnet habe, das n des Acc. dagegen das
Stumpfere, Todte, Leidende*. Somit sei das Verhältnis von Nom. und
Acc. nur eine weitere Ausbildung des Verhältnisses von Masculinum
und Neutrum, worauf ja auch teilweise die Formen führten. Neben
Nom., Acc. und Vocat. habe es ursprünglich wahrscheinlich im Indo-
germanischen ebenso viel Casus gegeben wie im Finnischen usw., in-
dem alle denkbaren Präpositionalverhältnisse durch Casus ausgedrückt
worden seien. Die indogermanischen Völker hätten dann später diese
mehr materiellen Verhältnisse meist durch besondere Präpositionen aus-
gedrückt, um die eigentlichen Casus in ihrer Reinheit zu erhalten; da-
her hätten sich bei ihnen nur wenige andere Casus (Gen., Dat. im
Griechischen) erhalten, indem die Sprache einige an sich materielle
Verhältnisse formell aufzufassen sich gewöhnt habe. In der Casus-
armut der deutschen und griechischen Sprache zeige sich ein stark-
ausgeprägter formeller Sinn. Er erkenne also nur drei wahre Casus
an; die übrigen (uneigentlichen) Casus der ältesten Sprachen seien
später meist durch Präpositionen ersetzt worden', nur einige geblieben,
welche den reinen Casus möglichst anzunähern die Sprache sich be-
strebt habe.*)
Prof. Lange: Er habe zu erwähnen vergessen, dasz die Sprache
der ältesten Zeit im Zusammenhang mit der Gesticulation gedacht wer-
den müsse. Durch den hinzutretenden Gestus seien die unbestimmten
Kaumbezeichnungen zu bestimmten geworden, habe z. B. das an sich
anbestimmte lokale i für jede im concreten Falle vorliegende räum-
liche Anschauung genügt. ' Es lägen nun vier Casustheorien vor; für
die Schulpraxis sei durch die lange Debatte wenig gewonnen worden,
aber die Wissenschaft habe ja eine andere Aufgabe, als Theorieen für
die Pädagogik zurechtzulegen. Ganz besonders interessant müsse es
sein, für das Griechische, wie es seiner Zeit Bemhardy angebahnt
habe, den Casusgebrauch historisch zu verfolgen, natürlich mit den
nötigen Vorkenntnissen aus der vergleichenden Grammatik.
Oberlehrer Dr. Lasson aus Berlin will nur fzwei Fakta consta-
tieren'. Steinthal schreibe durch eine logische Construction der Spra-
che ?or, was sie durch die Casus auszudrücken habe. Curtius aber sei
im positiven Teil seiner Auseinandersetzung in den Localismus zurück-
rerfallen, indem auch er einen räumlichen Gegensatz zwischen Nom.
und Acc. statuiere, wenn auch nicht einen Gegensatz in der Richtung,
sondern in der Kühe. Nach seiner Ansicht sei und bleibe die lokale
Bedeutung von den Casus unabtrennbar.
Da der Schlusz der Debatte gewünscht ward, schlosz der Präsident
die Sitzung nach 1 Uhr. Hierauf begaben sich die Sectionen, — un-
ter ihnen abermals eine archäologische — in die ihnen angewiesenen
Lokalitäten, um sich daselbst zu constituieren.
*) Diese Ansichten hat der Redner in seinem Werke: Charakteri-
stik der hauptächlichsten Typen des Sprachbaues' S. 300 ff. ausführlich
entwickelt.
j (Fortsetzung im nächsten Hefte.)
| Zwickau. Dr. Vogel.
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56 Personalnotizen.
Personalnotizen.
i rMemumyen, Bef Förderungen 9 Versetzungen, Auszeichnungen.
Arnold, Franz, Licent. der Theol., als Religionslehrer bei dem kath.
Gymnasium in Glogau angestellt.
Bind s eil, Dr., Prof. u. Secretär der Universitätsbibliothek zu Halle,
erhielt den rothen Adlerorden IV Kl.
Classen, Dr. Joh., Prof. u. Director des Gymnasiums zu Frankfurt
a. M., zum Director des Johanneums in Hamburg berufen.
Columbus, Dr. Dominik, zum Director des Gymnasiums in Linz er-
nannt.
Conze, Dr. A., Privatdocent in Göttingen, zum ao. Prof. in der phil.
Fac. der Univ. Halle ernannt.
Dorschel, Dr., als wissenschaftlicher Hülfslehrer am Gymnasium zu
Greifswald angestellt.
Eckstein, Dr. F. A., Rector der Thomasschule in Leipzig, zum ao.
Prof. in der phil. Fac. der dortigen Univ. ernannt.
Eggers, Dr., als f Professor' prädiciert und zum Lehrer der Akademie
der Künste in Berlin ernannt.
Eit cd berger von Edelberg, Dr., ao. Prof. der Kunstgeschichte und
Kunstarchäologie an der Univ. in Wien, zum ordentl. Prof. dieser
Lehrfächer ernannt.
Fürst er, Dr. W., Privatdocent und Assistent an der Sternwarte zu
J Berlin, zum ao. Prof. in der phil. Fac. an der Universität Berlin
ernannt.
Geres, H. Fr., SchAC, als ord. Lehrer am städt. Gymn. zu Marien-
burg angestellt.
Gräser, Dr., bisher Director des Gymnasiums in Torgau, als Pro-
rector u. Professor am Pädagogium des Klosters U. L. Frauen zu
Magdeburg angestellt.
Gruppe, Dr. O., ao. Prof. an der Univers. Berlin, zum Secretär der
Akademie der Künste ernannt.
Haacke, Dr., Oberlehrer u. Prof. am Pädagogium des Klosters U. L.
Frauen in Magdeburg, zum Director des Gymnasiums in Torgau
berufen.
Hub er, Dr. Alfons, Privatdocent in Innsbruck, zum ord. Prof. der
allgem. Geschichte an der dortigen Univ. ernannt.
Hübner, Dr. E., Privatdocent in Berlin, zum ao. Prof. in der phil.
Fac. der dortigen Univ. ernannt.
Jülg, Dr. Bernhard, ord. Prof. in Krakau, zum Professor der class.
Philologie an der Univ. Innsbruck ernannt.
Kays er, Dr. Lud., ao. Professor in Heidelberg, zum ord. Prof. in der
phil. Fac. der dortigen Univ. ernannt.
Kock, Dr. Th., Prof. u. Dir. des Johanneums zu Hamburg, zum Dir.
des Gymnasiums in Memel berufen.
Kopp, Dr., Professor in Gieszen, zum ord. Prof. in der phil. Fac. der
Univ. Heidelberg ernannt.
Krauss, Dr., ord. Lehrer bei dem Gymnasium an der Apostelkirche
in Cöln, zum cOberlehrer' befördert.
Kühler, Dr., Prof. u. interimist. Dirigent des Wilhelms-Gymnasiums
in Berlin, zum wirkl. Director ernannt.
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Leipzig,
Druck und Verlag yon B. G. Teubner.
1864.
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Zweite Abteilung:
fflr GyfflBftsialpädagogik und die übrigen Lehrfächer,
mit Ausschlusz der classischen Philologie,
hemsgegeta tm Prtfesstr Dr. Bernau Nasiis.
n.
Der Religionsunterricht auf den Gymnasien.
Ttaai: 'der Religionsunterricht musz eine Richtung' auf das Rationelle
und Ethische nehmen.'
%oft ich mir das innere Leben und Weben unserer heutigen Schu-
fen, namentlich die sittliche und religiöse Seite desselben vor Augen halte
ttod zugleich erwäge, wie dies Leben im Laufe etwa eines Menschenalters
dmihiich, unmerklich das geworden ist, was es jetzt ist, kann ich mich
licht eines tiefen Schmerzes und einer ganz unaussprechlichen Trauer
erwehren.
Wie sind wir doch so bemüht , dies innere Leben nach jener Seite
hin zu erwecken, zu pflegen und zu bilden ! Wie viel mehr thun wir doch
hierfür in Vergleich zu dem was früher dafür geschah ! Wir halten unsere
Schüler wieder zu fleiszigem , regelmäszigem Kirchenbesuche an und su-
4en sie überhaupt zu kirchlicher Sitte , kirchlichem Leben und zu wah-
ter Ehrfurcht vor der Kirche und ihren Institutionen zu gewöhnen. Wir
^sammeln sie täglich um uns zum Gebet , wir halten mit ihnen wöcheut-
fehe Andachten , in denen wir ihnen das göttliche Wort praktisch nahe
* legen und dessen Bedeutung auch für sie darzuthun suchen. Der Reli-
#>Bsunterricht , für den wir ja theologisch gebildete Männer heranziehen,
st offenbar tiefer, geistiger, wissenschaftlicher geworden. Er hat man-
cherlei auszerliche Zuthaten, die sich in Ermangelung besseren Inhaltes
n ihn angesetzt hatten, abgestreift, mehr die Sache ins Auge gefaszt
rod sich auf die wesentlichen Objecte dieser Disciplin concentriert.
Offenbar ist die Religion bei uns nicht mehr eine Disciplin , welche mit
Gleichgültigkeit oder gar mit Misachtung betrachtet wird. Der Vorwurf,
den vor Zeiten die evangelische Kirchenzeilung und ihre Mitarbeiter so
reichlich über die Gymnasien ausgeschüttet haben , dasz diese eine un-
H. Jtfcrfc. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 2. 5
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'JtL
I
58 Der Religionsunterricht auf den Gymnasien.
christliche Jugend erzögen , -trifft uns schon seit einer langen Reihe von
Jahren nicht mehr, wenn er uns überhaupt je getroffen hat. Wer sollte
nun nicht erwarten , dasz eine so gepflegte und gebildete Jugend einen
tieferen religiösen Sinn, ein wirkliches Verständnis für die Sphäre des
Religiösen von der Schule mit sich nehmen und durch Wort und That be-
kunden würde?
Ist dem nun wirklich so? Können wir uns vor uns selber und vor
dem heiligen und allwissenden Gott , in dessen Dienst wir ja auch stehen,
dieser Frucht unserer Arbeit berühmen? Ach der kirchliche Sinn ist
nicht erhöht: das Wort Gottes ist unsern Schülern nicht näher gerückt,
nicht zu einer Quelle geworden, aus der sie täglich Wasser des Lebens zu I
schöpfen kommen. Wir haben nach Rechtgläubigkeit gestrebt und dar-
über die frühere Gläubigkeit eingebüszt; ja selbst der Glaube an Wahr-
heiten, die uns noch vor dreiszig Jahren als völlig sicher und unerschütter-
lich galten, ist uns wankend geworden und verloren. Wir bauen auf einem
Fundamente, das nicht mehr da ist, künstliche dogmatische Systeme auf,
die beim ersten Luftzug zusammenstürzen. Zwar bei den Abiturienten-
prüfungen entwickeln unsere jungen Leute oft so viel theologische Ge-
lehrsamkeit, so tiefe Blicke in die Geheimnisse des Gottesreiches, so
grosze Belesenheit in der Schrift, dasz ich dabei mit Beschämung an meine
eigene Jugendzeit zurückdenken musz; dafür aber ist ihnen der Glaube
an das Dasein Gottes, an die Unsterblichkeit ihrer eigenen Seele eine
Sache von höchster Gleichgültigkeit. Von einer festen, dauernden Rich-
tung der jungen Herzen auf Gott, von einer bewuszten auf Principieu
gegründeten Sittlichkeit der Gesinnung ist wenig mehr zu sehen. So weit
können wir es selbst noch beobachten; über das, was jenseits der Grenzen
der Schule liegt und geschieht, mögen andere ein Zeugnisz ablegen. Es
sollte uns lieb sein, wenn man uns nachwiese, dasz wir uns geirrt, dasz
wir zu sehr ins schwarze gemalt hätten: meiner eigenen Erfahrung bin
ich leider nur zu sicher.
Und man lasse sich doch ja nicht durch einen Schein von höherer
Sittlichkeit — denn im Religiösen ist auch dieser Schein nicht vorhanden
— blenden und bestechen.
Es gibt ja Schulen, nicht blosz solche, welche sich KOT* iSoxnv
christliche nennen und zu sein rühmen, sondern auch andere — welche,
indem sie sich auf strenge Zucht gründen, ihre Zöglinge vor manchen
Ausschweifungen und Verirrungen bewahren und sie scheinbar mit siche-
rer Hand auf geradem Wege leiten und erhalten. Aber wenn sich wirk-
lich der Geist der Jugend auf solchen Schulen vor der imponierenden
Macht alter Sitte, überlieferten Gesamtgeistes oder einzelner ernster,
willenslarker Lehrer beugt, ist dieser Gehorsam, diese Zucht, diese
Sittlichkeit auch von Dauer? Bricht nicht der wider Willen zurückgehal-
tene Strom hinterher mit doppelter Macht hervor? Und von dem Spiel,
welches hinter den Coulissen vorgeht, haben Lehrer und Inspectoren
kaum eine Ahnung. Die Aeuszerung , welche Wiese vor Zeiten über
unsere Alumnate gethan hat, gilt noch immer für den, der sich nicht durch
die glänzende Hülle und schöne Floskeln betören lassen will. Dazu kommt
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Googk
Der Religionsunterricht auf den Gymnasien. 59'
noch so manches , was den Schein von Sittlichkeit erwecken kann. Unsere
Jugend ist viel mattherziger und kraftloser geworden, mattherziger zum
Guten wie zum Schlechten. Sie hat keine Kraft einer Neigung abzusagen,
der Verlockung zur Sande zu widerstehen; sie hat aber auch keinen
Mut zu offener Opposition. Sie medisirt lieber hinterrücks über die Leh-
rer im Kreise von Eltern und Geschwistern und rächt sich für vermeintes
Unrecht durch heimliche Tücke. Dann ist sie in ihren Manieren feiner
und geleckter geworden. Wie sollte sie das nicht ? Wird ihr nicht von
früher Jugend auf durch die lieben Mütter, nicht Tugend und Frömmig-
keit, sondern der Schein der Tugend, der Anstand, gepredigt? Ist nicht
auf diesen Schein jede Erziehungsorge berechnet? Die ganze Gesinnung
ist niederer und gemeiner geworden. Ihr Motiv ist die Selbstsucht in
ihren tausend und abertausend scheuslichen Gestalten. Liebe, wahre
Liebe, welche einer Aufopferung oder auch nur eines Opfers fähig wäre,
sei es zu den Eltern, sei es für König und Vaterland, sei es für Wahrheit
und Wissenschaft, gehört immer mehr zu den seltenen Ausnahmen. Der
ideale Sinn schwindet mehr und mehr dahin. Wem der Schein nicht ge-
nügt, der möchte oft mit dem Kaiser Augustus rufen: Vare, Vare, redde
mihi meas legiones !
Nun wird allerdings niemand mehr so albern oder so boshaft sein,
die Schulen für einen Zustand , den sie so klar erkennen , so offen auf-
decken, so sehnlichst zu beseitigen wünschen, verantwortlich zu machen.
Es gibt im Leben kein Factum und keinen Zustand, zu dem nicht viele
Factoren mitgewirkt hätten. Auch die Schulen können sich dem Winde
nicht entziehen , der durch unsere politischen und kirchlichen , socialen
und Familienverhältnisse hindurchfährt. Es ist aller Ehren wert , wenn
sie diesem Geist sich nicht unterwerfen, sondern ihm Stand halten. Das
politische Getreibe reiszt sie aus der stillen Tiefe des Gemütes heraus ;
die socialen Verhältnisse nähren und steigern die Genuszsucht, die Selbst-
sucht und den Materialismus. Eine Masse von Zeitschriften und Journalen,
alle von Politik und Materialismus erfüllt, führt ihnen in leichter, gefälli-
ger Form Elemente zu, von denen sie innerlich zerfressen werden. Auch
manche wissenschaftlichen Werke von groszer Bedeutung, wie Momm-
sen's römische Geschichte, nähren den Geist der Frivolität, nicht zu reden
von Büchern wie Stahr's Tiberius, welche die scheusliche Verworfen-
heit sittlich rehabiliiiren wollen. Von allen Seiten drängen Feinde an uns
heran. Wie sollen wir ihnen widerstehen? Wenn sie an einem Punkte
zurückgeschlagen werden , werden sie uns an einem andern Punkte be-
siegen.
Nein , dem ist nicht so , lieber Leser. Das Gebiet des Geistigen ist
nicht wie eine Festung, welche vom Feind belagert wird; es ist wie ein
lebendiger Organismus. Leidet ein Teil dieses Ganzen, so leiden alle
andern Teile mit; eben so verbreitet sich aber auch von- einem Teile
Gesundheit und neues Leben über das Ganze. Dies bestimmt uns , auch
einen solchen Teil anzugreifen und zu versuchen , ob wir von diesem Teil
aus dem ganzen Hülfe und Kraft bringen können. Dieser Punkt ist der
Religionsunterricht.
5*
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60 k Der Religionsunterricht auf den Gymnasien.
Ich halte die Richtung, welche derselbe genommen hat, für eine
falsche und verderbliche , und ich bin , denke ich , nicht der einzige , wel-
cher so urteilt. Der Oberlehrer Michael zu Dresden hat kürzlich hier-
über ein sehr schönes Programm geschrieben und Vorschläge «zu einer
Neugestaltung des Religionsunterrichts gemacht. Diese Vorschläge weichen
allerdings von meiner Ansicht durchaus ab; sie constatieren jedoch, dasz
die jetzige Gestalt jener Disciplin auch von andern als mangelhaft erkannt
wird. Dies Programm veranlaszt mich , offen mit einer Ansicht hervor-
zutreten, die ich seit vielen Jahren gehegt und oft und viel mit meinen
Collegen durchgesprochen habe. Ich wTerde mich schon glücklich schätzen,
wenn es mir gelingt, diese Frage wieder in Flusz zu bringen. Ich teile
in dieser Beziehung nicht die Sicherheit Hollenberg's, der freilich als
Berliner Lehrer, sei es auch an einem Alumnate, kaum wissen kann, in
welchem Zustande sich das sittlich - religiöse Leben unserer Jugend be-
findet.
Ich gedenke unzählige Male daran , welche Bedeutung für mich der
Religionsunterricht gehabt hat , den uns vor Zeiten unser längst verewig-
ter Rector in der Prima erteilte. Wir nahmen aus diesen Stunden doch
etwas mit hinaus; in schweren Stunden der Versuchung hat mich das
ernste Wort unseres herrlichen Lehrers wie ein schützender von Gott
gesandter Engel bewahrt; noch bis diesen Augenblick hallt es mir nach.
Ich weisz, auch andern als mir hat dieser Unterricht einen klaren Halt
im Leben gegeben. Und was ist es nun gewesen , was ihm diese Kraft
verliehen hat?
Der Religionsunterricht jener Zeit war fast überall ein rationa-
listischer, dem damaligen Zustand der Kirche und der damaligen Theo-
logie entsprechend. Unsere Lehrer standen auf diesem Boden, unser
Lehrbuch, das vortreffliche Niemeyersche , welchem so übereilt über Bord
geworfen ist, war in diesem Sinne verfaszt, von den Kanzeln herab hörte
man gleiche Predigten; die ganze Zeitrichtung war, auch in andern Disci-
plinen, dem Rationellen, der Reflexion zugewandt. Die Hermannsche
Philologie, die Ueerensche Geschichte trugen dasselbe Gepräge. Ueberall
war der Unterricht auf Reflexion gegründet, auf Ueberzeugung durch
Gründe gerichtet. Dies erstrebten die Lehrer, dies forderten wir Schüler.
Der ganze Unterricht erhielt dadurch eine unglaubliche Einheit und Soli-
dität, war wie aus einem Gusz hervorgegangen oder besser: wie aus
einem Geist geboren. Auch auf den Charakter wirkte dies ein. Kraft in
der Ueberzeugung und Kraft im Sittlichen waren der Stolz und die Zierde
der Jugend. Dies war auch der Typus des Religionsunterrichts,* welcher
in diesem Sinne, aber mit hohem Ernst behandelt wurde. Was diese Be-
handlung gestattete, wurde mit Strenge durchgearbeitet; was für sie
weniger geeignet war, nur leise berührt oder mit Discretion umgangen.
Nie ist mit rohen Händen darüber hingefahren worden. Die alten Ratio-
nalisten waren meist ernste, aber auch feine und tactvolle Männer. Man
hat über jene Zeit schändliche Lügen ausgesprochen, wie in der evange-
lischen Kirchenzeitung , und die ganze Zeit entgelten lassen , was einzelne
verschuldet haben mögen. Das wenigstens gewannen wir: festen Glau-
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Googk
Der Religionsunterricht auf den Gymnasien. * 61
hen an das Walten Gottes und die Ehrfurcht vor Gott und seinem heiligen
Willen , und damit war doch schon etwas gewonnen.
Was ich nun will , ist dies , dasz der Religionsunterricht zwar nicht
wieder rationalistisch werde — wir können nicht mit einem salto mortale
wieder zu Wegscheider und Röhr zurück — wol aber, was sehr wohl mög-
lich ist, wieder eine Richtung auf das R a t i o n a 1 e nehme , anstatt auf das
Positive, Dogmatische', Confessionelle. Es gibt keine Disciplin, in der wir
nicht die Teile aussondern , welche für die geistigen Kräfte und für die
Bedürfnisse eines gewissen Lebensalters die geeigneten sind; und wir be-
handeln die&e Teile selbst wieder in einer Ausführlichkeit und in einer
Fassung, wie dies dem vorliegenden Zwecke entsprechend ist. So begin-
nen wir die Grammatik nicht mit der Lautlehre; eben so verfahren wir
in der Geographie, in der Geschichte, in der Naturkunde, in der Lectürc
der Glassiker; nur die Mathematik hat die traurige Praerogative , nicht
methodisch , sondern systematisch behandelt werden zu sollen. Warum
soll nicht die Religion eben so gelehrt werden — man verzeihe den Aus-
druck lehren — wie fast alle andern Lehrobjecte?
Der Religionsunterricht auf unsern Schulen hat zuerst Knaben vor
sich, welche noch in der vollen Unmittelbarkeit des Lebens stehen und
dem Lehrer auch für die Religion ein gläubiges Gemüt entgegenbringen.
Aber es bleibt nicht bei dieser Unbefangenheit und Unmittelbarkeit, in
welcher das Object alles und das Subject nichts ist ; die Reflexion wächst
unbemerkt heran; das Ich stellt sich, wie in allen Sphären des Schul-
iebeusnnd in allen Disciplinen, so auch hier dem Positiven gegenüber und
/Dacht sich zum Richter über das Object des Glaubens. Auch der Religions-
unterricht kann nun nicht mehr auf seiner bisherigen Stufe verbleiben,
sondern musz dem Knaben und Jüngling auf den Wegen, auf denen er jetzt
wandelt, nachgehen, dasz er ihn nicht verliere. Dies wird vielfachst ver-
säumt und ist die Ursache , warum so viele unserer Schüler ohne Glauben
von ans gehen und ohne Glauben ihr Leben dahinleben.
Zwischen Glauben und Unglauben liegt ein mittleres, der Zweifel.
Der Glaube hat, wenn er aus seiner ersten Objectslosigkeit heraustritt und
nunmehr gewisse Objecte des Glaubens vor sich sieht, welche er von sich
unterscheidet, die Voraussetzung, dasz in diesen Objecten, nicht in dem
Subject die Wahrheit liege. Der Unglaube , welcher sich , beiläufig be-
merkt, nicht auf die religiöse Sphäre beschränkt, geht umgekehrt davon
aus, dasz das Subject das allein berechtigte sei und dasz das Positive,
blosz deshalb, weil es sich als positiv gelten zu wollen anmasze, das
Unwahre und Nichtige sei. Zwischen beiden steht nun der Zweifel,
welcher nicht Glaube und nicht Unglaube ist. Denn der Zweifelnde
glaubt nicht mehr, sondern zweifelt schon, aber ist doch noch nicht
ungläubig, sondern zweifelt noch. Im ihm begegnen sich zu schwerem
Kampfe zwei Mächte. Süsze Erinnerungen ziehen ihn nach der einen
Seite, wie den Faust am Ostermorgen; dann treibt ihn der Stolz des Ich
wieder von dort hinweg. Dies ist wesentlich der Zustand , welchen der
Religionslehrer der oberen Klassen vor sich hat. Wer da glaubt, mit
bloszen Dogmen etwas ausrichten zu können, wird sich entsetzlich ge-
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Der Religionsunterricht auf den Gymnasien.
täuscht sehen. Dies Aller erkennt eben keinen Dreifusz des Apoll und
keine pylhischen Orakelsprüche an. Einige schwache Köpfe lassen sich
vielleicht mit Phrasen imponieren; die wahre Frucht dieses Unterrichts
ist aber der Unglaube, welcher in der Jugend immer mehr um sich greift.
Um dem Zweifel zu begegnen, ist es nun meines Erachtens durchaus
notig , dasz der Religionsunterricht seinen dogmatischen Charakter ver-
liere und eine Richtung auf das Bationelle nehme. "Wer einen Feind be-
siegen will , musz ihn auf seinem eigenen Grund und Boden aufsuchen.
Nie Stoffe, welche er vornemlich zu verwerten hat, sind also diejenigen,
welche nach der Seite der sogenannten Vernunft- oder natürlichen Reli-
gion zu liegen. Ich sage absichtlich sogenannt; denn in der That ist,
was wir Vcritunflrcligion nennen, ein Product der Geschichte der Mensch-
heit, an welchem viele Jahrtausende gearbeitet haben. Es ist dabei zurück-
zugehen auf den Ursprung der religiösen Gefühle, auf die Gemütslage,
durch welche diese Gefühle bedingt sind, und dieselben als ein Factum
und zwar als ein allgemeines Factum, also als ein Factum, welches not-
wendig in der menschlichen Natur begründet ist, zur Anerkennung brin-
gen. Diese Sehnsucht des Herzens sucht ein Object, durch welches sie
selbst gestiÜt we nl e. Der G hm be erkennt dies Object als ein wirkliches
an; die Gcmülsstimniung, welche mit dieser Anerkennung verbunden ist,
ist die der Andacht. Der denkende Verstand setzt die auf diesem Wege
entstandene Kette von Vorstellungen weiter fort, sucht nach Beweisen für
die Wirklichkeit jenes Objcctcs, um sich dasselbe nicht wieder entreiszen
/u lassen und diese religiösen Anschauungen mit den übrigen Kreisen von
Vorstellungen in Verbindung und in Harmonie zu setzen. Diese Beweise
haben für dies Lebensalter wie freilich für jeden denkenden Menschen eine
grosze Bedeutung, Hieraus entwickeln sich femer die BegrilTe von den
Eigenschaften Gottes, von der Schöpfung, Erhaltung und Regierung der
Well durch dieses höchste Wesen. Wir können dies hier nicht weiter
verfolgen, sondern wollen nur bemerken", dasz diese Partieen der Glau-
benslehre nicht (ihers Knie zu brechen, sondern höchst sorgfaltig zu be-
handeln sind, namentlich aber aufklare und deutliche Vorstellungen und
scharfe Begriffe zu halten ist- In diesen Kreis von apriorischen Ideen tritt
nun die positive Religion ein, welche sich als aus unmittelbarer Offen-
barung der Gottheit a lammend darstellt. Hier ist es nun von äuszerster
Bedeutung, das Recht des Thalsächlichen, den Anspruch darauf Glauben zu
linden, obwol dieser Glaube immer ein freiwilliger Act bleibt, die Mög-
lich kei t, dasz sich Gott einzelnen Menschen in vollerem Glänze geoffen-
barl habe usw. klar darzulegen. Die Persönlichkeit und die einzelne
Thal sind überhaupt nicht zu beweisen, sonderu anzuerkennen oder nicht
anzuerkennen. Hieran schlicht sich nun von Seilen des Glaubenden* das
lief gefühlte Bedürfnis einer Versöhnung mit jener höhern Macht, von
Seilen der Offenbarung in Christo das dieses Bedürfnis befriedigende
Evangelium von dem Versöhner. Doch es würde uns zu weit führen, diese
Gedanken noch weiter zu verfolgen. Es wird jedem klar sein , welche
Teile der Glaubenslehre wir hervorgehoben zu sehen wünschen: es sind
diejenigen , für welche von Seiten der Jugend ein wirkliches tieferes Ver-
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Der Religionsunterricht auf den Gymnasien. 63
stäüdnis und eine innere Zustimmung erwartet werden kann, zugleich
diejenigen, welche für das sittliche Leben derselben eine Wirkung aus-
zuüben versprechen. Lehren wie die von der Trinilät, von der Person
Christi usw., mögen dem gereiften Lebensalter, welches bereits der Spe-
culation fähig ist, aufbewahrt bleiben und für jetzt die Andeutung ge-
nügen, dasz die Kirche sich durch diese Dogmen in schweren inneren
Kämpfen theure und wichtige Wahrheiten habe sichern wollen.
Diese Weise des Religionsunterrichts , welche darauf berechnet ist,
dem Schüler in der Periode des Zweifels vor dem drohenden Unglauben
zu bewahren und im Glauben zu erhalten und zu befestigen, wird es natür-
lich nicht verabsäumen dürfen, ihm auch Waffen in die Hand zu geben, mit
denen er gewissen der Religion feindseligen Tendenzen begegnen könne.
Diese Waffen sind vornemlich klare Vorstellungen und scharfe Regriffe.
Es ist viel wichtiger für den Schüler, dasz er über Deismus, Atheismus,
Pantheismus eine klare Vorstellung habe , diese möglichen Falls auch mit
historischer Belehrung verbunden, als dasz er die Lehren der Kirche über
gewisse subtile Dogmen kenne, z. B. über die Art und Weise, wie in
Christo zwei Naturen verbunden seien , über die Lehren des Pelagianismus
und Semipelagianismus u. dgl. Noch stärker drängt heutzutage der Ma-
terialismus heran und weisz sich klug in die allgemeine Anschauungs-
weise einzuschleichen , so dasz sich viele bereits mitten im Materialismus
Müden, ehe sie noch eine Ahnung von dessen Principien haben. Ich
weisz aus Erfahrung , dasz auch die Jugend diesen Ideen leicht huldigt,
zumal da sie mit der Richtung auf Genusz und Ausbeutung des kurzen
lekfls sich angenehm verbinden. Hier ist der Punkt , den ich als den
eigentlich gefährdeten betrachte, und der Religionsunterricht die Disciplin,
welche durch Belehrung und Ueberzeugung, nicht aber durch Versiche-
rung oder Ueberredung, dem Feinde begegnen musz. Wenn ich sehe,
wie dagegen dieser Unterricht sich mit Dingen abmüht , welche entweder
völlig unwesentlich und zum Teil ganz unfruchtbar oder gar zweifelhaft
und bedenklich sind, wie z. B. bei so manchen messianisch gedeuteten
Stellen , so wird mir dabei oft angst und bange um die jungen Herzen,
welche nach Brod verlangen und dafür einen Stein erhalten. Und es ist
mir, wie wenn vor uns eine reichbesetzte Tafel gedeckt wäre, wir aber,
um die einladenden Speisen unbekümmert, nach einem Stücke trockenen
Brodes griffen , das unversehens mit auf die Tafel geraten wäre.
Ich komme zu einem zweiten Punkte , in welchem , wie ich glaube,
ebenfalls schwer gefehlt wird : es ist die Introduction in die Bücher der
heiligen Schrift , von welcher ich rede.
Schon oben ist darauf hingewiesen, dasz die Bibel durchschnittlich
ein.den sogenannten Gebildeten unbekanntes Buch ist; die Mühe und die
to, welche die Schulen darauf wenden, ihre Zöglinge in die Bibel ein-
zuführen , sind so gut wie verloren. Dies ist eine erschreckliche Erfah-
rung, für uns um so beschämender, wenn wir sehen, dasz es unter an-
dern nicht minder gebildeten Völkern — wir denken dabei an E n g 1 a n d
und Schottland — so ganz anders hiermit bestellt ist. Wir glauben
gern , dasz es seine besondern Gründe hat , weshalb hier die Bibel noch
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Her Religionsunterricht auf den Gymnasien.
eine tiefe Verehrung genieszt und für das Leben eine so grosze praktische
Bedeutung hat; aber wir sind doch andrerseits überzeugt, dasz auch bei
uns die heilige Schrift zu Ehren gebracht werden könnte. Es würde dies
geschehen, wenn man aufhörte, dieselbe in einer so ganz besondern, von
den übrigen Autoren, welche in der Schule gelesen werben, so ganz ver-
schiedenen Weise zu behandeln.
Offenbar ist die Bibel ein anderes Buch als Homer und Hesiod, So-
plioclcs und Pindar, Herodot und Thucydides es sind. Sie ist ganz und
gar durchdrungen von göttlichem Geiste, eine Offenbarung nicht sowol
menschlicher Kraft und Klugheit, als vielmehr der Ratschlüsse und der
Thalen Gottes. Selbst die Erzählung der historischen Ereignisse beginnt
mit dem. worin die profane Geschichte schlieszt. Aber wenn die heilige
Schrift so von aller anderen Litteratur absolut verschieden ist, so er-
scheint sie doch andrerseits in gleichen Formen wie diese und ist den
gleichen Gesetzen und Beschränkungen wie diese unterworfen. Sie er-
scheint in bestimmten Zeiten und in einem bestimmten Volke, und zwar •
in Zeiten und in einem Volke, welche beide ein sehr bestimmtes Gepräge
an sich 1 ragen und sich so auch in der Litteratur wieder abgebildet haben.
Der göttliche Gedanke musz, wie z.B. in den Psalmen, oft aus dieser Um-
hüllung herausgeschält werden, um in reiner, verklärter Gestalt zu er-
scheinen. Auch ihm klebt vielfach Fremdes und fremder Stoffsich an, wel-
cher abgestreift werden musz. Eben so hat die Kritik hier grosze und
schwierige Aufgaben. Manche Bücher, welche sich in unserm Kanon
befinden , sind schon von deu alten Kirchenlehrern als unächt anerkannt
worden; über manche schwebt der Streit der gelehrten Theologen noch;
bei manchen wird die Frage stets eine offene bleiben. Aber wie viel
schwierigere Fragen erheben sich hinter diesen! Die drei synoptischen
Evangelien sind für sich allein, auch ohne Johannes, ein eben so schwie-
riges Problem für die Kritik, wie die homerischen Gesänge. Fast eben
so grosze Schwierigkeiten bietet uns der Peutateuch dar, in welchem
älteste und jüngste Elemente verbunden sind, zwischen denen fast ein
Jahrtausend liegt. Die verschiedenen Redactionen des mosaischen Gesetzes
hat Bimsen vortrefflich nachgewiesen. Auch Ewald hat es versucht,
vielleicht zu kunstlich, nach Schleiermacher's Vorgang das, was jetzt als
Ganzes vor uns steht, in seine Elemente aufzulösen und von der Erschei-
nung zu den Quellen zurückzugehen. Hierüber musz der Lehrer dem
Schüler eine ruhige und verständige Belehrung geben. Er darf unter kei-
nen Umständen den Zweifeln preisgegeben werden , welche sich massen-
haft an ihn hr randrängen, sobald er die Bibel einigermaszen mit Aufmerk-
samkeit zu lesen beginnt. Oder verlangt man von dem Schüler, dasz er,
wenn er in den Evangelien hier völlige wörtliche Uebereinstimmung, dort
totale Differenz (wie bei den Geschlechtsregistern Jesu) vorfindet, gedan-
kenlos darüber hinweggehe? Wenn wir besonnene und erfahrene Lehrer
voraussetzen dürfen , so können wir erwarten , dasz diese schon das rich-
tige Mass hallen, Ausgemachtes nicht mit haltloszen kritischen Hypothesen
zusammenwerfen und die Gewissen nicht stören, sondern im Gegenteil
beruhigen und befestigen werden. Ohne tactvolle Lehrer hat jeder Reli-
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Google
Der Religionsunterricht auf den Gymnasien. . 65
gionsunterricht seine Gefahren für die Jugend. Sicher ist uns aber, dasz
die stupide Kritiklosigkeit mit der jetzt alles über einen Leisten geschla-
gen wird, mindestens eben so viel schadet, als ehedem vielleicht eine
vorzeitige und crude Kritik geschadet hat. Natürlich wird die Kritik
nicht an den Anfang zu stellen, sondern vielmehr erst dann anzuwenden
sein , wenn durch die Leetüre selbst und im Laufe derselben für den
Schüler sich Fragen erheben , welche unbeantwortet zu lassen gefährlich
und der Wahrheit widerstreitend ist. Die Leetüre selbst wird keine andere
sein dürfen als die, mit welcher wir die alten Glassiker und die Meisterwerke
unserer eigenen schönen Lilteratur treiben , d. h. sich mit Liebe in die
heiligen Schriften versenkend, sich mit ihnen beseelend und durchdringend,
das Grosze, Ewige, Gottliche in ihnen an die Herzen der Jugend legend,
das menschlich Beschränkte, Leidenschaftliche (z. B. in den Psalmen) er-
klärend, ohne Tendenz auf Dogmen, unbefangenen Sinnes. So habe ich
vor Zeiten den Jesaias gelesen und — ich weisz es — meinen Schülern
zi<m ersten Mal Liebe zur heiligen Schrift eingeflöszt. Ich habe sie starr
gesehen vor Entzücken und vor Staunen, dasz solche Dinge in der Bibel
zu Gnden seien. So hatte der Schulrath Lange, der Uebersetzer des He-
rodot, in den Zeiten der französischen Herschaft in Berlin mit den Schü-
lern des Werderschen Gymnasiums das erste Buch der Maccabäer gelesen,
er allerdings, um glühendsten Hasz gegen die Fremden in die Seele seiner
Schüler zu pflanzen. Es war ihm herrlich gelungen ; ich habe es ihm
nachgemacht und gleiche Wirkung dieses noch dazu apokryphischen Bu-
ches Beobachten können. Wir verstehen nur nicht mehr die Bibel zu lesen,
wir würden damit noch heute Wunder wirken können. Ich zweifle nicht,
dasz man meine Worte misdeuten wird. Ich wiederhole daher: die Bibel
soll and musz ein heiliges Buch bleiben und als ein solches gelten ; aber
dies schlieszt nicht aus, dasz die Leetüre derselben eine begeisterungsvolle,
ans dem Inneren der Schrift hervorquillende , von fremdartigen Bezieh-
ungen gelöste sei. Natürlich wird der Lehrer, den ich mir denke
und wünsche, zwischen Offenbarung und Inspiration zu unterscheiden
fähig sein.
Ein dritter Punkt betrifft das Ethische. Dies wird gegenwärtig
so vernachlässigt, als ob es überhaupt keine Wissenschaft der Ethik mehr
in der Welt gäbe. Ich weisz aus eigener Erfahrung , dasz den Zöglingen
der Gymnasien vielfach die einfachsten Begriffe der Moral unbekannt sind ;
davon, dasz sie, was durchaus notwendig, die Ethik als ein Ganzes, in
sich eng Geschlossenes vor sich haben sollten , in welchem ein Teil von
dem andern getragen und gestützt wird , ist vollends nicht die Bede. Das
kommt davon her, dasz man das Ethische als inlegrirenden Teil der Dog-
matik eingefügt hat. In Folge dessen wird sie in der Regel stiefmütterlich
behandelt oder ganz unberücksichtigt gelassen. Ueberdies hat sie dadurch
ihre Bedeutung als selbständige, in sich selbst ruhende Disciplin verloren,
und könnte , selbst wenn der Lehrer es wollte , so als Appendix zur Dog-
matik nicht mehr die Wirkung auf die Jugend ausüben, die sie vor allem
auszuüben berufen und geeignet, ist. Denn im Leben wie in der Wissen-
schaft ist es allein das in sich selbst Gegründete > was auf eine Wirkung
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f
Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik?
rechnen kann, Die Ethik zumal, welche wir im Sinne haben, müste auf
Principten gebaut sein, welche dem Jüngling und dem Manne, der
Schwäche und der Sünde gegenüber, Kraft verleihen und den inneren Mut
beleben könnten, ohne dasz die Demut dadurch aufgehoben und der Auf-
btick zu tiaü, dem unser aller Leben geweiht sein soll, getrübt oder ver-
mindert würde,
Ueber die Organisation dieser Disciplin enthalte ich mich jetzt noch
weiterer Vorschläge. Ich bemerke jedoch dies eine, dasz die Ethik, wel-
clic auf Schulen gelehrt werden soll, wesentlich eine historische Disciplin
sein mtiszlc, d. h. eine Disciplin, welche darlegte, wie die ethischen Ideen
sich stufenweise zuerst bis zu der Ethik der Griechen erhoben haben, von
denen diese Ideen zuerst als ein Ganzes aufgefaszt und systematisch ent-
wickelt sind, und wie demnächst diese antike Ethik in das Christentum
itifgen diu in cu und hier aus dem Geiste des Christentums wiedergeboren ist.
So weil für jetzt. Ob unsere Ideen, wenn sie sich Anerkennung
verschafften,, die von uns ersehnte und erstrebte Wirkung ausüben würden,
liegt in einer höheren Hand. Der schwache Mensch musz sich begnügen,
das Gute gewollt und pro virili parte das Seine dafür gethan zu haben.
Oclobcr 1863. ***
8.
Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik?
Nichts tat schwerer, als die Mathematik ! — Welcher Schulmann
hifcUc diese, namentlich jungen Leuten als eine der unumstößlichsten
Wahrheiten geltende Ansicht nicht vielfältig zu hören und zu bekämpfen
Gelegenheit gefunden? Wenn nun auch jene oft und bitter beklagten
Sdiwii'riijl. uii — Dank unseren jetzigen geschmeidigeren Lehrmethoden,
daneben den ins Leben so tief eingreifenden Leistungen der mehr und
mehr sich entfaltenden Realschulen! — in neuester Zeit nicht mehr als
un übers teigliche betrachtet werden, so hat gleichwol jeder Mathematikus
dieser Meinung gegenüber immer noch genug der Anfechtungen zu be-
stehen, und ist es wol keine müszige Aufgabe, dieselbe einmal einer etwas
genaueren Betrachtung zu unterziehen. Soll dieses jedoch nur mit eini-
ger Gründlichkeit geschehen , so macht sich da und dort eine philoso-
phische Erörterung ohne Weiteres nötig, damit aber auch ein Anschlusz
an irgend ein allgemein verbreitetes philosophisches System, denn es gilt,
verstand] iclie Kunstausdrücke zu gebrauchen. Wir wählen zu diesem
Zweck das knntische System mit seiner wol immer noch am meisten ver-
breiteten Ausdrucks weise.
Eine uralte, wol seit Aristoteles geltende, Bestimmung scheidet
bereits Form und Gehalt einer Wissenschaft. Wenn wir nun hier zunächst
die Grundbegriffe der Mathematik zu betrachten anfangen, so beleuchten
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Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik? 67
wir damit den schwierigsten Teil des nur durch innere Anschauung und
Betrachtung unserer geistigen Tätigkeiten zum Bewusztsein zu bringen-
den, also ganz intuitiven
A) Gehaltes dieser Wissenschaft.
Die mathematischen Lehren tragen — sowol ihrem Gehalt als ihrer
Form nach — ein so ganz eigentümliches Gepräge, dasz man ehemals
nicht selten die etwas wunderliche Ansicht hegte , als könnte diese Wis-
senschaft ohne Beihülfe irgend einer andern, also ganz selbständig ihre
Wahrheiten zu einem systematischen Ganzen zusammenfügen. Allein die
jedem Menschen ganz auf gleiche Weise zu Gebote stehenden , fast ohne
alle äuszere Erfahrung zum Bewusztsein zu bringenden mathematischen
Erkenntnisse, ferner jene die Form dieser Wissenschaft so eng einrah-
menden (logischen) Reflextonsbegrifle von: Einerieiheit, Verschiedenheit;
Form, Gehalt; Aeuszerem, Innerem; Uebereinstimmung, Widerstreit,
wie wir deren Sonderung zunächst Leibnitz verdanken, weisen ganz deut-
lich auf ihre metaphysische Abkunft hin. Alle mathematische Grundan-
schauungen, Grundbegriffe gehören sämtlich eng verflochtenen Reihen
philosophischer Vorstellungen von Raum und Zeit an.
Darauf deutete im vorigen Jahrhundert bereits mit seltener Klarheit
Kant, in diesem wiederholt Fries, Apeltu. a. recht oft hin. Jene
Vorstellungen kommen deswegen allen Menschen auf dieselbe Weise, ver-
möge der gleichen geistigen Organisation , zu. Allein , wie im bürger-
lichen Leben der Nachweis für das Eigentumsrecht eines Besitztumes weit
leichter zu führen, als die Besitzergreifung einzuleiten ist, so auch auf
dem philosophischen Gebiet. Vorstellungen haben, dieser sich mit Be-
wusztsein bemeistern , sind zwei wesentlich verschiedene Acte. Das alles
läszt sich leicht durch eine kurze Betrachtung klar machen.
Alle unsere Sinne sind unzähligen Täuschungen unterworfen , gleich-
wol werden wir durch diese Sinne, namentlich durch den Sehsinn und
Tastsinn auf dieses Besitztum mathematischer Wahrheiten recht klar hin-
gewiesen. Was ist es denn nun, das unseren äuszeren Beobachtungen
festen Widerhalt verleiht, einen solchen Widerhalt verleiht, dasz wir uns
immer und immer jener gemeinsamen Erkenntnisse erinnern müssen? —
Wo Zahlen sprechen, sagt ein alles Sprichwort, da soll der Streit enden.
Dieser einfach« Ausspruch deutet mit mehr Schärfe auf die Gemeinsamkeit,
Gleichheit mathematischer Erkenntnisse hin, als manches philosophische
Lehrbuch durch lange Deductionen. So verschiedenartig nemlich das,
was unsere fünf Sendboten in die Auszenwelt, unsre Sinne, uns zeigen,
auch sein mag , eine Eigenschaft an den Erscheinungen nennen sie uns .
einstimmig alle wieder, das ist die unabweisbare Eigentümlichkeit, dasz
sie alles in Zeit und Raum eingegrenzt vorfinden. Es sind alle Zeitteile,
sowie alle Raumteile völlig gleichartig , wenn daneben sich gleichwol eine
Verschiedenheit unter solchen Teilen herausstellt, so kann diese nur noch
durch den Grad , also durch die Grösze sich bestimmen lassen. Das Masz
der Grösze ist aber die Zahl oder die leicht in Zahlen bestimmbare Linie.
Die Gemeinsamkeit dieser unabweisbaren , notwendigen Anschauungsweise
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68 Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik?
sichert uns Menschen eine leichte gegenseitige Verständigung — dem
obigen Sprichwort aber volle Geltung.
l) Bilder des Dichters — Schemate des Mathematikers. Raum
und Zeit, diese den Philosophen so beschwerlichen, so räthselhaften,
der Gröszenlehre dagegen so äuszerst willkommenen Vorstellungen , von
Kant: Formen des äuszeren und inneren Sinnes genannt, sie
sind es ohne Widerrede , auf welchen der Mathematiker seine Entwürfe
aufrollt, abejf auch alle anderweitigen Vorstellungen finden sich mehr oder
minder scharf in diese Rahmen eingeschlossen, so die Bilder des Dich-
ters, wie die Schemate des Mathematikers. Durch das schärfere Her-
vortreten dieser zeitlichen und räumlichen Bestimmungen sind aber letz-
tere von ersteren gerade am wesentlichsten verschieden. So sorg faltig
Schiller auch in der Zeichnung seines Teils zu Werk geht, dessen Eigen-
tümlichkeiten bis zur Bogensehne hin angibt, auf eine scharfe Orts- und
Zeitbestimmung läszt sich derselbe nirgends ein. Bei den Bildern des
Dichters können wir in Affekt geraten, nicht so bei den Schema ten des
Mathematikers. Letztere lassen uns ganz kalt. Der Traum unterhält mit
Bildern des Dichters. — Es gehört zu der letzten Art der Schilderungen
eine lebendige Ideenverbindung , Seitens des Erfinders derselben , um nicht
Einzelnes zu übersehen. Wir nehmen es dem Dichter gar nicht so übel,
wenn er uns etwas Unsinn vorschwatzt , Rosz und Mann in einen Centaur
zusammenzieht, wenn er mit Sonnenweiten Milliarden, wie mit Rechen-
pfennigen spielt, erfreuen uns recht innig an den schönen, sinnigen Ara-
besken Raphael's, hören aber daneben auch in alten Tagen noch die bunten
Erzählungen aus Tausend und einer Nacht und die Belagerung von Troja
mit einem gewissen Wohlgefallen an.
Ganz anders steht es um die ganz eigentümlichen Bilder — jene
Schemate des Mathematikers, obwol sie mit den Bildern des Dichters
dieselbe Geburtsstätte gemeinsam haben. Während letzterer durch recht
viel Einzelnes seine Schilderungen zu beleben streben musz , liegt es dem
Mathematiker gerade ob, das Einzelne aufzuopfern, nur ganz Allgemeines,
die Form eines Ganzen oder die Form der Verbindung mannig-
faltiger Teile zu einem Ganzen im Auge zu behalten. Manche dieser
mathemalischen Schemate bilden sich uns von selbst , anderer müssen wir
dagegen uns durch einen oft recht künstlichen , geistigen Mechanismus
bemeistern. Das Bild einer Stadt, einer Gegend verbleicht mit der Zeit
von selbst zum bloszen Grundrisz-Schema. Welches Gedächtnisz vermöchte
auch auf Jahre hinaus jeden Ziegel des Daches, jede Thurmspitze, jedes
Thor, jedes Haus mit Klarheit behalten können?
Wird dagegen von Jemandem verlangt , er solle sich das Bild eines
mathematischen Dreiecks entwerfen , so hat er von den durch die Phan-
tasie vorgeschlagenen Linien alle Farben, jede Breite geflissentlich zu be-
seitigen, die Figur mit Willen nicht gleichseitig, auch nicht recht- oder
stumpfwinkelig werden zu lassen, jeden Hintergrund und eben so jeden
Vordergrund zu entfernen, nur die Eigentümlichkeiten: Dreieckigkeit,
Dreiseitigkeit vorzuführen, soll überhaupt das Ideal einer solchen Zeich-
nung entstehen. — Das Schema einer Grösze ist die Zahl Diese
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Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik? 69
stellt nicht allein eine Menge Einheiten, woraus die Grösze besteht, vor,
sondern auch die Art der Verbindung zu einem Ganzen. Wir bilden die
Zahl, indem wir nacheinander die Eins als Zeichen des Maszes in die Zeit
und den Raum hineindenken, eine bestimmte Reihe solcher Einsen mit
einem Begriff und dann mit einem Namen, zuletzt mit einem Zeichen (Zif-
fer) belegen. Aber welche Beschaffenheiten hat denn diese Eins? Auszer
dem Ausgedehntsein, gar keine« Was musz hier geflissentlich vermieden
werden? Sehr vieles! Soll eine Menge Menschen mit einer Zahl belegt
werden, so ist von aller Verschiedenheit derselben abzusehen, lediglich
der numerische Unterschied sicherzustellen. Es ist somit ein solches
Schema durch seine Allgemeinheit und gewissermaszen auch durch
seine Beweglichkeit, also dadurch, dasz es gleichsam zwischen vielen
ähnlichen Bildern innen schwebt, ein Ideal, einem gewissen Begriff ge-
mäsz entworfen , mit dem es vollständig congruent sein musz. Die grö-
szere Klarheit solcher Schema te verleiht auch den damit verbundenen
Begriffen- eine schärfere Abgrenzung, Sicherheit, Brauchbarkeit. Der Be-
griff enthält nicht mehr Eigentümliches, als was das Schema bereits hat.
Mit geschlossenen Augen entwerfen wir die klarsten, mathematischen
Schemate. Da nun dieselben aller sinnlichen Beschaffenheiten entkleidet
sind, wirken sie nicht auf unsere Empfindung, sie lassen — im Gegen-
satz zu den Bildern des Dichters' — kalt, erregen keine Affekte. Diese
Schemale lassen sich ferner wegen ihrer Klarheit leicht von dem Bewuszl-
sein festhalten , sie behaupten nichts Einzelnes, sind allgemeine und
iiotweidige Zusammenstellungen unserer Einbildungskraft. Sie stehen
uns jeden Augenblick zu Gebot, während der Dichter die Zuthaten zu sei-
nen Bildern von der Erfahruug zu erwarten hat, diese also mehr zufällig
sind. Alle mathematischen Begriffe — Axiome, Postulate, Definitionen —
ruhen auf solchen Bildern als ihren Grundanschauungen. Die Philosophen
nennen diese Art Abstractionen quantitative, im Gegensatz zu den
qualitativen, wo lediglich die vielen Vorstellungen zukommenden,
gemeinsamen Teilvorstellungen festgehalten , zu einem Ganzen verbunden
werden. Die Vorstellungen Rose, Lilie, Veilchen usw. führen zwar auf
die Abstraction : Blume, denn sie haben das Merkmal : 'Blumenhaftes' ge-
meinsam in sich; keineswegs aber auf ein mathematisches Schema.
Während die mathematischen Abstractionen wahre Ideale der Klarheit
vorstellen , leiden die philosophischen wegen des Mangels an Anschaulich-
keit und ihrer zu groszen Allgemeinheit gerade an dieser löblichen Eigen-
schaft. Freiheit, Unsterblichkeit, Unendlichkeit sind derartige, aber
auch unklare Vorstellungen, niemand kann sich ein Bild dazu entwerfen,
sondern wir gelangen zu ihnen nur auf dem Weg der Spekulation , also
ohne Anschauung , lediglich durch Begriffe.
Was die auf diesen Schematen ruhenden Begriffe ferner anbelangt,
so sind dieselben nicht blosz durch Denken gewonnene Zusammensetzun-
gen von Geschlechtsbegriffen und Artunterschieden , wie in anderen Wis-
senschaften, sondern jedes hier verwendete Merkmal hat eine solche
Anschaulichkeit , dasz es sich nach Form und Inhalt von anderen unter-
scheiden läszt. Diese Begriffe lassen sich — construiren, also als
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70 Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik?
möglich nachweisen. Ferner bringt jedes mathematische Urteil zu einen
Subjekt ein neues Prädicat hinzu, während bei rein philosophischen I r
teilen das Umgekehrte statt hat. Man betrachte die Salze; Zwischen zwo»
Punkten ist die gerade Linie die kürzeste und : Alles Gleichzeitige befind»
sich in notwendiger Wechselwirkung. Dort ist Subjekt : Linie , das Pnl
dicat: Kürze, hier Wechselwirkung das zweite, was zu dem Präilica
Gleichzeitig erst hinzukommt. Davon liegt der Grund ebenfalls wieder i
der Möglichkeit, schematisiren zu können. Also Khrhrit ihr Schemai
ist für den Mathematiker Alles , denn von dieser hängt die der Begi
und zuletzt die der Schlüsse ab. Ob der Knabe eine streng plnlosophfei
also schulgerechte Definition von Infinitiv, Nominativ a, a. grammatisel
Ausdrücken zu geben vermag oder nicht, das hemmt den Fortgang
seinen sprachlichen Studien wenig, nicht so auf dem mathematisch*«
biet. — Darum ist bei Anfängern die Kunst des Schema! isireus , wo tu
lieh, recht zu üben — worauf früher Pestalozzi schon so vielfach in
Schriften hinwies. Wo ist aber
2) Die Geburtsstätte
dieser Schemate zu suchen?
Wir haben es mit einer der Aufmerksamkeit, man möchte s
gerade entgegengesetzten geistigen Operation zu thun , denn scharf i
etwas hinsehen und von etwas absehen, tragen fast widerspreche!
Merkmale in sich. Dort gilt es, Vorstellungen zu beachten, hier
gleichen, wenn sie sich aufdrängen, zurückzuweisen , uns gegen sie
zusperren. Erinnern wir uns nur an die Mühen , grossen Mühen , weh
wir hatten, Lesen und Schreiben zu lernen. Von wie vielem musteti
anfänglich absehen, wie sehr hatte die Willenskraft anderer Seils ei
wirken, um den Schriftzügen des Lehrers zu folgen ? Ein ganz ahnlic
Bewandtnis hat es bei dem Entwerfen von mathematischen Schema tea
Kant sagt in seiner Anthropologie desfalls sehr sinnreich:
'Von einer Vorstellung absehen zu können, selbst wenn sie
dem Menschen durch den Sinn aufdrängt, ist ein weit grosseres Verraö,
als das Aufzumerken, wTeil es eine Freiheit unsers Denkvermögens i
Eigenmacht des Geistes bewreist, den Zustand seiner Vorstellung in *ei«
Gewalt zu haben (animi sui compos). In dieser Rücksicht ist nun das V
mögen abzusehen viel schwerer, aber auch wichtiger, als das der Aufini
samkeit. Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht absehen köj
Der Freier könnte eine gute Heirat machen, wenn er mir über eine Wj
im Gesicht, oder über eine Zahnlücke seiner Geliebten wegsehen koi
Es ist aber eine besondere Unart unserer Aufmerksamkeit , gerade t
was fehlerhaft an anderen ist, auch unwillkürlich zu beachten, sc
Augen gerade auf einen dem Gesicht gegenüber am Rock fehlenden ku
oder einen gewöhnlichen Sprachfehler zu richten, den anderen dadur
zu verwirren, sich selbst aber auch im Umgang das Spiel zu verde i bfM
Die Schwierigkeit der Bildung solcher Schemate liegt darum wo! i
Dadurch, dasz wir einen vernünftigen von auszen her erregl
Geist besitzen , dasz dessen Selbsttätigkeiten auf das engste verbumlci
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Was ist für den Anfänger Schweres au der Mathematik? 71
sich zeigen, darum keine getrennten, theilweisen Anregungen unseres
Geisteslebens möglich sind, rausz eine Vorstellung notwendig andere —
wie eine Welle andere Wellen — beleben. Unter diesen herbeigeführten
Vorstellungen wird ein guter Teil zur Bildung der obigen Schemate —
und zwar alles auf Raum und Zeit Bezügliche — zu verwenden , ein un-
gleich gröszerer Teil dagegen zur Seite zu weisen sein. Alle durch die
Sinne uns gewordenen Vorstellungen der ersten sinnlichen Beschaffen-
heiten der Dinge um uns, wie die von Düften, Gerüchen, Schall, Wärme,
ja sogar auch von Farben , bleiben unanwendbar.
Es rufen aber Vorstellungen einander aus dem dunkelen Inneren un-
seres Geisteslebens vor das Bewustsein , je enger sie in einem und dem-
selben Vorstellungsact früher verbunden erschienen. Jugenderinnerungen
tauchen auch in den spätesten Jahren nicht vereinzelt auf.
Frühere Gemütszustände, sofern sie noch auf den gegenwärtigen
einzuwirken vermögen, sind ebenfalls ein sehr sicheres Mittel, längst
schlummernde Vorstellungen gleichzeitig wieder zu beleben. Der unver-
hoffteste und leiseste Trommelschlag richtet auch den längst ausgedienten
Soldaten in die vor Zeiten eingelernte Haltung , in den ordonanzmäszigen
Schritt.
Vorstellungen, welche durch die Art und Weise ihrer Entstehung
gkichsam verwandt siud> erwecken sich ebenfalls mit groszer Gewalt
we4er, so jene alle, die wir dem Sehsinn oder dem Ohr verdanken. Die
ersten Takte einer Melodie beleben in uns die Vorstellung von allen nach-
senden Takten. Welche ungemein feste Verkettung dadurch unter den
Vorstellungen bedingt wird, dafür finden wir die deutlichsten Beweise in
der Ideenflucht Wahnsinniger, wo die Geschwätzigkeit der Phantasie iti
rastloser Eile von einer Vorstellung zu einer ähnlichen anderen eilt, im
bewustlosen Thun und Treiben von Mondsüchtigen, Nachtwandeiern. —
Will darum der angehende Mathematiker seine von allen Beschaffenheiten
der Sinnenwelt entblöszten Schemate entwerfen, will er vor seinem Be-
wustsein nur aus Räumlichem und Zeitlichem zusammengesetztes fest-
halten, so gilt es, mittelst des Verstandes die eben bezeichneten Bän-
der, womit die Vorstellungen verkettet sind, gewaltsam zu zerreiszen,
Dieses ist aber kein so leichter geistiger Act , als man gewöhnlich meint.
Ohne Mühe folgt selbst das Kind einer für dasselbe noch unverständlichen
Musik, angeregt durch das ihm unbewust lebendig gewordene Affekten-
spiel; mit Spannung musz es dagegen schon die Schriftzüge seines Schreib-
lehrers nachzuahmen suchen. Mathematische Schemate können aber gar
kein Gefühl der Lust rege machen, denn sie sind lediglich Sache der
Ueberleguug , darum gilt es hier , mit der g a u z e n G e w a 1 1 eines festen
Willens einzugreifen. Welcher lange Weg von einem Bleifederstrich
bis zu dem Schema einer Linie! Farbe, Breite des gezeichneten Striches
musz zunächst bei der Vorstellung davon wegfallen, ebenso musz die
Beschaffenheit des gebrauchten Papieres, des Griffels vergessen werden,
femer ist von allem abzusehen , was während des Zeichnens einer solchen,
sogenannten Linie ringsum geschah.
Ist es darum lebhaften Knaben zu verargen, wenn sie eben keine
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72 Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik?
besondere Lust zeigen , sich der mathematischen Vorstellungen zu hemei-
stern? Sicher nicht! Es macht Mühe, zu jenen mathematischen Grund-
Schematen eine Fertigkeit zu erlangen. Sind freilich diese ersten Grund-
lagen einmal gewonnen, mit rechter Klarheit aufgefaszt worden, dann
wird es gerade lebhaften Naturen leichter, als anderen, zu dem Zu-
sammengesetzteren weiter zu schreiten. Newton gestand mehrfach zu,
dasz ihm Euklid's Elemente viele Mühen verursachten; gleichwol vermag
jeder gesunde Verstand sich dieser. Grundanschauungen mit Klarheit zu
bemeistern , während für die Erlernung von Künsten sich dieses nicht be-
haupten läszt. Wir können Niemandem zumuten, die Reinheit des Inter-
valles zweier Töne zu bestimmen.
B) Form der mathematischen Lehren.
Dieses Alles traf die Grundlagen für den anschaulichen Gehalt
der mathematischen Lehren , wie steht es denn nun um die Art und Weise
der Verbindung derselben?
Mathematische Lehrbücher zerfallen gewöhnlich in zwei Hauptteile,
einmal in eine Zusammenstellung von Definitionen, Axiomen, Postulaten,
dann in eine solche von Lehrsätzen und Aufgaben. Jene sind gewisser-
maszen Glaubenssätze (Dogmen), welche als allgemeinste, notwendige
Grunderkenntnisse auch als unumstöszliche hingenommen werden müssen.
Von ihnen dagegen abhängig bleiben die Lehrsätze, Aufgaben mit ihren
Beweisen und Lösungen, und dieses Alles ist durch eine sogenannte hypo-
thetische Verflechtung mit einander auf das engste verbunden. Eine solche
Schluszkette folgt mehr oder minder hervortretend immer der Form :
A gilt
Wenn A gilt, gilt B
Bgüt
Wenn B gilt, gilt C
Cgilt
Wenn C gilt, gilt D usw.
wo A, B, C lediglich synthetische Urteile, also nur solche sein dürfen,
in welchen das Prädicat dem Subjekt ganz neue Vorstellungen als Begriffe
beilegt. Das Urteil : 'der Adler ist ein Vogel' gibt nichts Neues, es ist ana-
lytischer Natur, dagegen liegt in dem Axiom: 'Zwischen zwei Punkten
ist die gerade Linie die kürzeste9 für diese Linie etwas ganz Neues: Kürze
als Prädicat.
Wenn nun jedes rein philosophische System seine Behauptungen
immer in kategorischer Form , jedes geschichtliche seine losen Bausteine
durch Gonjunktionen zu einem Ganzen verbunden anbieten musz, so bat
der Mathematiker in seiner hypothetischen Verflechtung neben jenen die
festeste Verbindung für seine Wahrheiten, und kein Teil , auch nicht der
kleinste seiner Wissenschaft, vermag sich dieser Art der Verflechtung
zu entschlagen. Obwol wir nun im Leben solche Schluszketten ebenfalls
häufig verwenden , bieten sie hier doch ihre ganz eigentümlichen Schwie-
rigkeiten. Es kommt nemlich bei diesen langen logischen Verbindungen
nicht allein darauf an, allgemeine, notwendige Urteile mittelst des Ge-
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Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik? 73
däehtnisses festzuhalten, sondern es gilt vornehmlich, diese als Vorder«
sätze und zugleich daneben alle Mittelsätze judiciös aufzufassen und mit
voller Klarheit vor das Bevvustsein zu bringen. Lediglich und nur auf
diesem Weg läszt sich das Verständnis von einem zum anderen mathe-
matischen Satz übertragen. Welche Länge aber diese Ketten haben , dafür
gibt folgende Tabelle ein anschauliches Bild. Euklid's Lehrsalz 5, dasz in
dem gleichschenkligen Dreieck die Winkel an der Basis gleich sind , stützt
sich auf folgende Vordersätze, Lehrsätze und Aufgaben:
Lehrsatz 5.
, * s
Lehrs. 4. Forder. 2. Aufg. 3. Grunds. 3.
244 sind ^ aus Eine Gerade zu V. einer Geraden Von Gleichem
Gleichh. 2. Seiten verlängern. ein best. Stück Gleiches hin-
u. des eingeschl, abzuschneiden. * weggen.. läszt
Winkels.
Grunds. 6. Def. 8
Zwei Gerade schlieszen des Winkels,
keinen Baum ein.
Jleich
es.
Aufg. 2. Ford. 3. Def. 15 Grunds. 1.
Durch einen P. eine E. Kreis zu des Krei- Zwei Gröszen, die einer
Gerade von best. beschreiben. ses. 3. gl. sind, sind selbst
Länge zu legen. gleich.
Ford. 3. Aufg. 1. Ford. 1. Ford. 2.
Ein gleichs. A V. einem P. zum andern
zu construieren. eine Gerade zu ziehen.
Ford. 1. Grunds. 1. Ford. 3. Def. 15.
Ueberblicken wir nochmals das Ganze , so finden wir hier drei eng ver-
bundene Aufgaben nebeneinander. 1) Das der Mathematik ganz allein zu-
kommende Schematisiren ; 2) das Formiren von mathematischen Begriffen ;
3; das Verwenden des vorigen zu Urteilen, Schlüssen, endlich zum Aufbau
eines ganzen Systemes. Hiervon bietet das ganz uniehrbare Schematisiren,
dieses Entwerfen der einfachsten Grundconstructionen immer die gröszten
Schwierigkeiten für den Anfänger. So einfach nemlich solche Schemate
einerseits ausfallen sollen , müssen, sie doch andererseits in ihrer Zusam-
mensetzung stets allgemeinste, notwendige Verbindungen von Formen
anbieten. Der Anfänger bleibt aber in der Regel bei dem Einzelnen stehen,
statt sich zum Allgemeinen zu erheben, bildet, bei dem Verlangen: ein
Dreieck zu denken, sich gewöhnlich ein gleichseitiges, gleichschenkeliges
oder sonst eine Art des Dreieckes aus, statt ein allgemeines Bild dieser
Figur zusammenzustellen. Jür das Entwerfen der diesen Schematen ent-
sprechenden Begriffe, Urteile usw. können wir schon dem psychologischen
Mechanismus durch logische Mittel mehr zur Hülfe kommen. Euklid's Sy-
stem z. B. , welches man gewöhnlich mit dem Namen eines synthetischen
belegt, ist ein blosz ostensives Verfahren, die Wahrheit eines Salzes
nachzuweisen ; dieses läszt sich leicht in ein sogenanntes heuristisches zu
Gunsten leichterer Erfindung von Wahrheiten umwandeln , indem wir vom
Einzelnen auf Allgemeines zurückschreiten , also den regressiven Gang "
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 2. D$tized by Gc
74 Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik?
einschlagen f während das ohen hingegebene Schema einen progressiven
Weg nimmt. Wie dem aber auch nun sei, für den angehenden Mathema-
tiker mu\ alle diese Operationen schwer zu nennen.
Wenn nun dieses der Fall ist, weshalb mutet man denn ohne Aus-
nahme jungen Leuten höherer Bildungsanstalten so Unverdauliches zu?
Darauf dient als Antwort: Wir haben es hier für unsere innere geistige
Aufklärung mit einem Bildungsstoff zu thun, wie keine andere Wissen-
schaft dergleichen anbieten kann. Ganz und gar von aller äuszeren Er-
fahrung verlassen, hat der Mathematiker in innerer Beschauung sein
System aufzubauen, ist darum zur umfassendsten Kenntnisnahme seines
geistigen Eigentumes, seiner geistigen Thätigkeiten , zu einer sehr be-
sonnenen, nüchternen Einschau in sich selbst gezwungen. Unsere Bil-
dung auf Schulen, was will diese aber zunächst? — doch nur Besitz-
ergreifung des geistigen Eigentumes, Selbsterkenntnis, oder wie man
sonst das alte: yvujBi C€<XUTÖv übersetzen mag. Dafür sagte aber schon
J. Fr. Fries im Anfang dieses Jahrhunderts in seiner Psychologie so tref-
fend : bliese Bildung der Seibsterkenntnisz oder Besonnenheit, in welcher
der Mensch seiner Meister wird, ist die Grundlage aller Geistesbildung,
daher von höchster Bedeutung. Die Macht des Verstandes über das Be-
wustsein ist die innerste Gewalt, durch die der Mensch sich selbst besitzt.
— Dieses wache und dabei verständige Bewustsein entscheidet
innerlich, was der Mensch ist und Unit, worin er frei zu nennen sei, was
ihm zugerechnet werden könne, Ueber dunkeles Selbstgefühl erhebt der
Mensch allmülig die Klarheit des Selbstbewustseins, und diese stufenweise
Fortbildung zur höheren Besonnenheit zeigt am unmittelbarsten das Fort-
schreiten des Menschengeistes'.
Ist denn nun an den mathematischen Lehren für den Anfänger alles
schwer? — Sicher nicht! Es läszt sich vielmehr leicht nachweisen, dasz
gerade durch die einförmige Architektonik des mathematischen Systemes,
daneben durch den beschränkten, besser, genau abgegrenzten anschau-
lichen Gehalt dieser Wissenschaft das Verständnis bei weitem mehr er-
leichtert werden musz, als in anderen Unterrichtsstoffen. Doch davon
vielleicht ein anderes Mal!
HUdbuj ghausen d. 23. Febr. 1863. Prof. Büchner.
9.
Vocabulaire systematique anglais-frangais et guide de conver-
saUon anglaise, par R. Koenig Dr. phil. (X. 314.) Olden-
burg 1863. Schmidt.
Der Inhalt ist in 3 Abteilungen gebracht: Gott, Natur, Menschheit,
von denen jede wieder in eine Reihe Unterabteilungen zerfällt. Zu I sind
gezogen; 1) Religion, Gottesdienst, 2) abstracte Begriffe, 3) Zeit; zu II:
Digitizedby GoOglC
J
R. Koenig : Vocabulaire syst£matique anglais-fran$ais. 75
4} ÜBiversam, 5) Erde und Meer, 6) Thierreich, 7) Pflanzenreich, 8) Mine-
ralreich; zu III: 9) der menschliche Körper, 10) Gesundheit und Krank-
heit, 11) Nahrung, 12) Kleidung, 13) Wohnung, 14) die Stadt, 15) die
Seele, 16) der moralische Mensch, 17) der sociale Mensch, 18) die bürger-
liche Gesellschaft, 19) Gesetzgebung, 20) Heer, 21) Seewesen, 22) Erzie-
hung und Unterricht, 23) Wissenschaft und Künste, 24) Handel, 25) Reisen,
26) Kunst und Handwerk, 27) Ackerbau, Jagd und Fischfang, 28) Ver-
gnügungen. -— Ihnen schlieszt sich als zweiter Teil eine Phraseologie an,
welche englische Redensarten und Anglicismen , französische Redensarten
und Gallieismen mit der entsprechenden französischen und englischen
üebersetzung enthält , und eine Sammlung englischer Sprüchwörter. So-
daun folgt eine kurze Zusammenstellung englischer Homonymen und eine
alphabetische Liste der im Text erklärten Synonymen. Ein index, der
aber, wie hier gleich bemerkt werden kann, es leider vielfach an Voll-
ständigkeit vermissen läszt, schlieszt das Ganze. Wir müssen gestehen,
keinen besonders triftigen Grund für die vom Verf. angewandte Einteilung
zu sehen, fan Einzelnen genommen läszt sich gegen die Abschnitte nichts
einwenden, aber sollte es nicht praktischer sein, z. R. das Capitel Religion
mit dem von der Seele und von den moralischen Eigenschaften des Men-
schen zu verbinden? Gehörte nicht der Abschnitt ^Erziehung' ebenfalls
hierher? Durch die vom Verf. beliebte Einteilung wird doch Zusammen-
gehöriges auseinandergerissen! Eben so wenig sehen wir ein, warum
väie Seele9 und f der moralische Mensch* getrennt worden , und warum
*Zeit' unter den Begriff Gottes gebracht worden ist, statt unter 'Mensch-
heit'. Praktisch ist diese Anordnung nicht, insofern als der Schüler, dem
der innere Zusammenhang der betreffenden Capitel nicht so klar vor
Augen liegt, jedenfalls viel Zeit auf das Aufsuchen wird verwenden müs-
sen; der Lehrer wird sich schon zu helfen wissen. Der Verf. sagt S. V:
'pour faciliter les e* tudes personnelles , il nous a semble1 plus simple et
plus rationnel de classer les matteres de notre vocabulaire en trois grands
domaines: Dieu, la nature et l'humanirä avec toutes les ide*es accessoires
qui s'y rattachent9 — *aher wie das Studium erleichtert wird, und warum
die Dreiteilung einfacher und vernünftiger (als was?) ist, verstehen wir
nicht. Herr Dr. Koenig hat sich das Vocabulaire von Plötz zum Muster
genommen, es wäre wol nicht überflüssig gewesen, die Gründe anzu-
geben , warum er von der Anordnung dieses in eminenter Weise prakti-
schen Schulmannes abgewichen ist.
*€et ouvragc* heiszt es S. IV, 'ne s'adresse point exclusivement aux
Francis, mais ä tous ceux qui possedent assez le francais pour baser sur
cette langue une etude approfondie (?) de l'&nglais.9 Wir wissen nicht,
wie weit der Verf. darauf rechnet, dasz sein Werk in Frankreich selbst
benutzt wird, befürchten aber, dasz ein geborener Franzose sich in dieser
Weise schwerlich an die Erlernung der englischen Sprache begibt. In-
desz dem sei wie ihm wolle, der Verf. hat doch wol hauptsächlich
Deutschland im Auge, da in deutschen Schulen das Sprachstudium einen
verdientermaszen hervorragenden Platz einnimmt. Wir wünschen ihm
Glück zu der Ausführung des Planes, für die höheren Unterrichtsanstalten,
D^ifedby Google
76 R. Koenig: Vocabulaire syst^matique anglais-francais.
namentlich die Oberclassen einer Realschule, ein Handbuch der Conver-
saLion in englischer und französischer Sprache zu verfassen. Der Lehrer
lindet in dem Werke eine willkommene Stütze und Grundlage zurUebung
in der Convcrsation und kann — ein Vorteil, den wir zu schätzen wis-
sen — bald in englischer, bald in französischer Sprache sich mit seinen
Schülern unterhalten und ihnen somit leichter die Uebereinstimmung
und die Verschiedenheit beider Sprachen vor die Augen führen. Allein
man mag sagen was man will, im Geiste des Schülers nicht nur, sondern
auch in dem des Lehrers , und wenn derselbe auch durch Studium und
durch lungeren Aufenthalt im Auslande sich in den Geist der fremden
Sprachen hineingearbeitet hat, bildet das Deutsche stets, mehr oder min-
der, den Ausgangspunkt der Vorstellungen. Der Verf. hat allerdings wol
imhewust, aber als Deutscher von Geburt, sich bei der Aufstellung des
englischen Textes von deutschen Vorstellungen leiten lassen ; denn die
Fälle, in denen eine französische Vorstellung ein englisches Wort veran-
lass L, sind vi rhältnismäszig sehr selten, so viel wir haben sehen können.
Wir wünschten in dieser Beziehung eine gröszere Berücksichtigung der
eigentümlichen Ausdrücke der deutschen Sprache, und ihr entsprechend
einen grösseren Reichtum an echt englischen Ausdrucksweisen , als der
Verf. für gut befunden hat uns zu geben. Wir greifen auf Geratewol
einen Artikel heraus, z. B. bei hand (S. 69) vermissen wir eine Reihe von
ganz gcwölm liehen Ausdrucksweisen, wie: lake hands, to be at hand, to
have a hand in (a matter), in the turn of a hand, to lay hand upon o., lo
come to hands, off-hand, on the one hand — on the other, hand over
ht»ad usw. Es mag sein, dasz diese und andere Ausdrücke an einer ande-
ren Stelle vorkommen, dasz auch der Verf. vielleicht aus pädagogischen
Rücksichten, um das Buch nicht über Gebühr aufschwellen zu lassen, sie
unberücksichtigt gelassen hat; uns steht aber das Princip hoch, welches
der Verfr in der Vorrede anerkannt hat: die gegebene Idee musz in ihren
Verzweigungen, so zu sagen, verfolgt und dargestellt werden. Das
höchste Stichen des Unterrichts in einer fremden Sprache kann eben nur
das sein, den Schüler in den Geist derselben einzuweihen, ihm die An-
schauungsweise des fremden Volks klar vorzuführen, so dasz er die
Eigentümlichkeiten und Besonderheiten desselben seinem Gedächtnisse
einprägen und sie beim Gebrauch anwenden lernt. Es wäre eine ver-
dienstvolle Arbeit, durch welche das Studium der englischen Sprache sehr
gefördert werden könuic, wenn mau die einzelnen Begriffe in ihrer gan-
zen Ausdehnung und Tiefe verfolgte, wenn mau somit zeigte, wie sich
der Engländer das betreffende Wort eigentlich vorstellt, und welche Vor-
jUellungsreihen sich an die ursprüngliche Bedeutung desselben anknüpf-
ten. Man würde so manche paradoxe Erscheinung als wolbegründet er-
klären können, manche Ausnahme als Teil einer Regel erkennen, auch
manches .. das uns im Leben und Treiben des Engländers auffällt und un-
erklärlich dünkt, als im engsten Zusammenhang mit seinem innersten
Denken stehend finden.
Indem wir zu dem Inhalte selbst übergehen , müssen wir bemerken,
dasz uns der Umfang desselben zu einer Beschränkung nötigt; es wäre
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R. Koenig : Vocabulaire syslematique anglais-francais. 77
unmöglich, alles das, was bei einer genaueren Durchsicht des Werkes als
wünschenswerth oder einer Bemerkung bedürftig erscheinen könnte, in
einem Referate wie diese Zeitschrift es erfordert , anzuführen. Wir be-
schränken uns daher auf einige Gapitel.
Zuerst sind uns die Gitate aufgefallen. Wozu die Stelle aus Müton's
Paradise Lost? um dem Schüler etwa über Eden und Paradise aufzu-
klären? — S. 6 ist neben der Erklärung von seeptie noch ein Citat aus
Clarke zu finden: sufler not your failh to be shaken by seeptics. Man
fragt: cui bono? — S. 32 gegnügt es nicht in der Anm. zu sagen: mora
is chiefly used in poetry; musz dazu ein Citat aus Prior als Beweis die-
nen? Bei morning-dew wird bemerkt: m. is here employed as adjeetive
(sollte der Schüler nicht wissen dasz dem Engländer solche Substantiv-
Verbindungen sehr geläufig sind!) und dazu ein Citat aus Shakespeare:
she looks as clear as inorning roses newly washed with dew! — Zu
twilight ist Milton angezogen in einer Stelle wo es Abenddämmerung be-
deutet: warum fehlt dann ein Citat, worin es Morgendämmerung heiszt?
— S. 33 werden sogar Bale und Spenser citiert, welche unter, hours
auch Betstunden verstehen. Wo bleibt da die Grenze des sprachlich Er-
laubten, wenn Schriftsteller des 16n Jahrhunderts herbeigezogen werden?
Beigloom (S. 38) finden wir Th. Moore, wir hätten lieber eine Erklärung
des vielgebrauchten Wortes gesehen. — Doch genug. Unserer Meinung
nach gehören Citate überhaupt nicht in ein Werk wie das vorliegende,
nnd wenn man sie gestatten wollte, müsten sie mindestens so prägnant
als irgend möglich sein. Der Verf. hat es wol selbst gefühlt, wie wenig
passend sie sind , sich darum mit einer geringen Zahl begnügt. Hoffent-
lich verschwinden auch diese in einer neuen Auflage.
S. 6 ist to say grace übersetzt implorer la be'nediction , es heiszt
doch dire les gräces = dire la priere avant ou apres le repos. — Was
soll das Folgende bedeuten : to coujure ; to exorcise (call up spirits) =
conjurer; ensorceler, evoquer (un esprit)? to exorcise ist doch Geister
austreiben, und ensorceler = behexen d. h. böse Geister in lern, hin-
eintreiben! — S. 11 a matter-of-fait man ist nicht = un homme positif.
Letzteres bedeutet un homme qui aime Pexactitude, qui recherche en tout
la certitude et la justesse, während der englische Ausdruck allerdings
auch einen Menschen bezeichnet, der überall genau, umständlich zu Werke
geht, dabei aber höchst prosaisch, pedantisch und langweilig ist. Wir
gestehen, auch kein entsprechendes französisches Wort zu wissen, der
Franzose kennt die Sache nicht, es hätte daher wol einer Umschreibung
bedurft. — S. 12 methinks wird als unstatthaft angegeben, es findet sich
aber trotz Wehster bei guten Schriftstellern, wie Bulwer, Thackeray.
Die Sprache des gewöhnlichen Lebens bedient sich der Phrase sehr oft.
— Bei S. 31 bitten wir um Aufklärung. Was heiszt by the month, by
theweek? Die französische Uebersetzung au mois, ä la semaine verstehen
wir eben so wenig. — S. 32 even-song ist nur hymne (priere) du soir.
S. 33 die Phrase well and good = ä la bonne heure begegnet uns hier
zum ersten Male, auch die Lexica lassen im Stich — was dann?? —
foat is something like = das läszt sich hören; ist it aus Versehen weg-
idby Vj(
R, Kofcnig,* Vocabulaire sy stein alique anglais-francais.
geblieben? wir wöslen nicht, dasz man es weglassen könnte. — S. 34
i.o appoint a later hour soll sein = to put the dock back. Es heiszt
aber weiter nichts als: eine spätere Zeit festsetzen, wann man z. B. sich
wieder treffen will.
In Abschnitt l haben wir nicht gefunden: Cardinal, the College of
Cardinais, the Holy FaÜier, Council, synod, prior, preacher, to preach a
sermon (statt des ungewöhnlichen to serraonice), congregation, toprofess
a religio«, adherent (member) of a Church, sexton (neben grave-digger),
fnneral procession , funeral sermon, high (great) altar, to say mass,
catechism, to catechize, the len Comtmuidments, Decalogue, to sacrilize,
divination, to partake of the Lord's supper, sacrament, cup, chalice,
mausoleum, ander taker, to go out of mo Urning, monk, ermit, ermitage,
cross, to make the sign of thecross, the confessional , confession, to
confess to o., to repent, absolution, Organist, pipes of an organ, hymn-
book, nave, aisle, pew, fout, baplästery — alles keine ungewöhnlichen
Wörter! — S. 13 bei contrast vermiszt man the reverse; bei at bariance
(S. 14) das sehr gebräuchliche al odds in to be (set, fall) at odds, bei
a matter of coursc (22) die Bedeutung cetwas Alltägliches', bei misfor-
lune das gewöhnliche bad heck. — S. 26 ist uns aufgefallen, dasz
der Verf, im Text abrid^ement schreibt, während in der Anmerkung das e
fehlt, wie auch anderswo judgment ohne e geschrieben ist. Der Grund,
warum einige Lexieographen diesen Buchstaben einschieben wollen, scheint
uns nicht stichhaltig zusein, auch ist die beabsichtigte Aenderung keines-
wegs durchgedrungen. — S. 27 ist he is hard to be pleased übersetzt:
il est difficile ä vivre; avec lui ist wol aus Versehen weggeblieben? —
S. 30 vermiszt man of old, in oUI (olden) times, of yore, in times (the
days) of yore. Ist semi-annually wirklich besser als half-yearly? Warum
fehlt S. 33 yesterday weck, S. 34 you are late, too late, behind your time,
neben ihe clock loses auch the clock gains? Wir möchten noch em-
pfehlen: what is ihe time? the time-picce, early in the morning, in the
evening, at night, day by day, in the day-time, what is the day in the
nionlh? five o'clock precisely, it is on the turn (stroke) of six usw.
Der einzige Grund, den mau gegen die Aufnahme all dieser Phrasen
haben könnte, wäre der, dasz dadurch die Sammlung zu umfangreich
werden würde. Allein wir meinen , je vollständiger eine solche Samm-
lung ist, wolverstanden aber, je genauer sie sich dem Sprachgebrauch
anscblieszt, desto besser. In der Hand eines verständigen Lehrers ist
auch ein gewisser Ucberflusz durchaus nicht von Uebel, und für den auf-
merksamen und gewissenhaften Schüler ist es nicht blosz eine Freude,
sondern auch wirklicher Gewinn, wenn er in seinem Leitfaden Mittel und
Wege angegeben findet, wie er einen Gedanken auf verschiedene Weisen
wiedergeben kann. —
Die unter dem Text fortlaufenden Anmerkungen sind gröstenteils
Crabb's English Synonymes entnommen, doch hat der Verf. es verstanden,
die hervortretende Idee eines Wortes kurz wiederzugeben. In Bezug auf
die übrigen Bemerkungen und Erklärungen verweisen wir auf das weiter
oben schon Angeführte; die zweite Hälfte des Buches ist in diesem Punkte
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N. Raschle: Proben und Grundsätze der deutschen Schreibung usw. 79
besser versehen als die erste. Wir bitten den Verf. , dieser Ungleichheit
Lei der nächsten Auflage abzuhelfen.
Das Werk ist nicht nur allen Lehrern des Englischen zu empfehlen,
sondern auch denen, welche bei einigen Vorkenntnissen tiefer in den Geist
der englischen Sprache eindringen wollen. Ein Studium desselben wäre
auch eine praktische Vorbereitung für solche, welche England selbst be-
suchen wollen, sie werden sich leicht zu helfen wissen.
P. Dr. R.
10.
Proben und grundsäze der deutschen Schreibung aus fünf jar-
Hunderten. Gesammelt und erläutert fon Manuel Raschke,
lerer des deutschen und der geschickte am h. k. et), gymna-
sium in Teschen. Wien 1862. Förster & Bartelmus. 63 S. 8.
16 Sgr.
Das bedürfnis einer Verbesserung unserer deutschen Schreibung
wird von jedermann anerkannt; wie weit wir indess, abgesehen von der
grossen meinungsverschiedenheit der auf diesem gebiete massgebenden
gelehrten, von der befriedigung desselben noch entfernt sind, beweist
das angeführte buch , das wol nicht zu den vorausgegangenen rfilen und
fortrefüichen schriflen9, auf welche es sich stützt, gezählt werden dürfte.
Was zunächst die äussere form betrifft, so ist dasselbe, wie der Ver-
fasser in der vorrede sagt, nicht blos für fachleute bestimmt, sondern
res soll dem fertigen ferbreitung schaffen9 vorzüglich bei 'den der schule
wie der deutschen Sprachwissenschaft fern stehenden.9 Das buch ist also
vorzugsweise practischer tendenz , und wir dürfen von ihm als solchem
vor allem consequenz verlangen. Dieselbe ist freilich in der Schrei-
bung der einzelnen Wörter so ziemlich beobachtet; warum aber der verf.
sich gescheut hat, die sogenannte deutsche schrift und die grossen an-
fangsbuchstaben — bis auf die Widmung an lehrer und buchdrucker und
zum schluss ein paar verse von Schiller und Goethe — aufzugeben und
somit eine alte böse last von uns abzuwerfen , vermag referent um so
weniger einzusehen, als es doch dem verf. darauf ankommen musste,
seinen lesern einmal eine probe vor äugen zu geben , in welchem kleide
ein deutsches buch erscheinen müsse; und sicherlich würde ihnen die
wirklich deutsche, d. h. die lateinische schrift sowie die kleinschreibung,
die ref. mit dem verf. als allein richtig anerkennt, weniger unbequem
gewesen sein ah die freilich mit dem recht des Verfassers durchgeführte
Schreibung von Wörtern wie: iergent, not, jezig, ßler, tut, werend,
wal, ser, schwär, fil (st. viel), foll, spize, zil, zal, getan, im (st. ihm)
usw. Vielleicht hat der verf. diese incousequenz dadurch entschuldigen
wollen, dasz er am Schlüsse seines buches doch zu der glücklichen über-
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80 M. Raschke: Proben und Grundsätze der deutschen Schreibung usw.
zeugung gelangt, dass seine wünsche durchaus kein versuch, dieselben
einzuführen, sein sollen.
Nachdem der verf. zuerst von der Schreibung anderer sprachen ge-
handelt, wobei er jedoch, abgesehen von Unrichtigkeiten im einzelnen,
manches unsichere , z. B. die specialisirte Übernahme der hebraeischen (!)
schriftzeichen seitens der Griechen, als sicher hinstellt, nachdem er dann
die einzelnen perioden der deutschen Schreibung kurz characterisirt und
die ansichten der auf diesem gebiete arbeitenden männer , wie Grimm's,
Rud. v. Raumer's, Wackernagel's , Schleicher's u. m. a. angeführt hat,
gehl er zur betrachtung der einzelnen sprachtheile über und schlieszt mit
der begründung und empfehlung der von ihm aufgestellten Schreibweise.
Die beigegebenen 20 tafeln geben eine mehr interessante als nothwendige
Übersicht der verschiedenen Schreibung von Wörtern im ahd. , mhd. , im
16., 17- Jahrhundert und von Lessing bis heute, sogar eine vergleichung
der Schreibung einiger der heutigen zeitungen und Zeitschriften, — Als
oberstes gesetz für die Verbesserung der deutschen Schreibung stellt der
verf., seinen Vorgängern folgend, s. 23 auf: *die Vereinbarung der laut-
gemässheit mit der Sprachgeschichte'. Diesen richtigen theoretischen
grundsatz hat aber der verf. practisch in einen ganz andern unge wandelt,
neml. in den: alle laute, die wir jetzt nicht aussprechen, sind auch nicht
durch besondere schriftzeichen auszudrücken. Er lässt bald die Sprach-
geschichte ganz ausser acht, z. B. in der Schreibung fgesant, gewant',
wo die ableitung durchaus dt fordert, und folgt einzig und allein der
lautgemässheit; er geht, seine Vorgänger darin bei weitem überbietend,
darauf aus , alle nur irgend entbehrlichen Buchstaben (h als dehnungs-
zeichen, c, qu, ph, v, th, tz, ie, y u. a.) 'auszumerzen* und das aipha-
bet jeder spräche und so auch der deutschen auf möglichst wenige zeichen
zu reduciren, d. h. die spräche arm zu machen; und das aus- keinem an-
dern gründe, als weil wir jetzt diese buchstaben in der ausspräche von
andern (k, f, t, z, i u. a.) nicht unterscheiden. Dass aber diese lautgleich-
heit verschiedener buchstaben nicht ursprünglich , sondern nur eine all-
mälige folge unserer nachlässigen ausspräche ist , davon hat der verf. keine
ahnung , der vielmehr diese unsere nachlässigkeit und Bequemlichkeit
an stelle der Sprachgeschichte für unsere Schreibung massgebend sein
lässt. Noch weniger kann ref. dem verf. darin beistimmen, dass auch die
fremd Wörter, geographische namen etc. diesem grundsatze: schreib wie
du sprichst, der überhaupt, mit consequenz durchgeführt, zu Ungeheuer-
lichkeiten führen muss , zu unterwerfen seien ; es ist bisher ein vorzug
der deutschen vor andern nationen gewesen , fremde Wörter nicht germa-
nisirt zu haben. — Obgleich übrigens das buch manches beachten s wer the
und belehrende enthält, so scheint doch der Verfasser überhaupt wenig
berufen zu sein, für deutsche rechtschreibung zu sorgen; das beweist er
s. 19 , wo er spuren der Überlieferung statt Durchführung des lautgetzes
darin erblickt, dass wir noch heute, wo das gesetz gilt: cnach langem
Selbstlaut einfacher mitlaut, nach kurzem doppelter9 schreiben: halten,
walten, schelten, gelten etc. statt hallten, wallten, schellten,
gellten, wie sollten, wollten etc. Ein lehrer des deutschen sollte
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 81
doch wol wissen, dass unter 'doppelter* mitlaut nicht verstanden ist
'zwei dieselben9, sondern überhaupt nur 'zwei mitlaute', dass
also im stamme halt-, walt-, schell-, gelt-, mit der infinitivendung -en
dies lautgesetz vollkommen durchgeführt ist, und das anstatt der imper-
fecta soll-t-en , woll-t-en, vielmehr Wörter wie bild-en, stürz-en , wurz-el,
stütz-en u. a. zu vergleichen sind.
Endlich kann ref. sein verwundern nicht unterdrücken, statt Itzehoe
geschrieben zu sehen Izehö, da ja bekanntlich in Itzehoe wie in Soest,
Vaerst, Hueck , Oldesloe etc. das e nur zur Dehnung des vorangegangenen
vocals dient, und also nicht Izehö, sondern Itzehö, Söst, Värst, Hück,
Oldeslö etc. gesprochen (und von Raschke geschrieben) werden muss ; und
dass Mexico weder Mexico noch Mehico (für Mechico; h soll neml. statt
ch angewandt werden, wie sh für seh) noch Mejico — welche falsche
aussprachen leider bei uns noch immer gebräuchlich sind — sondern
SS
Meschico gesprochen werden muss, hätte der Verfasser schon von W.
v. Humboldt Kawi I p. 180 anm. lernen können.
Wir finden es somit sehr erklärlich , dasz der verf. am Schlüsse seine
grundsätze mit dem uns sehr zweifelhaft dünkenden lobe zu empfehlen
für nothwendig erachtet hat : 'Unsere Schreibung beschleunigt den buch-
druck, indem eine beträchtliche zal unnüzer buchstaben entfällt' (siel).
Berlin. G. Lange.
(6.)
Bericht über die Verhandlungen der zweiundzwanzigsten
Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in
Meiszen vom 29. September bis 2. October 1863.
(Fortsetzung von S. 55.)
Um 2 Uhr vereinigte ein solennes Mittagsmahl die Mitglieder der
Versammlung in dem reich und sinnig decorirten Saale des 'Gasthofs
zur Sonne', dem Se. Excellenz der Herr Staatsminister Dr. v. Falken-
stein beiwohnte. Während des durch viele Toaste gewürzten heiteren
Festessens wurden den abwesenden Koryphäen philologischer Wissen-
schaft, die zugleich um die Entstehung und das Gedeihen der Philolo-
genversammlung sich die wesentlichsten Verdienste erworben, den
Herren Böckh, Bekker, Schümann, Ritschi, Welcker und Doederlein
telegraphische Orttsze zugesendet. Am Abende fanden gesellige Zu-
sammenkünfte in verschiedenen Lokalen statt.
Der Morgen des 30. September ward durch Sektionssitzungen aus-
gefüllt. Doch war, dem in der ersten Sitzung ausgesprochnem Wunsche
gemäsz , die Veranstaltung getroffen worden , dasz an der ersten Sitzung
der germanistischen Sektion , die um 10 Uhr im Festsaale der Fürsten-
schule abgehalten ward , die ganze Versammlung sich beteiligen konnte,
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82 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
um als eine von gleichen Gefühlen beseelte Körperschaft das Andenken
an den vor wenigen Wochen zu einem höheren Dasein abgerufenen Alt-
meister altdeutscher Wissenschaft, Jacob Grimm in ernster Feier zu
dircü. Ein Auszug aus der kurzen und schlichten, aber tiefempfunde-
nen und tief ergreif enden Gedächtniszrede, in der der Vorsitzende ge-
nannter Sektion, Herr Prof. Dr. Z am cke aus Leipzig, die Verdienste
des Heimgegangenen um die altdeutsche Wissenschaft und unser ganzes
deutsches Volksleben sowie seine seltnen Eigenschaften als Gelehrter
und Mensch feierte, folgt unten in den Sektionsberichten. Wir können
es uns aber nicht versagen, an dieser Stelle das huldvolle Handschrei-
ben dem Wortlaute nach wiederzugeben, welches Se. Majestät der Kö-
nig- auf die ihm, dem Kenner der italienischen Litteratur und Uebersetzer
von Dantc's Divina Commedia, gemachte ergebenste Anzeige, dasz in
Meiszen (zum ersten Male) die Vertreter romanischer Sprachen mit den
Germanisten zu einer Sektion zusammentreten würden, an den Präsi-
denten der Germanis tensektion gerichtet hat und welches in dieser
ersten Sitzung von demselben verlesen ward: cMein Herr Professor!
Es konnte mir nur erfreulich und. schmeichelhaft sein, dasz Sie bei
Gelegenheit der Versammlung deutscher Philologen einer Arbeit meiner
früheren Musze mit Anerkenntnisz gedacht haben. So wenig ich mich
auch für befähigt halten würde, in dem Kreise so ausgezeichneter Ge-
lehrter etwas zur Förderung der Sache beitragen zu können, so wenig
würde ich mich doch Ihrer freundlichen Einladung entzogen haben,
wenn meine jetzigen Verhältnisse es gestatteten« Ich bitte, diese meine
Antwort der Sektion, deren Vorstand Sie sind, mitzuteilen und dersel-
ben zu versichern, dasz ich ihren Arbeiten , wenn auch abwesend, mit
Interesse folgen werde. Mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergeben-
ster Johann. Pillnitz, den 16. September 1863.'
Auch der um 11 Uhr in demselben Lokal unter dem Vorsitz des
Präsidiums der allgemeinen Sitzungen abgehaltenen Sitzung der Orien-
talisten wohnte ein groszer Teil der Versammlung bei, um den Vor-
trag- des Handelsrichters Dr. Mord t mann aus Constantinopel : rüber
die Zigeuner' anzuhören.
Obgleich die Sprachforschung die Abstammung der Zigeuner aus
Indien bereits festgestellt habe, damit beginnt der Redner, so habe
man doch nur vereinzelte Notizen über den Weg, den sie genommen,
und ihren Aufenthalt in den verschiedenen Ländern. Pott*) habe
hauptsächlich nur die Sprache der deutschen und ungarischen Zigeuner
untersucht; die der türkischen Zigeuner sei noch wenig berücksichtigt
worden. Der Redner nennt als Forscher auf letzterem Gebiete: Mr.
Brown, Dragoman der amerik. Gesandtsch. in Constantinopel, einen
Dr. Paspatis und einen Mr. Alishan, deren Vorarbeiten er benutzt
habe.
Die Sprache des f Vagabundenvolks ' der Zigeuner gäbe in ihrer
o unten Mischung aus den verschiedensten Idiomen nicht undeutliche
Fingerzeige über die Stationen und die Richtung ihrer Wanderung.
Daraus, dasz zwar die Benennungen der wichtigsten Körperteile, Le-
bensbedürrnisse und Nahrungsmittel, die wichtigsten Zeit- und Zahl-
wörter indisch, andere Ausdrücke der ersten Culturperiode aber ent-
schieden nicht indogermanisch seien, schlieszt M., dasz die Zigeuner
zu den Ureinwohnern Indiens vor der arischen Einwanderung ge-
hört hätten; der Einflusz der potenteren arischen Nationalität mache
sich bemerklich in den vielen Sanskritworten, welche die Z. für städ-
tisches Gewerke, religiöse Begriffe und Uebungen, Zeitbestimmungen nsw.
von jener ontlehnt hätten; zugleich ergäbe sich hieraus, dasz die Z.
eine gewisse bürgerliche Stellung neben den erobernden Stämmen ein-
*) 'Die Zigeuner in Europa und Asien' 2. Bd., Halle 1844—45.
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 83
genommen und nicht als Parias1 gegolten hätten« Naeh Persien solle
nach einer historischen Notiz ein sassanidischer König Bahr am V
(420—440) eine Colonie der * possenreiszenden ' Zigeuner zur Erheite-
rung seines durch Hanger und Krieg gedrückten Volkes gerufen haben.
Persischen Ursprungs seien daher die Ausdrücke für Gesang, Musik,
auch einige für Ackerbau, Viehzucht. Auf einen Aufenthalt in Kurdistan
and Armenien deuteten viele kurdische und einige armenische Worte
der Zigeunersprache, sämmtlich nicht charakteristisch, woraus auf
einen Bückschritt in der Cultur geschlossen werden müsse. Zu Anfang
des 9. Jahrhunderts seien nach Zeugnissen byzantinischer Historiker in
Phrygien 'die Ketzersekte der Athinganen (?) erschienen, die Wahr-
sagerei und Bauchrednerei getrieben habe'; M. deutet diese Notiz auf
die Z. , welche noch heutzutage in der Türkei Tschingane* hieszen. Von
groszem Einflusz auf die Sprache der Z. seien die Neugriechen ge-
wesen, von denen dieselben nicht viele, aber charakteristische Aus-
drücke z. B. Zahlen, Handwerksausdrücke, technische Worte für städ-
tische Einrichtungen und Cultus , entlehnt hätten; slawisch seien eine
Anzahl landwirtschaftliche Ausdrücke, türkischen Ursprungs aber
auszerordentlich wenige Worte , da Türken und Zigeuner durch gegen-
seitige Verachtung und die vom Islam gezogne Scheidewand von ein-
ander schroff geschieden wären. Das Resultat seiner Untersuchung
faszt der Redner zum Schlusz etwa in folgenden Worten zusammen:
die Z. hatten in Indien wie die übrigen Ureinwohner eine gewisse Cul-
tur erreicht, die durch die Arier noch stieg; diese Cultur blieb statio-
när in Persien, wo die Z. ihre Beschäftigung (d. i. das Gewerbeleben
mit Ackerbau und Viehzucht) und Religion vertauschten. Der Rück-
schritt zeigt sich etwa im 7. Jahrb., indem sie in Kurdistan und Ar-
menien an ein Vagabundenleben sich gewöhnten. In Kleinasien trat
im 9. Jahrhundert ihre völlige Verwilderung ein , besonders durch die
Vernachlässigung und endliche Abwerfung der Religion; in Europa ga-
ben sie sich wieder einzelnen Betriebsarten hin , die sie ganz verlernt
hatten'.
Prof. Brockhaus aus Leipzig erklärt, dasz er mit den Grund-
anschauungen Mordtmann's nicht einverstanden sei und den Zigeu-
nern weder ein so hohes Alter noch einen so originellen Ursprung noch
eine so bedeutende Entwicklung beimessen könne. Die Kritik über die
Einzelheiten des Vortrags müsse aufgespart bleiben, bis derselbe im
Druck vorliege.
Präsident Rector Franke macht den Vorschlag, da sich die in
Augsburg ge faszt en Beschlüsse nicht zu bewähren schienen, für den
folgenden Tag eine allgemeine Sitzung anzuberaumen und die Vorträge
der Herren Proff. Steinthal und Gosche auf die Tagesordnung zu
setzen. (Wird angenommen.) — Schlusz der Sitzung 12 Uhr*).
Ein von der hohen Staatsregierung zur Verfügung gestellter Extra-
zag führte um %3 Uhr die Versammlung nach Dresden. Se. Majestät
<ier König hatte gestattet, dasz speciell für die Mitglieder der Ver-
sammlang von 3 Uhr an die Sammlung der Antiken, der Mengs'schen
Gypsabgüsse und die Gemäldegallerie geöffnet werden sollten, und die
Professoren Hettner und Schnorr v. Carolsfeld übernahmen in
liebenswürdigster Weise die Führung der Besichtigenden. Um %7 Uhr
begann die zu Ehren der Versammlung veranstaltete Aufführung des
auf Colonos mit der Musik von Mendelssohn im Hoftheater;
*) Der Berichterstatter hat diese Sitzung der orientalischen Sektion,
obgleich die beiden Präsidenten der Versammlung in ihr den Vorsitz
führten, doch nach den am 29 Sept. in der ersten allgem. Sitzung ge-
gebnen offiziellen Erklärungen als 'Sektionssitzung' aufführen zu müs-
sen geglaubt.
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84 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
vor der Vorstellung aber hatte eine aus den vor- und diesjährigen Prä-
sidenten zusammengesetzte Deputation (die Pro ff. Drr. Ahrens,Dietsch,
Eckstein, Flügel, Franke, Haase, Krüger, Vischer, Zarncke)
die Ehre, durch den Herrn Minister Dr. v. Falkenstein Sr. Majestät
dem König Johann vorgestellt zu werden; beim Eintritt in die könig-
liche Loge aber ward Se. Majestät durch ein vom Rector Dr. Franke
gebrachtes dreimaliges 'Hoch' ehrerbietigst von der Versammlung be-
grüszt. Nach dem Theater fanden sich die Festteilnehmer zu einer
äuszerst belebten geselligen Zusammenkunft in dem Belvedere auf der
Brühl'schen Terrasse zusammen. Erst um 12 Uhr wurde bei herrlich-
stem Mondschein die Rückfahrt nach Meiszen angetreten.
Zweite (auszerordentliche) Sitzung den 1. October. Präsident: Rector
Dr. F r a n k e. Anfang 8 Uhr.
Nach Erledigung mehrerer geschäftlicher Angelegenheiten teilte
der Präsident die im Verlauf des vorhergehenden und laufenden Tages
auf telegraphischem Wege eingetroffenen Erwiderungen auf die ihnen
zugesendeten Grüsze von den Herren Proff. Böckh, Ritschi, Wel-
cker, Schömann und Doederlein der Versammlung mit.
Hierauf hielt Prof. Dr. Steinthal aus Berlin den von ihm ange-
kündigten Vortrag: füber die Beziehung der Philologie zur
Psychologie.'
Der Redner geht aus von dem Satze, den er theoretisch nicht wei-
ter erläutern will, dasz f die Psychologie für die Philologie Prin-
cipienlehre sei' sowol deshalb, weil sie die von der Philologie selbst
aufgestellten Principien bearbeite, als auch deshalb, weil die Phi-
lologie von ihr manche Principien entlehnen müsse, die sie zu ihrem
Ausbaue brauche. Principienlehre sei sie aber nicht in dem allgemei-
nen Sinne wie Metaphysik und Logik, welche die allgemeinen Kate-
gorieen des Seins und Denkens aufstellten, sondern in einem ganz spe-
cialen , indem sie die oIkeigu dtpxai der Philologie zuführe. — Das letzte
Ziel aller philologischen Disciplinen sei zugestandnermaszen das, einer-
seits die Fülle des geistigen, sprachlichen, religiösen, politischen Le-
bens eines Volkes aus der Idee und dem Geiste des Volkes abzuleiten
und andrerseits diesen Volksgeist in seiner geschichtlichen Entwicklang
als Offenbarungsform des menschlichen Geistes überhaupt zu begreifen.
Eine Erscheinung aus dem Volksgeiste ableiten aber heisze nichts an-
dres als fin ihr denselben Charakter nachweisen, den man zugleich
als den Charakter des gesammten Volks, als die den Volksgeist be-
herschende Idee erkannt habe und in gleichartiger oder analoger Weise
auch in andern Hauptrichtungen des Volksgeistes und Volkslebens wie-
derfinde. Ein solcher Nachweis nun sei .offenbar nicht eine Erklärung
und wirkliche Ableitung, sondern nur eine Charakteristik. Die Kate-
gorieen aber, welche die Philologie bei diesem Verfahren anwende,
z. B. Unmittelbarkeit und Vermittlung, Individualisation , Aneignungs-
fähigkeit und Abgeschlossenheit, Leidenschaftlichkeit und Gemessenheit,
Anmuth und Würde, Phantasie und Verstand, Subjektivität und Objek-
tivität usw., seien sämtlich psychologischer Natur und bedürften erst
einer eingehenden Erörterung durch die Psychologie. — Neben dieser
allgemeinen Charakteristik scheine allerdings die Philologie zu gewis-
sen historischen Erklärungen zu gelangen, indem sie den Volksgeist in
seinen geschichtlichen Veränderungen und verschiedenartigen Manife-
stationen vorführe, gleichsam als eine Reihe auseinanderentstehender
Bilder, und die organische Entwicklung eines Volksgeistes aus seinem
Keime bis zum Untergang nachzuweisen suche. Auch diese Arbeit nun,
weil von den allgemeinen Gesetzen der geistigen Entwicklung ausgebend,
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meisren. 85
müsse notwendig durch den Hinzutritt der Psychologie an Klarheit,
Sicherheit und Vertiefung gewinnen, indem wie die obenerwähnten
allgemeinen Kategorieen so auch die Entwicklungsgesetze des Menschen-
geistes durch psychologische Untersuchungen erst in das rechte Licht
gestellt würden* Freilich seien gerade die Gesetze der Entwicklung
des Menschengeistes von der Psychologie noch nicht gründlich genug
behandelt worden, da dieselbe wol den wiederkehrenden Verlauf und
Verband zweier geistiger Erscheinungen, meist aber nicht die reale Ur-
sache dieses Verbandes nachzuweisen im Stande sei, denn die Ent-
wicklungsgesetze des Geistes verhielten sich zu den wirklichen psycho-
logischen Gesetzen ebenso wie sich das Organ einer Sinnenth&tigkeit
zu den einzelnen constituierenden Teilen dieses Organs verhalte.
Beide Aufgaben der philologischen Wissenschaft also, die ästhe-
tische und die historische Construktion des Volksgeistes, könnten
in rechter Weise erfaszt und gelöst werden nur durch Kenntnis der
Gesetze, von denen die seelischen Vorgänge beherscht und geleitet
würden. Zunächst werde der historische Sinn durch die Psychologie
gestärkt und gereinigt , da es im Wesen der Seele liege , f den geschicht-
lichen Geist zu erzeugen, Geschichte zu machen und in sich zu erfah-
ren'. Durch sie werde die irrige Meinung widerlegt, dasz in der ästhe-
tischen nach Ideen charakterisierenden Construktion eine genetische
Erklärung liege oder wenigstens dadurch entbehrlich gemacht werde,
ein Irtam, der am ausgeprägtesten sich bei Hegel finde, von dem
aber auch W. v. Humboldt und viele neuere Historiker, besonders
Literarhistoriker nicht freigesprochen werden könnten. Durch psycho-
logische Untersuchungen werde daher auch die Unstatthaftigkeit der
Behandlung der Litteraturgeschichte nach ctbr) (Epos, Lyrik, Drama,
Prosa usw.) nachgewiesen, welcher die ungeschichtliche und unpsycho-
iogische Voraussetzung zu Grunde liege, dasz jenen Ideen wie substan-
tiellen Wesen die Kraft innegewohnt nabe sich zu verwirklichen; denn
wie man hier die Ideen behandle unabhängig von den Ideen erzeugen-
den persönlichen Subjekten, so könne man folgerecht mit Hegel auch
von der Entwicklung der Naturdinge reden mit Absehung von der Ma-
terie. Dem historischen Princip werde aber dadurch keineswegs ge-
nügt, dasz man einleitungsweise die Litteraturepochen charakterisiere
und chronologische Ueb er sichten gebe, wie Bernhardy, da dies eben
nur Chronologie und keine Construction nach Ideen sei und die beiden
Faktoren, der Einflusz der Zeitepochen und der Einflusz der litera-
rischen Ideen , nicht vermittelt durch die Gesetze der Causalität, neben-
einandergestellt würden. So werde z. B. das alexandrinische Epos im
Znsammenhang der Entwicklung der Epik behandelt, während dasselbe
doch viel weniger mit Homer und dem frühern Epos als mit den gleich-
zeitigen dramatischen Bestrebungen und der allgemeinen Richtung der
alexandrin isehen Zeit gemein habe ; so werde auch Euripides meist mit
Unrecht als Nachfolger des Sophokles aufgefaszt und nicht im Zusam-
menhang mit ähnlich gearteten und strebenden Geistern, die auf andern
Gebieten sich bethätigt hätten. Auch die Unterschiede der griechischen
Stammcharaktere seien bisher zu sehr nach Ideenconstruktionen fest-
gestellt worden, indem man dieselben als etwas Fertiges, Abgeschlosse-
nes, als den Keim alles dessen angesehen habe, was die Stämme spä-
ter geschichtlich geleistet hätten, ohne die wirklichen Lebensverhältnisse
der Stamme als die wahren Ursachen vollkommen zu würdigen und den
Punkt zu berücksichtigen, dasz diese Charaktere sich allmählich ent-
wickelt und in ihrer Produktivität einander abgelöst haben. Am früh-
sten habe sich der ionische Charakter entwickelt, dann der dorische
auf politischem , der äolische auf litterarischem , hierauf auch der do-
rische auf litterarischem Gebiete , zum Schlusz erst der attische Stamm-
charakter. Wolle man hieraus folgendes Entwicklungsgesetz ableiten,
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86 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
dasz auf die ionische Aeuszerlichkeit mit einer gewissen Notwendigkeit
die äolische Subjektivität gefolgt sei, hierauf zur dorischen Innerlichkeit
sich gesammelt und in der attischen Objektivität ihren Abschiusz ge-
funden habe, so bedürfte dieses erstens genauerer Bestimmungen, d. i.
Beschränkungen und dann würde auch dies wiederum auf der Voraus-
setzung beruhen, dasz die genannten Kategorieen ideale Mächte, objek-
tive Potenzen seien. Vielmehr müsse man sagen, f jeder Stamm habe
das Hellenentum in der Form entwickelt, welche durch die Bedingun-
gen, unter denen er seine Blüte erreichte, notwendig geworden sei'.
Zur Begründung dieses Satzes wies der Redner hin auf die grosze Ver-
schiedenheit der politischen, klimatischen, geographischen, commer-
ciellen Verhältnisse , unter denen die einzelnen Stämme sich entwickelt
hätten. Aus diesen verschiedenen Einflüssen ergebe sich eine Verschie-
denheit nach der Entwicklung der Zeit und dem Wesen nach, beides
in Wechselwirkung. Durch eine solche Auffassung werde sowol das
speculative als das historische Bedürfnis befriedigt; die einheitliche
Idee des Hellenentums , die ihre Abschattung und Entwicklung in den
verschiedenen Stamm Charakteren gefunden habe , werde mit den in der
Wirklichkeit liegenden Bedingungen und Einflüssen in eine Beziehung
wechselseitiger Causalität gesetzt.
So erzeuge die Psychologie nach beiden Seiten hin Klarheit, nach
der speculativen wietder historischen. Denn z. B. die so gewonnene ein-
heitliche Idee des Hellenentums, weil verwirklicht in bestimmten Er-
eignissen und Institutionen und in den einzelnen lebendigen Subjekten
des hellenischen Volkes, sei nicht blosz eine Hypothese von construk-
tivem Werth, sondern ein psychologisches Faktum, nicht blosz specu-
lativ berechtigt, sondern historisch notwendig und daher Objekt einer
psychologischen Betrachtung. Wenn die Psychologie diese Aufgabe
im weitesten Sinn erfasse, so werde sie zur Völkerpsychologie,
welche die gesamte Geschichte zu erklären suche, deren reale Fakto-
ren die Volker seien. Von dieser Völkerpsychologie sei die Philologie
im Ideal nur relativ unterschieden, denn sie seider analytische Teil
der Geschichte wie jene der synthetische, sie die Wissenschaft des
Gjeistes wie jene die der Seele, so dasz in der Idee, wenn man von
dem Leben des Geistes in der Seele abstrahiere , beide Begriffe , die der
Philologie und Völkerpsychologie, ganz zusammenfallen würden.
Auf Antrag des H. Prof. Haas e ward die Debatte über diesen Vor-
trag verschoben, bis der folgende Redner gesprochen haben würde.
Um nemlich dem in der ersten Sitzung geäuszerten Wunsche der Ver-
sammlung zu entsprechen, hatte die Sektion der Orientalisten den Vor-
trag des Herrn Prof. Gösch e aus Halle auf diese Morgenstunde verlegt,
so dasz er an den vorausgehenden sich unmittelbar anschlosz.
Herr Prof. Gosche besprach in einem längeren Vortrage, dessen
Inhalt der Berichterstatter, dem eine Einsicht in das Manuscript des
Redners nicht vergönnt war , nur in den allgemeinsten Umrissen wieder-
zugeben im Stande ist, 15 kleine, grösztenteils in Centralphrygien auf-
gefundene phrygische Inschriften, die auf einer von Kiepert entwor-
fenen lithographirten Tafel (die an die Anwesenden verteilt ward) zu
zwei Gruppen, einer alt- und neuphrygischen , zusammengestellt waren.
Der Redner kritisierte zuerst die Entzifferungsversuche der letzten 30
Jahre, besonders die von Osann, Lassen und Mordtmann, und wies
nach, dasz dieselben meist eine streng philologische Methode vermissen
lieszen. Hierauf erläuterte er die Inschriftentafeln. Die Hauptpunkte
dieser Auseinandersetzung waren etwa folgende: Das Alphabet der In-
schriften gehe bis zum © des griech. Alphabets herab, habe ein an-
scheinend sehr weich gesprochnes Digamma, ermangele aber des 6.
Eigentümlich sei das e mit 4 Strichen, was wol ein langes e bezeich-
nen solle. Die ältere Gruppe , die ßoucTpo<pnö6v geschrieben ist, zeige
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 87
die Diphthongenhäufung einer stark degenerierten Sprache. Für die jün-
gere Gruppe erhalte man dadurch einen Schlüssel, dasz sie fast durch-
gängig eine bilingue ist. Der Redner weist aus verschiedenen Spuren
und durch Kombination der verschiedenen Inschriften nach, dasz einige
eigentümlichen Laute der phrygischen Sprache sich mit armenischen
deckten , ferner dasz das Pronomen der ersten Person durchaus auf echt
iranischer Stufe stehe und auf die von Afghanistan bis Kleinasien hin-
reichende Sprachengruppe hinweise. In schroffem Gegensatze zu die-
sen jüngeren Inschriften ständen die altphrygischen; doch seien die
neuphrygischen nicht wol in die vorchristliche Zeit zu setzen, daher
als älteste Denkmäler der armenischen Sprache anzusehen; das Ein-
dringen der Gallier und Griechen mache die gewaltsame Zerstörung der
altphrygischen Sprache erklärlich. Die altphrygischen Inschriften seien
fast völlig unverständlich, denn sie seien erstens keine bilinguen und
zweitens fehle uns die Kenntnisz des entsprechenden Altarmenischen.
Der Redner versucht die Deutung verschiedener einzelner Worte, be-
sonders in der Inschrift des Midasgrabes, bekennt aber selbst zum
Schlosz, dasz aus allen Inschriften nur etwa Folgendes mit Wahrschein-
lichkeit hervorgehe; dasz die Phrygier eine iranische Nation
und den Armeniern verwandt gewesen seien, worauf anch sowol
die Glossen der Grammatiker (z. B. des Uesychius) als einzelne Namen
wieMidas, Marsyas, Gordius führten, die sich aus dem iranischen
Sprachkreise deuten lieszen, desgleichen einzelne Eigentümlichkeiten
in Religion und Cultur.
Da der erst gegen Ende des Vortrags eingetretene Dr. Mordt-
mann auf die von mehreren Seiten an ihn ergehende Aufforderung zum
Sprechen nicht eingeht, so wird die Sitzung gegen %11 Uhr geschlos-
sen. Die Zeit von 11 — 1 Uhr ward durch Sektionssitzungen ausgefüllt.
Gegen 3 Uhr fand erst Besichtigung des durch seine geschicht-
lichen Erinnerungen so denkwürdigen Domes statt, in dessen Hallen
die Anwesenden durch trefflich ausgeführte und in den akustisch ge-
bauten Bäumen wunderbar wirkende Orgel- und Gesangsvorträge über-
rascht wurden; sodann ein vom herrlichsten Herbstwetter begünstigter
gemeinsamer Ausflug nach dem im herbstlichen Blätterschmuck pran-
genden Park und Schlosz Siebeneichen und von da in das anmutige
Triebischthal. Erst in später Abendstunde ward aus dem dortigen Re-
staurationslokale aufgebrochen, um dann in den verschiednen Lokali-
täten der Stadt das trauliche Beisammensein bis tief in die Nacht hinein
fortzusetzen. Da hörte man allerorten lebhafte Debatten in freierer
Form, ja es ertönten wol auch im engeren Kreise Yon ehrwürdigen
Lippen fröhliche Skolien, die der jüngeren Generation bewiesen, dasz
die Herzen noch jung sein können auch bei grauem Haar«
Dritte Sitzung den 2. October. Präsident: Dircctor Professor Dietsch.
Anfang 9% Uhr.
Der Präsident teilt der Versammlung mit, dasz der von Dr. Up-
per t aus Paris angekündigte Vortrag 'über Keilinschriften9 dadurch in
Wegfall gekommen sei, dasz derselbe Tags vorher abgereist sei; auch
Dr. Bechstein habe sich entschlossen, seinen Vortrag fdie Program -
menlitteratur, ihre Verwertung für die Wissenschaft und ihre Concen-
tration durch den Buchhandel zurückzuziehen nnd in den c Verhand-
lungen' zum Abdruck bringen zu lassen. Hierauf wird die Tagesordnung
festgestellt. Dieselbe beginnt mit dem Bericht über die Beschlüsse der
zur Wahl des nächsten Versammlungsortes gewählten Oommission.
Rector Dr. Eckstein, als Berichterstatter der Commission , besteigt
die Rednerbühne. f Die Erfahrung früherer Jahre , dasz in kleineren
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88 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meist
Orten die Versammlung sieh enger und traulicher zusammenschüV
habe sich in erfreulichster Weise auch dieses Jahr in Meiszen b*
tigt; dagegen habe sich der Beschlusz der Augsburger Versamiri v*
jedesmal am ersten und vierten Tage allgemeine Sitzungen zu ha
die zwischenliegenden Tage durch Sektionssitzungen auszufüllen,
unpraktisch erwiesen. In Zukunft werde daher wol zur alten Eint
tung zurückgekehrt werden müssen, nach der an jedem Tage af
meine Sitzungen abgehalten werden. Die Wahl des nächsten Versa
lungaortcs sei bei der groszen Zahl von Wanderversammlungen i
Art nrit Schwierigkeiten verbunden gewesen. Nach reiflicher Erwäg
habe sich die Commission für Hannover entschieden, (zumal da
dieser Seite bereits ein freundliches Anerbieten gemacht worden s
um nach 25 Jahren wieder einmal in das Geburtsland der Philolog
Versammlungen zurückzukehren; als Präsidenten bringe sie den Dil
tor Dr. Ahrens, als Vicepräsidenten den Dr. Grotefend daselbsi
Vorschlag. Die archäologische Sektion habe im Zusammenhang hi
mit bereits den Prof. Dr. Wiesel er in Göttingen zu ihrem Vorsitzend
gewählt.
Prof. Haase aus Breslau beantragt Teilung der Anträge. Da
Gegensatz der allgemeinen und besondern Sitzungen sei von Anfang
an vorhanden gewesen. Trotz mancher abmahnender Stimmen (z. Bk
der von T hier seh) hätten sich besondere Sektionen gebildet, von de-
nen keine auszer der pädagogischen feste Wurzeln geschlagen habe.
Er beklage aufs lebhafteste diese Zersplitterung, und stimme für mög-
lichste Beschränkung der Sektionen; wenigstens dürften sie nicht auf
Kosten der allgemeinen Versammlungen T£raft und Zeit in Anspruch
nehmen. Der Augsburger Beschlusz sei hervorgerufen worden durch
eine gewisse Verlegenheit des Präsidiums, die genügende Zahl geeig-
neter Vortrage für die allgemeinen Sitzungen zu beschaffen. Er em-
pfehle daher den in Braunschweig gefaszten Beschlusz , in diesem Punkte
nicht den Zufall walten, sondern durch eine Commission im Lauf des
Jahres für eine Anzahl geeigneter Vorträge Sorge tragen zu lassen.
Er stimme somit für Umstoszung der Augsburger Beschlüsse mit dem
Zusätze , dasz die Präsidenten des nächsten Jahres ersucht werden soll-
ten , rechtzeitig dafür zu sorgen, dasz für die allgemeinen Sitzungen
ein recht reiches Material von allgemein anregenden Vorträgen vor-
handen sei.
Rector Eckstein bemerkt berichtigend, dasz der fragliche Augs-
burger Beschlusz nicht aus einer Verlegenheit des Präsidiums hervor-
gegangen , sondern vielmehr hervorgerufen worden sei durch bestimmte,
von Geh. H. Firnhaber gemachte, auf gröszere Fixierung des Vereins
gerichtete Vorschläge , denen man durch diesen Beschlusz habe auswei-
chen wollen. Es beantwortet hierauf derselbe Redner eine von Director
Ahrens an ihn gerichtete Frage über die Stellung der Germanisten
und Orientalisten zur Versammlung und bemerkt dabei, dasz beide Sek-
tionen den Wunsch ausgesprochen hätten, als integrierender Teil der
Verkam ml iin«- angesehen zu werden, weshalb künftighin mit Wegfall
des Zusatzes die Versammlung sich einfach: 'Versammlung deut-
scher Philologen und Schulmänner' nennen möge.
Prof. Bnrsian aus Tübingen schlägt vor, die Zeit von 8—10 Uhr
täglich den Sektionen, die von 10—1 Uhr den allgemeinen Sitzungen
einzuräumen. Durch diese Anordnung würden die Einzelsitzungen in
ein innigeres Verhältnis zu den allgemeinen gebracht, das Einzelne dem
Ganzen untergeordnet und das Bewusztsein des Allgemeinen festgehal-
ten, was allerdings auch ihm sehr nötig erscheine.
Tic t cor Llckstein empfiehlt für die nächsten Versammlungen, be-
sonders die in gröszeren Städten abzuhaltenden, die schon in Berlin
und Darmstadt getroffene Einrichtung, während der Versammlungstage
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Bericht Aber die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 89
ein Tageblatt erscheinen zu lassen, durch das nicht allein die Präsenz-
listen, sondern auch die Tagesordnungen und sonst Mitteilungen aller
Art am einfachsten zur Kenntnis der Mitglieder gebracht werden Könnten.
Durch die hierauf folgenden Abstimmungen wurden 1) die Augs-
burger Beschlüsse, das Verhältnis der Plenar- zu den Sectionssitzun-
gen betreffend, aufgehoben; 2) nach dem Vorschlag der Commission
Hannover als nächster Versammlungsort, Director Ahrens und Pro-
fessor Grotefend als Präsidenten der nächsten Versammlung gewählt.
Dir. Ahrens dankt für die auf Hannover und auf seine Person
gefallne Wahl , erklärt, dasz er glaube versichern zu können, dasz der
Beschlusz der Versammlung nicht nur von den gelehrten Anstalten und
der Bürgerschaft von Hannover mit Freuden begrüsxt werden, sondern
auch von seiten seines allergnädigsten Königs und der hohen Staats-
regierung die Genehmigung nicht werde versagt werden, und bittet zum
Schlusz im Voraus um gütige Nachsicht, zugleich aber auch um Unter-
stützung seiten der Versammlung , besonders durch rechtzeitige Anmel-
dung von Vorträgen.
Hierauf hielt Prof. Schwabe aus Giessen seinen Vortrag: 'über
die Wiederauffindung und erste Verbreitung Catull's im
vierzehnten Jahrhundert'. Folgendes waren etwa die Hauptpunkte
seiner Auseinandersetzung. 'Die Mutter unserer heutigen Catull Hand-
schriften befand sich, wir wissen nicht seit wann, zu Verona. Dieselbe
war die Tochter der französischen Urhandschrift, welche nicht mehr
in Capital- oder Uncialschrif t , sondern schon in einer schwierigen
Minuskel geschrieben und daher kaum älter als das siebente Jahrhun-
dert, für uns doch die älteste Einheit der Ueberlieferung ist. Andrer-
seits flosz aus derselben Urhandschrift unmittelbar und zwar spätestens
im neunten Jahrhundert die Ueberlieferung des 62. Gedichts Catull's,
welche in Thou's Handschrift zu Paris (8071) vorliegt. — Die verone-
sische Handschrift entdeckte und las darin Catull's Gedichte, die er
vorher nirgends hatte auftreiben können, im Jahr 966 der Bischof
ßather zu Verona. Dann verschwand sie wieder und mit ihr alle Kennt*
nis von Catull's Buch. Erst während der ersten Jahrzehnte des 14«
Jahrhunderts (vor 1326 oder 1330) fand ein r Thorschreib er Francesco'
dieselbe zu Verona wieder; seinen Fund verherrlichte der dortige Hof-
dichter Campesani durch ein Epigramm. In den dreisziger und vierziger
Jahren sahen die Handschrift Wilhelm von Pastrengo, Syndikus zu
Verona, und bei einem vorübergehenden Aufenthalte in dieser Stadt (vor
1347) auch Franz Petrarca und zogen sich Einzelheiten aus. , Neue
Nachrichten tauchen im Jahre 1374 auf: sie finden sich in 3 von Haupt
veröffentlichten Briefen von Coluccio di Piero de Salutati (vgl. d. Ber. d.
Sachs. Ges. der Wiss. 1849 S. 258). Aus ihnen ergibt sich nicht sowol
das, was Haupt daraus geschlossen, dasz sich Catulrs Buch in Petrarca' s
Bibliothek befunden, als vielmehr Folgendes, was für unsern Zweck
sehr wichtig ist. Wir sehen nemlioh daraus, dasz Coluccio zu Florenz
im Jahre 1374 den Broaspini zu Verona um Uebersendung eben jener
veronesischen Mutterhandschrift selbst oder einer Abschrift
davon bittet. Zweitens aber erkennen wir aus den Aeuszerungen Co-
luccio'8, dasz CatulPs Buch selbst den eifrigsten und wohlbewandertsten
Kennern der Alten noch im Jahr 1374 so gut wie unbekannt
war, oder, anders ausgedrückt, dasz damals von der veronesischen
Handschrift noch keine Abschriften genommen waren. Endlich wird
es durch die Uebereinstimmung der in Frage kommenden Zeit- und
Ortsverhältnisse und andrer Thatsachen fast unzweifelhaft gemacht,
dasz die Catullhandschrift von St. Germain, jetzt zu Paris
(1165), die erste Abschrift der veronesischen und zwar die von Broas-
pini für Coluccio besorgte ist. Denn dieselbe ist sowol die älteste aller
heute noch vorhandnen Handschriften als auch wurde sie noch nicht
ein Jahr nach dem Termin des Auftrags (Mitte November 1374) been-
H. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 18«. Hft. 2. 7
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90 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
digtj zugleich ist klar, dasz sie zu Verona geschrieben worden ist.
Die beiden letzten Thatsachen erhellen aus den Worten ihrer subscrip-
tio: *1S75 mense Octobri 19°, quando Casignorius laborabat in extremis'.
Dasz nemlieh an diesem Tage Can. Signorio della Scala, Herr von
Verona, daselbst gestorben, berichtet H. della Corte in der 'Geschichte
von Verona II 166'. Diese erste Abschrift der veroneser Handschrift
ist mit einer Treue und Gewissenhaftigkeit geschrieben, welche von
keiner der übrigen bis jetzt bekannten Handschriften übertroffen wird;
und so sichert auch die innere Güte dem codex Germanensis in der
Reihe der Handschriften den Ehrenplatz, den Alter und Geschichte ihm
anweisen',
Der Präsident dankt dem Redner im Namen der Versammlung
für seine interessanten Mitteilungen. Eine Debatte über dieselben fand
nicht statt.
Nach ihm bestieg Prof. Lange aus Giessen die Rednerbühne und
sprach in freiem Vortrage über die ^transitio ad plebem?. Wir geben
die Hauptpunkte dieser eingehenden Entwicklung wieder, soweit es
nns möglich war, sie beim Hören zu fixiren. Der Redner erklärt zu-
nächst, dasz man von der tr. im technischen Sinne einen Fall von
vornherein ausscheiden müsse, die Ueberlassung eines patricischen
filius familias an einen Plebejer, um dessen Familie vor dem Aussterben
zu sichern, weil die tr. ad pleb. in diesem Falle nur ein Accessorium
der Adoption, nicht Hauptzweck gewesen sei. Es sei das keine tr. im
eigentlichen Sinn, wie denn auch der Ausdruck transitio ad patres für
den umgekehrten Fall nicht existiere; denn das Charakteristische der
eigentlichen tr* sei: die Beibehaltung des patricischen Namens,
wie erstens hervorgehe aus den beiden uns historisch überlieferten Fäl-
len von tr., denen des P. Clodius und des P. Cornelius Dolabella, zwei-
tens aus den Stellen, in welchen der Fälschungen in den iaudationes
gedacht wird (Cic. Brut. 16. 62: ad plebem transitiones, cum homines
humiliores in alienum eiusdem nominis infunderentur genus; Liv. IV 16).
Unmöglich hätten Plebejer durch Fälschung ihr Geschlecht von einem
patricischen herleiten können, wenn mit. der tr. eine Namensänderung
verbunden gewesen wäre. Die Motive zur tr. seien gewesen: ent-
weder das Streben nach dem Volkstribunat oder der Wunsch, für die
Consulwahl das Anrecht auf beide consularische Stellen sich zu er-
werben und so eine doppelte Chance sich zu eröffnen. Ueber die For-
malitäten boi der tr. wüszten wir nur das, was vom Fall des Clodius
berichtet werde (Cic. de domo c. 13. 14; Dio Cass. lib. 37 und 38 etc.).
Nach diesen Zeugnissen sei Clodius, der sui juris war, 1) durch arro-
gatio in den comitiis curiatis auf Grund einer lex curiata des C. Jul.
Caesar unter Assistenz des Augur Pompeius (Cic. ad Att. VIH 3. 3) von
einem Plebejer P. Fonteius, der 20 Jahre alt, kräftig und verheirathet
war, dessen Vater Clodius seinem Alter nach hätte sein können, arro-
giert; 2) sofort nach der arrogatio von seinem Adoptivvater durch
©mancipatio aus der patria potestas entlassen worden (Cic. 1. 1. § 37).
Demnach nehme man bis jetzt an, dasz die transitio ad plebem eines
homo sui juris durch Arrogation und nachfolgende Emancipation be-
werkstelligt worden sei. Gegen diese von Becker in seinen 'Alter-
tümern* entwickelte Auffassung habe sich neuerdings Mommsen erklärt
(Rhein, Mus. 1861 S. 321), weil mit der arrogatio notwendig Namens-
wechsel verbunden gewesen sei. Derselbe nehme daher im Falle des
Clodius nach Dio Cassius XXXVII 51 (r1)v eürf^veiav ££uj|u6co:to Kai
Trpoc t& TrXf^eovic oiKCUUJU<XTa £c atrröv cqpwv töv cuMoyov £c€\6ibv jLie-
tIctti) an , Clodius habe die transitio ad plebem dadurch bewerkstelligt,
dasz er sein Patriciat durch eine fdetestatio sacrorum calatis comitiis'
(Gell. XV 27, 3) abgeschworen habe.
Dagegen macht der Redner geltend, dasz Dio C. an jener Stelle
nichts von eoinitiis calatis sage, noch Cic. irgendwie einer im Jahre
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Beriebt über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Neiszen. 91
60 stattgehabten detestatio sacrorum Erwähnung thue. Der Umstand
aber, dasz auch Zonaras bei Besprechung der transitio des Wortes
€£6uvuc0m sich bediene, lasse sich leicht erklären, da der behufs der
tr. stattfindenden arrogatio, so gut wie jeder arrogatio eine detestatio 8.
als integrierender Bestandteil habe vorausgehen müssen. Wenn Momm-
sen aber meine, dasz die detestatio allein zum Uebergang zur Plebs
genügt habe, so sei diesz allerdings die Ansicht des Dio Cassius, (irpö-
(pctciv 37, 51; aOOtc 38, 12), aHein der Ansicht des Dio Cassius stehe
entgegen die des Metellus, des Caesar und des Senats. Aus Dio Cass.
37, 51 selbst gehe hervor , dasz Metellus die gesetzliche Notwendigkeit
einer lex curiata nach hergebrachter Sitte behauptet habe, und aus
38, 12, dasz Caesar, ebenso wie Metellas die lex curiata für gesetzlich
notwendig gehalten habe. Dasz aber der Senat mit Metellus überein-
gestimmt habe, folge aus Cic. ad Att. 2, 1, 4. 5. und de har. resp. 16, 44.
Man müsse daher die Ansicht Becker'« von der transitio ad plebem
festhalten, insoweit ergänzt , als erkannt worden sei, dasz auch der bei
der transitio ad plebem stattfindenden arrogatio die detestatio sacrorum
habe vorangehen müssen. Aber es müsse nun auch erklärt werden,
wie trotz der arrogatio der Name habe beibehalten werden können.
Hierfür liege die Erklärung in der Annahme , dasz die zum Behuf e der
transitio ad plebem vorgenommene arrogatio keine ernstlich gemeinte,
sondern nur eine arrogatio fiduciae causa gewesen sei. Der Redner
machte diese Vermutung wahrscheinlich durch Hervorhebung der Aehn-
Kchkeiten zwischen der arrogatio des Clodius, als einem Scheinge-
schäfte, mit der aus den Juristen bekannten coemptio fiduciae causa.
Clodius sei gar nicht ernstlich als filius des Fonteius betrachtet,
sondern sofort nach der Adoption wieder emaneipiert worden; eine
ernstliche Adoption sei in keiner Weise motiviert gewesen, denn sein
Adoptivvater sei als junger, verheiratheter Mann gar nicht in dem Falle
gewesen, ein Aussterben seiner Familie befürchten zu müssen. Kurz
das Ganze sei nur ein Scheinverfahren gewesen, angestellt zu dem
Zwecke, dem Clod. die Bewerbung um das Tribunat zu ermöglichen
(Cic. de domo § 34—38). Der Redner nimmt daher für die tiansitio ad
plebem eine besondere Art der arrogatio an: die arrog. fiduciae causa,
die — gewis schon früher — von den Pontifices für derartige Fälle
zugelassen worden sei. Er meint, dasz man nach Analogie der arro-
gatio fiduciae causa auch auf das Vorkommen von adoptiones (im engern
Sinne) fiduciae causa schlieszen dürfe , und stellt es als wahrscheinlich
hin, dasz die adoptio fiduciae causa im zweiten punischen Kriege, die
arrogatio fiduciae causa etwas später aufgekommen sei.
Prof. Dr. Rein aus Eisenach: Er wolle sich nur eine kurze Be-
merkung erlauben in Betreff des in Frage gezognen Punktes, ob mit
der trans. notwendig Aenderung des Namens verbunden war. Ihm
scheine dies unzweifelhaft, da arrogatio als andre Form der adoptio
ohne Namenstausch nicht gedacht werden könne, und wenn man mit
Clodius eine Ausnahme gemacht habe, so sei es eine auszerordentliche,
widerrechtliche gewesen, wie ja überhaupt die ganze tr. in diesem Falle
eine reine Comödie war. Eine besondre tr. fiduciae caussae anzuneh-
men erscheine ihm daher nicht nötig; auch könne die arrogatio nicht
wol mit der coemptio zusammengestellt werden.
Prof. Lange: Wenn mit der tr. notwendig Namensänderung ver-
bunden gewesen wäre, könne man nicht begreifen, wie Plebejer durch
Fälschungen in den Leichenreden ihre Geschlechter auf berühmte pa-
tricische gentes hätten zurückführen können. Eine arrogatio ohne Na-
menswechsel sei ebenso denkbar, wie eine coemptio ohne wirkliche
Heirat. Die Zusammenstellung von arrogatio und coemptio halte er
anfrecht, da manus und patria potestas im Grunde dieselben Begriffe
seien, nur auf verschiedne Objecto angewandt.
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92 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
Prof. Hein gibt dies nicht zu, verzichtet jedoch in Anbetracht der
beschrankten Zeit auf weitere Begründung seines Widerspruchs an die-
eem Orte.
Prof. Linker aus Lemberg: Prof. Lange habe seine Auseinan-
dersetzung wesentlich auf die Stelle de domo c. 13. 14 gegründet als
auf Cicero's Zeugnis. Er, der Redner, halte die Rede de domo, ab-
weichend hierin von Mommsen und vielen Neueren, entschieden für
nicht et ce romanisch, obgleich er zugebe, dasz dieselbe historisch und
auch stilistisch interessant sei und gewis aus alter Zeit stamme. Nach
seiner Ansicht habe F. A. Wolf die Unechtheit der Rede aus sprach-
lichen Gründen überzeugend nachgewiesen, wenn auch im Einzelnen
nicht vorsichtig genug; die von Nägelsbach und Lahmeyer (de harusp.
reap.) versuchte Verteidigung der Echtheit habe ihn nicht überzeugen
können ,
Prof. Lange will auf diese verwickelte Frage hier nicht eingehen
und erklärt einfach, dasz er in Uebereinstimmung mit Mommsen an der
Echtheit nicht zweifle.
Hieran schlosz sich ein kürzerer Vortrag von Prof. Dr. Linker
aus Lemberg füber Horat. Epod. XVI'.
Der Hedner erwähnt im Eingang, dasz er in seinem in Frankfurt
gehaltnen Vortrage: rüber das Verhältnis des Horaz zu Sallust', bereits
den Schlusz der 16. Epode zu besprechen Gelegenheit gehabt habe.
Seitdem seien die Epoden abgesehen von dem Posener Programm von
Martin 'über die strophische Gestaltung der Epoden9 im Vergleich zu
den übrigen Werken des Dichters sehr wenig behandelt worden und
gewissermaszen das f Stiefkind dieser Untersuchungen9 gewesen. Der
Verf. genannter Schrift gehe zu weit, wenn er den Satz aufstelle, dasz
alle Epoden des Horaz in vierzeilige Strophen zu zerlegen seien.
Einige Epoden seien hierbei auszunehmen, bei denen eine andere Vers-
ahteilang deutlich hervortrete (z. B. Ep. IV zerfalle in 2 X 10 Verse;
Ep. XII wahrscheinlich (?) in 2 X 13 Verse); unläugbar aber sei die
vierzeilige Stropheneinteilung bei Ep. XIV, VH und sehr wahrschein-
lich auch in Ep. XVI.
Die Epode XVI zerfalle nach ihrer überlieferten Form in zwei Hälf-
ten von 38 und 28 Versen, eine Ungleichheit, die bei der sonst nicht
nur in den carminn., sondern auch in den Epoden nachweisbaren Sym-
metrie der Teile, den Verdacht nahe lege, wenigstens die Notwendig-
keit einer Untersuchung begründe, ob wirklich bei diesem Gedichte
und nur bei diesem eine Ungleichheit der Teile anzunehmen sei.
Der Redner ist der festen Ueberzeugung , dasz die Ep. in 2 gleiche
Hälften und zwar in je 8 vierzeilige Strophen zerfalle, indem er die
beiden Verse 5 und 6 (aemula nee virtus Capuae nee Spartacus acer
Novisque rebus infidelis Allobrox) für eine Interpolation ansieht, da sie
auch aus Innern Gründen nicht für horazisch gelten könnten. Der Dich-
ter führe in dem Eingang des Gedichtes die Feinde Rom's an, welche
die Stadt direct belagert oder wenigstens in grosze Gefahr gebracht
hätten: Porsena, Hannibai und die Marsi, bei welchem letzteren Na-
men nicht an den Bundesgenossenkrieg überhaupt, sondern an die gegen
Ende desselben stattgehabten Straszenkämpfe am Esquilin unter Pon-
tius Telesiuus zu denken sei. Neben diesen nehme sich ganz singulär
die aemula virtus Capuae aus, da Capua — obgleich aemula Romae
von Livius genannt — doch nie Rom ernstlich bedroht habe; ferner
Spartacus, der mit knapper Not den römischen Herren entronnen sei;
endlich der ( Allobrox9, der in der catilinarischen Verschwörung, auf
die doch die Worte novisque — infidelis deuteten, dem römischen Con-
sul sogar einen wesentlichen Dienst geleistet und erst später die Rö-
mer in einen mit jenen genannten Gefahren gar nicht zu vergleichen-
den Krieg verwickelt habe.
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 93
Der Redner bringt zum Schlusz noch ein Bedenken in Betreff des
vierten der jedenfalls echten, von Horaz angeführten Beispiele vor.
Die Worte: 'nee fera caerulea domuit Germania pube* deute man
gewöhnlich so, dasz man darunter die f blauäugige' Jugend der Ger-
manen oder der Cimbern und Teutonen verstehe. Die caerulei ocuü
der Germanen seien allerdings schon aus Tacitus bekannt genug; aliein
nirgends — weder bei einem Dichter noch bei einem Prosaiker — werde
sich caeruleus als Epitheton einer Person im Sinn von 'blauäugig9 er-
weisen lassen, während bei flavus, flava (von den Haaren) ein derarti-
ger Gebrauch nach römischem wie auch nach unserem Sprachgefühl
zulässig sei. Caeruleus in Verbindung mit Neptunus, Triton, dii be-
deute: 'blaugrün' und gehe auf Körper- und Gesichtsfarbe; so könne
man auch die caerulea pubes nur so deuten, dasz ähnlich wie bei den
virides Britanni an die gefärbte, resp. taetowierte Haut zu denken sei»
Schon Cäsar (V 14) berichte von den Britanniern, andre Schriftsteller
von den Celten überhaupt , dasz sie ihre Haut vor der Schlacht gefärbt
hätten; auch Herodot erzähle dies von gewissen historisch nicht genau
zu bestimmenden Völkerschaften; aus keinem Zeugnis aber lasse sich
beweisen, dasz auch die Germanen diese Sitte gehabt hätten. Somit
sei wol die Germaniae pubes im weitern Sinne zu fassen, so dasz dar-
nnter'die Gallier zu verstehen seien, die im Jahre 390 Rom in Asche
legten. Auf eine ähnliche Verwechslung der Gallier mit den Germanen
habe schon v. Wietersheim im S. Bd. seiner f Geschichte der Völker-
wanderung* hingewiesen. Nach dem Gesagten deutet der Redner die
gen. Worte auf die f taetowierten Schaaren der gallischen Belagerer vom
Jahre 390'.
Professor Bursian aus Tübingen: Er erlaube sich nur einen Zwei-
fel vorzubringen gegen die Behauptung Linker's, dasz caeruleus in
keinem Falle auf die graublauen Augen der Germanen gedeutet werden
iönne. Bestimmte Beispiele für einen derartigen Gebrauch dieses Wor-
tes könne er im Augenblick nicht anführen, allein er meine, dasz ein
Dichter überall dann ein nur einem einzelnen Körperteile zukommendes
Beiwort auf den ganzen Menschen übertragen könne , wenn dieses Epi-
theton eben nur auf diesen Teil bezogen werden könne. Dies gelte von
dem Blau der Augen wie vom Blond der Haare. Die Leiber der Meer-
götter hieszen caerulei , da die Phantasie des Dichters sie sich gleich-
sam f graublau angelaufen9 ausmale; beim Menschen könne das Epithe-
ton nur vom Auge verstanden werden, sei also genügend deutlich und
nach der Analogie von flavus zu beurteilen.
Prof. Linker: Er bemerke, dasz seine Deutung auf bestimmte
Beispiele sich stütze, indem nicht bloss die Meergötter, sondern auch
Völkerschaften bisweilen caerulei genannt würden in Bezug- auf Ge-
sichts- und Hautfarbe. Zwischen Augen und Haaren sei der Unter-
schied, dasz diese viel mehr als jene dem Menschen einen bestimmten
Typus gäben, weshalb auch die Beziehung auf die Haare dem Hörer
beim Worte flavus sofort nahe liege, nicht so bei caeruleus die auf die
Augen.
Prof. Bursian bezweifelt, dasz caeruleus an vorliegender Stelle
ftaetowiert' bedeuten könne, da der Dichter doch schwerlich auf eine
gallische Volkssitte angespielt haben werde, von der die damaligen
Römer, (wie aus der Spärlichkeit der Zeugnisse zu schlieszen sei,)
offenbar wenig Bescheid gewuszt hätten.
Prof. Linker verspricht in seiner demnächst in Druck erscheinen-
den Abhandlung mehrere Beispiele für den Gebrauch des Wortes
caeruleus von Haut- und Gesichtsfarbe beizubringen.
Rector Eckstein: Noch weniger als Linker sei er mit den Resul-
taten der Martinschen Untersuchungen einverstanden, die übrigens im
weiteren Kreise wenig bekannt zu sein schienen. Er wünsche sehn-
lichst, dasz endlich einmal die Vierstrophentheorie , die so fest begrün-
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94 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
del scheine, an den bestimmten Zeugnissen des Altertums, z. B. dem
des Marias VictorinuSj ihre Widerlegung finden möchte, dasz man end-
lich einmal aufhöre , dem Horaz Fremdartiges aufzudrängen und seine
Gedichte zu zerfleischen, wie es auch Linker mit seinem kritischen
Messer gethan habe. Er könne sich nicht genug wundern, dasz sein
Freund v. Leutsch dies so ruhig geschehen lasse, er, der doeh über die
metrischen Zeugnisse des Altertums die beste und vollste Auskunft ge-
ben könne, Linker verwerfe zwei Verse, weil er sich in den Kopf
gesetzt habe, es könne nur von Feinden die Rede sein, die ßom un-
mittelbar und ernstlich bedroht hätten. Zunächst entstehe auch
nach Auswerfung der beiden Verse und der neuen Auslegung der cae-
rulea pubes keine chronologische Folge der Beispiele, wenn man nicht
etwa den Ueberfall der Marsi in die Königszeit (vor Porsena) verlegen
wolle, was der Redner selbst nicht gewollt habe; und dann sehe er
nicht ein, warum die Erwähnung von Oapua und Spartacus, die dem
Horaz dock anderwärts als gefährliche Feinde Rom's erschienen, hier
so störend sein solle, dasz man deshalb die Verse als unecht ansehen
müsse.
Prof. Linker: Spartacus werde nur einmal von Horaz (III 14. 19)
erwähnt und zwar als ein — fden römischen Weinkellern' gefährlicher
Feind.
Rector Eckstein: Also doch als Plünderer Roms. Das Bedenk-
liche Kipe darin, class man in den vorliegenden Worten etwas Bestimm-
tes suche und 2 Veree, weil sie dem Bestimmten nicht entsprächen,
beseitigen wolle, Er stelle sich in dieser Frage ganz auf die Seite der
conservativen Partei,
Prof. Linker: Es sei eine petitio prineipii, von der Forderung
einer historischen Reihenfolge der angeführten Beispiele auszugehen.
Et finde ein andres Princip der Anordnung näher liegend. Im ersten
Distichon würden Feinde aus Italien selbst, im folgenden (nach Aus-
werf 'wag von vs, 6 und 6) auswärtige Feinde erwähnt und zwar in je-
dem 2 Feinde in je einem Vers. Das eingeschobne Distichon führe 3
Heispiele vor und zwar in einer absteigenden Klimax, wenn man
ilire Gefährlichkeit für Rom in Betracht ziehe. Dies stimme wenig mit
dem folgenden Distichon, welches gerade die beiden gefährlichsten
Feinde erwähne. - — Uebrigens protestiere er gegen den Vorwurf eines
sophistischen Haschens nach Athetesen und leichtfertiger Zweifelsucht,
wie ihn besonders Nauck in der 3. Auflage seiner Ausgabe ihm gemacht
habe, der 'sein Verfahren gewissermaszen als Popanz für alle besonne-
nen Schulmänner3 hinstelle. Er habe immer nur das gesprochen und
geschrieben , was er mit voller Ueberzeugung offen und ehrlich zu ver-
teidigen im Stande gewesen sei.
Rector Eckstein verwahrt sich gegen diese Auffassung seiner
Worte und fordert seinen Freund v. Leutsch auf, endlich aus seinem
Schweigen herauszutreten.
Prof. v. Leutsch aus Göttingen: Er habe geschwiegen, weil das
weitschichtige Material für die Behandlung dieser Frage noch keines-
wegs genügend durcharbeitet sei, da auszer Horaz noch mancher andre
Dichter in den Bereich der Untersuchung gezogen werden müsse, und
weil auch unsere Kenntnis von antiker Musik noch eine sehr unvoll-
ständige sei, auf welche doch in dieser Frage immer wieder als auf
die eigentliche Grundlage recurriert werden müsse. Wie wenig wir
über diese wüsten, werde jedem aufmerksamen Leser des Westphal-
schen Buchs klar geworden sein. In Betreff der horazischen Gedichte,
sei er der Meinung , dasz Horaz die Mehrzahl seiner Gedichte strophisch
und zwar meist in Strophen von 4 Versen componiert habe, aber we-
nigstens ein Gedieht sieher in dreizeiligen Strophen. Uebrigens glaube
er, dasz durch die richtig aufgefaszte und gehandhabte Stropheneintei-
lung die Zahl der Verse bei Horaz nicht vermindert, sondern vielmehr
•
Li
Beriebt über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Heiszen. 95
die Echtheit vieler aus andern Gründen angezweifelter Stellen werde
erwiesen werden.
Prof. Linker: Dasz die Oden des Horaz fvierzeilig' seien, werde
nach seiner Ansicht bewiesen durch den vierzeiligen Wechselgesang:
mit Lydia. Eine Kürzung habe durch diese Strophentheorie nur das
Gedieht Carm. ÜV 8 erfahren, denn auch Carm. I 1 sei ja durch 4 teil-
bar, so dasz von diesem Gesichtspunkte aus keine Zeile dieses Gedich-
tes gefährdet sei. Ob das Gedicht III 12 aus 4 dreizeiiigen oder (nach
Lachmann) 1 vierzeiligen Strophe bestehe, wage er nicht zu entscheiden.
Vicepräsident Director Dietsch ersucht, da die Sitzung noch zu
verlängern nicht rathsam erscheine, Herrn Dr. Benseier aus Leipzig
seinen Vortrag: 'über einige Eigentümlichkeiten der griechi-
schen Namen bildung' zurückzuziehen und zum Abdruck zu den
'Verhandlungen' zu geben; verliest sodann ein von der Germanisten-
section eingegangenes Schriftstück, in welchem die Versammlung um
Teilnahme und Unterstützung des von genannter Section ausgehenden
Unternehmens, dem jüngstverstorbnen groszen Meister Jacob Grimm
'ein würdiges Ehrengedächtnis' zu stiften, gebeten wird, und schlieszt
hieran ein ernstes Schluszwort, in dem er einen dankbaren Rückblick
hält auf das in den verflossnen Tagen auf wissenschaftlichem und ge-
selligem Gebiete Gebotne und die Bitte ausspricht, in treuem Andenken
die Eindrücke dieser Tage zu bewahren. Hierauf schlosz er mit dem
Wunsche eines frohen Wiedersehns in Hannover die 22e Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner.
Ehe die Versammelten das Sitzungslokal verlieszen, ergriff noch
Professor Dr. Haase aus Breslau das Wort und lieh den Gefühlen der
Dankbarkeit einen Ausdruck, von denen gewis alle scheidenden Gäste
inHUckerinnerung der verflosznen Tage erfüllt waren. 'Mit angeneh-
men und wohlthuenden Eindrücken schieden gewis alle Anwesenden von
dieser seit Jahrhunderten durch die edelste geistige Arbeit, die es gebe,
durch die Erziehung der Jugend geweihten Stätte, an die die Namen
und Erinnerungen so vieler groszer Männer sich knüpften und in der
das vor länger als 300 Jahren begonnene grosze Werk von tüchtigen
Nachfolgern in würdigster Weise noch fortgesetzt werde.' In ehrfurchts-
vollen Worten dankte hierauf der Redner für das lebendige Interesse,
die Liberalität und thätige Förderung , deren sich die diesjährige Phi-
lologenversammlung Seiten Sr. Majestät des Königs Johann und der
hohen Staatsregierung zu erfreuen gehabt habe; hieran schlosz er herz-
liche Worte der Anerkennung und des Dankes für die von den Behör-
den und Bürgern Meiszens bewiesne Gastlichkeit, Fürsorge und ach-
tungsvolle Teilnahme an den Bestrebungen der Versammlung, sowie
für die aufopfernde und umsichtige Thätigkeit des Präsidiums und des
Lokalcomite's und schlosz seine Rede mit einem dreimaligen Hoch fauf
das alte Haupt des meisznischen Landes, die freundliche Stadt Meiszen,
alle in ihr Seszhaften und auf die beiden Präsidenten', in welches die
Versammelten, von ihren Plätzen sich erhebend, freudig einstimmten,
Schlusz der letzten allgemeinen Sitzung J/21 Uhr.
Anhangsweise geben wir noch eine Ueb ersieht der der Meiszner
Philologenversammlung gewidmeten Festschriften, der in gröszerer
oder geringerer Anzahl von Exemplaren verteilten litterarischen Ge-
schenke und der aufgelegten Novitäten.
a) Festschriften: 1) Germaniae philologis doctis illustribus Misnae
a. MDGCCLXIII congressis vereeunde d. d. d. Freytagius, Ar-
chidiac. Misen. 8. p. 4. (Alcäische Ode).
2) Philologis et paedagogis Germaniae . . . Misniae solennem con-
ventam agentibus salutem dieunt plurimam scholae regiae Afranae
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96 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen.
rector et professores, Misenae 4. p. 20. Insunt: Ottonis Kreuss-
leri Observationes in Theocriti Carmen I.
3) Kaside des Selm&n aus Säweh zum Lobe des Wesir Gijatiid-
din Muhammed aus dem Persischen übersetzt usw. von K. H. Graf,
Meiszen. 8. S. 3.
4) Philologos Germaniae Misniae etc. salutat HermannusFritz-
schius, professor Lipsiensis hujusque Graeca societas, Lipsiae 4.
p. VII. Insunt: Gustav i Schneid eri Gerani disputatio de loco
Aristotelis Metaph. A, 10 p. 1076, a. 11 ed. Bekk. et Ioannis
Schuemanni Megalopolitani quaestiones de usu spondei ante cae-
suram bucolicam in Theocriti carminibus.
b) Geschenke: 1) Einige Bemerkungen über Kritik, Exegese und
Versabteilung beiPindar von Tycho Mommsen, Oldenburg 1863.
8. S. 39.
2) 'Ueber Königlichen Sinn', Rede zur Feier des Geburtsfestes
Sr. Majestät des Königs Friedrich August gehalten vom Conrector
Dr. Philipp Wagner, Dresden 1863. 8. S. 16.
3) 3 Indices lectionum in Academia Rostochiensi habitarum a.
1862. 1863. 1863—64. Insunt: F. V. Fritzschii supplementum ad
Aristophanem, de scriptoribus satiricis specimen I, de origine tra-
goediae dissertatio.
4)TheodoriDoehneri, prof . Misn., Quaestionum Plutarehearam
partioula IV. 4. p. 33. Inest : analectorum Byzantinorum specimen I.
5) Manuale bibliographum ed. S. Calvary, Pars I.
c) Aufgelegte Novitäten: Rhetores latini minores ed. C. Halm,
fasc. I. Lips. Teubn. 1863. — Horaz's Satiren und Episteln, erklärt
von G. T. A. Krüger, Leipz. Teubn. 4. Aufl. — Erläuterungen zu
den deutschen Classikern von H. Düntzer, Bdch. 30 — 36, Weni-
gen-Jena 1863.
n. Sectionsflitznngen.
1) Verhandlungen der pädagogischen Section.
Die pädagogische Section constituierte sich den 29. September
12 Uhr nach Schlusz der ersten allgemeinen Sitzung. Eine E&nzeich-
nung der Mitglieder in eine besondere Liste erfolgte diesmal nicht.
Auf Antrag des Vicepräsidenten Director Dietsch aus Plauen wählte
die Section den in der Leitung der pädagogischen Verhandlungen durch
vielfache Praxis auf den Philologenversammlungen geübten und be-
währten Rector Professor Eckstein aus Leipzig auch diesmal zum
Vorsitzenden. Als Schriftführer fungierten die Secretäre der allgemei-
nen Verhandlungen, Dr. Richter aus Plauen und der unterzeichnete
Berichterstatter.
Der Vorsitzende schlug nach einigen kurzen Begrüszungsworten
vor, von den aufgestellten (und in einem gedruckten Programm publi-
cierten) 5 Thesengruppen zuerst die von Director Kl ix aus Glogau an-
geregten Fragen: 'über öffentliche Prüfungen und Schulfeierlichkeiten'
zur Besprechung zu bringen, da ein Aussprechen hierüber 'zumal in
dem mit Redeacten so reich gesegnetem Sachsen' von besonderem In-
teresse und praktischem Nutzen sein müsse.
Die erste Sitzung ward auf den nächsten Morgen 8 Uhr angesetzt.
Erste Sitzung, den 30. September, Anfang 8% Uhr.
Der Vorsitzende schlägt vor, die zu discutierenden Thesen in zwei
Gruppen (These 1 und These 2—4) zu teilen. Wir geben zuvörderst
den Wortlaut der vom Director Klix aufgestellten Sätze wieder:
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Neiszen. 97
1) Die Öffentlichen Examina auf den Gymnasien beim Schlusz der
Jahrescnrse sind zwecklos und unter Umständen sogar schädlich; sie
sind daher zu beseitigen.
2) O eigentliche Schalfeiern, sei es in der Form der sog. Redeactas
oder freierer Feste, sind für das Leben der Schule notwendig, aber so
einzurichten, dasz sie in den Schülern das Gefühl der Zugehörigkeit
zum Ganzen wecken nnd erhalten, und dem teilnehmenden Publicum
einen Einblick in den in der Anstalt waltenden Geist gewähren.
3) Die sog. Redeactas müssen einen bestimmten Gedanken hervor-
treten lassen, durch welche die Wahl ihres Inhalts, der Gesänge, De-
clamationen und freien Vorträge bestimmt wird. Ihre häufige Wieder-
kehr z. B. als sog. Abendunterhaltungen erscheint im Interesse der
Schüler unzulässig. Ihre Stelle haben sie nur bei den Anlässen, welche
teils die Schule selbst (Einweihungen, Jubeltage, Entlassung von Abi-
turienten, Jahresschlüsse, mit denen die öffentliche Verkündigung der
erfolgten Versetzungen und die Verteilung von Prämien unbedenklich
verbunden werden), teils das Leben der Gemeinde oder des Volkes
hietet. Die bei solchen Gelegenheiten von den Lehrern zu haltenden
Reden müssen den Schülerreden folgen, nie vorausgehen.
4) Die im Freien zu haltenden Schul feste schlieszen sich, wo nicht
altes Herkommen gewisse Tage bestimmt, am passendsten an die gro-
ssen Gedenktage des Vaterlandes an. Lied und Wort müssen auch
ihren Mittelpunkt bilden und die gemeinsamen zur Unterhaltung die-
nenden Spiele bei denselben einen turnerischen Charakter annehmen.
Die eigentlichen Turnfeste gehören auf den Turnplatz.
Director Kl ix sagt zur Einleitung und Verteidigung seiner ersten
These etwa Folgendes: Es sei eine sehr wichtige Frage im Leben der
Schule , wie dieselbe sich zu verhalten habe, wenn sie ans Licht der
Oeffentlichkeit trete. Er habe seine Thesen gestellt, um die Aufmerk-
samkeit auf diesen wichtigen Punkt zu lenken und um selbst die An-
sichten erfahrner Schulmänner zu hören. Was die Prüfungen anlange,
so misbiilige er nicht diese überhaupt, sondern nur die 'Schaustücke'
zum Schlusz der Jahrescnrse. Diese halte er für zwecklos, da der
aoszerhalb der Schule Stehende durch sie keinen rechten Einblick in
das Leben der Schule erhalte und dem Schüler ihr Erfolg irrelevant
erscheine; ja sogar für schädlich, da für eitle oder nachlässige Leh-
rer die Versuchung sehr nahe liege , ihre Classen vorher zum Examen
'abzurichten', was nicht nur eine schnöde Täuschung des Publicums
sei, sondern auch ein Anstosz und schlechtes sittliches Beispiel für die
Schüler. Er wisse überhaupt nicht, ob öffentliche Prüfungen als ge-
setzlieh notwendig beständen oder nur als usus von den Behörden vor-
ausgesetzt würden. An seiner Anstalt habe er sie seit Jahren ganz
eingestellt und keine Nachteile davon bemerkt.
Probst Dr. Müller aus Magdeburg: Der liebelst and des * Abrich-
tens' lasse sich durch Vereinbarung und Controle der Lehrer unter
einander leicht beseitigen; dann höre auch das Examen auf, eine
'Schaustellung' zu sein. Am Kloster U. 1. Frauen habe man die zwei
Tage der öffentlichen Prüfung auf einen reduciert, indem am zweiten
Tage nur ein Privatexamen innerhalb der Classen abgehalten werde.
Die Examina würden immer genügend besucht, besonders die der un-
tern Classen. Er pflege den Eifer der Schüler dadurch besonders an-
zuspornen, dasz er für jede Antwort jedes Schülers sich eine Censur
notiere und diese Notizen den Schülern nach der Prüfung vorlese.
Den Hauptnutzen der Examina sehe er darin , dasz die Jugend lerne,
ohne Scheu vor Fremden das auszusprechen, was sie wisse.
Professor Massmann aus Berlin: Obgleich nicht selbst Schuhnann,
habe er doch stets an der Schule Interesse genommen; auszerdem sei
sein ganzes Leben 'Pädagogik' gewesen, darum wage er es hier zu
sprechen* Schon als Schüler habe er Aergernis genommen an dem
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98 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meisten.
FVersteckspieP der öffentlichen Prüfungen und noch jetzt habe er kein
Wolgefallen daran. Et inisbillige die vom Vorsitzenden vorgeschlagene
Treuuung der These l von 2. 3. 4; man müsse zugleich das Ersatz-
mittel mit prüfen, was die Punkte 2—4 vorschlügen, wenn man über
Aufhebung der Examina discutiere. Er schlage vor, anstatt der Abhal-
tung öffentlicher Prüflingen den Eltern die Erlaubnis zu erteilen, an
bestimmten Tagen in die Classen selbst einzutreten und so das Still-
lebcn der Schule zu belauschen.
Der Vorsitzende vertheidigt die von ihm vorgeschlagene Tren-
nung. Die SätKe 2—4 hingen nur dadurch mit Satz 1 zusammen, dasz
auch sie Fälle aufzählten f in denen die Schule ins Licht der Oeffent-
litilikeit heraustrete, keineswegs aber sollten und könnten diese Feste
nla r Ersatz mittel* für die Examina gelten.
Keetor Dr. Peter aus Pforta erinnert, dasz man einerseits dem
Publicum gewisse Rücksicht schuldig sei, andererseits keine der weni-
gen noeb vorhandenen Brücken zwischen Schule und Haus voreilig
abbrechen solle. Er habe selbst als Lehrer an einem neubegründeten
Gymnasium (Anclam) erfahren, wie lebhaft das Publicum auch an den^
Examinibus sich beteilige , wenn es lebhaftes Interesse an der Anstalt
überhaupt nehme. Er meine auch, dasz sich wol gewisse Grundsätze
aufstellen unu" Einrichtungen treffen lieszen, um dem vom Thesensteiler
erwähnten abusus zu steuern.
Der Vorsitzende: Tra Allgemeinen lasse sich wol der Erfahrungs-
satz aussprechen, dasz mit der Grösze der Städte die Teilnahme an
deu Prüfungen der gelehrten Schulen abnehme.
Direktor Ahrens aus Hannover: In Hannover, das jetzt doch zu
den greiszern Städten gehöre, sei die vorliegende Frage viel von Colle-
gien und Behörden debattiert worden. Mehrere Schulen hätten die
Examina abgestellt, andere, unter ihnen seine Schule, sie beibehalten.
Er habe keine Veranlassung, über geringen Besuch der Prüfungen zu
klagen, besonders nicht rücksichtlich der untern Classen, und möchte
diese Gelegenheit, mit den Eltern in engern Verkehr zu treten, der
Schule nicht entgehen lassen. Zum Schlusz empfiehlt der Redner die
an seiner Schule getroffne Einrichtung der Mappe ncensuren, welche
eine eingehendere um! riiekhaltslosere Besprechung der einzelnen Schü-
ler enthielten, daher nicht den Schülern selbst mitgeteilt, sondern nur
den Eltern beim Examen zur Einsicht vorgelegt würden. Diese Ein-
richtung übe eine wunderbare magnetische Kraft aus. Die Prüfungen *
der oberen Classen seien zwar unverhältnismäszig weniger als die der 4
unteren besucht, doch sei die Beibehaltung derselben schon deshalb
nötig, damit die Schulbehörde eine Uebersicht über die ganze Schule •
gewinne.
Der Vorsitzende resümiert kurz die Debatte: darüber scheine
mau sich geeinigt zu haben, dasz die Prüfungen für die Lehrer
schlechthin bedeutungslos, somit nur um des Publicums willen festzu-
halten seien, wenn man sie überhaupt festhalten wolle.
Director H iiser ans Aschersleben macht geltend, dasz bei der
Entscheidung dieser Frage auf die Lokalverhältnisse der einzelnen
Schulen Rücksicht genommen werden müsse. Schulen, die ganz oder
teilweise städtisch seien, könnten sich unmöglich diese Gelegenheit ent-
gehen lassen, mit den Vätern und Müttern sich in Rapport zu setzen.
Er halte es in solchem Falle für eine wichtige Aufgabe der Schule,
du* erkaltende Interesse des Publicums wieder zu wecken.
Keetor Palm aus Bautzen klagt ebenfalls über geringe Teilnahme
des Publicums bei ilen Prüfungen oberer Classen, hegt aber Bedenken
den Wegfall der öffentlichen Examina überhaupt zu befürworten, da
dieselben neben dem Vorteil, dasz sie den Wechselverkehr von Schule
und Haus forderten, auch noch einen anderen, nicht unwichtigen Vor-
teil böten, dasz durch sie die Lehrer ihre Lehrmethoden gegenseitig ■
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 99
kennen lernen könnten. Durch Privatexamina innerhalb der Schule
werde nur der eine Zweck erreicht, durch öffentliche Examina beide.
Professor Schmalfeld aus Eisleben erklärt, dasz nach seinen Er-
fahrungen weder das Publicum noch im Allgemeinen die Schüler das
Examen mit der Gleichgültigkeit ansehen, wie es von den Vorrednern
behauptet worden sei. Er meine sogar, dasz Schüler und Lehrer da-
durch ethisch gehoben würden, wenn sie bisweilen Gelegenheit hätten,
von ihrer gemeinsamen Arbeit öffentlich Zeugnis und Rechenschaft ab-
zulegen.
Director Hüser: Es sei mehrfach von 'Schaustellungen' gespro-
chen worden; man möge die Examina nur so nennen; eine Schaustel-
lung sei ja an sich nichts Verwerfliches, sondern nur, wenn sie eine
trügerische sei. Die Schule wolle doch eben ihr stilles Schaffen und
Leben in den Examinibus öffentlich darstellen, was ihm ebenso natür-
lich als durchaus ungefährlich erscheine, wenn es nur eine ehrliche,
wahrheitsgetreue Dar- oder, wenn man wolle, Schaustellung sei.
Oberlehrer Liesske aus Dresden weist darauf hin, dasz das Gym-
nasium die Pflicht habe, neben und im Gegensatz zu anderen höheren
Lehranstalten die eigentümliche Art seines Lebens und seiner
Thätigkeit auch bisweilen öffentlich darzustellen. Dies geschehe nur
ganz unvollkommen durch Programme, nur einseitig durch Redeacte;
am besten unläugbar durch öffentliche Examina.
Director Kl ix aus Glogau gibt zu, dasz unter gewissen lokalen
Verhältnissen öffentliche Examina notwendig, ja sogar unter besonders
günstigen Umständen — wie in dem vom Rector Peter angeführten
Falle — anregend und fruchtbar sein können. Im Princip halte er an
tai These fest. Der Vorschlag Massmann's sei schlechthin unausführ-
bar; auf den Einwand Palm's entgegne er das, dasz es ja stets den
Lehrern freistehe , gegenseitig bei einander zu hospitieren. Das Inter-
esse des Publicums an der Schule schlage er sehr hoch an und halte
es für Pflicht, dasselbe zu wecken, wo es schlummere. Dies geschehe
aber viel wirksamer durch die These 2 — 4 vorgeschlagenen Schulfeier-
lichkeiten, als durch die Examina, zumal da zum Besuch der letzteren
die Eltern, wenn sie überhaupt erschienen, in der Regel nicht das Inter-
esse an der Schule, sondern lediglich das an den Kindern bestimme.
Der Vorsitzende bittet, da die allgemeine Frage genügend ven-
tiliert zu sein scheine, noch um Mitteilung der Erfahrungen, die man
mit 3— 4tagigen öffentlichen Examinibus gemacht habe, wie sie an man-
chen Schulen noch jetzt im Brauche seien.
Professor Dr. Klussmann aus Rudolstadt referiert über die frü-
her 4, erst neuerdings 3 Examentage seines Gymnasiums : das Interesse
; des Publicums pflege mit dem zweiten Tage zu erlahmen ; nur zu der
Prüfung der Kleinen fänden sich Väter und besonders Mütter zahlrei-
cher ein, zumal wenn über f allgemein interessante' Fächer examiniert
»erde. Unverkennbar würden die Eltern mehr durch die Sorge um
ure Kleinen als durch wirkliches Interesse an den Lehrgegenständen
nid der Schule in das Schulexamen gezogen.
Probst Müller aus Magdeburg: Am Kloster U. 1. Fr. habe man
J Prüfungstage , 2 zu Michaelis, 2 zu Ostern. Er möchte sie um kei-
nen Preis aufgeben oder reducieren , da — besonders in der gröszern
Madt — jede Gelegenheit benutzt werden müste, wobei die Lehrer
Eltern der Zöglinge kennen lernen und sich in Beziehung zu ihnen
setzen könnten.
Subconrector Dr. Franke aus Gera bestätigt das Gesagte durch
seine Erfahrungen am Rütheneum in Gera. Daselbst hätte bis vor Kur-
zem neben den cPerlustrationen', die jedesmal zu Ostern privatim in
Jen Classen erfolgten, zu Michaelis eine drei bis viertägige Prüfung
Jen. Das neueste Regulativ habe diese Examina auf 1—2 Tage
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100 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszew
beschränkt, da die Teilnahme des Public ums während der langhinge*
zogenen Prüfungen eine ganz ausz erordentlich geringe gewesen sei.
Hierauf wurde zur Besprechung der Thesen 2—4 geschritten*
Direetor Kl ix.: Oeffentliche Manifestationen des Sehullebens in
Feierlichkeiten und Festen seien dringend nötig, weil dadurch, in den
Schälern das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Schule und Zusammen-
gehörigkeit als Corporation geweckt werde. Ans diesem Grunde finde
er z. B. gemeinsame Aufzüge ganz passend. Die Redeacte, nm mit
ihnen zu beginnen , müsten daher von allen Schülern besucht und als
fBlüthen' und Höhepunkte des Schullebens angesehen werden. Dies
werde am besten dadurch erreicht, wenn jeder Actus einen bestimmten
Mittelpunkt habe, um den sich die Gesänge, Declamationen und
Vorträge gruppierten. Er habe seit mehreren Jahren die Schulacts
seines Gymnasiums (Glogau) in der angegebenen Weise eingerichtet
nnd seitdem sei ein gesteigertes Interesse auch Seiten des Public ums
zu bemerken gewesen.
Dir. Hüser stimmt mit dem Vorredner darin überein, dasz das Oe
fühl der Korporativen Zusammengehörigkeit im Schul ercötus zu weckeü
und zu nähren sei, ferner darin, dasz es besonders durch das Heraus-
treten in die Oeffentlichkeit geweckt werde. Dagegen will er von der
Censuren- und Prämienverteilung das Publicum ausgeschlossen wissen,
ja findet es sogar rathsam, bei Besprechung von Schülern oberer Clas-
sen die der unteren zu entlassen. Der Redner gebt dann über auf ge
raeinsame religiöse Feiern, wird aber hierbei vom Präsidenten unter-
brochen, da die Besprechung dieses Punktes von den Thesen abführe.
Die Debatte wurde hier abgebrochen, da nm 10 Uhr die gennuv
stische Section mit einer Gedächtnisrede auf den jüngst heimgegange-
ueUj unvergeszlichen Jacob Grimm ihre Sitzungen eröffnete, welch«
in corpore beizuwohnen, der gesamten Philo logen Versammlung zugleich
als eine heilige Pflicht erschien nnd wahres Herzensbedürfnis war. Da
ferner ein groszer Teil der Versammlung auch den um 11 Uhr begkj-
nenden Vortrag des Dr. Mordtmann aus Cönstantinopel anzuhören ge-
wünscht hatte, so konnte die Fortsetzung der ahgekrochnen Debattr
erst gegen 1% Uhr erfolgen.
Probst Müller widerlegt einige gegen die Examina vorgebrachten
Einwendungen und bezweifelt, dasz die in den Thesen 2—4 vorgeschla-
genen Schulfeierlichkeiten ein genügendes Ersatzmittel für dieselben
seien.
Der Präsident bedeutet den Redner, dasz die Debatte über
These 1 bereits geschlossen sei. Was die Redeacte betreffe» so sei eT
für seine Person überhaupt gegen Schülerreden, zumal wenn sie Ersatz
sein sollton für das, was zu sagen dem Lehrer zukomme.
Direetor Kl ix: Auch er sei der Meinung, dasz die Rede öiftSJ
Lehrers der Gipfelpunkt eines jeden Actus sein solle,
Professor Mass mann: Er habe immer mit Misf allen Sehülerreden
gehört; ihm sei dieses 'PapageiengeschwjiU' widerlich gewesen, be*
sonders da es auswendig gelernt und mühsam vorher eingeübt werde,
Professor Schmalfeld: Er habe an einem Gymnasium 40 Jahr*
Erfahrungen gesammelt; diese stimmten allerdings mit dem eben Ge-
äusserten gar nicht überein. Was dem Zuhörer als Geschwätz erscheine,
sei für den Schüler etwas Ernstes und Wichtiges , es fühlten sich die
jungen Redner durch das ihnen geschenkte Vertrauen gehoben tmd ge-
ehrt und trügen ihre Reden in der Regel mit wahrer Begeisterung vor
Das Publicum nehme bei weitem mehr Interesse an den Schülerredeu,
als Massmann glaube und behaupte; für die Schüler aber sei dieses
öffentliche Auftreten sehr wichtig zur Weckung des Selbstgefühls nnd
Selbstvertrauens. Beim 'Freisprechen' aber, welche» Massmann wünsche,
würde erst recht * Geschwätz' zu Tage kommen; dagegen sei eine gute
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 101
Vorübnng für das Freisprechen das freie Vortragen des Auswendigge-
lernten.
Rector Peter: Er könne nicht umhin, den mit Misf allen aufge-
oommenen Worten Massmann's teilweise beizupflichten. Schülerreden
seien stets unreif und in der Regel weder selbst empfunden noch selbst
gedacht; darum seien sie auch pädagogisoh bedenklich, weil sie gar
leicht zu innerer Unwahrheit, Frühreife, zum Hinausgehen über die
Sphäre der Schule und Blasiertheit führten und den Schüler an einen
auf das zuhörende gemischte Publicum berechneten 'Feuilletonistenstil'
gewohnten. Viel unbedenklicher seien Declamationen, obgleich auch
durch sie die Eitelkeit Nahrung finden könne.
Probst Müller: Er habe bei 45jähriger Erfahrung nie über Teil-
nahmlosigkeit des Publicums bei den Redeacten zu klagen Ursache
gehabt In Torgau habe er oft sogar 2 Tage nach einander Redeacte
gehalten vor einer zahlreichen Zuhörerschaft. Der Lehrer müsse na-
türlich die Themata prüfen und seine Sache sei es, unpassende die
Censur nicht passieren zu lassen. Schülerreden müsten natürlich als
erste Versuche von Jünglingen billig beurteilt werden; doch seien kei-
neswegs alle Schüler so unreif und gedankenarm, wie es nach den
Worten der Vorredner scheinen müste; es fänden sich doch oft ganz
frappante Beispiele vom Gegenteil.
Director Dr. Wiehert ans Magdeburg: Dasz der Inhalt der Schü-
lerreden fremdes Eigentum sei, das wisse auch das Publicum, es er-
warte dagegen, dasz die Form dem Schüler selbst eigen sei. Aber
selbst das sei zu viel vom Schüler verlangt, der aus Mangel an Denk*
reife, abgeklärtem ästhetischen Geschmack und geschultem formellen
Sinn durchschnittlich das Zeug nicht habe, eine formgerechte Rede zu
halten. Es pflegten daher die Arbeiten der Schüler genau durchcorri-
giert ra werden, so dasz vom eignen Werk derselben oft nur sehr we-
nig übrig bleibe. Diese Thatsache zeige, wie unnatürlich Schülerreden
seien,
Professor Kämmel aus Zittau: Es müsse diese Frage doch auch
Tom historischen Gesichtspunkt aus angesehen werden. Im 16. Jahr-
hundert hätten die Gymnasien, besonders die sächsischen und schlesi-
schen, eine Unzahl von Redeacten gehabt, was darum nicht Wunder
nehmen dürfe, weil der gesamte Unterricht der damaligen Gymnasieu
ein vorhersehend formeller gewesen und auf Poetik und Rhetorik hin-
ausgelaufen sei. Bei diesen Redeacten sei in der Regel ein bestimm-
tes Thema z. B. de Aeneae virtutibus, de pietate, de fide usw. behan-
delt worden, so dasz den verschiedenen Rednern bestimmte partes
desselben zugeteilt waren. Jetzt sei es anders; der Unterricht habe
tos Materiale in den Vordergrund gestellt, das Publicum seine Harm-
losigkeit verloren und gröszere Ansprüche zu machen sich gewöhnt.
Das Interesse des Publicums an den Schul acten habe sich im Allge-
meinen sehr verringert und laufe zumeist auf das persönliche Interesse
*a den auftretenden Schülern hinaus; doch es sei nur an Tagen be-
sonderer Erregung der Gemüter ein reges und lebendiges. Und doch
Jmw er sich für die Schülerreden aussprechen, indem er besonderes
Gewicht darauf lege, dasz durch diese Einrichtung der Einzelne ge-
fügt werde, mit seiner Persönlichkeit für die Ehre der Anstalt einzu-
teilen. Nötig sei aber grosze Vorsicht und Besonnenheit Seiten des
korrigierenden Lehrers; besitze dieser den richtigen Blick und feinen
Takt, so sei es wol möglich, bei mancher kleinen Nachhülfe der cor-
ngierenden Hand dennoch im groszen Ganzen das Individuelle zu scho-
nen und gewähren zu lassen.
Der Vorsitzende bemerkt, den Vorredner ergänzend, dasz auch
anderwärts im 16. und 17. Jahrhundert die Schulacte den geschilderten
^arakter hatten, dasz aber diese Schülerreden von den Rectoren nicht
oIqbz corrigiert, sondern geradezu gemacht zu werden pflegten, indem
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102 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen*
diese Acte an manchen Orten eine ergiebige Erwerbsquelle für dir
rectores waren.
Probst Müller meint, dasz es vollständig genüge, wenn der Leb
rer die Reden sich vorlesen lasse und dabei die gröbsten Unrichtip-
keiten beseitige. In keinem Falle dürfe man dureh schonungslose und
peinliche Kritik dem Schüler die Lust an der Sache verkümmern. Wi
durch wiederholtes Öffentliches Auftreten das Selbstvertrauen und der
Mut wachst^ habe er in seiner Praxis an vielen Beispielen beobachtet.
Schon deshalb dürfe man diesen alten Brauch nicht abschaffen,
Schulrath Heiland aus Magdeburg: Unsere Redeacte seien die
letzten Ausläufer der alten, erst lateinischen > dann deutschen Schid-
comödien , hervorgegangen wie diese aus dem Bedürfnis 5 die Schuk
au gewissen Tagen an die Oeffentlichkeit heraustreten zu lassen tm<l
die Schüler fauf eine gelinde Weise' in dieselbe einzuführen. W»
schon Kammel bemerkt habe, sei die von Klix angestrebte Embeitlidi-
keit der Redeacte in früherer Zeit vorhanden gewesen, indem ein
Thema in verschiedenen Reden durchgesprochen worden sei. AllHu
eine solche Einheitlichkeit führe zu endloser Langweiligkeit und *6
daher, so historisch sie sei, nicht zurückzuwünschen, Er lege groaz&a
Gewicht auf die Redeacte als auf wahre f8prachfeste' der SchuL,
Leider hätten die letzten Decennien durch Weglassung der gri och i seht
'und hebräischen Reden und Gedichte die Wirkung der Acte nach di
ser Seite hin abgeschwächt. Das Ueberwiegen der deutschen Ked>
in unseren Schulacten sei zu beklagen; es führe nur zu leicht zu dr
von Peter angedeuteten Gefahren. Auch das Declamieren kleinerer
Schüler halte er für bedenklich, da durch dieses die Eitelkeit leicr;
Nahrung erhalte und in einem Lebensalter Zuversicht und Dreistigk-i
gefordert werde, in welchem die natürliche SehüchtErnheit eben nithi
überwunden, sondern vielmehr wie ein Heiligtum bewahrt werden solle
In jedem Falle sei das von Massmann gewünschte 'Freisprechen' abso-
lut unzulässig. Die lateinischen und griechische ü Verträge böten dt-u
Vorteil vor deutschen Reden, dasz ihre Wirkuug- nicht auf Damen und
sehwaehe Eltern berechnet und durch sie somit die Eitelkeit am we-
nigsten genährt werde. Der Redeactus sei allerdings* eine £mo€iEic,
wie das Examen, ja noch mehr als dieses; aber darin liege kein Kacb-
teil t wenn er nicht eine unwahre und trügerische ^Schaustellung1 sei
Auf das Moment, dasz durch die Redeacte das Bewußtsein der eorpo-
rativen Zusammengehörigkeit bei den Schülern geredet, werde, legt •
wenig Gewicht, um so weniger, da an manchen Orten aus räumlicütn
Rücksichten ein groszer Teil des Cötus gar nicht einmal zn den öfieiit-
liehen Redeacten zugelassen werde.
Eector Peter: Er habe sich keineswegs gegen die fls&acUj
überhaupt erklären, sondern nur auf gewisse Gefahren hinweisen wpl4
len» In jetziger Zeit dränge sich schon beim Schüler zu sehr das In-
dividuelle1 hervor. Man müsse diesen Punkt recht beachten, wollt
man den von ihm aufgeführten Gefahren und Uebelständen begegnen.
Direetor Hüser vertheidigt die deutschen Reden, da durch sie, so-
wie durch Gesänge und Declamationen, das Publicum am meisten an-
gezogen werde. In den Declamationen der Kleinen finde er nichts Be-
denkliches. *•
Dr. Schultz aus Berlin macht (nachdem er eine Notiz über eine
Vor wenigen Jahren in Arnstadt von ihm gesehene Schuicomödie vor-
geschickt, die wir leider genau wiederzugeben nicht im Stande sind)
den Vorschlag, da, wo räumliche Beschränkung es unmöglich mache,
dem ganzen Cötus die Teilnahme am Redeactus zu gestatten, die Schü-
ler der Unter- und Mittelciassen zur Generalprobe als Zuhörer zuzu-
lassen. Wn 8 Direetor Klix unter der f Einheit und dem festen Mittel-
punkt1 der Redeacte verstehe, sei ihm nicht recht klar und er bitte
um Auskunft darüber. Sicher meine er doch nicht eine solche Einheit,
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 103
wie sie ein am Grauen Kloster alljährlich stattfindender Rede actus habe,
bei dem zum Gedächtnis eines Wolthäters der Anstalt in mehreren Be-
den die Stadt Venedig, italienische Kunst und Litteratur gefeiert wird.
Um die allgemeine Teilnahme an Zarncke's Rede zum Gedächtnis
J. Grimm's möglich zu machen, wurde hier die Discussion abgebrochen.
Schlusz 10 Uhr.
Zweite Sitzung den 1. October. Anfang 10*4 Uhr.
Der Präsident recapituliert die Hauptpunkte der gestrigen De-
batte: man habe von allen Seiten die Wichtigkeit der Redeacte aner-
kannt, sowol um des durch sie vermittelten Verkehrs mit dem Publi-
cum willen als auch wegen ihrer formalen Seite als 'Sprachfeste' der
Schale; dagegen habe man sich noch nicht geeinigt über die Fragen,
ob vorhersehend deutsche Reden oder Reden in fremden Sprachen zu
halten und wie die von Klix gewünschte 'Einheit' der Redeacte zu ver-
stehen und zu erreichen sei.
Director Kl ix: Er meine natürlich mit der von ihm gewünschten
'Einheitlichkeit* nicht die mechanische der früheren Zeiten, deren Pra-
xis Prof. Kämmei sachkundig entwickelt habe, sondern eine idealere,
dasz nämlich durch einen leitenden Gesichtspunkt die einzelnen Vor-
träge in Zusammenbang unter einander gesetzt würden. So seien die
Reformations- und Melanchthonsfeiern in Wittenberg wahre Musteracte.
Er gehe aber noch weiter. Ganze geschichtliche Perioden könnten in
einzelnen Redeacten durch Reden und Declamationen veranschaulicht
werden. Er habe an seiner Schule eine derartige Einheitlichkeit der
Udeacte immer angestrebt und, wie er glaube, mit gutem Erfolg. —
Soch bitte er; über den Passus der These sich zu äuszern: dasz eine
häufige Wiederkehr von Schulfeierlichkeiten, besonders solcher, die
nicht im Leben der Schule begründet seien, nicht wünschenswerth er-
scheine, dasz besonders die musikalisch-theatralischen 'Abendunterhal-
tangen' gefährlich seien, da durch sie die Schüler zu halben Schau-
spielern würden.
Auf die hierauf vom Präsidenten erhobene Anfrage,, was man
mit den erwähnten 'Abendunterhaltungen', wo sie stattfänden, für Er-
fahrungen gemacht habe, berichtet Prof. Dr. Erler aus Züllichau,
dasz daselbst aus alter Zeit die Einrichtung von 12jährlichen Concerten
mit je 4— 5 musikalischen Piecen, Reden und Declamationen bestünde;
ohne die Frage im Princip besprechen zu wollen, könne er doch das
versichern, dasz die bewusten Abendunterhaltungen erstens vollkommen
unschuldig und harmlos seien, zweitens aber auch entschieden nützlich
zar musikalischen Ausbildung und Beseitigung falscher Scheu vor dem
Publicum. Bei diesen Aufführungen seien übrigens alle Schüler zugegen.
Der Präsident ist der Meinung, dasz der Thesensteller an den
Züllichauer Abendunterhaltungen, die ja nur eine Art gröszerer Fami-
lienfeste seien, woi keinen Anstosz nehmen könne und werde.
Director Kl ix bestätigt dies; Internate und Alumnate habe er über-
haupt bei diesem Passus seiner Thesen nicht im Auge gehabt.
Director Dietsch weist nach, wie derartige Abendunterhaltungen,
die bei geschlossenen Anstalten völlig unbedenklich, ja sogar sehr nütz-
lich und zweckmäszig sein könnten, doch ihre groszen Bedenken hät-
ten an freien Gymnasien, besonders wegen der an dieselben nach Schü-
lersitte leicht sich schlieszenden Bacchanalien.
Der Vorsitzende schlägt vor, nun zur Besprechung von These 4
'über Schulfeste' überzugehen.
Director Kl ix: Er habe auch in Glogau wie anderwärts, gewisse
historisch überlieferte Schulfeste vorgefunden, sein Bestreben sei nun
dahin gegangen, ihnen Inhalt zu geben. Zu diesem Ende habe er
z- 6. die Schulspaziergänge dadurch erstens belebt, dasz er Turnspiele
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104 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meisen*
nach dem Muster der olympischen eingeführt und an die Tüchtigsten
Medaillen vorteilt, ferner dadurch, dasz er sie auf patriotische Ge
denktage (z. E. den 18. Juni) gelegt habe. Er lüge besonderes Ge-
wicht auf den letBteren Punkt, da diese Feste so cio kräftiger Hebel
zur Weckung des Patriotismus und Gemeinsinnes werden konnten.
Probst Müller: Auch das Kloster iu Magdeburg habe ein Somm-r
fest im Walde mit Wettspielen und Siegespretscn» Solche Feste bilde*
ten ein Band zwischen Lehrern uud Schülern, nur müsten die Lehrer
sich nicht blosz passiv durch ihre Gegenwart, sondern wo möglieh activ
durch Leitung und Belebung der Spiele usw. an denselben beteiligen,
Director Unser findet das Mitspielen des Lehrers bedenklich.
Director Dietseh berichtet, dasz man in Plauen es vorgezogen
habe, classen weise mit den Schülern Spaziergänge auf halbe oder g&nz*
Tage zu machen. Dadurch würden die Schüler noch mehr genötigt,
an den Lehrer vertraulich sich anzusehliüszen; ein gemeinsames Fest
sei bei einer stark frequentierten Schule ohne grosze Geldmittel und
besonders günstige Lokalitäten schwer zu veranstalten und lasse leicht
Alle unbefriedigt.
Professor Dinter aus Grimma wünscht gröszere Ausdehnung die-
Ber Schul feste und widerlegt das Bedenken Hüscr'e.
Der Vor sitzende; Die These beziehe sich nicht auf Classenspa-
ziergänge, sondern auf Schulfeste, von denen die Debatte eben abge*
aeh weift sei. Für öchul feste wisse er nichts mehr zu empfehlen als
Turnspicle, die tüchtig einzuüben Sache des Turnlehrers sei, nur ziehe
er als Prämien den Medaillen die clasaischen ""Kränze* vor.
Professor Langbein aus Stettin ; An der Realschule zu Stettin
fände neben Clasaenspaziergiiogen ein Sommerfest statt; zu diesem
würden aber nur solche Schüler geladen, die sich durch Arbeiten und
kleine freie Leistungen um die Schule verdient gemacht oder einzelneu
Lehrer sich verpflichtet hatten.
Der Vorsitzende bemerkt, dasz auch ein derartiges Fest nicht
unter die Kategorie der allgemeinen Schulfeste falle, und weist hierauf
auf die Bedeutung des f Turnliedes* für Schul feate hin. Das einfache
Lied werde au wenig geübt, da der Geiiangunterricht in der Regel mit
derartigen einfachen Compositiouen sich zu befassen verschmähe.
Rector Klee aus Dresden teilt diesen Wunsch; darum möge man
den vierstimmigen Gesang recht cultivioren, da auf Gymnasien einmal,
besonders hei dem immer fühlbarer werdenden Mangel au guten Tenor-
stimmen, ein richtiger rMännergeftang' nicht erzielt werden könne. An
der Kreuzsehulo jgu Dresden werde sehr Tüchtiges im Gesang geleistet,
andererseits freilich auch die musikalischen Ucbungen übertrieben, in
dem ein Chorist durchschnittlich 108 Stunden im Jahr zu versäumen
genötigt sei.
Der Präsident betont namentlich den Punkt, dasz der Cötus eine
Anzahl einfacher Lieder, besonders patriotischer, mit Text und Melodie
stets präsent haben müsse; eine kimstmaszige Ausführung dieser Ge-
sänge sei ja gar nicht vonnoten.
Director Weutrup aus Salzwedeh Es sei Sache des Lehrers der
deutschen Sprache dafür zu sorgen, dasz die Texte der wichtigsten
Volks- und Vaterlandslieder den Schülern bekannt seien- dieser habe
sich zu diesem Zwecke mit dem Gesanglehrer in Einvernehmen zu
setzen.
Der Vorsitzende schlägt vor, die Discussion über diese Fragen zu
echlieszen und zum Schluszsatz von These 4 überzugehen, in dem spe-
ciell der Turnfeste Erwähnung gethan sei. Es erfolgt kein Wider-
spruch,
DirectoT Kli je ; Aus gutem Grunde habe er die 'Turnfeste' aus-
drücklich mit aufgeführt, da das Turnen noch immer nicht genügend
cultiviert werde* Er habe in Glogau seit 2 Jahren Turnfeste gehalten,
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 105
indem er das Sommertarnen mit einem Feste geschlossen habe. Dasz
der Turnplatz der Ort für derartige Feste sei, erscheine ihm selbstver-
ständlich.
Der Vorsitzende bemerkt, dasz auch er — früher seltener, in
den letzten Jahren ziemlich regelmäszig — ein ( Schauturnen' (leider
ohne Gesang, da passende Lieder nicht eingeübt worden wären) abge-
halten und die Beobachtung gemacht habe, dasz nicht nur die Schüler
dabei sich sehr eifrig, sondern auch das Publicum sehr teilnehmend
gezeigt habe.
Professor Lechner aus Erlangen (vom Vorsitzenden zum Sprechen
aufgefordert) verwirft zuvörderst den Ausdruck 'Schauturnen'. Er fasse
die Turnfeste einfach als eine Prüfung auf mit dem Nebenzweck, das
Publicum über das Wesen, die Aufgabe und Methode des Turnens auf-
zuklären. Alle Aeuszerlichkeiten habe er immer möglichst vermieden,
wenigstens beschränkt, dagegen sei er auf Abwechselung in den Uebun-
gen bedacht gewesen. Eine bestimmte patriotische Tendenz habe er
weder in seinen Reden noch in dem Arrangement des ganzen Festes
verfolgt, durch welches nach seiner Ansicht nichts mehr und nichts
weniger erreicht werden solle, als dasz dem Publicum im heiteren
Spiele ein Bild f strenger Zucht» vorgeführt werde. Hierauf verbreitet
sich der Redner in beredter Sprache über die von ihm schon auf einer
früheren Philologenversammlung warm vertheidigte Spieszsche Methode
nnd gibt specielle Rathschläge, wie in die vorzuführenden Uebungen
zugleich Abwechselung und Methode zu bringen sei.
Rector Klee ist ebenfalls gegen das 'Schauturnen' mit Prämien.
Bas Tarnfest habe einfach als Prüfung zu gelten, nach deren Erfolg
*ie in anderen Unterrichtsfächern die Censuren festgestellt würden.
Beiläufig gibt er die Notiz, dasz neuerdings auch auf der Kreuzschule
das Turnen, und zwar für Prima bis Tertia facultativ, für die unteren
Clmea obligatorisch , eingeführt worden sei und er die gute Einwir-
kung desselben an der Haltung der Schüler auch in den Lehrstunden
wahrgenommen habe, eine Erfahrung, die Probst Müller durch die an
seiner Schule gemachten Beobachtungen bestätigt.
Professor Lechner: Das Spieszsche System empfehle sich beson-
ders auch für Turnfeste. Indem es nicht blosz einzelne eitle Virtuosen,
sondern Alle in gemeinsamer Uebung vorführe, mache es das Prüfungs-
turnen zu einem wahren Schulfeste, was es ja doch auch im Sinne des
Thesenstellers sein solle.
Da nach einigen an diese letzten Worte sich reihenden kurzen
Bemerkungen von Wagler, Klix, Klee Niemand weiter das Wort be-
gehrte, so wurde nach einem kurzen Schluszwort des Thesenstellers,
in dem derselbe für die seinen Sätzen geschenkte Teilnahme und die
durch die Debatte ihm zuteil gewordene Belehrung dankte, nach dem
Vorschlag des Vorsitzenden übergegangen zu den von Professor Dr.
Fö8z aus Berlin angekündigten: Vorschlägen zu einer engeren
Verbindung des geschichtlichen und geographischen Un-
terrichts.'
Professor Fosz: Von vielen Seiten werde, besonders in Preuszen,
aber die geringe Berücksichtigung des historischen, besonders aber des
graphischen Unterrichts im Lehrplanj der Gymnasien geklagt. Die
j0 den Examinibus zu Tage tretenden Resultate des Unterrichts in
beiden Fächern seien allerdings im Allgemeinen sehr unbefriedigende.
Dieser Mangel sei auch in Preuszen von den vorgesetzten Behörden
^erkannt und vom Redner in langjähriger und vielseitiger Erfahrung,
besonders bei Examinibus, schmerzlich empfunden worden. Der Grund
dieser Erscheinung liege in verschiedenen Umständen, z. B. darin, dasz
^Universitäten Geographie in der Regel gar nicht (zur Zeit nur
wf einer Universität) oder wenigstens nicht für zukünftige Schulmän-
ner vorgetragen werde, besonders aber an der mangelnden Verbindung
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 18Ö4. Hft. 2. 8
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106 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meisten.
von Geographie und Geschichte im Unterrichte. Gewöhnlich werde
auf den Gelehrtenschulen die ganze Geographie dreimal, die Geschichte
zweimal durchgenommen, aber beide Unterrichtsgegenstände, zumal
wenn sie verschiedenen Lehrern anvertraut wären, liefen meist voll-
ständig zusammenhanglos neben einander her. Der Geschichtsunter-
rieht nähme nur gelegentlich auf den Boden und die speciellen Lokal-
verhältnjsße Rückzieht, unter denen und nach denen die geschichtlichen
Ereignisse sich entwickelt haben, der Lehrer der Geographie begnüge
sich meist damit, die Elemente der physischen Geographie und dann in
gröözerer Ausführlichkeit die politische Geographie zu behandeln. Auf
diesem Wege komme der Schüler zur Klarheit und Bestimmtheit weder
des geschichtlichen noch des geographischen Wissens. Der Redner
machte hierauf gewisse Vorschläge, beide Unterrichtsgegenstände enger
in Verbindung- zu bringen, oder vielmehr er brachte in einer reichen
Auswahl von Heispielen die Methode zur Anschauung, nach der er bei
seinem Unterricht in beiden Fächern zu verfahren pflege. Wir müssen
es uns versagen t die Einzelheiten dieses anregenden Vortrags wieder-
k uneben, einerseits weil nicht einmal die Feder des Stenographen dem
Eedeflnsz des Sprechers zu folgen vermochte, andererseits weil die Be-
deutung und der Heiz dieser methodischen Winke in einem dürren Aus-
zug völlig schwinden würde.
Der Vorsitzende ermahnt, bei der Debatte sich auf die rein
didaktische Frage au beschränken.
Professor Oertol aus Meiszen erklärt, dasz er die trübe Anschauung
des Redners rüeksichtlich der in Geographie und Geschichte auf den
Gymnasien durchschnittlich erreichten Resultate nach seiner langjähri-
gen Erfahrung nicht zu teilen vermöge; vielleicht habe der Redner
seine Anforderungen au hoch gespannt. Auch er sei der Meinung, dasz
solide und bleibende Kenntnisse in beiden Fächern nur durch einen
solchen Parallel ismus erzielt werden könnten: es sei dies allgemeiner
anerkannt und werde auch praktisch allgemeiner ausgeübt, als Pro-
fessor Fosz meine. Auch er habe immer darauf gehalten, dasz die
Schüler z. B. durch die ganze Schule eines und desselben Atlanten
sich bedienten , und sei immer darauf bedacht gewesen, das Wandel-
bare (Geschichtliche) mit dem Bleibenden (physische Geographie) zu
verbinden und auf dieses zu begründen.
Director Professor Kämmel aus Zittau: Er stimme in der Frage,
ob in den bc wüsten Fächern im Allgemeinen auf unseren Schulen Ge-
nügendes geleistet werde, mehr mit dem Herrn Professor Fosz als mit
dem lotsten Redner überein. Auch er habe die Erfahrung gemacht,
dasz die Schüler der oberen Gymnasialclassen , besonders in der Geo-
graphie, sehr unwissend zu sein pflegen. Er leite diese Erscheinung
von drei Ue beiständen her': 1) württen beide Fächer noch viel zu sehr
als Gedächtnissachen behandelt, 2) sei meist der Unterricht in densel-
ben verschiedenen Lehrern anvertraut und dadurch ein methodisches
Ineinandergreifen beider unmöglich gemacht, 3) könne die Geographie
in den Öberclassen nur en passant von dem Lehrer der Geschichte be-
rücksichtigt werden, da keine besonderen Lectionen dafür angesetzt
seien, und dabei lasse sich nichts Gründliches erreichen. Solle daher
nicht in futuram oblivionem gelernt werden, so müsse man allen Ern-
stes darauf bedacht sein, den historischen Unterricht auf das in der
Geographie Gelernte zu begründen, den reichen Stoff recht gewissen-
haft zu verteilen und, wenn irgend möglich, beide Fächer in die Hand
eines Lehrers au logen.
Director Kl ix findet die Schilderung von Fosz über den in Preu-
szen vorhandenen rNotstand' in Geschichte und Geographie stark über-
trieben. Professor Fosz habe auf seine (hauptsächlich beim Fähndrichs-
examen gemachten) Erfahrungen allgemeine Behauptungen begründet,
die für das ganze Königreich Preuszen unmöglich zugegeben werden
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 107
könnten. Zu jenen Examinibus pflegten bekanntlich die Gymnasien
nicht ihre besten Schüler zu schicken. Uebrigens hänge gerade bei
diesen Fächern mehr als bei anderen von dem Geschick oder Unge-
schick der Lehrer ab , so dasz die Erfahrungen an den verschiedenen
Schulen gerade in diesem Punkte sehr abweichen dürften.
Professor Schäfer aus Greifswald: Der geographische und ge-
schichtliche Unterricht habe sich in den letzten 10 Jahren sehr ge-
hoben; dies müsse man zugestehen. Dennoch spüre man auf den Uni-
versitäten noch wenig den Einflusz dieser Veränderung zum Besseren;
leider kämen viele Studenten sogar ohne Atlanten zur Universität.
Wichtig sei daher, dasz man dafür sorge, dasz die Kenntnisse in den
oberen Classen, wenn nicht vermehrt, wenigstens conserviert würden;
die Schule allein könne dies nicht leisten, daher sei der Schüler recht
zur privaten Leetüre guter geographischer Werke anzuleiten. Die von
Professor Fosz angeführte Methode billigt der Redner besonders für
Bepetitionen ; beim eigentlichen Unterricht könne sie leicht zu Haschen
nach methodischen Kunststückchen, zu einem aphoristischen, springen-
den Vortrag führen. Der Redner schlieszt mit Worten des Danks und
der Anerkennung für den als Mitglied der Philologenversammlung an-
wesenden Professor Kiepert, der, praktisches Geschick mit Wissen-
schaftlichkeit verbindend, ,den Schulen viel4 mehr genützt habe als
Spruner durch seine an der rechten plastischen Anschaulichkeit erman-
gelnden Kartenwerke.
Professor Lazarus aus Bern: Obgleich nicht Schulmann, erlaube
er sich doch das Wort zu ergreifen, , da die von Professor Fosz ange-
regte Frage eine tief eingreif ende , nicht blosz für die Schule, sondern
auch für die Psychologie und psychologische Pädagogik sei, die Frage,
iame weit die Schule dem Zuge der Zeit, durch Teilung der Gebiete
und beziehentlich der Arbeit einzelne Disciplinen selbständig heraus-
zuarbeiten, nachgehen dürfe. Nach seiner Ansicht habe die Pädagogik
beiden Principien, dem wissenschaftlichen und psychologischen Rech-
nung zu tragen und die einzelnen Gebiete bald in ihrer Selbständigkeit
bald in ihrem Zusammenhang mit allen übrigen Gebieten des Wissens
zu behandeln. Professor Fosz habe sehr anregende und dankenswerthe
Winke, wie dies didaktisch zu erreichen sei, in Betreff der geogra-
phischen Wissenschaft gegeben. Dasz er nichts wesentlich Neues vor-
getragen habe, beweise die Uebereinstimmung der folgenden Redner '
mit ihm, die sämtlich die Anschaulichkeit des geographischen Unter-
richts betont und den gründlichen Nachweis, wie die historischen That-
sachen mit dem Boden, auf dem sie spielten, zusammenhingen und
von seiner eigentümlichen Gestaltung ab hingen, im Unterricht gefor-
dert hätten. Schon vor 20 Jahren sei ihm, als Schüler der oberen
Classen des Gymnasiums zu Braunschweig, von einem tüchtigen Lehrer
in der angegebenen Weise die Geographie vorgeführt worden. Die
Pädagogik habe aber durch Aufstellung einer festen Methode dafür zu
sorgen, dasz in dieser Wissenschaft nicht so viel wie bisher der Per-
sönlichkeit der einzelnen Lehrer überlassen bleibe und bei den Schü-
lern der mittlere Durchschnitt zwischen genialer Einsicht und Borniert-
heit erreicht werde, den zu erreichen Aufgabe einer nach Grundsätzen
verfahrenden Pädagogik sei. Wodurch sonst sei die von Jahrzehnd zu
Jahrzehnd bemerkbare Hebung des geographischen Unterrichts herbei-
geführt worden als durch die von den Persönlichkeiten der Lehrer un-
abhängige verbesserte Methode? Er wolle für eine solche Methode
zweierlei Grundsätze aufstellen : 1) mnemotechnische Kunstgriffe und
zufällige Ideencombinationen producierten nur Kenntnisse, nicht
wirkliche Erkenntnisse d. i. völlige Durchdringung des Lernstoffes;
2) indem man den geographischen Unterricht zur Basis des geschicht-
lichen mache, dürfe man den mächtigen Einflusz des die Natur sich
dienstbar machenden Menschengeistes neben dem Einflusz der geogra-
8*
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108 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw, in Meisen*
pbischen und physikalischen Verhältnisse nicht unterschätzen, das Ob-
jeetive nicht zu umseitig verfolgen, vielmehr müsse man dem Materia-
iis tischen das Psychologische und zwar als das Höchste und Wichtigste
parallel gehen lassen. Nach diesen Grundsätzen seien auch die von
Fq$% gemachten Vorschläge zu beurteilen, die in anregender Weise
den Gegensatz von todtem und lebendigem, ferner von unmittelbarem
und zusammenhängendem Wissen veranschaulicht hätten. Die von Käm-
me! gemachte Scheidung von Gedächtnis und Anschauung verwirft der
Üedner, da die Anschauung von jenem sich nicht loslösen lasse, und
führt dafür den Gegensatz von verbalem und anschaulichem Ge-
dächtnis ein.
Director Die t seh erinnert daran, dasz er schon zu Braunschweig
Thesen über den geographischen Unterricht gestellt habe, und erkennt
an, dasz in der Zwischenzeit viele Bausteine zum Ausbau dieser Dis-
üiplin und zu einer festen Methodik zusammengetragen worden seien.
Professor Fosz erklärt sich ganz einverstanden mit den von La-
zarus aufgestellten Grundsätzen; wenn er auch den idealen, psycholo-
gischen Faktor in seinem Vortrag weniger betont habe, so habe er ihn
doch keineswegs ausschKeszen , ja nicht einmal zurückstellen wollen,
sowie er auch andererseits immer darauf bedacht gewesen sei, dasz in
den Köpfen der Schüler nicht blosz leichte Ideencombinationen, son-
dern gründliche Ideenverbindungen erzeugt würden.
Da keiner der Versammelten mehr das Wort begehrte, so sehlosz
der Vorsitzende diu zweite und letzte Sitzung der pädagogischen
Section mit Worten des Dankes an alle die, welche den Arbeiten der
Section activ und passiv Teilnahme geschenkt, wobei er besonders die
so warmen, gedankenreichen und begeisterten Worte des Herrn Pro-
fessor Lazarus hervorhob, und mit dem Wunsche, dasz man, da die
Augsburger Besehlüsse , welche zwei ganze Tage den Sectionssitzungen
einräumten, sieh nicht bewährt hätten, künftighin zu der früheren Ein-
richtung wieder zurückkehren möge. *
2) Verhandlungen der germanistischen Section.
Dienstag, den 29. September. Nach Schlusz der aligemeinen
Sitzung constituierte sich die germanische Section und ernannte zu
ihren Secretären die Herren Dr. Bechstein aus Leipzig und Dr. Koch
aus Grimma,
Mittwoch, den 30- September, 10 Uhr Morgens versammelte sich
die Section in dem Festsaale der Fürstenschule, da in der ersten all-
gemeinen Sitzung die gesamte Philologenversammlung den Wunsch aus-
gedrückt hatte, der Eröffnungssitzung dieser Section in corpore bei-
wohnen zu können. Der Vorsitzende , Prof. Dr. Zarncke aus Leipzig,
eröffnete die diesjährigen Sessionen der Germanistenabteilung mit einer
tiefergreifenden, weil ans einem tiefbewegten Herzen heraus gesproch-
en Gedächtnisrede auf den vor wenig Wochen verstorbnen, nicht nur
der altdeutschen Wissenschaft, sondern dem ganzen deutschen Volke
unersetzlichen Jacob Grimm, Der Redner wies daraufhin*), wie es
ohne Jacob Gnmm's Arbeiten schwerlich eine Germanistensection geben
würde* Er sei ja doch der eigentliche Gründer deutscher Sprachwissen-
schaft nnd habe sieh mit einer Vielseitigkeit auf diesem Gebiete be-
thiitigt, dasz die Specialforschej in den verschiedensten Fächern nichts
*) Das folgende Referat verdankt der Berichterstatter der Güte des
Secretärg der Section, Dr. Koch aus Grimma, dessen Aufzeichnungen
er — mit geringen Acnrtemngen in der Fassung — einfach wieder-
gegeben hat.
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Bericht Ober die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 109
andres zu tlran hätten, als sein Werk auszubauen. Seine Begabung
sei durchaus der Begabung der deutschen Nation congenial gewesen,
darum würden auch für alle Zeiten seine Werke ein Schatz der ganzen
Nation und eine Zierde ihrer Litteratur bleiben. Der Redner charak-
terisierte hierauf in allgemeinen Zügen die litterarische Wirksamkeit
des einzigen Mannes, von dessen gröszeren Werken ein jedes eine neue
Epoche der altdeutschen Studien herbeigeführt habe. Zum Schlusz ent-
warf der Redner noch ein mit Liebe und Gemüt gezeichnetes Charakter-
bild des Heimgegangenen und rief ihm ins Jenseits den Dank für die
liebevolle Teilnahme , bereitwillige Unterstützung und Förderung nach,
deren sich in ganz besonderm Masze die Genossen im gleichen Studium
tod ihm zu erfreuen gehabt hätten. Durch seinen Hingang sei die
Schale der Germanisten gleichsam verwaist und führerlos geworden;
darum gelte es, der groszen Verpflichtungen und Aufgaben, die die
Wissenschaft an die noch Lebenden stelle, ernst sich bewuszt zu wer-
den, damit die Zurückbleibenden im Geiste dessen fortarbeiteten, der
— zu früh für die Wissenschaft wie für seine Schüler und Freunde —
von diesem irdischen Arbeitsfelde abgerufen worden sei. Indem er so
seinen Blick auf die Zukunft der germanistischen Wissenschaft lenkte,
hiesz der Vorsitzende mit herzlicher Freude die Vertreter romanischer
Philologie willkommen, die diesmal zum ersten Male zu gemeinschaft-
liehen Sitzungen mit den Germanisten zusammengetreten seien , f da erst
mit diesen zusammen die Germanisten - eine wissenschaftliche Disciplin
repräsentierten, die ihren Schwerpunkt in sich selber habe'. Hierauf
verlas der Vorsitzende ein an ihn als Präsidenten der germanistischen
Section gerichtetes Handschreiben Sr. Majestät des Königs Johann,
dessen oben in den Sitzungsberichten der allgemeinen Versammlung
Weite gedacht worden ist.
Nachdem hierauf die Section sich in das ihr zugewiesene Lokal
begeben, hält Vicepräsident Prof. Möbius aus Leipzig einen Vortrag
'über die Teilnahme der scandinavischen Gelehrten an der
germanischen Philologie'.
Eierauf beantragt Hoff mann v. Fallersieben, einen Aufruf zur
Stiftung eines Denkmals für Jacob Grimm an das deutsche Volk zu
erlassen. Nach kurzer Debatte einigt man sich dahin, von diesem Pro-
jecte die aligemeine Versammlung in Kenntnis zu setzen.
Donnerstag, den 1. October, 8 Uhr früh.
Den Vorsitz führt Vicepräsident Möbius, da Zarncke durch Un-
| Wohlsein behindert ist zu erscheinen. ,
; Bartsch aus Rostock referirt über die von ihm kürzlich in Pfei-
! fer's Germania mitgeteilten Bruchstücke des ältesten uns bekannten
i deutschen Passionsspieles aus dem Anfang des 13n Jahrhunderts, be-
I schreibt die in der Aarauer Cantonsbibliothek befindliche Pergament-
| handschrift und schlieszt daraus, dasz die Blätter nicht von rechts nach
i links, sondern von oben nach unten umzuschlagen seien, dasz das Stück
nun Aufführen gedichtet gewesen sei.
Mass mann aus Berlin erinnert sich, in Stuttgart eine Handschrift
der mirabilia urbis Komae gesehen zu haben, welche lang geschrieben
. ?wesen sei, so dasz man das Blatt, anstatt es umzuwenden, nur fort-
zurücken gebraucht habe.
Bechstein aus Leipzig schlägt vor, der 'Germania' ein Feuille-
ton beizugeben, desgleichen die seit einiger Zeit ins Stocken gerathene
Zeitschrift von Frommann in Nürnberg cdie deutschen Mundarten' wieder
ins Lehen zu rufen, und teilt mit, wie er seine Zeitschrift (das f deutsche
Museum') fortzusetzen gedenke.
Ueber die Frommannsche Zeitschrift entspinnt sich eine Debatte
zwischen Massmann, v. Raumer und Bechstein. Man beschlieszt,
Frommann die lebendige Teilnahme und das Interesse der Germanisten
für die Fortsetzung seines Werkes zu versichern.
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110 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Me
Es folgt der Vortrag von Mahn aus Berlin füber den gegen-
wärtig e n S t a n d der r o m a n i s c h o n P b il o 1 o g i e nebst Vorschlägen,
sie immer mehr zu verbreiten.' Man solle Gesellschaften für das Stu-
dium der neuern Sprachen gründen, welche durch esoterische und exo-
te ria che Vortrage , durch Aussetzung von Reisestipendien, Unterhaltung
einer Zeitschrift als ihres besondeni Organs diese Wissenschaft zu för-
dern suchen sollten. Es müsse unbedingt auf diese Sprachen mehr Zeit
verwendet, diu betreffenden Autoren m listen in besondern Seminarien
für neuere Sprachen in ihrer eignen Sprache mündlich und schriftlich
erklärt werden*
Da sich an diesen Vortrag keine Debatte schlosz, so ergriff Gym-
nasiallehrer Lökke ans Christlania das Wort, um Prof. Möbius für
seinen tags znvor gehaltenen Vortrag zu danken; ces sei ihm erstaunlich
gewesen, wie ein Fremder eine so gründliche Besprechung der germa-
nistischen Studien seiner Landsleutc habe geben können9. Aufgefallen
sei ihm nur, dasz Rask's Verdienste nicht genug anerkannt worden
seien. — Möbius verteidigt seine Charakteristik des Genannten und
Massmann tritt ihm bei.
Mussafia aus Wien macht Mittei Iniigen über ein kürzlich von ihm
herausgegebnes Gedicht: fla prise de Pampelune', welches eine
Lücke in den poetischen Darstellungen von KarVs Zug nach Spanien
ausfülle; der Abfassung nach gehöre es in die zweite Hälfte des 13.
Jahrhunderts, die Sprache sei so sonderbar gemischt, dasz sich schwer
sagen lasse , ob das Altfranzösische oder Venetianische vorwiege.
Der Vizepräsident bringt zur Kenntnis der Section, dasz als
Ort der nächsten PhilologcNversammluug Hannover gewählt worden sei,
und schlägt als Sectionsprasidentcn Für «las nächste Jahr vor: die Her-
ren W, Müller (Germanist) und Tb. Müller (Romanist), beide in
Göttlngen T welcher Vorschlag einstimmig angenommen wird.
Nach einer Panse halt Dietrich aus Marburg einen Vortrag über
die 'nordischen Runen' und sucht aus den Namen und der Gestalt
der einzelnen Kimen nachzuweisen, dasz dieselben ursprünglich 'eine
von den Germanen erfnndne Bilderschrift7 waren. — Massmann findet
die von Dietrich versuchten Deutungen snhjectiv und bringt das Runen-
alphabet mit dem pliönieJsch-griechiKchen in Zusammenhang. — Der
Redner vertheidigt sich gegen den Vorwurf subjeetiver Willkür und
sucht nachzuweisen, dasz er nach streng wissenschaftlicher Methode
verfahren sei.
Die tags zuvor abgebrochne Debatte über ein zu Ehren Jacob
Grimma zu stiftendes Ehrendenkmal wird wieder aufgenommen. Mass-
mann schlägt eine f Grimm Stiftung* vor, aus deren Fonds tüchtige
Werke auf dem Gebiet altdeutscher Wissenschaft prämiirt oder Reise-
stipendien verliehen oder die Mittel zur Auffindung und Benutzung noch
verborgner Handschriften geliefert werden sollten. — Mussafia räth,
die Hauptversammlung zu ersuchen, eine Commission zu ernennen, die
im nächsten Jahre in Hannover bestimmte Vorschläge für eine Grimm-
stiftung den versammelten Philologen unterbreiten solle. — v. Raum er
dagegen schlügt vor, dasz diese Commission aus der Mitte der Section
ernannt werde. Die Section geht auf letzteren Vorschlag ein; es wer-
den die 5 Herren: Wetgand, v. Raumer, Bartsch, Zarncke und
Hildebrand zu Mitgliedern dieser Commission gewählt und es wird
bestimmt» dasz der Hauptversammlung von der Einsetzung und Be
Stimmung dieser Commission oftlciell Anzeige gemacht werde.
Freitag, den 2. Öctober, 8 Uhr früh, Zunächst wurde ein von
dein unterdessen wegen Unwohlseins abgereisten Präsidenten der Section
abgefasKtes Sehreihen vorlesen, in welchem derselbe den Wunsch aus-
sprach, dasz die Commission für die Orimmstiftung erweitert und eine
Entscheidung für ein bestimmtes Frojeet baldigst herbeigeführt werden
möge. Nach längerer Debatte bescnlosz man, den gestrigen Beschlusz
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Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen. 111
aufrecht zu erhalten. Hieran reihte sich der von allen Mitgliedern
mit der gespanntesten Aufmerksamkeit entgegengenommene Vortrag von
Hildehrand aus Leipzig f über die deutschen Dialekte', welcher
eine lebhafte und interessante Debatte hervorrief. Schlusz der Sitzung
gegen 9 Uhr. — In der unmittelbar darauf folgenden letzten allgemei-
nen Sitzung ward das vom Präsidium der Germanistensection in Betreff
der Grimmstiftung erlassne Schriftstück vom Vieepräsidenten Director
Dietsch der Versammlung vorgetragen.
3) Verhandlungen der orientalischen Section.*)
Die Section der Orientalisten wurde in ihrer ersten Sitzung,
Dienstag den 29. Sept., durch den Präsidenten Prof. Dr. Flügel aus
Dresden mit einigen Worten der Begrüszung und einem kurzen Rück-
blick auf die bisherige, jetzt 19jährige Thätigkeit des Vereines deut-
scher Orientalisten eröffnet, worauf zur Constituierung des Bureaus
geschritten wurde. Auf Vorschlag des Präsidenten nahm die Gesell-
schaft Prof. Graf aus Meiszen als Vicepräses, Dr. Fr. Müller aus
Wien und Dr. Mühlau aus Leipzig als Secretäre durch Acclaination
an. Nach Ankündigung der zu haltenden Vorträge gab Prof. Arnold
ans Halle, als Secretär der Deutschen Morgenl. Gesellschaft, den Ge-
schäftsbericht des Secretariats und der' Bibliothek für das verflossene
Geschäftsjahr, wonach die Gesellschaft gegenwärtig aus 12 Ehrenmit-
gliedern, 31 correspondierenden und 340 ordentlichen Mitgliedern be-
steht. Die Bibliothek hat sich um 53 Werke und 3 Nummern Hand-
schriften, Münzen u. dgl. vermehrt; erstere schlieszen mit Nr. 2509,
letztere mit 300 ab. An diesen Bericht knüpfte der Präsident den
mit allgemeiner Zustimmung angenommenen Vorschlag , eine Sammlung
von Photographien deutscher und ausländischer Orientalisten von Seiten
der D. M. Gesellschaft anzulegen und die Mitglieder zur Einsendung
ihrer Photographien an das Secretariat durch die Zeitschrift aufzufor-
dern. Es folgte der Redactionsbericht des Redakteurs der Zeitschrift
der D. M. G., Prof. Brockhaus in Leipzig, der sich über die gegen-
wärtigen und zunächst beabsichtigten litterarischen Unternehmungen
der Gesellschaft verbreitete. Nachdem mit Ernennung der Commission
zur Prüfung der Jahresrechnung die geschäftlichen Angelegenheiten
abgemacht waren, wurde zu den wissenschaftlichen Vorträgen und Mit-
teilungen geschritten. Stadtpfarrer Dr. Wolff aus Rotweil legte zwei
Photographien des im Besitze Sr. Maj. des Königs. von Württemberg
befindlichen Models der Heil. Grabeskirche in Jerusalem zur Ansicht
vor und brachte einige erläuternde Bemerkungen bei, denen dann noch
Consul Rosen aus Jerusalem interessante Mitteilungen über die be-
treffenden Legalitäten, namentlich über die el-Chankeh, des Spital
Saladins, hinzufügte. Prof. Rödiger aus Berlin sprach über ein im
Berliner Antiquarium befindliches Münzbild von Nebukadnezar , welches
im Gypsabgusse vorgelegt wurde, und Prof. Oppert aus Paris gab auf
Aufforderung des Vortragenden noch weitere Erläuterungen dazu. Den
Schlusz der ersten Sitzung machte Prof. Gosche aus Halle mit dem
Vortrage des wissenschaftlichen Jahresberichtes für 1862/3, für dessen
ganze Mitteilung jedoch die Zeit zu kurz war, weshalb für das Uebrige
auf die Publikation des Jahresberichtes in der Zeitschrift verwiesen
wurde, in der überhaupt die gehaltenen Vorträge gedruckt erscheinen.
*) Obige Mitteilungen verdankt der Berichterstatter der Güte des
Herrn Prof. Dr. Arnold in Halle, des Secretärs der deutschen mor-
genländischen Gesellschaft, dem er hiermit herzlichen Dank sagt.
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Bricht ulier die Versammlung lettischer Phil v. m
Den ersten Teil der zwoit.cn Sitz un ff, Mittwoch der
nahmen geschäftliche, auf die D. M. GeBeUseh. Bezug habende Mit-
teihingen ein*), darunter auch eine Aufforderung zu einer Subscn,
für ein dem verstorbenen Geh, Kirchenrath Prof. Dr. K nobel in Giessen
zu errichtendes Grabdenkmal. Hierauf folgten die Vorträge des Prof,
Dieterici aus Berlin Tüber die unter dem Namen Diwan es-F
die lauteren Brüder, bekannte arabische Philosophensekt e\
wozu Prof. Fleischer einige sprachliche Bemerkungen gab, und des
Prof. Weber aus Berlin füber d ie Menschenopfer bei den alu*n
Indern', der aber nicht ganz zu Ende gebracht werden konnte, da
die Section die in der allgemeinen Versammlung gehaltenen Vorträge
des Dr. Mordtniann aus Coustantinope! füber die Zigeuner' und da
Prof. Gosche 'über die alt-phryglseben Inschriften* mit anhören wollt<
weshalb die Sitzung schon um 11 Uhr geschlossen wurde.
In der dritten Sitzung, Donnerst, d. 12. Öetob. , beendigte zu-
nächst Prof. Weber den angefangenen Vortrag. Nach hierauf erfolg
ter Ergänzungswahl des Vorstandes der D.M. Ges. hielt Prof. Oppert
einen Vortrag füber alt assyrische liturgische Inschrift
und Prof, Weber gab die exteiuporirte Uebersetzung eines in ei
scher Sprache eingereichten interessanten Aufsatzes des als Teilnehmer
an der Versammlung gegenwärtigen Mr. Dr, Long ans Caleutta über
den gegenwärtigen Zustand der orientalischen Studien in Indien. Dr.
Zenker aus Leipzig knüpfte an die Vorlegung des on Heftes sein
türkischen Lexikon einige Bemerkungen über die Herausgabe diese
Werkes und suchte um die Unterstützung derselben von Seite der D, ~
Gesellscb. nach, die auch von der Versammlung dem Vorstände, wel-
cher allein über die Geldangelegenheiten der Gesellschaft zu entschei-
den tat, empfohlen wnrde. Zuletzt spraeh Dr. Levy ans Breslau übe
den so eben erschienenen 3n Band seiner phouizischen Studien, in
besondere über 90 in Carthago neuerlich gefundene phöntzisehe In
Schriften , worauf die Versammlung in herkömmlicher Weise gesch.li
sen wurde.
Als Teilnehmer an der Versammlung haben sich 47 Mitglieder eh
gezeichnet.
4) Verhandlungen der archäologischen Section.1)
Nachdem bereits im vergangenen Jahre zu Augsburg vielseitig der
Wunsch geftuszert worden war, eine archäologische Section zu b»
den, so vereinigten sich auf der diesjährigen Versammlung eine Anzah
von Mitgliedern zur definitiven Com tituierun g und es konnte die erst
Sitzung Mittwoch d. 30. Septhr. 9 Uhr unter erfreulicher Beteiligung1
eröffnet werden.
*) Das Ausführlichere wird der in der Zeitsehr. der D* M. Ges.
erscheinende protokollarische Bericht über die Versammlung in Meiszen
enthalten.
1) Der Berichterstatter gibt im Obigen wörtlich die Aufzeichnun-
gen wieder, die Herr Dr. Alfred Schöne in Leipzig ihm gütigst zu
Verfügung gestellt bat.
2) Die Mitgliederliste weist am Sehlusz folgende Namen auf: Hett-
ner> Bursian (Tübingen), Dr. P, Becker, Bein, D, Schubert (Bautzen),
Koner, Comfort (Neuyork), Schicbowski (Petersburg }, de Ruggiero I
Prof. W. Zahn (Berlin), Overbeck, D. Volkmann (Pforta), Schäfer
[Greif swaldj , D. Schöne (Leipzig) , Dr. Kuhn .(Dresden), Prof. Berg-
mann (Brandenburg), D. Üohmke (Leipzig), Viecher (Basel), M.Hertz
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Bericht Über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Meiszen, 1 13
Auf allgemeinen Vorschlag- übernahm Prof. Ov erb eck aus Leipzig
den Vorsitz und wählte zum Schriftführer Dr. A. Schöne aus Leipzig,
— Nach einigen begrüszenden und einleitenden Worten de« Vorsitzen-
den be8chlosz die Section, für die nächste voraussichtlich in Hannover
stattfindende Versammlung Prof. Wieseler aus Göttingen tum Vor-
sitzenden zu wählen und denselben schriftlich hiervon zu benachrich-
tigen.
Hierauf sprach Prof. W. Vischer aus Basel über die Ergebnisse
der neuesten Ausgrabungen am Dionysostheater in Athen. Da der
äii8zer8t interessante Vortrag in extenso in dem Neuen schweizerischen
Museum 1863 Nr. 1 und 2—4 bereits abgedruckt ist, so verweisen wir
%uf diese Zeitschrift und erwähnen nur, dasz diese Mitteilungen von
der Versammlung mit ungeteilter Beistimmung aufgenommen wnrrien,
so auch insbesondere die Vermutung, dasz die sogen. Valerianische
Mauer viel späteren Ursprunges sei und etwa ans der Zeit der fränki-
schen Herzöge herrühre. Auf Befragen des Dr. Hui t seh aus Dresden
wird bemerkt, dasz das zu Grunde liegende Masz das kleinere Stadion
zu sein scheine. Schlieszlich erwähnt der Vortragende noch, dasz eiun
bei den Ausgrabungen gefundene Basis mit der Inschrift MENANAPOC
in den Maszen völlig mit dem Plinthos der Vatikan. MenanderHtAlue»)
übereinstimme. Auf einen Einwand von Prof. Bursi an, dasz nach Ana-
logie der übrigen Dichterstatuen wol auch der Menander nicht aus
Marmor, sondern aus Bronze gewesen sein werde, wird von dem Hed-
ner mit der Bemerkung entgegnet, dasz man im Dionysostheater noch
Bruchstücke von Marmorstatuen gefunden habe. Und allerding« liisxt
sich aus der Stelle Paus. 1, 21, 1 deutlich ersehen, dasz eine ganze Reihe
von Dichterstatuen im Theater gestanden haben, und wenn nun auch in
der yita dec. orat. 8. v. Lycurgus ausdrücklich berichtet wird, dasz die
Statuen des Aeschylos, Sophokles und Euripides ehern gewesen seien,
so hegt doch darin an sich kein Grund zu der Annahme, dasz auch
alle übrigen aus dem gleichen Materiale gearbeitet waren. Hält man
dazu die auffallende Wahrnehmung, dasz die Masze der aufgefundenen
Bagis genau mit denen des Vatican. Plinthos stimmen, bei welchem
die antike Basis fehlt, und dasz Bruchstücke von Marmorstatuen auch
anderweitig im Theater gefunden worden sind, so hat Viseber alle
Wahrscheinlichkeit für sich, wenn er die Identität der Vatikan, mit der
athenischen Menanderstatue vermuthet.
Schlusz der Sitzung 10 Uhr.
Zweite Sitzung Donnerstag d. 1. Octbr. 10 Uhr. Prof. Overbeck
legte eine neue Zeichnung der röm. Aresstatue4) in der Villa Liidovisi
vor, welche Raoul - Rochette für einen trauernden Achillen* erkläre.
Die Mehrzahl der übrigen Erklärer erkannten darin einen Ares, bei
welchem ursprünglich noch Aphrodite gestanden habe. Diese letztere
Annahme werde widerlegt durch die Beschaffenheit der Basis, welche
allem Anscheine nach an der rechten Seite nicht abgeschnitten, son-
dern unverkürzt sei. Die Vermuthung, dasz noch eine Figur mit der
Statue verbunden gewesen sei, werde aber allerdings sehr nahe gelehrt
durch 3 beachtenswerthe Stellen der Statue. Auf der linken Schulter
befinde sich ein hervorstehender Marmorrest, ein dergleichen, etwas
gröszerer dicht unter dem Knopf des Schwertes, aus der Gewandung
hervorragend, während dicht unter diesem Stück sich eine nicht ganz
(Breslau), D. Haeck er (Berlin) , Beyer (Freystadt) , auszer welchen noch
gegenwärtig waren F. Haase , D. Hultsch (Dresden) und Prof. v. Paucker
(Dorpat).
3) Galeria delle statue Nr. 390.
4) Raoul-Rochette, M. I. Tf. 11; Müller- Wieseler D. d. a. K. II, 250;
Müller, Archäol. S. 574.
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114 Bericht über die Versammlung deutscher Philologen usw. in Mciszen.
handgrosze Stelle im Felsen ausgebrochen zeige. An eine spätere
Ucberarbeitung des Felsens sei übrigens nicht zudenken, da sonst der
Ueberarbeitcr sicherlich auch diese Stelle ausgeglichen haben würde.
Auf Befragen yon Prof. Kon er constatiert Overbeck die Echtheit
dieser 'S Koste und .vermuthet nun, dasz wir darin die Spuren eines
zweiten Eroten zu erkennen hätten, welcher mit Knie und Hand anf
Schulter und Hüfte des Ares gerubt haben könne. Analogien hierfür
böten Paris monumente, insbesondere werde auch der Vatican. Paris
mit falsch ergänzter rechter Hand und abgeschnittener Schulter ähn-
lich zu ergänzen sein.
Prof. Rureiau opponiert. Die Stellung dieses zweiten schwierig
anzubringenden Eroten würde nicht schön sein; die Entfernung der
Marmorreste scheine so grosz, dasz der Eros hätte unverbältnismäszig
gross sein müssen, worauf Overbeck versichert, dasz er nach approxi-
mativer Messung nicht gröszer als der zu den Füszen sitzende zu sein
brauche, Bursian bemerkt ferner, die Beispiele von Vasenbildern, Wand-
gemälden und Reliefs genügten nicht, um die statuarische Ausführung
dieses fast schwebenden Eroten zu rechtfertigen. Er hält es für wahr-
scheinlich, dasz ursprünglich eine Aphrodite daneben gestanden habe,
und dasz sie durch Zerschneiden der Basis, wofür der scharfe Abschnitt
spreche t entfernt worden sei. Zudem könne die Stelle des Plinius (36, 26)
auf eine Gruppe von Mars und Venus bezogen werden. — Prof. Hertz
erinnert au die Unsicherheit der Annahme, dasz Ares dargestellt sei.
— Prof. Haase spricht dafür, dasz ein Eros angefügt gewesen, und
hält die 3 Stützpunkte zur Befestigung eines solchen schwebend dar-
gestellten für auereichend. — Prof. Kon er vermuthet, dasz die Statue
in einer Nische gestanden habe und dasz die fraglichen Stücke die
Reste von zur Befestigung dienenden Stützen seien, wogegen Bursian
unter Hinweis auf die treuliche Ausarbeitung des Rückens Einsprache
erhebt. Obiger Fall sei höchstens bei Dekorationsstatuen gewöhnlicher
Art eingetreten. Nachdem man sich noch dahin geeinigt hatte, dasz
der Eest auf der Schulter nicht von dem Schwertriemen herrühren
könne, wurde es für wünschenswerth erklärt, den Versuch der Ergän-
zung eines Eroten durch einen Künstler machen zu lassen. Schlieszlich
sei bemerkt, dasz die erwiesen ergänzten Teile nicht von Gewicht für
die Reconstruktionsfrage sind5). Wider die Gruppierung mit Aphrodite
sprechen gewichtige Umstände, so die Haltung der Statue selbst und
die Beschaffenheit des Felsens und der Basis, sowie auch die Plinius-
stelleft) weit eher für 2 gesonderte Statuen als für eine Gruppe zeugt.
Urlichs in Reinem cSkopas' S. 118 ff. erkennt in den Fragmenten die
Reste der Lanze, was kaum gerechtfertigt erscheinen dürfte, wenn man
nicht dennoch den Rest auf der Schulter als zur Befestigung etwa eines
bronzenen Schwertriemens bestimmt betrachten will. Und so wird auch
die Benennung 'Ares' immer noch mit einigem Zweifel betrachtet wer-
den müssen , zumal sich die Gebaerde des aufgestemmten mit beiden
Händen gefassten Knies anderweitig als Gestus der Trauer vorfindet.
Ferner legte Prof. Overbeck die Zeichnung einer in Kreta ge-
fundenen Vase vor (die bereits in dem Jahrgang 1863 der £<pr||Li€plc
dpXütioXöYiKri publiciert ist.) Pervanoglu erklärt sie als ein Parisurteil,
wogegen aber die zwei griechisch gekleideten und Speere tragenden
Jünglinge sprechen. — Die unzweifelhaft richtige Deutung giebt Prof.
Bursian, welcher darin findet: Paris, von Hermes und zwei Eroten
5) Ergänzt sind Nase, rechte Hand und rechter Fusz bei Ares, der
Schwertgriff, beide Arme und der Kopf des sitzenden Eros.
6) a. a. O. Hier erscheint besonders beachtenswerth das fpraeterea'
und das fin eodeni loco' gegenüber den Ausdrücken, die Plin. sonst bei
Gruppen anzuwenden pflegt.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 115
geleitet, kommt zu Helena, wobei auf Einrede zugestanden wird, dasz
statt des Hermes wahrscheinlich nur ein Kf|puH anzunehmen sei.
Noch entspinnt sich eine längere Discussion betreffs des Fundortes.
Prof. Schäfer behauptet, dasz schwerlich jemals apulische Vasen di-
rekt als Handelsartikel nach Kreta eingeführt worden seien, und von
Vasen kretischen Fundortes wisse man sonst nichts. Ihm schlieszt sich
Prof. Bursian an, indem er die Vasen von Pantikapaion als Parallele
anführt. Prof. Kon er bemerkt, dasz diese Mythenvasen wahrschein-
lich in Athen, aber ausdrücklich für das Bedürfnis und den Geschmack
der Kolonien gearbeitet wurden. — Schlieszlich wird nach Erwähnung
der Xenophantosvase7) darauf hingewiesen, dasz sich auch an den klei-
nen am Rhein und ans der Donau gefundenen Bronzestatuen, welche
oft erweislich auf gute Vorbilder zurückzuführen sind, nicht selten
fremdartige, wahrscheinlich lokale Zuthaten finden.
Mit dem Ausdruck der Befriedigung über die erfolgreich zu Stande
gebrachte Constituierung einer selbständigen Section wurde die Sitzung
um 11 Uhr geschlossen.
Zwickau. Dr. Vogel.
Kurze Anzeigen und Miscellen.
I.
Exposi über einige Fragen des Schulwesens und der Gesetzgebung.
Als Manuscript gedruckt. Vom (königl. sächs.) Ministerium des
Cultus und öffentlichen Unterrichtes. Dresden 1864. Druck von
B. G. Teubner.
Die vorliegende Schrift wird insbesondere von sächsischen Päda-
gogen mit Interesse gelesen werden, denn sie ist ein Actenstück zur
Geschichte des sächsischen Volksschulwesens. Sofern sie aber gewisse
allgemeine Grundfragen des Schulwesens zu abschliessender Erörterung
bringt, darf sie ohne Zweifel auch auf einen weiteren Leserkreis rech-
nen, und es wäre nnr zu wünschen, dasz sie nicht von Amtswegen auf
die gleichsam private Sphäre eines bloszen Manuscripts beschränkt
bliebe. — Einen mittelbaren Anlasz zur Abfassung des Expose' gaben
Anträge der sächsischen Kammern: den Beginn nnd Umfang, nament-
lich des elementaren Schulunterrichts derart zu regeln, dasz die körper-
liche Entwickelung' der Jugend über der geistigen nicht verabsäumt
werde, und die demgemäsz von dem betreffenden Ministerium angestell-
ten Ermittelungen und Erwägungen; den eigentlichen Inhalt aber bil-
den nun eben die Resultate dieser letzteren. Da der Charakter unserer
Zeitschrift ein genaueres Eingehen auf denselben leider nicht gestattet,
so müssen wir uns begnügen auf die Hauptcapitel der höchst instruc-
tiven Schrift zu verweisen. Es sind dies Cap. 1 fvon der angeblichen
Ueberbürdung der schulpflichtigen Jugend mit Lehrstunden, Unter-
richtsmaterial und häuslichen Schularbeiten' und Cap. 2 füber den An-
fang der Schulpflichtigkeit'. In dem ersten derselben wird überzeugend
dargethan, wie werfig begründet im Allgemeinen jene Klagen seien,
welche jezuweilen über allzugrosze Belastung der Jugend in den säch-
7) Archäol. Zeitung 1856. Tf. 86. 87.
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in»
Kurze Anzti^pii und Misccllen.
«ischen Volksschulen erhoben werden; vielmehr habe man bei den an»
gestellten Revisionen fast durchgehend 8 die grosse Ordnung und pr
mäszige Sorgfalt anzuerkennen gehabt, welche von den Dir«
Bürgerschulen namentlich auch den Schulaufgaben und häuslichen
beiten, dem Umfange und der gleichmäßigen Verteilung der*>
die einzelnen Wochentage usw, zugewendet werde. Zugleich wird
auf hingewiesen, wie. im extremen Gegensatz zu jenen Anschuldig
sich Stimmen laut gemacht, welche mit Kmpbnse f Chemie t und "
wirthsehaftliche Grundlehren1 in den städtischen Knabenschulen
dert, welche es der Volksschule zum Vorwurf angerechnet, dasz
nicht genüge, rum dem Handwerker die für seinen Beruf not*
Kenntnisse zu verschaffen*. fSoll aber das Ziel der Volksschule' -
sehlieszt treffend dieses Capitel — *soll das Ziel der Volksschule
gänzlich verrückt werden und soll dieselbe im Stande sein, ohne Ueb
bürdung, ja ohne Schaden au Leib und Seele ihre Schüler an das f
zu fuhren, so wird man sich auch wieder daranf besinnen müssen, di
jegliches Ding seine Zeit habe, dasz die Volksschule von den eri
Anfängen menschlicher und allgemeiner Bildung beginnen müsse
doch unmöglich sich dahin ausdehnen könne, wo die spätere Arbeite
Fortbildungsschule, der Gewerbsehule, der Mandwerkerschnle lic
Man wird vor allen Dingen sich daran gewöhnen müssen, hei linken
Anforderungen an Wissen und Ausbildung besonders den Knaben au
einen längeren Schulbesuch und Bildungsgang zu vergönnen, als
mit dem 14- Jahre zur Confirmation; — eine Erkenntnis, welch
szen Schiebten unserer Bevölkerung noch gänzlich fehlt, wie z. B,
Umstand zur Genüge beweist, dasz der Cursus unserer Realschule
von den wenigsten Zöglingen derselben vollständig beeiiii
dem meistens in den mittleren und selbst in den unteren Cla
mit der f'oniirmation abgebrochen wird und dasz auch unsere
nannten höheren Bürgerschulen ihre Arbeit mit der Confirmatio
sehlieszcn pflegen/ Koch eingehender und vielleicht noch lehrre
ist das Capitel rüber den Anfang der Schulpflicht! gkeit*, Denn
werden vorzugsweise einzelne arztliche Bedenken beleuchtet, wa
sieh bald nur bedingt, bald unbedingt gegen den in Bachsen gesel
liehen Anfang des Schulbesuches (mit dem vollendeten ß Lebensja"
erklärt haben* Es erfreut dabei zu sehen, wie sorgsam sich die ]
bürde von jeder Einseitigkeit fernhält und ebensowol das Beherzig
werthe und Treffliche der medieinisehen Gutachten adoptiert (S. I
als andererseits die höheren pädagogischen Interessen einer bloss
ma tischen Betrachtungsweise gegenüber zu vertreten woisz.
wird mit Recht hervorgehoben, dasz für eine sehr grosze Anzahl 1
Kindern der Aufenthalt in der Schule, verglichen mit dem Auf'ciitl
in ihren elterlichen Wohnungen, sogar noch eine leihliche Wolt
ist. fMan denke an die vielen Kinder der handarbeitenden und
löhnernden Bevölkerung, welch«1 von den Müttern während ihrer |
Wesenheit am Tage in den Stuben eingeschlossen werden; man de
an die Kinder vieler Handwerker und der Fabrikbevölkerung, de
frühste Kindheit schon unter allerlei Mithülfe bei sitzender Bes< ~
tigung, hinter dem Treib- und Spulrade, im Warten noch kleinerer 1
der vergeht; man denke an die Kinder ganzer zahlreicher Bruehb
der städtischen Bevölkerung, besonders der Bevölkerung groszer St'
Welche ihre Wohnungen fast ausschlieszlich in kellerartigen Soutcrmii
in engen Gassen, sonnen- und lichtlosen Höfen und Hinterhäusern
man thue endlich auch einen Blick in solche Wohn statten und
wie in demselben Räume zu gleicher Zeit die Mutter kocht und Wa*
reinigt und die gewaschene am Ofen trocknet, und dar Vater daneb
sein oft übelriechendes oder doch die Luft verderbend«1* M
allein oder mit Gesellen betreibt. rFür alle diese Kinder fängt mit <
beginnenden Schulpflichtigkeit, mit dem täglichen Schulwege die
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Kurze Anzeigen und Miseellen. 117
regelmäszige tägliche Bewegung, der erste regelmäszige tägliche Ge-
niisz frischer und besserer Luft, fängt mit dem Schulbesuche zum Teil
sogar die erste verständige und liebreiche Aufmerksamkeit auf die Ge-
sundheit des Leibes, auf Reinlichkeit und Ordnung, auf die Haltung
des Körpers, die Schonung der Augen usw. an, . * und für sie
den Anfang der Schulpflichtigkeit um ein Jahr weiter hinaus sc hieben
wollen heiszt somit selbst ihr leibliches Leben ein Jahr länger der Ver-
kümmerung preisgeben.' Wie nun aber vollends die eigentliche päda-
gogische Aufgabe der Volksschule gegen jede Verzögerung des Schul-
besuchs den entschiedensten Einspruch erhebt, wie Bildung, Sittlichkeit
und Religiosität eines groszen Teils der Jugend geradezu einzig und
allein auf der Schule stehen, und wie die Einwirkungen derselben um
ein Jahr verspätigen meist nichts geringeres besagt als Unkraut für
ein ganzes Leben säen — das Alles ist im weiteren Verfolg mit ebenso
viel überzeugender Klarheit als beredter Wärme entwickelt worden.
Gleicherweise wird man endlich gern demjenigen beistimmen , was in
den beiden nächsten Capiteln von der Organisation der HLcmentar-
classen' und über f Vorkehrungen' und Abhülfen' gesagt ist. — Wir
schlieszen hiermit unser kurzes Keferat über eine Schrift , die aufs
neue beweist, mit welch rühmlichem und weisem Eifer die 8taatsregie-
rang in Sachsen die Pflege der Volksbildung fördert und leitet.
II.
hi neugriechische Sprache und die Verwandtschaft der griechischen
Sprache mit der deutschen (,) von Dr. H. K. Brandes, Lemgo
und Detmold, Meyersche Hofbuchhandlung. 1862. 25 Ngr.
Der Verfasser, Professor und Rector des Gymnasiums zu Lemgo,
wird den Lesern wol nicht ganz unbekannt sein, da er alljährlich seit
längerer Zeit Reisen zu machen gewohnt ist, welche er sodann regel-
mä8zig für das Publicum beschreibt und veröffentlicht. So war er auch
im Jahre 1860 in Griechenland, und wahrscheinlich ist diese Reise,
deren Beschreibung seiner Zeit ebenfalls im Druck erschienen ist, die
besondere Veranlassung für ihn zu ernsterer Beschäftigung mit der neu-
griechischen Sprache und teilweise zu der vorliegenden Schrift selbst
geworden. Er spricht sich darüber nicht weiter aus, und namentlich
sagt er in Ansehung des mit der neugriechischen Sprache sich beschäf-
tigenden Teiles seiner Schrift nichts von, seiner eigentlichen Absiebt
und von den Zwecken, die ihn dabei geleitet haben. Dasz die vorlie-
gende Schrift in zwei Teile zerfällt, ersieht man schon aus dem Titel.
Vom zweiten Teile, der fdie Verwandtschaft der griechischen Sprache
mit der deutschen' zum Gegenstand hat (S. 79 — 240), bemerkt der Verf.
geradezn, dasz er diese Blätter r nicht für gelehrte Sprachforscher, die
«leren nicht bedürfen, sondern für seine Freunde oder früheren Schüler
bestimmt habe, welche jene Sprachen lieben und gern mit einander ver-
gleichen, und nun, was sie selbst wissen, hier übersichtlich jauaammen-
gestellt finden' (S. 79). Man kann unter solchen Umständen diesen
Teil der Schrift auf sich beruhen lassen und hier von einer weiteren
Besprechung desselben ganz absehen. Was dagegen den ersten Teil
anlangt, der mit der neugriechischen Sprache sich beschäftigt, kü mag
man zunächst seine Freude darüber nicht unterdrücken, dasz ein deut-
scher Schulmann und Hellenist es der Mühe für werth gehalten hat,
der neugriechischen Sprache eine besondere Aufmerksamkeit eu schen-
ken und sie zu einem Gegenstande seines Studiums zu machen. Solche
Beispiele sind gar selten, und ein jedes verdient daher, wo man es
findet, eine ausdrückliche Anerkennung, also auch das vorliegende.
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118 Kurze Anzeigen und Miscellen. J
Für die Sache selbst würde es jedoch vorteilhafter gewesen sein, und
jene Anerkennung würde dann vielleicht auch der Sache selbst noch
mehr zu gute kommen, wenn der Verfasser zugleich erklärt hätte, für
wen er eigentlich seine Bemerkungen über die neugriechische Sprache
bestimmt und wen ur dabei vor Augen gehabt habe, auch, welcher Art
seine eigenen neugriechischen Studien gewesen seien, teils nach Ab-
sicht und Zwuck, teils nach den Mitteln, die er dabei benutzt hat und
die er dabei bat benutzen können. Was der Verfasser hier zusammen- 1
gestellt hat, ist gut gemeint, und es kann Manchem, der von der neu-
grlecki ticken Sprache gar Nichts weisz und der ihr Wesen etwas näher
können zu lernen wünscht, Nutzen gewähren; allein es sind nur flüch-
tige und oberflächliche Bemerkungen über die Unterschiede zwischen
der alten und neuen Sprache, namentlich in Bezug auf typische und .
grammatische Eigenheiten der letzteren, verbunden mit einzelnen Bei-
spielen, Worten und Redensarten der neuen Sprache. Der Verfasser]
erkennt die letztere mit Kocht im Wesentlichen als dieselbe mit der alt- j
griechischen Sprache an, wie sich auch aus manchen seiner lexikologi- '
sehen und etymologischen Mitteilungen klar und deutlich ergibt, aber
er behandelt seinen Gegenstand selbst ohne alle Consequenz und kei-
neswegs nach bestimmten Grundsätzen, nach denen jene Unterschiede
hätten dargelegt sein müssen, um ein möglichst umfassendes Bild der
Eigentümlichkeiten der neuen Sprache gewähren zu können. Aus dem,
was der Verfasser und wie er es gibt, ist abzunehmen, dasz er selbst
die letztere, mit ihren Dialekten, keineswegs gründlich kennt. Daher
vermengt er die Sprache des gemeinen Volks und die bessere Aus- j
drucksweise gebildeter Griechen, und namentlich lassen die, z. B. *
ß. 32 f. und öfter beigebrachten Worte der neugriechischen Sprache
zwar erkennen , inwiefern diese letztere von der altgriechischen ver-
schieden ist, aber sie lassen zugleich vermuten, dasz der Verfasser nicht
die besten Quellen, sondern z. ß. das Wörterbuch von J. A. E. Schmidt
vorzugsweise mit benutzt und irriger Weise seine eigne Weisheit dar-
aus geschöpft hat. Die von ihm S.*44 f. gegebenen Beispiele und
Proben neugriechischer Schriftsprache sind nicht glücklich gewählt und
gebün keine richtige Vorstellung von dem, was diese Sprache wirklich
ist. Aber freilich ist dies auch um so schwieriger, je mehr die Sprache j
seihst noch unter dem Einflüsse des Bildungs- und Beinigungsprocessei
steht, den sie gegenwärtig durchzumachen hat. Die Grundsätze fürs
das wirklich Feststehende im Wesen der neugriechischen Sprache sind
eben so schwer mit Sicherheit aufzustellen als consequent zu beobach-
ten, und die Grenze zwischen dem, was der KOivrj und was der xvbaio.
f\<hcca angehört, ist nicht leicht zu bestimmen und festzuhalten.
K,
in.
Zur albanesischen Sprachfrage.*)
Unterzeichneter hatte kürzlich Gelegenheit, eine kleine, italienisch
geschriebene Schrift; Memoria sulla lingua albanese, di Giuseppe Cri-
spi> professore di Lettere greche nella universita* degli Studi di Pa-
lermo (Palermo, 1831. 76 S.) zu erhalten und zu lesen. Der Verfasse^
derselben ist der nemliche Crispi, der später auch die fMemorie storiche
di talune eostumanae appartenenti alle colonie greco-albanesi' (Pa*!
lernte, 1853) herausgab, und der zu der von Leonardo Vigo von Aei
lieale veröffentlichten *Raccolta di canti popolari siciliani' (Catania,
1857) eine kleine Sammlung sicilisch- albanischer Volkslieder (es sind
*) Vgl. Jahrbücher Bd. 82. H. 6. S. 293 f. u. Bd. 84. H. 6. S. 291 f.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 119
im Ganzen siebzehn Canzonen und zwei geistliche Gesänge) lieferte.
Bekanntlich wanderten nemlich im 15. Jahrhunderte, nachdem Georg
Castriota, genannt Skanderbeg, den Türken unterlegen war, nach des-
sen Tode viele Landsleute desselben nach Italien aus, von denen einige
in Calabrien sich niederlieszen , andere dagegen von Ferdinand dem
Katholischen in Sicilien aufgenommen wurden. Diese Albanesercolo-
nien bestehen in Sicilien noch heutzutage. Auszer ihrer Nationalsprache,
der albanesischen, reden diese Fremdlinge auch griechisch, und der
Ritus dieser albanesischen Colonisten ist der der griechisch -orientali-
schen Kirche. Ihr Bischof residiert in Palermo, und neben dem Bis-
tum besteht dort auch ein griechisches Seminar oder Collegium, woraus
bereits einige namhafte Hellenisten, wie der sprachgelehrte Bischof
Crispi, hervorgegangen sind. So lesen wir bei Ferd. Öregorovius, fSi-
ciliana', Leipzig, 1861, S. 295 f., und dieser Crispi ist der oben ge-
nannte, der sich auch auf der gedachten Schrift von 1855 als rvescovo
di Lampsaco' bezeichnet.
Was die erwähnte S&nmlung sicilisch - albancsischer Volkslieder
von Crispi anlangt, so sagt letzterer in einer Einleitung dazu: rdie al-
banesische Sprache zählt ein so hohes Alter, dasz man sie zu den Ur-
sprachen rechnen kann, denen sie durch Mechanismus und Laute nahe
kommt. Denn;sie ähnelt darin dem Chaldäischen und Hebräischen, sie
ist innig verbunden mit dem Phrygischen, Pelasgischen, dem alten Ma-
cedonisch und dem primitiven Aeolisch. Ihr gröster Ruhm ist jedoch
der, einer der ursprünglichen Stämme zu sein, auf denen die göttliche
Sprache der Hellenen wuchjB' (s. Öregorovius a. a. O. S. 297 f.). Zu
der nämlichen Ansicht bekannte sich Crispi bereits in seiner früheren
Schrift von 1831, und er suchte darin nachzuweisen, dasz die albane-
sistfie Sprache eine Ursprache sei, die bis zu den Pelasgern, Phry-
giern, Macedoniern und ältesten Aeoliern zurückreiche; dasz sie auch
zum groszen Teile die Mutter der griechischen Sprache sei, und dasz
auch die lateinische Sprache mit ihr zusammenhänge. Besonders für
die von ihm behauptete Verwandtschaft der albanesischen Sprache mit
der griechischen bringt er dort nicht nur nach geschichtlichen Momen-
ten, sondern auch in linguistischer Beziehung, teils was Ortsbenennun-
gen in Macedonien, Epirus usw. betrifft, teils insoweit er dafür auf
eine gröszere Anzahl von griechischen Worten Bezug nimmt, die er in
nähere oder entferntere Verbindung mit albanesischen Worten setzt, zahl-
reiche Nachweise bei. Seine diesfallsigen Zusammenstellungen bestäti-
gen einzelne Angaben in der in den früheren Aufsätzen dieser Jahrb. von
mir aus anderen Quellen mitgeteilten AeHvfpcupfct c€AAr]voaAßaviKfV Dasz
dadurch auch manche Ansichten, die Dr. v. Hahn in seinen 'Albane-
sischen Studien9 über die albanesische Sprache ausspricht, ebenfalls
ihre Bestätigung finden, ergibt sich für sachverständige Leser nach
dem oben Bemerkten von selbst.
Ich habe übrigens nur im Allgemeinen auf die gedachte Schrift
Crispi*s und auf die in ihr enthaltenen linguistischen Zusammenstel-
lungen hier verweisen wollen, und musz es denen, die diesem Gegen-
stande ein besonderes Interesse zuwenden, überlassen, ihn mit Bezug
auf Crispi's Schrift weiter zu verfolgen. Jedenfalls verdient sie unter
den vorliegenden, namentlich persönlichen Verhältnissen auch von Seite
deutscher Sprachforscher eine besondere Beachtung. Im Einzelnen be-
merke ich nur noch, dasz Crispi in dieser Schrift S. 54 den räthsel-
liaften Namen Skipetar (oder Scbipatär, wie er ihn schreibt), mit dem
die Albanesen sich selbst benennen, ebenfalls mit dem altgriechischen
Worte cirfqpoc, das Hesychius mit £(<poc erklärt, in Verbindung bringt
und einer Ableitung jenes Namens von diesem Worte nicht entgegen
ist, so dasz also die Benennung: Skipetar oder Schipat&r einen r be-
waffneten Mann9 oder Schwertträger' bezeichnen würde. Ich hatte
Bd. 82. H. 6. S. 297 diese Ableitung für die einfachste erklärt, obgleich
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Kurze Anzeigen und Hlscellea.
Crispi, auszer anderen von ihm angeführten Etymologien, jet
nOfig auch noch mit dem griechisch in Worte ck^ttt} (i
Htille) in Verbindung bringt und dabei bemerkt, du m die
aibanesischen Helden durch ihre eigentümlich verhüllende Tracht
man dabei an das sogenannte Albaneserhemd, die auch hei den I
tigen Griechen gebräuchliche Fustanella, sieh erinnern lassen?)
den übrigen Nationen sich unterschieden hätten, und dasz sie
— wie Crispi sagt — f ähnlich dem Deukalion, XtUKOi Kai CK€U
Albani e velaii, genannt worden seien1.
Dr. Theod. Kit
Das Verhältnis Wolfs und W. e* Humboldt'* zu Goethe und Sei
von Lothholx,
Das LycL-Lim der Stadt Wernigerode, dessen Begründung
Reformationszeit zurück reicht, vgl. Geschichte des Lyceums zu
Kallenbach, Progr. zur SOOjlhrigen Jubelfeier 1850, hat in den
Jahren durch die thätige Beihülfe des Grafenhauses Stollberg-1
gerode und der Stadtgemeinde einen erfreulichen Aufschwung _
inen, und nachdem die Überlassen hergestellt und tüchtige Le
kräfte gewonnen worden sind, sieb zu einem vollständigen Gyn
erweitert und erhoben.
Als einen Lebensaet der verjüngten Anstalt und zugleich des i
waltenden Geistes begrüszen wie das Festprogramm zu dem feierli
Einzüge Sr. Erlaucht des regierenden Grafen Otto und der Gr
in welchem das Lyceura der freudigen Teilnahme einen Ausdruc
leiht, fweil sich au das frohe Ereignis der Vermählung des regte
Grafen neue Hoffnungen für eine glückliche Zukunft unserer
liehen Zustände und somit unseres Gymnasiums ansehlieszen'
wissenschaftliche Beigabe dieses Festprogramms (42 S.) enth
Darstellung* der persönlichen Verhältnisse und Beziehungen Fr. A. 1
zu Goethe und W- v- Mumboldt's zu Schüler von Prof. Dr, Lotl "
Wie in dieser Schrift, die hervorgegangen ist aus einer
und tiefen Erkenntnis der allgemeinen Bildungsmoiueiitu und sich i
auf ein gründliches Studium und auf geschickte Benutzung de
schlagenden literarhistorischen Materialien, eine Frage van wa
vaterländischem Interesse behandelt wird, so wird durch sie zug
der Beweis geliefert, wie der Geist und die Form des clasHisehoTi Alt«
luius einen mächtigen tiefwirke nden EinMusz auf unsere nationale \
tur, inabesondere auf die beiden groszen Dichter gehabt. Was
di« Schule in der Jugend nicht zu Meten vermochte , das bat
eignes liebe volles Studium und der wissenschaftliche- und freundsc
liehe Verkehr mit verwandten Geistern entgegengebracht. Und
dieses innige Verhältnis des Altertums zu unserer Litteratur l*i
kein Geheimnis mehr ist, so ist es doch dankbar anzuerkennen,
dasselbe in seinen spezielleren Beziehungen weiter verfolg
m entlich auch in solchen Kreisen zur Kenntnis gebracht wird,
solchem Zusammenhange noch keine Ahnung haben oder ihn in i
selbstgeuügsanien Ignoranz für zu unbedeutend erachten, Die
ebene Schrüt enthält nicht nur eine interessante Leetiire an sieh
dem zugleich eine wirksame Empfehlung der Gyinnaalatatudicn,
sie viele Leser finden.
S.
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Zweite Abteilung.
Seite
7. Der Religionsunterricht auf den Gymnasien. Von *** . 57—66
8. Was ist für den Anfänger Schweres an der Mathematik?
Vom Professor Büchner in Hildburghausen 66—74
9. Anz. v. -ß. König: Vocabulaire syst^matique anglais-fran-
cais et guide de conversation anglaise (Oldenburg 1863).
Von Dr. R. in P 74—79
10. Anz. v. M. Raschke: Proben und grundsäze der deutschen
Schreibung aus fünf Jahrhunderten (Wien 1862). Von
Dr. G. Lange in Berlin 79—81
(6.) Bericht über die Verhandlungen der 22n Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner in Meiszen vom
29. Septbr. bis 2. Octbr. 1863. (Schlusz.) Vom Gymna-
siallehrer Dr. Vogel in Zwickau 81 — 115
Kurze Anzeigen und Miscellen 115 — 120
I. Expose' über einige Fragen des Schulwesens und der Ge-
setzgebung (Dresden 1864). Von M. 115-117
II. Anz. v. H. K. Brandes: die neugriech. Sprache und die
Verwandtschaft der griechischen Sprache mit der deut-
schen (Lemgo u. Detmold 1862). Von K 117—118
III. Zur albanesischen Sprachfrage. Vom Justizrath Dr.
Th. Kind in Leipzig 118-120
IV. Das Verhältnis Wolfs und W. Humboldts von Lothholz.
Von — ck in S 120
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Leipzig,
Druck und Verlag von B. G. Teabner.
1864.
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Zweite Abteilung:
f ör Gymnasialpldagogik and die übrigen Lehrfächer,
mit Auß8chlu8z der classischen Philologie,
heraasgegetai tm Prefesser Dr. lerHin Maiins.
11.
Ueber Versetzungen.
In einigen preuszischen Provinzen treten auf Veranlassung der Be-
hörden von 3 zu 3 Jahren Directorenconferenzen zusammen, um Ansichten
und Erfahrungen auszutauschen über Themata , die dazu in der vorher-
gegangenen Versammlung bestimmt sind. Unter solchen augenblicklich
vorliegenden Fragen sind einige Ober die Versetzungen von so allge-
meinem Interesse, dasz auch eine öffentliche Besprechung derselben
angemessen erscheint.
'Wie wird der Kenntnisstand der zu versetzenden Schüler am zweck-
mäßigsten ermittelt? Durch schriftliche und mündliche Versetzungs-
prüfungen? Und wie werden solche am besten abgehalten?'
Ob schriftliche 4ind mündliche Versetzungsprüfungen notwendig sind,
kann wol kaum noch fraglich erscheinen. Dasz die Lehrer zusammen«
treten, und nach ihrer souverainen Kenntnis der Schüler frischweg ab-
stimmen, halte ich für völlig abwegig. Die gröszte Objectivität ist als
Grundlage nicht dringend genug zu wünschen. Dabei lege ich wenig
Gewicht auf die thörichten Vorstellungen der Eltern und Schüler über
Gunst oder Ungunst der Lehrer, obwol es mindestens überflüssig ist,
dergleichen Vorstellungen durch ein völlig subjectives Verfahren zu näh-
ren und zu stärken. Herr X. besteht darauf, dasz sein Sohn Privatstunden
bei dem Glassenlehrer erhalte , denn er hat einen unverwüstlichen -Glau-
ben an eine gewisse magische Wirkung dieser Stunden. — Herr Y. , der
in Anerkennung des schweren Berufes und in Dankbarkeit gegen die
Lehrer seiner Söhne sehr wortreich ist, ladet die Herren cdann und wann9
zu kleinen diners fins ein; aber stets einzeln, damit die Absicht nicht
verstimme. Sonderbari das Mann und wann9 fällt immer in das letzte
Quartal, und die Erkundigung, wie's denn mit Paulchen stehe, erfolgt
5. Jahrb. f. Phfl. u. Päd. II. Abt. 13*4. Hft. 3. 9
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122 Ueber Versetzungen.
stets nach dem Champagner. — Nun, die Lehrer erfreun sich in unseren
Tagen solcher Achtung unter ihren Mitbürgern, dasz kein Verständiger
sie für dergleichen Manöver zugänglich wähnt. Und was durchgefallene
Schüler sich und den Ihrigen zum Tröste als mitwirkende Ursachen ihres
Unglücks oder der Beförderung Anderer vorgeben, mag immerhin, auch
wo die Eltern es zu glauben geneigt sind , auf sich beruhn bleiben.
Aber auch ganz abgesehen von derlei Dingen bin ich selbst der Mei-
nung, das* das Urteil der Lehrer vielfach unsicher und nichts weniger
als unbefangen ist. —Mancher ist in der Disciplin nicht so ganz muster-
gültig. Er hat seine liebe Not mit den Quartanern und Tertianern; gerade
die lebhaften und fähigen , nicht die stillen und dummen machen ihm zu
schaffen. Mag er auch noch so gerecht sein wollen, es liegt einmal in
. der Natur der Dinge , dasz er seinen 'wolgesitteten Knaben' mehr Kennt-
nisse, den 'rohen Burschen' dagegen mehr Mängel zutraut, als wahr ist.
Denn dasz einer unaufmerksam und keck ist, und dennoch etwas wissen
oder lernen sollte, hält mancher für ganz paradox. — Ein andrer gibt
Privatstunden. Ich bin ein ganz entschiedner Gegner aller Privatstunden
in Objecten , die in der Schule gelehrt werden. Denn was die Schüler an
positivem Wissen erreichen, büszensie gewöhnlich an Selbständigkeit
ein. Das Uebel ist indessen nicht ganz zu beseitigen , und wer einmal
Privätstunden erhalten soll , wird sie am zweckmäszigsten bei dem Glas-
senlehrer nehmen. Dieser wird nun meinen — denn prona venit cupidis
in sua vota fides — den Schüler so bedeutend gefördert zu haben, zumal
er auch in der Classe stets aufmerksam war, dasz er reif sei. Oder aber,
er wird in den Privatstunden erst recht gesehen haTben , wie schwach der
Schüler ist ; er wird ihn ungünstiger beurteilen , als die ihm objectiv
gleichstehenden Mitschüler, da deren Mängel ihm nicht so klar sind; er
mag sich auch besonders hüten, seinen Privatschüler nicht zu günstig
zu censieren, und so geht nach dieser Seite hin die Unbefangenheit
verloren. — Die Lehrer sind ferner geneigt, nach ihrem Fache einseitig
zu urteilen , und schätzen das Gewicht gering , welches die übrigen Ge-
genstände in die Wagschale werfen. - Denn die guten oder schlechten
Leistungen liegen ihnen ja nicht vor, und was College X. unter reif oder
unreif in seinem Fache versteht, können sie schlechterdings nicht wissen:
der Grad der Reife oder Unreife entzieht sich ihrer Beurteilung durchaus.
— Den Sohn meines Freundes , zumal wenn ich ihn auch auszerhalb der
Schule als einen fähigen Knaben kenne, werde ich geneigt sein, gunsti-
ger zu beurteilen. — Es kommt auch vor , dasz man meint : Der Junge
versteht nichts von 4er Mathematik , d e n n er ist aus der Familie Muller.
Zufällig war im cpncreten Falle des Unglücklichen Stiefmutter eine ge-
borne Müller. — Kurz, man wird zugeben, dasz das subjective Urteil
der Lehrer auf mannichfache Weise befangen sein kann. Auch darf man
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen erachten, dasz Zweifel an der Urteils-
kraft Rieses oder jenes herzensguten Coliegen nicht gerade aus der Luft
gegriffen seien, sondern so zu sagen in der Luft zu liegen scheinen.
Meine Ansieht ist demnach, dasz das subjective Urteil sich nur neben
objectiv vorliegenden Leistungen geltend machen darf. Dabei behält es
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Ueber Versetzungen. 123
immer noch eine grosze Bedeutung; aber einmal hat es für sich ein
Correctiv in der vorliegenden Arbeit, und zweitens gewinnen die übrigen
Lehrer einen concreten Anhalt. — Nun ist freilich nicht zu bestreiten,
dasz die Prüfungsarbeit erheblich schlechter ausfallen kann, als die wirk*
liehen Kenntnisse des Schülers es bedingen. Da kann denn der Lehrer
sein Urteil dazu geben und bemerken , dasz die sonstigen Arbeiten besser
gewesen seien ; er kann das durch Angabe der Censur und Fehlerzahl
näher begründen. Dabei würde ich indessen die häuslichen Arbeiten nicht
zulassen; denn was darin an Abschreiben, Helfenlassen, Vorübersetzen
und Vergleichen vorgeht, übersteigt die Fassungskraft manches sehr ge-
lehrten und woldenkenden Lehrers. Ich würde die Censur aller in der
Glasse unter Aufsicht angefertigten Arbeiten in tabellarischer Uebersicht
der ganzen Abteilung vorgelegt wünschen zur Begründung des von der
Examenarbeit abweichenden Urteils. Sodann hat der Fachlehrer noch im
mündlichen Examen Gelegenheit, die latenten Kenntnisse seines dienten
zur Erscheinung zu bringen. Gelingt auch das nicht, und ist derselbe
auch in andern Objecten schwach, so ist mein ceterum censeo, er falle
durch. Ist ja doch erfahrungsmäszig nicht das die Sorge, dasz reife
Schüler durch die Lehrer zurückgehalten werden, sondern weit öfter ver-
greift man sich im Gegenteil. — Hat aber ein Schüler unter strenger
Aufsicht gut gearbeitet, und der Lehrer hält die Leistung seinen sonsti-
gen Kenntnissen nicht für adäquat, nun so sehe ich wenigstens, was
der Schüler leisten kann, und lasse Brutus einen ehrenwerten Mann sein.
Zu dem schriftlichen und mündlichen Examen sind. alle zuzulassen,
welche in der Glasse die vorgeschriebene Zeit zugebracht haben. Bei
anderweitig vorgebildeten Schülern ist diese Forderung des absolvirten
Cursus nicht zu machen. Der Rath, zurückzutreten, kann zwar erteilt
werden, ist aber nicht verbindlich. Denn einerseits kommt es vor, dasz
eine Versetzung dennoch stattfindet; andrerseits ist es dem Schüler oft
von wesentlichem Nutzen , eine solche Probe seiner Leistungen mitzu-
machen. Und dasz es weniger ehrenrührig sei , zurückzutreten als durch-
zufallen, das beruht zum gröszten Teil auf optischer Täuschung.
Schriftliche Arbeiten sind anzufertigen in allen Sprachen und in der
Mathematik (auf Realschulen auch in Physik und Chemie) , und zwar nicht
von der gesamten Ciasse, da dann das Absehreiben nicht zu hindern ist.
In vollen Classen kann der Schüler es kaum vermeiden, den Text seines
Nebenmanns dann und waun zu sehn ; viele sehn auf den ihres Vorder-
manns; dasz sie ihn nicht sehn wollen, und über solchen Betrug sitt-
lich erhaben sind, ist reine Mythe. Siehe die verschärften Bestimmungen
über Täuschungen beim Abiturientenexamen.
Sind die Arbeiten corrigiert und jedes Fach für sich geordnet, so
werden die Rangnummern jedes Schülers in den einzelnen Fächern addiert,
und nach dieser Summe die Generalordnung gemacht A. ist in einem
Fache der 2e, im zweiten der 4e, im dritten der 6e, im vierten der le,
im fünften der de; seine Gesamtziffer ist 16; B. hat die Nummern 1, 7, 5,
2, 4 also Summa 19; C. dagegen 5, 1, 1, 3, 2 also Summa 12. Die General-
ordnung ist also C, A., B. Das ist das relativ zuverlässigste Verfahren»
9*
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124 Ueber Versetzungen.
Dabei gibt nicht blosz die Reibenfolge, sondern aucb die Differenz der
Gesamtziffer mit der der Nachbarn einen Anhalt; sehr häufig ist beispiels-
halber zwischen dem lOn und lln Schüler ein so groszer Sprung in der
Gesamtziffer, dasz klar hervortritt, die 10 ersten seien reif, die folgen-
den unreif.
Die mundliche Prüfung hat nun für Lehrer und Schüler den Zweck,
das in der Generalordnung zu Tage getretene Urteil zu bestätigen oder
zu modificieren. Der Schüler, welcher schlechter gearbeitet hat, als ihm
zugetraut ward, hat Gelegenheit, sich besser zu zeigen; ein anderer
macht das etwa schwankende Urteil durch schlechte Antworten zu einem
negativen. Die Prüfung hat sich auch auf Geschichte und Geographie zu
erstrecken , damit besondere Leistungen oder besondere Mängel in diesem
Fache berücksichtigt werden können. — Die absolut reifen Schüler sind
nur gelegentlich zu fragen, die absolut unreifen nur in so weit, als ihnen
Gelegenheit zu geben ist, zu zeigen und zu sehn, dasz auch die münd-
lichen Leistungen ungenügend sind. Es handelt sich vorwiegend um die
miltelmäszigen. — Die Gegenwart sämtlicher stimmender Lehrer ist
selbstverständlich. Vor der Abstimmung ist dasjenige zur Geltung zu
bringen, was in Betreff der Anlagen, des Fleiszes, der sittlichen Führung
oder des Alters etwa zu berücksichtigen sein möchte. Darüber handelt
die folgende Frage. — Bei der Bekanntmachung der Versetzung, die
nicht beim öffentlichen Examen, sondern intra parietes bei der Gensur
stattzufinden hat, würde ich stets offen aussprechen, was in zweifelhaften
Fällen hierhin oder dorthin den Ausschlag gegeben hat, und überhaupt
die ganze Sache möglichst wenig in den Nimbus geheimnisvollen Weis-
lums hüllen.
*in welchem Verhältnisse zu einander sind die verschiedenen Unter-
richtszweige bei der Versetzung zu berücksichtigen? In welchem
Masze etwa auch das Lebens- und Classenalter, der bewiesene Fleisz,
die sittliche Führung und die geistigen Anlagen der Schüler?' *
Diejenigen Unterrichtszweige fallen bedeutend mehr ins Gewicht, welche
die Entwicklung des Geistes zeigen, als diejenigen, welche in einem
bloszen Aggregate von Kenntnissen bestehn ; einmal , weil die Leistungen
schwieriger sind und also die Reife wichtiger; sodann, weil das Fort-
kommen in der folgenden Classe von den Kenntnissen bei der Aufnahme
weit mehr abhängig ist. Ob also einer Naturgeschichte oder Geographie
weisz , ist ziemlich gleichgültig ; selbst die Geschichte ist bis zur Ver-
setzung nach Prima so wesentlich nicht, und es sind also, wie bereits
bemerkt, nur besondere Leistungen oder besondere Mängel darin zu
berücksichtigen. Die Sprachen aber , und — man wird die Unbefangen-
heit des Philologen anerkennen — in höherem Masze noch die Mathema-
tik, sind das Entscheidende. Wer den Gursus in dieser Wissenschaft
nicht absolviert hat, ist in der folgenden Classe meislhin völlig unbrauch-
bar. Jede Nachsicht straft sich nirgend härter als hier. Ist erst irgendwo
eine Lücke entstanden, so verliert der Schüler jede Lust, und bekennt
sich alsbald zu dem leider so weit verbreiteten Aberglauben, er habe
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Googk
Ueber Versetzungen. 135
kein Talent für Mathematik. Wollte man nur an die Thflr von Tertia
schreiben: *AY€UJji£rpr)TOC fir)bclc eidrui, also dasz absolut Niemand
hineinversetzt würde, der den Gursus der Mathematik in Quarta nicht
völlig absolviert hätte, und darin mit Strenge fortfahren, so würden Lust,
Talent und Leistungen erheblich gefördert werden. Dazu ist aber not-
wendig, dasz die Gurse beschränkt werden und immer und immer repe-
tiert wird. Legt man die Gleichheit der Figuren nach Tertia, die Aehn-
lichkeit nach Secunda , beschränkt die sphärische Trigonometrie auf ein
Minimum, nimmt von den Kegelschnitten nur die Hauptsätze, von den
Gleichungen dritten Grades nur die Cardanische Regel, begnügt sich bei
den diophantischen Gleichungen mit wenigen Beispielen, schlieszt die
höheren Reihen aus und überläszt es dem Lehrer, Einzelne, die Neigung
oder künftiges Studium dazu treibt, privatim weiter zu führen, so wür-
den sich die Leistungen schon bessern. Und wenn durch solche Be-
schränkung zu fortwährendem Repetieren Zeit gewonnen ist, währenddes
diejenigen, die bereits sicher sind, durch Gonstructionsaufgaben und
Rechnungen geübt würden, wenn dadurch ermöglicht wird, zufällig ent-
standene Lücken auszufüllen , und Strenge bei der Versetzung zu ange-
strengtem Fleisze nötigt: daran würde das Vorurteil, als sei zu dem Gur-
sus der Schule ein besonderes Talent erforderlich, gar bald schwinden.
— Aber ach , quanto cogor meminisse dolore , man thut das gerade Ge-
genteil! Man will dies bequeme Vorurteil officiell sanctionieren ; man
wirft das Gewehr in den Graben und gesteht: Es läszt sich nicht errei-
chen! — Da nemlich die Beobachtung gemacht ist, dasz die Leistungen
der Primaner in der Mathematik und auch in den alten Sprachen ab-
nehmen, so ist der Vorschlag gemacht worden, die Einen in der Ma-
thematik, die Andern in der classiscben Philologie weiter als bisher
zu führen , und dafür die Anforderungen in dem andern Fache zu ermä-
szigen. Das soll erreicht werden durch Extracurse. Man beginnt also
die Besserung oben 4 obwol es doch handgreiflich ist, dasz der Fehler
unten und in der Mitte liegt; man streut so zu sagen Guano auf die
Aehren. Und die Sünde gegen das Talent, das in den alten Sprachen und
in der Mathematik etwas Gutes leisten könnte? Und die noch grössere
Sünde gegen diejenigen , die in beiden mittelgut sind , und nunmehr die
bange Wahl haben , in welchem Fache sie sich zu Helden stempeln lassen
sollen? Denn wenn man auch beide Gurse als nicht obligatorisch be-
zeichnet, so ist doch klar, dasz zu den ausgesprochenen Mittelmäszigen,
dem Sumpfe , Niemand wird gehören wollen.
Dieser Vorschlag erscheint mir dem Ohrwurm ähnlich, der, in den
Kern sich einbohrend , den Pfirsich in zwei äuszerlich hübsch röthlich
scheinende, aber teils nolreife, teils unreife Hälften auseinandersprengt.
Er verletzt das Princip der Gymnasien nicht unerheblich und erregt die
gewichtigsten Bedenken; ich kann indessen heute nicht weiter darauf
eingehn.
Meine Meinung ist also , dasz bei der Versetzung das Hauptgewicht
aufSprachen und Mathematik gelegt werden soll, und dasz die in der
Mathematik herkömmliche sträfliche Nachsicht , zu der die Nichtmathema-
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126 Ueber Versetzungen.
tiker in Erinnerung eigner Leiden nur allzu geneigt sind, durchaus ge-
hemmt werde. Dasz unter den Sprachen die lateinische Grammatik das
Wichtigste ist, halte ich für selbstverständlich. Auch leistet ja, wer
darin gut ist, meisthin auch in den andern Sprachen Gutes, es sei denn,
dasz er die eine oder die andere später angefangen hätte.
Die Frage, oh Lebens- und Classenalter, der bewiesene Fleisz, die
sittliche Fuhrung und die geistigen Anlagen bei der Versetzung zu be-
rücksichtigen seien , musz entschieden bejaht werden. Da sich einmal der
Grad der Reife nicht alkoholometrisch bestimmen läszt, so wird eine Be-
rücksichtigung der Persönlichkeit des Schülers von Seiten der Lehrer
doch stets Platz greifen , und liesze sich auch gar nicht wegdecretieren.
Der Lehrer, der selbst gute Anlagen hat, wird stets den talentvollen und
faulen, derjenige, der sich selbst mühsam sein Wissen erworben bat,
den fleiszigen aber talentlosen milder zu beurteilen geneigt sein. Es
kommt aber auf das Masz an , in welchem solche Berücksichtigung sich
zu halten hat«
Das Lebens- und Classenalter ist am wenigsten bestimmend;
denn ohne Fleisz kann es natürlich als ein Grund zur Versetzung nie
angesehn werden; in Verbindung mit guten Anlagen kommt es aber eben
nicht vor. Es wird also nur selten irgendwie Einflusz haben; vielmehr
erweist sich das Mitleid gegen dergleichen falte Knaben' erfahrungs-
mäszig als ein schlecht angewendetes; für diese selbst und für die Anstalt
ist es wünschenswert, dasz die Classen strenger, als bisher, durch Ent-
fernung solcher Veteranen gesäubert werden. Ihr Einflusz auf den Tod
der Giasse und den kindlichen Sinn ist verderblicher, als man gewöhn-
lich meint. — Zu grosse Jugend ist allerdings ein Hindernis der Ver-
setzung ; entweder isL der Knabe dabei kindisch und entbehrt der nötigen
Reife des Gbaraclers, oder er ist altklug und gehört zu der erschreck-
lichen Sorte der Wunderkinder, die man nicht noch mehr treiben darf.
Mit dem bewiesenen Fieisze ist es eine eigne Sache. Von Seiten
der Logik läszt sich niehts gegen die Behauptung sagen , dasz der Schü-
ler, der trotz alles seines Fleiszes das Ziel nicht erreicht hat, doch erst
recht nicht reif sei. Auf der andern Seite ist nicht zu verkennen, dasz
eine gewisse Garantie für die Zukuuft gegeben ist, und das ist der einzige
Gesichtspunkt, aus dem der Fleisz berücksichtigt werden darf. Aber je
weiter hinauf, desto mehr gilt, so hart es auch klingt, das stoische
f misericordia commotus ne sis' ; denn der heruntergekommene Gandidat
der Theologie hatte ganz Recht, als er sagte, an seinem Unglück seien
niehl diejenigen schuld, die ihn im 2n Examen hätten durchfallen lassen,
sondern diejenigen, die ihm durch das Abiturientenexamen und das erste
theologische geholfen hätten.
Einen talentvollen Schüler sitzen zu lassen, weil er etwas faul ge-
wesen, ist häufig sehr unrecht. Die Leistungen , und mithin die Reife,
sind im Ganzen und Groszen ein Product aus Anlagen und Fleisz; der
Fleisz ist der Goefficient der unbekannten Grösze; freilich, wenn ein
Factor gleich 0 4st, so ist auch das Product gleich 0. Aber der Fleisz
kann zunehmen, die Anlagen sind im Ganzen constant, und je höher hin-
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Ueber Versetzungen. 127
auf, desto entscheidender werden sie. Wenn zwei Morgen Acker mittel«
mäszige Gerste getragen haben, und der Landmann wollte den einen, der
Weizenboden ist , zur Strafe wieder mit Gerste , den andern , der Gersten-
boden ist, zur Anerkennung mit Weizen besäen, so handelt er thöricht.
Dasz bis zu einem gewissen Grade der Fleisz die Anlagen ersetzen kann,
ist dabei natürlich nicht bestritten, und einige Ausgleichung Hegt darin,
dasz die fähigsten auf der Schule äuszerst selten zugleich $ie fleiszigsten
sind. Die Lehrer, die beides vereint zu finden meinen, sind sehr häufig
in einer Täuschung befangen, die sich gewöhnlich auf den Fleisz, mit-
unter auch auf die Anlagen bezieht. Es liegt nun aber in der mensch-
lichen Natur , die Leistungen nicht rein objectiv gelten zu lassen , sondern
belohnend oder strafend einzugreifen, und es waltet darin ein sittlich
ernstes Gefühl der Gerechtigkeit ; aber diese Gerechtigkeit ist eine mensch-
liche, die Ungleichheit der Anlagen stammt von Gott, und es geziemt sich
woi, des Weinbergs zu gedenken. In der letzten Zeit pflegt ja Jeder, der
auf Versetzung hofft, fleiszig zu sein; dasz das mit derselben notwendig
wieder aufhöre, ist nicht ausgemacht. Zwar vermeinen die Lehrer oft,
sie könnten die Beförderung des Talentes bei mangelhaftem Fleisze vor
den Schülern nicht verantworten; diese aber sehn keineswegs eine Un-
gerechtigkeit darin; ihre Rede ist: cJa, dem wird es auch so leicht.'
Mit dieser Erörterung will ich durchaus nicht ausgeschlossen wissen,
dasz im gegebenen Falle der faule Schüler trotz . seines Talentes durch-
falle, der fleiszige trotz seiner Mängel befördert werde, sondern nur dar-
auf hinweisen , dasz Belohnung und Strafe kein Hauptmoment bei der
Versetzung sind. — Im geraden Gegensatze dazu steht es , dasz man ge-
rade da, wo die Anlagen gar nichts gelten sollten, sie über alle Gebühr
berücksichtigt Medaillen, Prämien und Auszeichnungen, die nur dem
Fleisze und der Sittlichkeit zu Teil werden sollten, trägt im Durschschnitt
das Talent davon. Durch die Versetzung des begabten Schülers erkenne
ich nur einen factischen Vorzug an : durch die Auszeichnung belohne ich
diesen ganz unverdienter Weise.
Die sittliche Führung, so wesentlich sie für den Werth des
Menschen ist, so wenig kann sie an und für sich ein Moment für die
Versetzung abgeben. Ist darunter sittlicher Ernst verbunden mit stetem
Fleisze gemeint , nun so verdient sie Berücksichtigung ; Unreife des Cha-
racters und moralische Mängel dagegen können ein Zurückbleiben moti-
vieren. Bestimmte Principien lassen sich aber darüber nicht aufstellen;
die ernste Erwägung des vorliegenden Falles musz entscheiden.
'Welche? Anteil steht dem Director und den einzelnen Lehrern an
der Berathung uud Beschluszfassung über die Versetzung zu?'
Alle Lehrer der Classe und der Director stimmen ab; auch der in der
unteren etwa nicht unterrichtende Ordinarius derjenigen Classe , in welche
versetzt werden soll. Absolute Majorität entscheidet; bei gleichen Stimmen
gibt diejenige des Directors den Ausschlag. Dasz dabei Jeder nicht nach.
seinem Fache, sondern nach dem Gesamtergebnis abstimmt, ist selbst-
verständlich. — An einigen Anstalten soll es Siüe sein, dasz sämtliche
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128 Die sechs Römeroden des Horaz.
Lehrer für alle (Hassen stimmen. Das ist unmotiviert und höchst bedenk-
lich. Die Prüfling der Arbeiten musz dabei vielfach oberflächlich und das
Urteil über unbekannte Schüler stets schwankend sein. Die Folge ist,
dasz der fremde Lehrer sich nach der Abstimmung dessen richtet, dem
er die gröszere Befähigung zutraut, oder der sich in der Gouferenz am
besten geltend tu machen weisz. — Noch bedenklicher aber ist es , dem
Director allein die Entscheidung zu überlassen. Das macht die Lehrer zu
Nullen neben der einen Eins. Die Anstalt ist zu bedauern, wo sie dies in
der That sind; wo sie es nicht sind, und dennoch dies Recht geltend ge-
macht wird, ist eine traurige Zerfahrenheit und eine künstlich hervor-
gerufene Opposition gerade der Tüchtigeren unter den Lehrern die not-
wendige Folge. Und der Lehrer, der zum Director erwählt wird, musz
die Vorstellung gewinnen , ab sei über Nacht eine wundersame Erleuch-
tung über ihn gekommen , da er plötzlich aus einem Thyrsussehwinger
ein Bacchus geworden. Die ungemeine sapientia supra vulgus, die ihm
amtlich beigelegt wird , wird er factisch zu besitzen glauben , und auch
in anderer Beziehung gellend zu machen suchen. Da steht denn bei
Manchem zu befürchten , dasz , mit Shakspeare zu reden , *Gemüt und Amt
einander sich verderben.'
Stralsund. Dr. Carl Kruse.
12.
Die sechs „Römeroden" des Horaz.*).
(Bede bei Entlassung der Abiturienten.)
Odi profanum volgrus et arceo ;
Favete ling-uis!
Mit diesen Worten leitete einst der venusinische Sänger jene grosz-
artigen sechs Gedichte ein , in denen er der r ö m i s c h e n J u g e n d den
Weg vorzeichnete, eine bessere Zukunft anzubahnen. Wie damals, so
richten sich auch heut zu Tage die Blicke aller Edlen auf die Jugend,
von Ihr hoffend und erwartend, dasz sie bessere Zeiten heraufführen
werde. Von der jungen Generation hängt ja in Wirklichkeit die Zukunft
ab, nicht blosz für Ein, nein, für mehrere Menschenalter. Ist die Ju-
gend , und namentlich diejenige , welche dereinst auf den Leuchter ge-
stellt sein wird, dem Verderbnisse der Zeit verfallen, wehe dann der
*) Der Vf. hat hier einmal den tiefern Sinn der sog. Römeroden
und deren innigen Zusammenhang unter einander zur Anschauung zu
bringen gesucht, sodann aber den Versuch gemacht, in wie weit an-
tikes Dichten und Denken auch für die Erziehung in der christlichen
Gegenwart heilsamer und fruchtbarer, als gewöhnlich geschieht, ver-
werthet werden könnte. Nur diese beiden Rücksichten bestimmten ihn
zur Veröffentlichung dieser Entlassungsrede.
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Die sechs Römeroden des Horaz. 129
Zukunft eines Volkes! Ist aber die Jugend aufgewachsen und gefestigt in
Weisheit vor Gott und den Menschen, glücklich dann die kommenden
Geschlechter!
Sie, theuere Zöglinge dieser Anstalt, die Sie jetzt im Begriffe
stehen, zu den höheren Studien überzugehen, um Sich vorzubereiten für
Ihren Lebensberuf, in dem Sie mehr oder weniger, jeder in seinem Kreise
und in seiner Weise, in die Geschicke der Zukunft eingreifen werden,
Sie haben unlängst mit vollem Eifer und in gerechter Bewunderung jene
Gesänge des römischen Dichters in Sich aufgenommen. Aber ist es Ihrem
Bewusztsein auch nahe getreten, dasz alle seine Mahnungen, wenn man
nur die Namen ändert, wie auf unsre Zeit gemacht zu sein scheinen?
Ja, in Wahrheit, mutato nomine de te fabula- narratur kann man mit
Horaz Jedem von Ihnen zurufen. — Was könnte ich daher in dieser feier-
lichen Abschiedsstunde, wo Sie der Stätte Lebewohl sagen, an der Jahre
lang Ihre Erziehung geleitet, an der Jahre lang Ihr Geist nach all seinen
Richtungen durch die verschiedensten Disciplinen geschult, geübt, ent-
wickelt wurde; wo Sie namentlich an den unsterblichen Meisterwerken
der Griechen und Bömer zu gesundem Geschmacke, zur Begeisterung
für alles Schöne, Edle, Erhabene, zum Adel der Phantasie, zu richtigem
Urteile, zu rascherem Erfassen, zu geistiger Klarheit . . . angeleitet wur-
den, was könnte ich da besseres thun, als jene Mahnungen des alten
Römers Ihnen aufzufrischen und auf Ihre gegenwärtige Lage anzupassen,
zumal wo ich der Hoffnung lebe, dasz gerade Horaz auch in späteren
Jahren noch oftmals als treuer Freund von Ihnen werde angegangen wer-
den! Denn, abgesehen von allen anderen Vorzügen, welcher Dichter
beleuchtet so alle Verhältnisse des Lebens, wie er; ja, welcher Philo-
soph weisz, wie Horaz, für alle Lagen so bündigen Rath zu erteilen, so
kernige Sinnsprüche uns zuzurufen? Freilich giebt es auch etliche Sce-
aen, von denen leider Quintilian's Wort gilt, wenn er sagt, er möge
nicht an allen Stellen den Horaz erklären. Aber lassen wir ihn deshalb
uns nicht verleiden ; noch werfen wir darum einen Stein auf ihn ! Sicher-
lich steht er, dem die Sonne der Offenbarung nicht leuchtete, den der
Strahl der Gnade nicht erwärmte, entschuldigter da, als jene Dichter
christlicher Zeit, die, obwol dem Namen nach Christen , in ihren Werken
sinnlicher, verführerischer, heidnischer sind, als die Heiden selbst,
- entschuldigter auch, als jene Männer, die da Worte der heiligen Re-
ligion, Worte der Gottesfurcht, Worte der Herzensreinheit im Munde
führen und lehren , aber im Geheimen das treiben , was der heiduische
Dichter vielleicht nur zum Spiel in Versen verwandt, aber weder im
offenen noch im geheimen Wandel in Ausführung gebracht hat. Doch,
wie dem auch sei , pflücken wir im Garten der horazischen Poesie die
nährenden und stärkenden Früchte, und lassen und fliehen wir die gifti-
gen! — Wenn Sie demnach in späterer Zeit die herrlichen Gedichte des
Horaz wieder und wieder zur Hand nehmen , mögen Sie dann jedesmal
Sich dieser festlichen Stunde erinnern und der guten Vorsätze gedenken,
von denen ich Sie heute warm beseelt wissen möchte! Daher noch Ein-
mal: Favete unguis!
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130 Die sechs Römeroden des Horaz.
Die Zeit des Horaz kannte, wie die unsrige, kein höheres Losungs-
wort als ' Geld'. Cleld war der Abgott, dem alles huldigte. €Die Köni-
gin Pecunia' — so spottet Horaz in einer Epistel — Verleiht Ansehn,
Freude, Geschlechtsadel, Schönheit und Wohlgestalt, ja Beredsamkeit
und Anmut.' * Alles', — sagt er anderswo — Tugend, Ruf, Ehre, alles
Göttliche, alles Menschliche huldigt dem Reich turne; wer Reichtumer
aufgehäuft, der wird berühmt sein, wird als tapfer, als gerecht, als weise
gelten, ja König sein und was immer er will.' Demnach wurde die Ar-
mut als Schmach, ja als Laster angerechnet: magnum pauperies oppro-
brium. Alles jagte daher dem Reichtume nach ; Habsucht war die ganze
Richtung der Zeit.
Was lehrt dagegen,* wenn wir die poetische Fassung abschälen,
Horaz in der ersten seiner sechs Römeroden?
cMagst du noch so hoch stehen , noch so mächtig , selbst ein König
sein, du bist nicht allmächtig, bist kein Gott; Zeus herscht auch über die
Könige. Magst du noch so grosze Besitzungen haben , von noch so hohem
Adel und Ruhm sein: du bist demselben Loose unterworfen wie der
niedrigste Erdensohn, bist ein sterblicher Mensch; ja im Gegenteile, der
Reiche ist keineswegs besser daran , als der genügsame Landmann oder
Hirt, als derjenige, der sich begnügt mit dem, was zum Le"beo hinreicht:
diesen flieht nicht der erquickende Schlaf; nicht verfolgen ihn die Sorgen
all , die den Reichen quälen , sei es dasz der Sturm seine Schiffe zu zer-
trümmern, droht y sei es dasz Schlössen oder Regengüsse oder Hagel oder
Frost oder Dürre seine Besitzungen überziehen. Noch weniger verfolget
ihn der Ekel der Uebersättigung, wie den blasierten Reichen, der nicht
weisz, wo er mehr Freude, Friede und Ruhe finden soll; den Furcht und
Sorge allüberallhin begleiten, mag er sich Paläste im Meere erbauen, mag
er zu Schiff oder zu Rosz nach fernen Zonen fliehen. Darum weg mit
der unheilvollen Habsucht, und seien wir zufrieden mit
dem, was genugist!' S o der römische Dichter. Die Anwendung auf
unsere Zeit ergibt sich von selbst, und kann ich mir füglich ersparen.
Im Gefolge des Reichtums aber, der sich in Rom aufgehäuft hatte,
und wiederum zugleich als Grund zu der immer weiter greifenden Hab-
sucht, herschte eine Genuszsucht, eine Verweichlichung, die ebenso
weit entfernt war von der natürlichen Sittlichkeit, wie von dem alten
Römersinne jener Zeiten , wo es hiesz : Et facere et pati fortia Romanum
est. Tugend war zum leeren Klange geworden, Treu und Glauben aus
der Menschheit geschwunden; nur rohe Selbstsucht, die vor keinem Ver-
brechen, vor keiner Schande zurückbebte, dafern nur das Ziel erreicht
wurde, bestimmte das Thun der Menschen; Gemeinsinn und Vaterlands-
liebe vollends waren längst unbekannte Dinge geworden. Und ist es in
unseren Tagen viel anders?
Hatte demnach der Dichter im ersten Gesänge gemahnt: *Weg mit
der Habsucht; weg mit dem verderblichen Haschen nach Reichtum', so
ruft er im zweiten: cWeg auch mit dem verweichlichenden
Wohlleben! Entbehrung vielmehr lerne der Jüngling, gekräftigt im
harten Waffendienste, ertragen; in Fährnissen und Abhärtungen bringe
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Die sechs Römeroden des Horaz. 131
er sein Leben hin ; ein Schrecken werde er für die Feiode des Vaterlandes,
und nimmer vergesse er, dasz es schön sei und sflsz fürs Vaterland zu
sterben; dasz Mannhaftigkeit und Mannestugend, hoch über die Urteile
der Menge erhaben, dasz Tugend, den Dunstkreis der niederen Erde tief
unter sich lassend, den Weg zum Himmel fleugt, und dasz Treu und
Glauben kein leerer Wahn sind.' .
'Darum', so mahnt der Sänger im dritten Liede, csei auf Edles
und Gutes all Euer Streben gerichtet in aller Beharrlich-
keit! Wer im Guten beharrlieh ist, der ist der wahre Mann; den
schreckt nicht der Menge tobend Geschrei, nicht des Gewalthabers finste-
res Antlitz, nicht der Elemente Wuth. Beharrlichkeit im Guten
verlieh die Unsterblichkeit all den Helden der Vorzeit, liesz Roma die
Beherscherin des Erdkreises werden. Aber n u r s o lange sollte Rom die-
ses bleiben — war der Gottheil Beschlusz — , als es nicht in die Fusz-
tapfen des treulosen , des ehebrecherischen Troja's , seiner Ahnin träte.
Sobald es aber Troja's Beispiel der Treulosigkeit und schnöden Ueppigkeit
nachahmen würde, sollte es auch Troja's schreckliches Schicksal erfahren.9
Diese Worte des Musenpriesters klingen sie nicht wie Seher -Worte
für alle Zeiten, auch für unsre Zeiten? Wie sie an Rom in Erfüllung
gegangen, welches, als die Fäulnis der Entsittlichung und Ueppigkeit,
als Treulosigkeit und Selbstsucht alles Masz überschritten, in gewaltige
Trümmer zusammenbrach, indem edlere, unentweihte Nationen aus Ger-
manien's Wäldern ihre siegreichen Fahnen im ganzen Römerreiche auf-
pflanzten : so sind zu allen Zeiten und in allen Ländern , vom grauesten
Altertume bis herab auf die Gegenwart, die Staaten verrottet zusammen-
gebrochen, sobald Sittlichkeit, Treue uud Ehrlichkeit, die festesten und
einzigen Grundfesten der Staaten , unterwühlt waren. Und — wer weisz,
ob nicht eine nahe Zukunft auch unserm Lande ein gleiches Schicksal
aufgespart hat? Doch baldige Umkehr zum Besseren kann solches noch
abwenden, und die junge Geheration thue das ihrige dazu!
Indessen es musz , soll des Vaterlandes Heil gesichert sein , noch ein
Weiteres hinzukommen, lehrt der veuusinische Sänger in -seiner vierten
Römerode. Und das ist Pflege der Künste und Wissenschaften
und die dadurch erzielte höhere Bildung und humane Ge-
sittung. Fördert der Musen Pflege mächtig schon den Einzelnen,
so dasz er überall sich glücklich , sicher , heimisch fühlen mag : so er-
bläht erst vollends dem Staate Glück und Segen, daferu der Musen mil-
der Zuspruch im Rathe der Mächtigen gehört wird; dafern Bildung ihren
sittigenden mildernden Einflusz durch den ganzen Leib des Staates ge-
haucht hat, so dasz Hoch wie Niedrig vor roher Gewaltthat zurück-
bebt; denn
Vis consili expers mole ruit sua;
Vim temperatam Di quoque provehunt
In maius : idem ödere vires
Omne nefas animo moventes.
Fast dasselbe lehrt der grosze vaterländische Dichter in den Worten :
'Wo rohe Kräfte sinnlos walten, — Da kann sich kein Gebild gestalten;
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132 Die sechs Römeroden des Horaz.
— Wo sich die Völker selbst befrein , — Da kann die Wohlfahrt nicht
gedeihn' — oder an andrer 'Stelle , wenn er singt:
Freiheit liebt das Thier der Wüste,
Frei im Aether herrscht der Gott;
• Ihrer Brust gewaltge Lüste
Zähmet das Naturgebot.
Doch der Mensch in ihrer Mitte
Soll sich an den Menschen reihn,
Und allein durch seine Sitte
Kann er frei und mächtig sein.
Nun wol; wenn dem so ist, theure Zöglinge, wenn die Wissen-
schaften den milden Sinn, höhere Bildung und Sitte gewähren, auf denen
wesentlich das Glück nicht blosz des Einzelnen, der sie pflegt, sondern
sogar des ganzen Vaterlandes beruht: wie glücklich können Sie Sich
preisen, dasz Sie an dieser schönen Aufgabe mitzuarbeiten berufen sind!
Wie müssen Sie Sich angetrieben fühlen , fort und fort höherer Vervoll-
kommnung in den Wissenschaften , so Ihnen zum Heil , wie dem Vater-
lande zur Wohlfahrt , entgegenzustreben !
Wenn sodann im fünften Gesänge Horaz den Verfall der Vater-
landsliebe beklagt, die tiefe Schmach bejammert, die über Rom ge-
kommen war, seit die begeisterte, Gut und Blut aufopfernde Vaterlands-
liebe der Zeit eines Regulus geschwunden war ; seit Römer in einseitiger
Selbstsucht im Feindeslande sich wohnlich einrichteten, sich behaglich
zu fühlen gewöhnten, ja sogar, vergessend ihres Namens, ihrer Toga,
der ewigen Vesta , als Kämpfer in den Reihen der Feinde ergrauten : ist
es da nicht fast, als ob wir germanische Zustände schildern hörten?
Oder was hat denn Deutschland zerrissen, zerklüftet, was uns so oft dem
Fremden, dem Feinde zum Spieiballe, zum Spotte gemacht, als gerade
der Verfall der Vaterlandsliebe , als eif ersuch telnde Selbstsucht einzelner
Teile? Wie oft hat sogar der Bürgerkrieg in Germania's Gauen gewütet!
Ja, haben nicht oftmals Deutsche sich den eigenen Feinden verkauft, nicht
in den Reihen der Bedrücker deutscher Grösze, deutscher Freiheit ge-
kämpft? Ist es nicht sogar des Deutschen Art, in den Gegenden der ver-
schiedensten Zungen sich zu e n t deutschen , seine Nation , seine Sprache
abzustreifen, uneingedenk freierer Vorfahren, seines Stammes , ja sogar,
seines Namens sich schämend , mit den Fremden , selbst mit den Feinden
sich zu verschmelzen , wogegen der Nichtdeutsche in allen Ländern bleibt,
was er ist? 0, dasz des Venusiners Wunsch nach Wiederbelebung
echter Vaterlandsliebe auch in unserer Jugend in Erfüllung gehen möge!
0, dasz wenigstens in der heranwachsenden Generation ein echt vater-
ländischer Geist wehen möchte! Dasz wenigstens nicht selbstische Partei-
leidenschaft verfolgt würde, um das Vaterland in widerstreitende Teile
zu zerreiszen , statt zu halten an dem Worte des deutschesten der deut-
schen Dichter: cDas ganze Deutschland soll es sein!'
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Die sechs Römeroden des Horaz. 133
Doch folgen wir dem römischen Dichter weiter. In der letzten
jener Vaterlandsoden deckt Horaz erst den tiefsten und eigentlichen
Grund aller der Schäden und Gebrechen auf, an denen zu seiner
Zeit das Römervolk erkrankt war: es war dies der Verfall der Reli-
giosität. cDie Tempel verödeten, die Gottheit wurde misachtet, der
Religion gespottet; darob wurde Rom mit schweren Strafen heimgesucht,
mit Niederlagen , mit Burgerkrieg. Aus der Irreligiosität erwuchs Schuld
auf Schuld; es ward das Familienleben entweiht, die Ehe entheiligt;
niedrige Sinnlichkeit brach über die Jugend herein , besudelte alle Alter,
Geschlechter und Verhältnisse, erzeugte ein üppiges, verweichlichtes,
unkeusches Geschlecht. Wie anders zur Zeit der Vorfahren , wo eine
abgehärtete, mannhafte, den Lüsten fremde Jugend jene Helden abgab,
die einen Pyrrhus, einen Hannibal, einen Antiochus niedergeschmettert!'
Oder, um an ein verwandtes Gedicht desselben Römers zu erinnern, wie
anders und besser bei den Scythen und Gelen , wo auf Entweihung der
Keuschheit Todesstrafe stand! Wie anders bei den alten Germanen, de-
nen Tacitus nachrühmt: 'Also leben sie in gesicherter Keuschheit, nicht
durch schlüpfrige Schauspiele verführt, noch durch üppige Gastmahle.
Befleckte Keuschheit findet keine Gnade ; denn dort lacht niemand über
das Laster; verführen und verführt werden heiszt nicht Weltlon.'
Wenn Horaz in dem Verfalle der Religiosität den Urgrund aller Ge-
brechen seiner Zeit erkannt hat, hat er damit nicht das Licht aufgesteckt
zur Beleuchtung und Aufhellung alter ähnlichen Zeitverhältnisse? Was
anders als Verfall der Religion hatte die Entsittlichung Europa's am Ende
des vorigen Jahrhunderts, halle die französische Revolution mit ihren
Gräueln heraufbeschworen? Was anders als Misachtung der Religion .ist
auch in unsern Tagen der Urgrund aller Krebsschäden, die an der Mensch-
heit nagen ? Wo keine Religion , da keine Verleugnung seines Selbst , da
kein höherer Beweggrund bei seinem Thun , als Refriedigung des niede-
ren Seins , gleichviel durch welche Mittel ; wo keine Religion (wohlge-
merkt im Herzen, nicht blosz auf der Zunge), da keine Sittlichkeit, da
keine Zucht, keine Reinheit des Wandels; da ist allen Laslern Thur und
Thor geöffnet Darum festgehalten an der Religion! Wenn hierzu aufs
Nachdrucksvollste der heidnische Dichter auffordert; wenn er verlangt,
'von der Gottheit müsse alles Reginnen seinen Anfang nehmen , auf sie
alles zurückbezogen werden' (Hinc omne prineipium , huc refer exitum) :
werden da wir Christen von einem Heiden uns beschämen lassen?!
Wohlan denn , theure Zöglinge ! Soll dereinst auch bei Ihnen der
Schreckensruf des Dichters , womit er seine ernsten Mahnungen schlieszt,
in Erfüllung gehen , der Ausruf:
Damnosa quid non immiuuit dies?
Aetas parentum peior avis lulit
Nos nequiores mox daturos
Progeniem vitiosiorem —
oder aber dürfen wir das Gegenteil hoffen? Werden Sie mit Aufbietung
all ihrer Kräfte bestrebt sein, den Hoffnungen und Erwartungen gerecht
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134 H. Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen.
zu werden, welche auf Sie gesetzt werden? Möge der Allmächtige das
verleihen! Mit' seiner Gnade können und werden Sie es.
So entlassen wir Sie denn voll der freudigen Zuversieht: Sie werden
Sich fern halten von dem verderblichen Geiste der Zeit, — werden kör-
perlich und geistig stark jederzeit dastehen, — werden dem Guten in
aller Beharrlichkeit nachstreben, — werden fortfahren Sich selbst zu
veredeln durch die Wissenschaft, um auch andre einst veredeln zu kön-
nen, — werden ans Vaterland, ans theure, sich anschlieszen, — werden
endlich (worin Alles , Alles was wir Menschen zu thun haben , mit Einem
Worte enthalten ist) Gott und sein Gebot heilig halten , mit Gott alles
.beginnen , auf Gott Alles zurückbeziehen : Hinc omne principium , huc
refer exitum !
Gonitz in Westpreuszen. Anton Goebel.
13.
1) Die Psalmen übersetzt und ausgelegt von Dr. H. Hupfeld,
ord. Professor d. Theol. zu Halle, erster bis vierter Band.
Gotha, Fr. A. Perthes 1 855— 1862.
2) Die Psalmen übersetzt und ausgelegt von Dr. F. Hitzig,
Professor d. Theol. in Heidelberg, erster Band (Ps. I — 55).
Leipzig u. Heidelberg 1863. (Der zweite und letzte Band ist
unter der Presse.)
Zu den Schulbüchern des Gymnasialunterrichts im weiteren Sinne,
d. h. zu der Ausstattung des Lehrers der hebräischen Sprache oder der
Schulbibliotheken gehören unstreitig die Gommentare zum A. T., und es
iät eine Art Notwendigkeit , dasz an diesem Orte von Zeit zu Zeil in ge-
bührender Kürze darüber Bericht erstattet wird , was von Bedeutung auf
diesem Felde der Büchermarkt gebracht habe. Und da wol die Annahme
gleichfalls gerechtfertigt ist, dasz in den vorbereitenden Schulen neben
prosaischen Schriften des A. T. auch prophetische und poetische, oder
doch jedenfalls die Psalmen behandelt werden , und da auch der Religions-
lehrer die Psalmen im Urtext studieren sollte, so mögen für diesmal die
zwei neuesten Auslegungen des Psalters nach ihrer Eigentümlichkeit be-
schrieben und auf ihr Verhältnis zum Schulunterricht hingewiesen werden.
Seitdem de Wette's, seiner Zeit sehr verdienstliche, Arbeit auf-
gehört hat, die höchste oder überhaupt nur eine Auctorität für die Psal-
menauslegung zu sein, sind der Reihe nach viele, meist recht gute und
die Sache immer weiter fördernde Gommentare zu diesem poetischen Buch
des A. T. veröffentlicht worden. Sehen wir ab von den minder bedeuten-
den , zum Teil ziemlich wertlosen oder nur der Erbauung dienenden Bei-
trägen von Glausz 1831, Stier 1834—36, Maurer 1838, Thofuck 1843,
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H. Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen. 136
7. Lesgerke 1847; so können die anderen zahlreichen Arbeiten von Ewald
1836 und 1840, Köster 1837, Hengstenberg 1842—47 und 1849—62,
(Mausen 1853, Delitzsch 1859—60 sämtlich als Werke bezeichnet wer-
den, die je in ihrer Art Epoche machten, bald mehr bald minder neue
Bahnen aufschlössen und der deutschen Wissenschaft zur Ehre gereichen.
So wenig wir auch nur von Einer der eben genannten Auslegungen sagen
möchten, dasz sie für den Lehrer, der die Psalmen erklären und deren
Sinn für sich und seine Schüler befriedigend feststellen will, ganz ent-
behrlich sei; so gilt dies noch in höherem Grade von den zwei in der
Ueberschrifl bezeichneten neuesten Arbeiten, die auf den Schultern dieser
und früherer Vorgänger stehen und von denen namentlich die erstere,
bei aller Selbständigkeit, zugleich eine beurteilende Zusammenstellung
der nennenswertesten älteren Auffassungen aller wichtigen Stellen bietet.
Hupfeld spricht es ja ausdrücklich als sein Bestreben aus, <nicht allein
überhaupt der Aufgabe des Auslegers in ihrem vollen Umfang gerecht zu
werden, sondern auch insbesondere eine Geschichte der Psalmenauslegung
in ihren hervorragenden Stellen und Vertretern zu liefern'. Diesz anzu-
streben und zu leisten, ist nun zwar keineswegs das Ziel, das der Gom-
mentar von Hitzig im Auge hat; dasz er aber gleichfalls die bedeutenderen
Arbeiten früherer Ausleger genau kennt und nötigenfalls berücksichtigt,
iäszt sich überall wahrnehmen, wenn gleich eine wesentliche Eigentüm-
lichkeit dieses Erklärers , die er mit Ewald und Olshausen teilt , darin
bestehen möchte, dasz man ihm die Selbständigkeit und Unabhängigkeit
von fremder Auctorität auf jedem Schritt und Tritt anfühlt, wofür wir
ihm wegen der hie und da überraschend glücklichen Griffe in neuer Aus-
legung recht dankbar sein müssen. Fast musz man annehmen , dasz von
ihm jederzeit der Text und zwar unpunktiert gelesen und wieder gelesen,
erwogen und nach meinem Sinn festgestellt wird, lange bevor er nur
einen andern Gommentar ansieht und vergleicht, oder vielmehr so, dasz
er alles Fremde absichtlich vergiszt und ignorirt, während Hupfeld bei
aller Genauigkeit in Erwägung des reinen Textes doch alsbald hinüber-
sieht nach dem , was Andere darüber schon gedacht und gesagt haben,
und dann das Für und das Wider sorgfältig untersucht und darnach zu-
letzt das Ergebnis bestimmt.
So hat denn allerdings die Arbeit von Hupfeld den Vorzug einer
v gröszeren Vollständigkeit, die von Hitzig den einer noch energischeren,
" frischeren und völlig unbefangenen Selbständigkeit. Wie sich dieser und
andere Unterschiede im Einzelnen ausprägen, soll jedoch unten an einem
besonderen Beispiele nachgewiesen werden. Vorerst möge nur noch auf
einige Punkte aufmerksam gemacht werden, welche beiden Auslegungen
gemeinsam sind und den Wunsch nahelegen , es möehten diese beiden
tüchtigen, Arbeiten gerade im Gymnasialunterricht recht gründlich und
allgemein benutzt werden , womit jedoch nicht gesagt sein soll, dasz man
in jeder Beziehung , namentlich in theologischer Auslegung , dabei stehen
zn bleiben habe.
In erster Linie ist bei beiden zu nennen und zu rühmen das mit
besonderem Nachdruck und Ernst gehandhabte Streben nach ungefärbter
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136 H. Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen.
Wahrheit, und nur nach Wahrheit, nach dem Ziel, einzig blosz den Text
reden zu lassen, nicht aber andere, statt durch Gründe nur durch Tra-
dition gestützte Auffassungen des Textes , wie sie auf Grund der Macht-
sprüche der Kirche oder neutestamentlicher Gitate u. dgl. lange Zeit her-
kömmlich gewesen waren. Die von de Wette und Ewald zuerst mit be-
sonderem Glück betretene Bahn ist von diesen ihren neueren Nachfolgern
mit derselben Entschiedenheit verfolgt worden , von Hitzig wie gesagt,
noch energischer und teilweise wenigstens scheinbar (s. unten) in ande-
rem Sinne als von Hupfeld. Zwar könnte es scheinen , die Aeuszerung
des letzteren , cein Buch wie die Psalmen fordert vorzugsweise eine theo-
logische Auslegung' stehe damit im Widerspruch, führe geradezu zu
dogmatischer Befangenheit und es müsse notwendig Hupfeld's Auslegungs-
weise von der Hitzig's im Princip verschieden sein, zumal da er noch
ausdrücklich beigefügt, 'er hoffe diese Forderung in höherem Masze er-
füllt zu haben , als irgend einer seiner Vorgänger.' In der That sind aber
gewis beide hierin in den Grundsätzen vollkommen einig und gehen nur
in der Anwendung je und je auseinander. Denn auch Hitzig, wie gewis
alle Vertreter einer gesunden Exegese, müssen zustimmen, wenn Hupfeld
das, was er meine, mit folgenden Worten des Näheren bestimmt : *Natür-
lich vorausgesetzt, dasz man unter theologischer oder religiöser Aus-
legung nicht etwa jene erbaulichen Tiraden oder alle Schranken über-
fliegenden typischen Phantasien und Spielereien versteht, denen die älteren
und wieder manche neuern Ausleger sich hingeben ; die alle Unterschiede
zwischen A. und N. T. und unter den verschiedenen Büchern des A. T.
selbst verwischend, nicht minder wie die überwundene rationalistische
Auslegung die concreten Begriffe des A. T. in eine abstracte Allgemeinheit
auflösen und alles wahre Verständnis desselben gründlich verkehren. Ich
verstehe darunter eile Erklärung der vorkommenden religiösen Begriffe
und Anschauungen in ihrer eigentümlichen geschichtlichen Gestalt , Be-
grenzung und Entwicklungsstufe, oder solche praktische Anwendungen,
die erweislich in dem Gesichtskreis und der Tragweite der betreffenden
Stellen liegen.' Dasz jedoch innerhalb dieses Bahmens noch ziemlich
grosze Unterschiede in der theologischen Behandlung, in der gröszeren
oder kleineren Abhängigkeit von kirchlicher oder sonstiger Ueberlieferung,
wie sie auch der nüchternen Auslegung erlaubt ist, in der Stellung zu
dem , was man den , etwa durch das N. T. erschlossenen , tieferen Schrifl-
sinn nennt,, geben kann, gehl teils aus dem vorhin Gesagten hervor, teils
wird es durch das unten gegebene Beispiel recht deutlich ans Licht treten.
Ein zweiter, beiden Cefiximen taren gemeinsamer Vorzug ist sodann
die sorgfältige Behandlung der sprachlichen Seite der Auslegung, und
zwar ebensowol in lexico graphischer als in grammatischer Hinsicht. Das
ist ganz besonders erfreulich zu sehen,' wie hier von zwei bewährten
Männern des Faches mit ernstestem Bemühen nach einem und demselben
Ziele gestrebt wird, über eine Menge noch vorhandener Dunkelheiten volle
Klarheit zu verbreiten. Und dasz sie zum Teil, ja ziemlich oft nicht allein
auf ganz getrennten Wegen gehen, sondern auch zu recht verschiedenen
Ergebnissen gelangen, kann für die Sache selbst und für die Schule meist
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H. Hupfeld und F. ^Hitzig: die Psalmen. 137
nur Gewinn bringen. Für vieles Neue und Wohlbegründete in sprach-
lichen Dingen ist man dem Einen wie dem Andern zu aufrichtigem Danke
verpflichtet.
Auch hinsichtlich der Uebersetzungsgrundsätze herscht wol zwischen
beiden keine wesentliche Differenz. Die Uebertragungen , wie sie in bei-
den Commentaren vorliegen , sind nach denselben Forderungen gefertigt,
wörtlich, aber mit Geschmack, körnig, bändig und orientalisch gefärbt,
besonders bei Hitzig, ohne unverständlich zu werden, des edlen Inhalts
würdig, wie wol Hitzig dem Leser oft ziemlich mehr Duldung gegen die
orientalische Phantasie zumutet.
Selbst in Betreff der historischen Seite der Auslegung können wir,
so wenig die beiden Ausleger es Wort haben wollen , und so sehr sie
facliscb oft auseinandergehen, keine prinzipiellen Grund Verschiedenheiten
erkennen, sondern sind überzeugt, dasz, so sehr sie sich hauptsächlich
auf diesem Felde bald mehr bald weniger offen gegenseitig befehden, bei
geöffnetem Visir 'sich oftmals Bruderzüge unterm Helm entblöszen' wür-
den. Den Beleg für die Verschiedenheit wie für die Einigkeit s. w. unten.
Endlich ist das auch noch eine gemeinsame, wenngleich nicht eben
erfreuliche, Eigentümlichkeit beider, dasz sie fast in gleichem Nasze da.
und dort eine zu grosze Gereiztheit gegenüber von abweichenden Auf-
fassungen und ein zu starkes Selbstgefühl heraustreten lassen. Mannich-
fach liegen freilich Herausforderungen genug zu Grund, und mitunter gilt
es auch von exegetischen Arbeiten: difficile est satiram non scribere.
Aber selbst in diesem Falle entstellt es einen Gommeutar zu einem bib-
lischen Buch , besonders zu dem Psalter, (der, ob auch nicht dem Worte
(Ps. 18, 36) doch wiederholt dem Sinne nach die goldene Wahrheit preist:
'wenn du mich demütigst , machst du mich grosz') , wenn die Vorrede
dazu oder gar die Auslegung bittere Ausfälle auf litterarische Gegner zum
Besten gibt.
Doch es ist hier nicht der Ort, hierbei auf Einzelnes hinzuweisen,
so wenig als der Raum gestattet , noch weiter von besonderen Ärmlich-
keiten und Verschiedenheiten der in Frage stehenden Auslegungen oder
von Einzelnheiten zu reden , die zu loben oder aber teilweise zu tadeln
wären. Dem Leser und Schulmann wird es jedenfalls erwünschter sein,
wenn er zum Schlusz an einem ganz speciellen und besonders sprechen-
den Beispiel erfährt, wie diese beiden Ausleger einen und denselben Stoff
behandeln, wie sie scheinbar sehr auseinandergehen und doch im Grunde
so weit einig sind, dasz , wenn auch nicht sie selbst mehr, jedenfalls die
auf ihrem Grunde fortbauende Auslegung zu einem erfreulichen Ergebnis
gelangen könnte, bei dem sich alle die streitenden Teile beruhigen dürf-
ten. Und so können dann auch in ungesuchter Weise kurze Andeutungen
beigefügt werden darüber, in welches Verhältnis die Schule sich zu die-
sen Bibelforschungen zu stellen habe.
Unter diejenigen Psalmen, bei denen sowol manche Einzelnheiten,
als auch namentlich die allgemeinen Fragen nach dem Verfasser, der Ver-
anlassung, dem Inhalt, der Beziehung, — ob auf den Messias oder nicht
— dem Verhältnis zu anderen Lehren der Schrift nicht geringe Schwie-
N. Jahrb. f. Phil, u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 3. 10
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138 H. Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen.
rigkeiten machen, gehört bekanntlich der achte Psalm. Hören wir
zuerst, wie Hupfeld sich über diese letztgenannten Punkte vernehmen
läszt. 'Der Mittelpunkt des Lieds', sagt er, ist die dankbare Betrachtung
der Gfl te Gottes gegen den Menschen, die ihm eine so hohe Stelle in der
Schöpfung angewiesen; und die vorhergehende Betrachtung der Grösze
und Heiüchkeit Gottes in der Pracht des Himmels dient nur dazu, durch
den Gontrast derselben mit der Kleinheit des Menschen die Gnade Gottes
gegen diesen eindringlicher zu machen. — Das« der Psalm keine hi st o-
risohe Beziehung und Deutung bedarf, ja verträgt, ist so augen-
scheinlich (?) , dasz alle Vermutungen dieser Art kurzer Hand abzuweisen
sind , ohne eine Widerlegung zu verdienen. — Directe messianische Weis-
sagung enthalt -der Psalm auf keinen Fall. Eine Beziehung auf Christus
dürfen wir dem Dich t er ja nicht zuschreiben. — Auch ist hier zwar auf
den Fall des Menschen nicht gesehen, sondern die menschliche Natur
lediglich nach ihrer ursprünglichen Einsetzung und Idee betrachtet: aber
daraus folgt nicht, dasz der Psalm auf den jetzigen Zustand nach dem
Fall gar nicht passe, sondern auf den Urständ und seine Wiederher-
stellung durch Christus sehe. Vielmehr geht er unstreitig auf die Wirk-
lichkeit und hat eben von der menschlichen Natur nach dem Fall eine
andere Vorstellung , als die christlichen Dogmatiker'.
Was dagegen Hitzig in den genannten Beziehungen sagt, läszt sich
in folgenden Sätzen zusammenfassen: *Es ist eine Ode an Jahve, den
huldvollen Weltgebieter. Herlich auf Erden zeigt sich unser Gott,
der durch den Mund von Kindern seine Feinde entwaffnete. Der himmlische
Schöpfer, wie nimmt er sich doch auch des Menschen an, welchen er
unter Gott (wol eher 'so, dasz er ihn nur wenig hinter Gott zurückstehen
läszt') zum Herrn der Erde bestellt hat! — Freudig bewundernde An-
schauung der Welt preist in diesem Psalm Jahve als denjenigen , der die
Menschen überhaupt hoch begnadigt hat. Damit ist aber noch keineswegs
alle volkstümliche Beziehung ausgeschlossen , und kann darum gkichwol
der Psalm aus einer geschichtlichen Veranlassung hervorge-
gangen sein. Derselbe Jahve ist ja auch Israel's Nationalgotl , nur als
solcher kann er * Dränger und rachgierige Feinde* V. 3 haben. Dasz
Jahve aus dem Munde der Knäblein und Säuglinge eine Wehr bereitet
habe, um dem Rachegierigen die Befriedigung seiner Rach-
sucht zu wehren, kann als allgemeine Wahrheit gar nicht behauptet
werden; denn es ist kein stehendes Sein, keine bleibende Thatsache der
Weltordnung, Was V. 3 aussagt, das hat sich irgend einmal ereignet;
und die Worte verstatten schwerlich ein anderes Verständnis als: beim
Schreien der Knäblein, de» Vagita» der Säuglinge habe sich in der Seele
des Feindes ein menschliches Gefühl geregt, so dasz er seine Wuth be-
zähmend ihrer schonte. — Nun wird 1 Sam. 27, 8. 9 erzählt, wie dasz
David im Kriege gegen Amalek Niemand am Leben liesz, und dagegen
1 Sam. 30, 1. 2, dasz die Amalekiter beim Ueberfalle Ziklags — Niemand
umbrachten. Jahve hatte den Sinn dieser Nationalfeinde erweicht, und
dieser Erweis von Gottes Macht und Liebe ist es, welcher den Dichter,
nunmehr gewis David, zu diesem Hymnus begeistert hat. — Indem man
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H. 'Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen. 139
verkannte, da» V. 3 der partikulare Gott und dessen Feinde gemeint sind,
so wie durch schiefe Auffassung und Umschlefchuug cder Dränger und Rach-
gierigen und ihrer Beschwichtigung' verrannten sieb die Ausleger den
Weg zum Verständnis und stimmen meist in dem Glauben überein , es
bandle sich um eine Verteidigung der Sache Gottes aus dem Munde der
Kinder gegenüber von Gottesläugnern. Aber von diesen letzteren weiss
der Text nichts; wer das Dasein Gottes läugnet, wird ihn nicht bedrän-
gen. Auch mag das Lallen der Kinder ein frommes, sinniges Gemüt über^
zeugen, jedoch nicht den Abgeneigten widerlegen. Oder wie viel haben
denn gewisse Theologen in ihrem Kampfe gegen die negative Philosophie
ausgerichtet?9
Wir haben hier unsere beiden Ausleger in ihrer gansen Eigentüm-
lichkeit verschiedener Art vor uns. Auf den ersten Anblick gehen sie
auch unversöhnlich weit auseinander , indem jeder bis zur Grenze seines
Standpunkts , Hitzig sogar in der Polemik mit seiner Scharfe und Ironie
bis zur Grenze des Erlaubten fortschreitet. Auch seine Kunst , die er mit
Ewald teilt, an kleine, schwache Fäden die schwersten Gewichte zu
hängen und blosz entfernte Vermutungen als sichere Gewisbeiten auszu-
bieten, ist hier in ihrer ganzen Keckheit entfaltet, nicht minder aber seine
Meisterschaft, einzelne von der bisherigen Exegese noch nicht gelöste
Räthsei and Schwierigkeiten zu entdecken und mit klarem, nüchternem
Verstände schonungslos auch jede Art von unberechtigter Ueberschwäng-
iiehkeit zurückzuweisen. In vornehmem Ignoriren herkömmlicher Ansich-
ten geht er auch hier insofern wirklich gar zu weit, als er über die
messianischen Auffassungen dieses Psalms kein einziges Wort sagt.
Hupfeld seinerseits zeigt ebenfalls hier seine glänzende Seite der ruhigen,
allseitigen Erwägung und Besprechung aller Punkte, die irgend bei die-
sem-Lied zur Sprache kommen können, wird der Tiefe des Inhalts ge-
recht , ohne den sichern Boden und die nüchterne Klarheit aufzugeben,
unterscheidet sich aber vor Allem durch die von ihm grundsätzlich sehr
scharf durchgeführte Abweisung der modernen, sogenannten positiven
Kritik Ewald' s und Hitzig's, in der er (s. Bd. IV, § 7 Anm. 37) eine unent-
schuldbare kritische Vermessenheit erblickt.
Und dennoch ist beim Lichte betrachtet die Kluft zwischen diesen
Beiden gar nicht so gross und keineswegs unauefüllbar. Der Einheits-
punkte sind mehr als der Unterschiede. Auszer dem , was oben über die
Aehnlicbkett ihres Standpunkts in den wesentlichsten Dingen gesagt war,
die hier an der gewis im Grunde fast ganz gleichen Ansicht über den
dogmatischen, messianischen Gehalt dieses Schriftstücks gar leicht im
Einzelnen sich nachweisen liesze, möchte ich behaupten, dasz auch über
die scheinbar so schroffen Gegensätze hinsichtlich defZolässigkeit einer
geschichtlichen Grundlage und Beziehung des Psalmen eine Verständigung
nichts weniger als unmöglich ist. Würde der verhängnisvolle dritte Vers
fehlen, so würde Hitzig, der hier merkwürdigerweise mit der positiven
Ansicht der älteren Kirche, daset die Ueberschriften echt seien, überein- v
stimmt, ebenso gewis nicht auf der Beziehung des Psalms auf eine Ver-
kommenheit aus David's Leben bestehen , als andererseits Hupfeld dieser
10*
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140 H. Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen.
Beziehung nicht, länger entgegenträte, sobald in diesem dritten Verse auch
nur ein weiterer mehr bezeichnender Zug aus dem Bilde oder der Zeit
David's nachweisbar wäre. Man sieht , es handelt sich durchaus nicht um
qualitative Verschiedenheiten , sondern nur um ein Mehr oder Weniger,
und zuletzt darum , dasz der Eine sich scheuen zu müssen glaubt, ein
non liquet auszusprechen, sobald irgend eine Möglichkeit vorzuliegen
scheint, die Gelegenheit und einzelne Lage nachzuweisen, aus der ein
Lied entsprungen ist, während der Andere aus Scheu, zu viel zu be-
haupten, lieber möglichst wenig behauptet. Man kann es auf der einen
Seile ebenso schmerzlich als aufrichtig bedauern, dasz in unserer Zeit so
viele Theologen und Bibelforscher, die in den ersten Prinzipien nahezu
ganz einig sind , sich, gegen einander oft so gegensätzlich gebärden und
anstellen , auf der andern Seite kann aber dabei die Sache und die Wahr-
heit häufig nur gewinnen.
Wenigstens im vorliegenden Falle verhält es sich so. Es konnte
scheinen, Hupfeld habe durch seine umsichtige Auslegung i. J. 1855 die
Akten über den fraglichen Psalm gewissermassen abgeschlossen; man
konnte etwa noch über das Einzelne, wie z. B. schon über die rätsel-
hafte Form des zweiten Verses verschiedener Ansicht sein, in allen
Hauptsachen aber befriedigte zunächst seine billige, eine schöne Mitte
zwischen den zwei Extremen haltende Ansicht unstreitig das wissen-
schaftliche wie das fromme Bewustsein unserer Zeit. Viele hätten sich
in diesem vermeintlichen Besitz einer ganz sichern Errungenschaft be-
friedigt gefühlt. Nun kommt aber nur ein paar Jahre später Hitzig mit
seiner die frühere vom J. 1835 und 36 verbessernden und ergänzenden
Bearbeitung der Psalmen, wirft wieder gewichtige Bedenken in den Weg,
zeigt unwiderleglich, wo und warum noch zu ändern und zu bessern sei,
überzeugt mit schlagenden Gründen, dasz in diesem Psalmen V. 3 indivi-
duelle, geschichtliche Veranlassung haben müsse; und siehe da, man
sieht sich zwar wieder aufgestört aus seiner Buhe, aber ebendadurch da
und dort im Verständnis wesentlich gefördert.
Wir haben, wenn ich anders recht sehe, an Hupfeld und Hitzig
zwei gleich ehrenwerte Vertreter der einander allerdings scharf gegen-
überstehenden Grundansichten von der Psalmenpoesie. Hitzig's Haupt-
vorzug besteht in der vollen Anerkennung und consequenten Durchführung
des entschieden wahren Satzes: jedes gute lyrische Gedicht, und so auch
die besten Psalmen aus der Blütezeit dieser Litteratur bei den Hebräern,
ist ein Gelegenheitsgedicht. Welch äuszerst glückliche Griffe er dieser
richtigen Einsicht und seiner Gonsequenz verdankt und welchen Gewinn
auch jetzt noch nach so vielen Bearbeitungen der Psalmen die wirklich
richtigste Auslegung derselben davon hat, dessen kann man sich äuszerst
oft, in besonders hohem Grade z. B. bei der Auffassung des so vielfach
gezwungen aufgefaszten sechszehnten Psalms vergewissern. Durch die
Beziehung auf 1. Sam. 30 ist ein Schlüssel gefunden, für den wir recht
dankbar sein dürfen. Wer möchte leugnen, dasz hier, und auch sonst
nicht selten, Hitzig den unbefangenen Leser geradezu nötigt, ältere selbst
Hebgewördene Ansichten geradezu über Bord zu werfen ? Aber es wäre
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H. Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen. 141
ganz verfehlt, wenn man nun ohne Weiteres jede andere Auslegung, die
auf dem audern Extreme steht , welche neinlich solche individuelle Ver-
anlassungen leugnet und höchstens die Möglichkeit davon da und dort zu*
gibt, in sehr vielen Fallen aber mit gröster Entschiedenheit blosz allge-
meine Beziehung annimmt, als unhaltbar und veraltet betrachten wollte.
Nicht allein ist es in vielen Fällen, auch Hitzig gegenüber, gar wol ge»
rechtfertigt, an der Richtigkeit der vorausgesetzten individuellen Beziehung
dieses oder jenes Lieds zu zweifeln und den allzu kecken Behauptungen
ein Halt, ein non liquet zuzurufen; nein, es ist gar sehr erwünscht, bei
bei einem und demselben Gedicht von dem einen Ausleger den indivi-
duellen, von dem andern den allgemeinen Charakter und Gedankeninhalt
hervorgehoben zu sehen. Denn beides hat seine Berechtigung. Hitzig
kann vorkommenden Falls ganz recht haben, zu sagen, dieser Psalm ist
aus der und der Lebenslage David's hervorgegangen, und Hupfeld hat auch
recht, wenn er davon absehend auseinandersetzt, welche allgemeine
Wahrheiten das Lied behandle. Denn das ist das Schöne der ech-
ten gesunden Lyrik; sie erfaszt die individuellste Erfah-
rung und Empfindung so in der Tiefe, dasz sie zu einer
allgemeinen wird und in allen gesunden Menschengemü-
tern widerklingt.
In diesem Betracht kann namentlich die Schule von diesen beiden
Commentaren und besonders von ihrer Vergleichung um so gröszeren Ge-
winn ziehen , da einer den andern ergänzt und jeder dafür sorgt , dasz
man bei dem auf der Gegenseite nicht zu frühe sich beruhigt und einer
bedenklichen Sicherheit und Zuversicht Raum gibt.
So werden wir bei unserem achten Psalm, und auch sonst oft, zu-
nächst von Hitzig's Auffassung und historischer Grundlegung ausgehen
müssen , in Betreff der allgemeinen Beziehungen aber ebenso Hupfeld' s
Winke dankbar zu benutzen haben und teilweise über beide hinausgehend
und hinausstrebend , den Schülern , denen ja doch je und je auch derlei
umfassendere Gesichtspunkte eröffnet werden sollen, etwa Folgendes zu
sagen haben:
1. Der 8. Psalm hat, so sehr er sich ins ideelle Gebiet erhebt, eine
; individuelle Veranlassung gehabt; er ist (wie Hitzig nachweist) na-
mentlich im dritten Vers nur unter dieser Voraussetzung vollkommen klar.
Der nächste dem Verfasser vorschwebende Sinn kann nicht wol allego-
risch-symbolisch gefaszt werden , und es ist somit unrichtig , wenn die
meisten Ausleger nur diesen letzteren Sinn gelten lassen wollen.
2. Es ist möglich, dasz diese Veranlassung, wie Hitzig meint, in
dem 1. Sam. 30, 1. 2 Erzählten zu suchen ist. Doch ist es zu viel gewagt,
auf diese so kurze Notiz eine ganz sichere Vermutung zu bauen. Wahr-
scheinlicher ist es wol, dasz vielmehr eine uns nicht mehr bekannte
noch auffallendere Rettung von Feinden durch die Hand von Kindern zu
Grunde liegt.
3. Aber V. 5 und 6 läszt, was Hitzig nicht genug beachtet hat, wei-
ter vermuten , dasz sich bei dem Dichter an diesen einzelnen Fall eine
durch denselben angeregte neue Betrachtung, jedoch wiederum indivi-
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142 H. Hupfeld und F. Hitzig: die Psalmen. -
dtieller Art, angeschlossen haben mag, dasz nämlich etwa David, heim-
gekehrt von einer Unternehmung , bei welcher er jene Durchhilfe mittelst
dieser Unmündigen erfahren hatte, mit sinnendem, frommem Gemüte in
dem Kreise seiner Familie das Wesen der Kinder weit überhaupt
ins Auge gefaszt hat, wobei er sich gleichsam selbst über dem jetzt zum
ersten Mal auftauchenden Gedanken überrascht, wie hier ebenso wie am
Himmelszelt Gottes herablassende Grösze und Gnade offenbar werde.
4. Diese Betrachtungen gestalteten sich ihm mit der ganzen Frische
des Selbsterlebten zu diesem tiefsinnigen Liede, das vermöge seines rei-
chen Inhalts verschiedene Anwendung zulftszt. Insbesondere läszt sich
in diesem Sinne sagen : cDer Mund der Kinder und Säuglinge ist nur Bei-
spiel eines schwachen unberedten oder vielmehr noch gar nicht rede-
fähigen Mundes, als eines Verteidigers der Ehre Gottes, der dennoch
hinreicht, die Gegner Gottes im allgemeinen Sinne, die Gottesleugner,
zum Schweigen zu bringen.9 Diese allegorische Anwendung unserer
Stelle, wobeiem sehr feines Otymoron entsteht, beruht auf dem Vor-
gang Christi Matth. 21, 16, und findet sich seit Calvin bis auf Hupfeld
bei sehr vielen Auslegern.
5. Ja der tiefste Sinn des Vs. 5 — 7 Gesagten ist, wie überall, wo
die Menschennatur nach ihrer ideellen Seite betrachtet wird, in voller
Reinheit und Fülle nur in der Person Christi verwirklicht worden.
6. Eine Anwendung des von der Würde des Menschen Gesagten
auf Christus Hebr. 2, 6 — 9., 1. Kor. 15, 27. 28 ist somit in diesem Sinne
wol gerechtfertigt. Somit können wir also mit Calvin und Hengstenberg
eine zwar uns erlaubte, aber vom Verfasser nicht gemeinte indirectc
Beziehung auf Christus zugeben, sofern in ihm erst die Idee der
Menschheil, die in der Wirklichkeit durch die Sünde geschwächt ist, in
vollem Glänze wieder erschienen ist. So, aber auch nur so, ist der Psalm
eine messianische Weissagung.
Schönthal. L. Mezger.
14.
Das Schulwesen der Jesuiten nach den Ordensgesetoen dargestellt
von Dr. Guside Weicher, College am königl. Pädagogium
m Hatte. Halle, Verlag der Buchhandlang des Waisenhauses.
1863. VIti. 288 S. 8. (1%ThIr.)
Wie Vieles auch über die Gesellschaft Jesu geschrieben worden ist,
so fehlt es doch noch immer an einer zuverlässigen und erschöpfenden
Geschichte ihres Erziehungs- und Unterrichlswesens. Freilich ist es eine
gewaltige Aufgabe, das überaus reiche und massenhafte, aber noch wenig
geordnete und gesichtete Material zu bewältigen, und je ernster die Auf-
gabe genommen, je gewissenhafter die Arbeit ausgeführt würde, desto
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6. Weicker: das Schulwesen der Jesuiten. 143
eher könnte wol auch die Sache, welche darzustellen ist, Verdrusz und
Uebcrdrusz erwecken. Dennoch ist es in hohem Grade wünschenswerth,
dasz die Ausführung einer solchen Geschichte endlich einmal von einem
freien und energischen Geiste unternommen werde. Es mfiste ja doch
eine ausserordentlich lehrreiche und selbst für nichtpädagogische Leser
in mehr als einer Beziehung spannende Geschichte werden, eine Ge-
schichte feinster Berechnung und mühsamsten Fleiszes, kühnster Ent-
schlossenheit und unbeugsamster Beharrlichkeit, eine Geschichte man*
nichfaltiger Entwicklungen bei einer Angstiich bewahrten Stabilität,
groszartiger Erfolge in einem oft leidenschaftlichen und gefährlichen
Kampfe, aber auch eine Geschichte verhängnisvoller Verwirrungen und
bedenklicher Experimente, wobei die heiligsten Rechte rücksichtslos ver-
kannt, ganze Geschlechter in falsche Bahnen geleitet, edle Völker in sich
gespalten und zerrüttet worden sind. Und je mehr der Geist, den diese
Geschichte in seinem Schaffen und Walten darzustellen bitte, ein noch
immer in einem weiten Völkerkreise fortwirkender ist, je zuversichtlicher
er gerade in unsern Tagen sich wieder erhoben und geltend gemacht hat,
desto notwendiger , desto wichtiger kann es erscheinen , dasz in einer
umfassenderen historischen Darstellung recht Vielen zum Bewustsein ge-
bracht werde, was dieser Geist will, was er wirkt, wohin er fährt
Es würde aber eine solche Geschichte am füglichsten in drei Zeit-
alter einzuteilen sein: in das Zeitalter der Ausbreitung und Organisation
(etwa bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts), in das Zeitalter der Ermat-
tung und Stagnation (bis zur Katastrophe im J. 1773) , in das Zettalter
der Restauration. Leicht ist zu erkennen , wie dabei auf alle bedeut-
sameren Bewegungen der letzten drei Jahrhunderte mit einzugehn und
der Einflusz des Jesuitismus auf Leben und Bildung der Völker durch die
Schule nicht eben nur'unter einem knapp pädagogischen Gesichtspunkt zu
fassen, sondern mit dem weiter schauenden Auge des Gulturhistorikers
zu betrachten wäre. Gerade auf die Resultate jesuitischer Pädagogik
würde besonders Rucksicht zu nehmen sein ; und diese sind doch bei den
| verschiedenen Völkern wieder sehr verschiedene gewesen.
| Indes sind freilich die Resultate wieder nicht zu begreifen ohne ein
f gründliches Verständnis und eine unbefangene Auffassung und Kritik der
' Gesetzgebung, welche der Orden für seine pädagogische Thätigkeit sich
- gegeben hat. Eine Darstellung, welche solches Verständnis und solche
Auffassung möglich macht , führt notwendig auch zu tieferer Einsicht in
i den Geist 9 welcher das ganze Institut des JesuiÜsmus beherscht und es
zu einer so ausserordentlichen Macht erhoben hat. Und eine solche Dar-
stellung bietet, nun das Bueh, mit welchem wir uns hier etwas genauer
j und eingehender beschäftigen wollen.
Die Arbeit ist aus Studien hervorgegangen , welche der Verf. als
I Mitglied des pädagogischen Seminars an der Universität Halle unter Lei-
tung des Directors Prof. Dr. Kramer gemacht hat. Die da begonnenen
Quellenstudien hat er seitdem fleiszig fortgesetzt und jetzt in der Weise
zum Abschlusz gebracht, dasz ein specieli ausgeführtes Bild der Orga-
| nisation des jesuitischen Schulwesens vor uns steht. Der Verf. geht
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144 G. Weicker: das Schulwesen der Jesuiten.
also bei seiner Darstellung durchweg von den Anordnungen aus , welche
der Orden in der ersten Zeit seiner Entwicklung für Erziehung und Unter-
richt seiner Gollegien aufgestellt hat, und unverkennbar ist, dasz er mit
groszer Unverdrossenheit und scharf eindringender Aufmerksamkeit ge-
forscht hat , um ein durchaus selbständiges Urteil zu gewinnen. Aber er
berücksichtigt, wie natürlich, auch dasjenige, was sonst an Hilfsmitteln
zur Hand ist, ohne mit Ostentation Citate zu häufen. Wir können nun
wol sagen , dasz wir in der bezeichneten Umgrenzung eine erschöpfende
Darstellung vor uns haben , die eben deshalb auch als eine sehr zuver-
lässige Vorarbeit zu einer umfassenden Geschichte des jesuitischen Schul-
wesens anzusehen ist. Gewis wird sich dem mühseligen Geschäft, das
Corpus Institutorum Societatis JEsu (2 Voll. Antverp. 1702. 4) durchzu-
arbeiten, nicht so bald auf gleiche Weise ein Anderer unterziehen.
Der Standpunkt des evangelischen Bekenntnisses, auf welchem der
Verf. steht, nötigt ihn freilich oft zu einer nachdrücklichen Polemik;
doch ist diese Polemik eben nur aus der Sache selbst hervorgegangen,
nicht Absicht gewesen bei der Wahl des Stoffes, nicht eine die That-
sachen irgendwie fälschende Tendenz. Das Urteil würde kaum eine
erhebliche Moditication erfahren haben , wenn der Verf. auch mehr noch,
als er gethan , auf die z. T. sehr schwungvollen Schilderungen jesui-
tischer Praxis aus neuerer Zeit sich eingelassen hätte. Dem wahrhaft
leichtsinnigen, aus grober -Unkenntnis kommenden Gerede in Körners
Geschichte der Pädagogik (Leipzig 1867) ist an mehrern Stellen (S. 9, 165,
246 , 247 , 266 f.) die gebührende Abfertigung zu Teil geworden.
. Die Anlage des Buches ist sehr zweckmäszig. Nachdem in der Ein-
leitung die Bedeutung der jesuitischen Pädagogik, die Entstehung des
jesuitischen Erziehungssystems, die Uebersicht der Quellen und Hilfsmittel
Gegenstände der Darstellung gewesen sind, kommen zur Behandlung:
(Gap. 1) Zweck der Erziehung und des Unterrichts nach jesuitischer An-
schauung, (Gap. 2) die verschiedenen Arten der jesuitischen Lehr- und
Erziehungs-Anstalten, (Gap. 3) die äuszere Schul Verfassung , (Gap. 4) die
Lehrverfassung, (Gap. 6) die sittliche und religiöse Erziehung. Ein zu-
sammenfassender ^Rückblick' sohlieszt das Ganze. Es möge gestattet sein,
das so Dargebotne noch etwas specieller zu besprechen.
Die 'Bedeutung der jesuitischen Pädagogik' wird in der Weise dar-
gestellt, dasz zunächst und zumeist die Zeugnisse Berücksichtigung
finden, welche die Päpste und Fürsten des 16. Jahrhunderts, aber auch
protestantische Schul - und Staatsmänner zu Gunsten derselben abgegeben
haben. Doch wird dann in anderer Art noch hervorgehoben , wie jene
Bedeutung vor Allem in der Einengung, Bekämpfung und Zurückdrängung
des Protestantismus, und scheinbar mit den Waffen des Protestantismus,
zu erkennen sei. Allerdings wäre hier wol auch noch manches Andere
mit in Betracht zu ziehn. Müste hier nicht auch des Einflusses gedacht
werden , welchen das jesuitische Schul - und Erziehungswesen auf das
gesamte Leben der katholischen Völker ausgeübt hat? Denn in Wahrheit
sind diese länger als zwei Jahrhunderte vom Jesuitismus beherscht wor-
den, der ja direct oder indirect alles katholische Unterrichts« und Er-
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G. Weicker: das Schulwesen der Jesuiten. 145
ziehungswesen selbst da bestimmte, wo andere Orden oder Gongregationen
sich seinen Einwirkungen zu entziehen und eine selbständige Haltung
sich zu bewahren suchten. Daher dann auch, als der Orden gefallen war,
die Zerrüttung so grosz, der Ersatz so schwer! Dürfte man hier auf
Specielles sich einlassen , so würde es z. B. eine überaus fruchtbare Be-
trachtung sein, wenn man sich vergegenwärtigen wollte, was der Adel
Frankreichs oder auch Polens durch seine jesuitischen Erzieher gewor-
den ist.
Sehr kurz ist die 'Entstehung des jesuitischen Erziehungssystems'
behandelt. Der Verf. hat darauf verzichtet, die Gründe darzulegen,
welche den Jesuitismus so glänzende Siege feiern, so ausgedehnte Er-
oberungenmachen lieszen; eben so wenig ist er darauf bedacht gewesen,
den Zusammenhang der jesuitischen Pädagogik mit den auch von prote-
stantischen Schulmännern (Hieronymus Wolf, Michael Neander, Gome-
nius) benutzten Leistungen des Spaniers Ludwig Vi ves aufzuzeigen.
Vgl. Jahrbücher Bd. 76. S. 118 ff. Für den Verf. richtete sich die Auf-
merksamkeit vor Allem auf die Entstehung der für alle folgenden Zeiten
maszgebend gebliebenen Schulgesetzgebung Aquaviva's (Ratio et insti-
tatio studiorum Societatis JEsu), durch welche die bei der auszerordent-
lichen Ausbreitung des Ordens höchst wünschenswerthe Üiiiformität
erreicht wurde. Sehr beachtenswerth ist in der hier gegebenen Dar-
stellung der Nachweis , dasz eigentlich doch Deutschland , das Land der
Schulen , das Hauptland für die jesuitische Schulpraxis gewesen ist. Im
J. 1679 kamen von den 578 Gollegien, welche der Orden damals besasz,
auf Deutschland und seine Pertinenzien (incl. Polen und Ungarn) 161, also
über ein Viertel der Gesamtheit und mehr als ein Drittel der (469) euro-
päischen Gollegien , eine Zahl , die in manchen Gegenden , besonders am
Niederrbein und in Böhmen auf das Doppelte stieg, sobald man die zahl-
reichen Residentiae Gollegiorum hinzurechnete.
Bei der Uebersicht über die 'Quellen und Hilfsmittel9 ist mit Recht
auch der Lettres provinciales von Pascal ausführlicher gedacht; ja der Verf.
nimmt keinen Anstand, denselben* gleiche Dignität mit den Quellen im
engsten Sinne beizulegen. Wir wollen dabei auf die apologetischen Be-
merkungen des Abbe* Maynard in s. Werke Pascal, sa vie et son carac-
tere, ses Berits et son ge^nie (Paris 1850) T. I, 351 — 513, die wol einer
Prüfung werth sind, aufmerksam machen. Sonst liesze sich bei diesem
Abschnitte fragen , ob zif den Hilfsmitteln nicht besonders noch die 'wich-
tigeren Schul- und Lehrschriften der Jesuiten des ersten Zeitalters ge-
hören ; wir denken dabei an die Katechismen von C a n i s i us und A u g i e r
(Auger) , an die Leistungen zahlreicher Jesuiten für Poetik und Rhetorik,
an die umfassenden Arbeiten Possevin's, die z. T. geradezu als Com-
mentare zur Ratio Studiorum gelten können. Vgl. über die unter dem
Einflüsse der Jesuiten entwickelte Katechismuslitteratur Daniel Classische
Studien in der christlichen Gesellschaft , deutsch von Gaiszer (1855)
S. 311 ff., über Possevin ebd. S. 192 ff. und 305 ff. Freilich würde der
Verf. bei solcher Erweiterung seiner Studien kaum zu wesentlich andern
Ergebnissen gekommen sein.
idby VJiO
146 6. Weicker: das Schulwesen der Jesuiten.
Der *Zweck der Erziehung und des Unterrichts', welchen die Jesui-
ten vor Augen hatten , erscheint allerdings auf den ersten Blick als ein
durchaus anerkennenswerther (ad profectum animarum in vita et doctrina
christiana intendit societas) ; aber bei dem tieferen Einblick in die Ten-
denzen des Ordens, welchen der Verf. S. 35 ff. uns gewinnen läszt, ist
es doch unverkennbar, dasz man besonders an Gewinnung und Heranbil-
dung der Jugend für das Interesse und den Dienst des Ordens dachte.
Auch die in der früheren Zeit strenger festgehaltene Unentgeltlichkeit des
Unterrichts ergab sich vorzugsweise aus dieser Tendenz , und bekannt ist,
wie solche in Wahrheit nur scheinbare Liberalität verlockend selbst auf
protestantische Aeltern wirkte.
Bei Schilderung der 'verschiedenen Arten der jesuitischen Lehr- und
Erziehungsanstalten' S. 42 ff. hat der Verf. aus guten Gründen auf die
Gollegia sich beschrankt. Eine Berücksichtigung der Universitäten , die
ganz oder teilweise unter die Herschaft des Ordens gekommen sind, lag
der Aufgabe des Buches fern , und was in solcher Beziehung etwa behan-
delt werden konnte, das dürfte bei der Charakteristik der Studia supe-
riöra seine Erledigung gefunden haben. Die Vernachlässigung der Volks-
schule macht der Verf. nach dem Vorgange Vieler den Jesuiten stark zum
Vorwurf. Indesz ist doch wol zu beachten, dasz lange Zeit ja auch auf
dem Gebiete des Protestantismus eine eigentliche Volksschule nicht zur
Entwicklung kam, dasz die Jesuiten die Sorge für die Jugend des Volks
z. T. andern Orden überlassen konnten, dasz ihre Katechismus vielfach
auch in die Landessprachen übersetzt und den Kindern des Volks in die
Hand gegeben wurden , (welche Bedeutung der kleine Katechismus des
Gauisius für das Bistum Würzburg gewann, davon s. Archiv des hist.
Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg XIV 2 , 170 f.) , dasz die im
J. 1571 von Pius V bestätigte Christenlehrbruderschaft, die ganz unter
dem Einflüsse des Jesuitenordens sich entwickelt und besondere Bedeu-
tung auch in Belgien und Deutschland gewonnen hat, mit Eifer gerade
für die religiöse Bildung der Jugend des Volkes sorgte (v. Helfer t die
Gründung der österreichischen Volksschule durch Maria Theresia S. 39 f.
und 64 f.) , . dasz die Jesuiten Anstalten und Stiftungen für arme Kinder
und Waisen/ gern unter ihre Leitung und Aufsicht nahmen usw.. Auch
standen ja die Jesuiten sonst dem Volke nicht fern ; wie ihre Prediger auf
die Massen gewirkt haben, ist bekannt. Dabei soll nicht geleugnet wer-
den , dasz sie am liebsten doch in den höhern Regionen sich hielten.
Auf die sehr detaillirle Beschreibung , welche der Verf. der 'äuszern
Schulverfassung' gewidmet hat, können wir nicht wol specieller eingehn.
Er führt uns nach einander vor die obere Leitung und Beaufsichtigung
des jesuitischen Schulwesens, die Verwaltung der einzelnen Collegia , die
Vorsteher, Beamten und Lehrer der Collegia, die Schulverhältnisse (Scho-
lastik societatis, Alumni und Convictores, Scholastici externi), die Glie-
derung der einzelnen Anstalten, die Jahres- und Tagesordnung (S.54 — 122).
Bei der Schilderung der Lehrerverhältnisse hätte der häufige Lehrerwech-
sel stärker betont werden sollen. Die Scholastici externi durften nicht
genannt werden, ohne der protestantischen Jesuitenzöglinge ausführlicher
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G. Wekker: das Schulwesen der Jesuiten. 147
zu gedenken, wenn auch in den Ordensgesetzen auf solche nicht aus-
drücklich Rücksicht genommen wird. Durch zahlreiche Beispiele läszt
sich darthun, dasz im Zeitalter der heftigsten confessiouellen Gegensätze
die Collegien der Jesuiten fort und fort Knaben und Jünglinge protestan-
tischer Aeltern sich zugeführt sahen. Am auffallendsten erscheint, was
in Preuszen geschah. Im polnischen Preuszen , wo die Jesuiten , von den
Bischöfen eifrig unterstützt, eine Schule nach der andern eröffneten, war
die Versuchung für die Protestanten besonders stark. Den Collegien von
Braunsberg, von Alt -'Schottland vor Danzig, von Rössel ward die pro-
testantische Jugend der höhern Stände trotz mannichfacher Warnungen
zugeführt. In kurzer Zeit ergaben sich sehr beunruhigende Resultate
(vgl. Hirsch Gesch. des akademischen Gymnasiums in Danzig S. 14 f.),
und als ganz Deutschland schon unter den Leiden des schrecklichsten
Krieges seufzte, war man im polnischen Preuszen den Jesuiten gegenüber
noch sehr harmlos. Im Herzogtume Preuszen hatten noch am Ende des
17. Jahrhunderts die Protestanten grosze Neigung, ihre Kinder in die
Schulen der Jesuiten zu schicken. Wichtig für diese Verhältnisse ist:
Christlicher Sendbrief an t die evangelischen Christen in Lieffland, Polen,
Preuszen , Litthauen , Churland usw. , dasz sie ihre Kinder in der Jesuiten
Schalen zu schicken Abscheu und Gewissen haben sollen. Geschrieben
durch Geo. Mylium. Jena 1596. In den Fortgesetzten Sammlungen von
Alten und Neuen Theo). Sachen 1737 S. 643—665. Vgl. Horkel der
Holikämmerer Th. Gehr und die Anfänge des kgl. Friedrichs-Collegiums
zu Königsberg S. 40 f. In Hessen hielt Landgraf Wilhelm für nötig,
durch die 1573 in Marburg versammelte Generalsynode eine 'getreue und
kurze christliche Warnung der Superintendenten und Theologen des Für-
stentums Hessen vor der Jesuiten in der Nachbarschaft hervorgebrachten
verführerischen Schulen und Lehren' aussetzen zu lassen. S. Heppe
Geschichte der hessischen Generalsynoden , Bd. I S. 99 f.
Von besonderer Wichtigkeit ist das Gapitel über die 'Lelirverfassung'
der Jesuiten (S. 122—227). Nach kürzerer Besprechung der Studia su-
periora (Theologie in einem vierjährigen, Philosophie in einem dreijähri-
gen Gursus) , behandelt der Verf. in sehr eingehender und belehrender
Weise die Studia inferiora (Litteras humaniores), den Gymnasialunter-
richt der Jesuiten. Es wird dabei die Auswahl und Verteilung des Lehr-
stoffes, die Methode und die Schulzucht uns vorgeführt. Dasz beim
Lehrstoff wiederum das Lateinische besonders ausführlich behandelt wird,
entspricht eben ganz den Verhältnissen der jesuitischen Unterrichtspraxis.
Mit durchgreifender Gonsequenz haben die Jesuiten bei Wahl und Be-
handlung der classischen Autoren einerseits Ausscheidung und Fernhal-
tung des sittlich Bedenklichen, andererseits Beziehung des Unterrichts
auf Anwendung, Verwerthung der Leetüre für grammatisch-stilistische
Ausbildung sich zur Aufgabe gemacht. Es konnte hierbei vielleicht noch
mehr hervorgehoben werden, dasz doch bei Auswahl der Autoren be-
sonders maszgebend auch die Rücksicht auf das einer christlichen
Jugend Dienliche gewesen, wie denn auch die Erklärung der Autoren
nach der Ansicht des P. Jouvency von der Art sein sollte, ut scriptores,
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148 G. Weicker: das Schulwesen der Jesuiten.
quamvis ethnici et profani , onünes fierent quodammodo Christi praecones.
Die Ausführung 'wird freilich sehr hinter der Idee zurückgehlieben sei».
Ueber den Unterricht in der Rhetorik wären uns ausführlichere Mitteilun-
gen erwünscht gewesen ; das kleine Lehrbuch der Rhetorik von P. Cy-
prian Suarez , schon in der Ratio studiorum als brevis summa empfohlen,
hat sich bis in das 18. Jahrhundert als brauchbar erwiesen, und nach
seinem Teile viel dazu beigetragen , dasz der Unterricht der Jesuiten in
so, wunderbarer Stetigkeit sich erhielt. Während der Verf. dieses Buch
eben nur erwähnt , hat er S. 146 f. Genaueres über die Grammatik des
P. Emanuel Alvarez gegeben, doch hier wieder. die Gelegenheit nicht be-
nutzt, die bei den Jesuiten so wichtigen und z. T. doch auch glänzende
Leistungen vorbereitenden metrischen Uebungen zu charakterisieren. Die
Vernachlässigung der Landessprachen ist natürlich in den Schulgesetzen
der Jesuiten nicht gefordert , und daher hat wol auch der Verf. darauf
nur obenhin seine Aufmerksamkeit gelenkt; aber in der Praxis war sie
allezeit sehr grosz , selbst da noch , als von oben her Pflege derselben
geboten wurde. Es ist klar, welche Nachteile gerade aus solcher Ver
nachlässigung für den ganzen Unterricht der Jesuiten sich ergeben musten.
Derselbe verlor dadurch die Möglichkeit wahrhaft innerlicher, triebkräf-
liger Bildung und verzichtete zugleich auf freiere und volkstümliche
Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens. 'Dem Geiste des Schülers bot
sich kein Bewustsein eines Verhältnisses zu seinem Volke, weder zur
Vorzeit desselben noch zur Zukunft, und keine Aussicht zum selbstän-
digen Fortschritt in derselben; er war festgebannt an den schmalen Baum
der Gegenwart, an eine Stabilität in einer allen, keiner Bildsamkeit weiter
fähigen Sprache, deren eigenthümlichen Bildungsgang er nicht begriff
und nicht aus den Quellen begreifen konnte, die bei solcher Anlernung
uud Behandlung für ihn nicht jiur eine todte, sondern auch ertödtende
war und blieb : ein vereinzeltes Phänomen , losgerissen von allen histo-
rischen Bezügen, ohne Einflusz auf seine geistige Mündigkeit, auf Be-
gründung einer groszartigen Weltansicht.' (Birnbaum). Bei den Be-
mühungen der mährischen Stände seit 1742, eine vollständige Universität
in Olmütz zu erlangen , die übrigens ganz unter den Jesuiten bleiben
sollte, dachte man diese auch dahin zu bestimmen, *1) in den niedern 6
Schulen (Classen) der Jugend gradualiter das Fundament der Universal-
historie und der dazu gehörigen Chronologie, dann der Geographie und
Heraldik zu lehren, 2) nebst der Latinität auch eine gute deutsche
Schreibart, und Redensart, sowol quoad orthographiam , als poesin, epi-
stolographiam und rhetoricam auf das fleiszigste beizubringen, als man
bisher zum Nachteil der meisten katholischen Universitäten erfahren müs-
sen , dasz uach neun - und mehrjährigem Studio die Studenten fast nicht
den mindesten Begriff von der für einen Gelehrten sowol in Statu politico
als ecclesiastico so nötigen Historie und Geographie erlangt , die deutsche
Muttersprache aber dermaszen negligiert worden, dasz öfters ein abso-
luter Philosophus, Theologus und Jurist nicht fähig gewesen, einen guten
und correcten Brief zu schreiben , noch weniger aber einen deutschen
Vers, Bittschrift oder Oration zu Stande zu bringen.' Die Wünsche waren
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Cr. Weicker: das Schulwesen der Jesuiten. 149
billig, wurden aber doch nicht erfüllt. $. d'Elvert Gesch. der Studien-,
Schul- und Erziehungsanstalten in Mähren und öst. Schlesien (Brunn 1857)
S. 19. Neben solchen Thatsachen läszl sich kaum gellend machen, dasz
Jesuiten eine grosze Anzahl ascetischer Werke in den Landessprachen
geschrieben haben, der Thatsache aber, dasz ein Jesuit (Paz mann) als
Begründer der ungarischen Büchersprache genannt werden kann , steht
die andere gegenüber, dasz durch Jesuiten die böhmische Nationallittera-
tur in der Zeit der Gegenreformation vernichtet worden ist. S. S u g e n -
heim Gesch. der Jesuiten in Deutschland Bd. I, S. 283 f. — Wir würden
diese Anzeige allzusehr ausdehnen müssen , wenn wir nun auch an das-
jenige, was der Verf. über das bunte Vielerlei der jesuitischen Erudition
and den vielfach in Mechanismus auslaufenden Religionsunterricht sagt,
speziellere Bemerkungen anknüpfen wollten. Ebenso müssen wir darauf
Verzicht leisten , in die sehr anziehenden Betrachtungen über die Unter-
richtsmethode der Jesuiten unsre Leser einzuführen ; wir beschränken uns
auf die Bemerkung , dasz der Verf. durchweg mit sicherem pädagogischen
Takte sein Urteil abgegeben hat: Ueberlieferung und Aneignung des Lehr-
stoffs , Schulübungen , Aemulation , Schulakte , Examina , Disciplin in und
auszerhaLb der Schule treten in scharfer Zeichnung und klarer Beleuch-
tung uns vor Augen.
Ein sehr gelungener Abschnitt ist auch der letzte über die 'sittliche
ood religiöse Erziehung9 in den Jesuitenschulen. Der Verf. zeigt, wie
der in seiner theoretischen Fassung ganz richtige Grundsatz des Ordens,
dasz man das Leben durch und durch von der Religion durchdringen und
bestimmen lassen müsse, in der Praxis arge Veräuszerlichurig erfahren,
wie die Frömmigkeit in vielfacher Andachtsübung gesucht worden , wie
diese selbst wieder durch die Ostentation, die man hineinlegte, durch die
Belohnungen, die man damit verband , durch die in ödeste Werkheilig-
keit sich verlierenden Einzelandachten (ad horam explendam) als Mittel zu
der gefährlichsten Verbildung gedient, während man religiöse Erkenntnis
nur in geringem Masze geboten habe. Und nun die Beichte mit ihrer
. laxen, das sittliche Leben verwirrenden Gasuislik ! Dann wieder neben
| peinlicher Ueberwachung und Isolierung der Zöglinge (Abtrennung auch
l vom Familienleben) grosze Nachsicht gegen die Externen und schwer zu
[ begreifende Schlaffheit gegenüber den gröbsten Verirrungen. (Eine Reihe
auffallender Beispiele bei Sökeland Gesch. des Münsterschen Gymna-
siums S. 64 f., 71 f., 74, 78 ff.). Mit Bemerkungen über die Sorge für
das leibliche Leben, über die Uebung in den Künsten der Geselligkeit
und den Feinheiten des Anstandes schlieszt diese Darstellung , die sonach
die jesuitische Erziehung mit vollendeter Weltförmigkeit enden läszt.
I Ueber die Pflege der edlen Kunst des Gesanges ist bei den Jesuiten tiefes
| Schweigen. Welch' ein Gegensatz auch hier zu den Schulen des Prote-
! stantismus , in denen der Gesang eine Ehrenstelle hat !
Ein 'Rückblick9 S. 260—281 führt die Parallele oder vielmehr den
Gegensatz zwischen der jesuitischen und der protestantischen Pädagogik
durch eine Reihe bedeutsamer Momente hindurch ; für ein protestantisches
I Herz eine sehr tröstliche Betrachtung! Gewis litt das protestantische
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150 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, sUtist. Notizen.
Schulwesen des 16. und 17. Jahrhunderts an groszen' und tiefen Gebre-
chen, die den Vertretern desselben den Kampf gegen den kühn und
schlau zugleich operierenden Jesuit ismus zuweilen recht schwer gemacht
haben; aber bei solcher Ueberschau kommt man doch rasch zu dem Ge-
fühle, dasz. auf protestantischer Seite der Geist evangelischer Wahrheit,
Innigkeit und Freiheit immer wieder auch in knappen Formen und selt-
samen Verhüllungen gewaltet hat. — In engem Zusammenhange mit die-
ser Schluszbetrachtung steht ein Excurs über Const. P. VI. c. 5 und die
Obligatio ad peccatum, deren Resultat in den Worten zusammengefaszl
ist: 'Die Verpflichtung zum Gehorsam gegen die Oberen sogar bis zur
Vollziehung einer Sünde ist zwar nicht in dem Wortlaut einer Stelle,
wol aber in dem übereinstimmenden Inhalte vieler Stellen der jesuitischen
Ordensgesetze selbst enthalten.9
Wir wünschen aufrichtig , dasz der Verf. durch die Aufnahme seiner
tüchtigen Arbeit ermuntert werden möge zu Fortsetzung seiner Studien
auf dem weiten Gebiete der Geschichte der Pädagogik. Es wird uns eine
Freude sein , ihm bald wieder auf demselben zu begegnen.
Zittau. H. Kämmei
Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, statistische
Notizen, Anzeigen von Programmen.
(Fortsetzung von S. 539 des vorigen Jahrgangs.)
Landshut]. Der Religionslehrer Prof. Dr. B reiten ei eher schied
von der Anstalt, da demselben die Predigerstelle an der Metropolitan-
pfarrkirche zu U. L. Fr. in München übertragen worden war. An seine
Stelle trat Hellmai er. Die durch die Ernennung des, Lehramtscan-
didaten von Ten g zum Studienlehrer in Kempten erledigte Stelle eines
Assistenten wurde dem Lehramtscand. Widern ann übertragen. Leh-
rerpersonal: Rector Prof. Dr. Fertig (IV), die Professoren Schuster
(III), Dr. Fuchs (II), Broxner (I) Schuch (Math. u. Phys.)t Hell-
mai er (kath. Rel.), Stadtpfarrer Kimmel (prot. Rel. u. Gesch.), Assi-
stent Widemann; die Studienlehrer Kohl (IV), Zeisz^III), Roth-
hamer (II), Höger (I). Schülerzahl des Gymnasiums: 71 (IV 10, III 23,
II 20, I 18), der Lateinschule: 125 (IV 24, III 23, II 37, 141). Dem
Jahresbericht folgt: Grundzüge der griechischen Bühne für Gymnasial-
schüler vom Studienlehrer Höger. 18 S. 4. Inhalt: § 1. Dionysos,
seine Bedeutung. § 2. Dionysische Feste. § 3. Tragödie, ihre Ent-
stehung; Thespis. § 4. Thespis Nachfolger. § 6. Die 3 groszen Tra-
giker: a) Aeschylus. b) Sophokles, c) Euripides. § 6. Theater: a) Ka-
men, b) Bestimmung, c) Grösze. § 7. Teile dos griechischen Theaters :
A) O&rrpov. B) CKTjvfV C) 'Opxncxpo; Chor der Tragödie. § 8. Thea-
terpublicum, dessen Verteilung. § 9. Theaterpächter, Eintrittsgeld.
§ 10. Trilogischer Verband; tetralogische Aufführungsweise. § 11. Cho-
regie. § 12. Schauspieler. § 13. Kampfrichter; Kampfpreise. § 14. Me-
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Berichte aber gelehrte Anstalten, Verordnungen, staust. Notizen. 151
trum des Dialogs im griech. Drama. Anhang: Die wichtigsten Litur-
gien der Athener. Plan eines griech. Theaters.
14. Metten]. Im Lehrerpersonale der Stadienanstalt im Benedik-
tiner-Stifte trat keine Aenderung ein. Stadienrector Dr. P. Freymüller
(IV), die Professoren P. Höfer, P. Braun, P. Högl, P. Gerz_(Math.),
P. Mittermüller (Gesch.); die . Studienlehrer P. Bertold (IV), P.
Sachs (in), P.Leeb (II*), P. Engelhardt (ü*), P. Deybeck (I*),
P. Lickleder (I*), P. Trimpl (I?). Schülerzahl des Gymnasiums:
119 (IV 28, HI 30, II 28, I 83), der Lateinschule: 265 (IV 42, III 56,
II- 41, II»» 29, I* 21, I* 37, Ic 40). Dem Jahresbericht folgt: Pensies
sw Viducation primaire. Par P. Deybeck. 28 S. 4.
15. Mübnchen]. a. Wilhelms - Gymnasium. Lehrerpersonal:
Studienrector Prof. Hutter (IV), die Professoren Bauer, Stanko (III),
Eisenmann (II), Lauth (I), Sehedler und Preger (für Selig, und
Gesch.), Dr. Mayer und Assistent Bielmayr (für Math, und Phys.),
Häring (Franz.), die Studienlehrer Fesenmair (IV), Heiss (III),
Straub (II), Strobl (I*), Cand. Arnold (I»»), Offenbach (Rel. und
Gesch.), Assistent Dembschik (Math.), P e r n a t (Kalligr.). Den ausser-
ordentlichen Unterricht erteilen: Stifts vicar Richter (Hebr.), Car-
r&ra (Ital.), Everill (Engl.), Kleiber (Zeichnen), Gerber (Stenogr.),
die Professoren Lenz und Schönchen (Gesang), • Scheibmaier
(Tnrnen). Schülerzahl des Gymnasiums: 119 (IV 25, III 25, II 37, 1 32),
der Lateinschule: 245 (IV 52, III 41, II 71, I* 46, I»> 35). — Dem Jah-
resbericht ist beigegeben : lieber Plan und Idee der Antigone des Sopho-
kles, Nebst einem kritischen Versuche zum Prolog dieser Tragödie. Vs. 23
-25. Von Rector Prof. Hutter. 36 S. 4. Der Verfasser der vor-
liegenden dramaturgischen Abhandlung erklärt die Sophokleische Anti-
gone nach einem neuen Gesichtspunkte. Das Neue der Auffassung ist
die tiefere und weiter greifende Bedeutung, die in dem bräutliohen
Verhältnisse der Antigone zu Hämon erblickt wird. Die Beleuchtung
der Absicht dieser Verlobung soll die Widersprüche und Zweifel über
Idee und Inhalt der Tragödie lösen und zur Einigkeit des Urteils füh-
ren. Nach der bisherigen Auffassung habe hier Sophokles einen Liebes-
bund zwischen Hämon und Antigone gedichtet, um den Selbstmord
Hämon's and durch den Tod dieses den Tod der Mutter, der Eurydike,
zu motivieren, so aber zu der den Kreon vernichtenden Katastrophe
zu gelangen. Allein wäre die dem Kreon verderbliche Liebesraserei
Hämon's der einzige und höchste Zweck der Verlobung der Antigone
mit demselben , so erschiene dies als ein auszer der Einheit der Hand-
lung gesuchtes Mittel, eine der Erfindungsgabe des Sophokles nicht wol
; anstehende Intrigue, die dem Kreon durch Eros gespielt werde, und
! deren romanhafte Flachheit sich wenig mit der antiken Tragödie ver-
j trage. Man Übersehe hier den Begriff der Verlobung und ihre Absicht,
! die Vermählung der Verlobten, welchen künftigen Ehebund der Dich-
ter überall betone und hiedurch auf die Bedeutung dieser Verlobung in
leiner Composition aufmerksam mache. Die unbe zwingliche Stärke der
Liebe Hämon's zu Antigone, diese leidenschaftliche Neigung, die am
Schksz der Scene zwischen ihm und dem Vater, und noch sichtbarer
durch seinen Selbstmord im Felsengrabe neben der von ihm umschlun-
genen todten Braut ausgesprochen sei, deute' auf die Uqlösbarkeit die-
ser Verbindung und auf die Gewißheit der Unvermeidlichkeit des künf-
tigen Ehebundes der Verlobten bin, wenn nicht das Hindernis des Todes
dazwischen trete. Bei dieser Bedeutung -der Verlobung mit Hämon,
auf welche so viele_ Stellen hinweisen, erscheine die Brautschaft der
Antigone , welche sie mit dem letzten Sprossen des neuen Königshauses
, zur Herschermacht berufe, zunächst als das Motiv ihres tragischen
i Schicksals, ihres Todes, durch^den eben die Vermählung mit Hämon
unmöglich werden, und sie das ihr und ihrem Geschlecbte blühende Loos
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152 Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen.
des Herschertnms vermeiden solle. Insofern aber dies die fromme
Kämpferin rettende Geschick von Kreon nicht in dieser Absicht ihr
bereitet werde, sondern ein grausames Unrecht seines über sittliches
Pflichtgebot und göttliche Ordnung blind sich erhebenden tyrannischen
Eigenwillens sei, strafe Kreon durch sein Unrecht sich selbst in den
natürlichen Folgen desselben, dem Tode seines Sohnes und seiner Gat-
tin. So habe die durch Hämon's leidenschaftliche Liebe vom Dichter
charakterisierte Verlobung einen mehrfachen Zweck : den Tod der Heldin
als eine Notwendigkeit, ihn so als die noch einzige Bettung aus dem
sie erwartenden Herschertum erscheinen zu lassen, und zugleich dem
in liebloser Verblendung alle sittlichen Bande zerreiszenden Herscher-
mute seine Selbstzüchtigung zu bereiten. Hierbei gebe diese Verlobung
dem Schicksale der schuldlos sterbenden Antigone auch seinen sittlichen
Gesichtspunkt und tragische Schönheit. Dies sei der poetische Zweck.
Die unbesiegbare Neigung Hämon's, welche den Tod als Lösung des
verhängnisvollen Bandes notwendig mache, und wodurch zugleich das
Unrecht Kreon's gegen Antigone auch seinen Sohn und ihn treffe, sei
der diesem und dem Hauptzwecke dienende tragische Affect. Dasz die-
ser Teil der Composition die Mitte und den Nerv der gesamten tragi-
schen Handlung bilde, wird nach Beurteilung der entgegenstehenden
Ansicht weiter ausgeführt. Der Tod der Antigone, welcher die Beru-
fung eines solchen Charakters zur Herschermacht hindere und zugleich
als ein glückliches Loos vom Dichter betrachtet sei, schliesze einerseits
den Gedanken einer Strafe und Schuld gänzlich aus ; andererseits werde
in dieser Conception des Dichters die mit einem solchen Charakter ver-
einigte Macht und Willensungehundenheit des Herschertnms als Uehel
und Gefahr angeschaut und gefürchtet. Dieser Gesinnung der Compo-
sition gemäss stelle, das Drama als seinen Grundgedanken dar: Das
Unglücksloos des Herschertnms durch Verführung des menschlichen
Willens zur Ungesetzlichkeit , welchem Schicksale gegenüber die fromme
das Leben opfernde Gegenwehr und Abwehr als ein glückliches und
erhabenes Geschick erkannt werde. Wie nun die Fabel, die Handlung
der Tragödie in ihren einzelnen Teilen und im Ganzen den hier berühr-
ten Gedanken zur dramatischen auf Gemüt und Gesinnung wirkenden
Anschauung bringe, wird später gezeigt, und zunächst die Betrachtung
des Todes der Antigone wieder aufgenommen und geprüft, ob und wie
das im vierten Epeisodion nun sich erfüllende Schicksal der Jungfrau
mit der Bedeutung dieses Todes als eines schönen und rettenden, das
Gemüt befriedigenden Looses , sowie mit ihrem Charakter und der Ge-
sinnung der Tragödie in Uebereinstimmung bleibe, und ob zugleich
auch hier die Beziehung auf den verhängnisvollen Ehebund mit Hämon
festgehalten werde. Die Betrachtung des Strafurteils im vierten Epei-
sodion gebe der Verurteilten jene Gemütsstimmung zu dem Entschlusz,
der Gewalt und Schmach des ihr von Kreon zugedachten Looses durch
freiwilligen Tod zu entgehen. Hiermit kommt der Verf. zu der Frage,
wie der Dichter Sinn und Gemüt der Antigone über die natürliche Furcht
des Todes erhebe und sie bestimme, mit eigener Hand ihr Leben zu
enden; durch welche innere Befreiung von Kreon's Gewalt der Kampf
die Rollen wechsele und Kreon in die vergeltende Macht seines Opfers
gegeben werde. Nachdeni nun zunächst gezeigt ist, wie die psycholo-
gische Motivierung vornehmlich Gemüt und Gefühl der sterbenden
Heldin über den natürlichen Schmerz des Todes erhebe durch das höhere
Interesse ihrer Liebe und Blutstreue, wird alsdann auch die active
Seite der Motivierung betrachtet, die Erhebung und Schärfung des Mu-
tes und Willens zu dem Entschlüsse des freiwilligen Todes. Das
eine Moment sei die fremde und empörende Gewaltverfügung über die
Seele der Heldin, das andere ihr solch unwürdigen Zwang nicht dul-
dender Hochsinn und willensstarker Charakter, womit sie die Unter -
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Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen. 153
werfung ihres Willen« and Looses anter fremdes Maehtgebot mit ent-
rüsteter and trotzender Seele von sieh weise. Bei diesem Charakter,
dieser Willensempörung und todesmutigen Gesinnung sei so die rasche
Selbstbefreiung der Heldin aus 'solchem Grabeshaus' eine psycholo-
gische Notwendigkeit. Am Schlüsse der Abhandlung gibt uns dann der
Verf. einen Ueberbliek über den ganzen Plan der Compositum: fDes
Staates wie das eigene Heil oder Unheil ist die Gesetzlichkeit oder
Ungesetzlichkeit des Herscherwillens. Wo dieser die sittliche Ordnung
und in ihr die Wohlfahrt des menschlichen Lebens stört oder bedroht,
ist ihm in der abwehrenden Macht des Sittengesetzes seine natürliche
Strafe Torbestimmt, welche Vorbestimmung aber jeder erst durch eige-
nes Wollen und Handeln, durch Verleugnung oder Wahrung jenes Sit-
tengesetzes erfüllt oder vermeidet. Unsere Tragödie bringt dieses innere
Fatam , den das Sittengesetz befehdenden Herscherwillen (allgemein die
unbotmäszige Willensnatur) zur tragisch rührenden un<T warnenden An-
schauung. Kreon mit seinem selbstischen Eigenwillen ist Träger eines
solchen Herschersinnes und der Ausdruck dieses sein ungerechtes , lieb-
los und hartnäckig geltend gemachtes Verbot der Bestattung des Poly-
neikes, sowie die grausame Bestrafung des ebenso unbeugsamen, der
Gesetz- und Lieblosigkeit Kreon's wehrenden Willens der Antigone, der
Schwester des Todten und Braut seines Sohnes, welche die Hauptfigur
des tragischen Gemäldes bildet. Die tragische Bedeutung aber und
innere Einheit erhält das Drama, indem der Dichter mit Kreon's und
Polyneikes' Schicksal das Schicksal der Antigone durch ihre Berufung
zu derselben jenen so verderblichen Herschermacht verbindet. Ohne
diese Berufung und mit einem Charakter wie Ismene ihr Gegenbild,
welche die Composition nicht zum Herscherloose bestimmt, würde. Anti-
gone in ihrem Tode ein sittlich ungerechtfertigtes und untragisches
Schicksal erleiden, wie es der Tod Ismeue's wäre, die das Schicksal
der Schwester nicht teilen darf. Diese das Herschertum als Uebel be-
kämpfende Gesinnung der Handlung ist die innere Einheit ihrer Teile
(ffpdVuxxTa), die dadurch nicht verletzt ist, dasz der zur Leidenschaft
gesteigerte Egoismus Hämo n 's, sein Selbstmord die Katastrophe her-
beigeführt. Hämon ist wie Antigone das Opfer von Kreon's selbstsüch-
tigem Herschersinne , somit neben Antigone's beharrlichem und frommen
Trotze Kreon, der im Confliote mit der Liebe des Sohns dessen Recht
auf die Braut lieblos seinem Herscheregoismus opfert, der Urheber von
Hämon's Tod und seines eigenen durch diesen Tod ihn strafenden
Schicksals. Bei einer Selbstverleugnung hingegen von der einen oder
anderen Seite, ohne diesen Egoismus der Handelnden, der, wie bei
Polyneikes, so bei Kreon ein gesetzloser, auch bei Hämon ungerecht,
bei Antigone aber ein dem Sittengesetze als Wehr dienender gerechter
Affect ist, wäre dieser Gang und dieses Ende der Handlung undenk-
bar.' — Diese höchst interessante und geistreich geführte Untersuchung,
über deren Inhalt und Resultat auch schon wegen der Neuheit der Auf-
fassung Referent ausführlicher berichtet hat, soll von dem Verfasser
noch weiter fortgesetzt werden, und will sich derselbe in einer zweiten
Abhandlung mit der Aufgabe befassen, das hier gefundene Resultat in
dem Zusammenhange der sich gegenseitig bedingenden Acte und Scenen
und in den Chorgesängen als den Gedanken der Tragödie nachzuweisen,
mit Beigabe dramaturgischer Bemerkungen über eine dieser Auffassung
entsprechende Darstellung dieses antiken Drama, wozu in den Rhyth-
men und rhythmischen Accenten des Gedichtes , sowie in der Rede und
den Redefiguren, in der 'auf das Gesamte berechneten ,Wendung und
Färbung des Ausdrucks' gewissermaszen eine Didaskalie des Dichters
überliefert sei. — Als Anhang der Abhandlung läszt der Verfasser einen
kritischen Versuch zur Textverbesserung des" Prologs der Antigone fol-
gen; derselbe betrifft die Stelle V. 23—26) an welcher statt XPIctak
W. Jahrb. f. Phil. u. Päd. IL Abt. 1864. Hft. 3. 11
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154 Berichte über gelehrte Ansialten, Verordnungen, staust. Notizen.
gelesen werden «oll xpfaB' €k, «et dasz ctiv nicht mit Mwj an verbinden
seit sondern in der Tmesis stehe und au cfc gehöre, somit euveie XPIttd
dasselbe, was Sophokles in Bezng auf denselben Gedanken und das-
selbe Verbot Kreon'» in Hämon's Rede (V. 700) dnreh %pr\crfc tym
YVubfioc ausdrücke. Eine diese Tmesis nachahmende Verdeutschung
wäre etwa: *ab das Rechte wägend nach echtem Rechte Jund Gesetz.'
b. Ludwigs- Gymnasium, Dem Prof. der IL Gymnasialcl. P.
Niedermayer wurde der erbetene Rücktritt von seiner Stelle ge-
stattet. In Folge dessen rückte der Prof. der I. Gymnasiale^ P. Lipp
in die II, Cl. vor und wurde der seitherige Studienlehrer der IT. Cl.
der lat. Schule Kurz zum Prof. der L Gymnasial ol. befördert. Die
Studienlehrer der III., II. u. I. Cl. der lat. Schule La Roche, Dr.
Lang und Späth rückten in die nächst höheren Glassen vor, und an
die I. Cl. der lat. Schule wurde der bisherige Studienlehrer der U. Cl.
der lat. Schule in Dillingen Eisele versetzt Die durch die Ernennung
des Lehramts candidaten Pusl erledigte Stelle eines Assistenten wurde
dem Lehramtscand. Seelos übertragen. Lehrerpersonal: Rector Prof.
P. Höfer (IV), die Professoren Eilles (Math.), Englmann (III), P.
Lipp (II), Kurz (I), Sattler (kath. Rel. u. Gesch.), Preger (prot
Rel. u. Gesch.), Be'dat (Franz.); die Studienlehrer La Roche (IV),
Dr. Lang (III), Späth (II), Eisele (I), die Assistenten Eilles und
Seelos. Lehrer für die ausserordentlichen Unterrichtsgegenstände:
Stiftsvicar Richter (Hebr.), Carrara (Ital.), Everill (EngL), Zim-
mermann (Zeichnen), Seubert (Kalligr.), Degele (Gesang), Schön-
chen und Werner (Musik). Schülerzahl des Gymnasiums: 132 (IV 31,
III 82, II 40, I 29), der lat. Schule: 119 (IV 24, III 27, II 30, I 38).
Das Erziehungsinstitut hatte 117 Zöglinge. Eine Abhandlung ist dem
Berichterstatter nicht zugegangen.
c. Maximilians-Gymnasium. Das Lehrercollegium blieb un-
verändert. Der Lehramtscandidat Dr. Spengel leistete bei vorüber-
gehenden Erkrankungen Aushülfe. Lehrerpersonal: Rector Prof. Dr.
Beilhack (IV), die Professoren Steininger (auf unbestimmte Zeit
beurlaubt), Heumann (III), Linsmayer (II), Schöberl (I), Müller
(Math.), Dr. Fischer (kath. Rel. und Gesch.), Preger (prot. Rel. und
Gesch.), Boisot (Franz.); die Studienlehrer Arnold (IV), Britzel-
mavr (III), Gebhardt (II), Schuh (I), Mall (kath. Rel. u. Gesch.)
Uhlmann (Schreibl.), stellvertr. Assistent Kutzer; P ach er (Gesang),
Weishaupt (Zeichnen), Richter (Hebr.), Everill (EngL), Carrara
(Ital.), Kahl u. Werner (Musik), Gerber (Stenogr.). Schülerzahl des
Gymnasiums: 85 (IV 18, III 24, H 18, 1 25), der lat. Schule: 214 (IV 35,
IÜ 45, II 49, 185). — Dem Jahresbericht ist beigegeben eine Abhand-
lung vom Studienlehrer Schuh: (Jeher den Joiacisrnus der griechischen
Sprache, I. Teil. 44 S. 8. Der Verf. versucht die Frage zu beant-
worten, ob es endlich Zeit sein dürfte, die Aussprache des Griechi-
schen in den Gelehrtenschulen so zu lehren, wie sie in Griechenland
selbst gelehrt wird. Es wird durch Beweise dargethan, wie die Aus-
sprache der heutigen Griechen nicht gar besonders von jener der alten
abweicht und eben deshalb den gleichen Wohlklang bewahrt hat; fer-
ner wird gezeigt, wie auszer diesen beiden Eigenschaften , der Rich-
tigkeit und dem Wohlklang, vor Allem das praktische Interesse
selbst schon in unsren Tagen auffordert, die studierende Jugend doch
so aussprechen zu lehren, wie das Volk spricht, dessen Sprache man
erlernt. Der Verfasser widmet den einzelnen Buchstaben eine beson-
dere Betrachtung und spricht A, von den Vocalen, a) von den einfachen,
b) von den zusammengesetzten als ein Laut geltenden Vocalen (Diph-
thongen). Die Fortsetzung soll im nächsten Jahre folgen.
16. Mubk nebst adt]. Im Lehrerpersonale traten im Laufe des Schul-
jahres nur die Veränderungen ein, dasz der Studienlehrer Beck zum
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, statisi. Notixen. 155
Professor der I. Gymnasiale!, in Kempten ernannt und auf die dadurch
erledigte Lehrstelle der III. Classe der lat. Schale dahier der Studien-
lehrer Preu zh Bamberg berufen wnrde. Da jedoch demselben gestattet
wurde, bis eum Schlüsse des laufenden Schuljahre« auf seinem Posten
in Bamberg zu bleiben, so wurde zuerst der Augustiner P. Radina,
alsdann der Lehramtskandidat Hock als Verweser bestimmt. Lehrer-
personal: Studienrector Prof. LeitBchuh (IV), die Professoren P.
Braun (III), P. Keller (II), P. Merkle (I), P. Wester (Rel.), See-
ber (Math. u. Phys.), Studienlehrer P. Schneeberger (Assistent in
der IV. Cl.; Stellvertreter desselben für die Geschichte Studienlehrer
P. Ullrich), F. Osterberger (Franz.); die Schullehrer Gerhard
und Ungemach (Musik),- Bals (Zeichnen u. Turnen); Lehrer der lat.
Schule: Prof. P.W est er (IV), die Studienlehrer Preu (III), P.Schnee-
berger (II), P. Ullrich (I), P. Böhm (Relig.), Gerhard (Kalligr.).
Schälerzahl des Gymnasiums: 74 (IV 17, III 17, II 16, I 26), der lat.
Schule: 97 (IV 27, III 2^, II 24, I 17). Von diesen wurden 60 im Kna-
benseminar verpflegt und von dem Studienlehrer P. Schneeborger,
als Präfecten des Seminars, unter Beistand des P. Radina überwacht.
— Dem Jahresbericht folgt: Die. goldenen Sprüche des Pythagoras ins
Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen
von dem Studienlehrer P. Schneeberger. 11 S. 4.
17. Näubuhö a. d]. Am Anfange und im Laufe des Schuljahres er-
gaben sich mehrere Veränderungen im Lehrerpersonale. Der bisherige
Lehrer der IV. Classe der Lateinschule Studienlehrer Dr. Gerlinger
wnrde an die erledigte Lehrstelle der IV. Cl. der lat. Schule in Dillin-
gen versetzt. In Folge dessen rückten die drei folgenden Studienlehrer
vor, und wurde zum Studienlehrer der I. Classe der seitherige Assistent
am Ludwigs-Gymnasium in München Pusl ernannt. Ferner wurde der
bisherige Lehrer der IV. Gymnasialciasse Prof. Kemmer auf die Lehr-
stelle der; IV. Gymnasialcl. in Bamberg berufen und demselben die Füh-
rung des Gymnasial-Reotorats daselbst in widerruflicher Eigenschaft
übertragen, und an dessen Stelle der Prof. der IV. Gymnasialcl. zu
Bamberg Priester Rom eis nach Neuburg versetzt; ferner wurde der
bisherige Studienlehrer der IV. Cl. der lat. Schule in Neuburg Leickert
zum Gymnasialprofessor der I. Cl. des Gymnasiums in Bamberg beför-
dert; die Studienlehrer der III., II. und I. Cl. rückten vor, und zum
Stadienlehrer der I. Cl. wurde der Studienlebrer an der isolierten lat.
Schale zu Burghausen Loh er provisorisch ernannt. Durch die Berufung
des Prof. Kemmer nach Bamberg wurde auch die Lehrstelle für die
franz. Sprache erledigt, welche dem Candidaten des franz. Lehramts
Eichheim übertragen wurde. Lehrerpersonal: Studienrector Thum,
die Professoren Romeis (IV), Niki (III), Mayring(II), Ratzinger
(I), Ducrun (Math.); Waldvogel (kath. Rel.), Stadtpfarrer Walter
(prot. Rel.), Eichheim (Franz.); die Studienlehrer Loh er (IV), Dai-
senb erger (III), Mehltretter (II), Pusl (I), Kauszler (kath. Rel.).
Schülerzahl des Gymnasiums: 62 (IV 17, III 13, II 12, I 20), der lat.
Schale 106 (IV 29, III 25, H 28, I 23). — Dem Jahresbericht folgt eine
Abhandlung von Prof. Ratzinger: Schicksale Neuburg' s zur Zeit des
30 jährigen Krieges. (Vom Beginne desselben bis zum Jahre 1634.) 16 S. 4.
18. NmsBH*«Bö]. Mit dem Beginne des Schuljahres traten die Stu-
dienlehrer Hoffmann, Wild, Hartwig, Krafft und Dombart die
ihnen übertragenen Lehrstellen an. Lehrerpersonal: Rector Prof. Dr.
Heerwagen (IV), (Assistent Ehemann, Hülfslehrer Studienlehrer
Hoff mann), die Professoren Dr. Recknagel (HI), G. Herold (II),
Dr. Endler (I), Dr. F. Herold (Math.), prot. Religionslehrer des Gym-
nasiums Prof. Dr. Wolf fei und Prof. Dr. Endler, kath. Religionsl.
Prof. Schmitt, Cantor Emmerling (Gesang), Häupler (Schönschrei-
ben), Schreiber (Zeichnen), Krafft (Stenogr.); die Studienlehrer Prof.
11*
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156 Berieb te über gelehrte Anstalten , Verordnungen , staust. Notizen.
Dr. Wolf fei (IV), Ho ff mann (III) (Hülfslehrer Assistent Ehemann),
Wild (II), Hartwig (I«), Krafft (I»>), Dombart (Ic). Schülerzahl
des Gymnasiums: 91 (IV 19, III 20, H 26, I 26), der lat. Schule: 299
(IV 34, IH 37, II 45, I* öl, Ib 62, I« 70). — Dem Jahresbericht ist
vorausgeschickt eine Abhandlung vom Studienlehrer Dombart: De
codicibus quibusdam librorum AugusUnianorum de ewitaie dei commenialio.
20 S. 4. 'Augustinianos de civitate dei libros typis et sumtibns B. 6.
Teubneri propediem editurus ad textum eorum emendandum triam codi-
cum Monacensium primus ego quod sciam utor auxilio, quos C. Halmi,
clarissimi bibliothec'ae regiae praefecti, liberalitas usui meo concesait.
De quorom codicum praestantia, ne aut in ipsius edendi libri praefa-
tione longior esse cogar, quam naturae ejus convenit, aut, si nusqnam
omnino uberius de ilUs agam, temere videar eorum auetoritatem secu-
tus esse, hoc libello paulo diligentius disserere statui. Hi codd. tres
scripturae antiquitate, sinceritate, pulchritudine excellunt, quo magis
mirum videtur, eorum varias lectiones nondum enotatas et ad emendan-
dum textum horum librorum collatas esse.'
19. Passau]. Das Lehrercollegium ist unverändert geblieben. Stu-
dienrector Dr. Hoffmann, die Professoren Rott (IV), Widmann (III),
Liepert (II), Schrepfer (I), Dr. Nirschl (kathol. Bei.), Pfarrer
Bauer (prot. Rel.) , Lycealprofessor Hollwerk (Math.) f Lycealprof.
Ammon (Physik), Lycealprof. Dr. Anzenberger (Hebräisch), Vor-
hölzer (Franz.), Lycealprof. Dr. Bauer (Ital.), Wild (Steaogr.), Wag-
ner (Zeichnen), Geyer (Gesang), die Aisistenten Mayenberg (Tur-
nen) undBaldi; die Studienlehrer Lei tl (IV), Fisch (III), Wild (II),
Wältl (I); Cortolezis (Kalligr.), Miloche (Gesang). Schülerzahl
des Gymnasiums: 112 (IV 24, III 25, II 31, I 32), der lat. Schule: 186
(IV 44, III 42, II 50, L50). — Dem Jahresbericht geht voraus eine
Abhandlung von Prof. Liepert: Aristoteles und der Zweck der Kunst.
29 S. 4. Die Aufgabe vorliegender Abhandlung soll sein, den richtigen
Sinn der Stelle der Politik (VHI, c. 7) und damit eine klarere Einsicht
in das Wesen der KdOapcic zu vermitteln. ' Unter Anwendung dieser
so gewonnenen mit der Ansicht von Bernays (Grundzüge der ver-
lornen Abhandlungen des Aristoteles über Wirkung der Tragödie) im
Wesen übereinstimmenden Interpretation von KdOapcic auf die Tragödie
will der Verf. sodann eine Berichtigung der in Betreff des tragischen
Mitleids und der tragischen Furcht bisher üblichen Theorie versuchen.
Die Ansicht Lessing's, welcher gelegentlich der Besprechung der
KdOapcic den Satz aufgestellt hat, dasz sittliche Besserung der Zweck
jeder Dichtung sei, hat ihn bestimmt, den Nachweis zu versuchen,
dasz die Dichtkunst wol sittliche Wirkungen haben könne, diese
aber nur zufällig und unwesentlich seien und dasz die wesent-
liche Wirkung, oder wenn man will, der Zweck der Dichtkunst und
somit der Kunst überhaupt das Vergnügen sei. KdOapcic sei die unter
angenehmen Gefühlen erfolgende Bethätigung d. h. Befriedigung irgend
eines irdöoe. Je nachdem nun Aristoteles die Sache vom philosophisch-
medicinischen Standpunkte sich betrachte oder den Zweck, den der
Künstler und sein Publicum sich gesetzt, ins Auge fasse, wechselten
für eine und dieselbe Sache die Bezeichnungen KdOapcic, KivrfCic und
V)bovr|. Wende man nun den aus des Aristoteles Erörterungen über
Musik gewonnenen Begriff der KdOapctc auf die Tragödie an, so werde
die viel besprochene Stelle des Cap. 6 der Poetik: bt' £k£o\) Kai cpößou
irepaCvouca Tfjv tüVv toioötujv iraOrmdTWV KdOapciv zu übersetzen sein:
fDie Tragödie bewirkt durch die Erregung des Mitleids und der Furcht
die Befriedigung dieser Affekte', oder wie es Cap. 14 heiszt: <Der Tra-
gödiendichter hat die Aufgabe durch Mitleid und Furcht Vergnügen,
Unterhaltung , zu bereiten9, womit man Poetik c. 26 vergleichen könne,
wo als Zweck der Kunst wiederum das Vergnügen bezeichnet werde.
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Berichte aber gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen» 157
Dasz die Kunst mit sittlicher Besserung nichts zu thun habe, beweise
auszer Anderem 1) der Umstand, dasz kein echter Dichter bei der Wahl
seiner Stoffe von der sittlichen Bedeutung derselben eich abhängig
mache; 2) dasz das kunstliebende Publicum eine sittliche Besserung
vom Dichter nicht erwarte, und 3) dasz die unbefangene Philosophie
von der Forderung sittlicher Zwecke regelmässig Umgang nehme. Die
einzige Forderung, die der Dichter an seinen Stoff stelle, sei die, dasz
derselbe so viel Interesse biete als notwendig sei , um die schöpferische
Kraft in ihm wachzurufen , ihn zu begeistern ; dies aber vermöge jeder
Gegenstand , dem eine Beziehung zum Seelenleben des Menschen gege-
ben werden könne , d. h. Alles sei poetischer Stoff. Jede weitere Eigen-
schaft des Stoffes, also auch die sittliche Bedeutung desselben, sei dem
Dichter qua Dichter eine zufällige Beigabe. Der echte Dichter gebe
uns ein interessantes Stück Menschengeschichte, kenne aber für seine
schöpferische Thätigkeit in Wahrheit nur ein Motiv und dieses sei Be-
friedigung seines schöpferischen Dranges. Das Interesse , die Begeiste-
rung für den Stoff dränge ihn zur sinnlichen Darstellung, zur |Li(ur)Cic
desselben, und diese nun so wahrheitsgetreu als möglich zu bewerk-
stelligen, sei seine dichterische Aufgabe, sein dichterischer Zweck.
Die Aufgabe des Künstlers als solchen sei daher die Formvollendung.
20. Regritsburö]. Das Lehrerpersonal erfuhr folgende -Verände-
rungen. Der Professor der Mathematik und Physik Steinberger wurde
in den Ruhestand versetzt, und an dessen Stelle der Lehrer der Ma-
thematik an der hiesigen Kreis - Landwirtschafts- und Gewerbschule
Huther ernannt. Der Prof. der IL Gymnasiale). Keger wurde auf
die Lehrstelle der IV. Gymnasialcl. in Eichstädt und zugleich zur Füh-
rung1 des dortigen Gymnasial-Rectorats berufen, und die in Folge dessen
erledigte Lehrstelle der II. Gymnasialciasse wurde dem Professor der
I. Gymnasiale]. Abth. A. Seitz und die Führung der letztgenannten
Hasse dem Prof. Beutlhauser von Passau übertragen. Ferner wurde
anter Genehmigung der Verzichtleistung des Studienlehrers Dr. Spandau
auf seine Lehrstelle an der lat. Schule und der Bitte desselben um Ge-
stattung eines zweijährigen Aufenthaltes in England die Lehrstelle der
III. Cl. Abth. B. dem Studienlehrer der IL Cl. W eis z gerb er über-
tragen, dann auf die Lehrstelle der IL Cl. der Studienlehrer in Kempten
Pechl versetzt, und der Stadtpfarrer Egler mit dem Unterricht der
Geschichte für die prot. Schüler beauftragt. Der für das Lehramt der
Mathematik und Physik geprüfte Cand. Pötzl erhielt die Erlaubnis zur
Praxis an der hiesigen Studienanstalt. Lehrerpersonal: Rector Prof.
Hinterhuber (III), die Professoren Kleinstäuber (IV), Seitz (II),
Beutlhauser (I*), Langoth (Ib), Huther (Math.), Meilinger (kath.
Bei.); Albrecht (Franz.), Assistent Söldner, Lycealprof. Dr. Grimm
(Hebr.), Schnitzlein (Engl.), Adam' (Stenogr.), Stahl (Zeichnen),
Bühling (Gesang), Zell er (Turnen); die Studienlehrer Ob erndorf er
(IV*), Harrer (IVb), Tafrathshofer (III«), Weiszgärber (mb),
Pechl (II), Adam (I), prot. Religionsl. Prof. Langoth, Lecker
(KalligrJ. Schülerzahl des Gymnasiums: 160 (IV 41, III 40, II 40,
I» 19, Ib 20), der lat. Schule: 301 (IV* 38, IVb 34, IH« 66, IIIb 29,
II 76, I 69). — Dem Jahresbericht geht voraus eine Abhandlung von
dem Studienlehrer an der aula Bcholastica Dr. Schinhammer: Die
Seeschlacht bei Lepanto. 14 S. 4.
21. Schwbinfurt]. Das Lehrerpersonal ist im Laufe des Schuljah-
res unverändert geblieben. S tudienrector Prof. Dr. Oelschläger (IV),
die Professoren Dr. von Jan (III), Dr. Wittmann (II), Dr. Ender-
lein (I), zugleich Religionslehrer der protest. Schüler, Hartmann
(Math. u. Phys.); die Studienlehrer, Pf ir seh (IV), Zink (III), Dr.
Pfaff (II), Schmidt (I), Stadtpfarrer Büttner (Gesch. für die katb.
Schüler), dessen Stelle vertretend Gooperator Krampf, Stadtkaplan
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158 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen.
Weber (kath. Rel.), Hof manu (Zeichnen), Beck (Aushülfsl ehrer für
Kalligr.), Stadtcantor Schneider (Gesang.)* Schülerzahl des Gjmna-
sinms: 46 (IV 7, III 16 f II 10, I 13), der lat. Schule: 94 (IV 27, III 12,
II 29, I 26). — Dem Jahresbericht folgt eine Abhandlung, von Prof. Dr.
Wittmann: De loci* quibusdam Livianis. Die behandelten Stellen sind
folgende: Liv. I. 57, 8 se intendentibus wird erklärt s=j quum Uli se
intenderent. Regiis juvenibus, quum omnes nervös contenderent, con-
tigit, ut primis tenebris Romam pervenirent. II 13 soll vor inviolatam-
que ausgefallen sein int ac tarn, deditam = si dedita fuerit II 22 soll
vor ni matnratum ab dictatore Romano esset ergänzt werden: et quae
auxilia misissent. II 24 praevertisse wird verändert in praeverti coss
(i. e. consules), da posse keiner Heilung bedürfe. II 28 eNon iidem
homines de plebe modo in Esquiliis, modo in Aventino coetus fecisse,
sed divers ae alia alio loeo separatim suis rebns consuluisse videntur;
obaerati, et qui eorum causam agebant, fortasse in Esquiliis, credito-
res contra et nobilium si qui cum iis stabant , in Aventino habebant
coocilia.' II 31 wird Gronov's Verbessernng gebilligt (quam, dum —
pandunt, — firmaverat) und ausserdem parum apte geändert in parum
aptis. II 59 nimiae =» ne nimia esset s. fieret. HI 51 nach quo —
abissent soll ergänst werden fnisi ipsi eum magistratum retinuissent'.
V 13 wird oblati in oblatos geändert , wozu reliquias pugnae Apposition
sei. V 15 ut (== ut primum) dürfe nicht von quando getrennt werden,
sondern hänge mit demselben zusammen. V 21 die Worte variis ter-
rentium ac paventium vocibus sollen nicht von complet, sondern von
mixto abhängen; = Clamor omnia complet mulierum ac puerorum plo-
ratu, qui mixtus erat variis terrentium ac paventinm vocibus. V 28
wird verecundia erklärt nach Cic. de rep« V 4. V 46 wird comitiis cu-
riatis nicht auf das folgende revocatus, sondern auf die Worte dictator
extemplo diceretur bezogen = ut Camillus dictator extemplo diceretur
et comitiis curiatis imperium acciperet. Die Worte revocatus de exilio
jussu populi Camillus sollen sich beziehen auf die kurz vorhergehenden
Worte 'consensu oranium placuit ab Ardea Camillum aceiri'.
22. Spbieb]. Von Veränderungen im Lehrerpersonale sind nach-
stehende anzuführen: Prof. Sqh edler, dem der Religions- und Ge-
schichtsunterricht für die kath. Schüler am Gymnasium und an der lat.
Schule übertragen worden war, wurde in gleicher Eigenschaft an das
Wilhelms -Gymnasium zu München versetzt. Bis zur Wiederbesetzung
der Lehrstelle versah der Priester Merkel den betreffenden Unterricht.
Vom 1. Januar an wurde der genannte Unterricht getrennt, und für das
Gymnasium dem früheren Pfarrkaplan Hutmacher und für die lat.
Schule dem Domvicar Kuhn übertragen. Der frühere Assistent Kep-
pel wurde zum Studienlehrer an der lat. Schule zu Kirchheimholanden
befördert, und an seine Stelle der Lehramtscand. Kusch ernannt. Mit
dem Anfang des nächsten Schuljahres wird Prof. Sturtz, zum Pfarrer
in Winnweiler ernannt, von der Anstalt scheiden. Lehrerpersonal:
Rector Hofrath Dr. v. Jäger, Conrector Prof. Fischer, die Professo-
ren Schwerd (Math, und Physik), Osthelder (IV), Langer (III),
Borfleht (II), Dr. Fischer (I), Hutmacher; Schaller (Franz.),
die Assistenten Nuseh und Schelle, Zech (Zeichnen), W i s z (Musik),
Mühe (Stenogr.); an der lat. Schule: Subrector Prof. Fahr (IV), die
Studienlehrer Krieger (III), Lehmann (II), Emmert (I), Kuhn,
Lehmann (Kalligr. ) , Assistent Schelle (Math.) . Schülerzahl des Gym-
nasiums: 111 (IV 32, III 24, II 28, I 27), der lat. Schule: 126 (IV 30,
III 45, II 26, I 26). — Dem Jahresbericht folgt eine Abhandlung vom
Lycealprofessor Dr. Becker: Der Humanismus in seiner Beziehung z«
den Prineipien der antik-platonischen und der christlichen Sittenlehre. 22 S. 4.
Die vorliegende Abhandlung stützt sich auf die neulich bei Herder in
Freiburg erschienene Schrift desselben Verfassers: 'Das philosophische
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen. 159
System Platon's in seiner Beziehung zum christliehen Dogma*, in welcher
derselbe die principielle Verschiedenheit der christlichen Glaubens- und
Sittenlehre Ton den Lehren des platonischen Systems nachzuweisen und
das richtige Verhältnis zwischen Christentum und Piatonismus klar zu
machen unternommen hat. Der Verfasser fühlt sich gedrungen, in die-
ser Abhandlung, deren weitere Ausführung ihm jedoch aus Mangel an
Zeit unmöglich war, die Fehler und Ueberschreitungen, deren sich der
Humanismus in den letzten Jahrhunderten schuldig gemacht habe, un-
verholen und klar als solche zu bezeichnen.
23. Straub i hg]. Im Lehrerpersonale fanden folgende Veränderungen
statt. Der Prof. der IV. Qymnasialcl. Andeltshauser wurde auf sein
Nachsuchen in den Buhestand versetzt In die hierdurch erledigte Lehr-
stelle rückte der Prof. der I. Qymnasialcl. Erk vor, und zum Prof.
der I. Gymnasialcl. wurde der seitherige Studienlehrer der lat. Schule
in Dillingen Jungkunz befördert Lehrerpersonal: Studienrector Pro-
fessor Tauacheck (III), die Professoren Erk (IV), Enzensperger
(II), Jungkunz (I), Schmidt (Math. u. Phys.), P; Pielmair (kath.
Rel.), Pfarrvicar Braun (prot. Rel.), Port (Franz.), Assistent Hof er,
Lämmermeyr (Zeichnen)* Aigner (Gesang), Weingart (Stenogr.);
die Studienlehrer Krieger (IV), Schedlbauer (III), Spanfehlner
(II) (auch Turnlehrer), Mutzl (I), Bergmann (Kalligr.). Schülerzahl
des Gymnasiums: 66 (IV 9, III 13, II 18, 1 16), der latein. Schule: 93
(IV 18, HI 24, II 24, I 27). — Dem Jahresbericht folgt eine Abhand-
lung von Studienlehrer Schedlbauer: Von der Fortdauer der klatsi-
sehen Studien in den Mittelschulen. 28 S. 4. Der Verfasser handelt erst-
lich von dem Zwecke aller Bildung und der Gymnasialbildung im Be-
sonderen, untersucht dann, oj> die Naturwissenschaften zur Erreichung
dieses Zweckes geeignet sind, oder, wenn nicht diese, etwa die neueren
Sprachen. Nach den Ergebnissen dieser Untersuchung wird auseinander-
gesetzt, welche Bildung dagegen die alten Sprachen geben; endlich
werden die Bedenken gewürdigt, welche man gegen die Classiker hat
vom nationalen, politischen und religiösen Standpunkte aus.
24. Wuerzbubo]. In dem Lehrpersonale traten im Laufe des Stu-
dienjahres folgende Aenderungen ein. Dom Studienlehrer Dr. Gras-
berger wurde für das Wintersemester der erbetene Urlaub bewilligt
und genehmigt, dasz dessen Functionen als Lehrer der I. Lateinclasse
Abth. A. von dem Assistenten Klub er übernommen wurden. Auf die
Dauer dieses Urlaubs wnrde die Stelle eines Assistenten dem Lehramts-
cand. Schmitt übertragen, der jedoch auch nach dem Wiedereintritte
Klüber's anderweitig verwendet wurde. Dem tempor&r quiescierten
Professor Dr. Keller wurde der erbetene Ruhestand für immer bewil-
ligt. Nachdem die protestantische Religionslehrerstelle an der Studien-
anstalt Bayreuth dem Stadtvicar Nägelsbach mit dem Titel und Range
eines Gymnasialprofessors übertragen war, erhielt die hierdurch an der
hiesigen Lateinschule erledigte Stelle eines protest. Religions- und
Geschichtslehrers der zum Stadtvicar ernannte Fredigtamtscandidat
Ortloph. Die durch den Tod des Zeichnenlehrers am Gymnasium Hes-
selbach erledigte Stelle wurde dem seitherigen Schreib- und Zeichnen-
lehrer an der lat. Schule zu Grünnstadt Hügel übertragen. Lehrer-
personal: Studienrector Ho frath Dr. Weidemann (IV), die Professoren
Weigand (III), Schmitt (II), Hannwacker (I), Vierheilig (Math.
u.Phys.), Steigerwald (kath. Rel. u. Gesch.), Stadtvicar Baum (prot.
Rel. u. vGesch.), Dr. Hostombe (Franz.), Assistanten: Studienlehrer
Behringer und Klüber; Prof. Dr. Reiszmann (Hebr.), Eggens-
berger (Engl.), Hügel (Zeichnen), Bratsch (Gesang), Maier (Ste-
nogr. u. Turnen); die Studienlehrer Alzheimer (IV), Behringer (III),
Dr. Gerhard (II), Dr. Grasberger (I«), Knierer (Ib), Dr. Stein
(kath. Rel. tr. Gesch.), Ortloph (prot. Rel. u. Gesch.), Assistent Hart -
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160 Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen.
mann (Math.), St Öhr (Kalligr.). Schülerzahl des Gymnasiums: 114
(IV 23, III 27, II 35, I 29), der lat. Schule: 252 (IV 66, III 54, 1159,
1*40, Ib 34). — Dem Jahresbericht ist beigegeben: Uebersetzungsproben
aus Lucretius. Von Studienlehrer Dt, Grasb erger. 24 S. 4. (In dem
Versmasz der Divina Commedia.).
25. Zwjubrujccken]. Den Subrector Görringer verlor die Anstalt
durch den Tod. In Folge dessen wurde die Führung der IV. Latein -
classe dem temporär quiescierten Studienlehrer an der Lateinschule in
Speyer Sand übertragen, aber das mit dieser Stelle verbunden gewe-
sene Subrector at aufgehoben; der Unterricht in der hebr. Sprache wurde
dem Prof. Dr. Ochs übertragen.. Lehrerpersonal: Reetor Prof. Dr.
Dittmar (IV), die Professoren Fischer (III), zugleich Gesanglehrer,
Butters (II), Müller (I), Dursy (Math, und Phys.), Krieger (prot.
Rel. und Gesch.), Dr. Ochs (kath. Rel. und Gesch.); die Studienlehrer
Sand (IV), Kraft (III), zugleich Lehrer der Stenogr. und Kalligr.,
Oeffner (II), Dreykorn (I), Koch (Franz.), die Assistenten Tauber
und Heel, Perzl (Zeichnen). Schülerzahl des Gymnasiums : 122 (IV 28,
HI 27, II 30, I 37), der lat Schule: 97 (IV 34, III 17, II 18, I 28). -
Eine wissenschaftliche Abhandlung ist dem Jahresberichte nicht bei-
gegeben.
Ueber die Gymnasien des Königreichs Preuszen berichten wir
nach den zu Ostern und Michaelis 1862 erschienenen Programmen,
wie folgt:
I. Provinz Preuszen.
1. Bbaunsbebö]. Mit dem Anfange des Schuljahres trat der Can-
didat des höheren Schulamts Löffler zur aushülflichen Dienstleitung
ein. Lehrercollegium : Director Prof. Braun, die Oberlehrer Prof.
Dr. Saage, Dr. Otto, Dr. Bender, t)r. Funge, Religioralehrer
Austen, die ordentlichen Lehrer Oberl. Lindenblatt > Oberl. Tietz,
Dr. Bludau, Brandenburg, wiss. Hülfsl. Schütze, Cand. Löff-
ler, techn. Hülfsl ehr er Rohde, Pfarrer Dr. Herrmann (evang. Reli-
gionslehrer). Schülerzahl: 321 (I* u. b 47, II« u. b 57, HI* u. b 84,
IV 47, V 42,- VI 44). Abiturienten: 15. Den Schulnachrichten geht
yoraus eine mathematische Abhandlung vom Oberlehrer Tietz: Ueber
Transversalen. 24. S. 4.
2. Culm]. An die Stelle der beiden ausgeschiedenen Lehrer Dr.
Pior und Schillings, von denen der erster© an das Gymnasium zu
Neustadt W. Pr. übergieng, der andere als Mathematikus bei dem Gym-
nasium zu Arnsberg eintrat, traten Dr. Schulz und Schröder ein,
der letztere für den mathematischen Unterricht. Dem Dr. Peters
wurde die fünfte ordentliche Lehrerstelle definitiv übertragen. Lehrer-
collegium: Director Dr. Loz'ynski, die Oberlehrer Prof. Dr. Funk,
Haegele, Weclewski, Licent. Okr6j (katholischer Religionslehrer),
Wentzke, die ordentlichen Lehrer Oberlehrer Raabe, Dr. Frey,
Reyzner, Laskowski, Dr. Peters, wiss. Hülfslehrer Rochel,
Pfarrer Consentius (evang, Religionsl.), die Candidaten Dr. Schulz,
Schroeder, Zeichnenl. Diugosz, Gesang]. Trautmann. Schülerzahl:
470 (I« 37, Ib 29, II« 43, IIb 43, III* 50, IIIbl 30, UIb* 33, IV 67,
V 56, VI 57, Vorbereitungscl. 25). Abiturienten: 33. — Den Schul -
nachrichten geht voraus : Geschichte des Gymnasiums zu Culm während der
ersten 25 Jahre seines Bestehens, von dem Dir. Dr. Lozynski. 75 S. 4.
3. Danzio]. Der Divisionsprediger Krieger, welcher seit mehre-
ren Jahren eine Hülfslehrerstelle am hiesigen Gymnasium neben sei-
nem Predigtamte verwaltete, schied mit dem Schlüsse des Schuljahres
aus, um seine ganze Kraft seinem Hauptamte widmen zu können. An
seine Stelle wird mit dem neuen Schuljahre' Dr. Eich hörst treten.
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Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen. 161
Dr. Stein erhielt zum Zwecke einer wissenschaftlichen Reise nach
Paris und Italien auf ein Jahr Urlaub; die Stellvertretung wird der
Predigtamtscandidat Bertling übernehmen. Lehrercoliegium : Director
Engelhardt, die Professoren Herbst, Hirsch, Czwalina, Brand-
stäter, Boeper, die ordentlichen Lehrer Dr. Strehlke, Dr. Hintz,
Dr. Stein, Dr. Bresler, evang. Religionsl. Predig. Blech, kath.
Religionsl. Dr. theol. Redner, die Hülfslehrer Dr. Lampe, Dr. Eich-
horst, Zeichnenlehrer Trosohel, Schreiblehrer Qohr, Musikdir. Mar-
kall, Elementarlehrer Wilde. Schülerzahl: 473 (I 32, II« 41, IIb 38,
III" 41, II1»> 63, IV* 60, IV* 44, V 61, Vi 56, VII 37). Abiturienten:
22. — Den Schulnachrichten geht voraus: M. Terenti Varroni* Eume-
nidum reliquiae. Rec. et adnot. Roeper. Partie, tertia. 42 S. 4. fHaec
hahui de singulis hujus saturae fragmentis quae proponerem, in quibus
id maxime agendum putavi, ut emendarem verba, aperirem sententias,
restituerem numeros. Superest ut de universae conformatione deque
fragmentorum .ordine dicendum videatur. Quae res quam sit lubrica ac
dubitationum plena, ut cum aliqna probabilitatis fidueia non modo
effici sed ne institui quidem possit, cum in Vindiciis primis ad versus
Yahlenum (Philol. XV p. 271 sqq.) exposuerim, supersedere nunc plu-
ribus licet. Sed quoniam aliquem editor seeundum eam quam animo
6uo inform avit totius fabulae imaginem quamvis obscuram atque eva-
uidam incertamque facere tarnen debet ordinem reliquiarum nullo or-
dioe traditarum, isque quem rejeeto haud injuria Popmano fecit Oehle-
ras aliquot locis falsus est, id quod intellegitur divolsis quibusdam haud
dabie ad rem eamdem pertinentibus, Vahleni autem ordo et imperfec-
tus est et ad fabulam parum credibiliter exeogitatam institutus ; id qui-
dem non eo infitias a Ribbeckio esse fragmenta elegantius et cum ma-
jori quadam specie probabilitatis digesta, sed ita tarnen idem ea in re
noanumqnam temere mea quidem sententia et ad fidem faciendam pa-
nuo apte versatus videtur esse, ut, meus mihi ordo si ineundus sit, ali-
qnotiens discedendum ab eo putem. Atque equidem ita fere digesserim
quae supersunt: 1, 2, 8, 34, 32 (servorum inter se colloquium idemque
narrationis insequentis prooemium); 3, 4 (de cenae scholasticae adpa-
ratione); 6, 7, 5 (de convivarum pro meritis ordine); 11, 10 (de cenae
ad antiquum morem frugalitate) ; 9, 14 (de intermediis quibusdam) ; 22,
21, 19, 33, 23, 25, 31, 30, 24, 26 (de Stoicorum aliorumque philosopho-
rum opinionibus praeeipue circa hominum insaniam); 48, 49, 42, 12, 13
(de fine convivii et quibusdam quae in publicum progressis evenerunt) ;
45, 46, 43, 28, 44 (de ineidente in Furias et pro insano habito); 35,
38, 36, 37, 39, 40, 41, 47 (de iis quae apud aedem Matris Deum acci-
derunt); 16, 17, 27, 20, 15, 18 (de ineubante Serapidi); 29 (de judicio
Veritatis). Quem equidem ordinem ita pono, ut et sciam quam ipse
ineertus sit nee spondeam semper me ejus tenacem fore. Totius satu-
rae argumentum positum fuisse in describenda varia mortalium vel pro
Banissimis habitorum insania atque vecordia, satis declarant fragmenta
plurima; sed inter ipsam et logistoricum , qui inscriptus fuit Orestes
vel de insania, quae olim ratio intercesserit, praeter commune illud
satararum ac logistoricorum discrimen hilaritatis atque gravitatis sive
scenici generis ac didactici in tanta Orestis reliquiarum paucitate ad-
sequi vix quisquam poterit aut definire.'
4) Deutsch -Cbohk]. Die bisherige wissenschaftliche Hülfslehrer-
stelle wurde zur vierten ordentlichen Lehrerstelle erhoben und dem
Candidaten Andrezejewski intermistisoh übertragen. An Stelle des
bisherigen Religionslehrers Ptaszynski wurde der Licentiat der Theo-
logie v. Laskowski berufen. Lehrercoliegium: Director Dr. Peters,
die Oberlehrer Martini, Prof. Krause, Weierstrasz, Lic. von
Laskowski (Relig.), die ordentlichen Lehrer Altendorf, Dr. Ma-
lina, Dr. Schneider, Andrzejewski, techn. Hülfsl. Härtung,
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162 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist Notizen.
Prediger Weise (evang. ßel.). Schülerzahl: 230 (I ^2, II 40, III« 22,
III b 36, IV 42, V 31, VI 37). Abiturienten: 7. — Den Schulnachricli-
ten geht voraus: Ueber Cäsar** Bell. Galt. VII 23. Vom Oberlehrer
Martini. 16 S. 4. Der Verfasser hat nur eben das zusammenstellen
wollen, was aus den bisherigen Erklärungsversuchen dieses in vieler
Beziehung nicht leicht zu erklärenden Capitels seinen eigenen Ansich-
ten am meisten entsprach. Neues ist über diesen oft behandelten Ge-
genstand nicht gesagt.
5. Elbino]. Mit dem Schlüsse des Schuljahres verliesz die Anstalt
Dr. Sonnenburg, Lehrer «der neueren Sprachen in den oberen Clas-
sen, um eine Lehrerstelle an der Petrischale in Danzig zu überneh-
men. Lehrercollegium : Director Dr. Benecke, die Professoren M e tt ,
Richter, Dr. Reusch, Oberl. Scheibert, die ordentlichen Lehrer
Lindenroth, Dr. Steinke, Dr. Heinrichs, Mnsikdir. Döring,
Zeichnenlehrer Müller. Schülerzahl: 248 (I 18, II 24, III 49, IV 40,
V 60, VI 57). Abiturienten: 14. — Den Schulnachrichten folgt eine
mathem. Abhandlung von dem Oberlehrer Scheibert: Herleitung der
Allgemeingültigkeit der Binominal formell sowie der logarithmischen Funda-
■ mentalreihe durch die Hauptsätze aus der Methode der unbestimmten Koef-
ficienten. 20 S. 4.
6. Gumbinken]. Während der Dauer des ganzen Schuljahrs hat
dem Gymnasium eine Lehrkraft gefehlt, da die durch des Prof. Dr.
Amol dt Beförderung zum Directorat erledigte zweite Oberlehrerstelle
unbesetzt geblieben ist. Erst vom October ab ist zur Wahrnehmung
der erledigten Lehi erstelle der Gymnasiallehrer Hoppe in Liegnitz
berufen worden. Lehrercollegium: Director Dr. Arnoldt, die Ober-
lehrer Prof. Sperling* Prof. Dewischeit, Hoppe, Gerlach, die
ordentlichen Lehrer Dr. Kossak, Dr. Basse, Dr. Waas, Dr. Witt,
Schwarz, Lehrer der Vorbereitungsciasse Klein. Seh Hl erzähl : 280
(I 11, II 32, III 52, IV 47, V 60, VI 39, VII 49). Abiturienten: 5. -
Den Schulnachrichten geht voraus: Eine Zusammenstellung des Wichtig-
sten aus der Lehre von den hypothetischen Sätzen in der mustergültigen
lateinischen Prosa. Zweiter Teil. Von Dr. R. Basse. 9 S. 4. (Der
erste Teil dieser Abhandlung findet sich im Michaelis-Programm 1861.)
B. Abhängige Bedingungssätze.
7. Hohenstkin]. Der Oberlehrer Schultz schied aus seiner bis-
herigen Stellung aus, um eine Lehrerstelle an dem evang. Gymnasium
zu Grosz-Glogau zu übernehmen. In Folge dessen wurde Dr. Ger-
vais zum dritten Oberlehrer, Blümel zum ersten ordentlichen Lehrer
Defördert, der bisher bei dem Gymnasium in Thorn beschäftigte Leh-
rer Siebert als zweiter ordentlicher Lehrer angestellt Den Reli-
gionslehrer Candidat Menzel verlor die Anstalt durch den Tod; in
seine Stelle trat der Prediger Wendland ein« Lehrercollegium: Di-
rector Dr. Toppen, die Oberlehrer Dudeck, Dr. Krause, Dr. Ger-
vais, die ordentlichen Lehrer Blümel, Siebert, Dr. Heinicke,
Prediger Wendland, technischer Lehrer Baldus, Pfarrer Kar an.
Schülerzahl: 209 (I 26, II 26, III 61, IV 35, V 43, VI 29). Abiturien-
ten: 13. — Den Schulnachrichten geht voraus: Versicherung von Erzie-
hungsgeldern. Von Blümel. 36. S. 4.
8. Instbrbubg]. Das neue Schuljahr wurde mit der Einführung des
Dr. Lange als dritten Oberlehrers eröffnet. Lehrercollegium; Director
Dr. Kräh, die Oberlehrer Dr. Schaper, Fischer, Dr. Lange,
Bachmann, Preusz, die ordentlichen Lehrer Dr. Rumpel, Dr.
Schwarzlose, Dr. Friedrich, Dr. Meiszner, Dr. Schaefer,
Trosien, Dr. Wiederhold, wiss. Hülfsl. Koch, Elementar- und
Zeichnenlehrer Kislatis, Gesangl. Metz, die Lehrer der Vorschule
Sackersdorff und Eggert. Schülerzahl: 295 (Ig 10, Ir 10, ng 20,
Ilr 36, Illg 25, Illr 53, IVg 17, IVr 34, V 50, VI 40, Vorschule: 53.
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, staust. Notizen. 163
Abiturienten: 6. — Den Schuh) achrichten geht voran»: De tertio hexa-
metri latini ordine cap. I. Vom Oberl. Dr. Seh aper. 26 S. 4. <Ex-
ponam, qua ratione de vi varietateque tertii ordinis sim scripturus.
Incipiam igitnr a voeibus dactylicis, elisione decurtatis, qaae in con-
finio quasi seeundi et tertii ordinis positae sunt. Extrema autem pars
disquisitionis ea vocabula habebit, quae cum natura antibacchia, mo-
losaica, paeonica, choriamblca sint, elisione daetylica fieri videntur.
Capitnm quinqne, quae in media disputatione ponentur, materiam da-
bunt eae voces, quae vel ipsae vel cum aliis compositae justum tertii
ordinis modum explent Hamm exempla tarn mtilta leguntur, ut primi
generis, quod voeihus dactylicis constat, non minus quinque millia in-
venerim. Alterum genus, quamqaam longo intervallo, huic tarnen pro-
ximum est; cum enim ex monosyllabo longo et pyrrhichio componatur,
satis magnae copulationum pulcherrimarum copiae locum dedit. Contra
tertium genus quo in genere trorhaeus cum brevi monosyllabo conjun*
gitur, perpaucas continet verborum copulationes nee eas elegantissime
facta». Haec tria daotylorum genera. Spendet denique in duo genera
distribuentur, quorum alterum singula vocabula, alterum bina compleo-
tetur.* Cap. I. De voeibus dactylicis et creticis, quae a sequenti in-
ciso sententiae vi sejunetae, cum proximis syllabis, a quibus altera
hexametri sedes ineipit, synizesi conjnngnntur.
9. Koshiqsbbbo]. a) Altstädtisches Gymnasium. In dem
Lehrercollegium sind im Laufe des Jahres folgende Veränderungen
eingetreten. Zu Ostern v. J. trat der dritte ord. Lehrer Dr. Seh aper
aas, um die erste Oberlehrerstelle an dem neu errichteten Gymnasium
za Insterburg zu übernehmen. An die Stelle desselben traten Dr. Bu-
jack, welcher schon seit Michaelis 1860 an dem Gymnasium beschäf-
tigt war, und Dr. Eichhorst, welcher jedoch nach Ostern d. J. aus
dem Lehrerkreise scheiden wird, um in eine wissensch. Htilfslehrerstelle
an dem Gymnasium zu Danzig einzutreten. An die Stelle des ans Ge-
sundheitsrücksichten ausgeschiedenen Elementarlehrers Rosatis trat
der Elementarlehrer Bier freund. Seit Michaelis v. J. war auch das
Mitglied des p&dagog. Seminars, Dr. Koenigsbeck an dem Gymna-
sium beschäftigt. An die Stelle des aus seiner Stellung geschiedenen
Gesanglehrers Witt trat Cantor Meissner. Lehrercollegium: Director
Dr. Ellendt, die Oberlehrer Prof. Dr. Möller, Fatschek, Schu-
mann, Dr. Richter, die ordentlichen Lehrer Dr. Retzlaff, Fabri«
eins, Witt, Müttrich, die Schnlamtscandidaten Dr. Bujack und
Dr. Eichhorst, Elena entarlehrei Bierfreund, Zeichnenl. Stobbe,
Gesanglehrer Meiszner. Schfilerzahl: 395 (I 49, II* 28, IIb 36, III«
42, IIIb 59, IV 60, V 61, VI 60). Abiturienten zu Michaelis: 2, zu
Ostern: 15. — Den Schulnachrichten ist vorausgeschickt eine Abhand-
lung des Oberlehrer Schumann: Eine neue Tangenlenboussole. 32 8. 4.
b) Friedrichs-Collegium. Der Sehulamtscandidat Linke und
der Candidat der Theologie Coli in traten als wissenschaftliche Hülfs-
lehrer ein, letzterer zugleich als Gesanglehrer, der Elementarlehrer
Maasz als Lehrer an der Vorschule. Der Domherr und Probst Dr.
Wunder wurde im Laufe des Winters an das Domstift nach Frauen-
burg versetzt; der bis, dahin von ihm erteilte Religionsunterricht für
die kathol. Schüler wurde vorläufig dem Kaplan Dr. Hizler übertra-
gen, nachher hat denselben der Probst Namszanowski übernommen.
Mit dem Beginn des Sommersemesters trat der Predigtamtscandidat
Lackner sein Probejahr an. Oberlehrer Dr. Lewitz wurde zum Pro-
fessor, ernannt. Lehrercollegium: Director Adler, die Oberlehrer Prof.
Dr. Lewitz, Prof. Dr. Merlecker, Lehnerdt, Dr. Zander, die
ordentlichen Lehrer Professor Dr. Simson, Prof. Dr. Zaddach, Dr.
Hoffmann, Dr. Müller, Dr. Eckardt, Prediger Ebel, die wiss.
Hülfslehrer Dr. Linke, Collin, Lackner, teehn. Hülfsl. Kreutz-
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1
164 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen.
raus: »
r Dr.]
5. te -j
berger, die Lehrer der Vorschule Glage and Maasz. Schälerzahl:
461 (I 28, II 39, III* 44, HI* 51, IV* 31, IV« 41, V 73, VI 65, Vor-
schule I 54, II 35). Abiturienten: 6. — Den Schulnachrichten geht
voraus eine Abhandlung von Dr. Ho ff mann: lieber tordierte Drähte.
10 S. 4.
c) Kneiphöfisches Stadt-Gymnasium. An die Stelle des Dr.
Bujack, welcher eine Stelle an dem hiesigen Altstädtischen Gymna-
sium übernommen hat, ist der Prediger Hanncke getreten. Zu Mi-
chaelis sind zwei Mitglieder des hiesigen pädagogischen Seminars,
Meinertz und P e 1 k a , dem Gymnasium tiberwiesen. Lehr ercolle - 1
gium: Director Dr. Skrzeczka, die Oberlehrer Prof. Dr. Koenig, I
Dr. Schwidoz, Dr. Lentz, Prof. Cholevius, Weyl, die ordent-"]
liehen Lehrer Dr. Knobbe, v. Drygalski, Dr. Diestel, Prediger
Hanncke, Dr. Seemann, Zeichnen- und Schreiblehrer G 1 u m , Musik - '
director Pabst Schülerzahl: 310 (I 37, II* 32, II»» 31, m 61, IV 60,
V47, VI 42). Abiturienten: 16. — Den Schulnachrichten geht voraus
De verbis latinae linguae auxiliaribus. Pars III. Vom Oberlehrer
Lentz. 25 S. 4. 'Agendum mihi erit de his verbis: e**e, habere
nere, fore, forem, ireS — fQuae restat disputatio de verbis foref foremy
ire, eam quam proxime licebit absolvemus.'
10. Kohitz], In dem Lehrereollegium ist eine Veränderung nicht
eingetreten. Dasselbe bilden: Director Dr. Goebel, die Oberlehrer
Prof. Wiehert, Prof. Dr. Moiszisstzig, üowinski, Dr. Stein,
Religionslehrer v. Bielicki, die ordentl. Lehrer Oberlehrer Haub,
Heppner, Karlinski, Kawczynski, Barthel, wiss. Hülfslehrer
Gand, comiss. Lehrer Altendorf, techn. Hülfsl. Ossowski, evang.
Beligionsl. Superintend. Annecke. Schülerzahl: 319 (t 34, II 34,
IH* 36, HI* 55, IV 50, V 63, VI 57). Abiturienten: 11. — Den Schul-
nachrichten geht voraus: Diverbii Aeschylei seeunäum ralionem antithe-
Hcam emendati speeimen. Scripsit A. Lowinski. 20 S. 4. fAccipe
nunc textum utriusque sermonis seeundum rationem antitheticam pro
virili parte a nobis emendatum mementoque asteriscum eis locis appic-
tum esse quos ipsi conjeetura temptare ausi Burnus:
AIT6AOC.
Iktov XlyouV ftv Ävöpa cuKppovdcraTov
550 äXxrjv t' dpiCTOv, /utavTiv 'Anqpidpewv Aiöc*
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KOKotct ßdZ€i iroXXA Tuö^uic ßiav,
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555 "Eptvtioc XnTfJpa, irpöciroXov Odvou,
KaKtpv t' 'Aöpdcrip Td»vÖ€ ßouXeurVipiov
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen. 165
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590 oötoc b* 6 jLidvric, ul6v OIkXIouc X^yuj,
ciO<ppu>v, ohcaioc, draOdc, cöc€ß?|C dv^p,
indtac irpoq>fVrr|C, dvoctoici cuixjluycIc
epacucrÖMOiciv dvbpdciv qppevuiv b(xa*
xeivoua iro|umf)v xtf|v naxpdv itöXiv* noXeW,
595 Aiöc 6£Xovxoc EuYKa0€XKuc6f|C€xai.
öokiXi \Uv oOv cqp€ |lav)6^ irpocßaXetv iruXatc,
oöx the dOupoc, oute Xf|/maToc KdKT),
dXX' oi&€v, O&c c<pc XP^I xcXeuxfjcai iidxg,
ei Kapiröc ccxai Oec<pdxoia Ao£(ou.
600 qnXui* oc ciYäv f\ X^Y€iv xd Kaipia.
Öjiuic b* €ir* aöxö> qpuVra, AacOlvouc ß(av,
4xöpiji* Ecvov iruXujpöv dvxixd£of<i€v,
T^povxa xdv voOv, cdpxa b* r^ßweav cpOci,
irobtimcc öfmjLia, xelpd 0' f)* 06 ßpabüvexai
605 irap' dcirfboc yumvuj0£v dpirdcai oöpu.
GeoO Ö€ oilipdv €cxiv cOxuxetv ßpoxoOc.
11. LiTcncj. Im Lehrercollegium sind im verflossenen Schuljahre
Veränderungen nicht vorgekommen, aber durch die Ueberfüllung der
8e eunda die Berufung eines neuen Lehrers vorbereitet. Lehrercolle-
, |ium: Director Professor Fabian» die Oberlehrer Professor Kostka,
i GortzitKa, Dr. Horch, die ordentl. Itehrer Kuhse, Dr. Hamzke,
1 Kopetsc-h, Oberlehrer Menzel, Laves, Saran, Pfarrer Preusz.
Schülerzahl: 308 (I 35, II 69, III« 47, III»» 46, IV 51, V 46, VI 25).
Abiturienten: 7. — - Den Schulnachrichten geht voraus eine Abhandlung
des Gymnasiallehrer Kuhse: Lehre von den Kegelschnitten in syniheti-
tcker Darstellung. 23 S. 4.
12. Mabibnwrbdeb]. a) Königliches Gymnasium. Im Lehr er-
collegium sind folgende Veränderungen eingetreten. Der wissenschaft-
liche Hülfslehrer Dr. Wulckow wurde nach Danzig an die Petri-
schale versetzt; an seine Stelle trat provisorisch auf ein Jahr der
Candidat Wieder hold, der am Schlüsse des Schuljahrs die Anstalt
wieder verliesz, da die Stelle des wiss. Hülfslehrers in Wegfall ge-
kommen ist. Der fünfte ordentliche Lehrer Dr. Volckmann ist an
das Rastenburger Gymnasium versetzt worden; zur einstweiligen Aus-
hülfe ist der Predigtamtscandidat Rohde eingetreten. Lehrercolle-
giam: Director Prof. Dr. Lehmann, die Oberlehrer Prof. Dr. Gütz-
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166 Berichte über gelehrte Anstallen , Verordnungen , Statist. Notizen.
laff, Prof. Dr. Schröder, Gross (zugleich Turnlehrer), Dr. Zeysz,
die ordentlichen Lehrer Reddig, Henske, Graeser, Dr. Künzer,
Cand, Rohde, Zeichnen- und Schreiblehrer B er endt, Gesangl. Cantor
Leder. Schülerzahl: 212 (I 17, II 38, III« 20, III1» 39, IV 28, V 27,
VI 43). Abiturienten: 14. — Den Schulnachrichten geht voraus: 1)
Sprachliche Bemerkungen über Lessing. Erstes Heft. Vom Director Dr.
Lehmann. 37 S. 4. Erster Abschnitt. Die Hülfsverba. § 1. Allge-
meines. § 2. Auslassung der Hülfsverba haben und sein m Neben-
sätzen. § 3. Auslassung des Hülfsverbums haben bei der Innuitiv-
Attraction. § 4. Auslassung des Hülfsverbums sein, besonders bei
geworden, werden und gewesen. § 5. Resultat. A. Das End-
resultat für die Poesie. B. Das Endresultat für die Prosa. Zweiter
Abschnitt. Eine Attraction (Trajection) bei Relativsätzen. § 6. Die
regelmäszige Construction. § 7 Die Structiir der Trajection. § 8. Die
Einleitungen der beiden Nebensätze. § 9. Die Verba finita des regie-
renden Nebensatzes. § 10, Die Satzstufen bei 4er Trajection. § 11.
Stilgattungen. § 12. Beispiele bei Luther und Anderen. § 13. Ursprung
und Zusammenhang. * § 14. Resultat. Dritter Abschnitt. Der Accn-
sativ mit dem Infinitiv. § 15. Wesen. § 16. Die regierenden Verba.
§ 17. Ellipsen bei dem Accusativ mit dem Infinitiv. § 18. Die Satz-
stufen. § 19. Entstehung und Zusammenhang. § 20. Schlnas. — 2)
Uebersichten zur Chronik des Königlichen Gymnasiums zu Marienwerder.
Zweite Fortsetzung. Von 1851 — 1862. Von dem Director.
b) Städtisches Gymnasium. Dr. Braut, vorher Hülfslehrer
an der Realschule zu Elbing, ist in die dritte ordentliche Lehrstelle
eingetreten. Für die zu Ostern bevorstehende Eröffnung der Prima
hat das Patronat der Anstalt für die vierte Lehrstelle Dr. Steusloff,
für die fünfte Just gewählt und die Genehmigung beantragt. Dem-
gemäsz wird das Gymnasium mit vollständigem Lehrercollegium und
mit sämtlichen Classen den neuen Jahrescursus beginnen. Lehrer-
collegium: Director Dr. Breiter, die Oberlehrer Dörk, Dr. Botzon,
Dr. Reich au, die ordentlichen Lehrer Lastig, Dr. Eckert, Dr.
Braut, Lehrer der Vorclasse Look, Gesangl. Grabowski, Lehrer
der Vorclasse Post, Zeichrfenl. Naudieth. Schülerzahl: 278 (H 23,
III 48, IV 39, V 38, VI 56, Vorcl. I 36, II 38). — Den Schulnachrich-
ten geht voraus eine Abhandlung vom Gymnasiallehrer Dr. Braut:
Euripides muiierum osor nttm rede dicatur. Altera pars. Euripides de
matrimonio quid senser it. 16 S. 4. rQuoniam igitur vidimus iis, quae
in fabulis in malieres dicta reperiuntur, Euripideum earum odium non
modo non subesse, sed impugnari et refutari vel veterum poetarum
cavillationes vel aequalium prava judicia, deinde quae nihilo minus
nonnullae personae in feminas protulerunt, proficisci partim a rerura
conditione, in qua illae constitutae fuerint, partim ab earum *t ingenio
et moribus pravis, has igitür ob causas arbitramur omnis hujus Euri-
pidei, quod ferunt, odii muiierum originem ducendam esse ab Aristo-
phane; qui quidem qua de causa illi id affinxerit, alio loco demon-
strare conabor.'
13. Memel]. Das Lehrercollegium hat keine Veränderung erlitten.
Dasselbe bilden Director Gädke, die Oberlehrer Sanio, Dr. Paul-
sen, Dr. Schmidt, Dr. Storch, die ordentl. ' Lehrer Dr. Becker,
Dr. Genthe, Waldhauer, Gerdien, Graf, Cantor Edel, Lehrer
der Vorschule Rohse. Schülerzahl: 213 (Ig 4, Hg 6, Ilr 5, III 37,
IV 37, V 48, VI 41, Vorschule 36). Die Prima ist erst mit Anfang des
Sornmersemesters errichtet. — Den Schulnachrichten geht voraus eine
Abhandlung von Dr. Becker: Quaestiones criHcae de C. Suetonii Tran-
quillt de vita Caesarum libris VIII. 22 S. 4. (Rothius demum ex lege
artis Codices examinavit et praecipue Memmianum sequendnm esse
statuit. Sed quum quae ille vir doctissimus de libris Suetonianis dis-
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Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen. 167
pntavit, non ab omni parte vera esse videantur, diligentius in hanc
rem inqnirendum puto, cum mihi libri praesto sint, quorum notitia Ro-
thium fugit.' Es folgt dann eine Classification der verschiedenen Co-
dices. 'Sequentibus autem in* verbis qnaestionem de libris mann scrip-
tis sie instituam, ut primo eos locos afferam, in quibns B (est Wolfen-
battelanns sive Gudianus 268, a viris doctis adhnc prorsus neglectus,
qui aetate ad Memmianum proxime accedit) a Memmiani scriptnra
decedens . cum seeundae vel tertiae classis libris facit, tum pluribus
locis afferendis virtutes yitiaque seeundae tertiaeque classis et discri-
ftiina earum demonstrem, deniqne pauca de singulis libris manu scrip-
tis addam.'
14. Neustadt in westpb.]. Candidat Dr. Pior trat als dritter,
Candidat Bautenberg als vierter ordentlicher Lehrer ein. Candidat
Hoffmann trat sein Probejahr an. Lehrercolleginm : Directör Prof.
Dr. Seemann, Oberl. Fahle, Religionsl. Warncke, Oberl. Ma-
ronski, die ordentlichen Lehrer Samland, Dr. Thomaszewski,
Dr. Pior, Rantenberg, interim. wiss. Hülfsl. Dr. v. Maslowski,
Pfarrer Lebermann (evang. ReL), Cand. Hoffmann, techn. Lehrer
Prengel, Volksschull. Habowski. Schülerzahl: 328 (I 13, II 29,
IIP 30, in»» 47, IV 70, V 66, VI 64, VII 29). — Den Hchulnachrichten
geht voran«: De vocabulis Qraects apud scriptores Romanos. Scr. Sam-
land. 30 S. 4. (Ordinem disputationis sie instituamus, ut, quid de
vocabulis Graecis statuendum videatur, in hac parte maxime e soriptis
Ciceronianis cognosci possit, reliquorum quoque scriptorum libris re-
spectis, quos quidem perscrutari nobis lieuit.' — 'Quoniam demonatra-
tum est, vocabula Graeca passim etiam apud meliores scriptores repe-
riri, et quo jure ea adseiverint, nunc, ex quibus potissimum diseiplinis
dueantur, explicabimus.' I. Philosophica. II. Rhetorica. Grammatica.
Metrica. III. Scenica, Poetica. Musica. (Reliquarum diseiplinarum
vocabula Graeca diligenter conquisita tum examinare cogor, quum
mnnus scribendi ad me redierit.'
15. Rastbhbübo]. In Folge des Ausscheidens der Professoren
Klnjfsz und Dr. Brillowski traten mit dem Beginn des Winterseme-
sters zwei neue Lehrer ein, Dr. Taubert, bisher Lehrer an der Real-
schule zu Tilsit, und Candidat Tobien. An die Stelle des Candidaten
Mroczeck, welcher wegen erheblicher Erkrankung von der Anstalt
ausscheiden muste, trat der Predigtamtscandidat Braun. Eine neue
Veränderung im Lehrercolleginm erfolgte mit dem Schlüsse des Win-
tersemesters, indem Dr. W. Volk mann einen Ruf an das Gymnasium
in Thorn annahm ; in seine Stelle trat der bisherige ordentliche Lehrer
am Gymnasium in Marienwerder Dr. Eduard Volckmann. Lehrer-
colleginm: Directör Dr. Techow, Prof. Kühnast, Oberl. Claussen,
Jänsch, Dr. Richter I, Richter II, Dr. Rahts, Dr. Volckmann,
Küsel, Thiem, Dr. Taubert, Tobien, Braun. Schülerzahl: 314
(I 47, II« 33, II* 42, III* 36, III»» 51, IV 39, V 32, VI 34). Abiturien-
ten: 23. — Den Schulnachrichten geht voraus: Bischof Otlö*s erste
HeUe nach Pommern, von Dr. W. Volk mann. 36 S. 4.
16. Thor»]. Da die wegen Ueberfüllung der Sexta nötig gewor-
dene Teilung dieser Classe eine neue Lehrkraft erforderte, trat mit
Anfang des Schuljahrs Dr. Schulbach als wissensch. Hülfsl ehrer ein,
gab diese -Thätigkeit jedoch bereits mit Anfang der Sommerferien wie-
der auf. Der bisherige Religionslehrer Garnisonsprediger" Braun -
schweig folgte Ostern d. J. einem Rufe als Prediger in Marienwerder;
an seine Stelle trat Dr. Volkmann, bis dahin an dem Gymnasium zu
Kastenburg angestellt, als ordentlicher und evangelischer Religions-
lehrer. Den 7. ordentl. Lehrer Rietze verlor die Anstalt durch den
Tod. Zum Ersatz desselben und des ausgetretenen Dr. Schulbach
traten nach den Sommerferien die Candidaten des höhern Schulamts
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168 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, staust. Notizen.
Dr. El hinge r und Dr. Grund el ein. Lehrerkollegium: Director Prof.
Dr. Passow, die Oberlehrer Prof. Dr. Paul, Prof. Dr. Janson, Prof.
Dr. Fasbender, Dr. Hirsch, Dr. Prowe, die ordentlichen Lehrer
Oberl. Dr. Bergenroth, Dr. Brohm, Fritsche, Boethke, Mül-
ler, Dr. Winkler, Butz, Lewus, die Candidaten Dr. Ebinger,
Dr. Qründel, Dr. Volkmann (ev. ReL), Pfarrer Kästner (kath.
Rel.), die Zeichnenl. Voelcker und Tempi in, Ott mann (Tarnen).
Schülerzahl: 454 (Ig 21, Ir 3, Hg 33, Hr 15, III«g 27, IIIbg 23,
Illr 40, IVg 35, IVr 60, V 75, VI* 42, VI»» 39, VII 51). Abiturien-
ten: 7. — Den Schulnachrichten ist beigelegt; The Shoemaker's HoHdaf
or The Oentle'CrafL Nach einem Drucke aus dem Jahre 1618 neu
herausgegeben von H. Fritsche. 67 S. 8. '
17. Tilsit]. Dr. Schindler trat als vierter ordentlicher Lehrer
ein. Den Oberlehrer Clemens verlor die Anstalt durch den Tod. Im
October traten Dr. Grosse und Dr. Nagel als provisorische Vertreter
der fünften ordentlichen und der letzten Hülfslehrerstelle ihr Lehramt
an, so dasz jetzt das Lehrercolleginm nach mehrjährigen Vaoanzen
wieder vollzählig geworden ist. Lehrercollegium : Director Prof. Fa-
bian, die Oberlehrer Dr. Düringer, Dr. Kossinna, Pöhlmann,
Medebach, die ord. Lehrer Schiekopp, Skrodzki, Dr. Fischer,
Dr. Schindler, Dr. Grosse, Gisevius, Rehberg (Schreiben und
Zeichnen), Cantor C ollin (Gesang), Dr. Nagel. Schülerzahl: 344
(I« 17, Ib 14, II« 24, II»» 27, III« 33, III* 39, IV 44, V 61, VI« 47,
VIb 38). Abiturienten: 16. — Den Schulnachrichten geht voraus:
Schiller der gröste Dichter der Nation, Teil I, vom JÖymnaaiallehrer
Skrodzki. 22 S. 4. Der Verfasser will nachweisen, dasz Schiller
vom historischen Gesichtspunkt aus durch die gebildete öffentliche
Meinung und Kritik mit Unrecht bis heute hinter Goethe zurück-
gedrängt worden ist; dasz er in seinem Dich tertum vom natürlichen
Standpunkt aus als geborener, gleich eminenter Dichter
wie Goethe erscheint; dasz er als dichtender Künstler, weil Sieger
in der höchsten Kunstgattung, von der Aesthetik über Goethe
gestellt werden musz; dasz er endlich als nationaler Culturträger
bei ethischer Betrachtungsweise als der unvergleichliche Schö-
pfer und Fortbildner der heutigen deutschen Gesittung dasteht.
(Fortsetzung folgt.)
Fulda. Dr. Ostermann.
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Zweite Abteilung.
Seite
11. Ueber Versetzungen. Vom Oberlehrer Dr. Carl Kruse in
Stralsund 121—128
12. Die sechs Römeroden des Horaz. Vom Gymnasialdirec-
tor Dr. Anton Goebel in Konitz 128—134
13. Anz. v. H. Hupfeld u. F. Hüzig: die Psalmen. Vom Pro-
fessor Dr. L. Mezger in Schönthal 134—142
14. Anz. v. G. Weicker: das Schulwesen der Jesuiten. Vom
Grymnasialdirector Professor Dr. JS. Kämmel in Zittau 142 — 160
Berichte über gelehrte Anstalten usw 160—168
Landshut (160), Metten (161), München (161), Münnerstadt
(154), Neuburg (166), Nürnberg (155), Passau (166), Regens-
burg (167), Schweinfurt (167), Speier (168), Straubing (169),
Würzburg (159), Zweibrücken (160). — Provinz Preuszen:
Braunsberg (160), Culm (160), D anz ig (160), Deutsch-Crone
(161), Elbing (162), Gumbinnen (162), Hohenstein (162),
Insterburg (162), Königsberg (163), Konitz (164), Lyck (165),
Marienwerder (165), Memel (166), Neustadt i. W. (167),
Rastenburg (167), Thorn (167), Tilsit (168).
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Leipzig,
Droek and Verlag ron B. G. Tenbner.
1§B*
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Zweite Abteilung:
för Gymnasialpädigogik and die übrigen Lehrfächer,
mit Ausschluss der classischen Philologie,
hertvigegefcti tob Prefesstr Dr. Icriaii llaslit.
15.
Aus dem Jugendleben Michael Neander s.
Eine Selbstschilderung des Greises.
Mitgeteilt vom Gymnasiallehrer Dr. Latendorfin Schwerin.
Havemann gebührt das Verdienst , durch seife «Mitteilungen aus
dem Leben von Michael Neander. Göttinnen 1841' zuerst wieder unter
uusera Zeitgenossen ein lebhaftes Interesse für den gefeierten Humanisten,
deaLieblingsschüler Melanchthon's und Erben seines pädagogischen Ruhms
geweckt zu haben. Die Hoffnung freilich, die er in der Widmung seiner
Schrift an das Lehrercollegium zu Ufeld ausspricht, es werde die Jubel-
feier der alten Klosterschule (1844) zugleich durch ein würdiges biogra-
phisches Denkmal ihres berühmtesten Meisters verherlicht werden, ist
nicht in Erfüllung gegangen; jene Feier selbst ist vielmehr, wenn anders
das Schweigen dieser Jahrbücher einen solchen Schlusz zuläszt, entweder
ganz unterblieben oder hat zum mindesten für die Oeffentlichkeit keine
bemerkbaren Spuren hinterlassen. Daher konnte auch Raumer wie in
der älteren, so noch in der neuesten Ausgabe seiner Geschichte der Pä-
dagogik (Bd. I. 1857) für das Leben von Michael Neander im wesentlichen
nur auf dieselben Quellen und Hülfsschriften zurückgehn, die bereits
Havemann in seinen Mitteilungen zu Grunde gelegt hatte.
Um so notwendiger erscheint es, und zugleich als Ausgleichung
eines alten tyrechts, auf eine wichtige Quelle hinzudeuten, die beide
Männer, Havemann vfie Raumer, übersehn oder vielmehr nicht gekannt
haben, eine Quelle um so reiner und ergiebiger, als sie die eigene, in
gemütlicher Redseligkeit sich ergehende Mitteilung des Greises über die
Bildung seiner Jugend bietet ; und was wir noch höher anschlagen möch-
ten, der Ruf der Härte, der trotz Raumer's warmem Eintreten doch bis-
her dem Vater Neander's anhaftete , als habe er gewaltsam in das reiche
geistige Leben seines Sohnes eingegriffen und den künftigen grossen Ge-
lehrten und Schulmann gegen seine Neigung zum Handelsherrn bestimmt
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1S64. Hft. 4. 12
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170 Aus dem Jugendleben Michael Neander's.
— dieser Ruf wird von nun an gründlich beseitigt sein ; selbst jenes
rädicale Mittel , mit dem er seinen Knaben die Elemente der edlen Reiterei
im Fluge überwinden lassen wollte, erscheint jetzt in anderer Beleuch-
tung und kann nicht me,hr s6 leichthin mit dem Prädikat der Rohheit ge-
kennzeichnet werden.
Es ist nei&lich nach Neander's eigener Darstellung ein entschiedener
Irtum , wenn man von früh auf eine Neigung zur gelehrten Laufbahn bei
ihm voraussetzt; er widerlegt es mit steine» eigenen Worten, dasz er
keineswegs 'in Sorau und Goldberg mit mühereiqhem Eifer nach zer-
streuten'Goldkörnern des Wissens gegraben natte' (Havemann S. 9); viel-
mehr hat erst eine äuszere Nötigung ihn den Wissenschaften zugeführt,
und auch so (was an einer gesunden Natur gerade nicht befremdet) ist
das lebhafte Interesse für geistige oder gelehrte Thätigkeit erst verhält-
nismäszig spät erwacht, um dann allerdings mit reichen und gereiften
Früchten sich selbst und seinen ungestillten Drang und in noch höherem
Grade die Erwartung seiner Zeitgenossen auszufüllen.
Ich habe aber fast schon zu lange von dein Werth der Quelle ge-
sprochen , die ein gutes Glück mir zugewiesen ; ich will sie wenigstens
gleich näher bezeichnen, musz dann aber nochmals die Geduld des Lesers
beanspruchen, weil auch der Ort, wo jene Quelle sich findet, ihr Bereich,
so zu sagen, kaum das Glück hat, näher bekannt zu sein.
lese ausführliche Erzählung Neander's steht in der Dedicatfon des
dritten Teilt seiner Ethice vetus an seinen Bruder Jobs. Diese Ethik selbst
ist Räumer für seine Pädagogik nicht zugänglich gewesen; in der zweiten
Auflage (1846) vermutet er noch ihre Übereinstimmung mit dem ähnlichen
Werke des Metanchthon. Davon geht die neueste Auflage ab; sie berich-
tet vielmehr der thatsächlichen Wahrheit gemäsz , dasz die Jugend ihre
dassischen Sentenzen aus Neander's Ethice vetus haue schöpfen können.
Auszer dieser gelegentlichen Notiz aber erwähnt Raumer das Werk weiter
nicht; auch nidht in dem ausführlichen Verzeichnis der Schriften Neander's
in Beil. IV.
Ich bemerke nun zuvörderst, dasz mir von der Ethice vetus 4 oder
selbst 5 verschiedene Ausgaben, darunter zwei durch Autopsie bekannt
sind. Diese Ausgaben sind kurz bezeichnet folgende:
1. Ethice vetus et sapiens Michaelis Neandri Soraviensis H pp. Isleb.
Vrban. Gubisius 1581. 8. (Exemplar der hiesigen Gymn.-Biblioth.)
% — II pp. S. 1. 1585. 86.
erwähnt in Brockhaus' Antiqu.-Anz. IV Nr. 920 mit dem beachlenswerthen
Zusatz : Fehlt in Kopitsch Lit. d. Spr. — Enthält auszer einer sehr reich-
haftigen Sammlung lateinischer noch einen Anhang deutscher Sprüch-
wörter.
3. Kopitsch Lit. der Sprichwörter erwähnt S. 33 zwei verschiedene
Ausgaben , gleichfalls ohne Ortsbezeichnung vom Jahre 1585 und
86, und bemerkt hinsichtlich der ersten, dasz die deutschen
Sprichwörter von Fol. 126 an in alphabetischer Ordnung Stefan.
Ans der Vergleichung jenes Brockhausischen Exemplars , an dessen jetzi-
gen Besitzer, falls ihm diese Zeilen zu Gesichte kommen, wir hierdurch
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Aus dem Jugendleben Michael Neander's. 171
die betreffende Bitte und Ausfrage Öffentlich richten mochten , mtfsz sieh
ergeben, ob jene undatierte Ausgabe wirklich von der bei Kopitscb er-
wähnten abweicht , oder ob der sorgfältige ZnsamttemteHer des antiqua-
rischen Anzeigers, der verewigte P. Trömel, zu seiner irrigen Angabe
rFefiIt bei Koptisch' nur dadurch verleitet wurde, das* er das Werk unter
der Rabrik der lateinischen Sprichwörter, wo Kopitsch eine andere Aus-
übe verzeichnet, vgl. u. Nr. 5, und nicht zugleich bei den deutschen
sachte. Ferner steht zur Frage, ob die beiden Ausgaben bei Kopitsch
aioht auf ein Exemplar zurüokgehn.
4. p. I. fl. Hl. in einem' fortlaufenden Bande. Lips. M. Lantzen-
berger. 1590. 8. (Exemplar des hiesigen Gymn.)
5. — U pp. hieb. 1591. 8. Kopitsch a. a. 0. S. 310;
böebst wahrscheinlich identisch mit Nr. 1, das auf dem Titel von p. 1 die
Jahreszahl MDLXXXI, und »f dem 2. Teile GiDID XIXC ftbrt. Die»
letzte ist vielleicht falsch verstanden.
Soweit Aber die verschiedenen Ausgaben des Werkes; wichtiger ist
sein Inhalt. Hier ergibt die Vergleidrang der Ausgabe von 1581 mit den
entsprechenden Teilen der Ausgabe von 1590, dasz diese beiden Teile
spater kerne oder keine wesentliche Veränderung mehr erlitten haben ;
der dritte Teil ist jedoch seiner Dedication nach 'ex Ufelda — in ipaa
pntecoste (d. h. 30. Mai) Anno Christi 1585' später erschienen. Es be-
dirf einer näheren Untersuchung, ob er auch in den Ausgaben sich findet,
die angebKeii nur 1 Teile umfassen, eine Untersuchung, die wie alte ähn-
ücnea im leichtesten vielleicht mit Hülfe von Neander's eigenem literari-
sches Naohtaz in der Dombibliothek zu Halberstadt sich fahren lflszl
(t flavemann S. 37).
Der vollständige Titel des ersten Teils , der zugleich den Inhalt de»
Joches erschöpfend angibt, lautet in beiden Ausgaben übereinstimmend :
Ethice vetus et sapiens veterum Latinorum sapientum sive praecepta vete-
rum sapientuni, philosophorum, medicorum, rhetorum, historicornni,
philologorum, de virtfttibus, vitüs, et moribus admonitiones variae,
»pieates, emditae et utiles, de Omnibus fere illis, quae in communi
| hominum vita, singulis et universis accidere seient, descripta, et selecta
! « observationibus, leetionibus et notationibus varüs
Michaelis Neandri Soraviensis
Pars prima.
Florigeris ut apes in saltibus omnia libant,
Omnia nos itidem depaschnur aurea dicta,
Aurea perpetua semper dignissima vita.
Dte Rückseite enthält die Dedication Generoso ac Nobili Domino, Domino
Henrico a Proumis; darauf folgt eine kurze Auseinandersetzung, wie heil-
sam und ehrenvoll eine litterarische Bildung für einen Fürsten sei (1581
^•1; 1590 S. 3 — 5); dann Nomina Autorum, de quorum testimoniis Ethicae
veteris pars prima1 eonteatta et conscripta est (1581. Bl. 2 — 10 incl. 1590
S.6 — 16); hieran schüteszen sich die excerpirten Stellen selbst in chrono-
logischer Reihenfolge; den Beschlusz bilden Aussprüche der Juristen (1581
*. 11 — W; 1690 S. 17—96). fa der Ausgabe von 1681 folgt dann noch
12*
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172 Aus dem Jugendleben Michael Neander's.
ein unbezeichnetes Blatt, dessen Vorderseite die Schiuszschrift Islebii
Imprimebat Vrbanus Gubisius unter einer Stelle aus Hiob XDL Scio enim
quod Redemptor meus vivit [v. 25 ff.] (des tröste ich mich)
.trägt.
Der zweite Teil führt wiederum übereinstimmend den Titel:
Ethice vetus et sapiens veterum poetarum Latinorum et aliquot recentio-
ram illustrium descripta et selecta de notationibus, observationibus el
lectionibus variis Michaelis Neandri Soraviensis Pars Altera. — Islebii
Vrbanus Gubisius excudebat. Anno CID13XIXC. Statt dieser letzten Worte
die Leipziger Ausgabe blosz : Anno MDXG. Darauf folgen Nomina poeta-
rum, de quorum testimoniis ac versibus Ethice vetus congesta et conscrfpta
est (1581 Bl. 2 — 22; 1590 S. 99 — 126). In diesem Quellenverzeicbnis
werden zunächst entsprechend der Ordnung des Textes die griechischen
Dichter genannt, deren Verse sich in lateinischer Uebersetzung bei den
Römern finden; dann die römischen Dichter, von denen nur Fragmente,
endlich diejenigen , von denen vollständige Werke vorhanden sind. Be-
sonderer Beachtung ist aber der letzte Abschnitt Nomina poetarum
aliquot recentium illustrium werth; ich hebe nur die Worte
über Melanchthon heraus, dessen Excerpte auch den Schlusz der Samm-
lung bilden :
Restas Philippus Melanchthon (1581: Melanchton) , vir de omnium
doctrinarum studiis praeclarissime , de nobis etiam seorsim optime meri-
tus , omnique praedicatione major. Non autem nos tanti facimus , ut exi-
stimemus, dignum nos aliquid tanlo viro posse dicere. Nulla ferent talem,
quod ipse de quodam Veterum alicubi scripsit, secla futura virum. ldeo-
que quod Salustius de Carthagine dixit, satius est hie silere, quam pauca
neque illa pro merito et dignitate tanti viri dicere. Sicut in manibus ejus
viri multi doctissimi libri in aliquot tomis editi. Epigrainmalum autem
ejus libros tres hactenus vidimus, neque ilio inscio aut invito collectos.
Inde non muita, sed tarnen insignia quaedam huc asscripsimus. Multi
equidem hoc nostro novissimo mundi aevo excellentes et eruditi viri, nisi
ipsius vitula arassent , multa aenigmata non explicassent. Am Schlusz der
Einleitung rechtfertigt Neander die chronologische Anordnung gegenüber
einer etwaigen systematischen oder sachlichen Gruppierung. Seine Ex-
cerpte reichen in der Ausgabe von 1581 von Bl. 23 — 88; 1590 von S.
127—246.
Bezeichnend für Neander ist noch der Umstand, dasz in den beiden
Teilen der Eislebener Ausgabe unmittelbar auf die Excerpte die Bibel-
worte folgen:
Ecclesiast. cap. I. •
MaraiÖTTic jAaTaioTTJTUJv Kai irdvia ftaxaiÖTTic
Vanitas vanitatum et omnia vanitas.
Ad Gorinthios I cap. 1.
c0 KCtuxunievoc dv Kupiiu KttuxdcGuJ. ,
Qui gloriatur, in Domino glorietur.
Den dritten Teil der Ethik kenne ich nur, wie schon bemerkt,
aus der Leipziger Ausgabe von 1590. Er führt hier S. 247 den Titel:
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Aas dem Jugendleben Michael Neander's. 173
Versus veteres proverbiales Leonini, ubi fere sententia ac doctrina melior
est versu, praecepta de pietate et de vita, et moribus cujusque, hine
inde multorum, annorum observatione atque notatione collecti atque de-
scripti, &c (sie. h. e. Mich. N. Sorav.}. Tertia pars.
Von S. 248 — 264 folgt dann die unten vollständig wiederholte Dedi-
cation. Das Werk selbst besteht aus 2 Teilen, den gereimten lateinischen
Sprichwörtern und einem überaus wichtigen Anhang deutscher Sprich-
wörter , deren Bedeutung für die heimische Litteratur ich an einem an-
dern Orte eingehend darzulegen mir vorbehalte. Bis jetzt ist die Samm-
lung weder bekannt, geschweige nach Gebühr gewürdigt. Ueber beide
Bestandteile seines Werkes hat Neander mit anerkennenswerther Ausführ-
lichkeit gesprochen; ich gestatte mir hier nur noch die Bemerkung, dasz
manche der leoninischen Verse schon in der ein Jahrhundert älteren
Sammlung Proverbia seriosa (Hoffmann von Fallersleben Hör. Belg. IX)
ganz gleichlautend sich finden. Möglich, dasz Neander direct hieraus
geschöpft hat; vielleicht und wahrscheinlicher benutzte er Bebel's Ueber-
arbeitung. Vgl. Anz. f. Kunde der deutsch* Vorzeit 1854. S. 269. Die latei-
nischen Verse führen die Ueberschrift : Versus veteres proverbiales Leo-
nini und reichen von S. 265 — 320; die deutschen Sprichwörter beginnen
S. 323 mit dem Titel Veterum Sapientum Germanorum sapientia. Sie
reichen bis S. 351. Ebendaselbst lautet die Schluszschrif t : Lipsiae impri-
mebat Michael Lantzenberger Anno M.D.XC.
Wie begeistert aber Neander wie für das classische Altertum , so
auefiför die Sitte und Sprache des Vaterlandes war, in beider Beziehung
ein würdiger Zögling der Reformatoren, das zeigt vielleicht am schla-
gendsten der Specialtitel, den er auf einem besondern Blatte S. 321 den
deutschen Sprichwörtern vorangestellt hat. Er lautet :
Veterum Sapientum Germanorum sapientia. sive sententiae prover-
biales, de omnibus, quae in communi hominum vita fere solent aeeidere,
ita temperata simplici illa brevitate singularum, ut nüülominus non
minus sit doctrinae atque sapientiae in illa simplicitate , atque est in Pia-
tonis, et reliquorum Graecorum et Latinorum sapientum praeeeptis et
sapienter dictis, cum unum aliquando proverbium Germanicum tribus
verbis complectatur euneta, quae in omnium Philosophorum libris sapien-
ter et erudite fuerunt tradita et praescripta.
Nach Erledigung dieser notwendigen Vorbemerkungen gehe ich nun-
mehr unmittelbar zu der erwähnten Dedication über. Ich teile dieselbe
nachstehend vollständig mit , ohne durch irgend welche Zwischenbemer-
kungen dem Leser die Freude zu stören, die ihm ihr offener Ton bereiten
wird, und ebensowenig bedarf es für den gegenwärtigen Kreis meiner
Leser einer besonderen Hervorhebung , dasz durch die ausführliche Schil-
derung Neander's nicht blosz auf sein eigenes Leben ein neues Licht fällt,
sondern auch die Sitten- und Bildungsgeschichte jener bewegten Zeit in
mehr als einer Hinsicht einen erwünschten Aufschlusz findet.
Schwerin, Dec. 1863. Friedrich Latendorf.
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Goögk
17% Aus dem Jugendleben Michael Neander**.
OptilBo atque integerrime viro, ngenia et industria praestanti \\
Neandro, fratri suo dilecto
S.D.
Narre tibi modo, carissime frater, el qnidem nunc , cum aetaj
ritamea iocipit decünare ad vesperum, particulam legendulae yitaemi
£am yero tu audies benigne, etiamsi notam tibi narro fabulam.
Cum puer arihuc stolidus domi in patria discerem literas , adeo
exosas habebam, ut si esset, qui Ufas, quacunque de causa mihi pra
caret, lapides lequi Yideretur, qui mihi cerebrum excuterent,
Ac illa de caussa quotiescumque post exactas horas antemeridiq
domum e ludo redirem, interea ratioaes et caussas aliquaa excogitai
et reperirem [ita, s. die äh&L Coaatr. S. 364 dtceret kurz vor den 4
sehen Warten] aliquando quaseunque friuolas etlam neque magni [
mentt et precii, nonnunquam etiam longius acoersitas, ae ad lecü*
pomeridiana*, quae (S. 249) qnandoque meliores atque utiliores o
antemeridianis, in ludum redirem. Ac plerumque perfeci, ne üloc redii
omnia transformans meme in mjracula rernm , quod apud Poötam die
Neque semper illa res labore aliquo magno mihi constabat,
parentes dqmi in peconomia, foris etiam in procuratiane suarum r
libenter et felicitef mea opera uterentur, in mercatura et alibi ut
primogeniti, cum nequedam aobole auetiore et numerosiore esseol
strueti et aueti , ut illo nomine aliquando a ludo abesgem mensem 1
grum, et $1 quando eodem redirem subinde iniquior praeeeptoribu
literis fierem, et discendi cupiditas sensim et pedetentim tota langt;
marcescens et prorsus fere extineta in me delere tur, cum studia
totjens tum prirato et afleetato meo studio quodam singulari, tum e
oecupationibus paternia perpetuq oecupata interpellarentnr adeo, ut
lue quantumvis non magnus über tunc praelegeretur, quem ego a princi
pip ad finem usquePraeceptorem enarrantem audire atque dUcere posseo
In aueupio adhaec omnia etiam bene multum tempus parum nobis re
(S. 250) cte ponebatur, cum amor ad illam rem, quod eüamnum me
minjsse potes frater optime, a primo satu non modo a patre filiorus
amantissimo , sed avis etiam , imo et atavis usque nobis inditus, fuisset.
Ac quotiescumque nunc animo reputo , quam dulce tunc fuerit a
quam jueundum mihi evenerit semper, totos ibi dies aliquando occupai
praesertim autumni tempore, saepe mihi in mentem venit, quod in vetei
Rhythmjco disticho vere et sapienter dkitur:
Dum canibus cervus capitur, PhÜomelaque niso,
Cum voJat aeeipiter, quasi tunc sumus in Paradiso.
* Ut trahit sua quemque voluptas, quae hominis Paradisus est, quo
modo in. veteri verbo rite dicitur : des Menschen last ist sein Himmelreich
Item soleo multotiens recordari etiam alterum fersuip, qui crebr
in scholis usurpari et reehqri solet:
Per pisces, per aves multi pariere scholares,
Quompdq etiam tunc cursus meorum studiorum vel illa unica etiai
de caussa saepe valde, multumque interturbabatur.
Amicis nostri studiosis et amantibus, riris eruditis et excellentibus
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t Aus dem Jugendfeben Michael Neander's» 175
ipsts eliam nostrac schöbe alumnis recito (S. 25!) nonnunquam* cum
illius aetatis et memoriae tempora cum nostris praesentibus confero, ubi
nostri adolescentes moribus nunc multo sunt deterioribus et corruptio~
ribus, quod ptorumque libro* meos, quibus tunc utebamur, si quando
contingeret Interesse praelectionibus et exercitiis. publicia, dum dimitte*
bantur domum scholasticf, retro scamnum temere abjecerim, et intra
mensem plerumque domum ad parentes non retulerim, autumni praeser-
Um tempore, cum aves pleraeque maximks agminibus turmatim per dies
aliquot Septentrione relicto , ubi per aestatem substiterant , ad Australes
sive meridionales et temperatiores regiones revolant, cum ad aucupium
nostrum postdimissionem e ludo propererem, quod in horto ludo literario
propinquo fere feticiter exercebamus ac inde magnam et stupendam fere
avium vim captam iftde domum ferebamus, et tarnen nihilominus, etiamsi
post longius intervallum tandem in ludum redirem, semper libros r$tro
scamnum projectos, ac si in cista bene clausa deposuissem, integres
sartosque et tectes, quod dicitur, reperirem, cum contra hac nostra -
aetate, proh dolor, ubique locorum accidat. eaque sit deploratae pueri-
tiae et adolescentiae (S. 263) effrenis improbitas ut ne quidem calamus
tuto consistat, si in ludo alicubi deponas ad unum momentan), nisi cu-
stodem adhibeas.
Recte itaque et vouvcxövtwc et vere baiMOvhuc sapieatissimus
Seaeca, peotus ca&tissimum atque iniquissimum improbis moribus üb» I
de beneficiis: Hoc majores nostri questi sunt, hoc nos quertmur, hoc
posteri nostri querentur, eversos esse mores, regnare nequitiam, in de-
lerius res humanas et in owne nefas labi. Qui vero nos sequeatur, me-
liores nos esse et fuisse prohabunt«
Ac tametsi a studiia animo essem semper alieno et a discendo Ute*
ras non vulgari , sed singulari et praecipuo quodam more abhorrerem et
beatos praedicarem eos pueros, qui de volunUte parentum ad alias artes
animum adjungebant, id tarnen dedi interea operam sedulo, idque studui
studiose semper efficere, ut operam meam et sedulitatem, ubi opus fuit,
praeceptoribus luculenter probarem et laudem adhaec etiam aliquam in-
genii atque industriae siugularis ab Ulis reportatam haberem, ac oaussas»
Uli aliquas habereut, cur me discipulis aliquibu* nostris praeponendum
esse judicarcnt, ac in Comoediis Terentianis inpublico recitandis, (S. 253)
agewüs et exhibendis mihi fere seinper praecipuae, difliciliores et lafcorio-
riores partes darentur et demandarentur, et non modo popujaribus tunc
nostris, sed etiam exteris., qui fere ex vicinis urbibus spectatum ludo*
scenicos accurrehant, nolum carumque et suspiciendum me redderem.
Veruntamen odium ülud maqnum, quod contra literarum studia toto
pectore complexus, inter viscera penitius jampridem admisissem, alere
atque fovere interea non destiti, cum omnia potius perpeti atque susti-
aere tunc minore molestia ao faciliore negotio posse me existimajrem,
quam coeptam secj negUgentissime continuatam studiortun telam etiam
deinceps persequi et pertexendo ad incrementum aliquod non poenitendum
perducere.
Seque repugnabant tum pertinacius optimi parentes voluntati et
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176 Aus dem Jugendleben Michael Neander's.
cupiditati ejus filii, cujus opera animadvertebant uti sedomi, forisque
in Oeconomia, mercatura et alibi cum successu non infeliciter, sed cum
lucro et emohimento non aspernando.
Ac illa de caussa quia me applicare animum volebant ad eas artes,
quas Uli tenebant, quas lucrosas esse cogno- (S. 254) verant, equitare
me discere volebant rem et artem , quae futuro mercatori apprime neces-
saria esset, qm cogeretur quandoque mercium variarum caussa longiora
itinera facere, quae equo citius atque facilius quam pedibus confici
Eam vero equitandi artem eo ego eventu discere et periclitari cöepi,
ut sinistrum brachium ex eqüo uno anno bis sed in diversa brächii parte,
cum vixdum bene coaluisset, frangerem, ut ita invitissimus volensque
et ndlens contra etiam , quam decreverant parente^ dulcissimi , Iiteras
discere et ad illas desperatis rebus et consiliis nostris eversis redire co-
Acpater cum sua me frustrari consilia intelligeret, indignabundus
aliquotiens exprobrando aliquid diceret, Apage te cum tuo brachiö totiens
fractö , dimitte mercaturam , et abi aliquo in Monasterium : Nur in ein
Kloster mit dir , du taugest in die Welt nicht.
Cum vero Dep ita visum fuisset, et contra voluntatem meam ad Iite-
ras discendas a parentibus Witebergam mitterer , ac ego repugnante tota
mea natura omnibusque corporis et animi viribus reclamantibus illic con-
sisterem (S. 255) et manerem primum fere annum nihil discendo , et
sumptus paternos non recte ponendo , totum otiando et aves capiendo
consumerem , praesertim cum ego ad illam rem ibi etiam magistrum sor-
titus essem improbum , cui commendatus fueram , cui illo nomine carus
fui et acceptus , quod et ille fere eo esset in Iiteras , quo ego animo , et
studiis quibus ego, ipse etiam deditus esset.
Donec tandem exacto primo anno miserescente et benedicente do-
mino, et cor novum mihi dante praeter opinionem et expectationem
meam ormaem tanta discendi cupiditate incensus subito flagrare inciperem,
ut existimarem omnia mihi discenda, legenda et perlustranda , nihilque
librorum indiscussum mihi relinquendum , quin imo ea etiam excutienda
mihi esse, quae indoctus aliquis olim et barbarus Monachus docuisset et
scripsisset.
Ac cum post aliquot annos, cum vires ingenii aliquando docendo
alios essent periclitandae, erudienda Juventus mihi traderetur, et animad-
verterem omni doctrina opus esse et lectione varia atque multiplici , qui
se in illo munere vel mediocriter probare vellet , quod nunc stolida, insi-
piens , deses et remissa ju - (S. 256) jpentus neque animadvertit neque
persuaderi sibi facile patitur, ac ego tum primum sentirem, quam mihi
esset curta supellex , coepi quanto potui studio , quantum occupationes
Spartae laboriosae patiebantur , discere et excutere non modo , quae He-
braei , Graeci atque Latini veteres elegantes et eruditi classici in omni
döctrinarum genere auctores sapienter dixerunt, scripserunt et tradiderunt,
sed etiam illos libros perlustrabam , quorum formidanda et stupenda
agmina in Monasteriorum bibliothecis deposita ac plerumque pulvere
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Aus dem Jugendleben Michael Neander's. 177
situque plena et obsita reperiebantur , sermonistarum inquam, summi-
starum, sententiariorum , Longobardistarum , Occistarum, et id genus
similium voluminum et Gommentariorum insipidorum et fere ligneorum
et stramineorum , in quibus fere nihil praesertim cum scriptura ibi expli-
canda veniret, quod mentem lectoris vel levissime afficere et pulsare
posset.
Ac tarnen nihil erat in illo iibrorum genere, quod ego stupenda
laborum tolerantia et incredibili cognoscendi amore omnia inflammatus
non percurrerem et aspicerem, et unde non aliquid (S. 257) excerptum
ad usus aliquos describerem et annotarem, non raro animo reputans,
quod de Plinio Historiae mundi scriptore illo admirabili proditum est,
existimare videlicet et dicere solitum fuisse, nullum esse tarn mal um li-
brum, in quo non aliquid boni insit, et qui non alicubi prosit, doceat et
erudiat suum Iectorem, quomodo, ut quod sentio dicam, monuerunt non
raro me etiam illi tenebricosi et barbari scriptores , ut piorum majörum
nostrorum miserandam vicem deplorarem , et contra huic nostri aetati
gratularer de luce ilia doctrinarum omnium , in qua nos nihil tale meri-
tos , imo contrarium meritos : ex indebita tarnen misericordia et stupenda
bcmitate propitius Deus nihilominus constituisset per vasa ilia sua electa
Hagnum Lutherum et Philippum Melanchthonem utrumque OeefeeXov
ftvbpa.
Inter alia autem , quae tunc e coeno illo et stercore Monastico et
barbaro colligebam, excerpsi etiam/ si qui occurrerent versus veteres,
quos Leoninos dicunt , et superiori aetate multum usurpatos , adeo uf illo
versuum genere etiamnum reperiantur scripta ampla volumina, ubi do-
ctrina et sententia fere ipso versu est melior«
S. 258. Horum plurimos reperiebam in eorum praecipue libris et
commentariis , qui commentaria conscripsissent in Alexandrum et id ge-
nus ejus temporis Grammaticos alios , quorum commentaria et expositio-
nes maxime id genus Leoninis abundabant, quod pro consuetudine ejus
infelicis aetatis solenne Ulis commentatoribus barbaris esset, plerasque
regulas Grammatices illo versuum genere explicare.
Neque paucos suppeditabant Commentaria in Gatonis disticha , libel-
lum quamvis parvum , tarnen adeo luculente scripta , ut magnitudine sua
ipsa lere biblia superarent.
Ministrabant etiam hujus generis aliquid Lexica Monachorum bar-
bara, ipsisquev nominibus aliquando prodigiosa et formidanda.
Ejus autem classis et generis fuerunt Gatholicon , Vade mecum , Ra-
pianus totum, Breviloquus, Mammotrectus et similia similibus porten-
tosis et prodigiosis nominibus horribilia Commentaria multa alia.
Et offerebant se praeterea tunc hie etiam illi, qui tau Ahythmico
barbaro carmine ex professo poemata integra de moribus, de virtutfbus
et vitiis composuerunt.
S. 259. Ac de horum numero fuerunt inter multos aJios , quorum
etiam nomina non amplius memini, Querulus Rapularius, Alanus, ut sua
ferebant tempora, vir non indoctus, ac illo nomine inter suo s clarus, qui
Urnen obmutuisse scribitur, cum aliquando in magna hominum frequentia
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178 Ans dem Jugendleben Michael Leanders,
* ,
concio ipsi fuisset habenda, quod etiam Doctorr Keysfersbergio, cujus
scripta pietate et spiritu plena adhuc eitant, Argentinae accidisse meme-
ratur, Bernhardus Palpanista, Bernhardus Sylvester, pauper Henricus,
qui adeo pauper fuisse proditur, ut cum papyrus deesset, versus suos
in veteri et aitrlto pellitio describere cogeretur. Inter versus ejus cete-
ros hie commendatur :
Hospite ne careas hoste carere voleits.
Aesopus praeterea Moralizatus, Tobias carmine olim in Monasteriis
redditus et commentario illustratus, florum fasciculus, morum liber, Re-
gimen Salernitanum , Margarita Poetica, Margarita Philosophica, facetus
et floretus et plures hujus officiuae Poetae alii.
Huc addimus etiam Iuris utriusque veteres non admodum eruditos
interpretes, cum intelhgeremus hie quoque alieubi reperiri noslris rebus
aecommoda.
S. 260. Ac adjuverunt nos praeterea amici viri aliquot magni, eru-
diti et clari Pabritii nostri Georgius, Jacobus et Andreas, piae sanetaeque
memoriae et quidam alii , ubi quisque quod potuit eonquirere contulit,
quod Uli quoque mirifice delectarentur isto versuum genere , quod qui-
dem tametsi barbarum videretur esse : tarnen et gratia quadam peculiari
non careret, et doctrinam fere semper contineret non deteiriorem üs
dictis, versibus et sententüs, quae ab Homero, Hesiodo, Piatone, Ari-
stotele et Xenophonte , et aliis Graecorum daduchis essent tradita , sed
orationis genere multo splendidiore et elegantiore.
Ac £ötes meminisse, frater optime et dilecte, quod jam olim ante
annos puto viginti quatuor, si recte memini, cum tu pietatem et literas
a nobis disceres , non mediocrem talium versuum syllogen binc inde coa-
gesserim , et quod illam cum tui nominis mentione in publicum aliquando
vellem edere: Ea tarnen res dilata fuit baclenus, cum circa aüa oecupare-
mur , unde existimabamus plus utilitatis ad studiosam juventutem redi-
turum. Grevit vero interea illa nostra sylloge non brevi accessione
locupletata.
S. 261. Ac quia nos eunetamur, alü etiam äoeti viri nostri amantes
et studio^i, et quorum conatus etiam e nostris notationibus adjuvimus
aliquid interea loci hie navarunt, ita tarnen, ut caussas ego non habeam,
cur nostras quoque syllogas adolescentibus studiosis invidere et aliquando
tandem promissis tibi jam olim factis stare non debeam , et quidem ante-
quam mihi aliquid humanitus aeeidat, et Deus de statione nos pro de-
mentia et misericorde sua voluntate decedere jubeat.
Tametsi pagellae sunt atqüe opella non magni momenti confeeta:
tamen de versibus tantum max. numero selectissimis, cum ubique et sem-
per hactenus dederim operam sedulo, ut xpTJci^ia Kai Kexapic^va Kai
yXukott|ti Tivl (sie) iraVToiqt fieMUTjütlva studiosis adolescentibus scri-
berem et dicerem, et äpjmevoc essem fytoiujc Heivoici Kai qpiXoic äctoic,
quod apud veterem sapientem Ptätam facere jubemur.
Ac spero operam hanc meam et studiosis adolescentibus et tibi ante
omnia placituram.
Tradidi itaque nuper syllogen hanc nostram Typographo, et jussi
r
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Aus dem Jugendleben Michael Neander's. 179
cum omnibus id genus versuum cupidis et sludiosis communem facere.
Id vero in se (S. 262) munus non ille recepit invitus, quod existimaret/
gratum se hie quoque factunim omnibus nostrarum lucubrationum slu-
diosis, qui hactenus cupide emissent ac libenter* legissent pierosque no-
stros libellos 9 quibus nomen nostrum fuisset praescriptum.
Adjunxi vero cum Leoninis Ulis nostris etiam veterum sapientum
Germanorum Proverbia sive sententias sapientes et jueundas de omnibus,
quae in communi vita inter singulos et uuiversos solent aeeidere.
Plurima horum collegi et descripsi ex ore et vulgi sermonibus , ubi
plurimum et frequenter usurpantur, quotiescumque res ferunt et occasio-
nes. Alia etiam undeeunque descripta huc adjunxi de multis potiora deli-
geas. Alicubi etiam iocos admiscui , ut et lectorem detinerem , tu etiam
näheres, quod rideres nonnunquam.
Vellem te colligere multa id genus dieta alia, cum in aliis terris alia
usurpata reperiantur, et in nostra Harcynia non frequententur , neque
Dialecti ratione similem gratiam alibi obtinent.
Utrumque libellum tum Leoninorum versuum , tum etiam Proverbio-
rum Germanicorum, ut amice , fraterne, ne- (S. 263) que gravate ad-
mittas et aeeipias mei in te amoris et studii testificationem amicam et
fraternam , peto a te amanter et studiose.
Salutem opto plurimam fratri Andreae, Cos. Georgio, item et tibi
tuaeque domui. Reverendo item viro et uostri amanti et studioso Dn. M.
Petro Streubero viro erudito, sapienti et diserto Pastori et Doctori ficcle-
me Soraviensis et vicinarum Ecclesiarum inspectori sedulo. Ejus etiam
syinmistis viris piis et eruditis. Reverendo etiam et docto viro Dn. Hiero-
nymo Vrsino Theologo et Pastori amico nostro veteri et olim eorundem
studiorum aemulo et socio.
Horum omnibus piis preeibus , quas efficaces et potentes hactenus
deprehendi multotiens in infirmitatibus deploratis, in tentatioaibus ma-
gnis et periculis etiam praesentibus me denuo ac de novo commendo.
Deus vos omnes sospites et incolumes, diuque superstites ser-
vassit Amen.
Ex Ilfelda , in qua -doceo hactenus juventutem pietatem , artium et
linguarum eruditarüm, historiarum omnium aetatum, Physices etiam et
aliarum rerum utilium et necessaxiarum pariter o- (S. 264) mnibus studia
aqnos triginta quinque continuos, inter infirmitates innumeras, et adver-
sationes omnis generis multiplices , in ipsa pentecoste, Anno Christi 1585.
Deum oro, ut etiam deineeps diu prodesse juventuti me sinat do-
cendo pariter et scribendo utilia. Verum Tautet Seoö tv TOUVOtct K€iiai.
Ei vero omnipotenti et misericordi Deo me et vos quoque omnes
fratres , amicos et omnes nostri studiosos commendo.
T. frater
Michael Neander.
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180 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
16.
Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
An Herrn Professor Dr. Hermann Masius.
Bei Gelegenheit der letzten Philologenversammlung versprach ich
Ihnen zu Dresden einen baldigen Beitrag zur Ihrer Abteilung der f Jahr-
bücher'; schon damals beabsichtigte ich, die von Herrn Dr. H. J. Heller
in Berlin begonnene Untersuchung 'Die antiken Quellen von Goethe's ele-
gischen Dichtungen9 in ihrer Haltlosigkeit darzustellen , doch wollte ich
den Ankläger erst seine lange Rede vollenden lassen , ehe ich Einspruch
dagegen erhöbe. Jetzt, wo das eilfte Heft den Schlusz der Hellerschen
Beweisführung gebracht , will ich das Jahr nicht zu Ende gehen lassen,
ohne mein Wort gelöst und meine Pflicht gegen Goethe erfüllt zu haben,
den ich von Heller so arg misdeutet und verkannt sehe.
Der allgemeinen Stimme, welche die römischen Elegien und die
elegischen Dichtungen Goethe's überhaupt für die frischesten und eigen-
tümlichsten, aus vollster Seele geflossenen Dichtungen hält, tritt Heller
mit der wunderlichen Behauptung entgegen,. Goethe habe sie aus Stellen
der römischen Elegiker, die er in Rom übersetzt, zum geringsten Teile
aus einzelnen in Rom aufs Papier geworfenen eigenen Versen in Weimar
zusammengeleimt , sie seien ein zusammengekittetes Mosaik. Von der
reichlichen Stellensammlung in Uebersetzungen , die vorläufig nur einer
Kunstübung gedient, habe Goethe das meiste zu diesem Zwecke Dienliche
zu den Elegien benutzt , die abgefallenen Späne und Schnitzel seien zu
den andern Gedichten desselben Versmasses, namentlich zu den "Venediger
Epigrammen , verwandt worden. Man denke sich Goethe und eine solche
Manipulation ! Aber was kümmert dies Herrn Heller ! er tritt uns mit den,
wie er, glaubt, unwiderleglichsten Beweisen in den Händen entgegen,
wobei er sich freilich die Sache auf seine Weise erleichtert hat, indem er
das , was bisher von Viehoff und dem Unterzeichnelen für die Aufhellung
der Elegien und Epigramme geschehen ist, ganz und gar übersieht. In
meinen Erläuterungen zu Goethe's lyrischen Gedichten würde er gefunden
haben , dasz von mir die wirklich nachweisbaren Benutzungen der römi-
schen Elegiker gewisz zum allergröszten Teile , um nicht zu sagen , voll-
ständig , verzeichnet , dasz der dichterische Faden überall nachgewiesen
ist und einzelne Angaben über die Entstehung der Elegien und Epigramme
sich finden , welche er nicht ungestraft vernachlässigen durfte.
Doch gehen wir gleich zur Sache über. Heller fürchte nicht, dasz
wir über Nebensächliches mit ihm hadern wollen, nein wir greifen gerade
seine Hauptbeweise an, um zu zeigen, dasz sie ganz haltlos sind. Schon
bei der zweiten Elegie beruft er sich (S. 357) mit besonderem Vertrauen
auf die aus Properz 'beinahe völlig sinngetreu übersetzten' Verse :
Eh' an die Fersen lockten wir selbst , durch gräszliche Thaten ,
Uns die Erinnyen her, wagten es eher des Zeus
Hartes Gericht am rollenden Rad und am Felsen zu dulden ,
Als dem reizenden Dienst unser Gemüt zu entziehn.
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte. ' 181
Bei der vierten Elegie seihst bemerkt er, diese Verse seien fast wörtlich
aus Properz II, 16, 29 übersetzt:
Tunc me vel tragicae vexetis Erinnyes et me
Inferno damnes, Aeace, iudicio,
Atque inter Tityi volucres mea poena vagetür,
Tumque ego Sisyphio saxa labore geram.
Und nun höre man : eEs könnte zweifelhaft sein, ob Goethe mit den Wor-
ten 'hartes Gericht am Felsen zu dulden', nicht vom Prometheus habe
sprechen wollen. Der Hinblick auf die angezogene Stelle des Properz
nimmt jede Ungewisheit weg, und zwingt die Worte des deutschen Dich*
ters auf Sisyphus zu deuten. Auch beweist es die ältere Lesart dieses
Verses , 'an rollenden Rädern und Felsen', in welcher 'rollenden' auch zu
'Felsen' gehören soll (?)'. Hiernach musz Heller 'das rollende Rad' auf
den Tityos bezogen haben, von dessen Strafe auf oder am Rade mir nichts
bekannt ist. Das 'rollende Rad' geht deutlich auf Ixion. Wie sehr die
betreifende Sage Goethe bekannt war, beweist die Datierung eines Briefes
an Herder : 'Gegeben vom Rade Ixion's den 20. Februar 1785.' Man
könnte demnach wol an die Stelle des Tibull I, 3, 74 von dem schnell
sich drehenden Rade des Ixion (äjuiruE bpOjUac bei Sophokles) denken,
wie bei Prometheus an Hör. II, 13, 37. 38,, müste man nicht annehmen,
Goethe habe aus Pomey's Pantheon mythicum und vielfachen Erwähnungen
in altern und neuern Pächtern die bekanntesten Sagen des Altertums zu
wol im Gedächtnisse gehabt, als dasz ihm dabei jedesmal eine bestimmte
Stelle eines Dichters vorschweben müste. Geht nun das rollende Rad auf
Ixion, so ist auch nicht der geringste Grund gegeben, 'das harte Gericht
des Zeus am Felsen' auf den Sisyphos statt auf den am Felsen festge-
schmiedeten Prometheus zu beziehen. Welche Aehnlichkeit bleibt nun
zwischen den Stellen des Properz und unseres Dichters? Properz wünscht
alles nach des Aeakos Urteil von den Erinnyen zu dulden , die Strafe der
Geier gleich Tityos und das Steinwälzen gleich Sisyphos, sollte er die Ge-
liebte vergessen. Goethe wollte lieber die gräszlichsten Thaten begehn,
welche die Erinnyen heranlockten , ihm die von Zeus über Ixion und Pro-
metheus verhängten Strafen zuzögen, als dem Glücke der Geliebten zu ent-
sagen. Und da wagt Heller von fast wörtlicher Uebersetzung zu sprechen I
Goethe führt den Begriff der schrecklichsten Thaten, Properz den der
ärgsten Strafen aus, wobei die zufällige Uebereinslimmung neben der viel
gröszern Abweichung ganz verschwindet. Somit ergibt sich die von Hel-
ler als von ihm entdeckt hervorgehobene 'Verschmelzung einer völlig
selbständigen und einer fast wortgetreu aus den Alten übersetzten Stelle'
als selbstgefällige Täuschung. Aber Heller beruhigt sich hierbei noch
nicht. Die Worte Goethe's:
Als dem reizenden Dienst unser Gemüt zu entziehn ,
sollen nachgebildet sein dem Properzischen Vers in derselben Elegie : -
Posset servitium mite tenere tuum,
wobei völlig übersehen ist, dasz der Göelhesche Vers ganz entspricht dem
voraufgehenden: Es bleiben unsre Gebete,
Unser täglicher Dienst &ner besonders geweiht.
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182 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
Und bei Goethe ist öut vom Dienste einer Gottheit, nicht von einer Dienst-
barkeit unter einer Geliebten die Rede. Heller aber bildet sich ein , seifte
Sache so gut gemacht eu haben, dasz er triumphierend fortfährt: 'ich
werde am Schlusze des ganzes Abschnitts auf diese Stelle noch einmal
. zurückkommen. Ich werde auf sie bei meinem Nachweise der Ent-
stehungsart der römischen Elegien ein besonderes Gewicht legen, um zu
zeigen, dasz Goethe, wie diese vier aus Properz übersetzten Verse, so
eine ganze Anzahl ähnlicher entweder rein übersetzter oder nur nach-
geahmter Steilen bereits vorrätig liegen hatte, ehe er zur Ausarbeitung
seines Gedichts schritt/ Wir finden hier nur den ersten groszen Irtum
Hellers , der sich eine 'Genauigkeit der Nachbildung' in den Kopf setzt,
von welcher sieh auch keine Spur zeigt. Eben so völlig unhaltbar ist die
weitere Folge , hätte Goethe die Verse in der Erinnerung nicht auf dem
Papier in seinen Materialien vor sich gehabt, so wlre es unbegreiflich,
dasz er diese von der Geliebten des Properz gesagten Verse auf seine
Göttin Gelegenheit angewandt hätte; dies wäre vielmehr nichts weniger
als auffallend, wenn sie ihm als besonders ansprechend im Gedächtnisse
vorgeschwebt hätten. Doch Heller's ganze Ausführung, womit er bewei-
sen will, diese vier Verse müsten schriftlich Goethe vorgelegen haben, ist
so unklar und haltlos, dazu ohne alle Bedeutung, da überhaupt von einer
Nachbildung gar keine Rede sein kann, dasz wir dieselbe auf sich beruhen
lassen wollen; nur noch die Bemerkung sei uns gestattet, dasz wir
nicht entdecken können, was den Dichter an den vier Properzischen Ver-
sen so angesprochen , dasz er sie in freier Weise übersetzt haben sollte,
wogegen sie in unserer Elegie, wie Heller selbst zugestehen musz, ganz
passend stehen, aus dem Zusammenhang hervorwachsen.
Allen Begriff willkürlicher Zurechtstellung übersteigt es aber, wenn
4 Heller zu der schönen Dichtung von der Göttin Gelegenheit die Quelle in
der römischen Göttin Fors sieht und in dem Ovidischen : Audentem Fors-
que Venusque iuvant. Von welcher ganz andern Natur sind de r Zu f a 11
und "die Gelegenheit? Wir haben hier eine ureigene Goethesche Er-
dichtung, ähnlich jener herrlichen Stelle in der iphigenie (IH, l) von
der Er füll ung, der 'schönsten Tochter des grösten Vaters*. Schwerlich
dachte Goethe hierbei an den griechischen Kotipöc. Bei des Ausonius
simulaernm Occasionis et Poenitentiae von Phidias vermutet Malier
(Archaeologie 399, 8 Anm. 3) eine Verwechslung mit Lystppos. Heller
weisz von allem diesem nichts, sondern sagt nur: *Ifo Romer kannten
eine Occasio dea nicht.' Dagegen f sieht er sogleich', dasz Goethe ans
dem audentem iuvant den schönen Vers gemacht hat: cGern ergibt sie
sich nur dem raschen , thätigen Manne', den freilich des Dichters eigener
Acker nicht getragen haben kann! Die Verwandlungen des Proteus
kannte Goethe ohne Zweifel aus der Odyssee , die der Thetis wol aus sei-
ner Jugendlectüre des Ovidius oder aus seinem Pomey. Gelegentlich sei
bemerkt, dasz Heller seine Beziehung des deren auf Proteus und Thetis
schon bei mir finden konnte > dasz Goethe den Ausdruck * Wachende (statt
an Wachenden) fliegt sie vorbei', eben so wenig nach dem lateinischen
tardos praetervolat gebildet hat, als im 'Faust' (B. II, 89. 123): 'Heut
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Reckte. 188
sind wir ihn vorbeigereist*, 'Spazier ein Stündchen lang dem Spiegelglas
vorüber* aus fremdem Sprachgebrauche stammt1), dasz auch das könne
'verwandelte List' für Mistige Verwandlung9 keineswegs Nachahmung zu
sein braucht. Wenn er am Ende gar zur hübschen Beschreibung seines nor-
dischen Mädchens wenigstens 'die Wortfassungr aus romischen Dichtem
genommen haben soll, so begreift man nicht, wie man im Ernst eine
solche Unmündigkeit dem Dichter zuschreiben kann, der, wie J. Grimm
treffend sagt, königlich in der Sprache waltete. Von ähnlichen ganz wun-
derlich angenommenen Uebertragungen aus den römischen Elegikern findet
sich gar manches, worauf wir nicht widerlegend eingehen , um das Be-
deutendere hervorzuheben. Auch würden wir viel zu thun haben, woll-
ten wir jedes Nicht- und Misverständms rügen, das unser blosz auf
Entlehnungen lauernder Heller sich hat zu Schulden kommen lassen. Nur
scheint es uns denn doch gar zu sorglos, wenn dieser sich nicht die
MQhe gab in eine Topographie Roms zu sehn, ob es wirklich einen Ort
Vier Brunnen9 m Born gab, was er in unserer Erläuterung finden konnte,
sondern ganz angescheut den schlechten Einfall äuszert, dem Dichter
hätten dabei die quattuor balnea aus Martial vorgeschwebt. Von der
Trefflichkeit der schönen sechsten Elegie, worin die Qualtro fontane vor-
kommen, hat Heller keine Ahnung; doch krönt er sein MisversUtndnis
durch die Bemerkung über die herfichen Schluszverse:
Dunkel brennt das Feuer nur augenblicklich und dampfet ,
Wenn das Wasser die Glut stürzend und jähliugs verhüllt;
Aber sie reinigt sich schnell, verjagt die trübenden Dampfe,
Neuer und mächtiger dringt leuchtende Flamme .hinauf.
Das soll das Horazische ex fumo dare hteem (Gegensatz von fumum ex
fulgore dare) sein. Behüte Gott! Es bezeichnet die von Wasser Über-
schüttete Flamme, die später aus eigener Kraft wieder mächtig empor-
lodert, und ist ein treffliches Bild der durch falsche Beschuldigungen der
Geliebten erkälteten, aber durch die herzliche Stimme des so treuen wie
innigen ihm ganz gewidmeten Mädchens wieder feurig entflammten Liebe.
Aber mit dem äinen Misverständnisse nicht genug, fügt Heller ein noch
viel weiter reichendes hinzu. Unglücklicher Weise erinnert er sich der
Aeuszerung Goethe's in den Briefen aus Rom über Tischbein, dir, da ihm
die fast gänzliche Entäuszerung der Leidenschaft in seiner 'Iphigenie'
kaum zu Sinne gewollt, diese Leidenschaftslosigkeit durch ein artiges
Gleichnis zu bezeichnen gesucht; er habe nemlich diese Dichtung einem
Opfer verglichen, dessen Bauch, von einem sanften Luftdruck nieder-
gehalten, an der Erde hinziehe, indessen die Flamme freier nach der Höhe
zu gewinnen (gelangen? oder die Höhe zu gewinnen?) suche, und Tisch-
bein habe dies auch sehr hübsch und bedeutend gezeichnet. Es ist offen-
bar, dasz dies auch nicht das Allergeringste mit jenem schönen Gleichnisse
des Dichters zu thun hat. Aber was ist Heller nicht alles möglich? 'Es
ist kaum eine Frage', schreibt er, 'dasz Tischbein durch diese Zeichnung
1) Anderes kann er in den deutschen Wörterbüchern untlr vorbei,
vorüber und den damit zusammengesetzten. Zeitwörtern finden.
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184 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
den Vers des Horaz hat illustrieren wollen (!?!). Wer die Worte Tisch
bein's mit den Schluszstropheo (?) der Elegie vergleicht, wird in Ver-
suchung geraten zu glauben , dasz die Aeüszerung des Künstlers Goethe
bedeutend und geistreich genug vorgekommen sein musz, um sie unmittel-
bar nach seiner Unterredung mit ihm in Verse zu gieszen — Verse , für
welche Goethe späterhin, wenngleich in nach anderer Richtung abgelenk-
ter Bezugnahme, hier eine Verwendung fand. Sind diese Voraussetzun-
gen richtig, so ist von diesen vier Versen aus, mit Benutzung des oben
angeführten Properzischen Gedichts, die Erfindung der ganzen Elegie er-
folgt.' Das gemeinte Properzische Gedicht ist, n, 19, wo der Dichter sei-
ner Gynthia vorwirft, dasz sie einem aus Ulyrien eben zurückgekehrten
Prätor, der Ehre und der reichen Geschenke wegen, den Vorzug gebe
und ihn selbst deshalb vernachlässige. Aber gerade von der Hauptsache
der Elegie, von der Verteidigung der Geliebten und von der Grundlosigkeit
des Verdachtes , ist bei Properz keine Spur, und welches Recht haben
wir für den hier vorausgesetzten , auf falsches, durch seinen eigenen Be-
such veranlasztes Gerede hin gemachten Vorwurf der Treulosigkeit der
Geliebten jene Properzische Elegie als Quelle zu betrachten? Bei Herrn
Heller ist freilich alles leicht. Goethe hatte den Anfang jener Properzi-
schen Elegie, der ihm, man sieht nicht warum, so besonders gefallen,
ins Deutsche übertragen ; er fand auch in seinen Papieren jene eine Aeüsze-
rung von Tischbein wiedergebenden Verse, und hieraus schweiszte er die
Elegie zusammen , indem er noch andere Stellen benutzte. Wunderlich
wäre es , wenn nicht manche näher oder entfernter an Goethesche Verse
anklingende Stellen sich in den römischen Elegikern fänden, ja man kann
auch zugeben, dasz einzelnes unbewust auf den Dichter eingewirkt, wie
wenig dies auch zu behaupten steht. Aber man lese die ganze aus Einern
Gusse flieszende Goethesche Elegie und sage sich, welchen Namen eine
solche absonderliche Herleitung und Zusammenstoppelei verdiene!
Auf diesem abschüssigen Boden fortschreitend, vermutet Heller
gleich weiter, das Schluszdistichon der siebenten Elegie:
Dulde mich, Juppiter, hier, und Hermes führe mich später,
Cestius' Mahl vorbei , leise zum Orcus hinab ,
sei in Rom an dem Tage" entstanden, wo der Dichter, wie er schreibt,
bei der Pyramide des Cestius und Abends auf dem Palatin gewesen. Man
begreife, wie Goethe, damals noch vielfach im elegischen Masze denkend,
an den Juppiter Capitolinus sich wendend, in die obigen Worte ausge-
brochen sein könne , die allerdings fürs erste nur seine Sehnsucht nach
einem längern Aufenthalt in Rom ausgedrückt haben würden, (auch der
Wunsch hier zu sterben sollte nichts anderes sagen!?), die aber, Abends
gleich zu Papier gebracht und in den Sammlungen aufbewahrt, mit einer
etwas veränderten Beziehung des Adverbiums hier den Keim des ganzeji
Gedichts abgegeben hätten , zu dem nachher nur vereinzelte Aussprüche
der Elegiker in eine entferntere Mitwirkung getreten seien. So läszt'sich
Heller durch seine selbstgeschaffenen Irlichter in die bodenlosesten
Sümpfe verlocken! In der vierten Elegie glaubt er den Bestand einer
Materialiensammlung übersetzter Stellen bewiesen zu haben (wir sahen,
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte. 185
wie verunglückt der Beweis sei), daraufnimmt er an, eine* Aeuszerung
Tischbein's habe Goethe rin Verse gegossen9 und eben dort aufgeschrieben
(wir haben die Unmöglichkeit gezeigt) , und nun erhalten wir auch einen
eigenen in elegischer Form ihm entfahrenen Ausruf Goethe's , den er
Abends zu Papier gebracht. Wenn der Dichter am Schlüsse den Wunsch
ausspricht , in Rom zu leben und zu sterben , so ist nichts natürlicher,
als dasz er , den die alten Götter hier überall umschweben , der sich ganz
in das alte römische Leben eingelebt, der ihre Dichter und Geschicht-
schreiber eifrig gelesen hat, diesen Wunsch in ein Gebet an den höchsten
römischen Gott kleidet und hier der Gegend bei der Pyramide des Gestius
als der Begräbnisstätte der Protestanten gedenkt mit Benutzung der Vor-
stellung von dem Seelengeleiter Hermes. Wie schade, dasz Heller sich
nicht erinnerte, Goethe habe Mitte Febrror 1788 sein Grab bei der Pyra-
mide des Gestius gezeichnet! Dasz der Ausruf: *Dichter, wohin ver-
steigest du dich?' auch zugleich darauf deutet, dasz er hier auf der Höhe
des Gapitolinischen Berges sich auf einmal auf den griechischen Olymp
versetzt fühlt, merkt Heller nicht, ebensowenig, dasz jene griechische
Vorstellung noch so sehr nachklingt, dasz er am Schlüsse statt des fiter-
cur den griechischen Hermes nennt. Wer nicht erkennt , dasz in dieser
Elegie alles aus einem Gusse ist, dasz Anfang und Ende auf das tref-
fendste zusammenstimmen und das Hervorwachsen des ganzen Gedichtes
aus den beiden Schluszversen eine Monstrosität wäre, mit dem ist in
dichterischer Beurteilung nicht zu rechten. Von einzelnen wunderlich
angenommenen Entlehnungen will ich nicht reden, auch darauf nicht -
näher eingehen, dasz die r weichen Gesänge9 der Nacht längst aus Goethe's
eigenen Aeuszerungen eine bessere Deutung gefunden als aus Tibull's
Schilderung der ely sei sehen (nicht elysäischen) Gefilde.
Wenn Heller die achte Elegie recht schwach findet, so wollen wir
mit ihm darüber nicht rechten, da er sogar den schönen bildlichen Schlusz :
Fehlet Bildung und Farbe doch auch der Blüte des Weinstocks,
Wenn die Beere, gereift, Menschen und Götter entzückt,
so unverantwortlich misversteht, dasz Goethe die Geliebte nur schätze,
weil sie zu den genieszbaren Waaren gehöre, da der Ausdruck doch offen-
bar nur sagen will , auch die unscheinbare Weinblüte lasse eine so her-
liche Entwicklung nicht erwarten, wie niemand an dem Kinde habe den
Reiz ahnen können, zu welchem die Geliebte sich jetzt entfaltet. Eben
so roh misdeutet er den Schlusz der neunten Elegie :
Denn vor andern verlieh der Schmeichlerin Amor die Gabe ,
Freude zu wecken, die kaum still wie zu Asche versank.
Wie in aller Welt kann eine der widerwärtigsten Ovidischen Elegien, die
von etwas ganz anderm handelt (111, 7), beweisen, was Goethe hier unter
dem Wecken der Freude versteht! dies kann nur das Gedicht selbst,
das Heller's Deutung zurückweist. Der Kürze wegen verweise ich auf
meine Erläuterungen. Aber Heller enthält sich freilich auch nicht, bei
den nichts weniger als üppigen , durch die ganze Darstellung gebotenen
Zügen d6r fünften Elegie die freche Nacktheit Ovid's heranzuziehen !
Endlich bei der zehnten Elegie kann er sich nicht enthalten , ob-
H. Jabrb. f. Phil. u. Pftd. II. Abt. 1864. Hft. 4. 13
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186 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
gleich hier dazu am wenigsten die Veranlassung war, mit den bisher
n*eb gesparten Beweisen hervor zurwken, dasz Goethe wirklich in Rom
eine grössere Anzahl Stellen aus den Elegikern übersetzt habe. Und hier
erwarten wir ihn, am sein Kartenhaus umzublasen. Wenn Goethe* den
Gedanken ausdrucken wollte: *Die ruhmvollste» Helden, die jetzt im
Grabe ruhen, wurden gern für ein Ständchen Liebesgenusz die Hälfte
ihres Ruhmes nur geben9, so ist nichts natürlicher, als dasz er hier ein-
zelne dieser Helden nennt , und wird man es nur passend finden, wenn
er, da er sich im nendrn Rom denkt, aber umweht von den Erinnerungen
des Altertums, neben zwei alten Helden, Alexander und Cäsar, zwei
neuere y Heinrich IV. von Frankreich und Friedrich II. von Preuszen, her-
vorhebt, die beide von ihremjfolke den Namen des Groszen erhielten.
Man kann aus dieser Nennung Aiedrich's II. vorab keinen andern Schlusz
ziehen, als dasz die Elegie, woran auch sonst niemand zweifeln wird,
nach dessen Tode geschrieben worden. Aber Heller? Goethe schreibt am
19. Janaar 1787, fünf Monate nach Friedrichs Tode: 'So hat denn der
grosse König, dessen Ruhm die Wek erfüllt, dessen Thaten ihn sogar
des katholischen Paradieses wert machten (vgl. Goethe B. 23, 135), end-
lich auch das Zeitliche gesegnet, um sich mit seines Gleichen im Schatten-
reiche zu unterhalten. Wie gern ist man still, wenn man einen solchen
zur Ruhe gebracht hat!' Heller meint nun, cdieAehntichkeit des Gedankens*
in dieser Aeaszerung cmit einer der Beziehungen des Anfangs der Elegie*
springe sofort in die Augen , so dasz man augenblicklich auf die Ver-
mutung verfalle , die Elegie sei um dieselbe Zeit geschrieben. Worin be-
steht aber die Aehnlichkeit als darin, dasz alle genannten Helden gestorben
und also im Orcus sind? Nicht einmal von einem Zusammenleben, viel
weniger von einer Unterhaltung Friedriche mit den andern Heroen ist die
Rede.. Nach diesem ganz eigentümlichen Beweise wird noch erwähnt, in
dem allgemeinen Thema dieser Elegien sei zu wenig eine Stelle für Frie-
drich gewesen , als dasz Goethe sich zu einer spätem Zeit eben hierbei
an ihn erinnert haben sollte» Im entschiedensten Gegensatze hierzu musz
ich behaupten, dasz, wenn Goethe ruhmgekrönte Helden zu nennen ver-
anlaszt war, wie es hier der Fall ist, ihm gerade keiner näher lag als
der vor kurzem verstorbene grosze Preuszenkönig. Es ist der Fall aber
hier ein ganz besonderer, wie Heller aus meinen Erläuterungen hätte
sehen kennen. Denn höchst wahrscheinlich spielt die Etegie auf das Wort
Friedriche in einem Briefe an Voltaire« an : Un instant de bonheur vaul
mille ans dans Thistoire. Nun erschienen diese Briefe erst im Jahre 1788.
eDes alten Königs nachgelassene Werke machen mir gute Tage', schreibt
Goethe am 31. October 1788 an Herder. Und in das folgende oder zweit-
folgende Jahr gehört unsere Elegie. Heiler aber fährt fort: 'Nun kommt
jedoch eine andere Betrachtung hinzu, welche jene Vermutung zur Wahr-
scheinlichkeit erheben möchte', und er geht dann zum Beweise über, dasz
Goethe wirklich eine Sammlung übersetzter Stellen aus den Elegikern zu
Rom angelegt Folgen wir ihm denn auch hier in seine Irgänge !
Zunächst beruft er sich auf die bekannte Thatsache, dasz fremde
Kunstwerke produktiv auf Goethe wirkten, oder, wie er weniger be-
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Geethe'a elegische Dichtungen in ihrem Rechte. 187
zeichnewbaagt, der Dichter habe fes vorgezogen, nachbildend oder fther-
setzend sie zu seinem ganzen Eigentum, zu seinem eigenste** Gut zu
machen. Es war dies kein Wille , sondern innere Nötigung , nur muaz
man eigenüiehe Ueberaetzungen hier ferne halten, dfe er für gewisse
Kreise machte, wie etwa eine anakreontische Ode für Frau von Stein,
oder um den Charakter einer Wahlweise andern vorzuführen, wie den
Marlakischen .Klaggesang oder die neugriechischen Lieder, »der zur Mit-
teilung für rKunst und Altertum9, wie die UeberseUmgen aus Byron und
Manaoni. Eine eigentliche Uebersetzung lieferte er auch nicht vom hohen
Liede, das ihn im Derbst 1775 beschäftigte, sondern er suchte hier die
ursprünglichen herlichen Liebeslieder herzustellen. Wenn nun Heller
meint, mit einer Art Notwendigkeit sei vorauszusetzen, das* Goethe sich
der romischen poetischen Litteratnr des Augusteischen Zeitalters auf
gleiche Weise bemächtigt haben werde, so behaupten wir dagegen, dasz
ihm in Italien der lateinische Ausdruck zu lieb und heimisch war, als
dasz er ihn in die deutsche Sprache hätte umsetzen seilen. Wenn er kurz
vor seiner Abreise nichts Lateinisches mehr lesen konnte, weil schon
dieser Laut die Sehnsucht nach Italien in seiner Brust schmerzlichst
weekte, welche Freude muste ihm in Italien der Klang (lieser hier einst
heimischen Sprache wefikeji! Wissen wu; ja von ihm selbst, welche Lust
ihn erfüllte, als am Gardaaee der erste lateinische Vers:
Fluctihus et fremitu resonans Benace mariuo,
ihn lebendig wurde. Und als er in Weimar zurück war , war ihm dieser
Kiang so lieb, dasz er ihn nicht gegen den deutschen vertauschen mochte.
Sa schreibt er an den in Italien weilenden Herder: fMit welcher Rührung
ich des Ovid's Verse oft wiederhole, kann ich Dir nicht sagen:
Cum subit illius noctis tristissima imqgo,
Quae mihi supremum tempus in urbe fuit.9
Uad wäre dies nicht, so hätte doch Goethe nichts ferner gelegen als ein-
zelne kleine Bruchstücke zu übersetzen, wir müsten wenigstens doch an-
nehmen, dasz er gan%e Gedichte übertragen hätte. Widerstrebt schon
eine Auswahl besonders ansprechender, aus dem Zusammenhange gerisse-
ner Verse seinem für das Ganze einer Dichtung so empfänglichen Sinne,
so konnte er es noch weniger über sich bringen, solche kleine Späne zu
übersetzen, was Kellers Einbildung allein ihm zumuten durfte.
Doch hat derselbe gleich einen zweiten Beweis hervorgesucht, mit
dem es um nichts besser steht. Goethe bemerkt, ohne die Kenntnis des
'Versuches einer deutschen Prosodie9 von Moritz würde er nicht gewagt
haben, die Uphigenie' in lamben zu übersetzen; der Umgang mit dem
Verfasser, besonders während seines Krankenlagers, habe ihn nach mehr
darüber aufgeklärt Sun meint Heller, zur 'Iphigenie' habe Goethe die
Aeuszerungen von Moritz nicht besonders benutzen können, da in Rom
daran nicht viel, mehr zu thun gewesen, und sie schon * während Moritzens
Krankheit in zwei Exemplaren vor ihm gelegen9. Das ist eine gerao>a|i
falsche Behauptung: erst nach der Heilung des Armes von Morit?, dem
Goethe vierzig Tage über die Neuesten Dienste geleistet, lagen die beiden
Exemplare vor , und Goethe hat auf die Verse seiner 'Iphigenie' zu Rani
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190 Goethe' s elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
treten ist? Im zweiten Teil der Ital. Reise S. $98 Mit Goethe uns selbst
die von ihm in Rom niedergeschriebtehe Uebersetzung zwtfer Stellen ehttr
Ovidlschen Elegie mft, dasz er aus Ovfd die Ver&e übertragen frabe* s'e&st
angebend:
Wandelt von jener Nacht Wir das traurige Bild in iler Seele,
Welche 8te letzte für mich ward in der RÖfnlschen Stadt,
Wiederhol' ich die Nacht, wo des fheuren s'O viel mir zurtickblieh,
GWität vorii Äuge, mir noch jetzt e&e Thräne herab. —
Und schon ruhten bereits dte Stimmen fter Menschen und Hunde;
Luha, sie lenkt* in der flöh* nächtliches Rossegesßann.
Zu ihr schaut' ich hinan, sah dann capitolische Tefflpel,
Welchen umsonst so nfeh unsere Laren gegrenzt. —
Die Verse stellen bei 0vid Tr. 1, 3, 1—24. 27. 90. Würde Jemand be
haupten wollen, dasz dies die einzigen UebersetzungsversucJhe Goethes in
Rom gewesen sfrid?'
Ja, wenn man es nicht besser wüste und Heller's Behauptungen
Glauben schenken müste! Wo in aller Welt sögt Goethe, es sei fliese
Üeberfcetzung *von ihm in Rom niedergesefcrfebeft' worden? Diesfc Be-
hauptung beruht auf Unwahrheit. Eher verzeiht nian 6s Heller ," dasz ihm
unbekannt war, dasz nicht feofethe, sondern Riemer die Verse im Jahre
1829 -zu Weimar übersetzt hat, obgleich eiwe so kecke 'Verkündigung
eine sorgfältige Prüfung verdient hätte. Möge flßller, «und nebenbei so
mancher, der dreist über Goethe abspricht , sich hieran «ein Beispiel neh-
men, dasz genaueste Kenntnis d£s weitreichende*! Abbiefös der Odethe-
litteratur iihtater eine gute Sache Ist, wetfh tofan mitsprechen WM.
Im Frühjahr 1829 schlosz "Goethe den 'zweiten Aufenthalt in Rom*
nach Erwähnung seines letzten nächtlichen Umganges durch dfe Statft mit
folgenden Worten ab : * Alles Massenhafte tnffcht einen eigenen 'Eiiidruck,
zugleich als e'rfnAeh tfnd Tafszlicb, und in Solchen Uing^ngen zog ich
gleichsam ein unübersehbares Summa Summäfttm meines ganfcen Aufent-
haltes. Dfesfes rn aufgeregter Seele tief utfd grosz einbänden, Erregte
eine Stimmung, die itfh heroisch-elegisch nennen darf, wW&T*s9iöh ab poc-
tisriher Form e*ine riegle ztfsammenbÜden wollte. tJÄd 'wie söfttfe mir
gerade in sollen Augenblicken Övid'sEfegtfe nicht bis GeÄärihttiis zui^öök-
kehren, der, auch verbannt-, in ehler MtfflÄhacht Rom verlassen sollte!
Dum (cum) röptetö noctem ! seine Rfickerintifefting, weit hinten am schwar-
zen Mefere , hn trauet - und jammervollen Zustande , kam fcrir nicht •aus
dem Sinn, Idh wiederholte das 'Gedicht, das mir teilweise genau im Ge-
dächtnis hervoTstieg, aber mich wirklich an eigener Produktion irre wor-
den liesz und hinderte , die auch, später unternommen, nietiiafs zu Stande
kömtoten konnte.9 Auf der letzten Seide Stellen dann för sich-, jene aöht
Verse init Weglassung von V. 4 utid 5 , 'tiüd tinter einöm Striche die acht
lateinischen Vtfrse vollständig. l)asz Goethe fcfeihe in Roni niedergeschrie-
bene U&ersetfeung der Ovjdischen Verse besasfc und die von ihm gegebene
von Riemer statinht, dessen Hülfe 4r auch sonst bei ähnlichen Oölfegen-
heften in Anspruch nahm , möge Heller einem Briefe des Dichters an Rie-
mer glauben , abgedruckt in den von Riemer 1846 herausgegebenen zu
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Geethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte« 101
wenig beachteten 'Briefen von und an Goethe' (S. 230 f.) Geethe schreibt
diesem am 2. April 1829: 'Verzeihen Sie ein eigenes Ersuchen, oder viel-
mehr eine wunderliche Zumutung. Ich bedarf einer deutschen metrischen
Ueberseizung bekommender sechs Ovidischen Verse, finde aber hiezu
weht den mindesten rhythmischen Anklang in Meinem ganzen Wesen.
Mochten Sie mir damit ausheilen , so geschähe mir ein besonderer Ge-
falle.' Dasz gerade jene Verse aus Trist. I, 3 gemeint seien und wozu
Goethe sie benutzt, deutet eine Anmerkung JUemer'a an.
Bei der nach Goethe s Hinscheiden erschienenen Ausgabe der Werke
wurde jener ScUusz des zweiten polnischen Aufenthalts von den Worten
an 'Dieses in aufgeregter Seele' bis 'kommen konnte' in folgender Weise
umgestaltet,: efiei meinem Abschied empfand ich Schmerzen einer eigenen
Art. Diese Hauptstadt der Welt, deren Borger man eine Zeit lang ge-
wesen, ohne Hoffnung der Rückkehr zu verfassen, gibt ein Gefühl, das
sich durch Worte nicht fiberliefern läszL Niemand vermag es zu teilen,
als wer es empfunden. Ich wiederholte mir Ovid's Elegie, die er dichtete,
als die Erinnerung eines ähnlichen Schicksale ihn bis ans finde der be-
wohnten Erde verfolgte. Jene Distichen wälzten sich zwischen meinen
Empfindungen immer auf und ab', worauf dann die Ueberseizung jener
vier Distichen, und auletzt .ein ganz neuer Bericht über die Weiterreise
folgt. Auch hier deutet kein Ausdruck darauf hin, dasz .diese Ueber-
seUvng in Bern gemacht worden, sondern Heller hat dies zu seinem
Zwecke daraus ohne weiteres gefolgt; wie irrig, ergibt eich ans dem
Mitgeteilten.
In der eilften Elegie, die, einzelne Ausdrücke abgerechnet, mit den
Gedichten der römischen Elegiber, naoh Heller selbst, so viel wie gar
nichts zu schaffen (hat, glaubt .er doch einen in Rom geschriebenen Kern
zu entdecken, memlich Vens d— 10. Er scheint hier anzunehmen, .zu fast
allen-, auch den initibt .aus «den römischen JSlegÜDern hergenommenen Ele-
gien sei der 'Kern' eu lom geschrieben worden. Wie .aber beweist er
hier die Zusammenfügung aus verschiedenen Teilen? Durah das wunder-
lichste Mißverständnis des trefflieben Anfanges der Elegie:
Euch, o Grazien, legt die wenigen Blätter ein Dichter
Auf 'den reinen Altar, Knospen der Rosen dazu.
Und er fchut es getrost. Der (Künstler freuet dich seiner
Werkstatt, wenn sie um ihn immer ein Pantheon pcheint.
Hier verrät sich dem unbefangen Blickenden, meint Heller, der Leim,
dem es nioht gelungen sei, den Spalt «zwischen den aneinandergebrachten
Teilen völlig zu verdecken! 'Aufs allerbeste .angesehen, (behalten die bei-
den Sätze: J)Eueh^ ihr Grazien, bringe ich mit wenigen Blättern und
Rosenknospen d. h. mit diesen euoh (zukommenden Elegien (vertrauensvoll
mein Opfer dar. 2) loh freue mich (übenhaupt), wenn in (meiner Küustler-
werkätatt um .mich immer eine ganze Götterversammlung zu sein scheint
(die ich ehren kann)', selbst nach .Hinzufügung der in Klammern einge-
schlossenen Worte etwas Unvermitteltes, und man vermag von dem einen
zun andern nur durch einen Sprung zu gelangen:' Aber wie konnte der
nichter em so schülerhaftes Mißverständnis voraussehn, wie ahnen, das/.
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192 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
ein gebildeter Leser übersehn werde, mit den Wroten fder Künstler
freuet sich' hebe ein Vergleich an, welcher prosaisch freilich lauten müste :
'So freut sich der Künstler.' Der Dichter spricht seine Freude aus über
die ihm gelungenen Elegien , die er mit derselben LusJ vor sich sieht,
wie der Bildhauer seine Götterstatuen , da sie nicht allein der Liebe, son-
dern auch dem wahren dichterischen Geist entsprungen sind; wie die
Grazien auf die Kunstvollendung deuten , so die Rosen auf die Freuden
der Liebe. Wenn Heller den Uebergang 'Und er thut es getrost' matt
und bedeutungslos findet, die folgenden Worte für eine trockene Beschrei-
bung erklärt , um aus der Ungleichheit des Tones einen neuen Beweis für
die Vereinigung ungleichartiger Teile zu einem Ganzen herzuleiten, so
mag er das hei sich verantworten. Und nun fügt er quasi re bene gesta
bedeutsam hinzu: 'Wenn nun in der nach Jahren entworfenen Liste der
Goetheschen Schriften am Ende des vierzigsten Bandes angegeben wird :
1788. 'Dichtet die römischen Elegien'. 1790. 'Redigiert die römischen
Elegien', so wird man sich aus dem Vorhergehenden und anderteils aus
oben eingestreuten , teils noch folgenden Bemerkungen eine Vorstellung
machen können, welche Arbeit der Redaction selbst nach dem aus vielen
in Rom gesammelten Materialien hergestellten vorläufigen Entwurf noch
dazu gehörte , um die Elegien in die uns vorliegende Form zu bringen.'
Wir aber nehmen von dieser Aeuszerung und einer andern S. 358 Act,
dasz Heller ganz unverantwortlicher Weise von der Entstehung der römi-
schen Elegien nichts weiter wüste, obgleich er sich leicht, und wäre es
aus meiner Erläuterung gewesen, die er wol auf der königlichen Biblio-
thek nicht vergebens, wie Benfey auf der Göttingischen gesucht haben
würde , sich eine viel richtigere Ansicht von der Entstehungszeit hätte
bilden können. Jeder Kundige weisz, dasz jenes chronologische Ver-
zeichnis am Schlüsse der Werke völlig unzuverlässig ist. Wie äuszert sich
Goethe selbst darüber? Die Stellen hätte er im Verzeichnis von Musculus,
wenn er sie sonst nicht kannte, leicht finden können. B. 25, 154 sagt
er, die Elegien und die Epigramme fielen in die Zeit eines glücklichen
häuslichen Verhältnisses , das , wie wir wissen , am 13. Juli 1788 begann,
also nach der Rückkehr von Rom. Damit steht nicht in Widerspruch,
wenn er in den 'Annalen' unter dem Jahre 1790 bemerkt: 'Angenehm
häuslich-gesellige Verhältnisse gaben mir Mut und Stimmung die römi-
schenElegien auszuarbeiten und zu redigieren. DieVenetianischen
Epigramme gewann ich bald darauf.' Diese Stelle erwähnt Heller ge-
legentlich S. 462, aber er deutet natürlich das Ausarbeiten, das hier
vom Dichten steht, auf seine Weise; doch fehlt es nicht an andern, der
Zeit der Entstehung viel näher liegenden Zeugnissen, zu denen der Brief-
wechsel Goethe's mit Karl August neuerdings mehrere bedeutende hin-
zugefügt hat. Heller wüste von allem diesem nichts, obgleich es ihm
darum zu thun war, die Art der Entstehung der Elegien zu entdecken.
Zunächst sei , auch zu Widerlegung dessen , was Heller über den
Namen römischeElegien sagt, hier bemerkt, dasz in der noch er-
haltenen Handschrift der Titel lautet: Erotica Romana, worin die
Liebe als eigentlicher Gegenstand deutlich bezeichnet wird. Mit Bleistift
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte. , 193
setzte Goethe dafür später Elegien. Rom 1788, wo die Jahrszahl dar-
auf hindeuten soll, dasz er damals in Rom gewesen. Als er aber 1791
die dreizehnte Elegie in der deutschen Monatsschrift abdrucken
liesz, gab er dieser die Bezeichnung Rom 1789, wo 1789 freilich auf
einem Irtum beruht, insofern er damals nicht mehr in Rom war. Das
erste uns erhaltene Liebeslied auf Christiane Vulpius fällt Ende October
1788 , aber es ist nicht in elegischem Masze geschrieben. Gleich darauf
musz das zweite der Besuch entstanden sein, das in demselben Vers-
masze gedichtet ist, worin er zu Rom Amor als Landschaftsmaler
geschrieben. Ueberhaupt ist keines der in Italien entstandenen Ge-
dichte in Hexametern oder Distichen verfaszt. Die Mahnung von Moritz
scheint ihn damals von diesen Maszen ganz abgehalten zu haben. Das
erste elegische Gedicht, welches er in Weimar dichtete, ist das Süsse
Sorgen überschriebene ; denn er sandte diese, schon im folgenden Jahre
in seinen Gedichten gedruckten Verse mit der Bezeichnung 'eines Eroti-
kons* am 16. November 1788 an den Herzog Karl August. Sind auch etwa
diese zwei Distichen aus römischen Elegikern geflossen und in Rom ent-
standen? Wer möchte eine solche Behauptung wagen, obgleich sie not-
wendige Folge von Heller's Annahme sein würde. Erst im Frühjahr 1789
scheinen die ersten Elegien gedichtet zu sein , nachdem des Dichters Ver-
hältnis zu Christiane Vulpius in die Oeffentlichkeit gedrungen war. Dem
Herzog, der sich am 1. April nach Aschersleben begeben hatte, schreibt
Goethe den 9. : 'Knebel hat eine Elegie des Praperz recht glücklich über-
setzt Die Frauen sagen : ich könne sie gemacht haben ; da sie's aber auf
den Charakter und nicht aufs poetische Verdienst nehmen, so ists nicht
sehr schmeichelhaft. Ich liege ihm sehr an , dasz er zu übersetzen fort-
fahre und die Erotika den schonen Herzen nahe lege. Ich leugne nicht,
dasz ich ihnen im Stillen ergeben bin. Ein paar neue Gedichte sind dieser
Tage zu Stande gekommen; sie liegen mit den andern unter Raphael's
Schädel (von dem er einen Abgusz aus Rom mitgebracht hatte) , wohin
das Cahier in meinem Schranke durch Zufall kam, und nun, um des Omi-
nösen willen, da bleiben soll. Moritz amüsiert diese Combination gar
sehr'. Er hatte Moritz dies mitgeteilt und eben eine Antwort von ihm
erhalten. Der Herzog scheint jene frühern , wol erst im März geschrie-
benen Elegien (Erotika) gekannt zu haben. Nach der Rückkehr des Her-
zogs wird Goethe diesem seine neuen Elegien vorgelesen haben, auch
wol diejenige, die er am Schlüsse des Briefes verspricht. Diese ist eine
der beiden, welche beim Abdrucke unterdrückt worden, aber in der Hand-
schrift noch vorhanden sind. Dem Herzog, der am 4. Mai nach Berlin
reiste, schreibt er am 12.: 'Die schöne Zeit, die mich früh ins Thal lockt
und recht zum Müssiggang einlädt, hat mich auch abgehalten Ihnen zu
schreiben, besonders da alles um uns ganz stille ist, die Empfindungen
sich wenig und die Begebenheiten gar nicht regen. — Von den Eroticis
habe ich Wielanden wieder vorgelesen, dessen gute Art und antiker Sinn,
sie anzusehen , mir viel Freude gemacht hat. Bald habe ich Hoffnung,
dasz diese kleine Sammlung sowol an Poesie als Versbau den Nachfolgern
manches wegnehmen werde.9 In den nächsten Monaten findet sich keine
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194 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
Erwähnung der Elegien. Am 23. Juli begab sich Goethe nacb Eisenaob,
von wo er am 2. August an Herder schreibt : * Einige Erotika sind gear-
beitet worden.' Von Ruhla aus äuszert er aqht Tage später: 'Die Frag-
mentenart erotischer Späsze benagt mir besser. Es sind wieder einige
bearbeitet worden.' Mute September ging er nach Jena. Acht Tage spä-
ter meldet er an Knebel von Weimar aus: 'Leider sehe ich beim Aus-
packen meiner Papiere, dasz mir die f am ose n Pop in en fehlen. Wahr-
scheinlich habe ich sie auf Deinem Tisch liegen lassen. Bringe sie mir
mit, und schreibe das Gedicht, ich bitte dich, nicht ab.' Unier den fa-
mosen Popinen versteht er höchst wahrscheinlich die fünfzehnte
Elegie, die demnach wol in Jena gedichtet sein könnte. Den 20. November
meldet er dem Herzog: 'Wenn Ihre träume, von denen Sie mir schreiben,
von heroisch philosophischem Inhalte sind, so sind ^e meinigen gegen-
wärtig höchstens erotisch philosophisch, und folglich auch nicht die
unangenehmsten. Wie sie dereinst in der lOln Elegie meiner immer
wachsenden Büchlein ersehen werden.' Ist die Bezeichnung 4er 101a
Elegie auch wol launig übertrieben, so deutet sie doch, wie die 'immer
wachsenden (Büchlein' auf eine viel gröszere Zahl von Gedichten hm, als
uns erhalten ist. Freilich könnte man bei der Ungenauigkeit des Ab-
drucks jenes Briefwechsels leicht zweifeln, ob die Zahl 101 nicht atff fal-
scher Lesung. oder Druckfehler beruhe. Am folgenden (».•Februar berich-
tet er dem Herzog, er habe auch wieder die liebe zu pflegen angefangen;
gestern sei das erste Erotikon in diesem Jahre zu Papier gekommen. Vor
der Mitte März reist er der Herzogin Mutter nach Venedig entgegen. Von
hier schreibt er am 3. April an Herder : cMeine Elegien sind wol zu Ende;
es ist gleichsam keine Spur dieser Ader mehr in mir. Dagegen bringe
ich Euch ein Buch Epigramme mit, die, hoffe ich., nach dem Leben
schmecken sollen.' Und denselben Tag berichtet er dem Herzog : 'Meine
Elegien haben ihre höchste Summe erreicht , und das Büchlein möchte
geschlossen .sein. Dagegen bring' ich einen libellus epigrannnatum mit
zurück, der sich Ihres Beifalls, hoff' ich, erfreuen soll.' Am 1&. sendet
er an Herder ein Blatt Epigramme, den 4. Mai ist das Büchlein auf 100
angewachsen , und er hofft die Reise werde wol noch eines und das an-
dere geben. 'An meinem Büchlein Epigrammen schreibe ich ab', meldet
er am 1. Juli dem Herzog. 'Es sind viele freilich ganz local, und können
nur in Venedig genossen werden.' Am 9. ist das Büchlein zusammenge-
schrieben , doch kann er es noch nicht aus der Hand geben. Auf der
gleich darauf angetretenen Reise nach Schlesien gab es wieder viele Epi-
gramme, von denen nur wenige gedruckt sind; eine Anzahl angedruckter
von Goethe' s eigener Hand besitzt die herliche Sammlung des um Goethe
hochverdienten Buchhändlers Salomon Hirzel in Leipzig; ein Distichon
daraus steht in Grimm's Wörterbuch unter dem Worte E i 1 f t e. Auch das
Jahr 1792 brachte noch einige Epigramme.
Wir haben nach dem Mitgeteilten den vollständigsten Beweis , >dasz
die Elegien aus dem vollen frischen Leben vom Frühjahre 1789 bis zum
Frühjahre 1790 geschöpft sind , dasz der reizende Liebesgenusz sie dem
Dichter eingeflöszt. Dieser unbestreitbaren Thatsache gegenüber stellt
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Hechte. 195
sich die Annahme , Goethe habe , ehe er eine Liebesetegie geschrieben,
sich die Begeisterung aus seinen? übersetzten Stellenhefte geholt , in ihrer
unendlichen Lächerlichkeit dar. Die Beweise, die Heller noch einmal
S. 493 f. zusammenstellt, haben wir in ihrer völligen Haltlosigkeit er-
kannt , und von der Handhabung seiner Methode , um den Kitt und Leim
nachzuweisen, so sattsame Proben gegeben, dasz wir nicht nötig haben
weiter auf seine Bemerkungen Ober die folgenden Elegien so wie auf die
am Anfang stehenden einzugehen. Auch hier hat er nur den Dichter zu
seinem Zwecke mißverstanden, wie eine Vergleichung mit unsern Erläute-
rungen ergeben wird. Goethe hat freilich die römischen Elegiker im Sinne
gehabt, und daraus sind manche bewuste und u'nbewuste Anklänge ge-
flossen ; das ist fängst erwiesen , ehe Heller die Sache bis zur Lächerlich-
keit fibertrieb. Goethe versetzte sich bei der Darstellung des Liebeslebens
ganz nach dem neuern Born , wo ihm neben der Gegenwart die grosze
Vergangenheit lebhaft erschien , und wenn neben den alten Göttern und
dem alten Leben auch Andeutungen der neuesten Zeit sich finden , so ist
dies nichts weniger als ein misklingender Ton , vielmehr vergegenwärtigt
dies ans gerade den Dichter als Sohn dieser Zeit. Dasz Goethe sich von
einem Knaben bedienen läsfct, ist ein Zug, der dem Dichte* besonders
angemessen sehien ; in Wirklichkeit war es freilich seht Diener Götz , der
ihn in seinem Gartenhause bediente und wol lange Zeit allein von dem
süszen Geheimnis wnste. Am Kaminfeuer daselbst liesz er es sich wol
behagen.
Erweist sich nun die von Heller vorausgesetzte Entstehung der Ele-
gien als efae bare Unmöglichkeit, so folgt, dasz alle Schlösse, welche
derselbe hieraus für die Venediger Epigramme zieht , völlig haltlos sind.
Diese sind so weit entfernt aus den unbenutzt gebliebenen Spänen des
Hellerschen Materialienheftes entstanden zu sein , dasz sie ganz ans dem
Leben geflossen sind , wie die oben angezogenen Aeuszerungen Goethe's
selbst zeigen. Heiler hat 'auch hier bei manchen eine Unterlage in den
Elegikern gesucht, meist aber eben so unglücklich als bei den Elegien.
Dasz einzelnes aus den 'römischen Dichtern genommen ist, kann nicht be-
zweifelt werden. So habe ich selbst toerefes bei Epigr. 26 auf Hartial
IV, 60, bei 33 auf Hart. XI, 3 verwiesen. Cei andern ist es möglich, dasz
ein unbewuster Anklang den Dichter geleitet hat. So kann man es nicht
ganz unwahrscheinlich finden, was Heller als unbestreitbar hervorhebt,
dasz in £ßigr. 81 :
Wenn auf besehwörlietien Reisen ein Jflngftng zur Liebsten sich windet,
Hab* er dies Bachlein: es ist reizend und trostfech zugleich.
Und erwartet dereinst ein Mädchen den Liebsten , sie »hake
Dieses Büchlein, und mir, kommt er, so werfe sieVweg,
beim zweiten fasticboti die Worte des Prtfperz mitgewirkt haben (fH,3, 19):
Ut tuus in scrfmno iactetirr saöpe libellus, quem legat expectans sola puella
virtnn. Aber es übersteigt allen Begriff, wenn Heller behauptet, das
erste Distichon sei cnach Martial 1 , 3 dazu verfaszt' :
Qbi tecum cnpis esse meos ubicumque libeltos ,
Et cornftäs 'kmgae quaeris habere viae.
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196 - Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
Musz ja nach Heller gar der Vers (2) :
Da gesellten die Musen sich gleich zum Freunde,
aus dem Properzischen (III, 1,53): At Musae comites, stammen, und
der Name Phüarchos (65) durch den Namen Phileros bei Jlart. 1, 43 ver-
anlaszt sein ! Durch die Annahme vorauszusetzender üebertragungen ist
Heller auch zu seiner fabelhaften Deutung von Epigramm 29 gekommen,
womit er vor drittehalb Jahren in der Vossischen Zeitung debütierte, wo
Gruppe, von Löper und der Unterzeichnete ihm gleich entgegentraten,
während Abeken ihm beistimmte. Das allbekannte Epigramm lautet:
Vieles bah' ich versucht, gezeichnet, in Kupfer gestochen,
Oel gemalt, in Thon hab' ich auch manches gedruckt,
Unbeständig jedoch, und nichts gelernt und geleistet;
Nur ein einzig Talent bracht' ich der Meisterschaft nah:
Deutsch zu schreiben. Und so verderb' ich unglücklicher Dichter
In dem schlechtesten Stoff leider nun Leben und Kunst.
Heller meint, der Dichter deute hiermit auf den Stoff der folgenden Epi-
gramme , die sich auf das gaukelnde Kind Bettine beziehen. Aber wie
viele Epigramme stehen zwischen diesem uud dem ersten Bettinen be-
treffenden (77) , das seine Einleitung in sich trägt ! Und wie ist es mög-
lich, dasz der Dichter Bettinen, die er mit solcher rührenden Bewunde-
rung betrachtet , den schlechtesten Stoff zu einem Gedichte nennen und
sich bedauern soll, dasz er in einem solchen Stoffe Leben und Kunst
verderbe. Müste es dann nicht auch notwendig ' m i t dem schlechtesten
Stoff9 heiszen ? Und wie kann der Dichter sagen, er verderbe damit Leben
und ftunst? Denn die von Heller gegebene Beschränkung des 'Lebens'
auf die in Venedig verbrachten Tage ist neben der allgemeinen Bezeich-
nung 'Kunst* und bei dem eben so allgemein gefaszten 'ich unglücklicher
Dichter* nicht möglich. 'Und so' soll 'mit Hinblick auf diese Epigramme,
besonders auf die, welche sogleich folgen werden', gesagt sein. Aber es
kann nur auf das unmittelbar Vorhergehende bezogen werden ; s o kann
nur heiszen a u f d i e s e (eben genannte) Weise oder hierdurch (durch
das eben Genannte), wie Heller sich überzeugen wird, wenn er die
reiche, ihm, wie es scheint, unbekannte Beispielsammlung bei Lehmann
'Goethe's Sprache und ihr Geist* S. 257 Jf. vergleicht. Dasz und so auf
die vorhergehenden oder die folgenden oder auf diese Epigramme über-
haupt gehe, ist reiu unmöglich, da der Epigramme in unserm Gedichtchen
gar nicht gedacht ist. Woher sollte dem Leser eine Ahnung kommen,
dasz es gerade auf die Epigramme gehe, besonders da es thöricht wäre,
wollte der Dichter sich als bedauernswürdig mit solchem Nachdruck be-
zeichnen , weil er in diesen Tagen Epigramme mache , die so wenig ihm
unbehaglich waren, dasz diese frische Production ihm wohl that Und
wozu der Gegensatz aller der Künste , in denen er sich bisher versucht,
gegen die Dichtkunst und zwar die Dichtkunst in trivialen Epigrammen,
wie man Heller glauben soll? Es kann keinem Zweifel unterworfen sein,
dasz hier die Sprache im Gegensatz zum Kupfer, Oel und Thon steht, uud
der 'schlechteste Stoff9 gerade die deutsche Sprache ist,- deren Goethe
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte. 197
sich bedient. Aber, ruft Heller, diese können nie Stoffe genannt werden.
Goethe nennt die Mittel der Darstellung nie S to f f , sondern nur Ma terie,
Material. Zu dem von ihm beigebrachten Beispielen fugen wir hinzu
IXIf, 16. 26. 29 ('der Materie, in welcher er arbeitet'). 336. Aber ist
nicht Stoff gerade der edlere Ausdruck für Materie? Und was liegt
Au/fallendes darin, dasz Stoff, wie das Lateinische materies, das
Französische m a t e r i a u x , das englische matter, selbst unser Materie,
sowol den darzustellenden Gegenstand als die Darstellungsmittel bezeich-
net? Heller ist, wie sonst, auch hier gleich mit seiner entschiedenen Be-
hauptung bei der Hand. Stoff sage Goethe im Sinne von Material
nur, wo er von gewebten Zeugen oder von chemischen Präparaten
spreche. Und doch lesen wir XXX, 292: eDie mechanische (Behandlung*
des Künstlers) zuletzt wäre diejenige, die durch irgend ein körperliches
Organ auf bestimmte Stoffe wirkt , und so der Arbeit ihr Dasein , ihre
Wirklichkeit verschafft.9 Nicht weniger gehört hierher die Stelle XXXU,
221 : 'Der geistreiche Mensch knetet seinen Wort#toff , ohne sich zu be-
kümmern, aus was für Elementen er besteht.' Die letztere Stelle führt
auch Heller an , meint aber , da sei das Wort in einer unmöglich zu ver-
kennenden Zusammensetzung so gebraucht. Aber an unserer Stelle ist
der Ausdruck durch den gegebenen Gegensatz so unverkennbar, dasz
von Klopstock und Schiller herab bis auf den sprachgewaltigen J. Grimm
niemand ihn anders verstanden hat. Und meint Heller, Goethe habe auch
'Materie' oder ^Material9 notwendig da sagen müssen, wo Vers und Würde
des Ausdrucks das leidige Fremdwort verbieten? Und wenn er einen
Widerspruch darin sieht , dasz Goethe der Meisterschaft in der deutschen
Sprache sich rühmt und diese dennoch den schlechtesten Stoff nennt,
so erklärt sich dies, wenn es anders einer Erklärung bedarf, aus Epi-
gramm 77:
Einen Dichter zu bilden, die Absicht war' ihm (dem Schicksal) ge-
lungen ,
Hätte die Sprache sich nicht unüberwindlich gezeigt.
Freilich behauptet Heller, diese Stelle habe mit Epigramm 29 nichts zu
thun , und die letztere Aeuszerung thue Goethe in Bezug auf die feste
Technik und die genaue Versmessung der gerade darin so strengen Römer.
Was ah#r Goethe an beiden Stellen im Auge hat, verrät eine von mir
früher beigebrachte Aeuszerung aus dem Januar 1786, wo er die deutsche
Sprache barbarisch nennt im Gegensatz zum wolklingenden Italieni-
schen. Heller's Gegenbemerkung S. 311 f. bemüht sich vergebens, diesen
Beweis zu entkräften. In dem launigen Unmut, der ihn zu Venedig er-
faszte, konnte der Dichter wol bedauern, dasz er seine Werke in der
spröden und harten deutschen Sprache schreiben müsse, worin er sich
zur Meisterschaft emporgeschwungen, ohne aber ihre natürliche Härte
geschmeidig machen zu können. So erhält auch das und so seine rechte
Deutung. Da er sich die deutsche Sprache zum Darstellungsmittel gewählt,
so ist er verdammt in dieser Zeit und Kunst zu verlieren, da es ihm nie
gelingen wird, in dieser harten Sprache, von der Karl August sagte, sie
Hinge gar zu häufig wie Hagel, der an die Fenster schlage, ein rein
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198 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
wolklingendes Werk zu schaffen. Wodurch aber Heller eigentlich ver-
anlaszt worden, das 29. Epigramm so ganz abweichend zu fassen, hat er
erst später verraten. Er glaubt nemlich, Goethe habe zwei Ovidische
Stellen ausgedrückt, Am. III, 1, 25. 26 und 16:
Materia premis ingenium: cane facta virorum:
Haec animo, dices, area digna meo est. —
0 argumenti lente poeta tui.
Um eine solche Nachahmung auszuspüren, muste er freilich den * schlech-
testen Stoff' ganz absonderlich fassen. Aber ist es denn zu verkennen,
dasz , wenn Goethe die Würde des Stoffes im Sinne gehabt halte, er dann
nicht die Uebungen >in andern Künsten, sondern, wie Ovid, tragische
Stoffe in Gegensatz dazu gestellt haben würde? Und wäre auch wirklich
das Epigramm im Hellerschen Sinne zu fassen , was uns der Gipfel der
Ausdeutung scheint, warum soll der Gedanke, dasz er in Venedig leider
mit niedrigen, seiner unwürdigen Epigrammen seine Zeit vertreibe, not-
wendig aus Ovid stanimen! War etwa Goethe so gedankenleer und
stumpf, dasz nicht einmal ein solcher nichts weniger als bedeutender
Gedanke in ihm selbst aufsteigen konnte ! Aber Heller wird noch lächer-
licher, wenn er in Epigramm 48 die launige Aeuszerung, er werde bald
die Könige und Grosaen der Erde besingen , wenn er ihr Handwerk besser
begreife, die aus dem Gegensatz daselbst notwendig hervorgegangen, aus
dem Ovidischen cane facta virorum herleitet, obgleich bei den römischen
Dichtern, Horaz mit eingerechnet, der Gegensatz des- leichten Liebesliedes
zum hohen epischen und tragischen Gesänge so ungemein häufig hervor-
tritt, so dasz in dieser Beziehung Goethe freilich eine Erinnerung an jene
Dichter im allgemeinen vorschweben mochte. Damit aber ja Goethe aus
jenem Ovidischen Distichon alles Mögliche wie die Biene aus der Blume
gesogen haben soll, musz ihm das area in den Versen der späten
Elegie Hermann und Dorothea bei dem Lobpreise Fr. A. Wolfs vor-
schweben ,
der, endlich vom Namen Homeros
Kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn,
"obgleich seit Klops tock der Vergleich mit der Rennbahn so ungemein
häufig ist. Allein lür Heller ist dies die völligste Gewisheit, da er Goe-
the's Verfahren beim Niederschreiben seiner Elegien durchschaut hat.
'Unter den vielen Merkwürdigkeiten des dichterischen Schaffens Goethe's
ist die Abfassungsart der Gedichte in elegischem Masze eine der über-
raschendsten/ Ja die von Heller ersonnene ist nicht allein überraschend,
sondern unbegreiflich , auch in Bezug auf die Elegien. Bei diesen aus dem
frischen Leben geflossenen , rasch hervorströmenden Spässen soll er vor-
her immer in das Hellersche Materialienbueh geschaut und die noch nichl
benutzten Späne hervorgesucht haben ! !
Aber solche Späne hat er auch zu seinen spätem Elegien noch be-
nutzt, da sie anderwärts noch nicht hatten verwendet werden können.
Was Heller in dieser Beziehung über die Elegie Euphrosyne bemerkt,
ist der Rede gar nicht werta. Hier hat er wenigstens Viehofs Erklärung
im f Archiv' benutzt; dasz dieser und der Unterzeichnete die lyrischen
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte, 199
Gedichte, und darin auch die elegischen, ausführlich erläutert haben,
war ihm ein Geheimnis. Dasz der Anfang der Elegie Amyntas durch
theokrit veranlaszt sei, was sich unzweifelhaft ergibt, ist ihm entgangen,
da ihm meine Erläuterungen unbekannt waren, worin ich zuerst dies be-
merkt; dagegen bringt er anderes bei, was gar nicht zutrifft. Die darauf
folgende Vergleichung der abweichenden Lesarten der Elegien in den
(Horen9 hätte sich Heller ersparen können , wäre ihm nicht unbekannt
geblieben, dasz die sämtlichen Varianten nicht allein des ersten Abdrucks,
sondern aller Ausgaben längst vollständig gegeben sind. Nur die ur-
sprünglichen Lesarten in der noch vorhandenen Handschrift sind bisher
beinahe ganz unbekannt geblieben. Von den zwei ausgelassenen Elegien,
der zweiten und dritten , scheint Heller keine Ahnung zu haben.
Sind wir unserm wunderliche« Chorizonten bisher mit Bedauern
gefolgt, so ergreift uns bitterer Unwille über die Leichtfertigkeit, womit
derselbe unsere beiden grossen Dichter seiner leidigen SpQrsucht zu Ge-
fallen sich gegenseitig aufziehen läszt. Schiller's Gedicht die Antike
an einen Wanderer aus Norden im neunten Stücke der 'Hören'
1795 soll auf Goethe, und namentlich auf seine daselbst im sechsten
Stücke gegebenen Elegien , gemünzt sein. Es ist dies eine der plattesten
Albernheiten. Schiller soll seinen treuesten Mitarbeiter an den 'Hören',
von dessen Beiträgen er alles hoffte, in dessen inniger Freundschaft er
sich beglückt fühlte, in den 'Hören' selbst angezapft, er soll auf Elegien
gestichelt haben , die er doch für das frischeste Erzeugnis der Goethe-
sc/mnMuse, für ein wahres Juwel unserer Litteratur hielt, er soll Goethe
dk Grobheit ins Gesicht geschleudert haben*
Ewig umsonst umstrahlt dich in mir Joniens Sonne ;
Den verdüsterten Sinn bindet der nordische Fluch,
er soll von der Antike die bittere Frage an ihn thun lassen :
Aber bist du mir jetzt näher und bin ich es dir?
da er doch bald darauf in denselben 'Hören' von Goethe drucken liesz,
in ihm wirke die Natur getreuer und reiner als in irgend einem andern,
und er entferne sich unter den modernen Dichtern vielleicht am wenig-
sten von der sinnlichen Wahrheit der Dinge , da er doch zu derselben Zeit
ihm persönlich zugestand , dasz es ihm in hohem Grade gelungen , seine
Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu
machen, und ihm mehr als irgend einem der Neuern, griechischen Geist
zuschrieb. Hätte Heller sich nur die Mühe genommen, etwa ViehofTs Er-
läuterung des Gedichts nachzuschlagen, so wäre er vor solchem unver-
zeihlichen Irtum bewahrt geblieben. Aber er häuft einen Irtum auf den
andern, meint, Goethe hätte dem Freunde diese Aeuszerung nicht übel
nehmen , auch im schlimmsten Falle die zu den 'Hören1 zugesagten Bei-
träge nicht füglich zurückziehen können , ohne eine Ahnung von der ein-
zigen Innigkeit dieses Bündnisses zu haben. ' Und welches Misverständnis
des gar nicht zu mißdeutenden Gedichtes verrät sich in der Aeusserung,
Goethe habe fühlen müssen , dasz die statuenartige Nacktheit der Antike,
welche er in den römischen Elegien zur Schau getragen, sich wieder
unter den modernen Gesellschaftsfrack hatte bergen müssen? Als ob
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200 Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte.
irgend von der Nacktheit der Antike hier eine Andeutung sich fände?
Zudem , fährt Heller fort , sei immer die Deutung auf Winkelmann offen
geblieben. Wenn man aber die 'nordischen Wanderer' nennen sollte, auf
welche das Gedicht unmöglich gehen könne , so wären an erster Stelle
gerade Winckelmann und Goethe aufzufuhren. Der Anfang des Gedichtes
deutet entschieden auf einen Reisenden, der, ehe er nach Italien gekom-
men , über das Meer gefahren ; Goethe's Fahrt nach Sicüien darauf zu
beziehen, geht schon deshalb nicht, weil dieser, um die Antike zu sehn,
nicht erst nach Sicüien überzufahren brauchte. Wenn endlich Heller
meint, die acht letzten Verse habe Schiller später weggelassen, um die
Beziehung auf Goethe gänzlich hinwegzuräumen , so ist dies ein leerer
Einfall. Wer Schillert Gedichte kennt,* weisz, da'sz er von den in das
Jahr 1795 fallenden die allermeisten bei der Aufnahme in die Gedicht-
sammlung bedeutend abgekürzt hat , um die Breite derselben zu tilgen.
Wie Heller Schiller's Antike auf Goethe deutet, mit demselben
Leichtsinn behauptet er, drei der in Schiller's Musenalmanach abgedruck-
ten Epigramme habe Goethe auf Schiller gemünzt. Die Frage, warum
Goethe diese Epigramme beim Drucke nicht weggelassen , erledigt er auf
leichte Weise. rIch denke, es lag so etwas nicht in Goethe's Eigentüm-
lichkeit. Ein misbilligendes Urteil über einen Mann oder über eine frühere
oder spätere Richtung desselben, möchte er später noch so sehr sein
Freund geworden oder es früher gewesen sein, glaubte er nicht unter-
drücken oder vorenthalten zu dürfen.' Woher mag denn unser Heller wol
diese Eigentümlichkeit, welche Goethe's Charakter und Verstand schmäh-
lich entstellen würde, erkannt haben? Etwa aus Goethe's spätem Aeusze-
rungen über Schiller, wo er berichtet, dasz ihm Schiller's Jugenddramen
zuwider gewesen? Aber diese Bemerkung forderte dort der Zusammen-
hang, und Schüler selbst verwarf diese wilden Ausbrüche seiner Jugeud.
Ein bitteres Wort gegen einen Freund ohne Not drucken zu lassen, einen
solchen Cynismus der Wahrheit Goethe zuschreiben heiszt nichts als sein
edles Bild leichtfertig verunglimpfen. Und welcher Art sind die Epigramme,
welche Goethe gegen Schüler, den innig verbundenen Freund, in dessen
eigenen Musenalmanach, Heller's Eingebung zufolge , hat drucken lassen?
(33) Sämtliche Künste lernt und treibt der Künstler , zu jeder
Zeigt er ein schönes Talent, wenn er sie ernstlich ergreift.
Eine Kunst nur treibt er, und wül sie .nicht lernen: die Dichtkunst.
Darum pfuscht er auch so ; Freunde , wir habens erlebt. —
(65) Niemand liebst du, und mich, Philarchus, liebst du so heftig.
Ist denn kein anderer Weg, mich zu bezwingen, als der? —
(78) 'Mit Botanik gibst du dich ab? mit Optik? Was thust du?
Ist es nicht schönrer Gewinn, rühren ein zärtliches Herz?' < —
Ach, die zärtlichen Herzen! Ein Pfuscher vermag sie zu rühren;
Sei es mein einziges Glück, dich zu berühren, Natur!
Goethe müste ein Lump und ein Narr gewesen sein, wenn er so etwas,
von dessen Unwahrheit er schon früher, und vor allem jetzt, überzeugt
sein muste, gegen den Freund hätte drucken lassen. Schiller hat sich
nie an Goethe angedrängt, wie sehnlich er auch seine Bekanntschaft
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Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte. 201
wünschte; ja in der Zeit, wo er auf diese besonders hingewiesen war,
schrieb er die freimütige Beurteilung des Egmout Vor jene Epigramme,
die frühestens 1790 entstanden, fiel die persönliche Bekanntschaft beider.
Schiller war schon mit seinem Don Garlos hervorgetreten, den auch
Goethe unmöglich als Pfuscherei bezeichnen konnte; seine Götter Grie-
chenlands und seine Künstler deuteten gleichfalls auf die entgegen-
gesetzte Richtung. Und seit 1794 war Goethe überzeugt , dasz sie beide
auf dasselbe Ziel mit gleichem Ernst hinsteuerten. Hatte Heller nur
irgend eine Ahnung von dem wirklichen Verhältnisse gehabt und sich die
damalige Litteratur vergegenwärtigt, so würde er wol gewust haben,
welche ganz andere Leute Goethe bei den Pfuschern im Sinne hatte. Epi
gramm 65 ist ein Gegenstück zu 64, und schwerlich auf eine bestimmte
Person zu deuten. Vor solchen Deutungen, wie die Hellerschen, verhüllen
sich deutsche Gründlichkeit und Rechtlichkeit.
Fragen Sie, verehrtester Herr Professor, aber zum Schlüsse, ob
ich denn der weitläufigen Hellerschen Abhandlung gar kein Verdienst zu*
schreibe, so antworte ich, das eines groszen belehrenden Irtums.
Auch ist es mir sehr lieb, dasz Heller ganz von Herzen sich über die
Sache ausgesprochen, und wir endlich wissen, worauf denn seine schon
im Jahre 1861 verkündeten Enthüllungen beruhen. Von den beigebrachten
Parallelen mögen einzelne ihren Werth haben, kaum eine oder die andere
von ihm zuerst gegebene wirft auf den Dichter und die Gedichte selbst
irgend Licht. Das Meiste steht geradezu auf dem Kopfe.
Zu dieser Ausführung sah ich mich durch meine Kenntnis der Sache
verpflichtet. Leider treten in der Goethelitteratur so manche unreife
Erzeugnisse zu Tage, denen man ihr Treiben legen musz, selbst auf die
Gefahr hin, mit dem Vorwurfe belohnt zu werden, es sei einem nichts
rechL als was man selbst gefunden habe , oder mit andern ahnlichen von
Pedantismus , Trockenheit , Vergötterung , die , wenn sie auch der Wahr-
heit zuwider laufen, doch bei den Unkundigen ihres Zweckes nicht ver-
fehlen. Nur genauestes Erforschen aller noch so kleinlich scheinenden
Einzelnheiten fördert die Wissenschaft. Wer könnte hiervon mehr durch-
drungen sein, als Sie? Aber bei Goethe und Schiller macht sich der
Dilettantismus breit, daneben sogenanntes philosophisches Gerede, das
sich anmaszt höher zu slehn als wirkliche sorgfältige Begründung , als
ob es schwer hielte, wollte man sich dazu hergeben, eben so leichtfertig
zu radotieren, wie jene das grosze Wort führenden Herren. Dasz es
nicht so leicht sei über Goethe zu urteilen, sondern gründliche und um-
fassende Kenntnis dazu gehöre, davon wird auch, denke ich, die vorlie-
gende Zurückweisung eines der wunderlichsten Misverständuisse Zeugnis
geben. Sie, hochverehrtester Herr, werden, dieser abgenötigten Darstel-
lung der Wahrheit gern eine Stelle einräumen.
Köln am 31. Dec. 1863. Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ihr ganz ergebenster
H. Dünt&er.
IC. Jahrb. f. Phtl. n. PM. II. Abt. 1864. Hft. 4. 14
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202 Amor und Psyche.
II.
Amor und Psyche.
Mit Ausnahme des Hohenliedes, jener duftigsten Blüte des Orients,
gibt es vielleicht keine Schrift, weder in alter noch in neuer Zeit, die so
viele verschiedene Auffassungen erfahren hat, als die Geschichte von
Amor und Psyche, welche wir aus den Metamorphosen des Ap pu-
le jus kennen, der sie wahrscheinlich aus griechischen Quellen (Aristo-
phontes u. A.) geschöpft hat. Es mag dies einerseits in der philosophisch-
poetischen Haltung des ganzen Romanes liegen, den man etwa teine
Verheimlichung der Mysterien bezüglich ihres moralischen Einflusses' nen-
nen könnte, und auch die Mythe selbst erinnert oft genug an die grie-
chischen Mysterien (man denke nur an die in allen Weihungen herschende
heilige Drei und vergleiche damit den dreimaligen Besuch der Schwestern,
die drei Aufgaben, welche Psyche auf der Erde erhält, die, wie die drei
Blendwerke , welche sie in der Unterwelt verlocken wollen , auch sonst
an die in alle Mysterien gehörigen Prüfungen erinnern); andrerseits konnte
bei dem nach Form und Inhalt abenteuerlich verschlungenen Märchen
schon der Name Psyche, welcher den entpuppten Schmetterling und
somit die von den Banden des Leibes erlöste, frei sich emporschwingende
Seele bezeichnete (Aristot. Hist. Anim, V, c. 19. Plut. Symp. II, 3, 636),
in Verbindung mit Amor, dem Gott der Liebe, leicht zu der Annahme
führen , dasz hinter dem Bilderschmucke des Märchens eine tiefsinnige
Allegorie verborgen sei. Ist es doch überhaupt, wie irgendwo S&hlegei
sagt, 'eine misliche Sache, ein Märchen Erwachsenen vorzutragen. Diese
haben meist schon zu viel im Kopfe, um sich einem ganz unbefangenen
Spiele der Phantasie hinzugeben. Sie können sich nicht vorstellen, dasz
es mit dem bioszen einfältigen Märchen gethan sei ; sie allegorisleren,
sie deuten es , weil sie meinen , es müsse durchaus noch etwas dahinter
stecken.'
So wurde denn auch hier viel allegorisiert und gedeutet. Die drei
Töchter z. B. sind nach Creuzer: das Fleisch, der freie Wille und der
Geist; nach Carus: die Bewustlosigkeit , das Weltbewustsein und das
Selbstbe wustsein. Nach Andern werden darunter sogar die drei Natur-
reiche verstanden. Thorlacius (Opusc. Acad. 1 339) findet in der Ge-
schichte ein Bild von den Gefahren der ehelichen Treue, Hirt (Abh. der
Berl. Akad. v. 1816) und nach ihm Bauer (Symbolik II 2, 234) versteht
unter Psyche die menschliche Seele , die in einem Kerker gebannt , von
zwei Eroten (dem oöpdvioc und dem TrdvbrijLioc — Plat. Symp. VIII 4
ed. F. A. Wolf) umgeben istf A. G. Lange (verm. Sehr. u. Red. J832
S. 142) sieht cin Eros den Genius, den man als den Weltschöpfer be-
trachtete , dein die Natur unterthan ist , der die Geister und die Herzen
bindet; in Psyche die menschliche Seele, wie sie durch eigene Schuld,
durch verderbliche Leidenschaft, Sinnlichkeit und Selbstsucht von jenem
Verbände der Geisterwelt losgerissen , mit sich selbst entzweit, doch von
Sehnsucht nach jenem höchsten Schönen , das nur in Gott ist , und rin-
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Amor und Psyche. 203
geod um jeden Preis nach dem höchsten Gute des innern unvergänglichen
Friedens duldet, arbeitet, zagt, hofft, verzweifelt und durch alles dieses
bewährt und geläutert eingeht in den Wohnsitz der ewigen Götter , zu
himmlischer Verklärung/ Aehnlich hat schon Herder die Mythe aufge-
faszt; er findet in der Geschichte der Psyche f den vielseitigsten, zartesten
Roman, der je gedacht ward, über den schwerlich etwas Höheres auszu-
denken sein möchte.' Herrn. Paldamus dagegen (Rom. Erotik S. 94 u.
95) vermag wegen der Unwürdigen Situation , in der die Geschichte er-
zählt wird, wegen des unedeln Charakters der Psyche usw. cin dieser
Fabel nichts als ein buntes Härchen zu sehen, in welchem eine sarka-
stische Tendenz (die Persiflage der weihlichen Neugier) unverkennbar ist'
und macht darauf aufmerksam, dasz der Name Psyche eben so sehr an
das zu Appulejus Zeiten besonders gebräuchliche 'lascive' Zwt\ Kai Yuxfi
(luv. Sat 6 9 195) erinnere.
Welcher Ansicht nun immer man sich zuwenden mag, ob man darin
eine Geschichte der verirrten, ringenden und endlich wieder zu ihrem
Urquell zurückkehrenden Seele erblickt oder blosz ein buntes Märchen
ohne tieCern Sinn und weitem Zweck — soviel musz wol Jeder zugeben,
dasz die Geschichte einen ganz eigentümlichen, unwiderstehlich fesseln-
den Mi hat, und so ist sie denn von jeher ein Gegenstand des lebhaf-
testen Interesses gewesen und von Dichtern, Malern und Bildhauern wie-
derholt zur künstlerischen Darstellung gebracht worden.
Leider kenne ich von den verschiedenen Bearbeitungen, welche
J. Ch. Elster in seiner (lateinischen und deutschen) Uindichtung der
'Fabel' anführt, nur zwei: die von Wieland und von Ernst Schulze.
Der übrigen konnte ich aller Nachforschungen ungeachtet nicht habhaft
werden. Bekanntlich liesz Wieland die mit groszer Begeisterung begon-
nene Arbeit später liegen, so dasz sie Fragment geblieben ist. Wenn
aber der Spruch ex ungue leonem seine Richtigkeit hat, so würde unter
seiner Feder aus dem Märchen — schwerlich zu Gunsten desselben —
etwas ganz Anderes als die Erzählung des Appulejus geworden sein.
Zwar kennt E. Schulze — damals ein Jüngling von 18 Jahren — nichts
Höheres, als die Eleganz des gefeierten Wieland ('Du Meister in der Kunst
zu malen, Du, dessen Blicken sich die Grazien enthüllt, 0 Wieland male
jetzt des Liebesgottes Bild!* usw.), unstreitig aber hat er sein Vorbild,
von welchem er enur einen Ton der süszen Harmonie' sich verliehen
sehen möchte, an Zartheit und Anmut bei weitem übertrafen. Ist seine
Bearbeitung auch nicht überall frei von dem nachteiligen Einflüsse des
damaligen, eben durch Wieland verbreiteten Geschmackes (z. B. fMan
honte damals noch der Treue süsze Pflicht, In keinem Wörterbuch stand
schon das Wort Kokette; Und wenn man's drin geseh'n, ich wette,
Es wäre Närrin übersetzt9 usw.), so ist sie doch wieder so reich an
heblichen Schilderungen und empfiehlt sich durch einen so melodischen
Zauber der Sprache, dasz ich es mir nicht versagen kann, wenigstens
eine Stelle der reizenden, wenig mehr gelesenen Dichtung hier mitzu-
teilen:
14*
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204 Amor und Psyche.
Betäubt vom wonnigen Genusz
Sank in des Siegers Arm die Schöne. •
Ein süszes Schmachten folgt. Nur leise Liebestöne
Und mancher sanftgeraubte Kusz
Verkünden ihre Lust. Wie eine reine Quelle
Vom Felsenhang sich schäumend niedergieszt,
Doch plötzlich wieder sanft durch ihre Ufer flieszt
Und nur zuweilen noch aufhüpfend mit der Welle
Des Randes Blumen netzt , so schmolz der Wonne Glüh'n
In süsze Ruh'. 0 welche Seligkeilen
Empfand Psycharion ! Ein neues Leben schien
Sich reizend vor ihr auszubreiten,
Ein schön'res Leben , wo ein ew'ges Frühlingsgrün
Der Seele lacht , wo in dem Strom der Zeiten
Die Jahre wol , doch nie die Freuden flieh n,
Wo nie der heit're Aether trübe
Und nie die Flur verödet ist,
Wo man so schnell das Leid , doch nie die Lust vergiszt,
Das Leben der beglückten Liebe.
Was die Bearbeitung von Elster betrifft, die 'nach Art der bekannten
Mythe vom Raube der Kora' episch gehalten ist, so hat der Verfasser
sich 'die Freiheit genommen , einige Scenen eigner Erfindung einzulegen
und einige passende Mythen von neuem einzuführen.' So wird im zwei-
ten Buch die Geschichte von Diana und Endymion eingeflochten , im drit-
ten wird an die Stelle des Thurmes , der bei Appulejus Psyche belehrt,
wie sie den Gefahren der Unterwelt entgehen könne, Mercur gesetzt; in
das fünfte wird die Mythe von Porös und Penia (Plat. Symp. XXIII 5 ed.
Fr. A. Wolf) verwebt u. s. f. Die Form der lateinischen Bearbeitung
ist gefällig, die Hexameter flieszend, so dasz man sie auch wegen dieser
Vorzuge mit Vergnügen liest. Weniger gelungen ist die deutsche Über-
setzung, welche sich häufig nicht zu der Höhe eines nrsprüuglich deut-
schen Gedichts erheben will. Es liegt eben auch in dem Märchen des
Appulejus ein , wenn ich so sagen darf, romantisches Element , das dem
classischen Hexameter nicht ganz günstig erseheint , wiewol eine Probe
von der Umdichtung eines Ungenannten in Wolfs poetischem Hausschatz
(1844 S. 676) für die gegenteilige Ansicht spricht. Beispielshalber lasse
ich die schönen Schluszverse folgen :
Zephyr, der freundliche Gott, er war es, von Eros gesendet.
Leis umfaszt er das Weib und sanft am Felsen hinunter
Gleitend trug er ins Thal in weichen Armen die Holde.
Schmeichelnd küszl er die Wang' ihr; dann läszt auf blumigen Rasen,
Unten im dämmernden Schatten des Thals, er nieder das Mädchen:
Alles, wie ihm geheiszen, vollbracht' er, dann schwebt er von
dannen.
Aber die Jungfrau ruht am Fusz der schirmenden Eiche.
Und mit labendem Weh'n entgleitet Schlummer den Schatten,
Schlieszet leis ihr Aug* und löst ihr die Heblichen Glieder.
Amor und Psyche. 205
Wie denn auch sei — als ich vor mehreren Jahren zum ersten Male
das phantasiereiche, farbenprächtige Märchen näher kennen lernte,
fühlte ich mich von dem zauberischen Dufte dieser Wunderblume in dem
Grade entzückt, dasz ich nicht umhin konnte, den Versuch zu machen,
sie auf deutschen Boden zu verpflanzen. Es schienen mir dabei die selt-
sam wechselnden Scenen und Bilder auch eines gewissen Wechsels der
Einkleidung zu bedürfen, und so webte sich mir, wie die Blumen zu
einem bunten Teppich, gleichsam von selbst Lied an Lied, bald in die-
sem, bald in jenem Ton und Rhythmus — ähnlich wie inFouque"s
poetischer Erzählung fDie Eroberung von Norwegen9 oder in TegneVs
Frithiofssage. Erst später lernte ich die oben genannten Umdichtungen
kennen , und somit hat meine Bearbeitung wenigstens das Verdienst ganz
selbständig zu sein. Bezüglich des Inhaltes habe ich wenig geändert, hie
und da höchstens etwas erweitert oder verkürzt, wie es, eben die Form
eines lyrischen Epos zu fordern schien , meine Nachdichtung sollte ein
treues Abbild der Erzählung des Appulejus sein, auf die Gefahr hin auch
seine Fehler zu teilen. Was den Versbau, namentlich den Reim, an- '
langt , so werden Kritiker Manches darin finden , was sie nach den heut-
zutage wol allzu hoch gespannten Anforderungen verurteilen müssen.
Doch hatte mein bescheidenes opusculum das Glück, trotz dieser Mängel,
von zwei deutschen Dichtern , Joseph von Eichendorffund Justi-
nus Kerner sehr anerkennend beurteilt zu werden, und vielleicht mag
auch die kecke Freiheit der Märchenform gewisse Licenzen des Stiles
entschuldigen. Uebrigens habe ich mir seitdem selbst in der Handhabung
des Reimes engere Kreise gezogen, ohne mich so zu 'beschränken, wie es
viele unserer jetzigen Kritiker wollen, denen auch Uhland's Autorität
in dieser Hinsicht nicht mehr genügt Sed jam ultra depsydram, quod
dicitur. En, ipsa carminis quaedam specimina! Tu vero, candide lector,
fave hisce versiculis qualibuscunque!
I.
Die Königstochter.
Es war in einem Land ein Konig —
Mit Allen leichtlich streiten möcht' er
An Glanz, doch gegen seine Töchter
Galt all sein Schatz ihm klein und wenig.
Und zweie' von den Töchtern schienen,
Ob schön, doch ird'schem Lob erreichbar;
Die jüngste strahlt1 ein unvergleichbar,
Göttlich Gebild an Wuchs und Mienen.
Es war, als ob in ihr Gythere,
Die sanft vom Wellenthau umflossen
Dem blauen Meeresschoosz ensprossen,
Mit Menschen sichtbarlich verkehre.
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206 Amor und Psyphe.
Und freudig scholl's von Mund zu Munde,
Wie jetzt beglückt die Erde trage
Das schönste Wunder aller Tage —
und weit und weiter drang die Kunde.
Und statt zu Cypria zu beten
Wollt* Alles nun die Jungfrau ehren ;
Mit Opfergaben, Kränzen, Chören
Sah man das Volk vor sie nur treten.
In Paphos, in Cythera stunden,
In Guidos leer der Gottin Tempel —
Der Schönheit glorreichstes Eiempel
Allein in Psyche schien gefunden.
V.
Die Vermählung.
Auf blühender Au
Benetzt vom Tbau
Die Holde lag in Schlummer,
Und da sie erwacht
Vom Traume sacht,
Getröstet war rar Kummer. •
So sonnig die Luftf
So womig der Duft*
Im Haine luftig rauschet
Und blinket heil
Ein silberner Quell —
Sie steht und schaut und lauschet.
Sieh! dort erhebt
Ein Schlosz sich und strebt
Hinauf, wo die Lüfte blauen ;
Nicht Menschenfleisz,
Nur Göttergeheisz
Vermochten solch Schlosz zu bauen.
Von Edelgestein
Untf Elfenbein
Der Kuppel Wölbung blitzet:
In güldenem Glanz
Der Säulen Kram
Den Bau umschlinget und stützet.
Gethier und Wild
Im buntesten Bild
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Amor und Psyche. 207
Die Wände zieret , die reinen ;
Das Estrich strahlt
Vielfältig bemalt
Von flimmernden, schimmernden Steinen.
Von Golde der Saal,
Die Kammern zumal,
Die Hallen, dje Worten von Golde,
Sie leuchten als ob
Die Sonne darob
Ihres Lichtes sich schämen sollte.
Und rechts und links
Wie blinket rings,
Wie blendet der Schätze Gefunkel!
Rubin hier lacht,
Dort glitzern Smaragd,
Demant, Hyacinth und Karfunkel!
Und Psyche zagt
Und staunet und wagt
Doch endlich hinein sich, dreister,
Und um sie flirrt's
Und flinunert's und wirrt's
Wie webende, schwebende Geister.
Es grflszt so traut
Mit süszem Laut —
Unsichtbare Stimmen flüstern —
Und wie es lockt,
Der Odem ihr stockt
Und stürmet, so bange, so lüstern.
Es grüszt so traut:
'Du süsze Braut,
Und willst du nicht ruh'n auf dem Mühfe?
Es ladet so fein
Zum Schlummern ein
Des Abends labende Kühle.
Wie'n duftiger Traum
Weht's durch den Raum
Hit süszen , schmeichelnden Hauchen — .
Die Welle schwillt
So zärtlich, so mild —
Willst drein die Glieder nidht tauchen?
Und siehst du, wie hier
In festlicher Zier
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208 Amor und Psyche.
Die Tafel Früchte besetzen?
Es perlet 50 rein
Im Glase der Wein —
Und willst du nicht dran dich erletzen?9
Und sfisz verwirrt
Die Bezauberte irrt
Und weisz nicht was sie erküre,
Ob dem schwellenden Pfühl,
Ob der Welle so kühl,
Ob den Früchten der Vorzug gebühre.
Und weil sie noch wählt
Und sinnt und sich quält,
Da sind ihr die Sinne zerronnen :
Es schlieszet zur Ruh'
Das Auge sich zu
Von Schlummers Fäden umsponnen
Sie träumet und ruht;
Es schäumet die Fluth,
Und heftiger tönt ihr Geräusche
Und wecket sie bald —
Und die Wog' umwallt
Liebkosend die Brust ihr, die keusche.
Den süszen Leib
Das herrliche Weib
In den kühligen Fluthen badet,
Dann setzt sie sich frisch
Und frei an den Tisch,
Der mit würzigem Dufte sie ladet.
Und isset und trinkt —
Und horch! es erklingt
In Tönen, bald leisen, bald kecken,
Zur Flöte Gesang
Und Zitherklang —
Wo mag sich der Sänger verstecken?
Wohin sie auch schickt
Das Aug', sie erblickt
Nicht, dem sich die Töne entschwingen;
Aus Luft gewebt,
Der Luft entschwebt
Erhebt sich das Klingen und Singen.
Das Spiel verstummt; —
In Nacht vermummt
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Amor und Psyche. 209
Die Hallen liegen, die langen;
Lautlos die Nacht :
Die Jungfrau wacht
Und zittert in bangem Verlangen.
Horch! lind und ieis
Ein Ton! Und heisz
Und kalt durchrinnt's ihr die Glieder.
*WiIlst ruh'n bei mir,
Süsz Liebchen, hier?
Dich lieb' ich — und liebst du mich wieder?'
Und wollustig traut
Liebflüsternder Laut
Und Küssen und Kosen und Kosten —
Und wie er kam,
Der Bräutigam
Enteilt — und es dämmert im Osten.
XII.
Das entschleierte Geheimnis.
Einsam trauert Psyche und alleine,
Doch im Busen Furiengewühl ;
Ob ihr auch mit schaurig hellem Scheine
Winkt das festgesteckte blut'ge Ziel :
Wie die Welle wankt
Dennoch sie und schwankt
In der streitenden Gefühle Spiel.
Was sie keck jetzt eilt , verschiebt im nächsten
Augenblicke wieder scheue Wahl —
Wie sie wagt! erzittert! wie zum höchsten
Gipfe) wachsend steigt des Herzens Qual!
In demselben Leib
Haszt das arme Weib
Ach! das Unthier und — liebt den Gemahl.
Doch wie mählig nun der Abend sinket
Hat sie in dem heiszen Kampf gesiegt :
Und die Lampe strahlt, das Messer blinket —
Und die Nacht ist da : in Schlaf gewiegt,
Dem noch süszen Spiel
In die Arm' er fiel,
Schon der Gatte, tiefer athmend, liegt.
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210 Amor und Psyche.
Sachte richtet bald sich auf die Wache,
Zitternd sie den Odemzügen lauscht —
Und dann rasch empor! Die sonst so Schwache
Scheinet jetzt von wilder Kraft berauscht;
Sie ergreift den Stahl
Und das Licht zumal —
All ihr Wesen ist wie umgetauscht.
Zu der That sie schreitet ohne Säumnis —
Aber wie beim ersten Strahl des Lichts
Aufgehellt erscheinet das Geheimnis,
Sieht sie — ach ! sie sieht , und siebet nichts —
Kaum dem Aug' sie traut,
Wie sie ruhend schaut
A m o r ' n glaazumstrahlten Angesichts.
Todtenbiasz sinkt auf die Kniee die Arme,
Gegen ihre Brust den Stahl gekehrt —
Doch ob es der Schönheit sich erbarme,
Gleitet aus der Hand das fromme Schwert.
Also schreckenmüd
Sie vor'm Bette kniet,
All ihr Sinn zerschlagen und verstört.
Aber wie sie dann die göttlichschönen,
Himmlischhellen Züge öfter schaut,
Fühlet in der Brust ein weiches Tönen,
Milden Frieden fühlt die Götterbraut.
Wie die Wang' ihm blüht
Purpurüberglüht!
Wie das Haupt ihm von Ambrosia thaut!
Wie der Locken lieblich Wogen schweifet
Um des liljenweiszen Nackens Saum!
Wie sich , sanft von Perlenthau bereifet,
Um die Schultern schmiegt der Schwingen Flaum!
Wie der Athem mild
Seinem Mund entquillt!
Wie er lächelt, als in losem Traum!
Also liegt er linde hingegossen,
Ros'ge Gluth den zarten Leib durchhaucht,
Wie der schönsten Göttin er entsprossen,
Ist in Schönheit ganz er selbst getaucht —
Und am Bett umher
Blinkt des Gottes Wehr,
Erst zu süszen Wunden noch gebraucht.
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Amor und Psyche. 211
Aufgelöst in seliges Beschauen
Staunet sie — und so in trunknem Spiel
Greift sie nach den Pfeilen > ohne Grauen,
Deren gflldner Sehein dem Aug> gefiel.
Doch der Pfeil, gespitzt,
Leicht den Finger ritzt,
Dasz ein rother Tropfen niederfiel.
Vollends nun zum Liebesgott in Liebe
Ist ihr wonnetaumelnd Herz entbrannt,
Und mit lechzend wolktstheiszem Triebe
Küsset Mund sie ihm und Stirn und Hand;
Dasz er nicht erwacht,
Hat sie kaum noch Acht,
Ganz durchlodert von der Flammen Brand.
Aber ach in ihres Herzens Wallen
Wanket sie und — ob von Neid verführet?
Ob der Lampe selbst der Gott gefallen,
Dasz sie ihn zu küssen Sehnsucht spürt? —
Ach sie zittert, bebt —
Und ein Tropfen schwebt
Und des Schlafers rechte Schulter rührt
Arge Lampe, keckste aller kecken 1
Dasz dich treffe ew'ge Dunkelheit!
Must noch deines Herren Leib beflecken,
Da du sein Geheimnis schon entweiht?
Du, die Menschenhand
Bildend nur erfand,
Bringst dem Gotte, ach, solch Herzeleid! —
Aus dem Schlaf geschreckt vom Lager hebet
Der Gebrannte sich in raschem Sprung —
Sieht den Treubruch trauernd und entschwebet
Schweigend himmelan in leichtem Schwung.
Aber mit ihm fliegt
Psyche, angeschmiegt
In verzweifelter Umklammerung.
Doch nicht lang kann sie sich schwebend halten
Und sie sinkt zur Erde müd und matt —
Und ist Amor ihr auch ungehalten,
Dennoch ward er ihrer noch nicht satt:
Schnell vom hohen Raum
Zum Gypressenbaum
Fliegt er, wo ihn decket Blüth1 und Blatt.
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212 Amor und Psyche.
Und er klagt in schmerzenvollem Tone :
*Gute Psyche , ach du weist es nicht,
Wie ich, dir zu leih'n die Götterkrone,
Schwer verletzte meine Sohnespflicht.
Paphia, ergrimmt,
Hatte dir bestimmt
Zum Gemahl den allerschlecht'sten Wicht.
Aber ich , zur Rache ausersehen,
Ward statt Rächer — Bräutigam vielmehr.
Ach, jetzt büsz* ich leider mein Vergehen,
Büsze meine heisze Liebe schwer.
Der sonst Andre schosz,
Ach, ich selbst genosz
Meiner Pfeile Schmerzen nur zu sehr.
Ja, zur Gattin must' ich dich erkiesen,
Dasz ich dir ein Ungethüm erschien',
Dasz du mit dem scharfen Messer diesen
Nacken trennen wollt'st vom Haupte kühn!
Und ich warnte dich
So herzinniglich!
Doch gehorchte nicht dein blöder Sinn.
Aber jene falschen Ratherinnen,
Deren frevle Zunge dich bethört,
Meiner Rache soll'n sie nicht entrinnen!
D i r sei meine Nähe nur verwehrt !' —
Sprach's und sich entschwang —
Und die Hände rang r
Psyche , noch den Blick nach ihm gekehrt.
Aber höher hub er sich und höher;
Bis sein holdes Bild ihr ganz entschwand,
Und im Herzen ward ihr weh und weher,
Und sie stürzt sich von des Ufers Rand —
Doch der Strom mit Lust
Nimmt sie an die Brust,
Trägt hinüber sie zum Blumenstrand.
Heinrieh Stadelmann.
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen. 213
Berichte aber gelehrte Anstalten, Verordnungen, statistische
Notizen, Anzeigen von Programmen,
(Fortsetzung von S. 168.)
Die von den Abiturienten bearbeiteten Themata zum deutschen
Aufsatz waren folgende:
1. Braunsberg. 1) Ob wol die Hoffnung für den Menschen auch
eine Quelle von Uebeln sein könne? 2) Res adversae admonent reli-
gionis.
2. Gulm. 1) Welche Bedeutung haben die Worte: 'Mit Gott für
König und Vaterland?/ 2) Welche Gedanken werden in mir rege bei
dem Ausruf: 'Was wird die Zukunft bringen?'
3. Danzig. Inwiefern kann man die Dichter Lehrer der Mensch-
heit nennen?
4. Deutsch-Crone. 'Was verlangt die Wissenschaft von ihrem
Jünger?' Reflexionen eines Jünglings, der sich der Wissenschaft wid-
men will.
6. El hing. 1) Welches sind die Ursachen der Todesfurcht?
2) Nicht der ist auf der Welt verwaist, | Dessen Vater und Mutter
gestorben; | Sondern der für Herz und Geist | Keine Lieb1 und kein
Wissen erworben. Rückert.
6. Gumbinnen. Der Uebel größtes ist die Schuld.
7. Hohenstein. 1) Alles Grosze in der Weltgeschichte ist von
Einzelnen, nicht von der Masse, ausgegangen. 2) Um welche Zweige
der Litteratur hat Lessing sich vornehmlich verdient gemacht?
8. Insterburg. 1) Non omnia apud priores meliora. 2) Quod
adest memento componere aequus.
9. Königsberg, a) Altstadt. Gymn. 1) Welche Bedeutung hat
für das Wol und die Würde des Menschen seine Arbeit? 2) Held und
Dichter.
b) Friedrichs - Collegium. 1) In dir ein edler Sclave ist, dem du
die Freiheit schuldig bist. 2) Die Werthschätzung des menschlichen
Lebens: wodurch dieselbe bewirkt, erhöht, verringert werden könne.
c) Kneiphöfisches Stadt-Gymnasium. 1) Hoffnung und Mäszigung,
euch verehr1 ich auf einem Altäre, [Jene nur wecket die Kraft, diese
nur sichert den Sieg. (Nach Herder.) 2) Und ich weisz nicht, was
es frommt, | Aus der Welt zu laufen. | Magst du, wenns zum Schlimm-
sten kommt, ] Auch einmal dich raufen« Goethe.
'10. Konitz. 'Mens sana in corpore sano', der beste aller irdi-
schen Wünsche.
11. Lyck. 1) Warum sind so Viele mit ihrer Lage unzufrieden?
2) Ein edler Mensch kann einem engen Kreise | Nicht seine Bildung
denken; Vaterland | Und Welt musz auf ihn wirken. Ruhm und Tadel |
Musz er ertragen lernen. Sich und andern | Wird er gezwungen recht
zu kennen. Ihn | Wiegt nicht die Einsamkeit mehr schmeichelnd ein. |
Es will der Feind — es darf der Freund nicht schonen; | Dann übt
der Jüngling streitend seine Kräfte,"] Fühlt was er ist und fühlt sich
bald ein Mann.
12. Marienwerder. Königl. Gymn. 1) Wie erwirbt man sich
Vertrauen? 2) Ein rechter Baum, der seine guten Früchte trägt, f
Der wünscht nicht seine Blüte sich zurück, | Und wem ein männlich
Herz in seinem Busen schlägt, | Seufzt nicht mit Wehmut nach der
Kindheit G\jjck.
13. Rastenburg. 1) Woher kommt es, dasz sich die Menschen
durch das Unglück Anderer so selten warnen lassen? 2) Der werde
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214 Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , stallst. Notizen.
nie von dir erlesen, | Der nie sein eigner Freund gewesen. | Wer blosz
sein eigner Freund gewesen, j Der werde nicht von dir erlesen.
14. Thorn. 1) Welche Berechtigung hat neben der sittlichen und
der wissenschaftlichen Ausbildung die körperliche und die gesellschaft-
liche? 2) Läszt sich in den homerischen Gedichten und dem Nibelun-
genliede die Verschiedenheit der Völker und Himmelsstriche, unter
welchen diese Dichtungen entstanden, an bestimmten Kennzeichen
nachweisen?
15. Tilsit. Dem Unglück ist die Hoffnung zugegeben, Furcht soll
das Haupt des Glücklichen umschweben, denn ewig wanket des Ge-
schickes Wage.
Die von den Abiturienten bearbeiteten Themata . zum lateinischen
Aufsatz waren folgende:
1. Braunsberg. 1) Alcibiadem in rebus gerendis cupiditatjbus
magis quam patriae commodis inservisse. 2) Virgilianum illud: fTu
ne cede malis, sed contra audentior ito' quibus maxime temporibus
Romani re comprobaverint, historiae teste docetur.
2. Culm. 1) Rebus adversis fortium virorum animos non vinci sed
augeri rebus Romanorum et Graecorum probetur. 2) Poetae yirtutis
praecones sunt.
3. Danzig. Aristides Atheniensis quibus rebus de patria sna et
de universa Graecia bene meruerit, exponatur.
4. Deutsch-Crone. Quo jure illud dictum sit: Cedant arma to-
gae, concedat laurea laudi.
6. Elbing. 1) Darius *ex quas res ante bellum Persicum gesse-
rit, exponatur. 2) M. Furium ' Camillum merito alterum Romulum esse
appellatum.
6. Gumbinnen. Aristotelis illud: Oö iravxdc dvopöc cp^peiv ctixu-
Xiav illustretur exemplis ex rerum graecarum et romanarum historia
delectis.
7. Hohenstein. 1) Quam mobilis sit aura popularis exemplis ex
Totere memoria petitis demonstretur. 2) Saepe tueri bona quam pa-
rare difficilius fuisse ex populorum annalibus demonstretur.
8. Insterburg. 1) Solon et Lycurgus inter se comparantur. 2)
Cicero et Demosthenes inter se comparantur.
9. Königsberg, a) Altstadt. Gymn. 1) Hippias Athenis, Roma
Tarquinius expulsus. 2) De Agrippa et Maecenate.
b) Friedrichs-Collegium. 1) Quibus civium virtutibus magna facta
sit respublica Romana? 2) De Horatio antiquae yirtutis Romanae lau-
datore.
c) Kneiphöfisches Stadt- Gymnasium. 1) Num recte dixerit Solon,
neminem ante mortem dici posse beatum. 2) Quo animo cives ingra-
tae patriae injurias ferre deceat.
10. Konitz. In Sulla secuta est honestam causam non honesta
victoria.
11. Lyck. 1) Öur Caesar in Gallia, terra magna et frequenti,
vincenda nunquam visus est esse timore affectus, ad Rubiconem hae-
sitans substitit? 2) Quibus rebus impediti Graeci in unam quandam
civitatem coalescere non potuerunt?
12. Marienwerder. Königl. Gymn. 1) Mithridates felieitate Bul-
lae, yirtute Luculli, magnitudine Pompeji debilitatus et fractus est.
2) De admirabili senatus populique Romani in rebus adversis fortitu-
dine et constantia.
13. Rastenburg. 1) Quibus maxime rebus factum sit, ut loci
natura et moribus disjuncti Graeci continerentur. 2) De Thrasybulo
libertatis Athenarum vindice.
14. Thorn. 1) Quam vim locorum natura in res GraeHorum publi-
cas exercuerit, exponatur. 2) Quomodo factum est, ut Athenienaium
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Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , staust. Notizen. 215
expeditio Sieiliensis et ipsa irrita esset et longe majori« calamitatis
causa fieret?
16. Tilsit Bis ex eodem municipio salutem orbi imperioque Ro-
mano esse missam.
Provinz Westphalen 1863.
1. Arnsberg]. Zum Ersatz für den als Oberlehrer an das Gymna-
sium zu Rheine berufenen Gymnasiallehrers Dr. Temme trat als pro-
visorischer Lehrer der Candidat Schillings in das Collegium ein, der
bisher am Gymnasium zu Culm mit der Erteilung mathematischen, phy*
sikalischen und französischen Unterrichts betraut gewesen war. Der
Candidat Wittler, der sein gesetzliches Probejahr beendet hatte, er-
teilte Aushülfe. Der bisherige wissenschaftliche Hülfslehrer Dr. Brie-
den wurde als fünfter ordentlicher Lehrer definitiv angestellt. Lehrer-
kollegium: Director Dr. Ho egg, die Oberlehrer Pieler, Kautz, Lay-
mann, die Gymnasiallehrer Noeggerath, Dr. Schürmann, Hake
(zugleich Religionslehrer), Schillings (pro vis.), Dr. Brieden, techn.
Lehrer Harturfg, Candidat Wittler, evang. Religionslehrer Pfarrer
Bartelsmann. Schtilerzahft 226 (I 33, II 68, III 61, IV 33, V 21, VI 80).
Abiturienten: 18. — Den Schulnachrichten geht voraus eine Abhandlung
des Directors Dr. Ho egg: De aliquot Horatii carminibus commentatio.
20 S. 4. Non tarn id egi, ut.nova proferrem, quam ut, quae recte a
viris doctis disputata vidsrentur, probarem, interpretationes contra mi-
nus idoneas conjecturasqüe infirmas refutarem. Die behandelten Stel-
len sind: I 1; 2, 35—40; 7.
2. Bielefeld]. Gymnasium und Realschule. In dem Lehrercolle-
gium traten im Laufe des Schuljahrs folgende Aenderungen ein. Als
Lehrer trat ein Cr am er; mit Neujahr trat Oberlehrer Bertelsmann
in Ruhestand; zu Ostern trat ein Candidat Meier, definitiv angestellt
wurde Lehrer Reibstein. Lehrercolleginm : Director Dr. Schmidt,
Prof. Hinzpeter, Prof. Jüngst, Oberl. Collmann, G.-L. Rüter,
Wortmann, Dr. Lüttgert, Dr. Rosendahl, Cramer, Reibstein,
Schröter, katholischer Religionslehrer Pfarrer Plant holt, Candidat
Meier. Schülerzahl des Gymnasiums: 159 (I 6, II 14, III 40, IV 20,
V 62, VI 37), der Realschule: 68 (I 1, H 11, III 32, IV 24). Abitu-
rienten: 11 (vom Gymnasium) und 3 (von der Realschule). Den Schul-
nachrichten geht voraus eine Abhandlung des Dr. Lüttgert: Mytholo-
gie, Glauben, Cultus der Griechen und Römer, vom Standpunkte des Chri-
stentums aus betrachtet. 26 S. 4. Der vorliegende Aufsatz, ursprüng-
lich ein Vortrag zum Besten des Gustav- Adolph- Vereins gehalten, hat
den Zweck, solche Leser zu belehren, die mit den Resultaten der my-
thologisch-antiquarischen Forschung unbekannt sind. Es ist dem Ver-
fasser darum zu thun, in der Religion der Alten, die in die drei Be-
griffe der Mythologie, des Glaubens und des Cultus zerlegt ist, die ur-
sprüngliche Offenbarung, also die Aehnlichkeit zwischen der christlichen
Religion und ihrem heidnischen Gegenbilde nachzuweisen, also dem
Gottesbewustsein in den heiligen Sagen der Alten, ihren Gottesdiensten
usw. nachzugehen.
3. Bbilon]. Gleich nach dem Beginn des Schuljahrs trat der Can-
didat des höhern Schulamts Berthold als prov. Lehrer in das Colle-
gium ein, wodurch die Lücke wieder ausgefüllt wurde, welche durch
den Austritt des jetzigen Oberlehrers Peitz zu Büren entstanden war.
Der Gymnasiallehrer Weber erhielt die nachgesuchte Quiescierung;
für dessen Stelle ist der geistliche Schulamtscandidat Mette gewonnen.
Lehrercollegium: Director Dr. Schmidt, die Oberlehrer Becker, Dr.
Kudolphi, Dr. Kirchhoff, die Gymnasiallehrer Leinemann,
Franke, Dr. Kemper, Berthold, Harnischmacher, Mette.
Schülerzabl: 273 (I 67, II 84, III 56, IV 26, V 23, VI 17). Abiturien-
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216 Berichte Aber gelehrte Anstalten , Verordnungen , staust. Notizen.
ten: 21. — Ben Schalnachrichten gehen voraas: Bemerkungen des
Oberlehrers Becker über die pr&videntieUe Bedeutung der Stadt Alexan-
dria. 16 -S. 4. Die Aufgabe , welche sich der Verfasser gestellt hat,
besteht in der Beantwortung der Frage: Welche Dienste sollte das von
Alexander in Aegypten erbaute Alexandrien späterhin dem Christentum
leisten nach den Rathschlüssen der göttlichen Vorsehung. Um diese
Frage beantworten zu können, macht er zuvor klar, was Alexandria
war während der drei ersten Jahrhunderte seiner Gründung bis zu der
Zeit, wo der Evangelist Markus von Rom her kam und zuerst in Ale-
xandria den Samen des Christentums ausstreute. Dieses wird nach den
drei Seiten hin im Einzelnen betrachtet: Alexandria war 1) die gröste
Handelsstadt der damaligen Welt; 2) Sitz der Wissenschaften und
Sammelplatz aller Gelehrsamkeit; 3) Sitz eines philologischen und re-
ligiösen Synkretismus, der in der Geschichte ohne Beispiel sein dürfte.
4. Bübgstbinfuat]. Das Lehrercollegium des Gymnasiums Arnol-
dinum, besteht aus folgenden Mitgliedern: Director Ro>dewald, die
Oberlehrer Heuermann, Kysaeus, Schütz, Klostermann, die
Gymnasiallehrer Orth, Dr. Kleine, Viefhaus, Da Banning, -die
Hülfslehrer Dr. Es ch mann, Lefholz, Candidat Natorp. Schäler-
zahl (den Classen I — IV gehen 4 Realclassen parallel) : 107. Abiturien-
ten des Gymnasiums: 4, der Realschule: 3. Den Schulnachrichten geht
voraus eine Abhandlung des Oberlehrers Schütz: Ueber Segurs hi~
stoire de Napple*on et de la grande arme'e p^ndant l'anne'e 1812. 1 TL
34 S. 4. Der Verfasser erzählt zuerst das Leben und die litterarische
Wirksamkeit Segurs, führt dann die bedeutenderen Werke über den
russischen Feldzug auf, die vor Se'gur erschienen, berichtet über die
Kritiken, die Segur erfuhr, am ausführlichsten und feindlichsten von
Gourgand, vergleicht dieselben mit dem Werke Segurs, charakterisiert
dasselbe nach seiner formellen und materiellen Bedeutung und wendet
sich im 2. Abschnitt zur Prüfung des historischen Gehalts. Die Fort-
setzung soll in einem späteren Programm erscheinen.
5. Corsfbld]. Mit dem Beginne des Schuljahrs übernahm Dr.
Wennemer, bisher Lehrer an dem Coli egium Augustinianum zu Gaes-
donk, die durch den Tod des Oberlehrers Dr. Teipel erledigte dritte
Oberlehr erstelle, die demselben einstweilen provisorisch auf ein Jahr
übertragen war. Der Schulamtscandidat Bockhorst beendigte sein
Probejahr. Die interimistische Fortführung des durch den Tod des
Zeichnenlehrers Marschall unterbrochenen Unterrichts übernahm der
Gymnasialgesanglehrer Koch. Lehrercollegium: Director Prof. Dr.
Schlüter, die Oberlehrer Prof. Rump, Hüppe, Dr. Wennemer
(prov. geistl. Oberlehrer); die ordentlichen Gymnasiallehrer Oberlehrer
Buerbaum, Bachoven von Echt, Esch, t)r. Huperz, Dr. Sche-
rer, wiss. Hülfslehrer Dr. Lenfers, evangel. Religionslehrer Hofpre-
diger Dr. Boelitz, Gesanglehrer Koch, Schulamtscandidat Terbrüg-
gen. Schülerzahl: 129 (1* 16, Ib 16, II» 21, Ilb 14, IH« 17, III»» 12,
IV 16, V 8, VI 10). Abiturienten: 12. — Eine wissenschaftliche Ab-
handlung ist dem Jahresbericht nicht beigegeben.
6. Dortmund], Gymnasium und Realschule I. Ordnung. Der Re-
ligionslehrer Pfarrer Kerlen gieng ab; an seine Stelle trat Pfarrer
Köhler. An Stelle der Kapläne Schiigen und Manegold traten
die Kapläne Schulte und Gödde. Gymnasiallehrer Jenner gieng
an die höhere Bürgerschule zu Solingen. Quinta wurde in 2 Cötus ge-
teilt, in Folge dessen zwei neue Lehrerstellen gegründet sind; so tra-
ten als Lehrer und Hülfslehrer ein Cand. Radebold von der höhern
Bürgerschule zu Schwelm, Cand. Dr. Sachs und Cand. Schmidt.
Sexta soll auch in zwei Cötus geteilt und eine neue Lehrerstelle ge-
gründet werden. Der Bau des neuen Gymnasialgebäudes ist begonnen.
Lehrercollegium: Director Dr. Hildebrand, die Oberlehrer Dr. B,öh-
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, staust. Notizem 217
me, Voigt, Dr. Gröning, Dr. Junghaus, Varnhagett, Schramm,
die ordentlichen Lehrer Dr. Natorp, Wez, Radebold, Dr. Sachs,
ßokohl, Mosebach, die Hülfslehrer Bode, Schmidt, evangelische
Religionslehrer Pf. P rühmer und Köhler, katholische Religionsleh-
rer Probst Wiemann, Capläne Schalte and Gödde. Schälerzahl:
323 (I 23, II 14, UI 29, IV 82, V 66, VI 65, Ir 5, Ilr 18, Illr 26,
IV r 46). Abiturienten des Gymnasiums: 12, der Realschale: 1. — Die
wissenschaftliche Abhandlang fehlt.
7. Güeteesloh]. Gymnasium. Dr. Renner trat als Hülfslehrer
ein. Lebrercollegium : Director Dr. R u m p e 1 , die Oberlehrer Schatt-
ier, Scholz I, Dietlein, die Gymnasiallehrer Dr. Petermann,
Scholz II, Muncke, Dr. Vorreiter, Goecker, Hülfslehrer Pastor
Braun, Röttig, Dr. Renner. Schülerzahl: 187 (I 43, II 46, III 32,
IV 24, V^3, VI 19). Abiturienten: 5. — Den Schulnachrichten geht
voraus eile Abhandlung des Director Dr. Kumpel: Ueber Wesen und
Bedeutung des Wunders. 26 S. 4. (Ursprünglich ein Vortrar in der
Versammlung des Gustav-Adolph -Vereins zu Bielefeld gehalten!) Wun-
der, definiert der Verfasser, sind besondere Thaten und Werke Gottes
als besondere "und ausz erordentliche Offenbarungen des lebendigen all-
mächtigen Gottes, um den Glauben im Menschen zu erwecken und zu
stärken, um überhaupt das Reich Gottes auf Erden zn gründen, zu er*
halten, zu fördern und auszubreiten. Der persönliche Glaube ist schon
ein Wunder, eine auszerordentliche Offenbarung Gottes im Menschen«
Dayon sind die Wunder der heiligen Schrift dem Wesen nach nicht
verschieden. Die Wunder sind normal, sie geschehen überall, wo
lebendiger Glaube vorhanden ist. Die Ueb erwindun g der Feinde des
Christentums im Laufe der Geschichte ist ein deutliches Wunder. Das*
aber die Wunder nicht ungleich mehr gewirkt haben, das kommt daher,
dasz man nachher ihr inneres Wesen ignoriert uud die Thatsachen als
aas der natürlichen Kraft des Menschen hervorgegangen ansieht; in
das Geheimnis des Wunders werden nur die eingeweiht, welehe daa
Geheimnis des Glaubens kennen, Die Leugnung der Wunder hängt
zusammen mit der Leugnung des persönlichen Gottes. Ganz nichtig ist
der Einwurf gegen die Wunder, dasz durch dieselben die von Gott ge-
gebenen Naturgesetze umgestoszen würden; greift doch jeder Mensch
stündlich in die Naturgesetze ein, ohne dasz sie gestört werden. Die
Einwendungen gegen die Wunder gehen auch nicht vom Verstände aus,
sondern vom Willen. Sie sind seiner Zeit auch vorgebracht gegen das
Wunder der Franckeschen Stiftungen. Ein ähnliches groszes Wunder
ist in unseren Tagen die Erneuerung des christlichen Glaubens, die
dadurch hervorgerufenen Werke. Es ist aber verkehrt, in der Not auf
Gottes Wunder rechnen und die Hülfe, die er auf ordentlichem Wege
in unserer Kraft oder des Andern Beistand darbietet, verschmähen zu
wollen; auch die natürliche Ordnung ist Gottes Werk.
8. Hamm]. Das Lebrercollegium, in welches der nene Lehrer
Weiand eintrat, bilden folgende Mitglieder: Dir. Dr. Wendt, Prof.
ßempel, Prof. Dr. Stern, Oberl» Dr. Schnelle, die Gymnasiallehrer
Dr. Heraus, Oberl. Hopf, Dr. Reidt, Dr. Behrns, Brenken,
Weiand, evang. Religionsl. Pf. Platzhoff, kath, Religionsl. Caplan
Trippe. Schülerzahl: 174 (I 11, H 21, IH 86, IV 24, V 30, VI 52).
Abiturienten: 6. — Den Schulnachrichten geht voraus eine Abhandlung
des G. L. Dr. Reidt: Themata zu mathematischen Arbeiten für Schüler.
24 S. 4.
9. Hbbpobp], An die Stelle des Gymnasiallehrers Nieländer, der
nach Landsberg gieng, trat Arendt. Die Leitung der neu eröffneten
Vorschule übernahm Norrmann von Berlin; Religionslehrer Pastor
Kleine schied aus. Lehrercolleginm: Dir. Dr. Wulfert, die Oberl.
N. Jahrb. f. Phll.u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 4. 15
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218 Bericht* iber gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen.
?ik>& Df\ Hälseher, Dr. K noch e, Dr. Mark er, die Gymnasiallehrer
©tri, Dr* Fab er , Arendt, Haase, e.vang. Religionslehrer Deck.
Heising, Norrmann. Schülerzahl: 129 (I 11, H 14, IH 27, IV 24,
V 26, VI 28). Abiturienten: 5. — Den Schulnaehrichten geht voraus
eine Abhandlung des Oberlehrer Dr. Knoche: Untersuchungen über det
Prokluf Dwdottos Gommentar zu Euklid1 e Elementen. 22 S. 4. .Der Cem-
njentar des Proeins zum ersten Buch des Euklid ist seit der edit
princ, der Heryagiana von 1533, nicht wieder gedruckt; den Text be-
zeichnet der Verfasser als verdorben und lückenhaft. Eine lateinische
Uebersntzung erschien 1560 von Fr. Barooius zu PadUa, werthvoll durch
die, zugefügten Figuren; die Lücken der Hervagiana hat Barecius nicht
' ergänzt (bis auf eine), und seine Ha*, sind daher ebenfalls mangelhaft
gewesen oder er hat mit der Berufung auf dieselben die Leser ge-
täuscht. Die Schreibart des Proclua ist oft von ermüdender Breite.
Sein Werk ist hauptsächlich Cbmpüation und für die Gescnichte der
Mathematik in, dieser Hinsicht nicht unwichtig, er hat aber auch eigene
Zusätze geliefert, die sieh nachweisen lassen. Die Bedeutsamkeit der
Schrift istt aber nicht in ihrem mathematischen, sondern in ihrem philo-
sophisch-theologischen Teile zu suchen; die mathematischen Grundbe-
griffe seilten ihm nur für seine philosophischen Deduetionen dienen,
daher hat er die CT©*x*ia später nicht fortgesetzt.
IQ. Mjhpkn]. Gymnasium und Realschule. An die Stelle das ver-
storbenen Director» Wilms trat Dr. Gandtner vom Gymnasium zu
Greifswald» Lehrercollegium: Director Dr. Gandtner, die Oberlehrer
Zirllmer, Dr« Dornheim, JDtr. Güthling, Schütz, Haupt, die
Gymnasiallehrer Quapp, Freytag, Dr. Grosser, Meyerheim,
jt-niebe, Candida* Klöne, kath. Religionslehrer Pastos Dieckmann.
Schüteraahl: 268. (I 9, II 22, III &9, IV 19, V 61, VI 31, Ir 8, II r 21,
IHr 3,7, IV r 31). Abiturienten: 2. — Den Schulnachrichten geht vor-
aus % JDte Elemente der analytischen Gemometrie, für den Schulunterricht
bearbeitet. Von Director Dr. Gandtner. 44 S. 8.
11. MirstffTsa}. Mit dem Anfange des Schuljahres verliesz die
Anstalt Dr. Grosfeld, um als Director die Leitung des neu errichte-
ten Gymnasiums au Rheine zu übernehmen. In die durch dessen Aus-
scheiden erledigte ordentliche Lehrerstelle wurde der erste Oberlehrer
am Gymnasium zu Kempen, Dr. Bo.hle, berufen. Mit dem Anfange
des Schuljahres verlies&en ferner die Anstalt, die bisherigen Candddaten
Horstman, um zu Vreden, Berthold, um zu Brilon, Broekhues,
um zu Essen als Hülfsiehret einsutreten. Gandidat Dr. Offenbeck
trftt mit dem Anfange des Schuljahres als aushelfender Lehrer, die
Kandidaten Dur. Hechel mann und Gudermstn* zur Abhaltung de»
Probejahres» bei der Anstalt ein. Die bisherigen Hülfslehrer Worm-
$iß,k\ Um4 Hülsenbeek. wurden zu ordentüehen Lehrern ernannte
Den Hülfslehrer Dr. Kern per verlor die Anstalt durch den Tod. Die
Oberlehrer- Dr. Fuisting und Lau ff sind zu Professoren ernannt, wor-
dene I^efoerenllegium: Dir. Dr. Schultz, die Professoren Welt er,
Dr* Bon er, Dr. Fuisting, Lauf f, die Oberlehrer, Dr.. Mid de ndorf,
kölscher, Dr, Schipper,, Dr. Grüter, Hesker, Dr. Offenberg,
die Gymnasiallehrer Dr. Salzmann,. Löhker, Prof. Dr. H$sius,
Dr. Tücking, Oberi. $r. Bohle, DrÄ Schmorbuseb, Halbeisen,
V^ormstaiU Suis enb eck, Bisping (Gesang), Auling (Zeichnen),
-Pfarrer I^ütt^.e\ (a.vang, Religiottsie.hr er), Dr. Dfyekhoff,. Dr.. Focke,
Dr. Offenbeck, die Candidaten Stahlschmidt, Lucas, Krasz*
$r. Hechelm,ann, Gudersaann. Schüierza&b 677 (I* 50., I* 64,
H» 79, IIb 76* HI» 110, IIIb 32, IV 61, V 81, VI 15, überall Abteilung
i und 2).. Abiturienten: 59.. — Dem Jahresbericht ist vorausgeschickt
eine AbJ*andtung vo& dem Qftertahfter Dr« Schippen: Die Aufwandt,
bei den alten Gidechen. 14 S. 4.. Gegenstand der Betrachtung ist, den
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J»fÄ*teüber gelehrte Anstalten * Verordnungen, Statist. Notizeö. 21 d
Ursprung der Autonomie, ihre allgemeine Anerkennung und ihre eln-
fluszreiche Geltang bei den Hellenen nachzuweisen.
12. Padebbobn]. Dem ersten Oberlehrer Prof, Dr. Lessmann ist
auf sein Nachsuchen die Versetzung in den Rahestand Bewilligt wor-
den. Die Candidaten Schallau and Luke traten das gesetzliehe
Probejahr an. Die erledigte erste Oberlehrerstelle wurde durch -Artf~
rücken der Oberlehrer und durch Beförderung des dritten ordentlichen
Lehrers Dr. Otto zum 6« Oberlehrer Wieder besetzt; die nachfolgenden
ordentlichen Lehrer rückten in die nächsten Stellen auf und die 8.
ordentliche Lehrerstelle wurde dem Hülfslehrer Hövel mann verliehen«
Die zweite Hülfslehrerstelle wurde dem Candid. Dr. Hester verliehen.
Den Oberlehrer Prof. Dr. Gundolf verlor die Anstalt dureh den Tod.
Lehrercollegium: Director Professor Dr. Ahlemeier, die Oberlehrer
Schwubbe, Dr. Fe'aux, Bäumker, Dr. Wernecke, Dr. Otto, die
ordentlichen Lehrer Oberlehrer Dieckhoff, Schuth, Dr. Oiefers,
Grimme, Dr. Volpert, Hörlrng, Hülsenbeek, Hövelmann,
Böttner (evang. Kel.), die Hülfslehrer Dr. Tenekhoff, Dr. Hester,
die Candidaten LÖns, Dt, Grautegein, Gesangl. Spanke, Schel-
fere (Zeichnen u. Schreiben). Schülerzahl: 507 (I« 63, Ib 50, II*1 28,
II«* 27, IIb* 32, 11*^29, in«1 36, III«« 34, III»» 63, IV 42, V 56,
VI 53). Abiturienten: 60. — Den Schulnachrichten geht voraus eine
Abhandlung vom Oberlehrer Dr. Fe'aux: Üeber Dreiecks 'Zeichnungen*
20 S. 4.
13. Rbckjlinghausen]. Das Lehrercollegium, in welchem im ver-
flossenen Schuljahre eine Veränderung nicht stattgefunden hat, bilden:
Director Dr. Hölscher, die Oberlehrer Prof. Oaspers, Hohoff,
Puning, die ordentlichen Lehrer Undinck, Dr. Nelkens, Banck,
Dr. Richter, Cand. Stelkens, Feldmann (Gesang), Busch (Zeich-
ne?). Schülerzahl: 140 (I 42, II 31, III 26, JV 12, V 12, VI IT).
Abiturienten: 22. — Eine wissenschaftliehe Abhandlung ist nicht bei-
gegeben.
14. Soest], Dr. Wetzel trat als Probelehrer ein, der evang.
Religionsl. Pf. Daniel geht ab; für eine neue Lehrstelle ist Cändidat
Dr. Hoche aus Zeitz berufen. Lehrercollegium: Director Dr. Jor-
dan, die Oberlehrer Professor Koppe, Dr. Duden, Vorwerck, die
Gymnasiallehrer Sohenok, Steinmann, Dr. Legerlotz, Grone-
meyer, Cand. Dr. Wetzel, katholischer Heligionsl. C aplan Hasse.
Scflülerzahl: 216 (I 21, H 29, in 40, IV 44, V 46, VI 36). Abiturien-
ten: 10. — t)en Schulnachricnten geht voraus die Abhandlung des Dr.
Legerlotz: Die sogenannte epische Dehnung und Verkürzung bei Homer.
20 S. 4. Auch im Schulunterricht, sagt der Verfasser, dürfe nicht die
irrige Vorstellung aufkommen, als sei der epische Dialekt eine durch
Dichterwillkür aus dem Atticismus geschaffene Sprache; der Schüler
müsse erkennen, dasz gerade für die älteste Zeit die Annahme einer
besonders stärken, wenn auch organischen Umgestaltung der Sprache
am mindesten statthaft sei. Nicht ästhetische, noch metrische ■ noch
musikalische Rücksichten hätten die angebliche Dehnung und Verkür-
zung hervorgerufen; jene Wandlungen seien vielmehr nach bestimmten
Gesetzen geschehen, die erst durch Vergleichung anderer Idiome er-
kannt sind. Dieselben will der Verfasser in einer spätem Abhandlung
nachweisen.
15. WabehöobfJ. Der Schulamts - Cändidat Zumlob trat ein, um
das vorgeschriebene Probejahr abzuhalten. Der Cand. prob. Kemper
blieb nach Ablauf seines Probejahrs als Hülfslehrer an der Anstalt
thätig. Lehrercollegium: Director Dp* Lucas, die Oberlehrer Dr.
Combrinek, Banse, die ordentl. Lehrer Dr. Hillen, Dr. Peltzer,
Dr. Erdtmann, Theissing, Frese, die Hülfslehrer Dr. Ooebbel,
Kempen, Cändidat Zum loh, Helmke (Zeichnen und Sehreihen),
15*
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220 Berichte über gelehrte Anstalten* Verordnungen, Statist« Notiieiu
Pfeiffer (Gesang). Schülerzahl! 292 (I» 60, I»» 47, II* 25, H>> 50,
III« 29, IIIb 23, IV 23, V 25, VI 10). Abiturienten: 44. — Den Schul-
nachrichten gebt voraus eine Aahandlung des wissensch. Hülfslehrers
Dr. Goebbel: De Theocriti Idyll. I. II., Bionis Epitaphü Adonidis,
Moschii Epitaphü Bionis, Virgilii Eclogae VIII, ratione strophica.
30 S. 4.
Themata der Abiturientenarbeiten für den deutschen Aufsatz.
1. Arnsberg. 1) Nichts ist dem Geiste süszer als das Licht der
Wahrheit. 2) Grosze Männer gehören allen Zeiten und Völkern.
2. Bielefeld. 1) Wodurch ist Schiller der Lieblingsdichter des
deutschen Volkes geworden? 2) Hoffnung und Furcht in ihrem heil-
samen Einflusz auf den Menschen.
3. Brilon. fDem Guten nur sind seine Güter wahrhaft gut; Ein
Quell des Unheils werden sie dem Bösen.'
4. Burgstein fürt. Vergleich des peloponnesischen und dreiszig-
j ährigen Kriegs nach Ursachen, Verlauf und Folgen.
5. Coesfeld. rLust und Liebe sind die Fittige zu groszen ThateiL*
6. Dortmund. Augustus Verdienste um die Wolfahrt des Römer-
reichs.
7. Gütersloh. 1) Was ist von dem Ausspruch des Horaz zu hal-
ten t Quid sit futurum cras, fuge quaerere. z) Warum ist kein deut-
scher Flusz so sehr gefeiert als der Rhein?
8. Hamm. Ueber die Ursachen und Veranlassungen der Kreuz-
züge.
9. Herford. 1) Hannibal und Mithridates. 2) Des Lebens Mühe
läszt uns allein des Lebens Güter schätzen.
10. Minden. Iphigenia im Widerstreit zweier Pflichten.
11. Münster. 1) Wozu fordert uns der Gedanke an die kurze
Dauer unseres irdischen Daseins auf? 2) Begeisterung ist die Sonne,
die das Leben befruchtet, tränkt und reift in allen Sphären.
12. Paderborn. Die sittliche und politische Erniederung oder
Erhebung und Höhe eines Volkes bedingt entsprechende Phasen sei-
ner Litteratur. Aus der Natur der Sache und aus der Geschichte der
Griechen, Römer und Deutschen nachzuweisen.
13. Recklinghausen. Gang der Handlung in Schill er's Drama
'Wallenstein'.
14. Soest. Welche Ursachen führten um die Mitte des 12. Jahr-
hunderts die Umgestaltung der deutschen Poesie herbei?
15. Warendorf. 1) Würdigung der Licht- und Schattenseiten der
Buchdruckerkunst. 2) Warum ist es gut, so wenig als möglich Be-
dürfnisse zu haben?
Themata der Abiturientenarbeiten für den lateinischen Aufsatz.
1. Arnsberg. 1) Est hoc commune Vitium in magnis liberisque
civitatibus, ut invidia gloriae comes sit. 2) Res publica Romana cala-
> mitatibus acceptis majores habuit animos, quam rebus secundis.
2. Bielefeld. 1) Illud Sallustii fet hello et pace darum üeri
licet' exempüs ex historia Romana repetitis demonstretur. 2) Quibus
rebus Hannibal victus esse videatur?
3. Brilon. Unius viri virtute saepe niti summam rei publicae sa-
lutem.
4. Burgsteinfurt. Quibus rebus Hannibal r eportatis tot victoriis
decedere Italia coactus sit.
5. Coesfeld. Quanto patriae amore Graeci et Romani Suerint,
ezemplis demonstretur.
6. Dortmund. Exponatur, cur Plato se dis gratias agere dixerit,
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen. 221
quod Graecas potius quam harbarus, quod Athenieusis, qnod tempore
Periclis natus ait.
7. Gütersloh. 1) Horatii illud vnil sine magno Tita labore dedit
mortalibos' exemplis illastretor. 2) Lnxnriant animi rebus plernmqne
secundis Nee facile est aequa commoda mente pati.
8. Hamm, De ratione belli, qnamPericles in administrando hello
Feloponnesio secntus sit, disseratnr.
5. Herford. 1) Quam vera sit T. Livii sententia, populum Roma-
num in rebus adversis admirabiliorem fuisse, quam in rebus secundis.
2) Probat historia, asperis rebus gentes magis oorroborari, quam rebus
; secundis.
10. Minden. Ea fuit romana gens, quae victa quiescere nesciret.
11. Münster. 1) Quanta superbia et perfidia atque erudelitate
Eomani tertio bello Macedonico confecto in ezteras nationes civitates-
jqne eint grassati, aliquot exemplis ostendatur. 2) Illud Com. Nepotis
(Magnae saepe res non ita magnis eopiis sunt gestae' exemplis ex hi-
rtoria antiqua petitis ostendatur. '
12. Paderborn. Alexander Magnus Asiam expugnat eamque grae*
eis artibus aperit.
13. Becklinghausen. Fabiorum ad Cremeram clades cum La*
eedaemoniorum in Thermopylis nece confertur.
14. Soest. Quibus temporibus quibusque rebus oivitas Athenien-
tinm maxime floruerit.
15. Warendorf. Qua via ac ratione Romani tot populos vali-
durimos sub suam potestatem redigere redaetosque retinere potuerint.
2) C. Julius Caesar cum Alexandra Magno comparatus.
' Rheinpro-vinz 1862.
1. Aachen]. In dem Lehrercollegium hat keine weitere Verände-
rung stattgefunden, als dasz der Stiftsvicar Fuchs, nachdem er zum
Pfarramte befördert, seine Stellung als zweiter Religionslehrer aufge-
geben hat Der Religionsunterricht in den beiden unteren Classen ist
«fem Caplan Bechern übertragen worden. Lehrercollegium: Director
Br. Schön, die Oberlehrer Dr. Klapper, Prof. Dr. Oebeke, Dr.
Barelsberg, Dr. Renvers, Religionslehrer Spielmaus, die ordent-
,Üchen Lehrer Oberl. Dr. J. Müller, Ch. Müller, Bonn, Körfer,
Syrrfe, Dr. Milz, Pfarrer Nänny (Hülfsl. für evang. Rel.), Vioar
Bechern (kath. Rel.), Schreiblehrer Schmitz, Gesanglehrer Baur,
Zeichnenlehrer Neidinger, Turnlehrer Ren sing; Schülerzahl: 386
(160, H 99, III 69, IV 56, V 63, VI 60). Abiturienten: 31. — Den
Schulnachrichten ist, vorausgeschickt: Ueber den Unterricht im Deutschen
auf den Preuszischen Gymnasien, von Prof. Dr. Oebeke. 26 S. 4. Der
Verfasser stellt sich zunächst die Frage, welche Erfolge bis jetzt kraft
j der neuen Einrichtung an den Preusz. Gymn. in jenem Fache erzielt
worden seien; ob das Ergebnis den Berechnungen des Planes entspro-
chen und eine würdige Frucht so viel verwendete Zeit und Arbeit be-
lohnt habe. Aber hier stosze man vielfach auf unerfreuliche Aeusze-
| rangen über Unzulänglichkeit der Leistungen; man höre verstimmende
^Klagen von gewichtigsten Zeugen, von kundigen und glaubwürdigen
Fachmännern; man lese die rügenden Erlasse der vorgesetzten Unter-
richtsbehörden usw. Daher werde man sich der Pflicht nicht entschla-
gen können, genauer nachzuforschen, ans welchen Ursachen denn die
hohen Erwartungen, welche sich an die Neu -Ordnung des deutschen
Unterrichts knüpften, noch nicht so in Erfüllung gegangen sind; ob
etwa von Anfang an das Ziel des Strebens unrichtig bestimmt worden,
oder ob die Methode an Unzweckmäszigkeit und Verkehrtheit leide.
Der Verf. faszt dann nach dem offen liegenden Befunde die Mangel
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222 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, staust Notizen!
und Gebrechen des deutschen Unterrichts an den Gymnasien dahin zu-
sammen, dasz man zuerst eine klare und bändige Erklärung
über das Ziel, sodann eine gesunde, folgerichtige Methode
vermisse, und bezeichnet dann selbst als das Ziel: * grammatisch be-
gründete Kenntnis des Neuhochdeutschen, Verständnis der Hauptgat-
Siragen der prosaischen und poetischen Kunstformen, nähere Bekannt-
schaft mit den bedeutendsten Schriftstellern und Werken der National-
litteratur, insbesondere der classischen neueren, Einführung in die
Kenntnis der historischen Entwiekelung der deutschen Sprache durch
Uebungen im Mittelhochdeutschen, Richtigkeit und Gefälligkeit in
schriftlichen und mündlichen Darstellungen aus dem der gereiften
.Gymnasialbildung entsprechenden ethischen und wissenschaftlichen
Ideenkreise.' Der Verfasser geht dann auf diese Einzelheiten genauer
ein und erklärt sich zuerst für und über das Betreiben der deut-
schen Grammatik an den Gymnasien; behandelt dann dia schon
öfter erhobene Streitfrage, ob eine förmliche Stillehre für die Schüler
zu gründlicher Belehrung teils bei den eigenen schriftlichen Versuchen,
teils bei der Prüfung und Beurteilung fremder Darstellungen aufzu-
nehmen sei, oder ob unter Umgehung einer zusamenhängenden Unter-
weisung über die dabin gehörigen Punkte aufklärende Bemerkungen
über die Hauptstücke gelegentlich einfließen zu lassen, genügen
könne und angemessener sei» Dem Verf. erscheint eine Stiilehre, die
wolbedacht in der bescheidenen Begrenzung auf das leicht Faszliche
und praktisch Brauchbare sich hält' und an die Leetüre und Aufsätze
zwanglos sich anschlieszt, nicht nur zulässig, sondern geboten. Frei-
lich dürfe dabei kein Anspruch auf eine logisch -psychologisch -meta-
physisch - ästhetisch durchgeführte Systematisierung, wie z. B. rin dem
Organismus der Stil- oder Aufsatzlehre von K. F. Rinne9 hervortreten,
sondern die einfachen Regeln "seien mitzuteilen , die aus den Meister-
werken' durch Betrachtung und Zergliederung abgeleitet, jedermann
leicht nachweisbar und durch die Jahrhunderte bestätigt seien. Der
Verfasser geht dann zu dem Lehrstoff im Deutschen für die ersten
Gymnasialclassen über und räumt hier der Literaturgeschichte einen
bevorzugten Platz ein. Indes sei hierbei gewis als ein Misgriff zu rü-
gen, wenn diese Gegenstände «in gelehrter Ausführlichkeit sich über
sämtliche Perioden — die früheren wie die späteren — verbreitend
vorgenommen würden. Für die nähere Betrachtung sei daher eine be-
sonnene Auswahl bei Beschränkung auf das, was wahrhaft geistig be-
deutsam und. wirksam gewesen, durchgängig in allen Abschnitten zu
treffen, damit Raum gewonnen werde für eine reichhaltigere Behand-
lung der. Classiker des letzten Jahrhunderts nach den Abstufungen ihres
Verdienstes. Und hier sei vor Allem am meisten darauf zu sehen, dasz
die Schüler durch eigenes Studium der geeigneten Werke in den Geist
Und die wesentlichen lebensvollen Ideen unserer grossen Schriftsteller
tiefer eindringen, um mit Klarheit und Begeisterung der Errungen-
schaften dieser Meister und Vorbilder in deutscher Art und Kunst sich
bewußt zu werden. — Hinsichtlich der Streitfrage, ob das Altdeutsche
und Mittelhochdeutsche in den Kreis der Lehrgegenstände des Gymna-
siums aufzunehmen sei, entscheidet sich der Verf. dahin, dasz die Ein-
reihung des Mittelhochdeutschen durchaus zu befürworten sei.
Das Verständnis und die Aneignung des Althochdeutschen würde viel
Arbeit und Zeit kosten, während zudem die Ausbeute für die Jugend-
bildung wenigstens nur gering sein könne. Schon die drohende Ueber-
bürdung also verbiete das Altdeutsche zu den schon vorhandenen La-
sten unsern Schülern aufzuzwingen. Die Erlernung des Mittelhoch-
deutschen dagegen sei, zumal binnen den hier zu steckenden Grenzen,
leicht zu bewältigen und bringe einen sonst nirgendsher zu beschaffen-
den Gewinn. Es gebe für das grammatische Studium unserer Sprache
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen * Statist* Notue». 223
vielfach neuen, anregenden Stoff; ei gewähre einen erweiterten Ein-
blick in die Ursprüngliche Bildsamkeit derselben in Wort und Wendung
nnd erschliesze jetzt verschüttete Schächte des ehemaligen Ausdruaks-
reichtums; und was mehr werth sei aU das, es führe uns ein in die
Zanberweh jener ureigenen, morgenfrischen deuteohen Poesie, wovon
in der Schule besonders die epische heranzuziehen «ei, die wahrhall
wie ein Heilbad zur Läuterung und Kräftigung der krankhaften Ver-
künstelung dieser Zeiten uns erhalten scheine. — Weiter hin wird noch
daran gemahnt, das« auch die metrischen Studien im Deutschen auf
unsera Gymnasien eine besondere Beachtung verdienen, und beklagt,
dasz im Allgemeinen wenigstens denselben nicht die gebührende Sorg-
falt gewidmet zu werden scheine. Der Gewinn werde schon sehr hoch
anzuschlagen sein, wenn in den beiden unteren Ciasseti 4er Sinn und
das Versiändnls der Knaben für Masz, Wollaut, Harmonie der Verse
im Allgemeinen an den Gedichten , die erklärt und auswendig gelernt
werden, geweekt und geübt werde; wenn darauf in den mittleren Claasea
die Einführung in die eigentliche deutsche Prosodie folge und dazu die
gebräuchlichsten einfacheren und leichteren Versarten im troehäisohen
nnd iambischen Rhythmus vorgenommen würden ; wenn in den Seeunden
sodann die Einprägung der daktylischen, anap&stisehen und choriam-
bischen V^tsb nebst den kunstvolleren iambischen Strophen angeschlos-
sen werde; wenn in den Primen endlich die Lehre über die sapaaische
und alkäische Strophe nach Bau nnd Wesen sieher gefasst werde. Die
praktischen Uebungen aber, welche den theoretischen Auseinander-
setzungen zur Seite gehen, dürften keinen andern Zweck verfolgen,
als eben nur eine gründliche Einsicht in die Gestaltung det Verse zu
vermitteln und demgemäsz nur in der Wiederherstellung aufgelöster
Mnsterverse bestehen, bei welcher jedoch durch Vertauschung oder
Auslassung von Wörtern nach geeigneter Abstufung die Selbstthltigkeit
der Schüler verschiedentlich in Anspruch zn nehmen sei, und allenfalls
in Übersetzungen und freien Kachbildungen von griechischen und rö-
mischen Originalen. Zu selbständigen Versuchen aber in metrischen
Darstellungen dürften allein die wirklich, mit Dtchtertalent begabten
veranlasst werden. — - Bei den schriftlichen Und freien Arbeiten* auf
welche mit allem Fug der grSste Nachdruck und Werth gelegt werde,
scheinen dem Verf. noch einige fernere Massnahmen Bedürfnis #a sein*
um die Ertragsamkeit derselben zu sichern und zu erhöhen» Es müsse
nemlieh dabei überhaupt auf das Strengste der stufenmäsaige Fort»
schritt von dem Leichteren zum Schwereren beobachtet und in allen
Classen müsten den Schülern passende Muster für die auferlegten Ver-
suche vorgezeigt und erläutert werden. Sodann müsse von den mannig-
faltigen Darstellungsformen die Beschränkung auf die einfachen Haupt»
formen für die Durchübung als Regel Beobachtet werden. Also sei für
die untere Stufe die schlichte Erzählung und Beschreibung anzusetzen,
für die mittlere dieselben reicher und ausgebildeter nach Inhalt und
Sprachform und dazu die Schilderung nebst Erklärung von leichten
Sprichwörtern und Sprüchen, für die Sekunda die Betrachtung, die
einfache wie die vergleichende, und Charakterbilder, für diejPrima die
historische und didaktische Abhandlung und die Chrie. In der Wahl
der Stoffe für die Bearbeitung, namentlich für den freien Aufsatz, lasse
sich immer noch eine genauere Sichtung und bestimmtere Absteckung
des nutzbaren Feldes vermissen. Dasz Vertrautheit mit dem Gegen»
stände der Aufgabe die stets sich von selbst verstehende Bedingung
sei, darin stimmten allerdings alle Meinungen überein? allein wie weit
eben dieser Erkenntniskreis des Gymnasiasten sich erstrecke» darüber
^giengen die Urteile gar sehr auseinander, fast ins Nebelgraue. —
BchlieszHoh fügt der Verf. noch ein kurzes Wort hei über die deut-
schen Sprechübungen, Declamationen und sogenannten freien Vorträge.
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224 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen.
2. Bkdbubq], '(Rheinische Bitter -Akademie.) Mit dem Ende des
Wintersemesters schied der Religionslehrer Brackmann, zum Ober-
pfarrer in Schieiden ernannt, ans seiner bisherigen Stellung; in seine
Stelle trat Stapper, zuletzt Caplan ad S. Lambertum in Düsseldorf.
Lehrercollegium : Director Roeren, Religionsl. Stapper, die Oberl.
Becker, Blase, die ordentl. Lehrer Noel, Dr. Wiel, Schroeder,
die commissarischen Lehrer Dr. Lücke-n, Dr. Koenen. Den Turn-
unterricht leitete Dr. Lücken. Anzahl der Zöglinge: 40 (I 10, II 9,
III 12, IV 5, Vorbereitungsol. 4). Abiturienten: 4. — Den Schulnach«
richten geht voraus: Observationes in Orphei Argonauiica. P. III. Scri-
psit Dr. Wiel. 25 S. 4. Die emendierten Stellen sind folgende: V. 31,
218, 260, 261, 236, 314, 382, 405, 423, 427, 442, 588, 594, 642, 848, 849,
851, 920, 922, 934, 936, 962, 979, 980, 982, 984, 986, 1076, 1081, 1129,
1290.
3. Bonn]. Im Lehrerpersonale haben folgende Veränderungen statt-
gefunden. Zu Ostern folgte der evang. Religionslehrer Prof« Diestel
einem Rufe als ordentlicher Professor an der Universität Greifswald.
Seine Stelle wurde dem Predigtamtscandidaten Sänger interimistisch
übertragen. In Folge der Trennung der Sexta in zwei Cötus wurde
der am Aposteln -Gymnasium zu Cöhi beschäftigte Candidat des höhe-
ren Schulamts Grundhewer zur Aushülfe dem hiesigen Gymnasium
* zugewiesen. Zur Abhaltung des gesetzmäszigen Probejahrs waren im
verflossenen Schuljahre seit Michaelis die Schulamtscandidaten Brühl,
Desclabissao und Sturm thätig. Der erstere wurde bereits zu Ostern
an das März eilen- Gymnasium zu Cöln versetzt, die beiden anderen lei-
steten Aushülfe am hiesigen Gymnasium. Dem ersten Oberl. Rem acly
wurde das Prädicat Professor erteilt. Lehrercollegium: Director Prof.
Dr. Schopen, die Oberlehrer Professor Remacly, Freudenberg,
Zirkel, Qiesen, kath. Religionslehrer Dr. Dubelmann, die ordentl.
Lehrer Oberl. Werner, Kneisel, Oberl. Dr. Humbert, Sonnen-
berg, Dr. Binsfeld, Dr. Strerath, die evangelischen Religionslehrer
Pfarrer Wolters und Sänger, die commissarischen Lehrer Sassel
(kath. Rel.), Grundhewer, Sommer, Dr. Küppers, Dr. Deiters,
Leber, Winz, Gesanglehrer Lützeler, Zeichnenlehrer Philippart.
Schftlerzahl: 364 (I« 27, Ib 18, II * 34, II»» 36, III» 25, IIIb 24, IV* 33,
IVb32, V* 30, Vb 29, VI» 37, VI» 39). Abiturienten: 27. — Den
Schulnachrichten geht voraus: Observationes Lurianae. P. III. Scr. J.
Freudenberg. 16 S. 4. Die behandelten Stellen sind folgende: 19,
18 wird emendiert violaium hospitii foedus. I 34, 6 Roma ei ad id apta
potissimum visa. I 58, 5 Quo terrore cum elusisset obstinatam pudici-
tiäm velut victrix libido. II 52, 3 Ea renm oppressit. III 39 in. ven-
tum in curiam esse, III 50 sub fin. quanto visu quam auditu indigniora
potuerint videri. IV 17, 7 plebe tribunisque ejus anni. IV 27, 4 Ita
quattnor exercitus totidem munimenta, planitie in medio non parvis
modo excursionibus ac proeHis sed vel ad explicandas utrimque acies
satis patente, habebant. IV 31, 9 et Justitium indietum. V 17, 10 statt
coeptae — sopitae. V 40 extr. reUgiosum ratus. VI 11, 3 solum eum in
magistratibus solitum apud exercitus .esse. VI 14, 2 intuenti. VI 24, 10
Optimum visum est nee in fluctuantem etc. VII 34, 15 Sub haec omnia
— perlustravit. VIII 9, 9 sq. Conspeetus ab utraque acie aliqnanto
augustior humano habitu visns. VIII 37 , ß ut si Capitolium atque arx.
etc. IX 7J, 6 Iam Romae etiam subinde infamis clades erat. IX 10, 3
Postumius orrmium in ore erat. IX 24, 11 tela et annatos ostendere ar-
cem. X 2, 9 statt altero itinere — ulteriore itinere. X 13, 4 haud qua-
quam pari certamine = haud quaquam simili, h. e. aeque levi certa-
mine atque in hello proximo, a On. Fulvio composito. X 38, 1 Dilectu
per omne Samninm habito nova lege et qui juniorum non convenisset
— quique injussu abisset, caput Iovi sacratum erat. X 39, 7 altera
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen. 225
eastra, quae XX milium spatio aberant, absentig collegae consilia om-
oibafl gerendis inserebani rebus, intentiorque Camlina — in Aqoiloniam
— quam ad Com. — erat, hoc est: Carvüiani milites abaentia collegae
consilia omnibns rebus gerendis immiscebant, neqne quidquam niai Pa-
pirü consiliorum ratione habita incipiebant.
4. Clevb]. Mit dem Schloaz dea Winterhalbjahrs verlies die An-
stalt der Candidat des höheren Schul- und evangelischen Predigtamts
Döring, um eine ordentliche Lehreratelle an dem Gymnasium zu We-
sel zu übernehmen. An seine Stelle trat Candidat Rothert. Lehrer-.
collegium: Director Dr. Probst, die Oberlehrer Dr. Feiten, Dr.
Schmied er, Dr. Hundert, die ordentlichen Lehrer Jacob, Dr.
Tillmanns, Hülfsl. Rothert, kath. Religionslehrer Dr. Schölten,
die Elementarlehrer Oxe* und MÖnnichs, Gesanglehrer Mnsikdirector
Fiedler, Zeichnenlehrer Kreisbaumeister Geiszier. Schülerzahl im
Sommer: 131 (I 11, II 17, HI 25, IV 14, V 30, VI 34). Abiturienten: 4.
— Den Schulnachrichten ist vorausgeschickt: MisceUanea critica e Xe-
nophonte. Scr. Dr. Tillmanns. 16 S. 4. Die emendierten Stellen
sind: Hiat. gr. I 1, 28; I 6, 5; I 6, 21; I 7, 27; II ?, 20; II 3, 27;
II 4, 38; III 5, 22; IV 7, 5; V 1, 15; V 2, 7; VI 1, 4; VI 4, 17; VI 4,
20; VII 2, 4; VII 2, 8; VII 2, 18, 19. Cyr. exp. IV 2, 19. Cyr. inst.
I 3, 11; V 2, 17. Comment. II 1, 30.
5. Coblknz]. Aenderungen in dem Lehrercollegium sind während
des verflossenen Schuljahres nicht eingetreten. Dasselbe bilden: Dir.
Dominicas, Religionslehrer Schubach, die Oberlehrer Prof. Flock,
Dr. Boymann, Happe, Stumpf, die ordentiL Lehrer Klostermann,
Dr. Montigny, Dr. Baumgarten, Dr. Maar, Dr. Steinhausen,
Dr. Torrn Walde, Dr. Conrad, Hülfslehrer Stolz, evang. Religions-
lehrer Rector Troost, die commissarisehen Lehrer Dr. Langen, Dr.
Worbs, Maurer, Dr. Verbeek, Hülfslehrer für evang. Religion,
finnkel, Zeichnenlehrer Gotthard, Gesanglehrer Mand, Candidat
des höheren Schulamts Dr. Schlüter. Schülerzahl im Sommer: 414
(I» 17, I* 13, II« 17, II* 46, III1 38, IIP 37, IV1 40, IV* 35, V1 34,
V* 37, VI* 62, VI* 49). Abiturienten: 17. - Den Schulnachrichten
geht voraus: Geschichte des Goblenzer Gymnasiums* Erster Teil. Die
Geschichte der Stiftung des Coüegiums S. J. 1580—1599. Von Director
Dominicas. 35 S. 4.
6. Duisburg-]. Gymnasium und Realschule 1. Ordnung. Mit dem
Beginne des Schuljahrs wurde der Reallehrer Dr. Krümme, bisher an
der Realschule in Siegen, in sein Amt eingeführt. Für den in der
Centralturnanstalt in Berlin abwesenden Lehrer der Vorschule Werth
leistete der Schulamtscandidat Grube als interimistischer Lehrer Aus-
hülfe. An die Stelle des in Ruhestand getretenen Prof. Hüls mann
trat der zum Religionslehrer des Gymnasiums ernannte Gymnasiallehrer
and Candidat theol. Hamann, bisher an dem Gymnasium in Anclam.
Lehrercollegium: Director Dr. Eichhoff, die Oberlehrer Professor
Können, Dr. Liese gang, Dr. Lange, die Gymnasiallehrer Ha-
mann, Dr. Wilms, Dr. Foltz, Schmidt, die Reallehrer Oberlehrer
Fischer, Dr. Krumme, Klanke, Dr. Meigen, Hülfslehrer Dick-
haus, ordentlicher Lehrer K. Werth, Zeichnenlehrer Knoff, Caplan
Gaillard, Lehrer der Vorschule R. Werth. Schülerzahl (im Som-
mer): a) des Gymnasiums: 143 (1 15, II 27, in 21, IV 20, V 29, VI 31);
b) der Realbschule: 58 (I 7, II 16, III 17, IV 18); c) der Vorschule: 39.
(1. Abt. 17, 2. Abt. 22.) Abiturienten: 5. — Den Schulnachrichten geht
voraus eine Abhandlung des Oberlehrers Liesegang: De XXIV /Ha-
itis rhapsodia dissertatio. Pars prior. 21 S. 4. fNon alienum mihi est
Visum postrema Iliadis rhapsodia, in qua jam veter es Uli Alexandrini
multis rebus sunt offensi, accuratius perquisita exponere, quibus in re-
bus a ceteris Iliadis rhapsodiis abhorrere existimanda sk.' — fSi in
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226 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist Notizen.
multis rebus iisque parvis hanc rhapBodiam ab antiquioribus Iliadie
partibus abhorrere demonstravero, eam ab homeriea aetate atque anti-
quiorum illorum vatum ingenio et indole alienam esse statuemus.'
7. Duebbn]. Die durch die Trennung der Prima notwendig ge-
wordene Aushülfe im Unterrieht wurde durch den Schul amiscandidaten
Dr. Stahl geleistet, welcher, nachdem er bis dahin am Gymnasium zu
Münstereifel als commissarischer Lehrer beschäftigt gewesen war, in
gleicher Eigenschaft dem hiesigen Gymnasium zugewiesen wurde. In
die durch den Tod des G. L. Hagen erledigte 3. ordentliche Lehrer-
stelle rückte Dr. Sdne'chaute, in des Letzteren Stelle Dr. Ranpen
auf; die dadurch erledigte 5. ordentliche Lehrerstelle wurde dem bisher
commissarisch beschäftigten Schulamtacandidaten Fisch übertragen.
L ehre rc olle gium: Director Dr. Meiring, die Oberlehrer Elvenich,
Ritzefeld, Dr. Schmitz, die ordentf. Lehrer Esser, Ciaessen,
Dr. Se'ne'chaute, Dr. Rangen, Fisch, die Hülfslehrer Dr. Busch,
Dr. Stahl, Pfarrer Reinhardt (evang. Rel.), Zeichnen!. Sommer,
Gesangl. Jonen. Schülerzahl: 189 (I« 16, I* 27, II» 18,. II* 19, III 83,
IV 34, V 19, VI 23). Abiturienten: 16. — Den Schulnachrichten geht
voraus eine Abhandlung von G. L. Dr. Rangen: Des Pyrrfos Zug nach
Italien. 18 S. 4.
8. Duesbbldobf]. Mit Anfang des Schuljahrs sind die Schulamts-
candidaten Dr. Hülsmann und Dr. Hünnekes zur Deckung des durch
fortdauernde Abwesenheit des 2. ordentl. Lehrers Kirsch und durch
Teilung der Quinta entstandenen Mehrbedarfs an Lehrkräften zu einst-
weiliger Thätigkeit an dem Gymnasium berufen worden. Der 2. ord.
Lehrer Kirsch ist aus seinen amtlichen Verhältnissen mit der gesetz-
lichen Pension entlassen worden. Zu Anfang des Schuljahrs ist der
Schulamtscandidat Dübbers und nach Ostern der Schulamtscandidat
Lichtschlug zur Ableistung des Probejahrs eingetreten, Dr. Herbst
wird mit Ende des Schuljahrs, da er zum Pfarrer der lutherischen Ge-
meinde in Nymwegen gewählt worden ist, aus der Stellung eines evan-
gelischen Religionslehrers des Gymnasiums ausscheiden. Lehrerkolle-
gium: Director Dr. Kiesel, die Oberlehrer Grashof, Religionslehrer
Krahn, Marcowitz, Dr. Schneider, Dr. Uppenkamp, die ord.
Lehrer Dr. F rieten, Kaiser, Dr. Kühl, Houben, Hülfsi Stein,
die Candidaten Dr. Hülsmann, Dr. Hünnekes, Zeichnen!. HoJt-
hausen. Schülerzahl: 304 (I 16, II« 19, Hk 33, III 39, IV 43, V« 39,
V»> 39, VI» 88, VI* 88). Abiturienten: 7. — Den SchulnAchrichten
geht voraus eine Abhandlung des Religionslehrers Krahn: lieber Evan-
gelium Johannis II 1—1%. 13 S. 4.
9. Ebbbfeld]. Mit dem Beginn des Schuljahrs wurde Dr. Schnei«
der, der sein Probejahr am Friedrich -Wilhelms -Gymnasium in CÖln
abgehalten hatte, als 6. Lehrer eingeführt. Candidat Drinhaus, der
mit dem Beginn der Herbstferien v. J. aus seiner Stellung am Gym-
nasium ausgeschieden war, um in Musze sich für das FacuU&tsexamen
vorzubereiten, erlag einer rasch verlaufenden Gehirnkrankheit. Am
Schlüsse des Schuljahrs verliesz der Gymnasiallehrer Dr. Vogt die An-
stalt, um einem Rufe als Director des Gymnasiums zu Corbach zu fol-
gen. In Folge dessen wurden die ordentlichen Lehrer Grosch und
Dr. Schneider in die 4. und 5. Stelle befördert, und in die erledigte
6. Lehrerstelle wurde der Schulamtscandidat Dr. Kluge in Wetzlar zu
provisorischer Aushülfe für das Winterhalbjahr berufen. Lehrercolle-
gium: Director Dr. Bouterwek, die Oberlehrer Prof. Dr. Clausen,
.Prof. Dr. Fischer, Dr. Völker\ die ordentl. Lehrer Dr. G. Petri,
Dr. A. Petry, Dr. Crecelius, Grosch, Dr.. Schneider, Gesang-
und Schreiblehrer Kegel, Caplan Rumpen (kath. Rel.), Dr. Wiecke
(math. Hülfsi.), Zeichnenlehrer Bramesfeld. Schülerzahl: 277 (I 22,
H« 16, H»» 24, III« 21, III»» 28, IV 44, V 60, VI 35, Vorschule: 27).
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, staust. Notizen. 827
Abiturienten: 5» — Den Schulnachrichten geht voraus eine Abhandlung
de* CK L. Dr# Fe tri: Deber die Publie Schpols in England, verglichen mit
den deutschen Gymnasien, 29 S. 4.
20. Emmerich]. Dem Sohnlamtscandidaten Dr. Hörling, der vor-
her in Cpln aein Probejahr abgehalten, wurde eine commissarische
Beschäftigung übertragen, nachdem Dillenburg, der seit 1859 eine
gleiche Beschäftigimg gehabt hatte, mit dem Schlosse des vorigen
Schuljahrs ausgetreten war. Mit dem Schlüsse des Wintersemesters i
trat Dr. Hörling wieder aus seiner Stellung aus, um an das Progym-
nasium zu M.- Gladbach überzugeben. Dafür wurde dem Schulamts-
candidaten Dr. Schlüter", der bis dahin am Gymnasium in Coblenz
gearbeitet hatte, eine com missarische Beschäftigung am hiesigen Gym-
nasium überwiesen. Lehrercollegium : Director Nattmann, die Ober-
lehrer Dederich, Hottenrott, Knitterscheid, Religionslehrer Dr.
Richters, die ordentlichen Lehrer Dr. Havestadt, Dr. Gramer,
Dr. Ehlinger, Cand. Dr. Schlüter, evang. Pfarrer Uhlenbruck
(Rel.), Zeichnenlehrer Sweekhorst. Schülerzahl: 182 (I 12, II 21,
III 21, IV 19, V 26, VI 33). Abiturienten: 4. — Den Schulnachrichten
geht voraus eine Abhandlung des Oberlehrers Hottenrott: Wem stand
im Römischen Staate das Recht der Besteuerung und die Verfugung über
die Staatsgelder zu? 16 S. 4. In einer Abhandlung des Programms von
1855 hat der Verfasser zuerst nachgewiesen, dasz in dem Abgaben- und
Besteuerungswesen bei den Römern vier Perioden zu unterscheiden und
anzunehmen «sind, $ann die wesentlichsten Einnahmen und Ausgaben zu-
sammengestellt, in vorliegender hat er den Gegenstand wieder aufge-
nommen und die Frage zu beantworten gesucht: wem stand im Römi-
schen Staate das Recht der Besteuerung und die Verfügung über die
Staatsgelder zu, und zugleich mit ihr die Beamten, welche bei dem
Finanzwesen vorzüglich thätig und wirksam waren, und deren Functio-
nen besprochen und die verschiedenen Gassen nebst ihren Hauptein-
nahmen aufgeführt.
11* Essen]. Mit dem Beginne des Schuljahres trat Brockhues als
ins*. Hülfsl ehrer ein. Die Gandidaten Rachel und Sohröder hielten
ihr Probejahr ab. Lehrercollegium: Director Dr. 'Top hoff, die Ober-
lehrer Buddeberg (zugleich Religionsl ehrer für die evang. Schüler),
Litzinger, Mühlhöfer, Seemann, die ordentl. Lehrer Achtern-
bosch, Seek, Dr. Anton, tenDyck, wies. Hülfslehrer Brockhues,
Kratz (Rel. für die kath. Schüler), Zeichnen- und Schreib!. Steiner,
Gesangl. Helfer, die Gandidaten Rachel und Schröder. Schüler-
zahl: 266 (I 28, II» 27, n* 86, IH 46, IV 30, V 51; VI 48). Abiturien-
ten: 12. — Den Schulnachrichten geht voraus: Nachrichten über die hö-
heren Schulanstalten, 'welche in Essen vor der Vereinigung derselben zu dem
jetzigen Gymnasium (1819) bestanden haben, zusammengestellt von dem
Director.. 16 S. 4.
12. Kempen], Beim Schlüsse des vorigen Schuljahres trat aus dem
Lehrereollegium der erste Oberlehrer Dr. Bohle, berufen an das Gym-
nasium zu Münster. In Folge dessen rückte der Oberlehrer Dr. GanSz
in die erste Oberlehrerstelle auf. In die 2. Oberlehrerstelle wurde Dr.
Grotemeyer, bisher am Progymnasium zu Dorsten, berufen. Lehrer-
collegium: Director Dr. Schürmann, die Oberlehrer' Dr. Gansz, Dr.
Grotemeyer, Fischer, die ordentl. Lehrer Dr. Stolle, Gramer,
Uebert, wiss. Hülfslehrer Hecker, Zeichnenl. Ferlings, Gesangl.
Grobben. Schülerzahl: 137 (I 24, II 31, III 25, IV 15, V 19, VI 23).
Abiturienten: 12. — Den Schulnachrichten geht voraus eine Abhandlung
des Director Dr. Schürmann: De Ss. Basüio et Gregorio Nazianzeno
litter arum antiquarum studiosis. Pars I. 16 S. 4. I. Quomodo Basilius
et Gregorius adolescentes in studiis litterarum antiquarum sint versati.
IL, Quomodo Ss. Basilius et Gregorius litterarum antiquarum studia,
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228 Kurze Anzeigen und Mtscellen.
quibus adolescentes delectati »int, postero tempore commendaverint. A.
Litterarum antiquarnm studia cor et quomodo eolenda sint, ex scriptis
Basilii ostenditur.
(Fortsetzung folgt.)
Fulda. ^« Ostermann.
Kurze Anzeigen und l^iscellen.
V.
Nekrolog.
Das Gymnasium zu Erlangen verlor bereite beim Beginn des vorletzten
Schuljahrs durch den Tod einen seiner ältesten und verdientesten Leh-
rer Professor Dr. Karl Schäfer. Er war ein Sohn des durch seine
Ueb er Setzung der Pliniusbriefe bekannten und als Schulmann hoch ge-
achteten Consistorialraths und Rectors Schäfer zu Ansbach , wo er am
22. Mai 1800 geboren wurde. Der kenntnisreiche Vater erfüllte des
Knaben mit der Liebe zu den Studien des Altertums und weckte durch
sein Vorbild die Lust am pädagogischen Wirken in seiner Seele. Wenn
der Verewigte, wie er gerne that, bei den Erinnerungen aus. diesen
Jahren der Kindheit verweilte, schilderte er oft mit lebhaftem Danke
den wurdevollen ernsten Vater, der ihn und die Brüder in strenger
Schlichtheit erzog. Von 1808 bis 1817 war er der Schüler des Ans-
bachischen Gymnasiums, das durch seines Vaters kräftige Leitung, so-
wie durch die Wirksamkeit tüchtiger Lehrer in grosser Blüte und ver-
dientem Ansehen stand. Nachdem er dasselbe mit Auszeichnung absol-
viert hatte, widmete er sich an der Universität Erlangen zwei Jahre
lang dem Studium der Rechte; im Jahre 1819 aber begab er sich nach
München, um sich in dem ein Jahr vorher von Thiersch begründeten
philologischen Seminar für das Schulfach auszubilden, da — so drückte
er sich selbst später aus — seine frühere Vorliebe für dasselbe aufs
neue erwacht war. Dort benutzte er eifrig den Unterricht von Thiersch,
der ihm viel Wolwollen schenkte , dem er auch sein Leben lang Wie
größte Verehrung und Treue bewahrte. Als er im Jahre 1821 die Prü-
fung für das Gymnasisllehramt mit sehr günstigem Erfolge bestanden
hatte, erhielt er ein Staats-Reisestipendium, so dasz er die Universität
Leipzig besuchen konnte. Indem er hier bei Spohn, an welchen er sich
besonders anschlosz, und G. Hermann hörte, bereicherte er sich mehr
und mehr mit den Schätzen gediegenen Wissens. Am 10. Oct 1822,
also gleich nach seiner Rückkehr von Leipzig, wurde er zum Lehrer
am Gymnasium in Erlangen ernannt. Vierzig Jahre blieb seine Thä
tigkeit demselben gewidmet, und er hat es Verdient, dasz diese Lehr-
anstalt mit Dankbarkeit seiner gedenkt. Von unteren Classen allmäh-
lich in höhere aufgerückt, bekleidete er seit 1838 die Lehrstelle der
III. (zweitobersten) Gymnasialciasse, in welcher er durch geschmack-
volle Anleitung zum deutschen und lateinischen Stil, durch höchst sorg-
fältige Erklärung des Horaz, Demosthenes, Isokrates und anderer Auto-
ren den Unterricht zu einem sehr fruchtbaren machte. Mit besonderer
Liebe übernahm er seit Jahren in der IV. (obersten) Gymnasiaklasse
die Leetüre des Sophokles. Eifrig beachtete er, wie aus seinen Ge-
sprächen zu erkennen war, alle wissenschaftlichen Erscheinungen»
welche seine Lieblingsschriftsteller betrafen. Unter den Programmab-
handlungen des Gymnasiums erschienen von ihm 1829: Observstiones
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Personalnotizen. 229
ad aliquot Demosthenis loeos; 1834: Ueber Biögraphieen überhaupt, und
die Plutarchischen insbesondere, als Grundlage des ersten historischen
Unterrichts; 1839: Ueber die Aufgabe des Uebersetzers. Welches Ver-
trauen das Staatsministerium in seine Kräfte setzte, zeigt der Umstand,
dasz ihm dreimal zu verschiedenen Zeiten Bectorate von Gymnasien
zugedacht waren; er lehnte jedesmal dankend ab, da er in Erlangen
su bleiben wünschte. Am 1. Jan. 1857 wurde ihm von Sr. Maj. dem
Könige das Ritterkreuz I. Classe des Verdienstordens vom hT Michael
verliehen. Während seines langen Aufenthalts in Erlangen griff er
auch in viele Verhältnisse der Einwohnerschaft thätig ein, namentlich
als Förderer gemeinnütziger und mildthätiger Vereine, und nie verhei-
rathet stillte er aus eignen Mitteln manche drückende Not. Viele Stu-
dierende fanden an ihm einen wolwollenden Berather und Gönner, vie-
len blieb er auch nach Beendigung ihrer Studien einfluszreicher Helfer.
Eine Krankheit, die ihn, während der letzten Berbstferien befiel, machte
so rasche Fortschritte, dasz er am 30. Sept. 1862 derselben erlag und
seine Bestattung die erste Handlung war, welche im abgelaufenen Schul-
jahr Lehrer und Schüler des Gymnasiums vereinigte. Das Gymnasium
wird ihm als einem Lehrer, der die Interessen der Schulanstalt stets
mit gröstem Eifer vertrat, der von inniger Liebe zu seinem Berufe er*
füllt war und zahlreiche Schüler treu heranbilden half, immer ein ehren-
volles Andenken erhalten.
Personalnotizen.
(Unter Mitbenutzung des 'Centralblattes' von Stiehl und der * Zeit-
schrift für die Österr. Gymnasien'.)
Ernennungen, Beförderungen, Versetzungen, Auszeichnungen.
Agte, H., als ordentlicher Lehrer am Progymnasium zu Schrimm an-
gestellt.
Bellermann, Prof. Ferd., Landschaftsmaler, erhielt den rothen Adler-
orden IV Kl.
Bernhardt, Dr., als ordentlicher Lehrer am Gymnasium zu Sorau an-
gestellt.
Bormann, Provinzial-Schulrath zu Berlin, erhielt den rothen Adler*
orden III Kl. mit der Schleife.
Bouterwek, Dr., Director des Gymnasiums zu Elberfeld, als 'Profes-
sor* prädiciert.
Brüggemann, Dr., Geh. Ober-Reg.-Rath zu Berlin, erhielt den Stern
zum rothen Adlerorden II Kl. mit -Eichenlaub.
Busch, Dr., ord. Professor an der Universität Bonn, erhielt den rothen
Adlerorden IV Kl.
Bussmann, Dr., als ordentlicher Lehrer am Gymnasium zu Hamm
angestellt.
v. Daniels, Dr., Obertribunalrath u. ao. Professor an der Universität
Berlin, erhielt den rothen Adlerorden II Kl. mit Eichenlaub.
Dorn er,, Dr., Oberconsistorialrath u. ord. Professor an der Universität
Berlin, erhielt den rothen Adlerorden III Kl. mit der Schleife.
Döring, bisher Gymnasiallehrer zu Wesel, zum ord. Lehrer an der
Realschule in Barmen berufen.
Eggert, Dr., ordentl. Lehrer am Pädagogium zu Jenkau, zum 'Ober-
lehrer' befördert.
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230 Persinalnotizeti.
fettge *, Dr,, Direetor des Gymnasiums au Ostrowe, erhielt den rothen
Adlerorden IV Kl.
Freudenberg, Dr., Oberlehrer am Gymnasium zu Bonn, als 'Profes-
sor' prädieiert.
Frey, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zttj v
FriSuider, Dr., ord. Lehrer am GymJ al* Oberlehrer' prädieiert,
nasium zu Elbing '
Graefe, Dr., Privätdooent, zum ao. Prof. in der med. Fac. der Univ.
Halle ernannt.
Grunert, T>T.y ordentl. Professor an der Univ. Greifswald, erhielt den
rothen Adlerorden IV Kl.
Hoff mann, Dr., als Adjunct am Joachimsthalsehen Gymnasium zn
Berlin angestellt.
Hoffmann, Dr. Paul, zum Professor des röm% und Kirchenrecht» an
der Rechtsakademie zu Pressburg berufen.
Hopf, Dr. Ki, ao. Professor in Greifswald, zum Oberbibliothekar der
Königlichen und Universitätsbibliothek , und zum ord. Prof. in der
philos. Fac. an der Univ. Königsberg berufen.
Jagielski, ord. Lehrer am Gymnasium zu Trzemeszno, als ord. Lehrer
am Gymnasium zu Ostrowo angestellt.
Joachim, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Dortmund angestellt
Kram er, Dr., Prof. u. Director der Franckeschen Stiftungen in Halle,
erhielt den rothen Adlerorden in Kl. mit der Schleife.
Kolter, Dr., als Lehrer an der höhern Bürgerschule zu Rheydt an-
gestellt.
Krönig, Dr., Oberlehrer an der königl. Realschule zu Berlin, als
'Professor' prädieiert.
Laban d, Dr., Privatdocent in Heidelberg, zum ao. Professor in der
jur. Fac. der Univ. Königsberg berufen»
Landfermann, Dr., Geh. Reg.-Rath u. Provinzial-Schulrath zu Cob-
lenz, erhielt den rothen Adlerorden III Kl. mit der Schleife.
Lehnert, Dr., wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rath u. Unterstaatsseeretär im
Ministerium der geistl. Angelegenheiten, erhielt den Stern zum
rothen Adlerorden II Kl. mit Eichenlaub.
Lipschitz, Dr., ao. Prof. an der Univ. Breslau, zum ord. Prof. in der
philos. Fac. der Univ. Bonn ernannt.
Lucas, Dr., als ord. Lehrer am Gymnasium zu Rheine angestellt.
Mandel, Kupferstecher, Professor zu Bertin, erhielt das Ritterkreuz
des belgischen Leopoldordens.
Meinike, Dr., Director des Gymnasiums*
zu Prenzlau, f erhielt den rothen Adlerorden
Menzel, Drt, ord. Professor am Lyceumt IV Kl.
zu Braunsberg '
Mylius, SehAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Stolp angestellt.
Neumann, Dr., Geh. Reg'.-Rath u. Professor an ßtet Univ. Königsberg,
erhielt den rothen Adlerorden II Kl. mit Eichenlaub.
Petermann, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Gütersloh, als 'Ober-
lehrer' prädieiert..
Radlkofer, Df. L., ao. Professor, zum ord. Professor der Botanik an
der Univ. Mönchen ernannt.
v. Recklinghausen, Dr., erster Assistent bei dem pathol. Institut in
Berlin, zum ord. Professor in der med. Fac. der Univ. Königsberg
berufen.
Beb er, Dr., Privatdocent, zum ao. Professor in der philos. Fac. der
Univ. München ernannt.
Reichert, Dr., Geh. Medie.Rafh u. ord. Professor an der Univ. Berlin,
erhielt den rothen Adlerorden IV Kl.
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Personalnotizen. 231
Richter, SchAC, als wiss. Hülfslehrer an der Bealiohttle zu Barmen
angestellt. %
Scheiding, SchAC, als ordentlicher Lehrer am Gymnasium au Stolp
angestellt.
Schmidt, Dr., ord. Lehrer am Progymnasium zu Trarbaeh, als r Ober-
lehrer9 prfidicieri »
Schmidt, Dr., Director am Gymnasium in Brilon, als Director an das
Gymnasium au Paderborn versetzt.
Schmitt, Dr., Director am Gymnasium zu Weilburg, zum Oberschul-
rath ernannt.
Schömann, Dr., Geh. Reg. Bath u. arcL Professor in der phUos. Fac.
der Univ. Greifswald, zum Bitter des Ordens pour le me'rite für
Wissenschaften und Künste ernannt.
Schubarth, Dr., Geh. Reg.-Bath u. ao. Professor in der philo«. Fac.
der Universität Berlin, erhielt den rothen Adlerorden II Klasse mit
Eichenlaub.
Schulz, Beruh. Augustin, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Conitz
angestellt.
Schweitzer, Dr., Geh. Reg.-Bath und Provinzial-Schulrath zu Cöln,
erhielt den preusz. Kronenorden II Kl.
Sommerbrodt, Dr., Director des Friedrich -Wilhelm - Gymnasiums zu
Posen, erhielt dem rothen Adlerorden FV Kl.
Stahl, Dr., als ord. Lehrer am Gymnasium au Apeetem in Com an-
gestellt.
Stauder, Dr., Oberlehrer bei dem Gymnasium an Mari eilen in Cöln,
als Director des Gymnasium« zu Emmerich berufen.
Tappe, SchAC, als ord« Lehrer aa der königstädtischen Realschule
zu Berlin angestellt.
Waizsäcker", Dr., Privatdocent, zürn ord. Professor der Geschichte
an der Univ. • Erlangen ernannt.
Witte, Dat. Herrn., ao. Professor, zum ord. Professor in der jur. Fac.
der Univ. Greifswald ernannt
Witte f Dr. K., Geh,. Justizrath und ord. Professor der Bechte an der
Univ. Halle, erhielt daa Ritterkreuz I Kl. des baltischen Terdienst-
ordens vom h. Michael.
Wohl er, Dr., Obet-Medic.-Raih u. ord. Professor zu Göttingen, zum
Bitter den Ordens pour le me'rite für Wissenschaften und Künste
ernannt.
Zirkel, Oberlehrer am Gymnasium zu. Bonn, als 'Professor* präctieiert.
In Ruhestand getreten!
Brohra, Dr., ordentl. Lehrer am Gymnasium und der Realschule zu
Thorn,
Knick, Dr., Oberlehrer am Gymnasium zu Neustettin.
Krön ig, Dr., Oberlehrer u. Professor an der königl. Realschule zu
Berlin.
Schweitzer, Dr., Geh. Beg.-Bath u. Provinzial-Schulrath zu Cöln.
Starke, Dr., Director des Gymnasiums zu Neuruppin.
Gestorben:
Bock, Regierungs- und Schulrath zu Gumbinnen, starb am 20 Jan.
Calame, Alex., geb. zu Vevay 1814, starb im Süden Heilung für seine
erschütterte Gesundheit suchend, zu Mentone, im Fürstentum Mo-
naco, am 21 März. (Einer der grösten Landschafter, Mitbegründer
der neueren Genfer Schule.)
Dietzel, Dr. Gust, ord. Prof. des röm. Rechts zu Kiel, starb im April.
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232 Personalnotizen.
Ebert, Oberlehrer am Gymnasium 211 Stargard, starb am 24. Januar.
F landriii, Hippolyte, geb. 1815 zu Lyon, starb im März zu Rom.
(Einer der namhaftesten franz. Maler, Schüler von Ingres.)
Gartz, Dr., ao. Professor in der philos. Fac. der Univ. Halle, starb
am 31 Janaar. *
y. Geib, Dr. Gust., Professor des Strafrechts und Senior der Juristen-
facultät zu Tübingen, starb am 23 März,
y. Genczik, Dr. Aug., durch seine Reisen in Afrika bekannt, starb
am 27. April.
Gerkrath, Dr., ao. Professor in der philos. Facultät des Lyceums zi
Braunsberg, starb am 1. Jan.
Gerling, Dr. Christian Ludw., Geh. Hofrath u. ordentl. Professor dei
Mathem., Physik u. Astronomie an der Univ. Marburg, starb aa
16. Jan.
Hase, Dr. Karl Benedict, geb. 1780 in Suiza, starb, 84 Jahr alt, aa
21 März zu, Paris, als Mitglied des Instituts und Director der kak
serlichen Bibliothek, an welcher -er bereits lfc04 auf Befehl Napfi
leon*s des ersten Consuls angestellt ward.
Hoff mann, Dr. Andr. Gottlieb, Geh. Kirchenrath, Senior der thes|
Fac. an der Univ. Jena, starb am 16. März, geb. zu Welbslebei
1796.
Eahlert, Dr. Aug., Professor der neueren Littefatur an der Univei*
Breslau, ebenda am 6 März 1807 geb., starb am 29 März. (Syste«
der Aesthetik. Schlesiens Anteil an deutscher Litteratur. Fein«
sinnige Kunstnovellen.)
Piegsa, Dr., Oberlehrer und Professor am Gymnasium zu Ostrow«
Ploner, Jos., emer. Professor am Gymnasium zu Innsbruck, starb aa
9 Februar.
Rubino, Dr., Professor der Geschichte zu Marburg, starb am 1(X AprS
das. (Gegner Niebuhr's).
Sachs, Dr. Mich., Rabbinats-Assesor zu Berlin, starb am SU Januas
(Auf dem Gebiete der hebr. Sprachforschung eifrig thätig.)
Steinacker, Dr. Wilh. Ferd., Appellationsrath, Domherr u. ord. Pr»
fessor der Jurisprudenz an der Universität Leipzig, starb
14 März.
Tölken, Dr., Geh. Reg.-Rath, Professor u. Director der Antiquar. Ab»
teilung des Museums zu Berlin, starb am 17 März' daselbst, im 79
Lebensjahr.
Zip 8 er, Dr. Christian Andr., starb zu Neusohl in Ungarn am 20 Febr^
80 Jahr alt (fder Nestor der ungar. Naturforscher').
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Zweite Abteilung.
Seite
15. Aus dem Jugendleben Michael Neander's. Vom Gymna-
siallehrer Dr. F. Latendorf in Schwerin 169 — 179
16. Goethe's elegische Dichtungen in ihrem Rechte. Vom
Bibliothekar Prof, Dr. H. Dünizer in Köln 180—201
17. Amor und Psyche. Vom Studienlehrer Dr. H. Stadelmann
in Memmingen 202—212
Berichte über gelehrte Anstalten usw 213 — 228
Arnsberg (215), Bielefeld (215), Brilon (215), Burgsteinfurt
(216), Coesfeld (216), Dortmund (216), Gütersloh (217), Hamm
(217), Herford (217), Minden (218), Münster (218), Paderborn
(219), Recklinghausen (219), Soest (219), Warendorf (219),
Aachen (221), Bedburg (224), Bonn (224), Cleve (225), Co-
blenz (225), Duisburg (225), Düren (226), Düsseldorf (226),
Elberfeld (226), Emmerich (227), Essen (227), Kempen (227).
Kurze Anzeigen und Miscellen. V. Nekrolog 228 — 229
Personalnotizen 229—232
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Leipzig,
Druck and Verlag von B. G. Teubner.
1864.
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BBS
Zweite Abteilung:
für Gymnasialpädagogik and die übrigen Lehrfächer,
mit Ausschlusz der classischen Philologie,
herausgegeben tm Prtfesstr Dr. lerian Mastis.
18.
Noctes» scholasticae.
2.
Pfußoherei, Handwerk und Kunst im Unterricht.
Es hat mich, ich will es offen bekennen, jedesmal eiskalt Oberläufen,
wenn ich über einen Lehrer das harte, mitleidslose, vernichtende Urteil
habe hören müssen, er betreibe sein Lehramt handwerksmäszig.
Gehört es denn, habe ich da oft bei mir gedacht, so notwendig zn dem
Wesen des Handwerks, dasz es mechanisch, geistlos getrieben werde?
Ist mit ihm eine rechte Liebe zur Jugend, zur Wissenschaft, zu der Thä-
tigkeit und dem Berufe selbst so durchaus unvereinbar? Oder ist das
Lehren wirklich eine Sache, bei welcher eine handwerksmäszige Tätig-
keit absolut verwerflich wäre? Ich selbst hatte von dem Handwerk stets
grosz gedacht und die echten Meister des Handwerks hoch in Ehren ge-
halten; ich hatte auch gelesen, \\ie in andern geistigen Gebieten, z. B.
der bildenden Kunst, der Musik, ja selbst der Poesie, mancher ehrbare
Meister erstanden sei , dessen Leistungen sich zum Kunstwerk erhoben
hätten; ich hatte es daher selbst meine unausgesetzte, gröste Sorge sein
lassen , mir im Lehrfach ein Analogon von handwerksmäsziger Tüchtig*
keit anzueignen, und sollte nun von dem, worauf ich den bessern Teil
meines Lebens und Strebens verwendet, so misachtend sprechen hören?
Wie mich das befremdet , gewurmt , zu dieser und jener Vermutung ge-
bracht hat, kann ich kaum mit Worten sagen. Entflieh habe ich mich
entschlossen meine Gedanken hierüber zu sammeln , zu ordnen und zu
verwerten, um mich vor mir selbst zu Ehren zu bringen und auch andere
auf das Handwerk hinzuweisen als auf etwas, dessen sie nicht nötig
haben sich zu schämen. So sind die folgenden Worte entstanden; ich
kann versichern, dasz ich mich lange mit diesen Fragen herumgetragen
N. Jahrb. f. Phil. n. Pid. II. Abt. 1864. Hft. 5 u. 6. 16
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234 Noctes scholasticae.
habe und meine Gedanken nicht würde veröffentlicht haben , wenn ich
nicht dächte, dasz sie doch vielleicht hier und da auf fruchtbaren Boden
fallen könnten.
Goethe hat vor Zeiten einmal gesagt, es verhalte sich die Pfuscherei
zum Handwerk wie der Dilettantismus zur Kunst. In unserm Schulfache
fällt der Dilettantismus, soll ich lieber sagen Gottlob oder leider? hinweg.
Denn unsere Thätigkeit ist nicht so angethan, dasz sie eine leichte, hei-
tere und genuszreiche Beschäftigung darböte und so die Liebhaberei reizte;
eben so wenig aber ist dasProduct, welches sie zu gewinnen strebt,
geeignet, durch Ostentation sich bei der Menge Gunst zu erwerben.
Es bleiben uns also nur die drei Rubriken der Pfuscherei, des Hand-
we r k s und der Ku n s t übrig, unter welche wir uns schon gefallen lassen
müssen eingeordnet zu werden. Man wird natürlich nicht an dem Aus-
druck Handwerk mäkeln dürfen , indem man das Handwerk auf diejenige
Thätigkeit beschränkt, welche ein £pYOV, nicht aber eine irpä&C «zum
Ziele und Zwecke hat; uns ist es hierbei nicht um dieses Product der
Thätigkeit , sondern um die Beschaffenheit der Thätigkeit selber zu thun,
und so dürfen wir wol den Begriff des Handwerks im weiteren Sinne ge-
brauchen, um so eher als wir das Handwerk, auch im Lehrfache, mit
groszer Hochachtung betrachten. Denn wie es in der Mitte steht zwischen
erbärmlicher Pfuscherei und der vom Himmel stammenden , zum Himmel
strebenden Kunst, in sich selbst solide und tüchtig, seiner selbst gewis,
Achtung gebietend und verdienend, selbst die Voraussetzung der Kunst,
die ohne die Basis des. Handwerks sich ins Phantastische und Nebelhafte
verlieren wurde , so kann «5 auch dem Lehrer nur zur Ehre gereichen,
wenn man ihn in aller Weise einen Schulmeister nennen möchte.
Es haA offenbar lange gedauert , ehe man es zu der Idee des Hand-
werks — ich spreebe von dem Handwerk überhaupt — gebracht hat.
Wie viele Schritte haben gethan werden müssen von der Zeit ab, wo der
einzelne in roher Wqise allen seinen Bedürfnissen zu genügen suchte, bis
zu der Zeit, wo das Handwerk sich ausgebildet und zu Ehren hinangear-
beitet hatte! Das Handwerk ist nicht eine Frucht, welche mühelos dem
Menschen in, den Schosz herabgefallen ist, sondern das Resultat eigener,
mühevoller und langwieriger Arbeit. Ueberblicken wir nur einmal den
Weg, welcher, hat zurückgelegt werden müssen, ehe die Frucht des Hand-
werks gezeitigt worden ist.
Das Handwerk beginnt mit einer durch irgend ein Bedürfnis veran-
lassten Thfti&keit, welche der Mensch für den Zweqk des eignen Lebens
übernimmt; diese Thätigkeit ist eine sich wiederholende und zwar eine
sich mit einer gewissen Regelmäszigkeit wiederholende; aus einer ein-
maligen und zufälligen entwickelt sich kein Handwerk, bie Wiederholung
einer gleichartigen Thätigkeit gibt für diese eine gröszere Gewandtheit
und ein Bewußtsein über die Art, wie diese Arbeit am leichtesten, rasche-
sten und sichersten auszuführen sei. Wenn andere, von gleichem Be-
dürfnisse getrieben, diesem Bedürfnisse in anderer Weise nachkommen,
so wird dadurch daß Nachdenken erweckt, welcher von den vielen Wegen,
die alle zu demselben Ziele fahren , der bessere und beste sei ; ist dieser
Noctes scholasticae. 285
Weg erkannt, so werden bald alle andern Wege aufgegeben and nur der
eine anerkannt beste betreten und verfolgt werden, und diejenigen, wel-
che ihn noch nicht kennen , welche aber von seinem Vorhandensein ge-
hört haben, sich von den seiner Kundigen über ihn unterrichten lassen.
Sie werden dies um so mehr thun, je mehr die Zahl der Bedürfnisse
steigt und je complicierter jedes einzelne Bedürfnis wird d. h. je mehr
Bedürfnisse in dem einen Bedürfnisse zugleich mit eingeschlossen sind
und befriedigt sein wollen. Allein auch dies wird bald nicht mehr ge-
nügen. Trotz jenes Unterrichts wird doch die Notwendigkeit eintreten,
dasz, damit jedem einzelnen Bedürfnisse in möglichst hohem Grade Genüge
geschehe, die Arbeit sich teile und nicht mehr jeder für sich allein, son-
dern einer für viele und viele für einen arbeiten. Die Organisation der
Arbeit hat begonnen. Mit der Goncentration der Thatigkeit auf einen be-
stimmten Kreis vervollkommnet sich diese Thatigkeit mehr und mehr; das
Bewustsein über sie wird klarer, die Technik sicherer und gewandter,
die Werkzeuge künstlicher und schwerer zu gebrauchen; es ist nunmehr
nötig, dasz die Thatigkeit auf einem förmlichen Erlernen , auf langer und
accurater Uebung beruhe. Der Laie, welcher diese Arbeit nicht auf sich
nimmt, kann nicht mehr das Gleiche leisten wie der 'Gelernte5. Es wäre
Vermessenheit, wenn er mit dem rivalisieren wollte, der sich sein Können
hat so sauer werden lassen müssen. Um diesem Eindringen zu wehren,
schiieszen sich diejenigen, welche an Tüchtigkeit einander gleich stehen
und überdies, da sie auf diese Tüchtigkeit ihre Stellung im Leben grün»
den, auch durch gleiches Interesse verbunden sind, an einander und eben
so nach auszen hin ab: es bildet sich ein Stand mit bestimmter Organi-
sation, in bestimmten Formen, mit bestimmten Gebräuchen, in und au
denen sich die Standesgenossen als solche erkennen.
Ich wüste in der That nicht, dasz der Weg, auf dem sich allmählich
eine Technik des Unterrichts und ein Lehrerstand gebildet hat, von dem
wesentlich verschieden wäre, auf dem sich jedes Handwerk entwickelt
hat. Allerdings ist das Bedürfnis, welchem durch die Thatigkeit des Leh-
rers genügt werden soll, ein aus der geistigen Natur des Menschen ent-
sprungenes; allerdings sind die Mittel, deren sich der Lehrer bedient,
wieder mehr geistige; abgesehen hiervon aber ist der Gang, auf dem diese
Thatigkeit des Lehrers zu immer gröszecer Vollkommenheit gelangt ist,
doch der gleiche, wie der oben angedeutete. Der Unterricht beginnt in
sehr einfacher und roher Empirie , gelangt nach und nach zum Bewust-
sein über ein dabei einzuhaltendes Verfahren , gewinnt durch Abstractiod
gewisse Regeln, welche dabei befolgt werden müssen, erreicht mit Hülfe
dieser Regeln eine sichere Technik, welche sich dann traditionell erhält
und immer mehr vervollkommnet , und wird so zu einem Geschäfte —
ich würde sagen Kunst, wenn uns dieser Ausdruck nicht in Zweideutig-
keiten verwickelte — , welches nicht mehr der erste beste ausüben kann,
sondern nur derjenige, welcher es wirklich auf regelrechte Weise gelernt
hat. Wir sind über die Grundsätze der allgemeinen Didaktik der Alten
besser unterrichtet als über das technische schulgerechte Verfahren ; aber
auch was das letztere anbetrifft, so können wir doch in einzelnen Teilen
16*
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236 Noctes scholasticae.
des Unterrichts, wie in der Grammatik und in der Rhetorik, sehr deut-
lich beobachten, wie diese Disciplinen sich in einer Art von Continuitäl
fortbildeten und von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten, wie man an
dem Bewahrten, durch Erfahrung Erprobten festhielt, fast mit Pedanterie,
und hieran anknüpfte, wie man eine Abneigung hegte gegen absolut
neue Wege und dafür lieber am Traditionellen besserte und flickte, bis
man sich dabei in Kleinigkeiten verlor. Wenn man die Rhetoren der
Byzantiner verfolgt, so wird man das Gefühl haben, dasz man sich gam
auf dem Boden des Handwerks befindet. Sie nehmen denselben Gang, voi
dem sie je länger um so weniger abweichen ; sie haben bis auf Kleinig-
keiten die einmal herkömmlichen Definitionen, oft selbst die nemlichei
Beispiele, an denen sie ihren Schülern ein Progymnasma klar machen;
sie glauben schon etwas Groszes geleistet zu haben, wenn der spätere ai
der Definition der früheren ein Wort ändert, hinzufügt oder wegläszt; &
haben auch ihre Stichworte, an denen sie sich als Handwerksgenoss«
erkennen. Und in dieser meinetwegen beschränkten Sphäre, in diesen
immerhin geistlosen Treiben sind. sie mit einer Treue und Gewissenhaftig-
keit thätig, welche jeden Beobachter, der hierfür ein Herz hat, mit wahi
rer Rührung erfüllen musz. Die Definition Goethe's , das Handwerk setze
voraus, dasz irgend eine Fertigkeit f nach Regeln gelernt, auf die be-
stimmteste Weise nach der Vorschrift und unter dem Schutze des Ge-
setzes geübt werde , gilt auch in der letzten Bestimmung völlig von dei
Art und Weise , wie von den Rhetoren und von den Grammatikern di(
Praxis des Unterrichts geübt wurde.
Es sind also diese beiden, Regeln und Technik, welche d*
Handwerk constituieren ; wir werden diese beiden , Regeln und Technik
auch von jedem Lehrer zu fordern berechtigt sein ; wir werden sich«,
wenigstens den Lehrer, der diese beiden wirklich besitzt und nach und,
mit ihnen seine Arbeit treibt, als einen Mann betrachten, der sein Fad
versteht, wenn wir auch einräumen, dasz es einzelne Lehrerpersönlichkeit«
geben könne, welche, auch ohne jene beiden Requisite, als Lehrer Tüeb
tiges geleistet haben. Ein eigentlicher Lehrstand vollends, in sich abgfr
schlössen , ist nicht zu denken ohne eine solche ihm speciell eigentüm-
liche Erworbenschaft an Regeln und Technik, man müste denn glauben
dasz eine Anzahl Leute, die ein und dasselbe Geschäft treiben, aber jedä
nach seiner eigenen Manier, sich für ein Ganzes zu halten berechtigt wäre
Und doch scheint es, als ob man dieser strengen Zucht, wie man ä
früher besessen und geübt hat, wie sie das Handwerk überall fordert
jetzt ohne Schaden entbehren zu können meine. Zwar offen ausgesprochei
hat man diese Geringschätzung nicht; gleichwol ist sie kaum zu bezwei-
feln. Wir wüsten nicht, dasz die Behörden von dem angehenden Lehrer
den Nachweis forderten, dasz er sich pädagogisch -methodisch zu bilden
gesucht habe. Die jungen Leute selber zieht es eher zu allen andern aN
diesen Studien. Das Probejahr , welches in Preuszen so weise angeordnet
war, ist bei. dem herschenden Mangel an Lehrern halb illusorisch gewor-
den, da wir sehr froh sein müssen, nur Lehrer zu bekommen, wenn sie
auch vom Unterrichten noch so gut wie nichts verstehen. Die Folge davon
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Noctes scholasticae. 237
ist, dasz die Zahl der technisch wohlgeschalten und tüchtigen Lehrer
äuszerst gering ist, und dasz wir sehr froh sein müssen, wenn wir Leh-
rer besitzen, welche entweder von einem natürlichen Tacte geleitet das
Rechte treffen und thun oder von ihrer Jugend her ein Ideal mitbringen,
welches sie fest im Auge behalten und in ihrer eigenen Thätigkeit dar*
zustellen suchen. Es ist das alles, wir leugnen es nicht, recht schön
und löblich, ersetzt aber immer nicht die Techne und die technische Zucht,
und es gelten in dieser Beziehung noch heut wie immer die goldenen
Worte, welche Aristoteles im Eingange zu seiner Rhetorik zum Lobe der
Techne und über die Mangel und Unsicherheit der Hezis gesagt hat. Es
wird natürlich immer einzelne Lehrer geben , welche ohne Theorie und
System, ohne technische Zucht und Schulung im Unterricht und in der
Erziehung Vollendetes leisten , wie dies ohne Zweifel Wolf in Osterode
geleistet hat, welche nicht nach vorgeschriebenen Regeln arbeiten, son-
dern in bewuster und bewustloser Genialität von innen heraus streben und
schaffen ; aber
1) ist, was diesen hervorragenden Genien, möglich war, nicht für
den Lehrstand als Gesamtheit möglich;
2) werden eben deshalb von Zeit zu Zeit solche Männer der Welt
geschenkt, damit sie ein ganz in Regeln untergehendes und darin erster-
bendes Geschlecht wieder beleben und kräftigen, und eine Oisciplin in
neue Bahnen einlenken ;
3) sehen wir doch auch bei ihnen eine Unsicherheit und ein Hin- und
Herschwanken der Ansichten und Meinungen , so dasz es z. B. schwer
sein dürfte, aus Wolf s Aeuszerungen , wie er sie zu verschiedenen Zeiten
gethan bat, ein System Wolfischer Pädagogik und Didaktik zu entwerfen
— womit ich natürlich nichts zum Nachteil Wolfs gesagt haben will.
Im Gegenteil finde ich es nur natürlich , dasz ein so hoher und reicher
Geist den Standpunkt wechsele , von dem aus eine Sache zu betrachten
ist, um die Fülle tiefer und wahrer Gedanken, welche aus seiner Seele
hervorquillt , ans Licht zu fördern und uns kleinen Geistern nutzbar zu
machen. Was aber einem Wolf natürlich ist, wird für uns zu einem Feh-
ler und zu einer Schwäche.
Fragen wir uns nun, woher diese Misachtung der Technik stamme,
so ruht sie
1) entweder auf dem guten und frommen Glauben , es werde sich
mit dem Unterricht schon von selber machen , auf der Vorstellung also
von dem Unterrichten als einer leichten Sache , zu der es keiner besonde-
ren Schulung und keiner speciellen Lehrzeit bedürfe. Es ist das freilich
eben so weise , wie wenn man einen Knaben , der nie schwimmen gelernt
hat, in tiefes Wasser werfen wollte, in der Meinung, das Schwimmen
werde sich von selber machen. Freilich macht es sich auch, aber wie?
und mit welchem Schaden für die Schule? Manche Lehrer bleiben in
Folge dessen immer Anfänger und Lehrlinge; andere, die besseren, tüch-
tigeren, arbeiten sich heraus und kommen, indem sie durch eigene Mis-
griffe lernen oder das gute Verfahren anderer beobachten, endlich auf
festen Boden ; aber wie lange dauert dies ! wie müssen sie mühsam herum«
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238 Noetes scholasticae.
tappen, ehö sie den rechten Weg finden! Wie gehen ihnen selbst oft
schöne Jahre ihres Lebens darüber verloren, welche besser hätten ange-
legt werden können, wenn 'sie von vorn herein den rechten Führer ge-
fanden hätten! Ich spreche hier aus eigenster, schmerzlichster Erfahrung
und weisz wias ich sage : mit meinem Herzblute habe ich es bezahlen
müssen, was ich, wenn mir nur jemand einen leisen Wink hätte geben
wollen, leichteren Kaufs gewonnen haben würde. Kommt dann später
gar der Hochmut hinzu, nichts mehr zu bedürfen, oder eine falsche
Scham, nicht mehr bei einem andern in die Schule zu gehen, so ist alles
verloren und der Lehrer qua Lehrer für die Zeit seines Lebens verdorben.
Wie gesagt also , das Unterrichten macht sich eben nicht von selber.
2) Noch andere knüpfen ihre Hoffnungen an die besonders für den
Unterricht organisierte Persönlichkeit; wenn diese vorhanden sei, so ge-
linge das Lehren auch ohne Technik; wenn sie nicht vorhanden sei, sei
doch alle Technik umsonst. Leider haben wir nicht die Möglichkeit, uns
diejenigen Persönlichkeiten, welche wir etwa gebrauchen könnten, im
Lande auszusuchen , und andrerseits haben diese besonders begabten Na-
turen nicht immer die Neigung sich dem Lehrfache zu widmen. Mir selber
sind gar viele, die ich für diesen Beruf gewonnen zu haben glaubte, so-
bald sie mir aus den Augen waren, wieder abgesprungen und andere
Wege gegangen. Wir sind einmal auf eine Mehrzahl von Lehrern ange-
wiesen , bei denen jene Genialität nicht vorauszusetzen ist. Sollen diese
nun darum ihren Lebensberuf verfehlt haben? sollen sie bei Seite gescho-
ben und gegen andere Begabtere zurückgesetzt werden? soll dies der Lohn
für vieljährigen treuen Fleisz sein , mit dem sie sich zu ihrem Lebens-
berufe vorbereitet haben? Im Gegenteil; hat Lessing gesagt, dasz die
Kritik ihm etwas sei, was dem Talent oder Genie nahe komme, so mei-
nen wir, dasz eine gute Schulung jene Genialität im Lehrfache so gut
wie ersetzen könnte, allerdings nicht, um Neues zu schaffen, wol aber, um
das gute Alte anzuwenden und zu verwerten, um die Schüler zu treuer
1 Arbeit anzuhalten, um gründliche Kenntnisse zu geben, um diese oder
jene Disciplin mit Sicherheit einzuprägen und das Gelernte in strenger
Zucht zu üben, um einen Grund zu legen in Gesinnung und in Kennt-
nissen, auf dem nachher andere mit Zuversicht fortbauen können. Zu dem
allen braucht man keine glänzenden Talente. Auch der mäszig Begabte,
auch der minder Gelehrte kann Gutes , ja Vorzügliches leisten , wenn er
sich in einer Sphäre erhält, die nicht über seine Kräfte hinausgeht, und
wenn /jene Technik bei ihm vorhanden ist , welche uns leider mehr und
mehr abhanden kommt. Er setzt sich kein hohes und fernes Ziel , aber
er weisz, was er will und was er kann, und er wird dies erreichen; er
hat bereits manchen guten Schritt vorwärts gethan , während andere noch
mit sich selber im unklaren sind , wohin sie ihren Blick richten sollen ;
er experimentiert nicht hin und her, denn er kennt die Wege, welche er
einschlagen, die Klippen, welche er vermeiden, die Mittel, welche er
wählen musz; er ist auf alles, was ihm begegnen, was ihn in seiner
Thätigkeit hemmen oder stören kann, im voraus gefaszt und weisz, wie
er diese Hemmungen zu beseitigen hat; jedes seiner Worte ist wohl er-
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Nöctes scholasticae. 289
wogen, jede seiner Handlungen wohl berechnet; für jüngere College«
wird er ein VorbHd, dem Director ist er ein Halt und eine Stütze, die
Schüler blicken auf ihn mit Ehrfurcht, das Publikum ehrt ihn, wie es
jeden ehrt, der sein Fach versteht. Wenn ich die Wahl hStte, würde ich
diesen in sich sichern, klaren, technisch vollendeten Lehrer dem glänzen-
den Talente, das dieser Schulung entbehrte, weit vorziehen. Man spricht
mir von geistreich und genial ; ich liebe das Solide und Gediegene , wel-
ches die Fracht und Folge einer tüchtigen Technik ist.
S) Es lftszt sich jedoch noch eine andere Ursache entdecken , durch
welche die Technik des Unterrichts in Nisachtung und Verfall gekommen
ist, und hierbei will ich einige Augenblicke verweilen.
In den protestantischen Schulen Deutschlands hat ebenso wie in den
Schulen der Jesuiten, quos tarnen honoris causa nomino, die Technik im-
mer im Vordergrund gestanden. Die groszen Paedagogen des 16. nnd 17.
Jahrhunderts, wie Trotzendorff, Sturm und Neander, die Ratichius und Arnos
Comenius haben hierin ihre eigentliche Grösze gehabt. Nun I9szt sich gar
nicht in Abrede stellen, dasz diese Technik leicht ins Mechanische hinab-
führt, wie dies bei den Technikern der Byzantiner und des Mittelalters
überhaupt der Fall gewesen ist. Man kann es in den Geschichten der
deutschen* Schulen, deren wir ja eine so grosze Zahl und so vortreffliche
besitzen, genau verfolgen, wie dieser Mechanismus bald nach dem eigent-
lichen Reformationszeitalter eingetreten ist. Dies hat denn in den Augen
manches einsichtigen nnd ernsten Mannes die Technik überhaupt in Mls-
credit gebracht, und man hat gesucht sie durch ein anderes den Geist
wirklich und tief bildendes Element zu ersetzen. Bald ist es die reale
Welt gewesen, auf welche man das Auge hinlenkte, bald das Religiöse,
bald die Zwecke und Bedürfnisse des praktischen Lebens; vor allen Dingen
aber hat man das Studium der Alten zu beleben gesucht. Zwar war dies
Studium nie aus den deutschen Schulen ganz verschwunden; vielmehr
hatte es den Mittelpunkt des Jugendunterrichts gebildet; jetzt aber drang
man auf ein Eindringen in den Geist des Altertums , auf ein Sichdürch-
dringen mit diesen Elementen , auf eine Art von geistiger und sittlicher
Wiedergeburt aus den Werken der Alten. Kurz die Philologie, welche
Wolf in die Schulen einführte, war doch wesentlich etwas anderes, als
was Ernesti und Gesner darunter verstanden und dabei erstrebt hatten.
Wolf war nicht blosz gegen die Paedagogik, welche Trapp vertrat, son-
dern auch gegen die Philosophie, wie Oberhaupt gegen alles, was nicht
im Bereich der Philologie lag, mit Verachtung erfüllt nnd übertrug diese
Verachtung auch auf seine Schüler. Seit Wolf, kann man sagen , ist die
alte Technik aus unsern Gelehrtenschulen mehr und mehr verschwunden
und das Interesse an der Didaktik überhaupt immer geringer geworden.
Die Form des Unterrichts ist von dem Inhalt desselben verschlungen
worden, ohne dasz dieser Inhalt eine neue Form aus sich erzeugt hätte.
Und dies ist, wenn man sich nicht täuschen will, der Zustand, in dem
wir uns noch heut befinden, ein Zustand, dessen man sich unmöglich
erfreuen kann. Die Wiederbelebung des classischen Altertums hat eine
wohlausgebildete Didaktik zur Folge gehabt, in welcher z. B. unter Sturm
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340 Noctes scholasticae.
mit der allergrösten Sicherheit gearbeitet wurde. Eben so ist auch der
Reform des Unterrichts , ab deren Vertreter wir Arnos Gomenius betrach-
ten, eine positive Technik gefolgt. Die Philanthropen haben, was man
auch von ihnen sagen möge, gewuszt, was sie wollten, und dies ihr Ziel
mit Festigkeit erstrebt. Wir können nicht das Gleiche sagen weder von
August Hermann Franke noch von Friedrich August Wolf. So grosz und
herlich beide dastehen , so haben «ie doch selbst das Technische hinten-
angesetzt und auch unter ihren Schulern niemand gefunden, der diese
Seite ergänzend hinzugefügt hätte , obwol es nur einfach naturgemäsz ist,
dasz eii|e neue Wissenschaft , und die Philologie Wolfs war eine neue
Wissenschaft, oder eine neue pädagogische Richtung auch Talente er-
weckt, welche diese pädagogische Richtung ins Leben einzuführen oder
jene Wissenschaft lehrbar zu machen suchen.
Und dies ist allerdings der Punkt, welcher bei dieser Frage vor-
nemlich ins Auge zu fassen ist : die Vereinigung dieser beiden , der Wis-
senschaft und der Methode, eine Vereinigung, in welcher beide ihre
Schranke, eben so aber auch einen Impuls zu Leben und Energie haben,
so dasz diese Reschränkung nicht zu einer Abschwächung , sondern viel-
mehr zu einer inneren Kräftigung dient. Denn die wissenschaftliche Be-
wegung erhält neue Schwungkraft, indem sie praktische Wirksamkeit
gewinnt; die Technik aber und die Methode werden vor Erstarren im Me-
chanischen geschützt, indem der Strom der Wissenschaft durch sie hin-
durchgeleitet wird. Die Schule namentlich ist der Ort, wo diese Ver-
bindung am leichtesten und glücklichsten vollzogen wird. Es gehört zu
ihrem Wesen , dasz beide Factoren zugleich in ihr vorhanden sind , wenn
auch das Verhältnis der Mischung je nach Zeit und Person ein verschiede-
nes und ein wechselndes sein kann. Diejenigen also, welche vor der tech-
nischen Richtung eine Resorgnis hegen , besitzen in dem stetigen wissen-
schaftlichen Studium ein hinreichendes Sicherungsmittel. Der Leher,
welcher in der Wissenschaft lebt, wird nie Gefahr laufen im Mechani-
schen zu erstarren.
Ist denn aber in der That das Unterrichten eine so schwere Sache,
dasz es dafür einer speciellen Schulung bedürfte, wie sie bei dem Hand-
werk gefordert wird?
Rei einem jeden Unterricht finden sich drei Momente veinigt :
1) der zu lehrende Gegenstand;
2) der zu unterrichtende Schüler;
3) der unterrichtende Lehrer.
Der Zweck des Unterrichts ist, Nr. 1 und 2 mit einander zu vereini-
gen; der die beiden bis dahin noch getrennten Vereinigende, Vermittelnde
ist ,der Lehrer. Wenn Object und Subject nun von Natur so angethan
wären, dasz sie einen natürlichen Zug zu einander empfänden, wie der
Magnet das Eisen an sich zieht, so bedürfte es entweder überhaupt keines
Lehrers, oder es würde doch die Function des Lehrers zu einem Minimum
herabsinken; er brauchte nur still zu halten, um mühelos den Gegenstand
zu dem Schüler hinüberzuleiten. Nun aber sind jene beiden zunächst oft
sehr spröde , ja feindselig gegen einander. Der Gegenstand stellt sich als
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Noctes scholasticae. 241
viel zu schwer für die Fassungskraft des Knaben dar und entmutigt ihn
von vorn herein; er hat überdies oft so wenig Lockendes an sich;
andrerseits zieht den Knaben seine wahre Neigung zu ganz andern Gegen-
ständen hin , als die zu lernenden sind. Der Lehrer ist es nun , der das
sich so Widerstrebende zu einander hinlenken und in eins zusammen-
flieszeu lassen soll. Seine Aufgabe ist da eine viel compliciertere als die
der einfachen Mitteilung. Hier gilt es, die Abneigung des Knaben zu über-
winden, ihn aus seiner Trägheit und Passivität^ufzurütteln, seinen Willen
in Bewegung zu setzen, seine geistigen Kräfte zu reizen, ihn zu einer
Sammlung seiner selbst zu nötigen und darin festzuhalten, das Pflicht-»
gefühl in ihm zu erwecken, Denken und Nachdenken in ihm hervorzurufen :
alle diese Sachen machen sich eben nicht von selbst : der Lehrer musz es
vielmehr wissen , wie er sich dabei zu verhalten , was er dazu zu thun
hat, und musz darin eine Uebung besitzen, welche ihres Erfolges sicher
ist, so weit man überhaupt auf diesem Gebiete des Erfolges sicher sein
kann. Es gilt zugleich, das Object zu fassen und ihm eine Seite abzu-
gewinnen, von welcher aus es dem Knaben nicht mehr weder als zu
schwierig noch als reizlos erscheine, den Gegenstand sich allmählich im-
mer mehr entfalten , seinen Inhalt nach und nach aufthun zu lassen , den
Gegenstand einem jeden Lebensalter gerade von der Seite zu zeigen,
welche der geistigen Passungskraft adäquat ist. Das alles ist sehr schwer.
Und wenn sich hieraus allgemeine Regeln. und Methoden der Didaktik er-
geben , so kommt hierzu , dasz jeder einzelne Lehrgegenstand eine beson-
dere Didaktik hat, dasz eine besondere Technik erforderlich ist, um ihn
zweckmäszig zu behandeln. Die Religion kann nicht gelehrt werden wie
die Mathematik; die Allen sprachen nicht wie die Neueren, ja in den Alten
wieder darf der Dichter nicht gelesen werden wie der Prosaiker, und
unter den Dichtern nicht Homer wie Sophokles, Horaz wie Virgil. Eben
so ist das Lebensalter zu beachten. Der Sextaner und Quintaner hat an der
Geschichte etwas anderes als der Quartaner und Tertianer, und den obe-
ren Klassen soll und musz die Geschichte wieder, etwas anderes sein. Es
sind andere geistige Kräfte, welche hier und dort für eine und dieselbe Dis-
cipliu in Anspruch genommen werden. Eine Nichtbeachtung dieses Unter-
schiedes verdirbt den ganzen Unterricht. So wächst hinter der allgemei-
nen Didaktik die specielle her. Und der Irtum ist für den Irrenden nicht
so leicht zu erkennen; es ist eine seltene und glückliche Begabung, des
Falschen an sich selbst bald inne zu werden. Vielmehr ist das Gewöhnliche,
dasz man vom rechten Wege weiter sich entfernt , dasz man sich tiefer
und fester in eine falsche Richtung verrennt oder aber von Extrem zu
Extrem überspringt. Da bedarf es denn wol einer leitenden Hand, wel-
che, Erfahrung und Rationelles verbindend, den rechten Weg zu wählen
und zu führen gewohnt ist. Es ist nicht schwer den Techniker von dem
Naturalisten, den geschulten und gelernten Lehrer von dem rohen Empi-
riker zu unterscheiden. Man weisz auf den ersten Blick , wen von beiden
man vor sich hat. Jedes Handwerk hat gewisse Handgriffe, an denen man
den erkennt, der das Handwerk regelrecht gelernt hat; der Unterricht hat
und bedarf gleichfalls solcher Handgriffe, welche zur Technik gehören.
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242 Noctes scholasticae.
Es thut mir leid , dasz ich hier nicht in das Einzelne 'weiter eingehen
kann.
Es giht natürlich der Methoden viele, wie der Wege viele nach Rom
fuhren : nur dasz ein Be wüst sein über die Methode da sei , nur dasz jeder
die technische Vollendung in seiner Methode besitze. Die alten Innungen
forderten auch, dasz jeder, bevor er Meister werde, seine Wanderung
mache und sich in der Welt umsehe; wer hält den Lehrer ab , sich gleich-
falls umzusehen und zu tarnen, wie andere die Sache angreifen? Das
Handwerk hat einen Geist der Tüchtigkeit , der Rechtschaffenheit in sich
«und ein Streben, welches in die Kunst hineinreicht; auch für den wacke-
ren Lehrer kann es keine gröszere Freude in der Welt geben, als Neues
zu lernen und sich in seinem Berufe zu vollenden. Ich erwähne dies nur,
um denen zu begegnen , die etwa in unserer Technik etwas geistig Be-
schränktes und Kümmerliches zu sehen glauben könnten.
Doch wir haben vorher allzukühn den Pfuscher und den sein Hand-
werk verstehenden Meister einander gegenübergestellt ; wir werden auch
hier , wie überall im Leben , zu dem alten Worte Heraclit's des Dunkelen
zurückkehren müssen, dasz alles fliesze, dasz auch Entgegengesetztes sich
mit einander verbinde und mische , dasz , was begrifflich auseinanderzu-
halten sei, im Leben zusammenfliesze. Oder sollen wir den Pfuscher
nennen, der in unbefangenem Glauben an die flacht und Wirksamkeit der
Sache, an die Kräfte der eigenen Person , an die Lernbegier der Jugend,
es verschmäht nach trockenen Regeln sich umzusehen oder in einer schein-
bar geistlosen Weise das Werk anzugreifen, welchem er mit beiszester
Liebe seines jungen Herzens sich geweiht hatte? Sei das doch ferne von
uns. Und gelingt ihm zumal seine Arbeit, ohne die Unterstützung, wel-
che uns langes Studium und anhaltende Uebung darbietet, warum sollten
wir uns dieser seiner Arbeit nicht freuen und ihn als einen der unsern
begrüszen? Wer ist also der eigentliche Pfuscher, und woran unterschei-
den wir ihn von jenen strebenden Naturen? Das erste Kennzeichen ist,
dasz er schlechte Arbeit liefert, namentlich eine Arbeit, der man
das Unsolide ansieht ; das zweite, dasz er lügnerisch und trügerisch dieser
seiner Arbeit einen äuszeren Schein zu geben sucht, durch den jene
Fehler verdeckt werden; das dritte, dasz er den Weg kennt, auf dem er
zur Tüchtigkeit kommen könnte, die Mühen und Anstrengungen dieses
Weges aber scheut. Das ist aber eben das Verächtliche an diesen Pfuschern,
dasz sie die Zeit, welche die Natur selbst dem Menschen zur Lehrzeit be-
stimmt hat, unbenutzt lassen und vergeuden und dann dem ehrenwerthen
Arbeiter Goncurrenz machen wollen. Und das ist das Gefahrliche, dasz
sie die Ehre und Geltung des Handwerks untergraben, indem sie, wenn
ihnen ihr Treiben gelingt, auch andere auf ihre Bahn verlocken, denen
aber, welche in ihrem Fache tüchtig werden möchten, die Sache verlei-
den. Wer soll z. B. noch dem theologischen Studium all seine Kraft und
alles Streben seiner jungen Seele weihen, wenn er etwa ausgediente und
invalide Schulmänner als Rivalen neben sich sieht? und wer soll sich zum
Schuldienst mit ganzer Seele vorbereiten, wenn er junge Theologen mit
leichterer Mühe und ohne besondere Kenntnisse in dieselbe Laufbahn ein-
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Noctes scholasticae. 243
treten sieht? Mit Recht richtet sich in allen Fächern der Widerwille der
strengen Fachgenossen gegen diese Eindringlinge , wobei wir gern zu-
gestehen, dasz in diesen Eindringlingen wol auch grosze Talente schlum-
mern, welche Zierden des Standes werden, in dem sie ursprünglich als
Fremde betrachtet wurden.
Wie nun der Weg nach der Seite der Pfuscherei hin meist sehr be-
lebt ist, so ist umgekehrt die Strasze, welche zur Kunst hinaufführt,
einsam und verlassen . Denn dort hinab zieht den Menschen die natür-
liche Neigung zur Ruhe, zur Bequemlichkeit und zum Genusz; hier
hinauf lassen ihn , den Schulmann zumal , nur selten einmal die Arbeiten
des Berufes , die Sorge um das tägliche Brod und tausend Dinge , welche
nicht erwähnt sein wollen , die sehnenden Blicke richten. Und doch gibt
es auch in unserm Fache eine Höhe, welche wir als Kunst bezeichnen
können, und wie in der bildenden Kunst es nicht an ehrbaren Meislern
des Handwerks fehlt, welche in freier schöpferischer Kunst das Höchste
erreicht und Vollendetes geleistet haben , so hat es auch dort nicht an
Männern gefehlt, welche wir auf jener lichten Höhe thronen sehen. Ich
denke nicht an jene Genien der Wissenschaft, welche aus den Räumen
der Schule hervorgegangen sind, wie uns einen solchen neulich das Leben
Ritter's vor Augen gestellt hat, wie wir es früher an Gesner, nament-
lich aber an Wolf kennen gelernt hatten, sondern an die Männer, welche
innerhalb ihres ursprünglichen Lebensberufes sich zur Kunst erhoben
haben. Ais solche betrachte ich , um einige Namen zu nennen , unter den
älteren Trotzendorif, Michael Neander, Sturm, Arnos Comenius, unter
den neueren vor allen andern Pestalozzi und, wenn ich auch einen fast
vergessenen und verschollenen nennen darf, den vortrefflichen Flaltich,
dessen wir an einem andern Orte verdienteste Erwähnung zu thun ge-
denken.
Suchen wir jedoch, anstatt uns in vage Lobreden zu ergehen, das-
jenige festzustellen , worin sich ein Fortschritt vom Handwerk zur Kunst
ausspricht.
Erstens nun macht sich die Kunst wieder frei von den Regeln , auf
welchen das Handwerk ruht.
Es ist dies, ich weisz es sehr wohl, ein kühnes und gewagtes Wort,
jedoch nicht kühner als was der Herr einstens gesprochen : ich bin nicht
gekommen , das Gesetz aufzuheben , sondern es zu erfüllen. Einige Bei-
spiele werden, denk ich, deutlich machen, was ich meine. In der Gram-
matik «iner Sprache ist eine Anzahl von Regeln enthalten, welche der-
jenige , der diese Sprache erlernen und verstehen will , inne haben müsz :
niemand kann von ihrer Erlernung dispensiert werden , so wenig als der
zukünftige Arzt von der genauesten Kenntnis der normalen Teile des
menschlichen Körpers. Und doch, wie viel weichen die allen Autoren,
um uns auf sie zu beschränken, von diesen Regeln ab! wie oft dispen-
sieren sich Thucydides , wie oft Caesar von den Gesetzen , welche doch
gleichsam den innern Bau der Sprache bilden und ihre. Eigentümlichkeit,
ihren Charakter bestimmen ! Derjenige , welcher jetzt diese Sprachen zum
Ausdruck seiner Gedanken gebrauchen wollte, würde, wenn dies einem
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244 Noctes scholasticae.
höheren Zwecke entspräche, innerhalb einer gewissen Schranke gleich-
falls hierzu berechtigt und vielleicht genötigt sein. Die lebendige Sprache
macht sich eben , ohne jene Gesetze aufzuheben , frei von ihnen , indem
sie dieselben dem Gedanken unterordnet. Selbst Cicero, der normalste
aller römischen Autoren, hat dergleichen gethan und in einer Weise
gegen die Grammatik pecciert, die uns, wenn wir nicht zufällig wüsten,
dasz es eben Cicero wäre, mit Entsetzen erfüllen moste. In ähnlicher
Weise verhält es sich mit den Gesetzen der Moral. Der wahrhaft sittliche
Mensch erkennt dieselben eben sowol an, wie er sie als solche, von denen
er sich nicht mehr gebunden fühlt, hinter sich zurückläszt und aus dem
tiefen sittlichen Grunde seines Innern heraus denkt und handelt. Es ist
kein bildender Künstler, der nicht, um einen höheren Zweck zu erreichen,
sich von den Regeln der Kunst gelegentlich entbunden und eben hierin
als wahrhaften, frei schaffenden Künstler erwiesen hätte. Das Lehramt,
welches freie , lebensvolle Persönlichkeiten vor sich und somit immer mit
zum Teil unberechenbaren Factoren zu thun hat, ist um so mehr berech-
tigt, sich unter gewissen Umständen von den allgemein geltenden Grund-
sätzen des Unterrichts, von den anerkannten Regeln einer bewährten
Technik zu emancipieren , namentlich aber in der sittlichen Behandlung
der Schüler Wege zu gehen, welche weit von der Heerstrasze abgehen.
Hier hat ein Schüler sich schwer vergangen ; der normale Gang der Dis-
ciplin fordert seine Entfernung von der Schule, und es ist vielleicht der
Moment , wo dieser Schüler durch Nichtbestrafung sich und den Seinen
würde erhalten worden sein , der nun dem Verderben preisgegeben wird.
Dort ist ein Schüler durch keines der gewöhnlichen Zuchtmittel zum Fleisz
zu bringen; du wirfst vielleicht die Strafen bei Seite, ziehst ihn an dich
heran, gewährst ihm dein Vertrauen und der Knabe ist umgewandelt.
Beim Unterricht verhält es sich eben so. Es last sich gar nicht sagen,
wie ein Unterricht zu behandeln sei ; je nach der Person des Lehrers , je
nach dem allgemeinen Geist und Ton der Classe nimmt er ein anderes
Gepräge an; ich könnte mir wol denken, dasz ich beim geschichtlichen
Unterricht nach den Umständen jetzt das Gedächtnis, jetzt das Gemüt,
jetzt die Reflexion , jetzt die Speculation für mich in Anspruch nähme.
Hier steht der Lehrer bereits auf dem Boden freier künstlerischer Thätig-
keit; die Technik liegt hinter ihm und kann ihn nicht fesseln, auf neuen
Wegen dem Ziele zuzustreben. Ranke hat in einem seiner ersten Werke
einmal Maximilian den Ersten mit einem Jäger verglichen , der alle Wege
versucht, dem Wilde, das er jagt, nahe zu kommen; dies Bild paszt auch
auf uns Lehrer, auf Lehrer freilich nur, welche, nachdem sie eine strenge
Schule durchgemacht, nunmehr die Fesseln der Schule abgestreift haben
und in freier originaler Weise zu Werke gehen.
Wenn überhaupt weder das Allgemeine für sich allein das Geltende
ist noch das Individuelle für sich allein, sondern dies das Ziel alles Stre-
bens ist, dasz das Individuelle zum Allgemeinen erhoben und in diesem
Allgemeinen das Individuelle .wiedergeboren und so als ein Neues erhalten
werde , so haben wir auch in unserm Lehrfache diesen ewigen Prozesz
anzuerkennen. Die Erziehung und der Unterricht beginnen mit indivi- .
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Noctes scholasticae. 245
dueller Thätigkeit , mit subjectiven Versuchen ; das Bedürfnis? zu erziehen,
zu unterrichten ist da; jeder sucht, so gut er es kann, nach seiner Weise
diesem Bedürfnis nachzukommen; so bildet sich eine Empirie und, indem
sich die Frage nach dem Warum mit der Empirie verbindet, die ars,
Wissen um die Gründe und ein Können in sich vereinigend ; aber auch hier
läszt ein innerer Trieb den Lehrer nicht ruhen ; das Individuelle drängt
sich wieder an ihn heran und fordert Anerkennung; es ist doch schliesz-
lich das Persönliche, was in diesem Bingen beider Momente den Sieg
davonträgt. So verschlingen sich nun diese beiden Bichtungen in einan-
der, und, um es kurz zu sagen , das eben ist die wahre, hohe und gött-
liche Kunst in Unterricht und Erziehung, beide in lebendiger und, was
dasselbe besagen will, harmonischer Vereinigung zu pflegen und zu för-
dern. Denn nur wo , im Körper wie im Geiste , diese Harmonie stattfindet,
findet wahrhaftes , gesundes Leben statt. Und hier haben wir ein Krite-
rium, an dem wir erkennen können, auf welcher Stufe der Lehrer stehe.
Wenn der Pfuscher weit diesseits des Allgemeinen steht, die Technik da-
gegen im Besitz dieses Allgemeinen ist, so strebt die Kunst wieder zum
Individuellen zurück, um die Harmonie zwischen beiden herzustellen.
' Doch ich schweige hiervon ; denn um diesen Gegenstand würdig zu er-
fassen , bedürfte es eines platonischen Geistes ; mir bebt die Hand , dasz
ich ihn auch nur zu berühren gewagt habe.
Endlich aber ist es die Kunst , welche für einen Kreis der Thätigkeit
neue Bahnen schafft. Es ist nicht blosz von dem Dichter gesagt, dasz er
geboren werde, sondern auch von dem echten Künstler, aber die Art und
Weise, wie dieser geborne Künstler, dieser «ingeborene Genius an das
Licht treten , ist nicht die gleiche. Hier ist bei einem Künstler wie bei
einem Manne der Wissenschaft gleich das erste Werk, welches sie der
Welt schenken, ein Werk, welches ihren göttlichen Beruf bekundet; bei
andern arbeitet der Genius im Süllen und in der Verborgenheit , bis er
spät, dann aber eben so entschieden, eben so anerkannt, licht hervor-
tritt. Es ist mit diesen Heroen der Kunst und der Wissenschaft wie mit
den Helden der Weltgeschichte. Im Lehrfache bringt es. die Natur der
Thätigkeit und die Beschaffenheit der äuszeren Verhältnisse," in denen wir
leben , mit sich , dasz es , wenn auch der schöpferische Gedanke früh in
der Seele ersteht, doch vieler Jahre bedarf, um diesen Gedanken zur Klar-
heit und zu Wirkenskraft zu bringen. Ich sage 'den Gedanken9; denn
auch hier ist es wie in allen andern geistigen Gebieten, nicht das Viele,
sondern das Eine, aus dem das Grosze geboren wird. Ein Gedanke hat
Friedrich den Groszen zu dem gemacht, was er geworden ist; ein Ge-
danke hat uns die Sturm, die Arnos Gomenius, die Franke, die Wolf,
die Pestalozzi gegeben. Diesen Gedanken haben sie zum Teil viele Jahre
in sich getragen und langsam zur Beife gezeitigt, bis ihre Stunde gekom-
men war und der Buf an sie erging , ihn nunmehr vor der Welt zu offen-
baren. Sie haben ihn , ihrer selbst innerlich gewis und darum stets voll
freudigen Mutes, festgehalten, wie unsicher auch ihre Lage, wie kum-
mer- und schmerzensvoll auch das Loos ihres Lebens war. Umhergetrieben,
heimatlos , mit Not und Sorgen kämpfend haben sie doch nicht von ihm
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246 Die Form der hebräischen Poesie.
gelassen« Aus diesen Gedanken ist dann neues Leben in das erstorbene
Gebein, in eine erstarrende, sich verknöchernde Technik gekommen, und
es sind neue Principien gewonnen, welche, anfangs im Kampfe mit den
herschenden, doch durchgedrungen sind und sich später selbst mit die-
sen vereinigt haben zu einem neuen volleren Strome. Nun kann allerdings
nicht jeder von uns ein Franke oder Pestalozzi sein, und es wäre schlimm
um uns bestellt, wenn jeder das könnte oder möchte; aber das können
doch auch wir, im Kleinen schaffen, im Einzelnen Neues anbahnen, Mate-
rial anhäufen, aus dem der rechte Baumeister, wenn er erscheint, viel-
leicht ein und das andere zu, seinem Bau auswählen könnte. Und dies ist,
hiermit will ich schlieszen, der Zweck, zu dem ich selbst diese und
andere meiner nächtlichen Gedanken in Worte gefaszt und hier mitge-
teilt habe. ***
19.
Die Form der hebräischen Poesie.
Die Untersuchungen über die metrischen Formen der hebräischen
Poesie können noch nicht als abgeschlossen angesehen werden. Die ange-
stellten Versuche der verschiedensten Art haben allerdings bis jetzt kei-
nen Erfolg gehabt, und man hat sich ziemlich allgemein damit begnügt,
es geradezu auszusprechen , dasz eine metrische Form in der Weise der
alten oder auch neueren Sprachen in der .hebräischen einmal nicht vor-
handen sei, und dasz Alles, was von Rhythmus in der Poesie dieser
* Sprache zu finden wäre, sich nur auf den sogenannten Parallelismus
beschränke. Gleichwol sind noch viele Fragen zu beantworten geblieben,
warum und wie die liebräische Sprache zu dieser eigentümlichen rhyth-*
mischen Form mit Ausschlusz aller andern gelangt sei , ob diese schon
ursprünglich gewesen oder sich erst später, und im letzten Falle, wo-
durch sie sich später gebildet und welche metrische Form die ursprüng-
liche gewesen sei.
Folgende Blätter, welche eine Lösung dieser Fragen versuchen,
dürften, wenn sie auch nicht den Gegenstand erschöpfen, doch Material
und Antrieb zu weiter gehenden Forschungen darbieten.
Erstes Kapitel.
Natürlicher Charakter der hebräischen Sprache.
Sl.
Die hebräische Sprache eine Natursprache.
Die hebräische Sprache musz in ihrer ältesten Zeit recht rauh und
hart gelautet haden. Auch ohne nähere Kenntnis der Sprache würde man
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Die Form der hebräischen Poesie. * 247
dies aus der niederen Ctilturstufe und den eigenen Wohnsitzen, welche
die Hebräer, ein umherwanderndes Hirtenvolk, in ihrer Vorzeit einge-
nommen haben, von selbst sehlieszen. Bei einem Volke, das in Wüsten
und unwirtbaren Gebirgsgegenden aufgewachsen, dessen Gehör an die
dumpfwiderhallenden Wüstentöne und an das Gebrüll und Geschrei wilder
Thiere und Raubvögel gewöhnt war, würde man keine besonders wohl-
tönende und melodisch gebildete. Sprache voraussetzen. Eine nähere Be-
trachtung der Sprache selbst zeigt dieses aber ganz unwiderlegbar. Viele
Laute, namentlich die Kehllaute, welche ein volles und starkes üeffnen
der Sprächorgane, ein tiefes und rauhes Aussioszen des Hauches erfor-
dern, sind für culli Wertere Völker fast gar nicht aussprechbar. Der grosze
Reichtum naturnachahmender Laute, in welchen schon der Verfasser der
Genesis die treue Nachahmung der Natur selbst wiedererkannte, die fast
regelmäszige Verwendung dieses sinnlich naturnachahmenden Elements
zur näheren Bezeichnung und weiteren Entwicklung des Begriffes, end-
lich das Ueherwiegen des consonantischen Elementes, wie wir bald sehen
werden, zeigt eine mit dem Naturleben noch ganz zusammenhängende
und auch in den feineren begrifflichen Bestimmungen noch von derselben
abhängige Sprache. Aus tiefer Brust und voller Kehle und überhaupt
aus harten un ausgebrauchten Sprachorganen hervortönend , klang sie,
wie Eliha's Worte Im Buche Hiob (32 , 18 usw.) sie nicht besser bezeich-
nen konnten.
Der Rede bin ich voll,
Mich drängt der Odem meiner Brust;
Es gährt in mir, wie der zugestopfte Most,
Der neue Schläuche zerreist.
Reden will ich, dasz Luft mir werde,
Meine Lippen aufthun und antworten.
'Wenn diese Lippen sich aufthaten , sagt Herder (Geist der Hebräischen
Poesie S.20), ward es gewis lebendiger Laut, Bild der Sprache im Athen)
der Empfindung.9 Es waren aber sicherlich auch die Sinne durchdrin-
gende und erschütternde Töne, die als Jehova's Stimme zum Donner an-
schwollen, welcher die Wälder entblättert und die Wüste erzittern läszt
(Psalm 29, 8 u. s. f.). Ein rechtes Bild von den gewaltigen Tönen der
Sprache gibt uns* vorzüglich das Buch Hiob in seinen unübertrefflichen
Schilderungen der Thierwelt und des Natur- und Wüstenlebens. Gerade
die Treue der Naturnachahmung hat sie vorgeschritteneren Völkern ganz
unnachahmbar gemacht, so dasz diese Dichtung vvol einzig in ihrer Art
bleibt. So erweist sich die hebräische Sprache in Allem als eine wahr-
hafte Natursprache.
S2.
Verhältnis des consonantischen Elementes zum vocalischen.
Die ganze Anlage der semitischen Sprachen überhaupt und vorzüg-
lich der hebräischen zielt darauf hin, das consonan tische Element der
Sprache zum hergebenden und das vocaliscbe zum dienenden zu machen.
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248* Die Form der hebräischen Poesie.
Während in den indoeuropäischen Sprachen die Vocale ebenso zum Stamme
gehören wie die Gonsonanten und nicht selten sogar der Fall eintritt,
dasz Voeale für sich die Stammsilbe ausmachen (man vergleiche i-re,
i-£voti, i in eijii, 8 in iruii, öui, t&to usw.), in unzähligen aber die
Vocale in Verbindung mit Gonsonanten den Stamm bilden, so zeigen die
semitischen Sprachen den eigentümlichen Trieb, stets Stämme aus drei
Gonsonanten zu bilden; die zur Aussprache derselben unentbehrlichen
Vocale aber gehören weder zum Stamm, noch sind sie unveränderlich.
Diese erscheinen vielmehr ganz vom Charakter der Stammconsonanteo
abhängig, so dasz mit deren Zusammenziehung, Schwächung oder Ver-
doppelung (in den contract. , quiescent. , quadrilitt.), mit der Anhängung
von Bildungsbuchstaben (praefix. und suffix.), mit dem Fortrucken des
. Accents die Vocale sich stets verändern , ja sich sogar nach dem Organ,
mit welchem die Gonsonanten ausgesprochen werden (in den verb. und
nom. guttural.) sich richten müssen. In diesem Vorwalten zeigt sich
recht deutlich das Streben der semitischen Sprachen, in den stärkeren,
die Organe härter treffenden Lauten, als in den feinem, weicheren Voca-
len sich vernehmen zu lassen. Dieses ist auch wol der Grund, dasz ab-
weichend von den indogermanischen Sprachen die Bezeichnung der Vocale
in den semitischen in der ältesten Zeit ganz gefehlt hat oder nur sehr
mangelhaft gewesen ist. Denn es braucht wol nicht erst auseinander-
gesetzt zu werden, dasz die zahlreichen Vocalzeichen, welche unsere ge-
druckten Codices zeigen, der ältesten Zeit ganz fremd gewesen sind.
§3.
Das Verhältnis der hebräischen Sprache zu den anderen semitischen
und vorzüglich der arabischen.
Von den semitischen Sprachen ist bekanntlich die hebräische am
frühesten zur Ausbildung gelangt, wenigstens liegen in dieser die ältesten
Denkmäler verzeichnet vor uns. Dasz die hebräische Sprache in der älte-
sten Zeil viel härter, ursprünglicher und auch volltönender als die ara-
bische gelautet habe , dürfte schon aus der einfachen Vergleichung der
Alphabete beider Sprachen hervorgehen. Die Mehrzahl der arabischen
Gonsonanten ist nemlich dadurch entstanden, dasz die ursprünglich harten
Gonsonanten, wie sie sich im Hebräischen vorfinden, vielfache Erweichun-
gen und Abschleifungen erlitten ,' so dasz für deren Bezeichnung beson-
dere Buchstaben notwendig waren.
Noch viel deutlicher zeigt sich dieser Unterschied beider Sprachen
beim Vergleich der Sprachstämme und deren Formationen. Erstlich zeigt
sich die ursprünglich gröszere Weichheit der arabischen Sprache darin,
dasz die Vocale viel regelmäsziger und in einem weit gröszeren Umfange
zur Bezeichnung von Flexionsbildungen gebraucht werden. Im Arabischen
werden die Passiva von neun Gonjugalionen durch bloszen Vocalwechsel,
vorzüglich durch Veränderung des hellen a in das dumpfe « bezeichnet;
zahlreiche Pluralformen der Nomina und Adjectiva bestehen blosz in der
Umbildung der Vocale. Im Hebräischen ist wol auch die Anlage dazu
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Die Form der hebräischen Poesie. 249
vorhanden, und ist auch z. B. in der Bildung der Passiva von PMfl und
Hiphil ein Anfang hiermit gemacht worden, doch war die Neigung zu
consonantisch härteren Bildungen zu überwiegend, so dasz das Hebräische
hierin dem Arabischen sehr nachsteht.
Zweitens zeigt sich die Grundverschiedenheit des Hebräischen vom
Arabischen in dem Gesetze der Silbenbildung. Im Hebräischen gilt das
eigentumliche Gesetz der Silbenlänge, d. h. jede Silbe musz ,lang,
entweder durch einen Vocal gedehnt oder durch Position geschärft sein,
so dasz es eigentlich nur lange Silben gibt. Denn schwerlich wird man
noch das Sch'wa Mobile als kurze Silbe bezeichnen wollen, da es seinem
Wesen nach mit dem zunächst folgenden Gonsonanten zum nächsten Vocal
gehört; z. B. ketol (2 Pers. sing, imperat. Kai.) k'tol ausgesprochen wer-
den musz.
Wie ganz anders ist die Silbenbildung in der arabischen Sprache,
die nicht im entferntesten an dieses Gesetz gebunden ist und hierin den
freiesteu Spielraum hat. Das hebräische Kalal, welches aus zwei langen,
einer gedehnten und einer geschärften Silbe, besteht, lautet im Arabi-
schen Kätälä und besteht aus drei kurzen Silben. Es lag daher in der
Natur der arabischen Sprache, da sie einer solchen Mannigfaltigkeit der
Silben sich erfreute , dasz eine auf Abwechslung von langen und kurzen
Silben beruhende Metrik entstand, während im Hebräischen, wo es fast
nur lange Silben gibt, jede natürliche Anlage zu einer solchen Metrik
fehlt. cDas systema morarum', wie de Wette in seiner Einleitung zu den
Psalmen sich ausdrückt, 'wonach es nur lange und und lauter gleiche
Silben gibt, macht kein Versmasz nach Sylbenquantitäten möglich.'
Dasz die abgeglätteten und verschliffenen Dialekte des Aramäischen
weder so ursprünglich voll , noch so hart gelautet haben , um mit der
hebräischen Sprache hierin verglichen werden zu können, bedarf wol kei-
nes ausführlichen Beweises. Auch erscheinen die schriftlichen Denkmäler
in diesen Dialekten erst in so später Zeit und unter dem Einflüsse so vieler
fremdartiger Elemente, dasz sie schon aus diesem Grunde bei einer Unter-
suchung über die uralte hebräische Poesie nicht in Betracht kommen
können. Dasselbe gilt auch in gleicherweise vom Aethiopischen.
S 4.
Welche metrische Form dem Charakter der alten hebräischen Sprache
am natürlichsten war.
Das eigentümliche Gesetz der Silbenlänge im Hebräischen machte,
wie wir oben gesehen haben, ein Versmasz nach abwechselnden Längen
und Kürzen, wie es selbst die arabische Sprache hat, unmöglich. Dasz
aber ein solches Gesetz im Hebräischen zur Geltung kam , weist wieder
auf diß im Hebräischen vorzugsweise herschende Neigung einer compacten,
schweren, wenn nicht gar schwerfälligen Aussprache der Gonsonanten
hin , die sich uns ja bereits als das herschende Element dargestellt haben.
Die Gonsonanten treten scharf und voll aus starken , noch unausgebrauch-
ten Organen in der Aussprache hervor. Die sogenannten Hülfsvocale in
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 5 u. ö. 17
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250 Die Form der hebräischen Poesie.
den Schluszsilben der segolata, oder zu Anfang zweier mit Sch'wa das
Wort anfangenden Gonsonanten dienen auch nur dazu, die Verschletfung
der Gonsonanten zu verhüten und sie in der Aussprache deutlich zu mar-
kieren. Die Vocale dagegen bilden gleichsam das dienende Element und
treten nur hinzu, um die Aussprache der Gonsonanten vernehmbar zu
machen.
Mit dieser Charakteristik der Sprache ist zugleich der Weg gezeich-
net, auf [welchem die metrische Form, deren selbst die rohesten und
ungebildetsten Sprachen nicht entbehren, im Hebräischen zunächst zu
suchen ist, nicht in den vocalischen, sondern in den consonantisehen
Elementen. Und dies führt uns auf eine metrische Form , die wir einst-
weilen Allitteration nennen wollen, wiewol diese Bezeichnung nur an-
näherungsweise der metrischen Form entspricht , welche wir unter die-
sem Namen in der altdeutschen und altnordischen Sprache verstehen. Die
Allitteration im Althebräisehen gleicht darin der altgermanischen , dasz
in beiden der gleiche Anlaut der Stammesconsonanten der bedeutenderen
Worte im Verse als metrisches Bindemittel dient, während nach dem
eigentümlichen Charakter des Hebräischen diese metrische Form sich viel-
fach anders gestaltet und auch im Laufe ihrer Fortentwicklung einen ganz
anderen Weg eingeschlagen hat.
Zunächst jedoch wollen wir das Gleiche in diesen verschiedenen
uralten Sprachstämmeu darzustellen versuchen und auch bei der Entwick-
lung nur so weit verfolgen , als sieh die Spuren gleichen oder analogen
Ganges nachweisen lassen.
§5.
Vergleichung des Althebräischen mit dem Altgermanischen.
Auch im Altgermanischen begegnen wir einer Sprache, welche,
einem in Urwäldern und unwirtlichen Ebenen und Morästen hausenden
Volke angehörig , durch ihre rauhen und scharfen Töne dem verweichlich-
lichten römischen Ohre fast schreckenerregend war. In den Kämpfen des
Marius gegen die Ambronen heiszt es unter Andern : cDie Nacht war auf
mancherlei, Weise furchtbar und grauenvoll. Aus dem Lager der Deut-
schen tönte es im wunderlichen Gemisch der Stimmen herüber nicht wie
Wehklagen und Jammern — sondern gleich einem dumpfen Gebrüll wie
von wilden Thieren , dasz die Gebirge umher und die Ufer des Stromes
davon widerhallten.9 In Bezug auf die altgermanischen Kriegslieder sagt
Tacitus: 'sie suchen vorzüglich rauhes Getön und gebrochenes Murmeln
vermittelst zum Munde gehaltener Schilde, damit der abprallende Ton
voller und kräftiger anschwelle.9 Noch zur Zeit Karl's des Groszen wird
von einem Zeitgenossen der Gesang der Deutschen mit dem Geprassel
eines über einen Knitteldamm dahinrollendeu Lastwagens verglichen, dasz
Ohr und Gefühl statt sanft bewegt, erschreckt und erschüttert werden.
Und in dieser naturwüchsigen Sprache gab es Gesänge, die trotz der
harten und ungefügigen Formen sich durch ihren Inhalt und ihre Tiefe,
— wenn wir- ans den geringen Resten und den späteren Umbildungen
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Die Form der hebräischen Poesie. 251
einen Rückschlusz machen dürfen,— über die polierten, zugespitzten
oder trockenen lateinischen Gedickte jener Zeit ebenso erhoben, äs die
althebräische durch ihre reine Natürlichkeit und Erhabenheit unübertroffen
im Ausdrucke der innigsten und höchsten Gefühle religiöser Hingebung
geblieben ist.
Zeigt sich in der Rauhheit und Härte der Aussprache eine grosze
Aehnüchkeit zwischen dem Althebräischen und Altdeutschen, — wie diese
wol überhaupt zwischen allen Ursprachen auf der ersten Stufe ihrer Ent-
fückelung in dieser Beziehung natürlich ist, — so tritt diese nicht we-
niger in der Art der Fortpflanzung des Gesanges durch eine Reihe von
vielen Jahrhunderten hervor. Bei den Hebräern ist dieses leicht erweis-
bar. Denn nimmt man auch Moses nicht als den Erfinder, der Schreibe-
kunst für sein Volk an, so reicht doch jedenfalls die Erfindung derselben
nicht weit über sein Zeitalter hinauf, und dauerte es sicherlich noch Jahr-
hunderte — wie dieses in so frühen Zeiten in 3er Natur der Sache lag, —
ehe sie allgemeiner im Gebrauche war. Noch ein Jahrtausend nach Moses
bedeutet Sopher, eigentlich Schreiber, den Gelehrten, den Schriftgelehr-
ten, ein Beweis, wie selten noch diese Kunst war. Die Gesänge der Israe-
liten am rothen Meere, die Weissagung Jacob's, der Gesang der Deborah
und viele andere tragen ganz den Charakter des mündlichen Gesanges,
welcher in der Tradition bis zur Aufzeichnung sich erhalten. Mündlich
fortgepflanzte Gesänge und Dichtungen setzen eine gebundene Rede vor-
aus, für welche der begriffliche Parallelismus nicht ausreichen konnte.
Wie bei den Griechen der Hexameter vorzüglich dazu beitrug, die
homerischen Gesänge Jahrhunderte lang treu im Gedächtnis der Sänger
und des Volkes zu erhalten , so muste auch der Vers im Hebräischen ein
sinnlich für das Ohr erkennbares Band haben, welches ihn vor Verwahr
losung und Verfälschung der Zeiten bewahrte. Ein solches metrisches
Band aber konnte nur die Allitteration sein, die sich gerade am deutlich-
sten auch in den ältesten Gesängen zeigt, wie wir sehen werden, welche
sich hierdurch Jahrhunderte lang in dem Gedächtnisse des Volks erhalten
konnten, ehe sie zur Aufzeichnung gelangten.
In ähnlicher Weise aber verhielt es sich auch mit den ältesten Ge-
sängen der Deutschen, welche nach dem Zeugnisse des Taeitus sich Jahr-
hunderte lang von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt hatten. Ger-
man. II. Celebrant carminibus anliquis, quodunum apud Mos memeriae
et annalium genu$ est, Tuisconem etc.
Gerade durch das sinnlich wahrnehmbare Metrum der Allitteration,
welches zu den von Taeitus geschilderten rauhen Gesängen sich vorzüg-
lich eignete, konnten diese auch ohne Aufzeichnung sich erhalten und
verbreiten.
Dasz auch bei den andern semitischen Völkern ein solcher von Ge-
schlecht zu Geschlecht fortgepflanzter Gesang vorhanden gewesen sei,
erfahren wir nicht. Die alten Araber hatten lange Geschlechtsregister von
sich selbst und auch von ihren Pferden, aber von Gesängen, welche ge-
schichtliche Ereignisse feiern, haben wir keine Nachricht.
Noch in einem dritten Umstände gleichen sich vorzugsweise die alt
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252 Die Form der hebräischen Poesie.
deutschen und atthebräischeri Gesänge, dasz sie nicht ausschlieszlich einer
bevorzugten Kaste, wie der Druiden bei den celtischen Galliern, oder einer
Sängerschule, wie den Rhapsoden bei den Griechen, angehörten, sondern
dasz sie das Gemeingut des ganzen Volkes waren. Die alten Deutschen
sangen unter freudiger Zustimmung der Menge , wie es denn auch die Ge-
samtheit des Volkes eigentlich war, welche die Lieder hervorbrachte.
Dies geht aus dem Wesen der deutschen Volksdichtung von* selbst hervor,
wie denn auch Tacitus nur von einem gemeinsamen Gesänge spricht.
Aber auch bei den Hebräern war der älteste Gesang ein gemeinsamer.
Von dem Liede am rothen Meere heiszt es ausdrücklich: *Da. sang Moses
und die Israeliten dieses Lied Gott zu Ehren9 (Exodus XV, l). Das Brun-
nenlied (Numeri XXI, 17) wird als ein Volkslied bezeichnet, wie denn
selbst das Spottlied daselbst über Moab's Fall (v. 27 u. w. ibidem) als
nicht von Einem Dichter herrührend bezeichnet wird. Den Gesang Moses
(Deuteronom. XXXII) musfen die Israeliten insgesamt lernen und singen
(vgl. Deuter. XXXI 19, 22), was auf einen gemeinsamen Gesang hinweist4').
-Nicht selten begegnen wir sogar einem singenden Chor der Frauen (vgl.
Exodus XV 20, 21 ; Iudic. XI 40;. 1 Samuel. XVIII 7).
So viele Aehnlichkeit in der Anlage der Sprache, in der Art des Ge-
sanges und dessen Verbreitung und Fortpflanzung berechtigt wol 2ur An-
nahme einer in beiden Sprachen ähnlichen Metrik, und nachdem wir in
dein Geiste der Sprache selbst die Begründung und durch Vergleich ana-
loger Sprachen die Bestätigung dieser Annahme gefunden , dürfen wir zu
den einzelnen Erscheinungen selbst übergehen, um auf analytischem Wege
diese Metrik in ihrer eigentümlichen Art nachzuweisen und auszuführen.
8 6.
Von den Spuren der Allitteration in der Volkssprache.
Es gab eine Zeit in Deutschland , in welcher das Bewustsein einer
einstmaligen schon vor einem Jahrtausend blühenden Litteratur ganz ver-
loren gegangen war. In dieser Zeit waren natürlich auch die wenigen
Reste der althochdeutschen Poesie, deren Auffindung wir einem glück-
lichen Zufall und ^deren Verständnis wir dem emsigen Forscherfleisze vor-
züglicher Gelehrten verdanken, gänzlich unbekannt. Von einer metrischen
Form der Allitteration hatte Niemand eine Ahnung. Aber seitdem man
Kenntnis von dieser älteren Poesie und den sprachverwandten nordischen
Dialekten gewönnen, fand man, dasz Spuren dieser alten metrischen Form
in der noch lebenden Sprache in der Hinneigung der Volkssprache zu sol-
chen Bildungen sich vorfinden. Eine grosze Zahl von sprichwörtlichen
Redensarten, die schon längst gang und gäbe sind oder noch vor unsern
Augen sich bilden, sind oft allein aus dieser Hinneigung zu allitterieren-
den Bildungen hervorgegangen. Einige von ihnen müsten uns sogar ganz
*) Doch scheint das Auswendiglernen* eine Interpretation der spä-
tem Zeit zn sein, als der Volksgesang verstummt und dessen Wesen
unverständlich geworden war.
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Die Form der hebräischen Poesie. 253
sinnlos oder jedenfalls der natürlichen Logik der Sprache widersprechend
erscheinen, wenn nicht eben der Reiz zu solchen Sprachbildungen ihre
Entstehung erklärte, z. B. Kind und Kegel, Nacht und Nebel u. v. a.
Man erkennt ebenfalls , dasz die volksmundartlichen , von gelehrter Poli-
tur noch nicht beeinfluszten Dialekte noch mehr hierzu neigen , als die
allgemein recipierte Schriftsprache. *)
Wir treffen nun im Hebräischen selbst in der Prosa eine Menge sol-
cher allitterierenden Redeweisen , die im Verhältnis zu dem wenig um-
fangreich erhaltenen Sprachschatz, welcher zudem sehr wenig in der
eigentlichen Volkssprache, sondern im Munde der gebildeten Propheten
oder Priester hervortritt, recht auffällig erscheinen und zu dem Schlüsse
berechtigen müssen , dasz in diesen ebenso Spuren einer ehemaligen
allitterierenden Poesie sich erkennen lassen als die Hinneigung der Sprache
zu allitterierenden Bildungen überhaupt. Viele von diesen Ausdrücken
kommen überhaupt nur in der allitterierenden Verbindung vor, andere
sind auch für sich allein oder in anderer Verbindung in Gebrauch ; einige
scheinen als vulgär in der Poesie gemieden, andere dagegen nur der Poesie
eigentümlich zu sein**).
Wir würden daher a priori, wenn auch keine allitterierenden Dich-
tungen im Hebräischen vorhanden wären ^ nach Analogie der deutschen
voraussetzen dürfen , dasz eine solche wol einmal vorhanden gewesen sei.
Glücklicherweise aber haben sich wirklich bedeutende Reste einer solchen
erhalten und zwar in einem weit gröszeren Umfange, als sie uns im Alt-
hochdeutschen erhalten sind, die unsere Annahme auf das evidenteste be-
stätigen.
8 7.
Weitere Vergleichung des Altdeutschen und Althebräischen in Betreff
des Entwicklungsganges der metrischen Form der Allitteration.
Ehe wir zu der speciellen Untersuchung und Darlegung der hebräi-
schen Allitteration übergehen, wollen wir die beiden Ursprachen, die so
viel Analoges in ihrer frühesten Culturperiode darbieten, noch eine Strecke
auf ihrem Entwicklungsgange verfolgen, da sie auch hier viel Gleich-
artiges zeigen uud sich gegenseitig beleuchten.
Die Allitteration , wie sie die ursprüngliche metrische Form der älte-
sten Poesie ist , kann auch nur so lange , als eben ein Volk und dessen
Sprache auf der untersten Stufe der Cultur sich noch befindet, die volle
klare, und dem Inhalte auch naturgemäsze Form derselben bleiben. Nur
auf diesem fast noch ungetrübten Naturzustände ist die Sprache noch
mehr der sinnbildliche Ausdruck der natürlichen Wahrnehmung, als des
*) Aus dem hiesigen Dialekte ist mir aufgefallen: Kitzekatze grau;
lichterloh; griesgrämig.
**) Eine ziemliche Anzahl solcher allitterierenden Redensarten, die
sich aber vielfach vermehren lassen, habe ich in dem Programme: De
allitteratione, quae vocatur, in sacris Hebräeorom literis usurpata,
Heidelberg 1859, zusammengestellt.
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254 Die Form der hebräischen Poesie.
logisch klaren Gedankens , die Gonsonanten haben noch ihre volle Hlrte
und Schärfe, wie das Ohr gerade für die sinnlich plastische Gestaltung
des Wortes noch nicht abgestumpft ist. Die Sprache ist fn solcher Zeit
auch viel reicher an Worten und Ausdrücken für die Fülle der noch nicht
abgestumpften sinnlichen Wahrnehmung, wie auch andrerseits der Inhalt
der Dichtung von ausserordentlicher Einfachheit und Natürlichkeit ist.
Mit dem Fortschritte der Gultur und dem Beginn eines freiem geistigen
Lebens kann diese primäre Form der Poesie als metrisches Bindemittel
nicht mehr ausreichen. Die Organe werden weicher, die Aussprache ver-
liert ihre ursprüngliche Rauhheit, das vocalische Element wjrd vorherr-
schender, der reichere und mannichfaitigere Inhalt erfordert freiere Be-
wegung in der Darstellung und wird durch das Aüitterationsgesetz
gehemmt, da auch der grdste Reichtum an alliterierenden Worten für
die sich stets mehr entwickelnde Gedankenfülle bald erschöpft ist. Der
Versuch, eine einmal überlebte Form durch Kunstmittel zu erhalten,
führt zu Erstarrung, zu einem inhaltslosen Wortgeklirre , wie dies im
Altnordischen wirklich geschehen ist.*)
Sprachen von gröszerer Lebensfähigkeit sprengen die Fessel der
beengenden Formen und suchen neue, dem Inhalte sich mehr anschmie-
gende. Das Altdeutsche und Althebräische haben dieses gethan. Doch
werden solche Formen nicht mit einem Male abgethan, ebensowenig als
die neuen auf einmal angenommen werden. Wie in allem Organiseben
gibt es auch hier allmähliche Uebergäjige. Von nicht geringem Interesse ist
es, diese Uebergänge zu verfolgen, die Ansätze, welche der poetische
Trieb der Sprache instinetiv versucht, das Alte abzuschütteln und das
Neue an dessen Stelle zu setzen , näher kennen zu lernen. Auch hier findet
sich viel Analoges im Althebräischen und Altdeutschen. Dieselben Triebe
führen oft auf gleiche Ansätze, sie scheinen auf eine Zeit lang fast den-
selben Gesetzen zu folgen, bis die weit kräftigere und lebensvollere
Sprache des Altgermanischen festere, ihrem Charakter entsprechende
Bahnen einschlägt und das Hebräische weit hinter sich zurückläszt, weit
ches, zu sehr in sich selbst gekehrt, weder das Ueberlebte ganz über-
winden , noch über die Anfänge des Neuangenommenen hinauskommen,
wenigstens es zum regelmäszigen festen Gesetz hierin nicht bringen kann.
Der Gang des Althebräischen in gröszern Zügen gefaszt ist etwa fol-
gender. Sobald in Folge der "Erweichung der Sprache die einfache Allite-
ration als metrisches Bindemittel sich nicht mehr als zureichend erwies,
versuchte man durch Häufung der gleichlautenden Gonsonanten diese ver-
nehmbarer zu machen. Es entstand die sogenannte verstärkte Allitteralion,
in welcher zwei oder gar mehrere Gonsonanten mit einander allitterier-
ten. Häufig suchte man auch die allitterierenden Gonsonanten durch
Gleichheit der Vocale mehr hervortreten zu lassen; es führte dies eine
eigene Assonanz herbei , welche in dieser Uebergangsperiode stets zur
Verstärkung der Allitteration dient und nur in dieser Function ihre Be-
*) Vgl. WackeraagePs Geschichte der deutschen NationaUittcr»tur.
Teil I. § 25 S. 45 u. f.
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Die Form der hebräische* Poesie. 255
deuiung hat. Nicht amders verhall es sich mit dem nicht seltenen Reim
in gewissen hebräischen Dichtungen , welcher keineswegs als eine selb*
ständige metrische Form angesehen werden darf. Je weniger jedoch der
Sprachvorrath zu solcheti künstlichen Bildungen ausreichte , um so eher
moste man darauf kommen, statt Worten mit alliterierenden Gonsonaaten
die Worte selbst zu wiederholen. Es ist dies, wie wir sehen werden, in der
ältesten Dichtung eine sehr beliebte poetische Form«. Diese Wortwieder-
holung ist nicht mit der sogenannten Anaphora, die auch nur am An*
fange, oder mit derEpistrophe, die nur am Schlosse des Satzes steht,
wie sie bei den alten und auch bei modernen Rhetoren und Dichtern vor«
kommt, zu verwechseln. Bei diesen ist sie eine rhetorische Figur und dient
der Emphase des Gedankens, bei den Hebräern ist sie ein metrisches Binde*
mittel der Halbverse.
Wie aber die Wiederholung des Wortes einerseits nach seinem con-
sonan tischen Elemente ein metrisches Bindemittel in den Halbversen wurde,
so brachte es andrerseits zugleich noch ein geistiges hinzu, indem die
beiden Halbverse durch den gleichen Begriff des Wortes zugleich nach
ihrem Inhalt zu einer Einheit verbunden wurden. Je mehr nun mit dem
Fortschritte der Gultur das begriffliche Element in der Sprache über das
sogenannte leibliche überwog, um so mehr ftmste das geistige Element,
welches in der Gleichheit des Begriffs des wiederholten Wortes lag, vor
dem phonetischen Element , welches in dem consonantischen Werthe des-
selben lag, vortreten und als das eigentliche Bindemittel des Verses ange-
sehen werden. Statt das Wort selbst zu wiederholen , welches zur Tau-
tologie und zu einer starren Form zu werden nahe war, welche noch
weit mehr als die Allitteration selbst die freie Bewegung und den Dichter-
schwung hemmen muste; fing man an, von dem Gleichklang der Conso-
nanten §es wiederholten Wortes ganz abzusehen. Das begriffliche Element
hatte in der Poesie bald das leibliche nicht nur überwunden , sondern
ganz verdrängt. Einheit oderWechsel Wirkung desGedankens
wurden allein das metrische Bindemittel in der Poesie; es war der Ge-
dankenparallelismus, welcher einzig in seiner Art , rein begrifflich
ist und des phonetischen Elements ganz entbehrt.
So ist im Ganzen der Entwicklungsgang der metrischen Form in der
hebräischen Poesie von den ersten Anfängen des consonantischen Gleich-
lauts bis zur geistigsten Form des Gedankenparallelismus, ein Gang, wel-
cher allerdings erst zur vollen Evidenz gelangt, wenn er in den einzelnen
Erscheinungen seine Bestätigung findet. Dieses werden wir in dem zwei-
ten analytischen Teile unserer Abhandlung zur Genüge erkennen.
Vergleichen wir hiermit noch , was sieh Analoges in der Entwicklung
der altdeutschen Poesie zeigt.
Es ist die gewähnliche Meinung, dasz die Allitteration aus dem Alt-
hochdeutschen durch das Ankämpfen der Geistlichkeit gegen die altheid-
nischen Gesänge und die mit ihnen verwachsenen poetischen Formen
verdrängt worden sei. Man beruft sich auf Otfried's eigene Aussage in
der Vorrede zu seinem Evangelienbuche. Es mag sein , dasz der von der
Geistlichkeit in den Kirchenliedern gebrauchte Reim zum Verfall der
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256 Die Form der hebräischen Poesie.
allitterierenden Form beigetragen habe; der Verfall derselben jedoch ist
hierdurch nur beschleunigt worden ; denn sicher ist es , dasz auch ohne
dies mit dem Fortschritte der Sprache, mit der Erweichung der Conso-
nanten , mit der Ablegimg defr nur uncultivierten Naturvölkern eigenen
rauhen Aussprache auch die metrische Bindekraft der Allitteration auf-
hören muste. Den besten Beweis hiervon sehen wir in den beiden Merse-
burger Zauberliedern aus dem Anfange des lOn Jahrhunderts, welche
doch sicherlich heidnischen Ursprungs sind. Hier treten schon alle die
Merkmale des Verfalls in der Allitteration uns entgegen, welche wir im
Hebräischen ebenfalls als Zeichen des Verfalls der ursprunglich reineren
Allitteration haben kennen lernen. Auch hier tritt offenbar das Bestreben
ein , durch Wortwiederholung , Gleichlaut der Vocale , Reim , die nicht
mehr ausreichende Kraft der Allitteration zu ersetzen.
In dem kleinern Zauberspruch zur Lösung der Fesseln eines Kriegs-
gefangenen hat der erste Vers :
Eins sazun Idisi, sazun hera duoder
die Wortwiederholung sazun , welche offenbar auch die Allitteration ver-
tritt, die sonst im zweiten Halbvers fehlt.
Im zweiten Vers:
suma hapt heptidun , suma heri lezidun
dient ebenfalls die Wiederholung des Wortes suma (sicher keine Ana-
phora) und der Reim zur Stutze der Allitteration. (Die Worte hapt, hep-
tidun, die Verbindung des Verbum mit dem Nomen desselben Stammes
als Object erinnert lebhaft an die gerade im Hebräischen so beliebte Gon-
stnictionsweise).
Der dritte Vers:
suma clubodun umbi cuonio uuidi
wiederholt suma zur Anknüpfung an den vorangehenden Vers (wir wer-
den im Hebräischen gerade derartige Fälle in groszer Zahl kennen Jemen),
daneben finden sich blosz zwei Allitterationsstäbe.
Der vierte Vers endlich :
insprine haptbandun , invar vigandun
hat im ersten Halbvers keinen Allitterationsstab , dafür tritt der volle
Reim ein.
Dieselbe Beobachtung kann man auch am zweiten Zauberliede ma-
chen. Die beiden ersten Verse:
Wol ende Wodan uuorum zi holza
du uuart demo Balderes uolon sin uuoz birenkit;
haben eine echte Allitteration und überhaupt den Ton eines älteren Liedes,
wie denn auch schon Karl Goedeke die Mutmaszung ausspricht, dasz hier
der Anfang eines alten in der Erinnerung noch haftenden mythischen Ge-
sanges zu einem nutzbringenden Zauberliede herabgezogen worden sei.
Als nemlich die heidnischen Götter durch das Christentum verdrängt wur-
den , liesz ihnen der Aberglaube noch eine gewisse dämonische Gewalt,
die man durch Zauberei in Wirksamkeit setzen zu können glaubte. So
wurde denn der Anfang eines altheidnischen Liedes , welches mit dem
Zuge Phol's und Wodan's begann, und in welchem von der Verletzung
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' Die Form der hebräischen Poesip. 257
tod Phol's Pferde erzählt wurde , zum Zauberspruche verkehrt. Die sechs
sich daran schlieszenden Verse :
thu biguol en Sinhtgunt, Suna, era suister,
Um biguol en Froa, Volla, era suister
thu biguol en Wodan, oheWola conda
sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki
ben zi bena bluot zi bluoda
lid ze geliden sose gelimida sin ,
welche den eigentlichen Zauberspruch ausmachen, haben Wort- und Vers-
wiederholung zur Verstärkung der Allitteration.
Dieselbe Neigung, nebenher Allitteration Wortwiederholung, Gleich-
heit der Vocale und Reim eintreten zu lassen, zeigt sich schon im Anfange
des neunten Jahrhunderts. Man vergleiche die auf den Eber gedichteten
Verse (Göedeke: deutsche Dichtung im Mittelalter, S. 20)
Der näher gät in litun , •ägit sper in situn :
sin bald ellin ne lazel in u&lin
und Imo sint füoze.füodermaze,
imo sint bürste oben hö forste ,
linde zäne sine zuu&ifelnige
und Sose su& snellemo pegagenet andremo
so uuirdet sliemo ftrsniten sciltriemo.
In den beiden letzten Versen namentlich tritt neben der offenbaren Allitte-
ration ein entschiedener Reim zur Verstärkung hinzu.
Aber auch im Muspilli , welcher der Aufzeichnung nach wenigstens
schon dem 9n Jahrhundert angehört , bricht neben häufigen Assonanzen
nicht selten der Reim durch , und wenn dieses nicht in noch höherem
Grade der Fall ist , so liegt dieses in der Grundlage der Dichtung , welche
unzweifelhaft aus der altern heidnischen Zeit noch herstammt.
Gehen wir jedoch ein Jahrhundert zurück, so sind kaum Spuren
eines solchen Verfalles zu erkennen. In dem Hildebrandsliede zeigt sich
noch der ungetrübte Heldengesang in Anschauung, Sprache (zeigt wie
Homer noch keine strenge Sonderung der Dialekte) und Metrum. Dasz
Vers 56 und 57, wie 58 und 59 (Text nach Goedeke) reimen, kann nicht
füglich als beabsichtigt angesehen werden ; zufällige Reime kommen ja
bekanntlich auch in den antiken Dichtungen vor.
In dem Wessobruner Gebet, welches man auch in das achte Jahr-
hundert setzt, hat der erste Teil keinen Reim, noch die andern bezeich-
neten Merkmale des Verfalls , der letzte Teil hingegen erweist sich auch
schon hierdurch als einen späteren Zusatz, dasz er die Allitteration durch
Reim zu verstärken sucht.
Hiermit ist also in der metrischen Form der Dichtung zugleich ein
Kennzeichen für die Zeitbestimmung der Abfassung gegeben, wie
denn auch im Hebräischen, wie wir sehen werden, hiermit eine besondere
Grundlage gewonnen ist, die Abfassungszeit einzelner Dichtungen , na-
mentlich der altern und jungem Psalmen zu bestimmen.
Wir finden also in der althochdeutschen Dichtung des 9n und lOn
Jahrhunderts denselben Entwicklungsgang in Betreff der Allitteration, wie
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258 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
in der allhebräischen Poesie. Allein von dieser Zeit ab gehen die Dichtun-
gen beider Völker ganz auseinander. Während die mehr lyrische, nach
Verinnerung hinstrebende , hebräische Poesie fast dithyrambisch sich dem
Zwange eines äuszerlich bindenden Metrums entzog, hat die deutsche
Dichtung das mehr plastische Element im Metrum bewahrt und wie sie
selbst zur Zeit, da die Allitteration noch in voller Kraft war, regelmäszige
Hebungen und Senkungen beobachtet hatte*), so hat sie selbst nach dem
Verfall dieselben behalten.
Anstatt der Allitteration jedoch hat sie , da die modernen Sprachen
überhaupt mehr, als die antiken, eines das Ohr mehr reizenden (musika-
lischen) Elements in der Versbildung bedürfen, den Reim eingeführt, der
ihr nicht äuszerlich aufgedrungen , wie Kiopstock und seine Nachfolger
glaubten , sondern genetisch durch Abschwächung der Allitteration ent-
stehen muste. Denn der Reim ist der notwendige Ersatz für die abge-
schwächte Allitteration; der Rej) ist das mehr plastische Aequivalent des
geistigen Paralleli&mus ; wie der Parallelismus im Hebräischen begrifflich,
so verbindet der Reim in den modernen Sprachen phonetisch die einzel-
nen Versteile oder Verse.
Saarbrücken. Julius Ley.
*) Wenn auch die Lach mann sehe Annahme von vier Hebungen in
der Halbzeile, zwei stärkeren des Haupttones und zwei schwächeren
des Nebentones, nicht ganz erweisbar ist, so ist doch die Annahme
von zwei Hebungen selbst von Wackernagel nicht bestritten worden.
20.
Die prosodische und metrische Messung der Nibelungen-
Strophe im MHD und NHD.
Einleitung.
Die Strophe, in der das Nibelungenlied abgefaszt ist, setzt zu ihrem
Verständnis eine gewisse Einsicht in die mittelhochdeutsche Prosodie vor-
aus. Gerade aber die Quantilätsverhältnisse unserer heutigen (= nhd)
Sprache und die der mittelhochdeutschen (= mhd) sind von einander
wesentlich verschieden; es läszt sich daher Art und Eigentümlichkeit der
mhd Nibelungenstrophe vom NHD aus nicht nachweisen und deutlich
machen.
Weder die neuhochdeutsche Nibelungenstrophe, wie wir sie
z. B. bei Unland und Chamisso finden, reicht zu diesem Zwecke aus, noch
das dem mittelhochdeutschen Vorbilde sich annähernde Schema,
dessen sich die Uefcersetzer des Nibelungenliedes z. B. Simrock, ferner
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Die prosodische und metrische Messung der Nibeluagenstrophe usw. 259
F. Ruckert in Lied Hörn und Geibel in König Sigurd's Brautfahrt bedienen.
Das Schema Uhland's , das sich von der Versmessung aller andern nbd
Gedichte in den Hauptpunkten nur wenig unterscheidet, liesze gerade die
wesentlichen Eigenheiten der mittelhochdeutschen Strophe unerklärt ; im
andern Falle würden" die sehr erheblichen metrischen Abweichungen der
Uebersetzer und der eben genannten Dichter von der herkömmlichen an«
tiken Versmessung dem Anfänger unbegreiflich, willkürlich und als grobe
Verstösse gegen die metrischen Satzungen erscheinen.'
Ebenso wenig taugen dazu kurz gefaszte Erklärungen, wie sich de*
ren eine z. B. bei Otto Marbach (Nbd Uebersetzung des Nibelungenliedes.
Leipzig 1860) S.XLIV findet. Dort ist— ohne alle nähere Begrün-
dung — zu lesen:
*Der Bau des Nibelungenverses ist nun folgender: Jedes mehrsilbige
Wort hat Eine oder (die zusammengesetzten Worte) mehrere betonte Sil-
ben. Nur diese betonten Silben werden im Verse gezählt,
die unbetonten werden vom Dichter nach Wahf (?) einge-
schaltet (oder weggelassen), wie es die Stimmung des Dichters
mit sich bringt*
Dies der Kern der ganzen Erklärung; das Wenige, was 0. Marbach
noch hinzusetzt, ist minder wesentlich; das Gitat, wie es hier steht, ent-
hält die Hauptsache. Aber die grosze Masse der Gebildeten, ja gewis
auch viele sonst sehr gelehrte Leute werden, ehe sie auch nur Eine Zeile
weiter lesen, vornherein verwundert fragen: Wie in aller Well kommst
du dazu, gegen alle Grundgesetze der antiken Metrik, ganz gegen den
raaszgebenden Gebrauch auch aller unsrer eignen Dichter eine solche Re-
gel aufzustellen und dem Masze der Verse in deiner neuhochdeutschen
Uebersetzung des Nibelungenliedes zu Grunde zu legen? Das heiszt ja
nichts Anderes, als die Thesis zur Arsis bald setzen, bald weglas-
sen, als ob dadurch nicht jedes Masz des Verses von Grund aus zerstört
wurde? Noch auffallender wird es dem Anfänger vorkommen, dasz das
Eine oder das Andere gar von der bloszen fWahl und Stimmung9 des
Dichters abhängen soll.
Auch für Kundige kann Marbach's Erklärung nicht geschrieben
sein. In Betreff der mittelhochdeutschen Nibelungenstrophe ist sie zwar
richtig; sie enthält aber nichts Neues, wäre also für Kundige überflüssig.
0. Marbach spricht aber an dieser Stelle nicht sowol von der mhd , son-
dern von der nhd Nibelungenstrophe, wie er sie z.B.* selbst in seiner nbd
Uebersetzung des Nibelungenliedes gebraucht. Da dürfte es denn auch
dem Kundigen sehr zweifelhaft sein, ob das mittelhochdeutsche Gesetz
— mir nicbts dir nichts — auch ohne alle Einschränkung auf das NHD
auszudehnen sei (cf. unten den zweiten Abschnitt). Der Anfänger aber
wird diese Grundregel der mhd -Metrik, die nicht Wosz seine eignen An-
sichten, sondern auch den zweihundertjährigen Gebrauch aller unsrer
Dichter antastet und gewissermaszen über den Haufen wirft , für nnsre
neuhochdeutsche Metrik — ohne zwingenden Beweis — nimmer-
mehr annehmen und unterschreiben.
Es bleibt daher nur die Wahl übrig: man läszt die Sache links
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260 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungeustrophe usw.
liegen und beharrt bei seiner Unkunde in der deutschen, also auch unse-
rer heutigen Rhythmik , oder der Anfänger — ob Lehrer oder Schuler —
musz auf sie grundlicher eingehen , da er sonst auch nicht Eine Zeile der
mhd Strophe oder der altdeutsch gemessenen nhd Uebersetzungen des
Nibelungenliedes richtig zu lesen im Stande wäre.
Die mhd Nibelungenstrophe ist, wie schon gesagt, ohne Kennt-
nis der mittelhochdeutschen Prosodie in ihrer Art und Eigentümlichkeit
nicht zu erklären. Aber gerade zwischen der Quantität der mhd und un-
serer nhd Sprache waltet ein wesentlicher Unterschied. Ein so schroffer
Gegensatz könnte nun, was sehr zu bedauern wäre, den Anfänger, für
den diese Zeilen , wenn auch nicht allein , so doch vorzugsweise bestimmt
sind , von der Erlernung des MHD eher abschrecken , als dazu einladen.
Es verlohnt daher wol der Mühe, alles das, worin beide Spra-
chen wesentlich übereinstimmen, in knappester Fassung ein-
leitend zusammenzustellen. Der Anfänger soll daraus ersehen , dasz der
Abstand beider Sprachen — mit Ausnahme der Quantität — nicht grosz
ist, die Erlernung des MHD also vielMühe und Arbeit nicht in Anspruch
nimmt. Die Quantitätsverhältnisse dagegen wären dann, um die pro-
sodische und metrische Messung sowol der mittelhoch-
deutschen, als auch der neuhochdeutschen Nibelungen-
strophe gründlich darzulegen, eingehender und genauer zu be-
sprechen. v
Uebereinstimmung des MHD und NHD.
A) Aller deutschen Sprachen wesentliches Kennzeichen ist: l) die
doppelte Deklination des Adjectivum, die starke und schwache und
2) die Bildung des Imperfectum schwacher Verba durch einen
eigentümlichen auszern Zusatz. Diese beiden Kennzeichen können natür-
lich weder dem MHD noch dem NHD fehlen.
Ad Nr. 1. Die starke und seh wache Deklination des Adjectivum stimmt
fast ganz überein. Nur der Accusativus fem. gen. ist in der schwachen
. mhd Deklination : en, in der nhd aber: e z. B. die blind-en : die blind-e;
ferner hat die starke Deklination im Fem. Sing, und im Neutrum Plur.
die Endung iu , das Neutr. im Sing, ez , z. B. mhd blinder — blind-iu
— blind-ez; neutr. Plur. blind-iu: nhd blinder — blind-e — blind-es;
neutr. Plur. blind-e. Ebenso : der, diu, daz = der, die, das; Neutr.
Plur. diu = die.
Ad. Nr. 2. Die Endung des Imperfectum schwacher Verba ist im Gothi-
sehen: ida, oda, aida, im MHD und NHD ganz übereinstimmend: ete.
B) Die Grundgesetze des etymologischen Teils der neuhochdeut-
schen Grammatik sind: I) die Schwächung der Endsilben zu E,
II) der Umlaut, III) die Brechung, IV) der Ablaut und V) die
Lautverschiebung.
Da dieselben Gesetze auch im Mittelhochdeutschen walten, so wird
auch der Anfänger aus dieser Thatsache sofort ersehen , dasz ihm die Er-
lernung des MHD in Betreff der Deklination, Gomparation und Gonjuga-
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bie prosodische und metrische Messung der Nibelungenslrophe usw. 261
tion besondere Schwierigkeiten nicht machen kann. Dasz aber jeder Se-
kundaner eines Gymnasium Wesen und Wirkung dieser hochwichtigen
5 Grundgesetze seiner eignen Muttersprache genau kenne, ist eine billige
Forderung. Die folgende übersichtliche Vergleichung des MHD und NHD
darf also wol mit Fug und Recht die Bekanntschaft auch des Anfängers
mit diesen nhd Grundregeln voraussetzen. Ein Gymnasium , auf das diese
Annahme nicht paszle , hätte diese Lücke im deutschen Unterricht je
eher desto besser auszufüllen.
Ad Nr. B IV. Der Ablaut, für die gesamte deutsche Wortbildung
das wichtigste Grundgesetz , verdient vor allen andern bei jeder deutschen
Sprache zuerst Berücksichtigung. Der Ablaut bewirkt im Besonderen die
Bildung des Imperfeclum starker Verba; dies geschieht in beiden hier
beredeten Sprachen, wie sich von selbst versteht, wesentlich in der-
selben Weise. Die Unterschiede sind entweder blosz dialektische, oder
Folge der veränderten Quantilätsverhältnisse , oder endlich veranlasst
durch ein gleich zu erwähnendes mhd Gesetz.
Wesentlicher Unterschied. -
Die nhd Formel: ich ward: wir wurden gibt das abweichende mhd
Gesetz für den Ablaut an die Hand. Mit Ausnahme Einer Ablautsciasse
haben neinlich die starken Verba im MHD im Sing, und Plur. Imperfecti
einen verschiedenen, im NHD dagegen einen und denselben Ablaut mit
alleiniger Ausnahme von: ich ward: wir wurden.
Seh
ema.
mhd
nhd
1) i — a — u — u (o)
i — a
— a — u
2) i — a — ä — o
€ -ä(0;
) - t (o) - 0
3) i — a — ä — 6
€ — ä
— ä — 6
4) a — uo — uo — a
a — ü
— ü — a,
5) i — ei — i — i
1) ei — i
2) ei — ie
— i — i
— ie — ie.
6) iu — ou (ö) — u — o
1) ie — b
2) ie — ö
0 — 0
— ö — ö,
Bemerkungen zum Schema.
a) Nur die Verba der 4. Classe stimmen in beiden Sprachen überein ;
sie haben im Sing, und Plur. Imperfecti einen und denselben Ablaut z. B.
mhd ich wasche — ich wuosch — wir wuoschen — gewaschen
nhd ich wasche — ich wusch — wir wuschen — gewaschen.
b) die Verbaler übrigen 5 mhcLClassen haben dagegen einen dop-
pelten Ablaut z. B.
1) iahd singe — sanc — wir sungen — gesungen'
nhd singe — sang — wir sangen — gesungen.
2) mhd ich stii — stal — wir sUlen — gesloln
nhd ich stehle — stahl — wir stahlen — gestohlen.
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262 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
3) mhd ich gibe — gap — wir gäben — gegeben
nhd ich gebe — gab — wir gaben — gegeben.
5) mhd ich blibe — bleip — wir bliben — gebliben
nhd ich bleibe — blieb — wir blieben — geblieben
mhd ich wiche — weich — wir wichen — gewichen
nhd ich weiche . — wich — wir wichen — gewichen.
6) mhd ich kriuche — krouch — wir kruchen — gekrochen
nhd ich krieche — kroch — wir krochen —gekrochen
mhd ich biute — bdt — wir buten — geboten
nhd ich biete — bot — wir boten — geboten.
c) Die zweite Person Sing. (mperfecti starker Verba hat ira MHD die
Umlaut bewirkende Endung e und immer den Ablaut des Pluralis z. B.
mhd. ich gap, du gaehe, er gap ich gruop, du groebe, er gruop
nhd. ich gab, du gabst , er gab. ich grub , du grubst , er grub,
mhd. ich gdz , du güzze, er göz ich las, du iaese, er las
nhd. ich gosz, du goszt , ergosz. ich las, du last , er las.
mhd. ich wart, du wurde, er wart ich was, du waere, er was
nhd. ich ward, du wardst, er ward, ich war, du warst , er war.
d) In der 2. Classe ist das o des Participium noch nicht, wie im
Nhd. bei manchen Verbis, ins Imperfectum gedrungen ; z. B. mhd. ich vihte,
vaht: nhd. ich fechte, focht; mhd. ich schir(e)f schar, nhd. ich schere:
scfaor.
e) Die zwei Abarten des Ablauts in der nhd. 5. und 6. Classe stam-
men aus der Zeit , wo man den älteren doppelten Ablaut des Imperfectum
aufgab. Ein Teil der nhd. Verba entschied sich nun durchweg für den
älteren kurzen Ablaut des Pluralis (= i und u = nhd o), ein Teil für
den langen des Singularis. (= nhd ie und 6).
Ad. Nr. B. I. Schwächung der Endungen zu E. Nach diesem Ge-
setze müssen die meisten Derivations-Endungen und die der Deklina-
tion , Comparation und Gonjugation übereinstimmen.
Die wenigen Ausnahmen sind:
1) Die 3. Pers. Plur. Präs. Indicatfvi; mhd. ent: nhd. en z. B. sie
lobent: sie loben; nhd allein, sie sin-d.
2) Die 2. Pers. Sing, lmperf. Indicaüvi der starken Verba; mhd. e:
nhd. st cf. die Beispiele unter Nr. IV. c. vorher.
3) Das Participium Praes. mhd. lob-ende: nhd. lob-end.
4)' Der Dativüs des Infinitivus a) bei kurzer Stammsilbe; mhd. ze
sag-ene, ze les-ene: nhd. zu sag-en, zu les-en. b) bei langer Stammsilbe;
mhd. ze mld-enne, ze schelt-enne: nhd. zu meiden, zu schelten.
5) Die wenigen Abweichungen der Deklinationen des Adjectivura
sind schon oben unter Nr. A. angegeben.
6) Die nicht zahlreichen Abweichungen der Deklination der Prono-
mina sind im Besondern zu lernen und durch die Lektüre zu befestigen,
ebenso
7) die der Zahlwörter.
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Die prosmlische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 263
Ad Nr. R II. Der Um 1 an t. NB. Der Umlaut des kurzen a wird im Mhd.
durchweg mit e geschrieben , nicht wie im Nhd. bald mit e , bald mit
a ; der Umlaut des langen a ist auch im Mhd. = ae. Dem Gesetze
und der Wirkung des Umlauts gemäsz musz in beiden Sprachen
übereinstimmen die Bildung:
1) des Pluralis der Substantiva z. B. kraft, krefte: Kraft, Kräfte;
luft, lüfte: Luft, Lüfte; pfluoc, pfluege (ph.): Pflog, Pflüge; rat, reder:
Rad , Räder ; tal , telr : Thal , Thäler.
2) der 2. und & Pers. Präs. Indicalivi starker Verba z. B. verst, vert :
fährst, fährt; grebst, grebt: gräbst, gräbt; slaefest, slaefet: schläfst,
schläft-; vellest, vellet: filllst, fällt.
3) des Imperfectum Gonjunctivi starker Verba , der immer den Ab-
laut des Plur. Indkativi hat.
Im Nhd. die einzige regelrechte Formel :
nhd. er ward; sie wurden; er würde; im Mhd. durchweg so:
mhd. er wart — sie wurden — er würde
er gap — sie gäben — er gäebe
er baut — sie bunden — er bünde '
er göz — sie guzzen — er güzze
er starp — sie stürben — er stürbe (nhd. er starb : er stürbe).
er bleip — sie bliben — er blibe.
NB. Der Rückumlaut ist beiden Sprachen gemeinsam, im Mhd.
aber, wenn die Stammsilbe lang ist, weit ausgedehnter z. B.
nhd. ich nenne — nannte mhd. ich kren^e : krancte
sende — sandte hülle : hülle
brenne — brannte. krümme : krümmte
mhd. ich sende — sante waene : wänte
stelle — stalte laere : lärte
velsche — valschle hoere : hörte
briune : brünte loese : löste
4) der Camparativus. Hat die Endung im Ahd. oro , so findet im
Mhd. kein Umlaut statt, hat sie dagegen iro, so steht der Umlaut in der
Regel wie bei uns im Nhd. J. Grimm zählt Gr. 3 S. 575 unter denen, die
im Gegensatz zum Nhd. nicht umlauten, folgende auf: alter (senior),
adelst, armer (pauperior), hoher (augustior), kurzer (brevior), langer
(iongior).
Ad. Nr. B. III. Brechung. Die Brechung ist wesentlich wie im Nhd.
nimmst, nimmt: mhd. nimst, nimt; gebierst, gebiert: mhd. gebirsl,
gebirt; in beiden Sprachen ist das i also nicht gebrochen.
Ausnahme.
Die erste Person Praes. Indicativi hat im Mhd. i, im Nhd. aber e*;
nur: sitze, bitte, liege — haben das ältere i. Das ganze Praesens der
Meter gehörigen Verba lautet also :
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264 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
mhd. ich nim(e) , nimst , nünt ; nemen , nemet , neinent
nhd. ich nehme, nimmst, nimmt; nehmen, nehmt, nehmen,
mhd. ich schir(e), schirst , schirt ; scheren , schärt , scherent
nhd. ich schere, schierst, schiert; scheren, schert, scheren.
Ad Nr. B V. Nach der Lautverschiebung befinden sich liquidae, Spi-
ranten und mutae im Mhd. im Allgemeinen auf derselben Stufe wie
im Nhd.
Resultat:
Sind auch mancherlei Einzelnheiten z. B. bei den, im Nhd. gleich-
falls vorhandenen, mhd. Praelerito : Praesentibus : ich kan, sol, mac, muoz,
weiz, darf, (tar, touc, gan, erban), ferner bei einigen häufigen anomabs
wie gän, stän (gfcn; sten), hau, tuon, bei den zahlreicheren reduplicie-
renden Yerbis, für die wie im Nhd. die Annahme Einer Classe auch im
Mhd. ausreicht, endlich bei 'den vielfachen Verschleifungen der Silben
zweier Wörter noch auszerdem hinzuzulernen und festzuhalten, so ist
doch die Gleichheit der mhd. und nhd. Deklination, Gomparation und
Gonjugation in allen wesentlichen Punkten auch für den Anfänger, der
die obigen Grundgesetze (I — V) und ihre Wirkung auf die Flexion schon
aus. der nhd. Grammatik genau kennt, augenscheinlich und bei einer so
weit gehenden Ueherstimmung beider Sprachen sind grosze Schwierigkei-
ten bei Erlernung des Mhd. nicht vorauszusetzen und zu fürchten.
Im Gegenteil — das Mhd. steht von unsrer heutigen Sprache im We-
sentlichen so wenig ab, dasz es dem Anfänger eine Einsicht in den ur-
sprünglichen Stand der deutschen Sprache nicht eröffnen kann und der
Lehrer schon des Mhd. selbst wegen genötigt sein wird , auf die beiden
älteren Sprachen , das Ahd. und das Goth. , Rückblicke zu thun. Es ist ja
eine Thatsache, die nurUnkunde leugnen .kann, dasz wir vor der gothi-
schen Weder eine neuhochdeutsche , noch eine mittelhochdeutsche Granv
matik gehabt haben. Die Grundregeln der Grammatik der beiden jüngeren
Sprachen fuszen ganz auf der gothischen Grundlage. Ja die Beziehung
beider ist so innig, dasz der, dem auch nur der Name der obigen mhd.
und nhd. Grundgesetze (I— V) auf die Lippe kommt, immer, er mag dessen
sich bewust sein oder nicht, an die beiden älteren Sprachen zurückdenkt ;
Wort und Sache wären ja sonst ganz unverständlich.
In dieser Hinsicht ist es wahrlich nicht leicht, über das selbstge-
fällige Behaben und die Uebertreibungen , die Herr Dir. Stier Lehrern,
deren Verfahren er schwerlich näher kennt , in Betreff der Behandlung des
Altdeutschen im Programm des Gymnasiums zu Golberg (1863) zu machen
beliebt, auch nur Ein Wort zu verlieren, ohne in denselben unziemlichen
Ton der Rede zu verfallen.
W. Wackernagel und R. Raumer mögen in ihrer Ansicht irren und
mit ihnen die Gymnasial-Lehrer, die — ■ gewisz in verständiger Beschrän-
kung und mit steter Rücksicht auf die Schule — das Ahd. und Goth.
beachtet wissen wollen. Welcher Gebildete nennt das aber 'Wahnsinn' ?
Dann müste man ja auch in den blosz auf das Mhd. gerichteten Bestrebun-
gen H. Stier's eine 'Manie' erblicken. Jeder Kundige wird darin aber nichts
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die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 266
Anderes, als eipe gewisse Vorliebe, wenn auch eine sehr be-
schränkte, finden und die Sache, wie es einem Gebildeten ziemt, auch
nur so benennen.
Eins ist dabei unbegreiflich. H. Stier betont überall seinen christ-
lich-kirchlichen Standpunkt. Nun hier beim Ulfila bietet sich ihm ja die
schönste, ganz nahe Gelegenheit dazu dar. Der Lehrer, der seinem
Schäler, namentlich dem künftigen Theologen einige Einsicht und Vor*
berettung auf die Leetüre Ulfila's und, was die Hauptsache ist, eine
gewisse Neigung und Vorliebe für die älteste deutsche Bibel vermittelte
— auf welchem Standpunkte stünde der, wenn nicht auf dem christlichen?
Noch dazu giebt es hier keinen Unterschied zwischen Katholiken und Pro-
testanten; die Theologen beider Confessionen sind in ganz gleicherweise
beteiligt und berechtigt.
Aber mehr noch! Ein solcher Lehrer steht zugleich auch auf dem
nationalen Standpunkte. Ulfila's Uebersetzung ist ja nicht blosz das er st ß
Buch aller germanischen , — es ist überhaupt das älteste Geisteserzeug-
nis aller jetzigen Völker Europas. Die Fremden mögen uns dieses alte
deutsche Buch beneiden und misgönnen; an der deutschen Schule aber
ist es, die Jugend auf dieses heimische Kleinod, dem ja auch wir Gym-
nasiallehrer unser Bischen deutsch - sprachliche Gelehrsamkeit — und
zwar auch die mittelhochdeutsche — wesentlich allein schulden,
je eher desto besser aufmerksam zu machen, um sie mit gerechtem Stolze
auf dieses nationale Besitztum zu Erfüllen , das wir vor allen Völkern un-
sere Erdteils voraushaben.
Erster Abschnitt.
Die Unterschiede des Mittelhochdeutschen und Heuhochd.
J) Lexikalische Unterschiede. A) Das mhd. Wort ist ausgestor-
ben ; B) es* hat seine Bedeutung verändert.
Der Fall ad A) bietet auszer bei Partikeln keine Schwierigkeit, da
das blosz Sache des Gedächtnisses ist; ad B) ist die Uebersetzung oft
nicht leicht, mitunter sogar sehr schwer zu treffen.
NB. Die Verschiedenheit des Geschlechts der Substantiva in beiden
Sprachen und das doppelte mancher mhd. Wörter ,ist bei der Leetüre zu
beachten, besonders weil sehr viele Schwankungen des genus über
Luther und die schlesischen Dichter (der Luft: die Luft) hinaus noch bis
ins Nhd. herein reichen.
2) Dialektischer Unterschied einzelner a) Vokale und b) Conso-
nanten.
Ad Nr. b bieten fast nur die aspiratae: z (z), z (sz) und ph, pf, f, v
einige Schwierigkeiten; die mhd. neutrale Endung der Adjectiva ez ist
nhd. es z. B. blind-ez: blind-es; ez: es; daz: das; nur nhd. dasz = ÖTl.
Ad Nr. a stimmen die einfachen Vocale im wesentlichen überein
(cf. oben die Gesetze der Schwächung, Brechung und des Umlauts).
If . Jahrb. f. Phil. o. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 5 u. 6. 18
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I
266 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
Diphthonge: mhd. nhd. mhd. nhd.
1 — ei uo — ü
iu — ie, eu üe — ü (lang)
ou — au (6) (ü = au) z. B.
min, wip: mein, Weib; grife, lide: greife, leide; biute, fliuhe: biete,
fliehe; kniu, niun: Knie, neun; frouwe, ouge: Frau, Auge; vüere,vüeze:
führe, Füsze; küme, hüs* rüm: kaum, Haus, Baum.
NB. Eigentümlich der mhd. Orthographie ist:
a) Auslautend steht in der Begel Tenuis statt der unaussprechbaren
Media z. B. grap, tac, tdt: Grab, Tag, Tod; mhd. und nhd. Genitivus =
grabes, tages, tödes.
b) Gemination des auslautenden Gonsonanten , die — beiläufig ge-
sagt,— gleichfalls unaussprechbar ist, findet im Mhd. nicht statt z.B.
mhd. began: nhd. begann; kan: kann; lam, al: lammes, alles: nhd.
Lamm, all.
3) Die syntaktischen Unterschiede beider Sprachen z. B. die viel
freiere Stellung des Attributs im Satze, der weit ausgedehntere Gebrauch,
des Genitivus, des geschlechtlichen Pronomen er, sie, ez für unser pos-
sessivum cihr% die Doppelung der Negation und manches andere verbleibt
am besten der Leetüre und der an diese sich anknüpfenden Erklärung.
4) Wesentlicher Unterschied des Mhd. und Nhd. in Betreff der
Quantität.
Mittelhochdeutsche Prosodie und Betonung.
Der Unterschied beider Sprachen ist hier so grosz, dasz der Satz
ganz richtig ist: *Das Mhd. ist in der Schrift unserm Nhd. viel
ähnlicher, als es dem Klange nach wirklich der Fall ist9,
cf. Schleicher, Deutsche Sprache S. 166.
I. Die mittelhochdeutschen Stammsilben.^
Länge der Stammsilben A) natura; B) durch Position.
A) Formel: tujttoc. Naturlang ist a) jeder Diphthong; b) die Länge
einfacher Vocale bestimmt: 1) edie Analogie älterer oder verwandter Dia-
lekte; 2) die Thatsache, dasz auf langen Vocal auszer bei Zusammen-
ziehungen nie Doppeleonsonant folgt und 3) Anwendung mehrsilbiger
Wörter in der Reimkunst*, cf. unten Formel tottoc.
B) Formel : töitttoc. Positionslänge bezeichnet die Doppelconsonanz
für alle Fälle, auszer wo eine Contraction stattfindet.
NB. Als Doppelconsonanten gelten auch die einfachen: ch, seh, pf, '
beide z (= nhd. z und sz), f, k und p, die auch in den Texten oft ff, pp,
tz , zz , ck geschrieben werden.
Kürze der Stammsilben:
Formel: tottoc^ die für den Anfänger wichtigste.
In der Formel : tÖitoc liegt der Hauptunterschied der mittelhoc^?
deutschen und neuhochdeutschen Sprache. In dieser Hinsicht musz der
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 267
Anfänger, um mhd. Prosa zu lesen und mhd. Verse scandiereu zu können,
nicht blosz das, was er in der Schule gelernt, vergessen, sondern auch
die von der Mutter überkommene Aussprache verleugnen.
Auch Schleicher (deutsche Sprache S. 166) sagt: tDieDehnung
aller Vocale vor einfacher Gonsonanz ist' — im Gegensatz zu
den älteren deutschen Sprachen — 'das charakteristische Kenn-
zeichen des Neuhochdeutschen'.
Mit andern Worten : Wahrend im Mhd. auszer der beiden Sprachen
gemeinsamen Formel: tÖititoc (= Positionslänge) noch zwei Quantitäts-
Formeln nemlich 1) tüjitoc und 2) tottoc galten, gilt im Nhd. für diese
beiden nur die Eine Formel: tuhtoc, d. h., alle mhd. kurzen Stamm-
silben haben sich im Nhd. vor Einem Gonsonanten in Längen verwandelt.
Wir besitzen also jetzt zweierlei Längen; die 1) einen waren es schon
im Mhd. und 2) die andern sind es erst im Nhd. geworden.
Ohne Rücksicht auf die Vocale in der Endung ist die Sache nicht
ganz klar zu machen, siehe daher das Folgende; vorweg nur ein paar
Beispiele:
mhd. nhd.
TÖiroc und tuotoc töttoc in beiden Fällen,
tor (sprich: torr) — tdre Thor 1) porta 2) stultus,
malen (sprich: maln) — malen malen 1) molo 2) pioguo,
wagen (= wag'n) — wägen 1) Wagen 2) wagen,
war (= warr = cura) — war 1) wahr-nehmen 2) wahr,
rat (= ratt) — rät 1) Rad 2) Rath,
ich var (== varr) — die vär 1) ich fahre 2) die Gefahren,
sat (= satt) — sät 1) satt 2) Saat, usw.
So sind im Mhd. durch die Quantität und die ihr entsprechende Aus-
sprache viele, in der Schrift den Buchstaben nach gleiche, aber dem Sinne
nach nicht verwandte Worte durch die Quantität der Stammsilbe noch
ganz deutlich von einander geschieden , während sie jetzt im Nhd. dem
Laute nach ganz übereinstimmen, als wären sie wirklich mit einander
verwandt.
Unorganische Doppelconsonanz hat oft die ältere Kürze der Stamm-
silbe erhalten z. B. sat: satt; ich lide, wir liten: leide, litten; ich snide,
suiten: schneide, schnitten; der andere Fall aber, dasz aus mhd. tottoc
im Nhd. tuhtoc wird , ist der häufigere.
II. Die Quantität und Betonung der Endsilben.
A) Abstand des Mhd. vom Ahd.
Die Vocale der Endsilben sind im Goth. und Ahd. nicht so einförmig
wie im Mhd. und Nhd.; neben den starklautigen Vocalen a, u, o finden
sich in den altern Sprachen selbst Diphthonge in Bildungssilben. Der
Wortaccent der Stammsilbe verflüchtigte aber später vom XI. Jahrhundert
ab die starklautigen Bildungssilben immer mehr, so dasz sie sich im Mhd.
gröstenteils zu einem E verdünnten; natürlich findet dasselbe auch im
18* '
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268 Die prqsodische und metrische Messung der Nibeluugenstrophe usw.
Nhd. statt. Man nennt dies Schwächung, von welchem Gesetze schon
oben die Rede war.
Diesem gemäsz können die goth. und ahd. Bildungssilben in den
Worten: goth. heil-jan, salb-ön; heil-ida, salb-öda; ahd. salb-ön, zung-un;
erth-a, erb-o, frid-u, anti nach dem Gesetze der Schwächung in dermhd.
und nhd. Sprache nicht dieselben Vocaie, sondern statt ihrer durchweg
nur ein £ haben; also: heil-en, salb-en; heil-ete, salb-ete; Zung-en;
ßrd-e, Erb-e, Fried-e, End-e.
Nur einzelne Endungen sind im Mhd. dieser Einwirkung des Wort-
accents, d. h. der Verflüchtigung zu E entgangen, die jetzt im Nhd. tonlos
geworden sind z. B. videl-aere , hürn-in , kunig-inne : Fiedl-er , hörn-en,
König-in. Andere Bildungssilben , die ursprünglich selbständige Worte,
also eigentlich mit der Stammsilbe zusammengesetzt waren, haben sich
den älteren Vocal erhalten, z. B. heilec-tuom, Heiligtum; bos-heit (heit
=s Art und Weise), Bos-heit; vriunt-lich (lieh == Leib, Gestalt), freund-
lich, Diet-rich (= reich an Volk), Dietrich usw.
NB. Die Macht des Worttons, seine zerstörende Einwirkung auf die
Endungen, die im Mhd. und Nhd. die Vocaie der meisten Bildungssilben zu
E verflüchtigte, hat im Französischen noch energischer gewirkt; denn in
sehr vielen französichen Worten ist von den lateinischen nichts übrig
gebbeben als die Tonsilbe allein , während die Endungen ganz zerstört
sind z. B. 6m, = hom-ines, wobei die geschriebene Silbe: homm-es,
nicht mehr gesprochen wird. cf. Schleicher S. 158.
B) Abstand des Mhd. vom Nhd. in Betreff der Endungen
mitE.
1) Hat der Wortton im Mhd. die starklautigen Endungen , während
ihm nur wenige Widerstand leisteten, allermeist zu E verflüchtigt, so
fehlte ihm damals doch noch die Kraft die Quantität der Stammsilbe selbst
zu zerstören.*
Ahd. Worte von der Quantität: tuhtoc oder tottoc werden auch im
Mhd. in gleicher Weise gesprochen und gemessen und wahren so der
Stammsilbe ihren ursprünglichen Lautgehalt. Im Nhd. dagegen wirkt der
Worlaccent nicht blosz auf die Endungen verflüchtigend, sondern auch auf
die Quantität der Stammsilbe selbst und verwandelt, wie schon gesagt,
die mhd. kurzen Stammsilben vor einfacher Gonsonanz (= tottoc) in
lange (= tohtoc). Wo unorganische Doppelconsonanz im Nhd. die ältere
Kürze schützt, macht sie diese wenigstens positionslang z. B. mhd. ich
nim(e): ich nehme; du nimst: nhd. du nimmst, er nimmt. »
2) Ein zweiter Unterschied beider Sprachen in Bezug auf Quantität
und Betonung ist dieser :
a) Die neuhochdeutschen zu E verflüchtigten Vocaie der Endungen
sind unterschiedlos und können in Folge dessen im Verse fast nur als
Senkungen gebraucht werden.
b) Im Mhd. dagegen sind die E in den Bildungssilben entweder
1) tonlos, oder 2) stumm. Die erstem können daher unter gewissen
Bedingungen im Verse die Hebung tragen, die andern nicht, cf. unten.
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 269
Mittelhochdeutsche Regel ad Nr. B. 2. b.
' Die mhd. Regel in Betreff dieser beiden Arten der E, der tonlosen
und der stummen, wird durch die mhd. Reimkunst bestimmt:
'Folgt nemlicb auf einen Stammvocal vor einfacher Consonanz eine
zweite Silbe und reimen beide klingend, so ist a) der Stammvocal
lang, b) der Endvocal tonlos (tujitoc); reimen sie aber stumpf (== ein-
silbig), so ist a) der Stammvocal kurz, der Endvocal stumm (= töitoc).
Durch dieses Hülfsmittel der Reimkunst ist auszer*durch die andern
genannten (cf. oben die mhd. Formel: Tiftiroc) die Länge und Kürze
mhd. Stammsilben der groszen Mehrzahl nach durch beweisende Rei-
me festgestellt. Das Zeichen a kennzeichnet in guten Texten die For-
mel: TUJITOC.
Im Mhd. kann man also mit Hülfe des Reimes auf die Quantität der
Stammsilbe und auf den Ton der Endsilbe, ob diese nämlich tonlos, oder
stumm sei, einen Rückschlusz machen. Im NfSl. ist die Quantität der
Stammsilben durch den Wortaccent zerstört und zugleich die E der Bil-
dungssilben völlig unterschiedlos geworden , so dasz von ihnen ein Rück-
scjilusz auf die Quantität der Stammsilbe nicht mehr zu machen ist.
Mittelhochdeutsche Beispiele, zu dieser Regel:
Alle Reime im Nibelungenliede (=N.L) sind z.B. nur stumpfe. Kommen
nui\ darui auch Reime vor wie: degen: siegen; nemen: zemen; sagen:
klagen; gehen: geschehen; genesen: wesen, so ist das die Formel TÖiroc
d. h. die Stammsilbe ist kurz und das E der Endung wie im Französi-
schen stumm, sodasz wir verschleift deg'n: sleg'n; sag'n: klag'n usw.
lesen und sprechen müssen.
Wird das stumme E nach mutis im Mhd. ganz wie im Französischen
geschrieben, aber nicht gesprochen z. B. klagen, sagen = klag'n, sag'n,
so fällt es nach liquidis, besonders nach 1, und r, gern ganz weg z. B. ich
schir, gebir, nim; die sper: nhd. ich schere, gebäre, nehme, die Speere.
Ebenso :
mhd. Sing, der kil , kil-s , kil , kil ;
nhd. der Kiel, Kiels , Kiel, Kiel;
mhd. der kil , kiles , kile, kil ;
nhd. der Keil, Keils, Keil, Keil;
mhd. Plur. die kil, kil, kiln, kil (== tottoc) ;
nhd. Kiele, Kiele, Kielen, Kiele (= toittoc);
mhd. kile , kile , kilen , kile (= toittoc);
nhd. Keile, Keile, Keilen, Keile (= tujttoc).
Das Beispiel soll zeigen, dasz die mhd. Quantitätsformel : töttoc und
Tunroc bei gleichen Endungen gewissermaszen eine verschiedene Decli-
nation bewirkt. Im ersten Falle ist die Stammsilbe kurz (= töitoc),
das E stumm. Da aber vor diesem stummen E die liquida 1 vorhergeht, so
fallt es per syncopen oder apocopen ganz weg. Im zweiten Falle ist das
E tonlos und wird beim Sprechen nicht unterdrückt, die Stammsilbe ist
aber lang (= tujttoc).
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270 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw
Früher — noch im 12. Jh. — declinieren beide Worte gleich; der;
Unterschied der Declination von kil (sprich : kill) und kil Ist daher nur!
durch den Wortaccent zu erklären, der bei langer Stammsilbe das £ der,
Endung schützte, bei kurzer dagegen so hinabdrückte, das es endlich
stumm wurde, cf. Hahn , Mhd. Grammatik. S. 17— 19.
Im Nhd. sind alle diese £ unterschiedlos; auf die Stammsilbe ist ^eii
Rückschlusz mehr zu machen , in Folge dessen der Sprachgebrauch nicH
so wie im Mhd. ftst und bestimmt, sondern schwankend und unsichec
Der Gebrauch der Mutter entscheidet zumeist und das eigne Ohr, das data
einen harten Zusammenstosz von Gonsonanten (z.B. Todes, tödtete; nicht
Tods , tödtte) gern meidet. Wie die Mütter aber in dieser Hinsicht veü
schieden reden, so ist auch der Gebrauch schwankend namentlich bein
Dativus; Dichter setzen den Vocal oft auch da, wo ihn der Prosaiker am
stöszt z. B. saget, klaget sagt, klagt.
NB. Mittelhochdeutsche Regel für zwei öder mehr £ i
der Endung.
1) F o r m e 1 : töitoc ; dann ist das erste E s t u m m , das zweite l o a<
los z. B. edel, edeler, edeles sprich: edl, edler, edles; Hagene: Hagna
degene: degne; leder, lederes: ledr, ledres.
2) Formel: tüjttoc; dann ist das erste E tonlos, das zwei«
stumm z. B. isen, isenes sprich: isen, isens; wäfenet: wälent; wafeneo
wäfenn, wäfen; michel (= Positionslänge), micheler, micheles, michel
sprich : michel, michelr, michels, michel. Die Regel für drei E in Bil&wgi
silben ergibt sich aus den Beispielen a) TÖJtoc: edeleme sprich: edlemi
b) TUJTTOC: micheleme: michelme.
Dasz übrigens auch im Mhd. einzelne Schwankungen, die durch Vet
und Reim bedingt waren, bei ungenaueren Dichtern vorkommen, ist vcfl
selbst klar. In unsrer heutigen nhd. Sprache sind der Schwankungen ä
der Setzung und Unterdrückung dieser E durch syncope und apocope ab<
so viele, dasz sich auszer dem Rath, den harten Zusammenstosz von Goi
sonanten zu meiden, eine feste Regel nicht mehr aufstellen läszt; di
schwankende Gebrauch namentlich der Dichter dürfte jede Regel der Gram
matiker zu Schanden machen.
Mittelhochdeutsche Nibelungen -Strophe,
(cf. Max Rieger in der Küdrün v.Ploennies, Simrock und Schleicher;
Deutsche Sprache S. 300 ff.)
Mittelhochdeutsche Metrik. Allgemeine Regeln.
fMasz des Verses sind einzig und allein die betonten
Silben; die nicht betonten zählen nicht9 (cf. Schleicher S. 301
und oben 0. Marbach's Erklärung). Der Ton aber sinkt vom Hochton und
Tiefton bis zur Tonlosigkeit und zum Verstummen der Silbe. Mit andern
Worten: Das Grundprincip der deutschen Rhythmik ist nicht — • wie in
der antiken — die Quantität der Silben, sondern ihre Bedeutung, ihr In-
halt. Je bedeutsamer eine Silbe ist, desto mehr Nachdruck legt der Ton
(Accent) auf dieselbe ; je unbestimmter, allgemeiner dagegen , desto ge-
ringern (cf. das Nähere im 2. Abschnitt.)
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 271
Das paszt nicht blosz auf die Stamm-, sondern auch auf die Bildungs-
silben. Denn warum haben im Mhd. z. B. die Endungen : rieh, lieh, aere,
in, die im Nhd. tonlos sind, noch den Tiefton? Offenbar hängt das nicht
von ihrer Quantität, sondern von ihrem begrifflichen Inhalte ab. Im Mhd.
erkannte man teils bei manchen dieser Endungen, teils fühlte man wenig-
stens dunkel den in ihnen liegenden concreten Begriff ( — rieh = reich ;
lieh = Gestalt, Art). Ja man könnte diese Behauptung sogar auf das
1) tonlose und 2) auf das s tu mm e E ausdehnen. Denn warum sind die
einen E tonlos, die andern stumm? Antwort: Es läszt sich kaum ein and-
rer Grund erdenken, als weil im; Mhd. das Gefühl für die concreto Be-
deutsamkeit der letzteren dem Redenden ganz und gar verloren gegangen,
während es bei den tonlosen Bildungssilben , wie geschwächt es auch
schon sein mochte, doch noch vorhanden war. Im Nhd. ist auch die letzte
Spur des Unterschiedes der beiden E verschwunden.
Schleicher's voranstehenden Grundsalz kann man auch so fassen :
Der deutsche Vers ist mehr eine Sinn- als eine Laut-
einheit, deren Äbrundung zu einem Ganzen der Reim ur-
eigentümlich vermitteln hilft cf. unten den zweiten Abschnitt.
Aus diesem Grundsatze, dasz das Masz des Verses einzig und allein
die betonten Silben sind, während die unbetonten nicht mitzählen, flieszen
von selbst für die mhd. Rhythmik diese Regeln:
1) Länge und Kürze der Silben (= tumoc, xöiroc) ist für das
Masz des Verses gleichgiltig.
2) Die Anzahl der Silben eines Verses ist (innerhalb gewisser Gren-
zen) beliebig.
3) Die betonten Silben heiszen als Teil des Verses Hebungen, die
unbetonten Senkungen. Die Zahl der Hebungen im Verse steht fest,
die der Senkungen nicht.
4) Steht die Senkung vor der ersten Hebung, so heiszt sie Auf takt;
dieser kann stehen oder fehlen und ist im N. L. ein- oder zweisilbig.
Natürliche Folgen dieser Regeln sind:
a) Da die Verse keine bestimmte Silbenzahl haben , findet keine Sil-
benzählung wie bei der antiken Metrik statt.
Es gibt keine regelmäszig steigende und fallende Rhythmen, keine
Iamben und Trochäen. Die erste Hebung ist des Verses Anfang; der
Rhythmus kann also nur fallend sein. Aber trotzdem entspricht dieses
fallende Masz nicht dem absteigenden, antik gemessenen Trochäus; denn
b) bei der Gleichgiltigkeit gegen die Senkung (== unbetonte Silben)
können die Füsze auch einsilbig sein, wodurch das regelmäszige antike
Masz des Trochäus ganz zerstört würde.
c) Die im N. L. immer einsilbige Senkung folgt, wenn sie nicht
Auftakt ist, dicht hinter einer betonten Silbe (= Hebung), sonst kann
sie eine Silbe von jeder Betonungsart , selbst eine mit dem Hochton sein
z. B. Kriemhilt | twanc gröz | gäm | er || , wo die hochbetonte Silbe
gröz in der Senkung steht. Im letztern Falle musz aber eine hochtonige
Silbe , wie hier 'twanc', vorausgehen.
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272 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
NB. Wegen scheinbar zweisilbiger Senkungen im N. L. cf.
Schleicher S. 307 und 308.
Mittelhochdeutsches Schema der Nibelungen-Strophe.
Neben den Hebungen lassen sich die Senkungen und der ein- und
zweisilbige Auftakt, da sie beide bald stehen, bald fehlen, durch]
Schema nicht darstellen; im Gegenteil, um den mannichfachen Wechsel
aller Verse, wie sie im N.-L, thatsächlich vorkommen, auch in Betreff
dieser beiden Punkte, der Senkung und des Auftakts erschöpfend darauf
stellen , dazu gehörte eine sehr grosze Zahl von Schematis. Es bleibt also
nichts übrig, als die Hebungen allein zu bezeichnen:
Schema,
(zweimal) mit der stumpfen Reimformel: aa,
. | mit der stumpfen Reimformel: bb.
Beispiel.
Dö — nam der | herre J Dietjrich [
selbe sin gejwant |
im — half daz | er sich | wäf|ent |
der — alte | Hilde |br an t |
dö — klagt | also | sejre ||
der — kref|tige | man
daz daz | hüs er | diez|en ||
von — slner | stim|me bejgan.
(lu Strophe des letzten Abenteuers des N.-L.)
NB. Von den Zeichen in dem Beispiele scheidet der Gedankenstrich
den Auftakt von dem Versanfange d. h. von der ersten Hebung ; der ein-
fache Strich bezeichnet die Hebungen, die entweder einen einsilbigen,
oder wo (als zweite Silbe) eine Senkung folgt, einen zweisilbigenFusz
ausmachen; der Doppelstrich trennt die zwei Vershälften.
Erläuternde Bemerkungen zu dem Beispiele.
1) Die N.-Strophe hat 4 Langzeilen.
2) Je zwei Langzeilen sind durch die stumpfe (einsilbige) Reimformel :
aabb zusammengehalten und zur Strophe abgerundet.
NB. Alle zweisilbige Scbluszworte von der Quantitäts-Formel xöiroc
(cf. oben) gelten als stumpfer Beim z. B. sagen: erslagen; gestriten: Ter-
miten; gehaben: begraben; lies verschleift: sag'n: klag'n; gestrit'n: ver-
mit'n ; gehab'n: begrab'n.
3) Jede Langzeile hat einen Ruhepunkt in der Mitte, also zwei Hälf-
ten, die Kurzzeilen genannt werden.
4) Jede von den 4 ersten Kurzzeilen der Strophe hat je 4, jede von
den 4 zweiten Kurzzeilen je 3 Hebungen mit Ausnahme der achten, die,
weil sie die Strophe abschlieszt, in aller Regel 4 Hebungen hat
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die prosodischc und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 273
Nota bene!
A) Max Rreger>(Küdrün v. Ploennies Leipzig 1853) nimmt S. 280 — 281
für die 4 ersten Halbverse — gegen die Behauptung unter Nr. 4 — blosz
. je 3 Hebungen und in Folge dessen natürlich immer klingenden Schlusz
der ersten Halbverse an. x
B) Simrock (Walther v. d. Vogelweide I S. 171 und Zwanzig Lieder
von den Nibelungen S.XI), Keinrich Kurz (Gesch. d. deutschen Litteratur
S. 27 unten) und A. Schleicher (Deutsche Sprache S. 303 und namentlich
304) nehmen für die 4 ersten Kurzzeilen im Gegensatz zu Rieger, wie
auch hier unter Nr. 4 und in dem vorstehenden Beispiele geschehn ist,
je 4 Hebungen, folglich stumpfen Versschlusz der ersten Vershälften an.
Es ist richtig, die bei weitem gröste Zahl der ersten Halbverse geht
wie in unserm Beispiele : f wäfent* — fs6re' — Miezen' scheinbar klin-.
gend, d. h. auf tonloses E aus; aber gegen Rieger und für Simrock und
Schleicher spricht : . v
a) Es kommen erste Vershälften im N.-L. vor, die entschieden
stumpf schlieszen; Schleicher zahlt deren S. 303 etwa zwölf auf z. B.
Ger|nöt und | Glsel|her [|
wess ich | wer ez | het ge|tan jj
silber | gap man | unde | wat ||
do — sprach der | alte | Hildejbrant ||. Auch der erste
Halbvers in unserm Beispiel, ist doch wol zu lesen :
Dö — nam der | herre | Dietjrtch ||.
b) Wichtiger noch ist der Fall, dasz selbst die' zweiten Kurzzeilen,
die ja immer stumpf ausklingen müssen, bisweilen auf das tonlose E aus-
gehen. Hier ist aber das tonlose E nicht blosz der Trager der H&bung,
sondern zugleich auch des Schluszreims der Langzeile z. B.
ir — muoter | Uolte'n |
baz der | guojten |.
diu — schif verjborgjen |
zen — grözen J sorgen.
c) Gerade die Beispiele ad Nr. b (cf. Schleicher S. 304) , in denen das
tonlose E Hebung und einsilbiger (stumpfer) Reim zugleich ist, sind der
beste Beleg, dasz im Mhd. dieses E für Ohr und Gefühl eine ganz andere
Geltung gehabt haben musz, als das stumme. Denn trägt auch selbst das
stumme E nach ahd. Art am Schlüsse der ersten Vershälften zuweilen
ausnahmsweise die Hebung (Schleicher S. 315) , so ist es zum stumpfen
Reim doch ganz untauglich.
Nur weil Mai Rieger sich auf unsern, den nhd. Standpunkt stellt,
wo die E der Bildungssilben ganz unterschiedlos sind, streubt sich, wie
er sagt, sein Ohr, die ersten Vershälften mit stumpfen Schlüsse d. h. mit
je 4 Hebungen zu lesen.
Sind auch jetzt diese E alle gleich, so musz doch in und bald nach
der Zeit, wo die ahd. Endungen mit den starken Vokalen a, u, o sich zu E
verflüchtigten (= XI. und XII. Jh.), der Sprechende das gröszere Ge-
wicht der tonlosen E gefühlt und dies Gefühl dadurch ausgedrückt
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274 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
haben, dasz er die tonlosen E nachdrücklicher hervorhob, als die all-
mählich stumm werdenden.
d) Dasz die Worte: Uo|ten |: guo|ten |; bor|gen |: sorjg&i | nicht
für zweisilbige Reime zu halten sind, was anzunehmen der Anfänger ge-
neigt sein könnte, versteht sich von selbst; es wären ja sonst zweite
Kurzzeilen mit blosz 2 Hebungen , während sie sonst immer 3 Hebungen
haben.
5) Zu Hebungen sind nur betonte; oder — was ganz dasselbe
sagt — begrifflich bedeutsame Silben geeignet (cf. das Nähere
im 2. Abschnitt).
Ausnahme: Das tonlose E als Hebung.
a) Dasz das tonlose E am Schlüsse der ersten Vershälften sehr
oft in der Hebung steht und bisweilen auch am Schlüsse der zweiten , ist
unter Nr. 4 A und B eben erwähnt.
b) Innerhalb des Verses kann es Hebung sein,
1) wenn die vorhergehende lange Silbe gleichfalls Hebung ist und
auf das tonlose E a) entweder noch eine Senkung mit einem E (oder
der Artikel) , oder ß) einfache Gonsonanz und stummes en folgen z. B.
ad b. 1. o. im 8. Halbverse des obigen Beispiels:
von — siner | stimjme bejgan |.
diu — was ze | San|ten gejnant |.
der — hat mir | leilde ge|tän |
vlte|zen daz | bluot |.
ad. b. l.ß.
|| den — swert | grim | megen | man |.
2) Folgen auf tonloses E zwei Consonanten mit folgendem e, so kann
das tonlose E metrisch als tieftonig behandelt werden, also die Hebung
tragen z. B.
ze — triu|tenne | hän. |
hie ze — werjb^nne | gän |.
b) Die Senkung kann, wie schon bemerkt, eine Silbe von jeder
Betonung sein. Bedingungen:
1) Eine Hebung musz vor ihr stehen;
2) sie musz einsilbig sein cf. wegen verschleifter Silben zeui; zer:
ze dem , ze der. Schleicher 307. -
7) Der Auftakt ist im N.-L. ein- oder zweisilbig und kann
vor den ersten und zweiten Kurzzeilen stehen oder feh-
len z. B.
do — - nam der | herre | Dietjrich |j selbe | sin | gewant |
im — half daz | er sich | wälfent || der — alte | Hildejbrant |
|| von — siner | stim|m6 bejgan | '
Jane — dunket | sich von | Berjne || der — herre | Diet|rich |
|| ich ge — tar in | harte | wol bejstän |
Nu wer — was der | üfem | schil|de || vor dem — Wasgen | steine | saz j
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 275
*Der Anfang des Verses*, sagt Schleicher, 'ist freier in seinem Masze,
als der Schlusz, der die Form des Verses am strengsten zeigt.'
Dasselbe gilt, wenn auch in andrer Weise, selbst in der antiken
Metrik; auf diese Thatsache gründet sich auch das Wesen des deutschen
Auftakts. Demgemäsz kann der Auftakt sogar umgestellt werden, d. h.
hinter die erste Hebung treten, so dasz es den Anschein gewinnt, als folgte
(gegen Nr. 6) der ersten Hebung eine zweisilbige Senkung.
Nimmt man als Zeichen des Auftakts , wie oben immer geschehen,
den Gedankenstrich, für die Hebung den Strich und für die Senkung ein
Sternchen an, so entstanden folgende Schemata:
a) — | * = regelmäsziger ein- oder zweisilbiger Auftakt., Durch
Umstellung entstehen:
b) | — t für einsilbigen und
c) __ | — * für zweisilbigen Auftakt. Ad Nr. a sind Beispiele vor-
her gegeben.
ad b. Gun — ther den | küenen | man |
Mark — gräve | Ruede|ger J
Kriem — hilte | höch|zit |
ad c. do — kom — en von | Bech|lär|en ||
der — bisch— of und I sine | nif|tel|| cf. Schleicher S. 310 u.311.
Die feste Zahl der Hebungen in der Kurz- und Langzeile, ferner der
die Langzeilen zur Strophe abrundende und einende stumpfe Reim — das
war unverbrüchliches Gesetz, an das sich der Dichter des Nibelungenliedes
gebunden sah. Dagegen gewährte ihm das Setzen oder Weglassen der
Senkung und des ein- oder zweisilbigen Auftakts, um die Form seiner
Gemütsstimmung ohne Zwang immer genau anzupassen, eine Freiheit,
welche unsere heutigen Dichter, die sich — nach der antiken Metrik —
an das Zählen der Silben im Verse ängstlich binden, ganz und gar ent-
behren und den mhd. Dichtern nur beneiden können.
Dieser Gegensatz zwischen Freiheit auf der einen und Gebundenheit
auf der andern Seite reizt von selbst zur historischen Vergleichung der
Vergangenheit und Gegenwart.
Aber das Vergangene, auch wenn es das eigne Volk, die eigne
Sprache beträfe, verdient nicht an sich allgemeine Beachtung; darin hat
H. Stier vollkommen Recht. Auch die oben gegen ihn gerichteten Bemer-
kungen in Betreff des Goth. und Ahd. sind z. B. am allerwenigsten hervor-
gegangen aus einer dunkeln Vorliebe für das Alte. Eine solche Vorliebe
mag einem muszereichen Lehrer einer Hochschule oder einem unabhängi-
gen Freigelehrten wol anstehen und auch behagen, nimmermehr aber
dem Praktiker, der der Jugend das Alte zu Nutz und Frommen seiner
Zeit vermitteln soll. Dadurch jedoch, dajsz J. Grimm mit der gothischen
im innigstenBezuge zugleich auch eine neuhochdeutsche Grammatik
geschaffen hat, dadurch ist die alte, fast vor anderthalbtausend Jahren
ausgestorbene gothische Sprache mit unserer lebenden Muttersprache
vermittelt und ragt so regelnd und bestimmend mitten hinein in die Ge-
genwart. Darin und in nichts Anderem liegt allein für uns der hohe Werth
276 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
der gothischen Sprache und die Notwendigkeit ihrer Beachtung auch in
dem Gymnasium.'
, Nicht anders mit dem Mhd. Wären alle Faden, die diese Sprache
mit unsrer neuhochdeutschen verbinden, d urchgeschnitten — wie Wenige
besäszen Lust und Zeit sie zu beachten. Läge beispielsweise zwischen
der zwanglosen Freiheit, mit der sich die mhd. Dichter im Verse bewe-
gen, und zwischen der lähmenden Gebundenheit der heutigen wirklich eine
unausfflllbare Kluft, sodasz der Versuch, vom Mhd. aus an den diesseiti-
gen Rand derselben zu gelangen, vornherein erfolglos schiene, wer bliebe
nicht lieber da, wo er festen Fusz gefaszt, stehen und überliesze die
ganze Geschichte von der mhd. Versmessung dem ersten besten Gelehrten
für seine von der Gegenwart sich abwendenden Lieblingsbeschäftigungen?
Wie es aber gekommen, dasz unsere Dichter, um die urdeutscbe
Freiheit der Bewegung innerhalb des Verses zu zerstören, sich selbst
fremde Fesseln angelegt und dem fremden Zwange in den letzten 2 Jh.
widerstandslos nachgegeben und sich unterworfen haben , bis endlich —
gerade in unsrer Gegenwart — einzelne Dichter die Unfreiheit abzuschüt-
teln und ihre Verse mit dem glücklichsten Erfolge wieder nach deut-
schem und nicht nach fremdem Masze zu messen anfiengen — das zu
zeigen ist der Zweck des zweiten Abschnitts dieser Abhandlung. Die fol-
gende Erörterung nach der vorstehenden scheint an sich nicht überflussig,
ja fast notwendig , da man eine Geschichte nicht in der Mitte der Erzäh-
lung abzubrechen , sondern bis ans Ende auszuspinnen pflegt.
Aber noch ein anderer Umstand ladet dazu ein, Art und Wesen der
Nibelungen-Strophe bis auf unsere Tage zu verfolgen.
Gervinus ist nicht abgeneigt, den Werth der ganzen mittelhoch-
deutschen Litteratur dadurch ungebührlich hinabzudrücken , dasz er sie
ein Feld nennt, blosz geeignet, dasz sich auf ihm die Gelehrsamkeit
tummle. Was soll das anders heiszen als : Wir haben es hier mit einer
alten, abgelebten Zeit zu thun, deren sie erfüllender Inhalt zwTar einen
Gelehrten interessieren kann , in dem absonderliche Neigung und jahre-
lange Beschäftigung mit der Sache eine künstliche Teilnahme et wecken
— aber es fehlt der naturwüchsige Zusammenhang jener todten Zeit und
der Gegenwart und mit diesem zugleich auch der Bezug, der unmittelbare
Einflusz der mhd. Dichtung auf unsere neuhochdeutsche.
Mögen Andere, insoweit sie es vermögen, nach andern Richtungen
hin diese Ansicht des berühmten Historikers widerlegen. Was die mhd.
und nhd. Metrik anbetrifft, so war sein für vergleichende Geschichte sonst
so scharfes Auge entweder doch nicht scharf genug , um die Faden , an
welchen beide auch heute noch zusammenhängen , zu erkennen , oder er
hat sie gegen bessere Einsicht mit keckem Finger durchgerissen.
Ganz abgesehn vom Volksliede, von einer groszen Zahl lyrischer Ge-
dichte im Tdne von Goethe und Heyne, in denen die altdeutsche Vers-
messung, wenn auch nicht regelrecht gehandhabt, so doch unbewust die
Fesseln der antiken Metrik durchbricht, so ist ohne die Kenntnis der mhd.
Rhythmik Niemand im Stande, auch nur Eine Zeile in den nhd« Ueber-
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Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums. 277
selznngen z.B. Simrock's undPloennies' und in manchen Gedichten Uhland's,
Goethe's, Rückert's und GeibeJ's richtig zu lesen; ja selbst der Bau der
modernisierten Nib.-Str., wie sie in den ersten besten Gedichten Uhland's,
Chamisso's und vieler andrer vorkommt, bliebe ihm unverständlich. Waltete
aber in Be2ug auf die Versmessung nicht ganz dasselbe Grundprincip wie
im Mhd., so auch heute noch in unsrer Verskunst, so wäre die Rückkehr
der genannten Dichter und Uebersetzer zur altdeutschen Metrik ganz un-
möglich gewesen; hier will also das Neue, Gegenwärtige durch das
Alte, Vergangene erkannt und erläutert sein. Erwüchsen endlich,
wie ganz bestimmt zu erwarten, auch unsrer Dichtung der Zukunft, na-
mentlich der erzählenden und lyrischen Gattung, aus dieser Rückkehr zum.
Alten, d. h. zum Echtdeutschen, neue, früher nicht geahnte Vorteile, so
wäre die oben angedeutete Behauptung von Gervinus , dasz wir es hier
mit einer abgelebten todten Zeit, die mit der Gegenwart des Volks in kei-
ner Beziehung mehr stünde, wenigstens nach Einer Richtung hin wider-
legt und, wie es scheint, beseitigt.
(Fortsetzung im nSebsten Hefte.)
Lissa; Ed. Olawsky.
21.
Rede über den Vortrag der Geschichte in der Prima eines
Gymnasiums,
gehalten bei der Stiftungsfeier des Gymnasium Casimirianum
am 3. Juli 1863 vom Oberlehrer Heinr. Mutter.
Der hochherzige Gründer unseres Gymnasiums ist schon so oft bei
der Stiftungsfeier, die wir jährlich begehen, mit beredtem Munde geprie-
sen worden, dasz ich mir wol erlauben darf, heute nur auf eine Seile
seines hohen Verdienstes hinzuweisen. Ich will nicht den idealen Sinn,
den Eifer für die Wohlfahrt seiner Unterthanen rühmen, die den Enkel
Johann Friedrich's des Groszmüthigen bewogen haben, diese Pflanzschule
christlfcher Frömmigkeit und wissenschaftlicher Bildung anzulegen , will
nicht ausführlich schildern, wie er durch die Sorgfalt, die er seinem Casi-
mirianum widmete, und die Opfer, die er ihm brachte, 28 Jahre lang
thatsächlich bewiesen hat, dasz er wirklich, wie er öfters äuszerte, seine
zwei Gymnasien in Gotha und Coburg als die beiden Augen betrachtete,
durch die sein Herzogtum erleuchtet würde. Nur an einen Teil seiner
ebenso weisen als treuen Fürsorge für dieses Kleinod seines Landes will
ich erinnern, indem ich einige jener Männer erwähne, die der fürstliche
Scholarch in den ersten Jahren zu Lehrern an diesem Musensitz berufen
und durch viele Beweise seiner Hochachtung und Huld erfreut hat. Her-
zog Casimir, der Freund und Kenner gelehrter Bildung, wüste, *dasz
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278 Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums.
ohne taugliche Professors bei diesem christlichen , löblichen und nütz-
lichen Werke nichts Fruchtbarliches geschehen könne.' Daher übertrug
er die Leitung des gymnasium academicum einem Manne, der durch zahl-
reiche Schriften, durch seinen Namen der jungen Anstalt Ehre machte,
dem Stadtphysikus und Gymnasiarchen Libavius in Rothenburg an der
Tauber. Dieser vorzügliche Gelehrte, ein eifriger Vertreter der altclassi-
schen Medicin und zugleich der ramistischen Philosophie, der mit wissen-
schaftlicher Tüchtigkeit die nötige Energie und vieljährige pädagogische
Erfahrung verband , hat unter mancherlei Widerwärtigkeiten die schwere
Aufgabe einer zweckmäszigen Organisation des Gymnasiums glücklich
durchgeführt; er hat durch seine Vorträge und Disputationen und durch
das Vorbild seiner eigenen gelehrten Bestrebungen wissenschaftlichen
Sinn in der ziemlich zuchtlosen Jugend zu erwecken gewust, er hat mit
groszem Eifer den akademischen Charakter der ihm anvertrauten Schule
so viel als möglich zu verwirklichen gesucht. Unter seinen Gollegen war
der eifrigste ein Mecklenburger, Namens Scheffler, ein ehemaliger Lehrer
der schola senatoria, den dem akademischen Streben des Directors gegen-
über mit Entschiedenheit und Freimut, doch nicht ohne innere Verstim-
mung, den pädagogischen Standpunkt vertrat, und dem alle seine Vor-
gesetzten das Zeugnis gaben , dasz er ebenso tüchtig in der Doctrin , wie
in der Disciplin war , ja dasz allein um seiner treuen Institution willen
Fremde ihre Kinder nach Coburg zur Schule geschickt. Sein tüchtiger
pädagogischer Sinn und der glückliche Erfolg seiner Lehrerwirksainkeit
wurde auch von dem väterlichen Patron des Gymnasiums so sehr aner-
kannt, dasz dieser zweimal seiner Stiftung zu Liebe ihm die Erlaubnis
versagte einen Ruf nach Hamburg zu folgen, und dasz er ihn im Jahre 1616
zum Nachfolger des verstorbenen Rectors Libavius erwählte. Doch die
beiden von mir erwähnten Lehrer des Casimirianums, die sich gerechten
Anspruch auf ein dankbares Andenken der späteren Generation erworben
haben, wurden von einem Gelehrten überstrahlt, den eine fragmentarische
Geschichte unserer Anstalt eine Zierde Coburg's für alle Zeiten nennt, von
jenem architheologus , der später auch bewirkte, dasz während seines
Lebens alle Universitäten vor Jena die Segel strichen, dem Verfasser der
gelehrtesten und berühmtesten Dogmatik des 17. Jahrhunderts und der
meditationes sacrae, Johann Gerhard. Dieser bei aller dogmatischen
Pedanterie doch wahrhaft fromme und edle Vertreter der lutherischen
Orthodoxie, den man wegen seiner stupenden Gelehrsamkeit und seiner
fast unbegreiflichen schriftstellerischen Productivität bewundern musz,
wurde im Jahre 1616 als junger Mann von 24 Jahren von Herzog Casimir
zum Superintendenten in Heldburg und zugleich zum professor primarius
des Gymnasiums ernannt, und obgleich er in dieser Stellung schon vier
Bände seines groszen dogmatischen Werkes und zahlreiche andere Schrif-
ten verfaszte, war doch auch seine praktische Wirksamkeit so vielseitig
und eminent, dasz sein überaus dankbarer Fürst jhn bei zahlreichen Be-
rufungen mit fast übergroszer Zähigkeit festzuhalten suchte und trotz
seines Widerstrebens ihm auch noch die höchste geistliche Stelle seines
thüringisch-fränkischen Landes übertrug. Ich versage mir die groszen
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Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums. 279
Verdienste hervorzuheben, die Johann Gerhard während der Verwaltung
dieser geistlichen Aemter auf Anregung und zur innigen Freude seines
fürstlichen Gebieters um unsere Landeskirche sich erworben hat; aber
dasz er bei einer schwächlichen Gesundheit und einem praktischen Amte
von groszer Arbeitslast doch noch' Zeit fand für unser Casimirianum in
dem ersten Decennium seines Bestehens thätig zu sein , das verdient am
heutigen Tage dankbare rühmende Erwähnung. Der junge Ephorus von
Heidburg, der die Aufsicht über 26 Geistliche zu führen hatte, wanderte
fast allwöchentlich zur Residenz, um an wichtigen kirchlichen und scho-
lastischen Beratungen Teil zu nehmen, und sein Urteil galt viel, wenn es
sich um die Anstellung neuer Lehrer, um Fragen der Organisation und
der Disciplin handelte. Schon in Heldburg hat er auch, wie es scheint,
die förmliche Inspection der Anstalt übernommen. Sein Hauptverdienst
aber war, dasz er durch theologische Disputationen, die er alimonatlich
unter zahlreicher Beteiligung der Geistlichen in der neugegründeten Lan-
desschule hielt, einen heilsamen Einflusz auf ihren Ruf und auf den Eifer
der studierenden Jugend übte. Denn wie hätte der wissenschaftliche Geist
der cives Cäsimiriani nicht durch die gelehrten Verhandinngen mit einem
Manne belebt werden sollen , der in seiner Liebe zu den Studien einmal
äuszerte : 'wie auszer der Kirche kein Heil, so ist auch kein wahres Leben
auszerhalb der Akademie'. Seine Sehnsucht nach dem akademischen Lehr-
amte ward endlich zum Segen der ganzen evangelischen Kirche und zum
Ruhme der theologischen Facultät Jena's befriedigt, als er im Jahre 1616
dem dritten Rufe nach jener Universität folgen durfte. Dasz aber durch
sein Scheiden das Band gegenseitiger Verehrung und Dankbarkeit zwischen
ihm und dem edlen Fürsten nicht zerrissen ward, das hat, um andere
Thatsachen zu übergehen, der gefeierte Jenenser Professor achtzehn Jahre,
nachdem er eauf das Katheder herabgestiegen' war, bewiesen, da er sei-
nen treuen fürstlichen Gönner nach dessen Hinscheiden durch eine akade-
mische Gedächtnispredigt ehrte, die zwar seine Schwächen nicht verbirgt,
aber zugleich ein bleibendes Denkmal seiner Tugenden und Verdienste, ein
beredtes Zeugnis von der dankbaren Pietät eines deutschen Gelehrten ist*
Gern möchte ich nun Euch auch noch erzählen, wie der berühmte General-
ephorus unseres Landes in seinem lieben Jena, geehrt und bewundert wie
wenige, aber auch unter mannigfachen Unfällen un4 Leiden einundzwan-
zig Jahre lang die Pflichten seines akademischen Amtes erfüllt, wie er
nicht nur als Docent, sondern auch als Schriftsteller, als Rathgeber der
Fürsten, als Orakel der Theologen einer unermeszlichen aufreibenden
Thätigkeit sich unterzieht. Auch die Bedeutung seiner Schriften für die
einzelnen theologischen Disciplinen möchte ich einigermaszen schildern
und Euch, lieben Zöglinge, ein Bild seines Entwicklungsganges und sei-
nes inneren Lebens entwerfen. Aber so angemessen es auch dem Zwecke
der heutigen Feier wäre, wenn ich einen groszen Gelehrten und einen
Lebenszeugen unserer Kirche, den wir zu den geistigen Begründern un-
serer Anstalt zählen dürfen , zum Mittelpunkt meines Vortrags machen
würde , so nötigt mich doch ein inneres Bedürfnis und , wenn ich nicht
irre, auch meine Lehrerpflicht, von den Erinnerungen, die der heutige
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280 Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums.
Festtag in mir erweckt, Ihre Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand hin-
zulenken , der seit längerer Zeit für mich besonders wichtig und zugleich
für unsere Gymnasien von hoher Bedeutung ist. Als Lehrer der Ge-
schichte in der Prima unseres Gymnasiums fühle ich mich gedrungen,
bei der ersten Gelegenheit, die sich mir darbietet, mich über die Grund-
sätze auszusprechen , naeh welchen ich diesen Unterricht zu erteilen be-
müht bin, diesen Unterricht, der an sich so schwierig ist und überdies
fast mehr als jeder andere einer festen allgemein anerkannten Methode
entbehrt, an den gerade unsere Zeit mit Recht hohe Anforderungen stellt,
und der doch nach dem Zeugnis vieler erfahrener Schulmänner Sehr oft
nicht die erwünschten Resultate liefert.
Wollte ich die Aufgabe, die ich mir stelle, mit der Gründlichkeit
lösen, die dem wissenschaftlichen Sinn ein Bedürfnis ist, so müsteich
zunächst Ihnen zu Ihrer Orientierung einen Ueberblick der neueren Ver-
handlungen über den Geschichtsunterricht auf Gymnasien geben ; ich müste
dann die Aufgabe der früheren Glassen in Beziehung auf diesen Lehr-
gegenstand zu bestimmen suchen, um Ihnen das Fundament zu zeigen,
auf welchem in der Prima weiter zu bauen ist, und ich müste auch über
einige Vorfragen mich mit Ihnen verständigen,' um. alle die Voraussetzungen
zu gewinnen , auf denen meine Darstellung ruhen wird. Doch ich sehe
mich genötigt auf diese grundlegenden Mitteilungen zu verzichten und
mich gleich zu der ersten concreten Frage zu wenden, die notwendig be-
rührt werden musz, zu der Frage: welcher Teil der Geschichte
in der Prima behandelt werden soll? Ich kann auch' diese nicht
so eingehend und gründlich beantworten , als die Differenz zwischen un-
serer Praxis und den Ansichten angesehener Schulmänner der Gegenwart
es eigentlich nötig macht. Denn während der Lehrplan unseres Gymna-
siums nach der ziemlich allgemein recipierten Gliederung des Geschichte* i
Unterrichts auf Gymnasien , die wir einer Denkschrift des westphälischen
Schulcollegiums verdanken , auf der dritten Stufe desselben eine univer-
salhistorische Behandlung und zwar in dem zweijährigen Cursus der
Secunda eine ausführliche Darstellung der alten , in der frrima der mittle-
ren und neueren Geschichte verlangt, haben sehr gewichtige Stimmen in
der neueren Zeit sich dahin ausgesprochen, dasz die Universalgeschichte
gar nicht in das Gymnasium gehöre und dasz eine gründliche Behandlung
der alten 'Geschichte in der Prima den Schlusz und die Vollendung unse-
rer historischen Unterweisung bilden müsse. Mit welcher Entschiedenheit
diese Ansichten geltend gemacht werden, zeigen z. B. die Worte, mit
denen ein sehr tüchtiger Vertreter derselben, der Director Campe, eine
treffliche Schrift über 'Geschichte und Unterricht in der Geschichte'
schlieszt, die Worte 'Man wird sich noch lange (gegen jene Forderungen)
sträuben, aber die Sache selbst wird sich Bahn brechen/ Und eine ähn-
liche Siegeszuversicht athmen die Worte eines Becensenten *) : 'dasz die
alte Geschichte nach Prima verlegt werde, scheint in der That von so vie-
len und entscheidenden Gründen gefordert zu werden , dasz der Wider-
*) Jahrb. für Philol. u. Pädagog. 1860, V S. 226.
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Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums. 281
sprach dagegen in Theorie und Praxis hoffentlich bald aufhören wird/
Ich kann diese Hoffnung nicht teilen. Ich glaube, dasz allerdings eine
Behandlung der alten Geschichte in der Prima, durch welche die Resultate
der vieljährigen Beschäftigung mit den Alten in ein Gesamtrcsultat zu-
sammengefaszt werden, für das wirkliche Verständnis der alten Welt und
die geschichtliche Bildung der Jugend sehr vorteilhaft sein würde. Aber
die unbestreitbare Verpflichtung der Gymnasien , ihre Zöglinge auch mit
einer Kenntnis der mittleren und neueren Geschichte zu entlassen , die
ihrer sonstigen geistigen Bildung entspricht, und zugleich die Thatsache,
dasz es bei der gröszeren Ausbreitung und Vielseitigkeit und dem tieferen
inneren Gehalt des geschichtlichen Lebens im Mittelalter und in der neue-
ren Zeit nicht möglich ist, durch eine Behandlung dieser Perioden in einer
früheren Glasse dies Ziel wirklich zu erreichen , sowie einige andere Mo-
mente, nötigen uns nach meinem Dafürhalten, auf jene an sich wünschens-
werthe Ueberweisung der alten Geschichte an die Prima zu verzichten
und uns damit zu begnügen, dasz die Kenntnis derselben, die unsere
Schaler in diese Glasse mitbringen, hier durch die Leetüre des Thucydi- ,
des und Demosthenes, der ciceronianischen Briefe und des Tacitus erweitert
und vertieft , dasz sie ferner durch einen Ueberblick über die Leistungen
der Alten auf dem Gebiete der Litteratur am Ende des Schuljahres er-
gänzt und belebt und durch zweckmäszige Repetitionen in den Geschichts-
slanden befestigt wird.
Entschiedener noch bin ich gegen den zweiten Vorschlag, durch
welchen ein wirklicher Organismus unseres geschichtlichen Unterrichts
geschaffen werden soll, gegen die Forderung, dasz der Geschichtslehrer
der Prima ebensowenig, wie nach unserem Lehrplan der der Tertia, über
die vaterländische Geschichte hinausgehen, dasz also unsere Zöglinge z. B.
kein geschichtliches Bild von Alfred dem Groszen und Wilhelm dem Er-
oberer, von der ruhmreichen Familie derMediceer und dem kühnen Pro-
pheten von Florenz , oder dem Papst Sixtus V., von Philipp IL und der
Königin Elisabeth , von dem gewaltigen Protector Englands und des Pro-
testantismus und von dem edlen groszen Patrioten und Staatsmann Nord-
amerikas erhalten, dasz sie nichts von einer magna Charta, einer pariser
Bluthochzeit und einer unüberwindlichen Armada erfahren sollen. Im
Interesse einer nationalen Erziehung unserer Jugend liegt eine solche
scheinbar patriotische Beschränkung auf die deutsche Geschichte sicher-
lich nicht. Denn die Weltstellung, die unser Volk als das Central volk
Europas seit länger als einem Jahrtausend einnimmt, hat zur Folge, dasz
ein Verständnis seiner Geschichte eine, nicht unbedeutende Kenntnis der
fremdländischen zur Voraussetzung hat. Wird nicht unsere Geschichte als
ein Glied in ein gröszeres Ganze, in die Geschichte des europäischen Völ-
Wlebens, eingereiht, so kann man sich nur sehr ungenügend die Ge-
fahren erklären, die im Laufe der Jahrhunderte unserem Vaterlande von
Osten und Westen, von Norden und Süden drohten, kann man den mäch-
tigen Einflusz des Auslands auf unsere Nation und wieder die grosze welt-
lüstorische Mission des deutschen Volkes nicht hinlänglich verstehen und
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 5 u. 6. 19
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282 Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums.
würdigen. Und wie viele Erscheinungen und Ereignisse der fremdländk
sehen Geschichte giebt es,, die zwar nicht direct auf unsere heimischen
Zustände eingewirkt haben, deren Kenntnis aber bewirkt, dasz man die
Eigentümlichkeit unserer nationalen Entwicklung oder die Tendenzen
eines Jahrhunderts , den Geist irgend einer Zeit und somit auch die deut-
sche Geschichte besser und richtiger erkennt ! Ich übergehe noch andere
Momente, um zu fragen, ob nicht etwa doch gewichtige pädagogische
Gründe die Ausschlieszung der Universalgeschichte von unseren Gymnasien
rechtfertigen und fordern. Denn pädagogische Gründe sind wol die eigent-
liche tiefere Veranlassung der Antipathie, die der an pädagogischer Er-
fahrung und Einsicht reiche Verfasser jener Schrift gegen die Universal-
geschichte hegt, nicht die wissenschaftliche Untersuchung, die zum
Resultate hat, dasz eine Weltgeschichte gar nicht möglich sei, weil es
zwar bestimmte Völkerindividuen, aber keinen innerlich gegliederten
Organismus der Menschheit gebe. Und in der That, welchen Pädagogen
mitte nicht schon manchmal ein gewisses Grauen angewandelt vor jener
Weltgeschichte, die in reichem Schmuck von Namen und Jahreszahlen in
unseren Lehrbüchern und Grundrissen sich breit macht. Jene Universal-
geschichte, die in einer Periode von etwa 200 Jahren zehn bis dreizehn
Staaten nacheinander behandelt, die auszerdem eine ausführliche
Geschichte der Litteratur und aller Künste, ja eine förmliche Gulturge-
schichte als störenden Ballast zwischen die allzuzahlreichen Fragmente
der eigentlichen Geschichtserzählung einfugt, die endlich auch noch in
den einzelnen Abschnitten häufig Thatsachen und Namen von geringem
Interesse nur der lieben Vollständigkeit willen anführt, diese mechanische
Nebeneinanderstellung, diese magazinmäszige Anhäufung geschichtlichen
Materials ist nicht eine Frucht der modernen historischen Wissenschaft
und gesunder pädagogischer Grundsätze; sie ist ein Werk und ein Denk-
mal des scholastischen Pedantismus. Die Universalgeschichte , welche die
Schule sich zu schaffen und zu lehren hat, verdient allerdings nicht ganz
den stolzen Namen. Sie faszt zwar alle selbständigen Glieder der euro-
päischen Völkerfamilie in das Auge; aber die Aufmerksamkeit, die ihnen
geschenkt wird, entspricht ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung. Sie
bleiben unbeachtet , so lange sie nicht in den Gang der geschichtlichen
Bewegung in erheblicher Weise eingreifen. Sobald sie an den gemein-
samen Interessen und Bestrebungen des Abendlandes handelnd oder leidend
Teil nehmen, wird auch eine kurze Uebersicht ihrer früheren Entwicklung
gegeben. In dem Vordergrund der Darstellung steht immer das Volk, das
ah der Spitze der europäischen Entwicklung steht, dessen Thaten und
Zustände den gröszten Einflusz- auf andere Völker haben, und in seine
Geschichte wird die der übrigen episodenartig an passenden Stellen ein-
gefügt, in der Regel da, wo sie mit dem Hauptvolke in eine weHhisto-
rische Berührung kommen, manchmal aber auch in einer Zeit, wo ihre
Zustände durch ihren Contrast oder ihre Analogie Anlasz zu einer inter-
essanten Vergleichung bieten. Die Frage, welchem Volke in jeder Pe-
riode der Vorrang der geschichtlichen Betrachtung einzuräumen ist, läszt
sich leicht entscheiden. Während des Mittelalters, ja bis zum Ende des
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flede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums. 283
Refermationszeitalters ist unstreitig unser deutsches Volk zu dieser Ehre
berechtigt, wenn auch längere Zeit der Herscher auf dem Stuhle Petri
die eigentliche Hegemonie in Europa besitzt. Nach der Regierung Karl's V
ist bis zum dreiszigjährigen Krieg die Geschichte Spaniens diejenige, um
welche sich die der Niederlande und Englands, die von Frankreich und
von Deutschland gruppieren. Nach dem westphälischen Frieden möge
Frankreich den Reigen fahren, bis nach dem Zeitalter Ludwig's XIV noch
vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein herlicher deutscher Held und
König unser Volk wieder in den Vordergrund der weltgeschichtlichen
Erzählung führt. Wird durch die eben geschilderte Gruppierung der ver-
schiedenen Völker nach dem Maszstabe ihrer jeweiligen weltgeschicht-
lichen Stellung schon die Massenhaftigkeit des historischen Materials er-
heblieh gemindert, so ist doch auch im Einzelnen immer zu prüfen, ob
Thatsachen und Personen, die nach pedantischem Schulgebrauch von
einem Lehrbuch in das andere übergehen, so viel objectives geschicht-
liches Interesse besitzen, oder auch so viel subjective Bedeutung für die
Jugend haben können , dasz sie einer Erwähnung in dem weltgeschicht-
lichen Unterricht eines Gymnasiums werth sind. Nach meinem Dafür-
halten dürften gar manche Potentaten, die in unseren Schulbüchern noch
immer ihr kümmerliches Dasein fristen, endlich aus unserer Universal*
geschichte mit ihren Namen verschwinden. Auch an Schlachten werden
wir wahrlich keinen Mangel leiden, wenn alle diejenigen unerwähnt blei-
ben , die auf den Gang und besonders auf die Entscheidung eines Krieges
keinen bedeutenden Einflusz hatten und die ebensowenig durch auszer-
ordentliche Beweise von Talent und Heldenmut die Teilnahme der Jugend
erwecken können. Und geschieht etwa den Künstlern, den Dichtern und
Gelehrten vergangener Jahrhunderte Unrecht, wenn ihrer Bestrebungen
nur im Allgemeinen gedacht, aber ihre genauere Würdigung und die Auf-
zählung ihrer Werke speciellen Disciplinen überlassen wird? Die päda-
gogische Sichtung des traditionellen Materials und jene Beschränkung des
geschichtlichen Gebiets, das wir mit unseren Schülern durchwandern,
verschaffen uns einen doppelten Vorteil. Sie räumen aus der historischen
Darstellung eine Menge gleichgültiger Notizen hinweg, durch welche
schon Mancher auf die sonderbare Meinung gekommen ist, dasz die Ge-
schichte etwas Langweiliges sei, und sie machen es möglich, die wirk-
lich wichtigen und fruchtbaren Partien so zu behandeln, wie es der Auf-
gabe der Geschichte und dem Wesen der Jugend , der reiferen besonders,
entsprechend ist, nemlich mit einer gröszeren, doch immer masz vollen
Ausführlichkeit. Da werden freilich immer viele Windungen und Ver-
schlingungen des geschichtlichen Werdens übergangen, und oft wird eine
Reihe interessanter einzelner Thatsachen nur durch einen zusammenfas-
senden allgemeinen Ausdruck angedeutet. Aber im Ganzen kann doch die
Erzählung eine richtige, deutliche Vorstellung von wichtigen Thaten und
Begebenheiten, von ihrem Gausalzusammenhang und ihrem inneren Ver-
laufe erwecken. Sie kann bei groszen weltgeschichtlichen Situationen
einen Augenblick verweilen , kann einzelne Züge bieten , die auf die Bil-
dungsstufe eines Zeitalters , auf die Bestrebungen eines Jahrhunderts ein
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284 Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums.
helles Licht fallen lassen. Sie kann vor Allem den Lieblingen der Jugend,
groszen Persönlichkeiten, auf die sie mit Staunen, vielleicht mit Bewunde-
rung und Begeisterung blickt, das ihnen gebührende Recht zu Teil werden
lassen. Denn haben auch für den Historiker die Ereignisse mehr Bedeu-
tung, als die Personen, fesseln seinen Blick besonders die objectiven
Mächte, als deren Vertreter hervorragende Menschen handeln und dulden,
so ist es doch bei der Jugend zunächst die Teilnahme für auszerordenl-
liche Persönlichkeiten, die ihr Herz für die Geschichte gewinnt und
bei Vielen auch vorhersehend das Interesse an ihr lebendig erhält. Doch
unwillkürlich bin ich von der Besprechung der Frage, welcher Teil der
Geschichte in der ersten Ciasse eines Gymnasiums zu behandeln sei, zu
einer Schilderung dieser Behandlung selbst übergegangen. Gestatten Sie
mir, ehe ich darin fortfahre, noch eine kurze Betrachtung, die uns bei
unserem weiteren Gange leiten soll. Gar Mancher meint wol, da§z die
Aufgabe des geschichtlichen Unterrichts auf dem Gymnasium nur sei , ein
gewisses Quantum historischen Wissens der Jugend beizubringen, alles
Weitere müsse man der Universität und besonders dem reiferen Mannes-
alter überlassen. Ich verkenne nicht die Wahrheit, die in der Behauptung
liegt, dasz das eigentliche historische Studium Männer verlangt; aber wir
wollen doch nicht übersehen, datez dieses Studium auch Männer bildet,
dasz es nicht rathsam ist, dem akademischen Trieunium und dem späteren
Leben zu viel zu überlassen, und dasz die Schule jedenfalls zu leisten hat,
was ihres Amtes ist. Das Gymnasium hat aber durch allen seinen Unter-
richt auf die Wissenschaft vorzubereiten, und die specielle Erziehung für
das wissenschaftliche Studium musz' zugleich mit einer bildenden und er-
ziehenden Einwirkung auf das ganze innere Leben der Jugend verbunden
sein. Daraus ergibt sich die Aufgabe des geschichtlichen Unterrichts. Er
soll allerdings *ien Schülern zunächst zum sicheren Besitz werth-
voller historischer Kenntnisse verhelfen; aber er soll in ihnen
auch ein lebendiges Interesse an dem geschichtlichen Le-
ben der Vorzeit erwecken, er soll ihnen Anleitung zur rech-
ten Beschäftigung mit der Geschichte geben, damit ihre späte-
ren Studien für sie wirklich fruchtbar werden, und er soll endlich das
gemeinsame Ziel alles Unterrichts, die geistige und die sitttlich-
religiöse Bildung der Jugend nie aus den Augen verlieren.
Welch wichtigen Einflusz musz aber diese vierfache Verpflichtung auf die
Darstellung des Lehrers üben! In Beziehung auf die historischen Kennt-
nisse, die er den Schülern verschaffen soll, verlange ich hauptsächlich,
dasz sie wirklich das Prädicat ^historisch* verdienen, dasz also seine Mit-
teilungen in Bezug auf einzelne Thatsachen, wie in der ganzen Auffassung
geschichtlicher Ereignisse und Personen möglichst treu d. h. in Ueberein-
stimmung mit den Resultaten der historischen Wissenschaft sind. Daraus
folgt natürlich, dasz er sein Wissen aus den allerdings sehr umfangrei-
chen Werken unserer groszen Historiker schöpfen musz , die auf Grund
sorgfaltiger Quellenforschung uns ein kritisch gereinigtes Bild der Ver-
gangenheit bieten, aber nicht aus populären Geschichtswerken, aus Lehr-
büchern für Gymnasien und höhere Bürger - und Töchterschulen. Denn
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Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums. 285
wie unzuverlässig die meisten dieser populären Bücher sind, weisz Jeder,
der bei den groszen Meistern der Wissenschaft in die Schule geht. Ich
will von vielen Beispielen nur eines anführen , das allerdings für mich das
frappanteste -ist. Ist nicht die bekannte Darstellung des ersten Kreuzzugs,
nach welcher der Mönch Peter von Amiens als gottgesandter Apostel der
eigentliche Urheber, Gottfried von Bouillon, der golterwählte Held, der
Allen überlegene ruhmgekrönte Agamemnon dieses Zugs und der Nor-
manne Tancred ein Ideal aller ritterlichen und menschlichen Tugenden
ist, ist sie nicht noch heut zu Tage in unseren Schulbüchern die übliche?
Aber schon vor zwanzig Jahren hat Sybel in einer meisterhaften Schrift
auf Grund der echten zuverlässigen Quellen ein wesentlich anderes, wirk-
lich geschichtliches Bild des ganzen Kreuzzuges und seiner Hauptpersön-
lich&eiten geliefert, und in der Wissenschaft gelten seine Resultate ohne
Widerspruch. Sollen nun die Schulen, die auf die Wissenschaft vorbe-
reiten, an der antiquierten populären Tradition festhalten? Man sage
nicht, dasz ja nicht so viel darauf ankomme, wenn die Schulhistorie auch
nicht immer mit der Wissenschaft im vollen Einklang stehe. 'Nein, es
gilt den geschichtlichen Wahrheitssinn in der studierenden Jugend zu er-
wecken und zu pflegen , sie zu gewöhnen, dasz sie auch bei ihrer späte-
ren Beschäftigung mit geschichtlichen Dingen vor Allem nach Wahrheit,
nach rechter Treue in der Auffassung des Geschehenen , des Wirklichen
strebt. Daher finde ich es auclj rathsam, dasz populäre Entstellungen
der geschichtlichen Wahrheit ausdrücklich immer als solche bezeichnet
werden.
Ueber das Verfahren, das anzuwenden ist, um der reiferen Jugend
Interesse an der Geschichte einzuflöszen , habe ich vorhin schon Andeu-
tungen gegeben; ich füge jetzt noch einige Ergänzungen hinzu. Die
Hauptbedingung, die der Lehrer zu erfüllen hat, um den geschichtlichen
Indifferentismus aus. jugendlichen Seelen zu bannen, ist jedenfalls die,
dasz er selbst ein lebendiges sittliches Und wissenschaftliches Interesse
für den Gegenstand seiner Vorträge besitzen musz. Nur wer selbst den
fesselnden Reiz des geschichtlichen Studiums empfunden hat, kann Andere
dafür gewinnen. Nur wer das Grosze bewundern und das Schlechte has-
sen, die Gefühle, die ein Menschenherz oder ganze Nationen in längstent-
schwundener Zeit bewegten, jetzt noch nachempfinden kann, wer ergrif-
fen von den Ideen, die im Leben der Völker walten, mit innerer Spannung
und Bewegung dem groszen Drama der Weltgeschichte folgt, nur der ge-
winnt es über sich, unter Leitung wissenschaftlicher Forscher in geschicht-
liche Situationen, in bedeutende Persönlichkeiten, in einzelne Ereignisse
und in eine Reihe von Thaten sich so hineinzudenken , dasz er selbst ein
Bild davon gewinnt und Anderen eine lebensvolle Anschauung zu geben
vermag. Und Anschauungen , welche die Phantasie der Jugend beschäf-
tigen, regen zugleich ihr Gemüt und somit ihr Interesse an , zumal wenn
innere Teilnahme das erzählende Wort beseelt Freilich soll diese lebens-
volle Anschaulichkeit der Erzählung nicht etwa eine gleichmäszige und
ununterbrochene sein ; oft hat mit ihr die kürzere Form der klaren über-
sichtlichen Darstellung der allerwichtigsteu Facta zu wechseln. Und dann
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286 Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums.
meine man nicht etwa , dasz auf der Stufe , von der wir reden , Alles er-
reicht sei, wenn man in lebendiger Schilderung Charaktere und Zustände,
die Thaten und groszen Conflicte der Vorzeit vergegenwärtigt. In streb-
samen Zöglingen der Prima verlangt auch schon der denkende Geist Be-
friedigung und diese musz ihm zu Teil werden. Denn zur Wissenschaft
erzieht man ja besonders dadurch, dasz man zum Denken anregt und
darin übt. Und fürwahr reicher Stoff zum Denken wird in den histori-
schen Stunden den Schülern geboten, wenn der Lehrer, eingedenk der
Zwecke, die das Gymnasium verfolgt, sie auch zu geschichtlichem Ver-
ständnis und geschichtlicher Erkenntnis zu führen sucht. Denn dasz
er hiernach streben soll, ergibt sich aus seiner Pflicht, der Jugend An-
leitung zur rechten Beschäftigung mit der Geschichte zu geben. Nur der
hat ja wirklichen Nutzen von historischen Studien, der nicht bloss ge-
schichtliche Facta weisz, sondern sie auch versteht, also diesubjecti-
ven und objectiven Kräfte, deren Resultate sie sind, ihre oft so weitgrei-
fenden Wirkungen und ihre innere Bedeutung kennt. Und nicht der wird
innerlich bereichert durch das Wissen von weltgeschichtlichen Männern,
der blos Urteile über sie inne hat, denen die Prämissen fehlen, sondern
vielmehr nur derjenige, der darnach strebt, ihre Begabung und ihren
Charakter, ihren Zusammenhang mit ihrer Zeit und den individuellen Ty-
pus ihres Wesens, die Richtung ihres Strebens, die Motive ihres Handelns,
die Resultate ihres Lebens zu erkennen. Beides aber, Thaten und Perso-
nen treten erst in das rechte Licht, wenn man über das Einzelne und Be-
sondere sich erhebend das Ganze in das Auge faszt, dem sie angehören,
wenn man in dem ewigen Wechsel des Geschehens die bald auf- bald äb-
wärtssteigende Bewegung einer weltgeschichtlichen Entwicklung unper-
sönlicher, zum Teil nur idealer, Mächte erkennt. Schon diese flüchtigen
Andeutungen zeigen, wie schwierig es ist, einen wichtigen Abschnitt der
Geschichte zu verstehen , und kaum brauche ich ausdrücklich zu sagen,
dasz ich weit davon entfernt bin, in dieser Beziehung dem Unterricht auf
einem Gymnasium ein zu hohes Ziel zu stecken. Man möge bei dem
Streben , die Schüler zu einem gründlichen Verständnis der Hauptpartien
der mittleren und neueren Geschichte zu führen , soweit gehen , als die
Zeit, über die man zu verfügen hat; die Begabung und der Eifer der
Classe und die Kenntnisse, die man voraussetzen darf, es gerade zulassen.
Aber die Tendenz musz der Unterricht verfolgen, den jugendlichen Geist
zu einem Verständnis historischer Facta zu erheben und an ein Streben
nach demselben zu gewöhnen. Und er kann ja wol auch ohne besonde-
ren Aufwand an Zeit schon Manches erreichen , wenn z. B. der Stoff im-
mer so geordnet wird , dasz die Schüler ein Bild der Weltlage oder einer
nationalen Situation vor dem Eintreten wichtiger Ereignisse gewinnen,
wenn bei der Auswahl der specielleren Mitteilungen , der biographischen
Züge das objeetive Interesse immer das überwiegende ist, wenn neben
den Hauptbegebenheiten einer jeden Epoche auch klar und bestimmt die
Gegenstände und die gemeinsamen Bestrebungen hervorgehoben werden,
die in ihnen zu Tage treten usw. Auch anregende Fragen, welche die
geschichtliche Erzählung unterbrechen und beleben, können bisweilen
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Rede üb. den Vortrag d. Geschichte in der Prima eines Gymnasiums. 287
gute Dienste thun, und statt längerer Reflexionen gentigen einige Bemer-
kungen, um die Eigentümlichkeit einer historischen Erscheinung, die
Wichtigkeit weltgeschichtlicher Momente, die Resultate vieljahriger Con-
flicte wenigstens anzudeuten. Ganz aber ist aus dem Gymnasium das
Streben nach jenem tieferen Verständnis zu verbannen , das der Philoso*
phie und der Theologie der Geschichte, freilich in noch unerreichter
Ferne, vorschwebt. Der Schule frommt nur eine praktische populäre
Geschichtsphilosophie. Jene ewigen sittlichen Gesetze des Völkerlebens
sollen Jünglinge ebenso gut, wie~Zahlen und Thatsachen, durch den ge-
schichtlichen Unterricht kennen lernen; geschichtliche Erfahrungssätze
sollen sie sich teils abstrahieren teils in dem Vortrag des Lehrers ausge-
sprochen finden, Wahrheiten, deren Summe man als geschichtliche Le-
bensweisheit bezeichnen kann. Denn wahrlich der hat noch nicht genug
Geschichte gelernt, der nicht aus ihr Wahrheiten gelernt hat, die heute
noch, wie vor Jahrhunderten und Jahrtausenden, unverbrüchliche Geltung
haben, die uns für unser eignes Handeln, wie für die Betrachtung des ge-
schichtlichen Lebens in der Gegenwart als leitende Grundsätze dienen
können.
Nach Allem, was ich bis jetzt vorgetragen habe, können Sie wol er-
warten, dasz ich bei der Alternative, die in der früher erwähnten Schrift
zur Entscheidung vorgelegt wird: €ob historisches Wissen oder histo-
rische Bildung?9 mich mit ihrem Verfasser für die auf positiven Kennt-
nissen ruhende historische Bildung entscheide, die von ihm treffend als
Bildung durch die Geschichte für die Geschichte bezeichnet wird. Ich ver-
binde aber mit dieser Bildung für die Geschichte weniger hohe Vorstel-
lungen, als der so eifrige Kämpfer für eine bessere Gestaltung unseres
geschichtlichen Unterrichts. Denn während Campe die Schüler auf den
Wegen der historischen Hermeneutik und der historischen Kritik dahin
bringen will, dasz sie befähigt und geneigt sind, die Thätigkeit eines
geschichtlichen Forschers zu üben, habe ich nur das Ziel im Auge, dasz
alle unsere Schüler rechte Freunde und Kenner der Geschichte werden.
Ich weiche auch noch in einem andern Punkte von ihm ab , dem letzten,
über den ich mich auszusprechen habe. Er meint , dasz die Einwirkung
auf die sittliche Bildung der Jugend bei dem geschichtlichen Unterricht
nicht das Ziel eines bewusten Strebens sein könne ; sittliche Bildung sei
zwar die schöne Frucht, aber nicht die Aufgabe dieses Unterrichts. Und
allerdings kann man nicht leugnen , dasz die Hauptquelle der sittlich und
religiös bildenden Kraft, welche der Unterricht in der Geschichte zu ent-
wickeln vermag , in dem Objecte , das gelehrt wird , in der reichen Fülle
des geschichtlichen Lebens liegt, nicht in den Zuthaten, die der Lehrer
beifügt. Allerdings bin ich überzeugt, dasz meiner Schilderung der histo-
rischen Vorträge für die reifere Jugend ein wesentliches Moment fehlen
würde , . wenn ich nicht auch die Frage beantworten wollte : wie soll im
Kreise von Jünglingen , in denen gerade ihr inneres sittliches Leben , ihr
Charakter sich gestalten will, und bei einer Wissenschaft, die mit der
sittlich-religiösen Natur der Menschen in so inniger Beziehung steht, und
deren Behandlung sogar verderblich wirken kann, wenn sie von verwerf-
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288 Rede üb. den Vortrag der Geschichte in der Prima eines Gymnasiums.
liehen Tendenzen beherscht wird, wie soll hier der Lehrer seine Pflicht
als Erzieher erfüllen? Die kürzeste Antwort, die ich auf diese Frage geben
kann, ist: er soll mit dem Sinne für das Wirkliche, der die Voraus-
setzung und die Frucht des geschichtlichen Studiums ist, einen gesunden
idealen Sinn vereinigen; aber nie darf er den Nebenzweck zur Haupt-
sache machen wollen. Also nicht eine geschichtliche Darstellung mit vor-
wiegend religiöser Tendenz , mit dem Streben erbaulich zu wirken , da,
wo es sich zunächst um Verständnis handelt. Nicht ein engherziges Mei-
stern groszer Männer nach dem einseitigen Maszstab der persönlichen
Moral, ohne volle Erkenntnis der realen Verhältnisse, ohne die Bescheiden-
heit, die überhaupt beim sittlichen Urteile ziemt! Auch nicht ein Hin-
arbeiten auf Erregung eines patriotischen Enthusiasmus , auf Kosten der
geschichtlichen Wahrheit und zum Nachteil einer gründlichen Erkenntnis !
Fern mögen alle schönkHngenden Phrasen und Declamationen, aller kirch-
liche und politische Parteigeist der Schule bleiben! Aber durchdrungen
von christlicher Weltanschauung und Gesinnung wird derjenige, der zum
wirklichen Segen der Jugend Geschichte lehrt, den hohen Werth, die
geistige Macht des christlich -religiösen Lebens auch in unvollkommener
. Erscheinung jederzeit anerkennen ; er wird bei der Erzählung von den
Thaten und Schicksalen der Menschen immer das providentielle Walten
Gottes voraussetzen und er wird zu rechter Zeit auch andeuten, wie die-
ses göttliche Walten nicht nur durch einzelne Fügungen, sondern auch
als eine ewige unwandelbare sittliche Weltordnung sich offenbart. Der
sittliche Geist, der den Unterricht beseelen musz, wird sich auch ohne
Reflexionen äuszern in der freudigen Anerkennung edler hochherziger
Thaten, groszer sittlicher Charaktere, wie in der entschiedenen Verwer-
fung alles dessen , was die Menschenwürde entehrt. Er wird sich zeigen
auch in der Werthschätzung aller der christlichen Güter, ohne deren
Besitz ein Volk nur noch ein klägliches Dasein fristet. Und kann nicht
auch der patriotische Sinn eines Lehrers der Geschichte ohne Beeinträch-
tigung der historischen Erkenntnis für die Belebung jener Liebe zu unse-
rem Volke und unserem Vaterlande wirken, die wol in eines jeden deut-
schen Jünglings Brust in unserer Zeit sich regt? Ja er kann und soll
mit innerer Wärme und Freudigkeit von der einstigen Herlichkeit des
deutschen Volkes und seiner Erhebung aus der tiefsten Schmach in un-
serem Jahrhundert, von seinen Groszthaten auf dem Felde der Ehren und
auf dem Gebiete des Geistes und der Gultur erzählen. Er soll, auch wenn
er von den traurigsten Zeiten unserer Geschichte spricht, doch wieder die
' unverwüstliche Lebenskraft unseres Volkes zeigen und dadurch jenes Ver-
trauen zu der Zukunft unseres Vaterlandes erwecken, ohne welches rechte
Liebe zu ihm nicht möglich ist. Er soll endlich, um nur Eines noch' her-
vorzuheben, auch bei der Geschichte anderer Nationen wie bei der eige-
nen , den Männern immer seine Sympathien zuwenden, die ihr Leben dem
Wohle des Volkes geweiht , die das vaterländische und nationale Gefühl
ihres Volkes befriedigt haben.
Ich habe Ihnen nunmehr das Bild geschichtlicher Vorträge in der
Prima des Gymnasiums geschildert, das mir vor der Seele steht. Und
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Hede ob. den Vortrag der Geschichte in der Prima eines Gymnasiums. 289
nun , da dies geschehen , kann ich mich nicht des Gedankens erwehren,
wie schwer es doch eigentlich ist, ein Lehrer der studierenden Jugend zu
sein. Ist es doch schon eine überaus schwierige Aufgabe, die von mir auf*
gestellte Theorie einigermaszen zu verwirklichen. Aber wie niederschla-
gend ist erst die Thatsache, dasz selbst, wenn dies Einem gelingen sollte,
doch möglicher Weise die Resultate des geschichtlichen Unterrichts noch
ungenügend sein können. Ich erinnere Sie daran, dasz die Geschichte
eine Disciplin ist , bei der so viel als bei irgend einer andern geübt und
repetiert werden musz, damit eine nachhaltige Wirkung, ein wirklich be-
friedigender Erfolg erzielt werde. Und in der Prima, der Classe, die den
geschichtlichen Unterricht des Gymnasiums abschlieszt, sind ganz beson-
ders vielseitige repetitorische Hebungen nötig, wenn ihre Zöglinge die
früher erworbene Kenntnis der alten Geschichte nicht verlieren, sondern
eher bereichern und zugleich das in dem zweijährigen Gursus behandelte
historische Material sich völlig aneignen und wirklich beherschen sollen.
An solche Uebungen freilich, die, wenn sie recht betrieben werden, auch
anziehend und geistesbildend sind, können nur diejenigen Gymnasien den-
ken, die für den geschichtlichen Unterricht in der Prima drei Stunden ver-
wenden. Doch ich verlasse einen Gegenstand, der wol Stoff genug für
einen besonderen Vortrag bietet. Leider musz ich mir es auch versagen,
Euch, liebe Primaner, noch zu zeigen , wie Ihr durch Leetüre und Privat-
studium und gemeinsames jugendliches Streben dazu beitragen könnt,
dasz Ihr einen werthvolien Besitz, dessen vollen Segen Ihr erst als Män-
ner erkennen werdet, den Besitz einer tüchtigen geschichtlichen Bildung
Euch erwerbet. Aber Eines kann ich in dieser festlichen Stunde in Ge-
genwart so vieler Gönner und Freunde unserer Anstalt nicht unterlassen.
Es drängt mich mit der Anerkennung des Eifers, den Ihr an den Tag legt,
ein Wort der Ermunterung zu verbinden, ein Wort, das ich zwar vor
Euch ausspreche, das aber eigentlich einer der Meister unserer geschicht-
lichen Litteratur an Euch richtet. 'Die Wissenschaft der Geschichte' sagt
der Historiker Giesebrecht*) 'möchten wir unserer Jugend an das Herz
legen und das Studium derselben nicht als eine Arbeit des Zwanges, son-
dern als den Gegenstand freier liebevoller Thätigkeit von ihr getrieben
wissen Denn es ruht ein groszer innerer Segen auf demsel-
ben; es macht die Seele weit, das Herz fest und lehrt das Grosze von
dem Kleinen, das Bleibende von dem Vergänglichen scheiden.'
*) Vorrede zur Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Bd. I. S. XVI.
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290 Ueber tteu Gymnasialzeichnenunterricht.
Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht
und den darauf Bezug habenden Lehrplan vom 2. Oetober 1863.
Den Zeichnenunterricht auf Gymnasien und Realschulen betreffend
ist am 2. Oetober v. J. eine Verordnung des Herrn Ministers der geist-
lichen , Unterrichts - und Mediciual * Angelegenheiten erschienen , welche
den Lehr plan nebst erläuternden Bemerkungen för den Unterricht
selbst und eine Instruction für die Prüfung der Zeichnenleh-
rer enthält. Es ist selbstverständlich, dasz die beteiligten Lehrer sich
bemühen werden, den neuerdings an sie gestellten Forderungen nach
Kräften gerecht zu werden, selbst da, wo die dem Zeichenunterrichte
günstigeren Vorbedingungen , welche man bei der Aufstellung des Lehr-
planes offenbar im Auge hatte, nicht vorhanden sind. Inwiefern dies aber
für einen Teil der erstgenannten Anstalten , der Gymnasien , erschwert ist
und worin hier die Abhülfe zu suchen sei, möge dem Unterzeichneten
gestattet sein, in nachstehenden Erörterungen darzulegen , die zum Teil
freilich nur persönliche Ansichten wiedergeben , zum andern Teile aber
sich auf mehrjährige, auf den Gebieten der Kunst und des Gymnasial-
unterrichts mit aller Scheu vor einseitiger Auffassung gesammelte Er-
fahrungen stützen.
Dasz man bei der groszen Mühe, die dem Gymnasium überwiesenen
Lehrgegenstände in den Stundenrahmen einer Woche einzuzwängen, trotz
der mancherlei Unzuträglichkeiten, welche den Gymnasien in früherer Zeit
in diseiplinaracher Hinsicht aus dem Zeichnenunterrichte erwachsen, die-
sem Lehrgegenstande noch immer seine Stelle gelassen, bat den einen
Grund, dasz man in ihm ein nicht zu vernachlässigendes pädagogisches
Bildungsmittel erkennt, dasz man seine Resultate als notwendiges Erfor-
dernis derallgemeinenBildung ansieht. Das durch den neuen Lehr-
plan abgeänderte Reglement vom 14. März 1831 sagt in dieser Beziehung
unter 1):
eDer Unterricht im Zeichnen gehört zu den allgemeinen Bildungs-
mitteln und darf daher in keiner Schulanstalt ganz vernachlässigt
werden. Er hat den Zweck , das Auge des Knaben und Jünglings zu
üben , die Dinge um ihn her in dem Charakteristischen ihrer Form be-
stimmt und richtig aufzufassen , die Fertigkeit für die Darstellung der-
selben zu gewähren, und zugleich den Sinn für die Schönheit
der Formen zu beleben und auszubilden. Es ist demnach das
reine Naturzeichnen der Vorwurf des Zeichnenunterrichts in den Gym-
nasien und anderen ähnlichen Schulanstalten. Was darüber hinausgeht,
die Anleitung und Ausbildung des künftigen Künstlers,
liegt nicht in seinem Bereich, sondern bleibt den für diesen
Zweck besonders organisierten Anstalten, den eigentlichen Kunstschu-
len, vorbehalten.'
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lieber den Gymnasialzeichnenunterricht. 291
Das Rescript des Ministers d. G., U. u. M.-Ang. vom 24. Oct. 1837
sagt in derselben Beziehung unter 2) :
'Die Lehrgegenstände in den Gymnasien , namentlich die deutsche , la-
teinische Sprache sowie die technischen Fertig-
keiten des Schreibens, Zeichnens undSingens machen die
Grundlage jeder höheren Bildung aus und stehen zu dem
Zwecke der Gymnasien in einem ebenso natürlichen als notwendigen
Zusammenhange Es kann daher von diesen Lehrgegenständen
auch keiner aus dem in sich abgeschlossenen Kreise des Gymnasial-
Unterrichts ohne wesentliche Gefährdung der Jugendbil-
dung entfernt werden '
Der neue Lehrplan vom 2. October 1803 beginnt mit den Worten :
'Der Unterricht im Zeichnen gehört zu den allgemeinen Bildungs-
mitteln für die Jugend und ist ein integrierender Teil des Lehr-
planes aller höheren Schulen.'
Nachdem in den angeführten Äeuszerungen übereinstimmend die all-
gemeine Bildung als letzter Zweck des Unterrichts hingestellt worden, ist "
am Schlüsse der ersteigerten sogleich hinzugefügt ,
'dasz die Anleitung und Ausbildung des künftigen Künstlers nicht in
seinem Bereiche liege';
Art. 13 der 'Bemerkungen' zum neuen Lehrplane sagt in dieser Be-
ziehung :
'Der Unterricht im Zeichnen hat sich innerhalb der Grenzen des der
Schule eigenen Gebietes zu halten. Sie hat nicht die Aufgabe,
Künstler vorzubilden, sondern vielmehr, die Schüler in den ele-
mentaren Voraussetzungen der Kunst zu üben : im Verständnisse der
Formen, Sicherheit des Blickes und Augenmaszes, Festigkeit und Leich-
tigkeit der Hand. Es kommt bei dem, was die Schüler zeichnen, we-
niger darauf an, dasz es sich malerisch ausnehme, als dasz es cor-
rect sei.'
Dennoch sagt Art. 1 des abgeänderten Reglements (s. oben),
fDer Unterricht habe den Zweck zugleich den Sinn
für die Schönheit der Formen zu beleben und auszu-
bilden',
und Art. 2 der 'Bemerkungen' :
rZu den Aufgaben des Zeichnenunterrichts auf höheren Lehranstalten,
insbesondere auf den Gymnasien , gehört auszer der Uebung des Auges
und der Hand die Ausbildung des Schönheitssinnes und des
ästhetischenUrteils. Die Schüler sollen durch planmäszig gelei-
tete Uebungen zugleich die charakteristischen Formen der Dinge auf-
fassen lernen und zu einem verständigen Anschauen der
Natur und der Meisterwerke der bildenden Kunst ge-
führt werden';
ferner Art. 4 ebendaselbst:
e Zum Behuf der Bildung des ästhetischen Sinnes
und im Zusammenhange mit den übrigen Gymnasialstudien sind die
Vorbilder vorzugsweise der antiken Kunst zu entlehnen, und auf
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292 Ueber den Gyinnasialzcichnenunterricht.
den oberen Stufen Gelegenheit zu nehmen , die Schüler nicht nur mit
den antiken Säulenordnungen, sondern auch mit einigen
Hauptwerken der classischen Sculpturund Architectur
bekannt zu machen.'
Indem man also mit vollem Rechte für die Schule einerseits die Auf-
gabe festhält, dasz sie allgemeine Bildungs- und nicht besondere Berufs-
zwecke verfolge, will man doch ausgesprochenermaszen andererseits nicht
die Vorteile unbenutzt lassen, welche für die Entwickelung des Schülers
aus der Anregung des Kunstsinnes hervorgehen müssen, und gibt damit
zunächst zu , dasz es sich beim Zeichnenunterricht in der That um eine
für den Schüler vorteilhafte Entlehnung aus dem Gebiete der Kunst han-
delt; und ferner, dasz dieser Stoff auf die natürlichste Weise durch die
Hand derjenigen darzureichen sei , welche auf diesem Gebiete heimisch
sind, nemlich die Künstler.
Der Verwahrung gegen einen einseitig künstlerischen Charakter des
Unterrichts hätte es kaum bedurft, da gegen derartige Bestrebungen ein
* nur zu wirksames Gegengewicht in den diesen Lehrgegenstand selbst
niederhaltenden Schuleinrichtungen liegt; wenn aber andererseits die oben
zuletzt citierten Anordnungen geradezu die künstlerische Seite des Unter-
richts herausfordern , so ist mit der Erklärung , der Unterricht habe nicht
die Aufgabe, Künstler vorzubilden, hauptsächlich wol der bei Schul-
männern von Beruf häufigen Besorgnis Ausdruck gegeben, dasz der Zeich-
nenunterricht im Allgemeinen die technische Ausbildung der Hand zu sehr
in den Vordergrund stelle. Im eclatantesten Falle würde dieses Bestreben
allenfalls zu einem höheren Grade mechanischer Kunstfertigkeit, doch
keineswegs zur Künstlerschaft führen, und der Vorwurf gegen den unter-
richtenden Lehrer würde nicht dahin zu formulieren sein, dasz er das
Gebiet der elementaren Voraussetzungen der Kunst überschritten und das
der Kunst selbst betreten habe. Indessen sind die Schulmänner von Be-
ruf, wenn sie zumal den in Rede stehenden Lehrgegenstand eben nur zu
den 'technischen Fertigkeiten* gerechnet wissen wollen , daran zu erin-
nern , dasz das Auffassungsvermögen des Schülers , wenn dies überhaupt
nicht zu beschränkt verliehen ist, um so schneller reift, je dienstwilliger
sich die Hand zur bildlichen Wiedergabe darbietet. Die Unvollkommenheit
der bildlichen Wiedergabe des Gesehenen bekundet nicht allein den Man-
gel an technischer Fertigkeit; sie läszt zugleich die Unvollkommenheit der
Wahrnehmung vermuten. Andererseits beruht die erforderliche Xorrect-
heit' der Darstellung nicht auf der Erfüllung gewisser Aeuszerlichkeiten
allein.
Das aus dem alten Reglement, dessen Intentionen zur Zeit durch
das Blühen einer besondern Methode begünstigt zu sein schienen , in den
neuen Lehrplan mit übergegangene Bestreben , den künstlerischen Cha-
rakter des Unterrichts durch eine Beimischung geometrischen Charakters
zu paralysieren , erklärt sich dem Vorhergehenden nach zum groszen Teil
aus jener Besorgnis vor der bei Künstlern vermuteten Neigung zu künst-
lerisch-einseitigen Ansprüchen an die Leistungen ihrer Schüler; es scheint
auszerdem aber auch auf einer gewissen Nachgiebigkeit gegen auszerhalb
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Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht. 293
der Schulkreise erhobene Anforderungen zu beruhen, dasz der Gymnasial-
zeicbnenunterricht auch das geometrische Zeichnen umfassen möge. An
sich sind diese Forderungen, wie ein Blick auf den späteren Studiengang
der Schüler ergiebt, welche sich der Architcclur oder gewissen anderen
das Zeichnen anwendenden Berufen widmen, vollkommen berechtigt; auch
liegt die Verträglichkeit und der gegenseitige Nutzen beider Zweige des
Zeichnens auf der Hand. Wie das geometrische Zeichnen, welches wegen
der dabei erforderlichen mathematischen Vorkenntnisse frühestens in
Quarta beginnen kann, für Sexta und Quinta, gewissermaszen als Surro-
gat zur Ausbildung der Hand und des Auges bis zum Eintritt der nötigen
Verstandesreife, des Vor Unterrichtes im Freihandzeichnen bedarf, so for-
dert dieses bei dem zu einem gewissen Zeitpunkte eintretenden Unterricht
in der Perspective die Dienste des geometrischen Zeichnens. Nur können
beide Unterrichtszweige nicht gedeihen, ja sie beschädigen einer den
andern , wenn sie in demselben Zeitquantum zugleich gepflegt werden
sollen, welches sich als kaum ausreichend für die Förderung nur eines
von ihnen erwiesen hat. Ueberhaupt wäre wol das Bestreben, die ersten
Regungen der zeichnenden Thätigkeit darum sei tab von ihrer natürlichen
Richtung zu leiten, weil in dieser zufällig zugleich die Ausgangspunkte
für den Studiengang des spätem Künstlers von Beruf liegen, der Rücksicht
unterzuordnen , dasz man durch die Bezeichnung gewisser Ziele , wie die
oben angeführten Art. 2 und 4 der 'Bemerkungen9 und die SS 4 und 5 des
Lehrplanes (Freihandzeichnen nach Gypsen bis zu ausgeführten Köpfen
und Teilen des menschlichen Körpers), sie stecken , sich zugleich verbind
lieh gemacht hat, bis dahin die entsprechende Richtung des Unterrichts
— und diese ist doch ohne Zweifel die künstlerische — zu genehmi-
gen. Es ist nur folgerichtig, wenn man es vermeidet, ihr Wendungen
zuzumuten , welche ihr nicht eigentümlich sind.
Ergeben sich aus dem Vorhergehenden Endzweck und Richtung
des Gymnasialzeichnenunterrichls, so bleibt noch der einzuschlagende
Weg, die Methode, zu erwägen übrig.
Wenigstens über die beiden Momente ihrer Aufgabe mit den Päda-
gogen von Beruf einig, dasz der Zeichnen Unterricht bei dem Schüler die
Auffassung des durch den Gesichtssinn Wahrnehmbaren schärfen und läu-
tern und ihm Anleitung geben müsse zu einer allgemeinverständlichen
graphischen Wiedergabe des Aufgefaszten, haben die in diesem Gegen-
stande unterrichtenden Lehrer, neuerdings meistens Künstler, durch die
vielfach verschiedenen, aus den Schuleiurichtungen und namentlich aus
dem Mangel an Zeit zu Uebungen erwachseuden Hindernisse hindurch, im
Ganzen übereinstimmende Wege bis zu den in SS 4 u°d 5 des Lehrplanes
bezeichneten Zielen gefunden. Warum sie von den in dem alten Regle-
ment vorgeschriebenen sofortigen Uebungen nach körperlichen Vorbildern
ablassen musten , inwiefern diese auch in dem neuen Lehrplane vorge-
schriebenen Uebungen und das frühe Einmischen der Perspective in den
Unterricht Bedenkliches an sich haben, ist nur verständlich zu machen,
wenn man ein weiteres Eingehen auf die Technik des Unterrichts gestat-
ten will.
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294 Ueber den Gymnasiaheiehnenuntenjcht.
Um einen bestimmten Anhalt für diese Erörterungen zu gewinnen,
erlaubt sich der Verfasser, seine eigene Meinung über den beim Unter-
richte am zweckmäszigsten zu befolgenden Weg auszusprechen und daran
seine Bemerkungen zu knüpfen.
Bei dem Unterricht unter günstigen Umständen — d. h.
in einer angemessenen Localität Schülern gegenüber , die wenigstens das
13. Jahr zurückgelegt haben und deren Anzahl 25 nicht übersteigt —
empfiehlt es sich sehr, mit dem Zeichnen nach groszen, möglichst ein-
fachen körperliehenVorbildern von vorwiegend geometrisch-regel-
mäszigem Geffige, wie sie sich in den Holzmodellen der Dupuisschen
Methode darbieten, den Anfang zu machen. Das Auge solcher Schüler ist
reif zu objectiver Auffassung des Gesehenen , der Verstand hat den Unter-
schied zwischen der bekannten und der scheinbaren Form schon selbst
entdeckt, das Formengedächtnis ist geübter, um das Gesehene bis zur
Uebertragung auf die Darstellungsfläche zu bewahren, und die Hand.hat
schon gelernt , sich dem seine Richtung von auszen empfangenden Willen
unterzuordnen. Keine Disciplin kann freudiger anregend auf den Lehrer
zurückwirken , als der geistig reiferen Schülern unter Anwendung jener
Methode zu erteilende erste Zeichnenunterricht.
Um die völlige Fügsamkeit der Hand zu vollenden und den Zeichner
mit dem Vorrat von technischen Hülfsmitteln bekannt zu machen ; bedarf
es zu einem gewissen Zeitpunkte allerdings der Zurückführung des Schü-
lers zu technisch lehrreichen, zunächst in schraffierter Manier ausgeführ-
ten Vorzeichnungen, deren Gegenstand das nicht zu detailreiche
Ornament, später die Landschaft ist. Es musz dabei mit groszer Auf-
merksamkeit dem Ausschreiten sowol nach einer oberflächlichen, affec-
tierten , als nach einer technisch peniblen Darstellungsweise durch Aus-
wahl entgegen wirkender Vorbilder gewehrt werden. Das Zeichnen nach
in schraffierter Manier ausgeführten Vorbildern , welche Gesichtsteile und
Köpfe zum Gegenstande haben, und Uebungen mit dem Estomp und zwei
Kreiden haben sich hier anzuschlieszen.
Nach Erlangung einer gewissen Sicherheit in der Handhabung der
DarstellungsmitteJ sind das plastischeOrnament, späterhin Gesichts-
teile und Köpfe, von farblosem Stoffe (Gyps). als geeignete Vorbilder, und
namentlich die Gypsabgüsse von Antiken , zu verwenden. Sie bieten die
günstigste Gelegenheit, den Sinn für die Schönheit der Formen und das
ästhetische Urteil des Schülers zu bilden. Da sich dieser Fähigkeitsstufe
nicht alle Schüler zugleich nähern, bleibt dem Lehrer den Einzelnen gegen-
über die Zeit zu eingehenderen Erörterungen.
Dem Landschaftzeichnen nach der Natur müssen jeden-
falls wenigstens die Studien nach dem plastischen Ornament und einige
Zeichnenübungen nach gemalten Vorbildern vorangehen; denn es kann die
mannichfaltige und verwickelte Form, wie sie der Baum darbietet, erst
dann verständig erfaszt und graphisch verständlich wiedergegeben werden,
wenn man die einfachere Form aussprechen gelernt, es kann der angehende
Zeichner die Behandlung der Farben der natürlichen Landschaft und die
Modifizierung , welche sie durch die Luft erfahren , nur durch die Finger-
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Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht. 295
zeige , welche gute farbige und gezeichnete Vorbilder bei verständiger
Erläuterung durch den Lehrer gewähren , kennen lernen.
Das Zeichnen von Teilen des menschlichen Körpers und ganzen Fi-
guren , welchem ohnedies das Studium der Proportionen und der Anato-
mie des menschlichen Körpers vorangehen musz, würde als in den Studien-
gang des Künstlers von Beruf gehörend den Kreis des dem Schulunterrichte
Erreichbaren überschreiten und hier von der Betrachtung auszuschließen
sein ; ebenso das Malen , welches erst in ferner liegenden Stadien der Be-
fähigung des Schülers mit Aussicht auf Erfolg begonnen werden kann.
Einige Versuche , Landschaften in Aquarellmanier farbig zu copieren , er-
scheinen indessen förderlich, da sie dem Landschaflzeichnen nach der
Natur vorarbeiten.
Wol aber wäre, wenn sich der Schüler den im Nächstvorhergehen-
den bezeichneten Stadien der Reife genähert und zuvor noch mit dem Ver-
fahren der orthographischen Projectionsmethode vertraut gemacht worden,
der geeignete Zeitpunkt gekommen, an welchem das Studium der Per-
spective, wenigstens ihrer wichtigsten Regeln, geboten werden kann.
Mit Absicht ist bis hierher die Erwähnung der Perspective unter-
lassen worden, da diese als eine durchaus nur mathematisch zu begrün-
dende und construierend verfahrende Projectionsmethode nur mit dem
Zirkel und der Reiszschiene in der Hand, nicht gelegentlich bei Uebungen
nach körperlichen Vorbildern (Holzkörper u. dergl.) gelehrt und gelernt
werden kann. Es ist ein lrtum, an dessen Verbreitung die früher sehr
empfohlene und in gewisser Beziehung auch vortreffliche Peter Schmidsche
Methode mitschuldig ist, dasz, um den Anforderungen der Perspective zu
genügen, es sich nur um ein möglichst treues Hinzeichnen dessen handle,
was das Auge 'sieht', dasz demnach der Schüler perspectivisch richtig
zeichnen lernen könne, wenn der Lehrer ihn nur auf die scheinbaren
Verschiebungen und Verkürzungen und deren Masze an den natürlichen
Objecten 'aufmerksam mache9 und ihm, dieselben ^erkläre'. Nicht ein-
dringlich genug ist demgegenüber darauf hinzuweisen, dasz das 'gesehene'
Bild eines Objectes auf Projectionen auf den beiden kugelförmigen
Netzhaulßächen beruht, das perspectivische Bild aber, eine Protection auf
der nie kugelförmigen, vielmehr fast immer ebenen Darstellungsfläche
ist *) , und dasz , da die Aehnlichkeit beider Projectionen nicht eine im
*) Dem Nichtmathematiker ist dieser Unterschied durch den Hin-
weis auf die auffallenderen Beispiele, etwa in folgender Weise, zu
vergegenwärtigen :
Den Umrisz einer Kugel nimmt das Auge in fast allen Fällen
als einen Kreis wahr; das perspectivische Bild einer Kugel ist aber
immer ein anderer Kegelschnitt als der Kreis, wenn nicht das per*
spectivische Bild ihres Mittelpunktes in der aus dem Auge auf die
Bildebene zu fällenden Normalen liegt. — Das Auge sieht ferner die
einzelnen Säulen einer zur Sehrichtung normal stehenden Säulenreihe
in einer nach der Seite zu abnehmenden Breite; die perspectivische
Construction derselben Säulenreihe ergibt aber notwendig nach den
Seiten hin zunehmende Säulenbreiten u. dgl. m. — Bei der Fixierung
des Auges in dem richtigen Gesichtspunkte scheint die auf der Bild«
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296 Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht.
mathematischen Sinne ist , die Auftragung des perspectivischen Bildes auf
die ebene Bildfläche nicht einfach Nachahmung des Gesehenen zuläszt,
sondern fernere, nur durch ein besonderes mathematisches Constructions-
verfahren erreichbare Verschiebungen bedingt. Die Erlernung des letztem
setzt die Kenntnis der Elemente der Geometrie und der orthographischen
Projectiensmethode voraus, und seine didaktische Entwicklung nimmt,
wenn nicht der Schein für das Wesen gepflegt werden soll, selbst für
die Anfangsgrunde so viel Zeit und ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch,
wie sie sich nicht neben dem Freihandzeichnenunterricht, und vollends
in Schulen, erübrigen lassen.
Dasz man den Schüler dennoch vor dem Studium der Perspective
nach plastischen Vorbildern, Ornamenten u. dergl. < — und hierbei, soweit
es nicht auf die Erlernung der Perspective , sondern auf Schärf ung des
Auffassungsvermögens ankommt, ist das Verfahren der Peter Schmidschen
Methode von bestem Nutzen — zeichnen läszt, ist so lange kein Verstosz,
als man das Vorbild so aufstellt, dasz zwischen dem scheinbaren und dem
perspectivischen Bilde kein erheblicher Unterschied sein kann.
Bei dem Unterricht unter ungünstigen Umständen, d. h.
um vorläufig anderer Schwierigkeiten nicht zu gedenken, vor geistig
unentwickelten Schülern in groszer Anzahl , ist es geradezu unmöglich,
den Anfang mit den Uebungen nach körperlichen Vorbildern zu machen,
gleichviel ob diese der Dupuisschen oder der Peter Schmidschen Methode,
deren beider hiernächst weiter Erwähnung geschehen soll, eigentümlich
sind. Es treten da, wenn man immer den nich t geometrischen Zeichnen-
unterricht im Auge behält, gezeichnete Vorbilder an die Stelle der
körperlichen. Zuerst ist die gerade Linie das den Schüler beschäftigende
Object; jedoch nicht als nächst dem Punkt einfachstes geometrisches Ge-
bilde, nicht in ihren verschiedenen Beziehungen zu anderen geraden Linien,
nicht als Winkelscheukel oder Seite einer geometrischen Figur*), sondern
als einfachstes, für die Anschauung alle Mannichfaltigkeit und für die
Nachahmung durch die Hand alle Willkür ausschlieszendes Object, und
zwar sogleich als Marke für eine körperliche Kante oder für die schein-
bare Grenze eines bekannten Körpers. Die ersten Uebungen richten sich
zugleich gegen die von dem Schiefertafelzeichnen herrührende Gewohn-
heit, den Strich mit schwerer Hand in Einem Zuge zu schreiben, und
zielen mit auf bedächtige und reinliche Behandlung des Papiers und des
Bleistiftes ab. Der Schüler musz von Anfang an genau in der Grösze des
fläche construierte perspectivische Projection allerdings den scheinbaren
Umrissen des natürlichen Objectes völlig zu entsprechen. Beim Frei-
handzeichnen kann man aber aus optischen wie aus räumlichen Rück-
sichten das Auge nicht derart fixieren, dasz sich jene Projection von
selbst ergibt.
*) Auch die Dupuissche Methode mutet dem Anfänger nicht Ab-
stractionen geometrischer Gattung zu. Sie stellt weisze, sogenannte
Linienmodelle vor eine schwarze Tafel und verlangt, dasz der Schüler
mit correcten weiszen Kreidestrichen auf schwarzer Tafel die durch
den Gesichtsinn gemachte Wahrnehmung kundgebe.
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lieber den Gymnasialzeichnenunterricht. 297
ihm allein zur Hand liegenden Vorbildes*) nachahmen, schmale und breite
Striche ohne Aufbietung der ganzen Schwärze seines Stiftes kurz stri-
chelnd zusammensetzen. Die Vorbilder müssen in dem Beobachtungskreise
des Schülers liegende Objecte, nicht in perspectivischer Projection, son-
dern im geometrischen Aufrisse darstellen, denn diese Art der Auffassung
ist die der jugendlichen Anschauung nächstliegende. Auf häusliche Uebun-
gen ist, da deren Selbständigkeit nicht überwacht werden kann, kein
Gewicht zu legen. Von Anfang an musz die vortreffliche, in dem alten
Reglement von 1851 erst für die dritte Zeichnenstufe hervorgehobene Regel:
* Vergebliche Versuche sind nicht zu gestatten; die erste Aufgabe musz
gelingen und wird also nicht wiederholt. Der Schüler musz gewöhnt
werden, mit Ueberlegung zu arbeiten, und darf daher nur mit Berück-
sichtigung seiner Eigentümlichkeit zu rascherem Arbeiten angetrieben
werden5
festgehalten werden.
Nachdem das Zeichnen gerader Striche bis zu dem Grade geübt wor-
den, dasz schon geradliniges Detail der Auffassung zugänglich und der
Hand einigermaszen geläufig geworden, kann zum Zeichnen krummer
Striche , jedoch abermals in der Bedeutung als Marken für Körperkanten
oder -grenzen, geschritten werden und eröffnet sich dafür weiterhin ein
reiches Gebiet von Vorbildern in Darstellungen von symmetrisch und nicht
symmetrisch gebildeten Geräten, Blättern und Ornamentwerk überhaupt
Die Versuche, Zeichnungen zu schattieren, müssen erst dann zugelassen
werden, wenn hinreichende Fertigkeit vorhanden ist, ein nur in Umrissen
gezeichnetes Vorbild seinen Formen und seiner technischen Behandlung
nach einigermaszen geläufig nachzuahmen.
Damit das Copieren nach Vorlegeblättern nicht zu einer gedanken-
losen , mechanischen Beschäftigung herabsinke und den Schüler ermüde,
ist erforderlich, dasz der Lehrer die bei jedem Schüler verschiedene Be-
gabung und Schwäche mit schnellem Blicke erkenne und bei der Auswahl
der Vorbilder berücksichtige ; rechtzeitige , erläuternde Hinweise auf die
Schwächen der Auffassung oder der Hand und auf die von den gebotenen
Vorbildern dagegen erhofften Erfolge, und das Vermeiden ermüdender
Wiederholungen erhalten den Schüler in der meist regen Zuneigung zu
dem Lehrgegenstande. Bei der durch gute Vorlegeblätter meist schneller,
als durch das. Zeichnen nach körperlichen Vorbildern geförderten Fertig-
keit der Hand erwächst dem Schüler eine Zuversichtlichkeit , welche den
im Vergleich mit den Ergebnissen der Dupuisschen Methode etwa bemerk-
baren Aufenthalt in der Förderung des Auffassungsvermögens späterhin
leicht nachholen läszt. In letzterer Beziehung ungünstig Begabte, die sich
hinsichtlich der Auffassungsfähigkeit gewöhnlich auch für andere Disci-
plinen als solche erweisen und späterhin , wie zu Anfang , im Nachteile
bleiben , tragen wenigstens die Vorteile einer technisch gebildeten Hand
davon. Doch wächst unter anregender Leitung , bei stetem Hinweis auf
*) Vorzeichnungen des Lehrers an der Tafel begünstigen bei vol-
len Classen und bei unentwickelten Schülern Willkürlichkeit
in der Grösze der Nachahmung und rohe Handführung.
N. Jahrb. ?. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 5 u. 6. ^20
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298 lieber den Gymnasialzeichnenunterricht.
den dem gezeichneten Vorbilde entsprechenden natürlichen Körper, im
Allgemeinen das Auffassungsvermögen des Schülers zugleich mit der Fähig-
keit, sich graphisch auszudrücken, und es ist nicht schwer zu erkennen,
wo aufdiesemWege gereifte Schüler mit dem Studiengange derer
zusammentreffen, welche, den weiter oben für den Unterricht unter gün-
stigeren Umständen gegebenen Andeutungen nach , sofort mit dem Zeich-
nen nach körperlichen Vorbildern beginnen durften.
Mit diesen Andeutungen ist im Wesentlichen der Weg bezeichnet,
welchen nach der Ansicht des Unterzeichnelen der Gymnasialzeichnen-
unterricht zu verfolgen hat, wenn er den Eingangs angeregten Voraus-
setzungen entsprechen soll. Er ist breit genug, um der Individualität des
Lehrers und der des Schülers den nötigen Spielraum zu lassen. Mit un-
wesentlichen Abweichungen ist er auch derjenige, welchen der Unterricht
in der mit der K. Akademie der Künste verbundenen Zeichnenschule ein-
hält. In dieser Zeichnenschule gewährt die Akademie jungen , nicht zu
unentwickelten Leuten den Unterricht so weit , als er als ein Erfordernis
der allgemeinen Bildung gilt. An ihn vermag der Unterricht für angehende
Künstler von Beruf freilich unmittelbar anzuknüpfen; jedoch wird mit
anerkennenswerther Strenge das der Zeichnenschule gesteckte Ziel fest-
gehalten, der Verlockung in die Künstlerlaufbahn möglichst entgegenge-
wirkt, und der Uebertritt in die Klassen der Akademie selbst nur den-
jenigen gestattet, welche sich erklärtermaszen der Kunst berufsmäszig
widmen wollen und zugleich ihre Befähigung dazu nachweisen.
Die Dupuissche Methode hat die K. Akademie bisher nicht in An-
wendung gebracht, vielmehr den ersten Unterricht nur nach Vorlegeblät-
tern zu erteilen fortgefahren. Es liegt nicht in dem Zwecke dieser Be-
merkungen, den Grund davon zur Erörterung zu bringen; nur möge hier
die Thatsache selbst hervorgehoben sein, einerseits zur Rechtfertigung
der oben für minder günstige Unterrichtsverhältnisse empfohlenen An-
wendung der Vorlegeblätter, andererseits um die genannte Methode ge-
legentlich gegen den aus ihrer Nichtanwendung Seitens der Akademie
etwa herzuleitenden Vorwurf in Schutz zu nehmen, dasz sie für den
ersten Unterrricht nicht wenigstens dasselbe zu leisten vermöge, was
der Unterricht nach Vorlegeblättern leistet.
Wer diese Methode je beim Unterrichte angewendet, wird ihr nach-
zurühmen haben , dasz sie unter ihr entsprechenden Umständen wenig-
stens die eine Hälfte der aüem Zeichnenunterrichte zu stellenden Aufgabe,
das Auffassungsvermögen der Schüler zu schärfen, in überraschender
Weise lösen hilft. In technischer Beziehung läszt sie zudem dem Schüler
Freiheit zur Entwickelung einer seiner Individualität entsprechenden Dar-
stellungsweise, erfordert aber eben wegen dieses Vorzuges einen umsich-
tigen, künstlerisch gebildeten Lehrer. Wo freilich der Zeichnen Unterricht
in ungeeigneten Localen erteilt wird und ihm eine für die Methode
zu karg zugemessene Zeit gewidmet ist, wo dazu die Schülerzahl eine
' verhältnismäszig zu grosze ist, d. h. wo sie nicht nur die Zahl 25 son-
dern sogar die Zahl 50 übersteigt, da lassen sich die Modelle nichl
mehr in einer für die Schüler lehrreichen und diese anregenden Weise
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Googk
tJeber den Gymnasialzeichnenunterricht. 299
aufstellen; sie stehen den vordersten Plätzen zu nahe und sind dabei
wegen zu groszer Entfernung von den mittleren Plätzen schon von hier
aus unerkennbar ; dem Lehrer gebricht es an Zeit , der Arbeit jedes ein-
zelnen Schülers nach Verdienst durch Belehrung und Aufmunterung ge-
recht zu werden, der minder begabte Teil der Schuler bleibt in der Fer-
tigkeit hinter den Begabteren zurück und hält deren Fortschreiten auf,
und da führt diese Methode, was ihr selbst wegen dieser Umstände nicht
zum Vorwurfe gereichen kann, zu Miserfolgen, zu einer technischen
Unerzogenheit der Hand und zu einer Abneigung der Schüler gegen den
Lehrgegenstand selbst. Wenn sie aber gar, wie es hier geschehen ist,
in Classen von gegen 70 Schülern Anwendung findet, wobei der Lehrer,
während die Schüler bankweise ihre Zeichnungen emporhalten , die Gor-
recturen aus der Ferne erteilt, so heiszt das die Methode geradezu mis-
brauchen und kostbare Zeit vergeuden.
Ganz dieselben Schwierigkeiten stellen sich der Anwendung der
Peter Schmidschen Methode beim Massenunterrichte entgegen. Sie ver-
mag auszerdem, wie die oben ausgesprochenen Bemerkungen über die
perspectivische Protection nachweisen, die unternommene Lösung der
Aufgabe, die Perspective gewissermaszen praktisch zu lehren, nicht zu
geben, und verliert dadurch gerade den wichtigsten ihrer gerühmten
Vorzüge, wegen dessen sie zu ihrer Zeit in Aufnahme gekommen. Sind,
wie es der Fall zu sein scheint , bei dem in dem neuen Lehrplane ($ 3)
für die zweite Stufe vorgeschriebenen Zeichnen nach Holzkörpern hiermit
die Schmidschen Modelle gemeint, so ist damit nur ein Teil der mit dem
Verfall dieser Methode geschwundenen Schwierigkeiten für den Zeichnen-
unterricht wiederbelebt.
Es ist ein Erfahrungssatz , dasz weniger die Methode , als die Indi-
vidualität des Lehrers Erfolge herbeiführt , ja dasz eine unzweckmäszige
Methode in geschickter Hand Besseres leistet, als eine gute Methode in
unglücklicher Hand. Auch in den /Bemerkungen' zu dem neuen Lehrplan
ist dies zugegeben. Bei der Beurteilung des Werthes einer Methode darf
man aber auch nicht auszer Acht lassen, ob dieselbe auf dem ihr zuge-
wiesenen Terrain auch die ihrem Wesen entsprechenden Verhältnisse vor-
findet, oder nicht. Dem Gedeihen der besprochenen beiden Methoden sind
aber innerhalb der Gymnasien alTe Verhältnisse ungünstig. Indem die
für jene Methoden allzubegeisterten Wortführer dies zu übersehen pflegen,
sind sie gewöhnlich zugleich ungerecht genug , um von der für den Mas-
senunterricht übrig bleibenden und natürlichsten aller Methoden, der
nach Vorlegeblättern unterrichtenden, nur die schwachen Seiten hervor-
zuheben, dasz sie ein mechanisches Nachahmen des * Vorgemachten' be-
günstige u. dergl. m. Und doch macht nur sie es möglich, in wöchent-
lich 2 Schulstunden gleichzeitig mehr als 50 gröstenteils dem Kindesalter
noch angehörige oder doch ihm noch sehr nahestehende Schüler dem
stets verschiedenen Grade ihrer Fähigkeit angemessen zu unterweisen und
den gesteckten Zielen in der That zuzuführen.
(Fortsetzung folgt.)
Berlin. Otto Gennerich.
20*
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300 Die höheren Schulen und die Zeitungsanzeigen.
2a.
Die höheren Schulen und die Zeitungsanzeigen.
I.
Wer seit einigen Jahren regelmäszig die Anzeigen in den Zeitungen
der westlichen Provinzen Preuszens, besonders in der Köln. Zeitung
durchgesehen hat, wird die in schneller Zunahme stets sich mehrenden
Selbstempfehlungen der verschiedenen höheren Lehranstalten nicht haben
übersehen können. Die Blüte der Reclame, zu welcher sich die bekannten
Namen der Gegenwart aufgeschwungen, scheint auch eine Anzahl von
Curatorien, Schulvorständen und -Vorstehern nicht schlafen zu lassen;
vielleicht findet sich ja irgendwo ein Vater, der für seinen Sohn nach der
Zeitung eine Schule aussucht , an der für möglichst wenig Geld und in
beschleunigtem Gange das ersehnte Ziel der Berechtigung zum einjährigen
Dienste erreicht, wenigstens versprochen wird. Dasz Vorsteher und Un-
ternehmer von Privatanstalten ihre Institute möglichst empfehlen und
Schüler, mögen sie sein, wie sie wollen, anzulocken suchen, ist natür-
lich; das Geschäft bringt es einmal so mit sich. Je geringer die inneren
Vorzüge derartiger Anstalten in vielen Fällen sind , desto mehr Veran-
lassung haben sie, sich nach Auszen geltend zu machen; es handelt sich
ja allein um das Geldverdienen und argentum non ölet, sagte schon der
alte Vespasianus.
Ganz anders liegt die Sache bei den oft1 entlichen Anstalten. Wol
mag es für die eine oder andere unter ihnen 'eine Lebensfrage sein , mög-
lichst viele auswärtige Schüler zu haben ; niemals wird es doch von ihnen
auszer Acht gelassen werden dürfen, dasz sie als Institute, die unter der
Autorität des Staates auftreten, sich selbst soviel. Achtung schuldig sind,
um nicht auf die Linie der sogenannten Freiwilligen- und Fähnrichspres-
sen und ähnlicher mit Dampfkraft arbeitenden Fabriketablissements frei-
willig herabzusteigen.' Wäre es nun blosz Sache der betreffenden An-
stalten , in welches Licht sie sich bei dem verständigeren Teile des Publi-
kums durch ihre Art von Empfehlung bringen , nun so könnte man sie
ruhig der verdienten Geringschätzung und dem auch nicht ausbleibenden
Spotte überlassen; es ist aber eine Sache sämtlicher höherer Lehranstal-
ten und der an diesen arbeitenden Lehrer, auf Abstellung einer Unsitte
zu dringen , die dem ganzen höheren Schulwesen zur Schande , dem Lehr-
stande gewis nicht zur Ehre gereicht. Dabei wollen wir von der Frage
noch ganz absehen, ob nicht die Autorität der betreffenden Schule bei
ihren eigenen Schülern im bedenklichsten Grade bedroht werden musz,
wenn diese sehen , welchen Werth die Anstalt auf ihre Anwesenheit legt;
das mag am Ende jede Schule mit sich selbst abmachen; es musz aber
immer wieder gesagt werden , dasz unser Stand nicht eher nach Auszen
die gebührende Anerkennung finden wird, bevor er nicht sich selbst mehr
zu achten gelernt hat.
Es wird und kann Niemand etwas dagegen einzuwenden haben,
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Die höheren Schulen und die Zeitungsanzeigen. 301
wenn Schulen den Beginn eines neuen Cursus, Aufnahme- und Prüfungs-
tag und Aehnlicbes öffentlich bekanntmachen; es ist das sogar in gewis-
sem Grade notwendig , da die Schulprogramme der Natur der Sache nach
nur in die Hände Weniger kommen. In den östlichen Provinzen hält man
es im Allgemeinen für ausreichend, wenn dergleichen Bekanntmachungen
durch die Localblätter erfolgen ; auch im Westen beschränken sich viele
und zwar gerade die älteren Anstalten auf diesen Weg. Andere Schulen,
besonders die jüngeren , zeigen auch durch die politischen Zeitungen die
Eröffnung des neuen Cursus einfach an ; wfinschenswerth, vielleicht auch
notwendig, wird das bei Anstalten sein, welchen sich seit längerer Zeit
eine grosze Anzahl auswärtiger Schäler zuzuwenden pflegt. Die meisten
Gymnasien und vollständigen Realschulen lassen sich mit dieser Art von
Veröffentlichung genügen.
Daneben wuchert nun aber in reichster Fülle das Unkraut der eigent-
lichen Empfehlungen, deren rasches Anwachsen in intensiver und extensiver
Beziehung, besonders bei den kleineren Anstalten, man mit steigender Ver-
wunderung betrachten musz. Diese Empfehlungen gehen entweder aus von
dem Vorsteher der Anstalt oder von. dem Schulvorstand, Guratorium u. dgl.
oder von — scheinbar unbeteiligten — dritten Personen oder endlich sie
erscheinen anonym. Die beiden ersten Arten stützen sich, so verschieden
auch die Ausführung im Einzelnen ist, meist auf dieselben Gründe; hat
ja doch auch* die Reclame ihr System. Der erste Grund und der am häu-
figsten und, wie es scheint, mit besonderer Vorliebe verwendete ist die
'geringe SchülerzahP ; es wird darauf aufmerksam gemacht, wie viel
mehr die Schüler in kleinen Gassen lernen können als in 'überfüllten',
wieviel leichter die Ueberwachung sei , wieviel geringer die Verführung
usw. Daneben paradiert als zweiter Empfehlungsgrund regelmäszig die
'gesunde Lage' und die allgemeine Billigkeit des Ortes, also auch det
Pensionen , besonders in den Lehrerhäusern. Ist die Anstalt katholisch,
so wird auch nicht vergessen zu bemerken, dasz so und so viel Geistliche
an der Anstalt beschäftigt seien. Ist die Schülerzahl der betreffenden
Anstalt nicht mehr so klein, dasz die Vorteile der geringen Frequenz
gehörig anziehen könnten, so musz die starke Frequenz heran. Diese hat
zuerst die ausgezeichneten Leistungen der betr. Schule zu beweisen, dann
aber wird ganz regelmäszig von der baldigen oder wenigstens * in Aus-
sicht genommenen' Erweiterung der Anstalt gesprochen ; bereits sei ein
neuer Lehrer angestellt oder dies solle baldigst geschehen; ein neues
Local werde man auch bekommen, kurz die Anstalt werde nach geringer
Frist eine vollständige Realschule oder ein Gymnasium werden,; wenig*
stens sind ihr gewisse Rechte 'in die sicherste Aussicht gestellt', beson-
ders das Recht auf Erteilung von Zeugnissen , die zum einjährigen Dienst
berechtigen*). Wir mögen gern annehmen, dasz die betreffenden Be-
*) Damit es nicht scheine , als könne nicht jeder der oben aufge-
stellten Sätze belegt werden, so mögen hier nur beispielsweise einige
der einschlägigen Bekanntmachungen angefahrt werden, die in den
Nummern der Köln. Zeitung vom Septbr. d, J. mir aufgestoszen sind:
höhere Bürgerschule in Saarlouis (K. Z. vom 24 Sptbr.) , höhere Lehr-
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302 Die höheren Schulen und die Zeitungsanzeigen.
kanntmacher in jedem Falle wirklich selbst die Hoffnung hegen, ihre
Schule recht bald auf eine höhere Stufe bringen zu können , aber bei teil-
weise sehr genauer Kenntnis der einschlagenden Verhältnisse können wir
nicht glauben, dasz dieselben auch überall von der Möglichkeit der Ver-
wirklichung ihrer Hoffnungen überzeugt sind. Und was wird aus den
Schülern, die nun wirklich im Vertrauen auf eine solche Zeitungsannonce
sich einer solchen Anstalt zugewendet haben? Haben die betreffendes
Vorstände auch wol bedacht, dasz sie sich, selbst wenn wir auch in allen
Fällen den besten Willen annehmen , doch im Grunde einer Unredlichkeit
schuldig machen, indem sie die jungen Leute, die nachher doch auf ein
Gymnasium oder eine Realschule gehen müssen , in den meisten Fällen
um einen beträchtlichen Zeitraum zurückgebracht haben ?
Ein ferneres Mittel, welches mit dem rechten Namen zu belegen wir
gern jedem Leser überlassen , ist die Eröffnung von Aussichten auf Sti-
pendien. Der Natur der Sache nach sind Schulvorstände nur selten in der
Lage, dieses Zugpflaster anwenden zu können; dasz es aber vorkommt,
beweist eine Bekanntmachung des königl. kathol. Gymnasiums in Emme-
rich in der Köln. Ztg. vom 2. Oct. 1863, welche wörtlich folgenden Pas-
sus enthält:
* Auswärtigen zur Nachricht, dasz der Betrag der im verflossenen
Schuljahre erteilten Beneficien aus den Stipendienfonds sich auf 2300
Thlr. belaufen hat.'
Unterzeichnet ist diese Bekanntmachung
Mer Stellvertreter des Directors: A. Dederich, Gymnasialoberlehrer.'
Es wäre überflüssig, hierzu auch nur ein Wort weiter zu bemerken,
als dasz das Gymnasium in Emmerich — nach der Angabe in Mushackes
Schulkalender — in 6 Classen 98 Schüler hat.
Ueber die Reclame durch genannte oder ungenannte Dritte brauchen
wir eigentlich Nichts hinzuzusetzen; die 'dankbaren Eltern' usw. haben
nicht ohne Nutzen bei Hoffund Daubitz ihre Studien gemacht*).
anstalt in Kerpen '(19 Sptbr.), Progymnasium in Siegburg (17 Sptbr.),
kathol. höhere Bürgerschule in Crefeld (15 Sptbr.) , Progymnasium in
Jülich (14 Sptbr.), höhere Schule in Ahweiler (3 Sptbr.), höhere Schule
in Malmedy (13 Sptbr.), Progymnäsium in Mors (26 Sptbr.). Eins der
schönsten Documente ist die Bekanntmachung der Schulcommission von
Neuwied in Nr. 240 der K. Ztg., an welcher der Rector der Anstalt,
wenn ein Schlusz aus seiner späteren Bekanntmachung erlaubt ist,
keinen Anteil hat.
•) Zum Ergötzen der Leser nur zwei Beispiele. 1) Köln. Ztg. vom
18 Septbr. d. J. fDie höhere Bürgerschule zu Grevenbroich.
Im Grevenbroicher Geschäfts- und Unterhaltungsblatte (weiland Kreis-
blatt) veröffentlicht der Kaufmann, Hr. J. Fleck, die Thatsache, dasz
seine beiden Söhne, die auszer hiesiger Bürgerschule keine höhere
Lehranstalt besuchten, das Examen zum einjährigen Militärdienste mit
Auszeichnung bestanden haben, und spricht dem Herrn Rector Dr.
Dronke und den Herren Lehrern dieser Schule seinen Dank dafür ans.
Wir glauben, dasz es in weiterem Bereiche zur Ehre dieser Schule
und zum gemeinen Nutzen bekannt zu werden verdient, dasz zwei hie-
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Die höheren Schulen und die Zeitungsanzeigen. 303
Dies das Factische. Fragen wir nun nach dem Grunde dieses Un-
wesens. Es mag richtig sein, was oft behauptet wird, dasz in einzelnen,
vielleicht auch nicht seltenen Fällen Eitelkeit der Patronatsbehörde oder
auch wol eine Art von Ehrgeiz von Seiten der Dirigenten zu einem sol-
chen Heranlocken auswärtiger Schüler verleitet; noch richtiger ist gewis
die Annahme, dasz bei gar vielen Anstalten, besonders den kleineren,
es für die Lehrer eine absolute Notwendigkeit ist, durch Aufnahme von
Kostschülern ihrer kümmerlichen Besoldung nachzuhelfen; der wahre
Grund liegt aber an einer andern Stelle. Es ist nicht Zufall , dasz seit
dem Jahre 1859 allerlei Progymnasien und andere ähnliche oder auch
höhere Anstalten aus der Erde an Orten aufgeschossen sind, an denen
man das Bedürfnis gar nicht erwartet hätte und wo auch in der That der
Boden für solche Institute gar nicht vorbereitet war; man darf nicht an-
nehmen, dasz so plötzlich die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer
höheren Bildung sich verbreitet hätte; der hauptsächlichste Grund liegt
in den Bestimmungen der in jenen Jahre erlassenen neuen Militärersatz-
instruction, besonders in den Paragraphen über die Berechtigung zum
sogenannten freiwilligen d. h. einjährigen Heeresdienste. Seit dort die
Forderung aufgestellt ist , dasz nur diejenigen Schüler jene Berechtigung
haben sollen, welche ein halbes Jahr in einer. Gymnasial- oder Realse-
cunda gewesen sind oder die Abiturienlenprüfung einer höheren Bürger-
sige Schüler unter 34 Geprüften in zweitägigem Examen am besten
bestanden und dasz ihre Mitschüler die Reife für die Secunda eines
Gymnasiums erlangt haben. Dies um so mehr, als eine so bewährte
Schule, die (auszer dem Religionsunterrichte , der von den hiesigen
Pfarrern ertheilt wurde) mit vier sehr befähigten Lehrern besetzt ist,
in einem Landstädtchen ihre Schüler besser zu überwachen vermag,
als in gröszeren Städten möglich z.' — 2) Köln. Ztg. vom
3 Sptbr. d. J. 'Köln, den 1 Sptbr. 1863. Auf meiner diesjährigen Fe-
rienreise kam ich auch, von einem Freunde eingeladen, am 30 August
nach Dormagen, wo ich einen schönen Genusz haben sollte. Es be-
steht dort- nemlich seit zwei Jahren eine auf Actien gegründete höhere
Bildungsanstalt, welche am 81 August ihr zweites Jahr mit einer öffent-
lichen Prüfung schlosz. Die Anzahl der Schüler war schon von 38 auf
53 gestiegen, welche in vier Classen bis incl. Tertia vertheilt waren.
Die Haltung derselben war eine durchaus lobenswerthe. Sowohl bei
dem feierlichen Gottesdienste, womit die Prüfung eingeladet wurde,
als vor und nach derselben erhöhten die Schüler die Festlichkeit durch
einen schönen Gesang. Der Herr Rector Esser, welcher die Anstalt
leitet, der Geistliche Herr Lehrer Eisenbach und der Herr Lehrer
Mönch hielten die Prüfung ab, welche sich über Griechisch, Latein,
Mathematik, Geschichte und Geographie erstreckte. Die Herren Leh-
rer wuszten die Aufmerksamkeit und rege Teilnahme der Schüler zu
fesseln, und diese erfreuten die Zuhörer durch ihre sicheren und rich-
tigen Antworten. Der Unterzeichnete gewann die Ueberzeugung, dasz
die acht Tertianer, welche aus der Anstalt entlassen wurden, die Reife
für die Untersecunda eines Gymnasiums vollständig erlangt hatten und
bei fortgesetztem Fleisze und gutem Betragen einer guten Abiturienten-
prüfung entgegen sehen können. Zum Schlüsse hielt der Herr Rector
Egser eine Schüler und Zuhörer tief ergreifende Rede, worin er die
einreiszende Genuszsucht der Jugend als eine Hauptursache der Ver-
irrungen derselben bezeichnete. Pjrof. W. Caspers.'
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304 Die höheren Schulen und die Zeitungsanzeigen.
schule abgelegt haben, seitdem hat das Aufwuchern angefangen. 'Jede
kleine Stadt- und Rectoratschule , die früher mit Nutzen und Erfolg ihre
Schüler bis Quarta oder Tertia vorbereitete, musz jetzt mindestens ihre
Secunda haben, womöglich bis zur Universität führen; ob das Bedürfnis
zu der Erweiterung da ist, bleibt oft ganz und gar ununtersucht, das
wird schon kommen; meist liefert das Städtchen selbst nicht das absolut
-nötige Material an Schülern, also müssen Auswärtige herbeigeholt werden,
mögen sie sein, wie sie wollen, damit nur das Schülchen existieren kann.
Daher das Unwesen. Wie es mit den Leistungen, den Lehrkräften und
besonders den Dotationen steht, wollen wir Wer nicht untersuchen; des
Erbaulichen und Ergötzlichen liesze sich darüber Manches erzählen.
Dasz auch noch andere Motive wirksam sein können und wirklich
sind , versteht sich von selbst ; der oben citierte Fall des katholischen
-Gymnasiums in Emmerich — gelegen in der nächsten Nähe der für das
Bedürfnis der Gegend vollständig ausreichenden evangelischen Gymnasien
in Gleve und Wesel — beweist das zur Genüge. Stets ist aber eine der-
artige Reclame ein untrügliches Zeichen , dasz die betreffende Schule eine
innere Berechtigung zu bestehen oder sich zu erweitern nicht hat*).
Wie dem Unwesen zu steuern, ist schwer zu sagen; viel würde
gethan sein , wenn die Genehmigungen zur Gründung oder Erweiterung
solcher Schulen erst nach dem wirklich gelieferten Nachweise der Exi-
stenzfähigkeit erteilt wrürden; auch würde es sich sehr empfehlen, dasz
die Provinzialbehörde alljährlich den Beginn des Cursus in den höheren
Anstalten, den sie ja selbst festsetzt, nebst einem Verzeichnis der be-
rechtigten Anstalten veröffentlichte, aber freilich nicht blosz in den Re-
gierungsamtsblättern, die fast Niemand liest, sondern in den verbreitet-
sten politischen Zeitungen. Vor Allem aber hat der Lehrerstand die Pflicht,
sich energisch gegen eine Unsitte zu verwahren, welche, wir wiederholen
es, ihm selbst zur Unehre, dem ganzen höheren Schulwesen aber zum
grösten Schaden gereicht. p.
*) Vergl. auch Eil er 8, meine Wanderung durch's Leben Band VI
S. 152, wo über die übermäszige Vermehrung der höheren Schulen sehr
richtig gesprochen ist, wenn auch die Eilerssche Furcht vor tibergro-
szer Ausbreitung der Bildung wol von nur Wenigen geteilt wird.
24.
La practica geotnetriae di Leonardo Pisano secondo la
lezione del codice Urbinate n. 292 deüa Bibl. Vat. — Zweiter
Band der ScritÜ di Leonardo Pisano publicati da Bald,
ßoncompagni. Roma 1862. 4.
Dasz alles unser Wissen Stückwerk ist, empfindet bekanntlich jeder
Forscher auf irgend welchem historischen Gebiete um so mehr, je weiter
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L. Pisano : la practica geometriae. 305
er eindringend in die Tiefen der Wissenschaft sich den Grenzen nähert,
über die hinauszuschreiten die mangelhafte Ueberlieferung ihm verbietet.
Sieht er sich dann gezwungen innezuhalten , so wird er das zwar mit Be-
dauern thun, aber doch zum eigenen Trost sich sagen können, dasz er
wenigstens bis zum äuszersten Ziel des Möglichen gelangt sei. Ein ganz
anderes Gefühl des Unmutes aber wird ihn beschleichen , wenn er auf
seinem Wege allenthalben auf Verschlossene Gebiete trifft , von denen er
weisz, dasz Menschenhand und Menscbenkraft sie wol öffnen könnte und
nur ihm gerade Zeit und Mittel dazu fehlen. Das galt bisher und gilt noch
jetzt in hohem Grade von der Geschichte der Mathematik des KU
tertums und des frühem Mittelalters. Es ist unglaublich, mit wie we-
nigem, was zufällig bekannt war, man sich begnügte, ruhig und selbst-
gefällig darauf Hypothesen baute, ja zuletzt ein anscheinend recht statt-
liches Gebäude errichtete — und das alles, während einige der wichtigsten
Quellen noch unausgebeutet im Staube der Bibliotheken lagen. Man wustc,
dasz Her on nächst Archimedes der bedeutendste Vertreter der angewand-
ten Mathematik im Altertume gewesen sei; und doch dachte niemand
daran, seine uns noch erhaltenen geometrischen und stereometrischen
Werke zu veröffentlichen. Man citierte hin und wieder Papp us, den
wichtigsten Sammelschriftsteller des 4n Jahrh. n. Chr. , nach der unge-
nügenden und unvollständigen lateinischen Uebersetzung ; aber der grie-
chische Text liegt noch zum guten Teil verborgen in den Handschriften.
Proclus* Commentar zum Euclid ist vorhanden, jedoch so gut wie un-
lesbar; kein Mathematiker citiert ihn, sondern verweist lieber auf die
lateinische Uebersetzung desBarocius, die eigentlich viel schwerer ver-
ständlich ist als der schön geschriebene Originaltext. Dies die hauptsäch-
lichsten, aber durchaus nicht die einzigen Beispiele aus der Litteratur des
Altertums. Nach dem Verfall der alten Gultur waren es die Araber, die
der schon nahe zum Untergang geführten Mathematik sich annahmen.
Das wüste ein jeder , und die Genügsamkeit über dieses Wissen war so
grosz , dasz man lange , sehr lange nach einigen wichtigen. Werken ara-
bischer Mathematik, die noch im Original oder in lateinischen Ueber-
arbeitungen vorhanden sind, kaum fragte. Um nur eines anzuführen, das
Buch der dreiBrüder (über trium fratrum de geotnetria), welches
die interessantesten Aufschlüsse für die Geschichte der Geometrie gewäh-
ren musz, ist noch nicht ediert, und doch ist es nicht etwa in unzugäng-
lichen spanischen Bibliotheken versteckt , sondern sehr nahe zu erlangen
in einer Stadt deutscher Zunge und deutscher Gelehrsamkeit.
Zu solchen empfindlichen Lücken konnte man noch vor wenigen
Jahren eine der allerempfindlichsten hinzuzählen; man hatte über Leo-
nardo^ von Pisa Werke nur spärliche Kunde durch die Auszüge Libri's*).
Das ist jetzt anders geworden durch das Verdienst eines Mannes , der sich
.damit einen glänzenden Namen .für alle Zeiten erworben hat. Der Fürst
Boncompagni, schon lange unermüdlich darin thätig, die mathernati-
*) Vergl. den Artikel 'Fibonacci' von Gartz in der allgem. Ency-
clopädie.
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306 L. Pisano : la practica geometriae.
sehen handschriftlichen Schätze seines Vaterlandes an das Licht zu brin-
gen , veröffentlichte im Jahre 1867 den ersten Band der Scritti di Leo-
nardo Pisano , dem jetzt vor kurzem der zweite Band, die Practica
geometriae und die kleineren Schriften enthaltend, gefolgt ist. Was in
dem ersten Teile, dem Buche des abacus, Wichtiges enthalten ist, das
hat jüngst durch Gantor in dessen Mathematischen Beiträgen zum Cul-
turleben der Völker (Halle 1863) gerechte Würdigung gefunden ; es gilt
daher die folgende kurze Besprechung lediglich dem zweiten Teile , der
noch wenig in Deutschland bekannt sein dürfte. (Schreiber dieses erhielt
das vorher noch von Niemandem gebrauchte Exemplar der Berliner Biblio-
thek zur Benutzung, nachdem er an zwei andern groszen Bibliotheken
vergeblich nach dem Werke gefragt hatte.)
Die Bedeutung von Leonardo's Geometrie ist nach zwei Seiten hin
ins Auge zu fassen. Zuerst zeigt sich nun für eine lange Rette von ma-
thematischen Werken , die seit der Erfindung der Buchdruckerkunst er-
schienen, die Quelle, aus der sie direct oder indirect geschöpft haben.
Die Sache ist sehr einfach die: Pacioli, oder wie er sich lateinisch
nennt, Lucas de Burgo, der in seiner Summa de arithmetica geometria
das erste gröszere mathematische Druckwerk veröffentlichte, hat sehr
vieles , t vielleicht das meiste, wörtlich aus Leonardo's Werken übersetzt.
Aus Pacioli haben dann andere , wie Tartaglia , Beisch (in der Mar gar Ha
philosophica) geschöpft, und so ist die ursprüngliche Quelle weiter im-
mer mehr getrübt worden. Es ist nun mit einem Male die Notwendigkeit
beseitigt, jener getrübten Ueberlieferung von nur seeundärer Autorität
mühselig nachzugehen, nachdem Leonardo's Schriften selbst vollständig
vorliegen.
Weit wichtiger aber ist die andere Frage, die sich an die vorliegende
Practica geometriae knüpft , die Frage nach den Quellen, die seinerseits
wieder Leonardo benutzte. Die Antwort darauf kann kurz und schlagend
gegeben werden , wenn man sagt : Wer diese Quellen vollständig nach-
weist, der hat zugleich die Geschichte der praktischen Geometrie von dem
% Jahrh. vor Chr. bis zu Leonardo's Zeitalter ans Licht gestellt. Das ist
das grosze Problem , das sich an das vorliegende Werk knüpft , ein Pro-
blem , an dessen Lösung voraussichtlich noch mehrere Generationen wer-
den arbeiten müssen, welches aber nichts desto weniger doch endlich zur
Klarheit geführt werden wird.
- Suchen wir in kurzem die nähere Orientierung zu geben. Eine Un-
terweisung in der praktischen oder angewandten Geometrie wollte
Leonardo geben, das besagt schon der Titel, das beweist das Werk selbst
in seinen Hauptteilen , wenn gleich auszerdem noch vieles Andere darin
behandelt wird. Gleich in der Vorrede heiszt es (mit Weglassung der
Personalien) : opus iam dudum ineeptum taliter edidi, ut hi qui seeun-
dum demonstrationes , et hi qui seeundum vulgarem consuetudinem,
quasi laicali more, in dimensionibus voluerint operari, super VIII
huius artis distinetiones , quae inferius explicantur, perfectum inve-
niant documentum. Die acht Abteilungen aber werden folgendermaszen
bezeichnet: Prima est, qualiter latitudines camporum quatuor
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L. Pisano : la practica geometriae. 307
aequales angulos kabentium in eorutn longitudines tripüci modo mul-
tiplicentur. Secunda est de quibusdatn regulis geometricis , et de
inventione quadratarum radicum in tantum quantum eis, qui per
rationes solummodo geometricas voluerint operari, necessarium esse
putavi. Tertia de inventione embadorum otnnium camporum cuius-
cunque forma e, Quarta de divisione omnium camporum inter con-
sortes. Soweit der eigentlich praktisch geometrische Teil. Daran schlieszt
sich: Quinta de radicibus cubicis iuveniendis. Sexta de inventione
embadorum omnium corporum cuiuscunque figurae, quae continentur
tribus dimensionibus , seilte et long itud ine , latitudine et profunditate.
Septirna de inventione longitudinum planitierum et inventione alti-
tudinum rerum elevatarum. Octava*) de quibusdam subtilitatibus
geometricis.
Als Einleitung (introduetoria) ist vorausgeschickt eine Zusammen-
stellung derjenigen Euclidischen Definitionen, die für die Feldmeszkunst
von Wichtigkeit sind ; dann folgt eine Uebersicht über die Längenmasze
und die gegenseitigen Verhältnisse derselben, darauf eine kurze Erklärung
der Quadratmasze , und hieran schlieszt sich (von S. 5 an) die erste Ab-
teilung über die Messung der Rechtecke, zu der die zweite Abteilung
(§. 18 ff.) , die Lehre von der Auffindung der Quadratwurzel , gewisser-
maszen das Gegenstück bildet, indem hier umgekehrt gezeigt wird, wie
man von dem Quadratmasz auf das Längenmasz zurückkommt. Es ist also
diese zweite Abteilung mehr als eine Art von Excurs anzusehen. Den wei-
tern Fortgang der eigentlichen Geometrie giebt die dritte Abteilung (S.
30 ff.), die sich in ihrem ersten Abschnitt ganz mit der Dreiecksmessung
beschäftigt (bis S. 56) ; dann kommen wieder Messungen von Vierecken,
und zwar der Reihe nach aller verschiedenen Arten derselben; zuletzt
Messungen von Vielecken und Kreisen (bis S. 110).
Wir setzen diese Uebersicht absichtlich nicht weiter fort, da wir
damit in allzu unbekannte Gebiete geführt werden würden, sondern be-
gnügen uns damit für den bisher besprochenen Teil des Leonardoschen
Werkes einige Andeutungen zu geben , die vielleicht durch ihre Neuheit
überraschen werden , aber nichts desto weniger auf sicherer Grundlage
beruhen.
Auch Hero von Alexandria hat ein Werk über praktische Geometrie
und Geodäsie verfaszt, auch er beginnt dasselbe mit einer Zusammen-
stellung der Euclidischen Definitionen, auch er läszt dann eine Tabelle
der Längenmasze folgen , auch er lehrt ferner in ausführlichster Weise
zuerst die Ausmessung der Rechtecke, dann der Dreiecke, dann der Vier-
ecke, dann der Vielecke und Kreise. Endlich auch Heron hat den Laien
unterwiesen , wie er Quadratwurzeln finden und umgekehrt Wurzeln, die
aus ganzen und gebrochenen Zahlen bestehen , quadrieren kann. Fügen
*) Die Handschrift und der Druck haben Optava. Auszerdem
sind im obigen Gitat einige orthographische Eigentümlichkeiten der
Handschrift (wie e, mit und ohne Häkchen, f ür ae) stillschweigend ge-
ändert worden.
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308 L. Pisano: la practica geometriae.
wir nun noch das einfache Factum hinzu , dasz der Anfang der Leonardo-
schen Geometrie so gut wie eine Uebersetzung der Heronischen ist, dasz
die Tabelle der Längenmasze, wenn auch dem Inhalt nach natürlich ver-
schieden, doch in der Grundform dieselbe ist, dasz endlich hei den ein-
zelnen Aufgaben überall die sichersten Analogien sich finden , so wird es
wol nicht mehr als ungereimt erscheinen , wenn wir behaupten :
Die ursprüngliche Quelle von Leonardo's Geometrie
sind die Heronischen Geometrumena.
Aber auch nur die ursprüngliche Quelle, bei weitem nicht die di-
recte. Das ist die andere, nicht weniger interessante, aber noch weit
schwierigere Frage. Die Schicksale der heronischen Geometrumena lassen
sich bis in das vierte Jahrh. n. Chr. verfolgen , denn soweit reichen die
Spuren späterer Ueberarbeitungen, die an dem Werke vorgenommen wor-
den sind. Auszerdem wissen wir, dasz Golumella, die römischen
Agrimensoren und zuletzt B o e t h i u s ganze Partien desselben Werkes
in verkürzter Form aufgenommen haben. Mehr noch würden wir wissen,
wenn die Geometrie des Johannes Pediasimos ediert vorläge, denn
nach einigen Andeutungen von Venluri und Letronne ist zu schlieszen,
dasz jenes Werk eben auch nur eine Umarbeitung von Heron ist. Aber
alles das reicht noch nicht aus, um annäherungsweise die Quelle zu resti-
tuieren , welcher Leonardo gefolgt ist. Ueber diese haben wir vielmehr
Folgendes anzunehmen.
Das schon mehrfach erwähnte, handschriftlich erhaltene, aber noch
nicht edierte Werk Heron's ist eine rein praktische Anweisung für die
Feldmesser. Es werden darin nur die elementarsten geometrischen Kennt-
nisse vorausgesetzt, es wird kein Theorem aufgestellt noch bewiesen,
sondern es werden lediglich angewandte, in Zahlen bestimmte, Aufgaben
ausgerechnet. Aber darauf hat sich Heron's Thätigkeit für eine populäre
Darstellung der Geometrie nicht beschränkt. Er hat auszerdem die Ele-
mente Euclid's erklärt, Vieles gewis leichter und faszlicher darzustellen
versucht , auch einige neue Lehrsätze hinzugefügt. Diese zweite Gattung
von Schriften Heron's ist uns allerdings verloren gegangen, aber sie finden
sich mehrfach citiert, und durch besonderen Glücksfall ist uns gerade
einer der hauptsächlichsten von Hero gefundenen Sätze erhalten, die Be-
rechnung der Dreiecksfläche als Function der drei Seilen. — Nun ist mit
groszer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dasz in den letzten Zeiten der
selbständigen griechisch-römischen Gultur die theoretischen Schriften
Heron's mit dessen praktischer Geometrie in der Weise verschmolzen
wurden, dasz das neue Werk Alles enthielt, was man von einem der
Geometrie Kundigen in damaliger Zeit verlangte. Die mathematischen
Kenntnisse waren damals, im Allgemeinen schon tief gesunken, deshalb
erscheinen die geometrischen Beweise in einer sehr ausführlichen und
weitschweifigen Form , worin jedes auch noch so selbstverständliche Zwi-
schenglied der Deduction umständlich angegeben wird; ganz im Gegen-
satz zu der knappen und eleganten Form der Euclidischen und Heroni-
schen Beweisführung,
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£. Rödiger: W. Gesenius' hebr. Grammatik. 309
Welche Schicksale nun bei dem Untergang der alten Cultur dieses
von uns angenommene Werk gehabt hat, bleibt vor der Hand ganz im
Dunkeln. Am nächsten liegt naturlich anzunehmen, es sei ins Arabische
übersetzt worden, und Leonardo habe es von da ins Lateinische über-
tragen, wie er in seinem Werk über Algebra dem berühmten Mohammed
ben Musa gefolgt ist (Gantor a. a.O. S. 352). Hier wird weitere Forschung
Vieles, vielleicht Alles noch aufhellen. Einen Hauptanhalt geben die Reihen
der Buchstaben , die bei den Beweisen benutzt werden. Diese sind teils
rein griechisch: a b g d e z usw., teils durch Einflusz des arabischen
Alphabets einigermaszen geändert, teils mit Elementen des lateinischen
Alphabets versetzt. Darin liegt zugleich die dreifache Scheidung dessen,
was wir in dem Werke Leonardo's zu suchen haben , nemlich erstens
solche Partien , die im Wesentlichen getreu nach dem griechischen Ori-
ginal erhalten sind, zweitens solche, wo ein arabischer Bearbeiter Einiges
geändert hat, drittens solche, wo Leonardo selbstthätig eingetreten ist.
Dies die allgemeinen Gesichtspunkte, deren Richtigkeit gewis die fernere
Forschung über dieses neu erschlossene Gebiet immer mehr bestätigen
wird. Mögen diese Zeilen dazu beitragen , das Interesse für die Unter
suchung zu einem recht allgemeinen zu machen.
— n. — h.
25.
Wilhelm Gesenkt*' hebräische Grammatik. Neu bearbeitet und
herausgegeben ton E. Rödiger , Dr. der Theologie und
Philologie, ord. Professor der morgenländischen Sprachen
an der königl. Universität zu Berlin. 19. verbesserte und
vermehrte Auflage. Mit einer Schrifttafel. Leipzig 1862,
Seemann, gr. 8. Auch unter dem Titel: W. Gesenius'* hebr.
Elementarbuch. Erster Theil: hebr. Gr. herausgegeben von
E. Rödiger. 19. Auflage. Leipzig 1862, Seemann. X u.
328 S.
Unser neuer Bearbeiter hat auch in dieser neuesten Auflage im All-
gemeinen von manchen Anforderungen an seine Grammatik von Seiten der
stattgefundenen Besprechungen abstrahiert. Es wäre für manche Schul-
männer freilich erwünscht gewesen, wenn bei den grammatischen Ver-
gleichungen mehr auf solche Sprachen Rücksicht genommen worden wäre,
die zu den Disciplinen der höhern gelehrten Anstalten gehören. Unser Vf.
hielt es aber für nötiger, die das höchste Studium betreibenden Anstalten
zu beachten. — In der Vorrede wird bemerkt, dasz diese neueste Auflage
wesentliche Verbesserungen erfahren habe. Hervorzuhebende Paragra-
phen sind: SS 1- 2. 7. 9. 26. 27. 51. 63. 83. 84. — Auch im Stellenregister
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310 £. Rödiger: W. Gesenius' hebr. Grammatik.
ist. Manches hinzugekommen. Strenger durchgeführt ist diesmal: 'eine
bestimmte Umschreibung hebräischer Wörter, auch der grammatischen
Ausdrücke, wie Piel usw.' Der Hr. Vf. hält selbst sein Buch, 'in vielen
inneren Beziehungen' für ein anderes. Um auf Specielles einzugehen,
finden wir § 1 die neuesten litterarischen Erscheinungen für die mit der
hebräischen Sprache verwandten semitischen Dialecte angegeben. — Auch
§ 2 'Uebersicht der Geschichte' usw. enthält die neuesten litterarischen
Nach Weisungen. Mit Recht wird am Schlüsse von § 2 bemerkt , dasz die
canonische Litteratur des A. T. nur einen Bruchteil der Nationallitteratur
enthalte. Referent würde den Nachweis aus Flavius Josephus und selbst
aus dem Talmud entnehmen. Der gröste Verlust wird wol durch die
Verbrennung des Archivs in Jerusalem unter Titus und durch den Bücher-
brand in Alexandrien entstanden sein. — § 3. (Die grammatische Bearbei-
tung der hebräischen Sprache' beschränkt sich bis auf das Ende des 18n
Jahrhunderts und citiert für die Bemühungen des 19n Jahrhunderts : Stein-
schneiders bibliographisches Handbuch für hebräische Sprachkunde, Leip-
zig 1859. Auszer Ewald , dem man doch wol die ersten philosophischen
Forschungen in der hebräischen Sprache verdankt , kann Nägelsbach we-
gen seiner neuen Ansichten genannt werden ; wenn auch das Streben Beider
Gesenius' System, zumal seit der neuen Bearbeitung seiner Grammatik,
nicht zu verdrängen vermochte. — § 5 ist die Gestalt der Buchstaben ge-
nauer angegeben und die Aussprache bestimmter bezeichnet. Das griechische
Alphabet mit Beisetzung der ältesten Buchstaben, eines Digamma (Stigma),
Koppa , Sandoricum usw. würde für Anfänger eine passende Vergleichung
mit dem hebräischen Alphabet und eine leichtere Erlernung desselben ge-
statten. Auszer den (3) durch eine andere Figur sich unterscheidenden
Finalbuchstaben könnten noch Vp^ als 1) der kleinste Buchstabe, 2) der
mit der grösten Unterlänge und 3) der mit der grösten Oberlänge namhaft
gemacht werden. § 5. 4) Abbreviaturen. Hinzuzufügen wäre: 'tt für
iijh*) und 'i für ^Hfy desgleichen ^ für btf z. B. b^tO*); auch bei
^nirn: 'to1) = "^rn. — § 7. Das Schema A ist vollständiger angegeben.
Noch genauer wären die Beisetzungen bei A (ii) 8. l\ Ui. — § 8. 2 TVH
rüach, beizufügen: nicht rucha zu lesen, oder, wie es die jüdischen Gram-
matiker wollen , fälschlich Ruwach. — g 9 ist bedeutend erweitert und
durch reichlichere Beispiele mehr verdeutlicht. Die 3 Vocalclassen sind
auf das Anschaulichste erklärt. Besonders ist bereits hier (Mehreres aber
§ 27) über die Entstehung des Segöl gesprochen. Ueber die Entscheidung
des Kamez und des Qame$ chatuph (wol besser Qome$) wird wegen der
gleichen Gestalt auf S. 29 als Ursache hingewiesen. Noch könnte aber
hier beigefügt werden , dasz wir daher im Griechischen aus dem Semiti-
schen entlehnte Wörter finden, die bald mit <x, bald mit o oder uu ge-
schrieben sind, z. B. 6pduj = 6pw von iian Raah, dagegen ßiumSc von
ST733 Bämäh, £6<poc von -pöBf Zäphön usw. S. 38. *Der Name fcttttj
wird auch K^lö geschrieben' (gedeutet unter Andern von Rabbi nowitz in
seiner eigentümlichen hebräischen Grammatik von a^ti Ritz, Loch),
fer ist seiner Ableitung und der eigentlichen Bedeutung nach zweifelhaft'
Es scheint aber doch die Ableitung von «ittj nichtig , als nicht völliger
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£. Rödiger: W. Gesenius* hebr. Grammatik. 311
Vocallaut, jeder andern vorzuziehen zu sein. — § 10. 2. Anm. <(S°wä chä-
teph.) Unter Nichtgutturalen' usw. b) Dieses geschieht aber, wie auch die
Beispiele zeigen c3irm smü)9 mehrenteüs bei den Sibüantibus. cDas
Chateph-Kamez — für das einfache Schwab Auch hier ist zu bemerken,
dasz dieses besonders bei den Sibüantibus und dem *i stattfindet, hier
sogar bei Chateph-Patach und möge Ps. 7, 6 citiert werden, da t)^ (wie
auch eine Lesart lautet) offenbar für tfi-f] zu lesen ist. — $ 12 und § 20
könnten in Betreff des Dagesch besser mit einander vereinigt werden. —
§ 15. Da auch in dieser neuesten Ausgabe dem Wunsche nicht willfahrt
worden ist, bereits hier die Penacuten Formen zu nennen, so kann Refe-
rent nur anrathen, bei einer neuen Auflage wenigstens die Paragraphen
für solche Fälle zu citieren. — Das sogenannte KJ^j, welches über 80
Mal, nach den Masorethen, vorkommen soll, halten ältere hebräische
Grammatiker für falsche Lesart. — § 17 ist auch das Kgöfi) (?^ftKä
ptösil) der Punkt mitten im ganzen Satz zu erwähnen. — ■ Bedeutend
verbessert sind die §§ 26. 27, besonders letzterer, wo selbst der Ueber-
gang der kurzen Vocale oder ihr Wegfall durch verändertes Silbenver-
hällnis deutlicher veranschaulicht worden ist. — § 28. 4. *SiIben die mit
2Consoaanten schlieszen.9 Passend wäre hier die vox memorialis : p^ ^n©
na. — II. Hauptteil. Formenlehre, oder von den Redeteilen. S. 75 usw.
— § 30. S. 78. Vgl. noch bei XFl treten, xp^xw (drücken desgl.) —
S. 86*) wird D^p^N Spr. 20, 31 nach Hitzig als entstanden aus trrft$
erklärt. Refer. stimmt diesem insofern bei, als wir in jüdischen Schriften
für D^ff^N auch D^pfba finden, aus religiösem Vorurteil, so wie 'tt für
fiirr und Y'a für 5i\' — § 42. 1. Das starke Verbum. Hier könnte die
Bemerkung vorangehen, dasz ein solches Verbum seine 3 Radicalen be-
halten müsse, mit Ausnahme der verba l"b und n"V, wo aber das Dagesch
compensativum eintreten musz. — Kleinere Verbesserungen finden sich
§ 47 usw. (Imperfectum). So ist auch § 51 *Niphal' der Charakter der
Conjugation mehr verdeutlicht. Desgleichen finden wir auch § 63, verba
primae gutturalis, einige Zusätze für ausgenommene Fälle. — § 72. Verba
l"*, 7. Genauer ist die Bemerkung über die Conjugationen Piel, Pual,
Hithpae*l. S. 140, 1 müste hinzugefügt werden: Dnto, vgl. S. 95 Drpü'V
und S. 141 ÖFtäJrt. — Auch der Zusatz bei den Verbis J-j"b über das ver-
längerte Imperfectum (S. 147) ist bei 6) mit Recht unter Bezug auf 48, 3
beigefügt worden. — Drittes Gapitel. Das Nomen. Die §§ 83. 84 ent-
halten angemessene Zusätze und abgeänderte Erklärungen. S. 159 — 162.
Die Angabe der verschiedenen Arten und Weisen, die Formen aufzuzählen,
ist sehr methodisch. § 84. 6 ist aber hier zu citieren S. 184. Parad. II.
Anmerk. Der Zusatz zu S. 163, 35 nennt mit Recht mehrere Quadrilit-
terae und eine Quinquelittera. — Auch § 85 'von schwachen Stämmen'
sind die Beispiele vermehrt worden. — Die Paradigmen der nomina mas-
*) Fürst (hebräisches Handwörterbuch) erklärt die Form nicht von
?Ä, indem er darunter einen König, der nicht Widerstand leistet, ver-
steht. Aber auch der König als oberster Richter kann Dsffbtt heiszen,
z. B. Exod. 21, 6.
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312 £. Rödiger: W. Gesenius' hebr. Grammatik.
culina sind unverändert geblieben. Die Form 055gt (früher tiäfp) fehlt
Auszer der Form *\b)2 dürften auch Formen von VtiJJ ^tip und fej
•^öß z. B. bart "joaunter a. ß. f. angeführt werden. vßei den Zahlwör-
tern ist wiederum für Mehreres auf die Syntax verwiesen worden. —
Viertes Capitel. Von den Partikeln. S. 198. § IOO. 3 Ö— an Substantiv.
Hier kann auch djtia (nach Fürst) füglich angereiht werden. Genes. 6, 3
* in Betreff der Verirrung^ § 100. 4 die Punctation des n interrogativum
ist näher erläutert. — III. Hauptteil. Syntax. S. 209. Eine Aenderung
des Bestehenden findet sich im Einzelnen. $ 108. 3 c, nomen rectum = ;
nomen compositum. (Der Kopf von Seeb und Oreb, für: die Köpfe.) Das-
selbe Idiom findet sich auch im Deutschen und im Französischen , z.B.
On fit couper la töte aux prisonniers , und z. B. Sie hatten alle den Kopf
(= die Besinnung) verloren. — § 109. 2 wäre beizufügen die Setzung
des Artikels für das pronomen personale, z. B. für iünöi ÖtoSrr das Leib-
rosz des usw. Die neue Ausgabe führt aber auch die ohne Artikel ge-
brauchten dichterischen Wörter: Diiin Mtftö usw. an. Auch sind mehrere
Beispiele beim Artikel, als abweichend vom Deutschen angeführt. Ver-
mehrt sind auch die Beispiele bei der Reclion des verbi , so § 118 Accu-
sat. 2. — Im § 121 sind immer noch Sätze wie: '»Stf d? ''S?.'^ als Aus-
nahmen erklärt. Streng genommen sind hier die pronomina personalia
separata als indeclinabÜia zu betrachten, die jeden Casus vertreten kön-
nen; oder sie sind zu übersetzen: Segne mich, auch ich — will den Se-
gen. * — § 125. Tempora. S. 240. Beispiele vom Perfectum und Imperfec-
tum als Gegensätze. Nach Ref. gehört auch ohnedies eine solche Auf-
fassung wie in Ps. 1 hierher. Der Mannigfaltigkeit wegen wechseln hier
Perfectum und Imperf. 'jjVfj usw. ' Heil dem Manne der nie gewandelt
hat', ybtvi *der stets Behagen finden wird*. — Auch die §§ 133. 135.
138 sind durch hinzugekommene Beispiele bereichert: bei fcOSi könnte
noch beigefügt werden, dasz Gonstructionen wie convenire und adire ali-
quem hier nicht stattfinden; also nur z. B. tp^tt Kä usw. — Kleinere
Zusätze finden sich bei der Syntax der Partikeln , unter Andern § 152.
Einige Vervollständigungen enthalten die Parad. der Verba. S. 298. ftH
(vielleicht besser bbj) , das Parlicip. med. o ist nicht beigesetzt. S. 308
böj. S. 312 nö. Statt Dn» lies Dnn (s. oben). S. 314 ä>7}. — Das
Register und selbst das Slellenregister haben eine Erweiterung erhalten.
— Da der Vf. durchschnittlich jedes dritte Jahr eine neue Auflage besor-
gen musz und fortwährend in verschiedenen fremden Sprachen Ueber-
setzungen von unserer Grammatik veranstaltet werden, so gibt dieses
einen unumstößlichen Beweis für ihre verbliebene Brauchbarkeit. Viel-
leicht müste aber noch Mehreres (wiewol emendiert zum Teil) aus Ge-
senius' Lehrgebäude der Grammatik einverleibt werden, was eine Syntaxis
ornata als Uebergang zur Stilistik bilden könnte.
Mühlhausen in Thüringen. Dr. Mühlberg.
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist Notizen. 313
Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, statistische
Notizen, Anzeigen von Programmen.
(Fortsetzung von S. 228.)
13. Koelh]. a) Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. In die
Stelle des als Gymnasiallehrer nach Elberfeld abgegangenen Dr.
Schneider, und. zugleich um die überfüllte Quinta in zwei Cötus
* zerlegen zu können, wurden Dr. Goldschmidt und Dr. Hollander
als wissenschaftliche Hülfslehrer berufen. Dem Gymnasiallehrer Dr.
Weinkauff wurde der Oberlehrertitel verliehen. Dr. Benguerel,
die Schulamtscandidaten Konen und Dr. Kette rheit traten als wiss.
Hülfslehrer ein. Lehrercolleginm: Director Prof. Dr. Herbst, die
Oberlehrer Professor Hosz, Prof. Pfarrius, Regierungsrath Grashof
(evang. Religionsl.), Oettinger (beurlaubt), Haentjes, Dr. Eckerts,
Feld, Dr. Weinkauff, Peltzer (kath. Rel.), die ordentl. Lehrer Dr.
Kocks, Berghaus, Serf, die Hülfslehrer Dr. Hollander, Gold-
schmidt, Dr. Benguerel, Konen, Zeichnenlehrer Nagel, Gesangl.
Gerbracht, Turnlehrer Angerstein. Die Schülerzahl ist nicht mit-
geteilt. Abiturienten: 29. — Den Schulnachrichten geht voraus: De
caesura versus hexametri poetarum Latinorum, quae est post quinti pedis
arsim. Scripsit Dr. W. Kocks. Particula prior, 15 S. 4. 'Omnem
de hac caesura quaestionem in duo capita distribui, quorum priore ex-
ponam, quibus conditionibus admittatur, altero poetas versus hexametri
Latini vim et naturam secutos hanc caesuram neglexisse ostendam.'
b) Katholisches Gymnasium an Marzellen. Der 4. ordentl.
Lehrer Dr. Charge' schied in Folge seiner Ernennung zum städtischen
Schulinspector aus seiner bisherigen Stellung aus. Zu vorläufiger Wahr-
nehmung der hierdurch erledigten Stelle wurde Brühl berufen, der
zuletzt an dem Gymnasium in Bonn beschäftigt gewesen war. Der
Schul amtscandidat Linnig wurde nach Vollendung seines Probejahres
zu einer commiss arischen Beschäftigung an das Gymnasium zu Trier
berufen. Dem Oberlehrer Pütz wurde das Prädicat eines Professors
verliehen. Behufs Abhaltung des Probejahres traten zu Anfang des
Schuljahres die Candidaten vanHengel und Goestrich ein. Lehrer-
colleginm: Director Ditges, die Oberl. Prof. Dr. Ley, Prof. Pütz,
Religionslehrer Dr. Vosen, Dr. Saal, Kratz, Dr. St ander, die
ordentlichen Lehrer Rheinstätter, Oberl. Vack, Oberl. Schalten-
brand, Gorius, Zons, wiss. Hülfsl. Brühl, die Probecandidaten
van Hengel, Goestrich, Schreibl. Baum, Zeichnenl. Dreesen,
Divisionsprediger Hunger (evang. Rel.). Schülerzahl gegen Ende des
Schuljahres: 338 (I« 40, Ib 33, II« 30, IIb 43, III 62, IV 39, V 62,
VI 49). .Abiturienten: 38. — Den Schulnachrichten geht voraus eine
Abhandlung des Oberlehrers Kratz: De Minervae interventu in Bomeri
Odyssea. 16 S. 4.
c) Katholisches Gymnasium an der Apostelkirche. Der
Schulamtscand. Dr. Kortum trat sein Probejahr an. An die Stelle des
nach Bonn versetzten Schulamtscandidaten Grundhewer trat mit dem
Beginne des neuen Schuljahres der commissarische Lehrer Bruders,
dem kurz darauf die 4. ordentliche Lehrerstelle definitiv übertragen
wurde. Am Schlüsse des Wintersemesters schied der Schulamtscandidat
Badorff nach Vollendung seines Probejahres aus; mit dem Beginne
des Sommersemesters trat der Candidat Niederländer sein Probejahr
an. Dem an der Anstalt fungierenden Candidaten Conrads wurde die
5. ordentliche Lehrerstelle definitiv übertragen. Lehrercolleginm: Dir.
S. Jahrb. f. Phil. u. Pftd. II. Abt. 1864. Hft. 5 u. 6. 21
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314 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen , Statist. Notizen.
Prof.- Bigge, die Oberlehrer Dr. Klein, Dr. Spengler, Kriege-
rn an n, Dr. E. Goebel (jetzt Gymnasialdirector in Fulda), kath. ße-
ligionslehrer Dr. van Ender t, die ordentlichen Lehrer Dr. Wahlen-
berg, Dr. Krausz, Dr. Caspar, Bruders, Conrads, evangelischer
Religionslehrer Dr. von Knapp, die Probecandidaten Badorff, Kor-
tum, Niederländer, Zeichnenlehrer Dre es en, Schreiblehrer Baum,
Gesangl. Kipper, Turnl. Angerstein. Schülerzahl: 285 (I 28, II» 23,
IIb 36, III 41, IV 46, V 63, VI 58). Abiturienten: 12. — Den Schul-
nachrichten ist vorausgeschickt: De varia discrepanimm in camdnibus
Horatianis scripturarum origine et emendatione. v Scripsit Dr. J. Klein.
22 S. 4. Der Verfasser ist, wie er selbst sagt durch He im so eth (die
Wiederherstellung der Dramen des Aeschylus, Bonn 1861, und: die in-*
directe Ueberlieferung des äschylischen Textes, Bonn 1862) auf die
Behandlung dieser Frage aufmerksam gemacht und zu vorliegender Ab-
handlung veranlaszt worden. Dasselbe Verfahren, welches Heimsoeth
zur Wiederherstellung der Dramen des Aeschylus angewendet hat, will
der Verfasser auch auf Horaz angewendet wissen. fAc primum, ut
totius libri (Heimsoeth's) summam paucis verbis complectar, veterum
commentariorum reliquias, cum in librorum marginibus, tum vero inter
ipsos versus servatas (quarum hae prorsus adhuc neglectae jacebant),
innumerabilem scripturarum antiquiorum earumque genuinarum, sed in
codicum textu qui dicitur jam diu corruptarum multitudinem nobis tra-
dere ostendit. Secundo loco felicissimorum hujus aetatis in arte critica
conatuum vestigia premens certae cujusdam viae rationisque fines de-
gcribit, ex qua graviorum illorum, in quibus critica adhuc maxime hae-
rebat, mendorum curatio petatur, eorum quidem quae non sunt descri-
bentium errore nata, sed ex ea re duxerunt originem, quod veterum
scripta in codicibus per multa saecuja ferebantur larga annotationum
copia ad marginem aut inter versus posita quasi saepta undique et ve-
stita* Neque vero minus flda sunt, quae tertio, quarto quintoque loco
posuit, subsidia atque adjumenta, quippe quae in eo cernuntur, ut pe-
nitus perspexerimus et metrorum leges numerorumque naturam et ra-
tiones, et liberum illum quem dicunt veterum in collocandis verbis mo-
dum, denique elocutionem cujusque scriptoris propriam. Quae omnia
cum subtiliter et copiose enucleavit, tum illustribus emendationum
exemplis ad summam evidentiam atque perspicuitatem adduxit.' fSta-
tim ad poetam Venusinum, ab Heimsoethio quidem in Graecis litteris
versante nön nisi obiter in singulis locis adhibitum, (ut digito monstra-
ret, omnia illa, quae de Graecis docebat, in Latinis quoque scriptis
locum habuisse), animum eo consilio applicavi, ut mendorum per multa
saecula in codicibus natorum varietatem ita distinguerem ac separarem,
ut turbam istam scripturarum discrepantium ad genera sua revocarem
eoqUe rem criticam et faciliorem redderem expeditioremque et simpli-
ciorem atque certiorem. Et profecto ne hodie quidem fomnia illa, quae
ex scriptorum codicum collatione clare et ultro se ingerunt, praerepta
jam esse et anticipata', id quod Bentleus de suo tempore contendit:
imo plurimum etiam nunc ex codicum scripturis recte intellectis diju-
dicatisque redundare salutis, hoc in Horatii quoque carminibus in animo
est ostendere. Etenim verissime Heimsoeth monuit, veram error es cor-
rigendi artem ex quaestione de errorum origine pendere. Ea vero
duplex potissimum fuit, cum altera mendorum pars ex calamo librario-
rum a vero aberrante fluxerit, altera ex interpretatione illa gramma-
ticorum, qui vejterum scripta in ipsis libris manu exaratis circumdare
commentariis suis solebant. Ut igitur primum utriusque mendorum ge-
neris differentiam ante oculos nobis ponamus, apertissima est curisque
saeculorum praeteritorum maxime tractata opima illa atque varia erro-
rum seges, quae librariorum negligentia, levitate, inscitia effloruit.
Quaecunque enim scribendo propagantur, cum negKgentiae errores in
se recipere soleant, tum accedit, quod veterum libri Ulis quidem |em-
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen. 315
poribus, quornm apographa ad nos pervenerunt, a soriptoribns transcri-
bebantur et reram antiquarum et linguae et artis non eatis intelligen-
tibus. Ita errores tum negligentia tum inscitia ortos ubique in libris
manu seriptis deprehendimus.' — Der erste Teil dieser für die Kritik
des Horaz so wichtigen Abhandlung schliefst mit den Worten: fQuae-
cunque adhuc attigi variarum scripturarum errorumque exempla,'ea ex
uno omnes fluxerunt fönte, ex interpretatione, quae in singularnm vocunt
formia, dictionis ratione grammatica verborumque collocatione vertatnr,
sive illa ab ipsis grammatieis profecta sive, quod idem est in hac causa*
a scriptoribus codicum grammaticorum vice fungentibus. Atque si mihi
das, et facilius et certius eas discrepantias dijudicari eosque emendari
error es, quornm Causam intellexeris originemque, non negabis, puto,
tali qualem incepi variorum interpretationis generum compositione at-
que comparatione rei criticae opportunam afferri posse lucem. In altera
commentatione locum illum multo graviorem fructusque pleniorem tra-
ctabo de ipsorum verborum sententiarumque interpretatione, variarum falsa-
rumque scripturarum procreatrice.'
14. Kbbubnaoh]. Mit dem Beginne des Schuljahres trat Dr. Hof-
mann, nachdem er sein Probejahr an dem Gymnasium zu Wetzlar ab-
solviert, als 5. ordentlicher Lehrer ein. Lehrercollegium: Director
Prof. Dr. Axt, die Oberlehrer Prof. Grabav, Prof. Steiner; Wasz*
muth, die ordentlichen Lehrer Dr. Dellmann, Möhring, 0x4, Dr.
Linz, Dr. Hofmann, Kaplan Bourgeois (kath. Bei.), Zeichnenlehrer
Kauf fmann. Schülerzahl: 203 (1 13, H 37, HI 35, IV 34, V 43, VI 41),
Abiturienten: 4. — Den Schulnachrichten geht voraus eine Abhandlung
vom Director Dr. Axt: Die Heilige Schrift das Buch der Bücher auch in
culturMstorischer, aligemein wissenschaftlicher Hinsicht. 68 S. 4.
15. Muenstibsifbl]. An die Stelle des nach Düren berufenen Dr.
Stahl trat aushilfsweise der Candidat A. Ho 11 er. Lehrercollegium:
Director Katzfey, die Oberlehrer Dr. Hagelücken, Dr. Hoch, Dr.
Mohr, Religionslehrer Harnischmacher, die ordentlichen Lehrer
Tr. Tnisquen, Gramer, Thürlings, die Oandidaten Holler und
Dr. Röckerath. Schülerzahl: 182 (I« 18, I»» 17, II* 40, II»» 43, HI 23,
IV 15, V 8, VI 18). Abiturienten: 17. — Den Schulnachrichten ist vor-
ausgeschickt eine Abhandlung des Gymnasiallehrers Gramer: jDe sena-
tus Romani prudentia. 20 S. 4. fItaque primum disseram de iis arti-
bus, quibus senatus ad regendum populum ac pleitem usus sit, deinde
qua ratione totum fere terrarum orbem in potestatem suam redegerit
exppnam.'
16. Neusz], In dem Lehrercollegium ist keine Aenderung einge-
treten. Dasselbe bilden: Director Dr. Menn, die Oberlehrer Dr. Bo-
gen, Hemmerling, Dr. Roudolf, Religionslehrer Dr. Kleinheidt,
Dr. Ahn, Quosseck, die ordentlichen Lehrer Waldeyer, Köhler,
commiss. Lehrer Windhauser, Musikdirector Hartmann (Gesang),
Schreib- und Zeichnenlehrer Küpers, Pfarrer Leendertz (evangel,
Rel.). Schülerzahl: 282 (I 39, II* 24, IIb 33, III 64, IV 37, V 46, VI 49).
Von den auswärtigen Schülern sind 47 Pfleglinge des erzbischöflichen
Seminarium Marianum. Abiturienten: 18. — Den Schulnachrichten geht
voraus eine Abhandlung des Religionslehres Dr. Kleinheidt: Die
Wunder und ihre Beweiskraft 16 S. 4.
17. Saabbrubckbn]. Nachdem Kaplan Wa wer eine andere Bestim-
mung' erhalten hstte, wurde dem Kaplan Riotte die Erteilung des kath..
Religionsunterrichts übertragen. Candidat O. Petry wurde provisorisch
als Lehrer hauptsächlich des Französischen und Englischen in den Real-
classen berufen. Lehrercollegium: Director Peter, die Oberlehrer
Prof. Dr.Schröter, Schmitz, Goldenberg, die ordentlichen Lehrer
Ihr. I*ey, Dr. v. Velsen, Küpper, Dr. Becker, Oberpfarrer Ilse
(Bei.) , Kaplan Riotte, Candidat Petry, Zeichnenlehrer Sehne bei,
Lehrer der Vorschule Hollweg. Schulerzahl: 164 (I 3, II 13, III «7,
21*
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316 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen y Statist. Notizen.
IV 16, V 23, VI 28, Vorsch. 64). Abiturienten: 2. — Eine wissenschaft-
liche Abhandlung ist den Schulnachrichten nicht beigegeben.
18. Tbieb]. Im Lehrercollegium haben im Laufe des Schuljahrs
folgende Veränderungen stattgefunden. Beim Schlüsse des vorigen Schul-
jahres schied Korzilius aus seiner bisherigen Wirksamkeit als erster
katholischer Religionslehrer der Anstalt, um einer Berufung in eine
Pfarrerstelle zu folgen. Seine Stelle wurde dem bisherigen Kaplan an
der Liebfrauenkirche zu Coblenz Stephinsky zuerst eommissarisch,
dann definitiv übertragen. Die Erteilung des evangelischen Religions-
unterrichts wurde dem neu ernannten evang. Pfarrer Klein übertra-
gen. Zu Ostern schied der commissarische Lehrer Kruse von der An-
stalt, um die ihm angetragene Rec torstelle an der neuerrichteten
höhern Bürgerchule zu Mayen zu übernehmen. An seine Stelle wurde
der Schulamtscandidat L innig berufen. Beim Anfange des Schuljahres
begannen die Candidaten Höffling und Petit, zu Weihnachten Cand.
Viehoff ihr vorschriftsmäsziges Probejahr. Letzterer trat aber schon
bald aus diesem Verhältnisse wieder aus und übernahm eine commissa-
rische Lehrerstelle an der hiesigen Realschule. Lehrercollegium: Dir.
Dr. Reisacker, die Oberlehrer Prof. Dr. Hamacher, Dr. König-
hoff, Houben, Flesch, 1. kath. Religionslehrer Stephinsky, die
ordentlichen Lehrer Dr. E. Hilgers, Oberlehrer Schmidt, Fisch
(2. kath. Religionsl.) , Blum, Dr. Conrads, Dr. Fritsch, Piro, Dr.
J. Hilgers, Superintendent Klein (evang. Rel.), die commissarischen
Lehrer Scherfgen, Dr. Wolff, Dr. Huyn, Dr. Wiel, Straubin-
ger, L innig, die Probecandidaten Höffling, Petit, Schreiblehrer
Paltzer, Zeichnenlehrer Kraus, Gesanglehrer Hamm. Schülerzahl:
518 (I* 31, Ib 46, II«* 31, II«* 25, II*1 34, IIb» 32, IH1 41, HP 47,
IV1 48, IV* 47, V1 39, V8 38, VI1 29, VI* 30). 168 Schüler waren
Alumnen des bischöflichen Convicts. Abiturienten: 35. — Den Schal-
nachrichten geht voraus eine Abhandlung vom Dir. Dr. Reisacker:
Der Todesglaube bei den Griechen, Eine historische Entwicklung, mit
besonderer Rücksicht auf Epikur und den römischen Dichter Lucrez.
47 S. 4.
19. Wesel]. Aus dem Lehrercollegium schied G-. L. Meyer; in
seine Stelle trat als jüngstes Mitglied G. L. Döring, zuletzt als wias.
Hülfsl. am Gymnasium zu Cleve beschäftigt. Lehrercollegium: Director
Domherr Dr. Blume, die Oberlehrer Prof. Dr. Fiedler, Dr. Heide-
mann, Dr. Müller, Dr. Frick, die ordentlichen Lehrer Dr. Ehr-
lich, Tetsch, Dr. Richter, Dr. Lipke, Döring, die auszerordent-
lichen Lehrer Pfarrer Sardemann (evang. Rel.), Kaplan Holt (kath.
Rel.), Gesangl. Lange, Zeichnenl. Düms. Schülerzahl: 198 (I 17,
II 22, ni 38, IV 33, V 48, VI 40). Abiturienten: 5. — Den Schul-
nachrichten geht voraus : Das Wycliffesche Evangelium Johannis im ßnf-
hundertsten Bande der Taucknitzer Collection of British autkor sf die Wy-
cliffesche Bibelübersetzung und das Verhältnis des ersteren zu der letzteren.
Von Dr. A. Richter. 20 S. 4.
20. Wetzlar]. Zu Ostern schieden aus dem Lehrercollegium der
erste Gymnasiallehrer Dr. Kirchner, welcher sich zeitweilig von der
schulmännischen Wirksamkeit zurückzog, der 2. G. L. Dr. Jäger, wel-
cher als Rector an das Progymnasium in Mors berufen war, und der
provisorisch beschäftigte Candidat Eben, der an die höhere Bürger-
schule in Lüdenscheid gieng. Durch die Berufung des Dr. Gerhard
von der Realschule in Siegen, des G. L. Meyer vom Gymnasium in
Wesel, sowie die provisorische Beschäftigung des Dr. Kluge wurden
die Lücken wieder ausgefüllt. Eine neue durch die Erweiterung der
Anstalt nötig gewordene Stelle wurde dem G. L. Lücke übertragen.
Schülerzahl: 130 (I 8, II 11, HI 34, IV 27, V 26, VI 24). Abiturien-
ten: 4. ■■ Den Schulnachrichten vom Director Lorenz geht voraus:
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, staust. Notizen« ßl7
Yuconäxou Tepacrivou €lcaYu>tf| dpi6|nnTlK^ recognovit et prae-
fatas est B. Ho che. 37 S. 4.
Themata für die deutschen Aufsätze der Abiturienten:
1. Aachen. Not entwickelt Kraft.
2. Bedburg. Wie gewinnen wir am besten die Achtung unserer
fitmenschen?
3. Bonn. Ueber die Ursachen der Unzufriedenheit der meisten
(enschen mit ihrer Lage.
j. L Cleve. cMein Freund, die goldne Zeit ist wol vorbei: | Allein
He Guten bringen sie zurück.' Goethe Tasso II 1.
\ 5. Co b lenz. Wer in die Zukunft schauen will, musz rückwärts
Wicken.
6. Duisburg. Nichts hebt uns mehr, als wahre Hochachtung ge-
pä grosze Männer.
7. Düren. Ueber den Nutzen des Studierens.
8. Düsseldorf, nipdacw b ' alel troXXd oibacKÖ^cvoc.
9. Elberf eld. Die Namen sind in Erz und Marmelstein so wol
ikht eingegraben, als in des Dichters Liede.
10. Emmerich. Nach welchen Gesichtspunkten sind die Menschen
IQ schätzen?
11. Essen. Willst du dich selber ei kennen, so sieh', wie die An-
lern es treiben; willst du die Andern verstehn, sieh1 in dein eignes Herz.
12. Kempen. TvaiGi cauröv. Wichtigkeit, Schwierigkeit der Selbst-
erkenntnis; wie erlangt man dieselbe? s
13. Köln, a) Friedrich- Wilhelms- Gymnasium. 1) Des Menschen
wahres Glück kommt nicht von Auszen. 2) In wie fern ist die Ent-
ladung eine wesentliche Bedingung des Lebensglückes?
b) Katholisches Gymnasium an Marzellen. Lust und Liebe sind die
fittige zu groszen Thaten.
c) Katholisches Gymnasium an der Apostelkirche. Ursachen und
Werth der Nacheiferung.
14. Kreuznach. Wer ist ein unbrauchbarer Mann? Der nicht be- .
fehlen und auch nicht gehorchen kann.
15. Münstereifel. Welchen Segen gewährt die Beschäftigung
ttit den Wissenschaften?
16. Neusz. Selbstprüfung und Selbstbeherschung die Grundlage
wahrer Weisheit und Tugend.
17. Saarbrücken. Der Krieg auch hat seine Ehre, der Beweger
des Menschengeschickes.
18. Trier. 1) An's Vaterland, an's theure, schliesz dich an, das
Aalte fest mit deinem ganzen Herzen. 2) Das Glück eine Klippe, das
Unglück eine Schule.
19. Wesel. Was versteht man unter Genie?
20. Wetzlar. Ueber den humanen Werth der gesellschaftlichen
Umgangsformen.
Themata für die lateinischen Aufsätze der Abiturienten:
1. Aachen. Quibus civium virtutibus res publicae optime conser-
iwntar.
2. Bedburg, Postrema duo rei publicae Bomanae saeoula et plena
| gloriae et feracia malorum fuerunt.
| 3. Bonn. Brevis enarratio secundi belli Punici.
4. Cleve. Recte Goethius dixit, necem Caesaris ineptissimum fuisse
'acinus, quod unquam patratum esset.
5. C ob lenz. Verum esse, quod Appius in carminibns ait, fabrum
1 W8e suae quemque fortunae.
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318 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen , Statist. Notizen.
6. Duisburg. Bomam urbem Romains condidit, Camillus reatitoit,
Cicero servavit.
7. Düren. De interitn libertatis Graeciae.
8. Düsseldorf. Marcet sine adversario yirtus.
9. Elberfeld. Oratio Caesaris Germanica milites ante pugnaa
Idisiavisensem exhortantis.
10. Emmerich. De Caesaris victoria ex Pompeianis reportata,
11. Essen. Recte Scipionem apud Livium XXVI 41 dixisse, eaa
softem Romanis esse datain, nt omnibns magnis bellis victi viciasent
doceatnr.
12. Kempen. Qnibns virtutibns veteres Romani eo tempore, quo
maxime florebat res publica, excelluerint.
13. Köln, a) Friedrich- Wilhelms-Gymnasium. 1) Verum non es»
illud celebratissimum dictum, ante mortem neminem esse beatum dicen*
dum, exemplis demonstratur. 2) Quantum amor patriae ad rem pubfr
cam Romanam stabiliendam et augendam contulerit, exemplis illastratofi
b) Katholisches Gymnasium an Marzellen. Praestantissimos quo*
que homines civium invidiae maxime fnisse obnoxios, doceatur exempla-
que illustretur.
c) Katholisches Gymnasium an der Apostelkirche. Quo, major gto-
ria, ea propior invidiae.
14. Kreuznach. De ingeniis ac moribus Septem regum Bomano*
nun breviter exponitur.
15. Münstereifel. Illud Sallustianum: Concordia res paryas eres-
cere, discordia maximas dilabi, memoria reruni a Graecis gestaram pro-
batur.
16. Neusz. Ubi pro labore desidia, pro continentia et aequitate
lnbido atque socordia invagere, fortuna simul cum moribus imnratatar.
(Sali. Cat. 2.)
17. Saarbrücken. Illustrentur causae, de quibus Livius bellni
Punicum alterum maxime omnium memorabile dixerit.
18. Trier. 1) Portes fortuna. 2) Concordia parvas res crescere*
discordia maximas dilabi, memoria rerum a Graecis gestarum probaten
19. Wesel. Marathonia victoria non exitus belli, sed multomajo-
ris causa.
20. Wetzlar. Themistoclis in consilio sOciorum ante pugnam apal
Salamina commissam oratio.
Fulda. Dr. Ostermann.
Kurze Anzeigen und Miscellen.
VI.
Aus Hittelfranken.
Auch diese Blätter gedachten, vgl. 1862, Heft 4 S. 173 ff., des sei
Christian Bomhard, weiland Rectors des Gymnasiums in Anabach,
als eines der ausgezeichneten Schulmänner unserer Zeit. Gerne wendet
sich die Seele aus dem Drang der wirren Gegenwart zurück und sucht
und findet Ruhe in Betrachtung des Bildes solcher Manner, welche, hoch-
verdient um die Mitwelt, fortleben in uns als beugen der Wahrheit mm
Prediger der Weisheit. Fast nichts ist wirksamer und kräftigender alf
die dankbare Erinnerung; je inniger und treuer die geistige Erbschaft
bewahrt wird, um so sicherer wächst das eigene Capital der Tugend
und Erkenntnis.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 319
So freut es uns, hier nachträglich anzeigen zu können, dasz die
Anstalt, an der Bomhard sein' Leben lang gewirkt hat, immer wieder
des seltenen Meisters in Wort und Schritt gedenkt. Vor allem sei es
gestattet, auf eine 'Memoria Bomhardii' hinzuweisen, welche der Gym*
nasialprofessor Dr. RudolfSchreiber im Herbstprogramm des J. 186S
veröffentlicht hat. Diese mit aller Wärme und Verehrung geschriebene
'Memoria' soll darthun, um die eigenen Worte des Verfassers zu ge-
brauchen: qualis ille fuerit homo inter homines, qualis literatus exsti-
terit in eruditorum numero, qualis magister fuerit in discipulorum coetu.
Der einfache Plan ist sorgfältig in der Sprache durchgeführt, und es
wird die Schrift manchem Schulmanne eine erwünschte Gabe sein.
Eine cVita Bomhardii9, vielmehr ein deutsches Lebensbild des
uns nnvergesslichen Mannes gibt wol einmal jener seiner Schüler, der
ihm und seiner Familie am nächsten verbunden war, als einen Schmuck
im Ehrensaal deutscher Lehrer.
An diesen Wunsch reihen wir noch einen andern aus vollem Herzen,
dasz der gegenwärtige Rector des Ansbacher Gymnasiums, Dr. Els-
perger, dessen 25 jähriges Rectorat vor 4 Wochen in stiller Weise
begangen wurde, wieder so von einem schweren Leid erstarken möge,
dasz ihm die Schule, welcher auch er sein Leben gewidmet, noch lange
jene Beweise der Dankbarkeit und Verehrung darbringen kann, welche
sie so gerne und so freudig ihrem viel bewährten Lenker bietet
München. Prof. Thomas.
VII.
25jähriges Amtsjubiläum des Rector Dr. Elsperger in Ansbach.
Je bescheidener die Feier selbst wegen der angegriffenen Gesund-
heit des allgemein verehrten Mannes sein muste, um so mehr wird es
am Platze sein, derselben in einer Zeitschrift zu gedenken, die für
Philologie und Pädagogik bestimmt ist, welchen beiden Elsperger sein
Leben mit vorzüglichstem Erfolge gewidmet hat. Die Liebe und Ver-
ehrung seiner Amtsgenossen und Schüler fern und nah hatte sich zu
einer würdigen Feier des 30. Januars d. J. vorbereitet, als die Wieder-
holung eines bedenklichen Anfalles die gröste Schonung der Kräfte
un ab weislich forderte. So konnten also seine gegenwärtigen Schüler
ihn nicht im festlich geschmückten Auditorium mit Gesang empfangen,
seine Amtsgenossen konnten nicht ihre Festgabe, einen silbernen Becher
mit entsprechender Inschrift, dort ihm darreichen, die Ernennung zum
k. Schulrath konnte nicht in feierlicher Weise durch Einhändigung des
allerhöchsten Rescriptes dort mitgeteilt werden — nur 3 Collegen und
3 Schülern war es gegönnt, die herzlichen Wünsche auszusprechen, die
alle für den theuren Mann hegten, und die schriftliche Begrüszung der
Uebrigen mit 2 poetischen Gaben und dem Geschenke zu überreichen.
Deputationen von Seite der Stadt Ansbach und von den Studierenden
zu Erlangen, früheren Schülern der Anstalt zu Ansbach, konnten zum
Teil erst mehrere Tage nachher dem Jubilar die freudige Teilnahme
der von ihnen Vertretenen ausdrücken. Das Gymnasium zu Erlangen
sendete eine lateinische Begrüszung, die Freunde und Verehrer in der
Ferne sendeten herzliche Briefe. Dies war die Feier eines Festes, an
dem laut aufrichtiger Dank ausgesprochen werden sollte für die treue
und geistvolle Erziehung und Bildung zur Reife für die Universität,
für die wolwollendctund treffliche Leitung des einträchtigen Zusammen-
wirkens der Amtsgenossen, an dem Wünsche aus ganzem Herzen- dar-
zubringen waren , dasz die Gesundheit des gleich edlen und bescheidnen
Mannes für eine lange Reihe von Jahren noch kräftig bleibe, dasz er
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320 Kurze Anzeigen und Miscellen.
nicht ermüden möge zu erziehen und zu leiten Und den Segen seines
Wirkens zu vermehren. Es sei darum Dank und Wunsch auch hier
ausgesprochen, denen, die Elsperger kennen, zur Freude und Genug-
thuung, den Uehrigen, dasz sie von der Auszeichnung des fein fühlen-
den Erklärers des Horaz und des vorzüglichen Lehrers und Rectors die
verdiente Kunde erhalten.
Ansbach. G. Fr.
vin.
Ludwig Döderlein.
Ludwig Döderlein*) wurde am 19. December 1791 zu Jena geboren.
Sein Vater war der bekannte Theolog, Kirchenrath und Professor Dr.
Johann Christoph Döderlein , seine Mutter Eleonore Rosine von Eckardi
Kaum ein Jahr alt verlor er den Vater; die Mutter aber vermählte sieh
einige Jahre später mit Friedrich Imanuel Niethammer, Professor der
Philosophie in Jena. 1804 folgte Niethammer einem Rufe als Professor
nach Würzburg. Dies gab Veranlassung den 13jährigen Sohn Ludwig
zu einem Onkel nach Windsheim zu bringen, wo er das damals be-
stehende Gymnasium besuchen sollte. 3 Jahre später kam Döderlein
auf die LandesBchule Pforta unter die Leitung von Ilgen und Lange.
Reif zur Universität kehrte er 1810 ins Elternhaus zurück nach Mün-
chen, wohin Niethammer schon 1807 als Central-Schul- und Studienratb
berufen war. Hier betrieb er unter Thiersch eifrigst das Studium der
Philologie , wozu er sich schon früher entschlossen und auch in Pforta
einen tüchtigen Grund gelegt hatte. 1811 zogen ihn die Namen Creu-
zer und Vosz nach Heidelberg. Im Herbste 1813 bezog er die Univer-
sität Erlangen und promovierte daselbst im nächsten Frühjahre. Hier-
auf begab er sich nach Berlin zu Böckh, Buttmann und Wolf, wodurch
er zugleich mit einem Kreise jüngerer, nachher berühmter Philologen
in innigen Verkehr kam. Dort erhielt er 1815 ohne noch ein Examen
bestanden zu haben, unerwartet einen Ruf als Professor der Philologie
an die Akademie in Bern. Er nahm den Ruf an und wirkte in Bern,
bis ihm 1819 das Rectorat des Gymnasiums und eine ordentliche Pro- \
fessur der Philologie an der Universität in Erlangen übertragen wurde. |
Einige Jahre später erhielt er auch das Directorium des philologischen
Seminars. Und in dieser Doppelstellung blieb er fast bis an sein Ende.
Am 8. Nov. 1862 wurde er in Anerkennung seiner 43jährigen ruhmvollen
Thätigkeit unter Verleihung des Verdienstordens der bayerischen Krone
seiner Functionen als Rector und Professor des Gymnasiums enthoben;
aber schon am 9. Nov. des letzten Jahres starb er in Folge eines Ge-
hirnleidens nach kurzem Krankenlager in einem Alter von nicht ganz
72 Jahren.
Abgesehen von den vielen Programmen, Gelegenheitsschriften und
sonstigen kleineren Arbeiten bilden seine Hauptwerke: die Ausgaben
des Oedipus Coloneus, Taoitus, Horaz (mit deutscher Uebersetsnng),
die lateinischen Synoymen und Etymologien, das homerische Glossar,
das lateinische Vocabularium , die deutsche Mustersammlung, die Reden
tmd Aufsätze, und die öffentlichen Reden. Zuletzt beschäftigte ihn Ho-
mer's Ilias, von welcher die erste Hälfte bereits im August v. J. aus-
gegeben, die zweite aber, da das Manuscript bei Döderlein's Ableben
•) Freilich ist es schwer von einem so reichen Leben eine kurse
Skizze zu entwerfen; indes da eine ausführliche Biographie, wie ich
höre, sicher erwartet werden darf, so mag für den Augenblick folgen-
des genügen.
*
Kurze Anzeigen und Miscellen. 321
teils schon in der Druckerei war teils ausgearbeitet vorlag, demnächst
erscheinen wird, ein würdiges Denkmal des Entschlafenen.
Döderlein hat sich zunächst als Gelehrter bekannt gemacht,
wenn sich auch genau genommen gerade bei seiner Individualität eine
strenge Scheidung des Gelehrten und Lehrers vom Menschen über-
haupt kaum durchführen läszt. Denn er war immer und überall der
gleiche, und eben in dieser innigen und vollständigen Harmonie liegt
der Zauber seines Wesens. Reichtum und Tiefe des Wissens, Schärfe
und Klarheit des Denkens, Schönheit und Präcision der Darstellung
sind Eigenschaften, die ihn vor Vielen auszeichnen und ihm unter den
Vertretern der deutschen Wissenschaft für immer einen der ersten Plätze
sichern. Kein Teil der Altertumswissenschaft war ihm fremd, jedoch
verweilte er vorzugsweise bei den Schriftstellern oder Disciplinen, die
seinem natürlichen Wesen am nächsten standen. Horaz und Homer,
Tacttus und Thucydides sind seine besondern f Freunde' gewesen , sowie
Etymologie and Synonymik seine liebste Beschäftigung. Diesen widmete
er seine Musze, diese bilden den Mittelpunkt seiner regen und viel-
fachen litterarischen Thätigkeit. Und gerade diese innere geistige Ver-
wandtschaft zwischen Döderlein selbst und dem jedesmaligen Stoffe, den
er behandelt, ist es, welche einerseits den Leser fesselt, andrerseits
seinen Werken den hohen Werth verleiht. Oder wäre es ihm sonst
möglich gewesen die innersten Gedanken des Dichters zu erlauschen
und als Ueb ersetz er Meisterwerke zu schaffen? Darum verlor er sich
auch bei der Interpretation alter Schriftsteller nicht in Unwichtiges
und Kleinliches , benützte sie noch weniger als Unterlage eignen Witzes:
er war begeistert für das Altertum, innig mit dem Classiker verwach-
sen, liebte ihn wie einen Freund, und suchte dadurch, dasz er andere
einen Blick in das innerste Wesen seines Lieblings werfen liesz, auch
sie für diesen zu gewinnen. Die Alten sind treue Freunde , sagte Dö-
derlein öfter, aber sie kommen uns nicht entgegen und fallen uns auch
nicht gleich tun den Hals, sondern ihre Freundschaft will erobert sein.
Er hatte dies an sich selbst erfahren. Schon als Knabe von 13 Jahren
sitzt er in Windsheim hinter seinem Virgil und Livius und läszt nicht
nach, bis er den Sinn seines Autors richtig erfaszt hat. Wie viel mehr
in Schulpforte! Fast alle Briefe an seine Eltern — und er schrieb
regelmäszig jede Woche — zeugen für sein ernstes Studium und seine
Begeisterung für die Classiker. Neben Homer reizt ihn besonders So-
phokles und die Tragiker, und es wurde damals schon mancher Stoff
gesammelt zu seiner spätem Doctordissertation und Ausgabe des Oedipus
auf Kolonos. Nicht selten geht er um 2 oder 3 Uhr Morgens an die
Arbeit: je früher er aufsteht, desto aufgelegter ist er den ganzen Tag.
Und diese Arbeitslust hat ihn nie wieder verlassen. Selbst auf der
Beise war er wissenschaftlich thätig und in Begleitung seiner alten
Freunde. Er meinte auch, dasz diese gerade deswegen den Namen
Classiker verdienten, weil sie, je öfter man sie lese, desto besser ge-
fallen. Gleichwol achtete» er ernstlich den eignen Fleisz gering, rühmte
jedoch gern die Ausdauer der andern. So kann es nicht Wunder neh-
men, dasz Döderlein bei seiner Empfänglichkeit und Hingebung den
edlen Geist, welchen das Altertum athmet, ganz in sich aufgenommen
hatte, ja so zu sagen das ideale Altertum in ihm verkörpert war, eine
Erscheinung, welche trotz der zahlreichen Vertreter altclassischer Stu-
dien immerhin zu den Seltenheiten gehört.
Mit gleichem Rechte konnten ihn die deutschen Classiker ihren
grösten Verehrer und vertrauten Freund nennen. Goethe und vor all^en
Schiller kannte er wie vielleicht Niemand mehr. Wie es unmöglich
war irgend eine Stelle des Horaz anzuführen ohne dasz er fortfahren
m0110*6'. ■*> übernahm er, wenn manchmal in kleinerem Kreise eine
Tragödie von Schiller gelesen wurde, eine der Hauptrollen und sprach
sie, wenn es ihm einfiel, auswendig. Man vergleiche nur die Bede,
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322 ' Kurze Anzeigen und Miscellen.
welche er zur Feier von Schillers hundertjährigem Geburtstage gehal-
ten hat. War es der Inhalt, war es die Form, die sie vor allen aus-
zeichnete und ihm hundertfältige Beweise der Anerkennung und des
Dankes eintrug? Das Feuer der Begeisterung für unsern deutsehen
Dichter, die Wärme der Empfindung und die lebendige Erfassung sei-
nes innersten Wesens ist es, die aus jedem Worte spricht und Inhalt
und Form die seltene Vollendung gegeben hat Und wie frühe erwachte
diese Lust am Schönen ! Niethammer stand in Jena in vielfachem Ver-
kehr mit Schiller, Goethe, Fichte, Hegel und Schelling. Schiller Belbst
verrieth, wie Döderlein in jener Bede einmal sagt, dem neugierigen
zehnjährigen Knaben die Geheimnisse seines Arbeitstisches, in welcher
Art er die Geschichte Tell's auf die Bühne bringen, ob er den grausen-
haften Apfelschusz zur Anschauung kommen oder nur erzählen lassen
werde. Und schon 1804 schreibt Döderlein an seine Mutter: 'Im Wil-
helm Teil kann ich nicht genug lesen; vorzüglich der schöne Monolog
gefallt mir, ehe er den Landvogt erschieszt, und des Landvogts Bede,
wie Teil schieszen soll ....
Er rühmte sich
Auf ihrer Hundert seinen Mann zu treffen —
Jetzt Schütze triff und fehle nicht das Ziel!'
Denken wir uns dazu ein warmes deutsches Herz, begeistert für die
nationalen Tugenden der Ehre, Wahrhaftigkeit und Treue, eine kind-
lich reine Seele, ein feines Gefühl für Angemessenheit und Schönheit
des Ausdrucks , verbunden mit einem tiefen Verständnis der Regeln der
Kunst und einer seltenen Beherschung der Sprache so wie einer uner-
müdlichen Sorgfalt in der Ausarbeitung, so begreifen wir, wie Döder-
lein als Redner den Zuhörer mit sich fortreiszen und seine redneri-
schen Schöpfungen selbst auf eine Stufe der Vollendung erheben konnte,
welche alle bewundern, viele erstreben, wenige zu erreichen vermögen.
Höchstens könnte man bedauern, dasz ihn die Natur nicht mit einem
klangvollen Organe ausgerüstet hatte, so sehr auch der feine, ge-
schmackvolle und lebendige Vortrag , so lange er sprach, jenen Mangel
vergessen liesz.
Ist es unter diesen Verhältnissen nicht geradezu als ein besonderes
Glück zu betrachten, dasz Döderlein auch den Beruf zum Lehrer und
Erzieher in sich fühlte, und ihm in seiner Stellung als Rector und
Professor auch reichlich Gelegenheit gegeben war sein Talent zu ver-
werthen? Besasz er doch das Rüstzeug eines Lehrers, wie es nicht
schöner sich denken läszt, und war in allem selbst das edelste Vorbild.
Er hatte die Lieblichkeit humanistischer Bildung gekostet, den ver-
edelnden Charakter altclassischer Sprachen und Schriften erfahren, und
war uneigennützig genug den zarten Knaben wie den reiferen Jüngling
einzuweihen in das Geheimnis menschlichen Glückes, wie er es dem
Leben im Laufe der Jahre abgelauscht hatte. Geistvoll im Unterrichte
suchte er mit sicherm Tacte den Stoff zu begrenzen und in somati-
scher Weise durch einfache, lichtvolle und allgemein fesselnde Be-
handlung den Schüler in das Verständnis einzuführen. Er verstand zu
fragen und verlangte eine klare und schöne Antwort. Gründliches Ler-
nen schien ihnr unerläszlich, fern von Schein und Flitter; doch war er,
wo er s Ernst merkte, auch mit weniger zufrieden. Daneben Freiheit
mit strenger Ordnung und Zucht, die er gern löbliche Pedanterie nannte.
Er war unerbittlich gegen Indolenz , Charakterlosigkeit und Lüge , Un-
sittiichkeit und Gemeinheit. Wie überall, verfolgte er auch hier das
schönste Ziel. In Liebe mit Schule und Schüler verbunden empfing er
Gegenliebe. Wie heute seine ältesten Schüler sich mit Freude der
Schulzeit erinnern, so werden die jüngsten noch in späten Jahren Bei-
ner in Treue gedenken. Aber es war auch eine Lust den groszen Mann
im Verkehr mit der Jugend zu beobachten, wie er das Kind und den
Jüngling gleich richtig zu behandeln, bald zu belehren bald zu begei-
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 323
fitem, hier zu ermahnen, dort zu lohen, diesen aufzurichten, jenen nie-
derzuhalten wüste. Selbst die Strafe liesz man sich gern gefallen, weil
man sich ihm gegenüber der Schuld bewuszt war und durch die nötige
Sühne wenigstens seiner Achtung sich wieder versichern wollte.
Wie im Schulzimmer, so war er im akademischen Hörsaale, wenn
er auch vielleicht noch Heber in jenem verweilte, wie er sich denn
selbst öfter einen Schulmeister nannte. Ausgezeichnet waren die
Vorlesungen über die Theorie der redenden Künste , vergleichende Syn-
tax der lateinischen und griechischen Sprache, Tacitus und Thucydides.
Wie er selbst das Altertum nicht aus Grammatik und Handbuch ken-
nen gelernt hatte , so empfahl er stets eifrigste Leetüre. Auch Studen-
ten examinierte er gern, um ihnen nachher mit Rath und That an die
Hand zu gehen , oder sie doch vor allzugroszer Sicherheit zu bewahren.
Besonders waren es angehende Philologen, zu welchen er sich hinge-
zogen fühlte, und die, welche ihm näher standen, wissen was er ihnen
war. Döderlein liebte frischen jugendlichen Umgang; er teilte gern
mit und suchte, selbst durchdrungen von der Heiligkeit, seines Berufs,
dem Vaterlande tüchtige und würdige Lehrer zu bilden; und da er mit
Recht beim Unterrichte auf Anregung das gröste Gewicht legte, so
muste gerade der persönliche Umgang besonders bildend sein.
Dasz er in gleichem Sinne als Rector die Schule nach Auszen
und Oben vertrat, bedarf kaum der Erwähnung. Er ist der eigentliche
Schöpfer des Gymnasiums in Erlangen; er hat es trotz mancher Kämpfe,
welche er namentlich in der ersten Zeit zu bestehen hatte, zu seiner
Höhe emporgehoben und ihm unter den Lehranstalten Bayerns eine her-
vorragende Stellung verschafft.
Ebenso galt er als Vertreter der Universität , der er im Leben eine
seltene Zierde war, durch seinen Tod aber eine unheilbare Wunde ge-
schlagen hat Als Professor der Eloquenz sprach er im Auftrage des
Senats bei jeder öffentlichen Feier und wohnte wiederholt dem Jubi-
läumsfeste auswärtiger Universitäten, wie Freiburg, Greifswald und
Jena, als Abgeordneter bei.
Bei aller Verehrung, Liebe und Auszeichnung, deren er sich von
allen Seiten zu erfreuen hatte, blieb er frei von Eitelkeit oder Ehrgeiz.
Obgleich er allgemein als ein Altmeister seines Faches betrachtet, von
mehreren Akademien zum Mitglieds erwählt, von seinem Könige zum
Hofrath und Ritter des Ordens vom heiligen Michael , des Maximilians-
ordens für Kunst und Wissenschaft, und des Verdienstordens der baye-
rischen Krone ernannt war, so führte er doch selbst seine Leistungen
immer auf ein bescheidenes, Masz zurück und verlangte von der Nach-
welt etwa nur das Zugeständnis, dasz er sich stets leicht habe über-
zeugen lassen.
Döderlein war ein seltener Mensch, und es will scheinen als ob er
gerade als Mensch, wie er sich zeigt in der Familie oder imgröszern
Kreise, am höchsten stehe. Hier konnte er sein ganzes Wesen ent-
falten. Ernst und Humor bildet den Grundzug seines Charakters. Im-
mer heiter konnte er leicht andere erheitern; dabei in hohem Grade
mild und gutmütig, zartfühlend und tief sittlich, kindlich fromm und
harmlos, streng rechtlich und gerade. Selbst rein sah er die Welt nur
im reinsten Lichte und urteilt stets liebevoll und wolwollend über an-
dere, über sich aber scharf und streng. Kein hartes Wort kam über
seine Lippen oder durfte in seiner Gegenwart gesprochen werden. Re-
dete er ernst, so that er es, weil eine bittere Arznei auch eine wirk-
same wäre, unterliesz jedoch nie auch eine mildernde Bemerkung hin-
zuzufügen und so das Ganze etwas angenehmer zu machen. Beredt im
Lobe tadelte er selten und kurz: er war kein Sittenprediger. Am
liebsten bediente er sich dann einer Sentenz. Wie oft hörte man ihn
sagen:
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324 Kurze Anzeigen und Miscellen.
<Gut sein, gut sein ist viel gethan,
» Erobern ist nur wenig;
Der König sei der beste Mann,
Söust sei der Bess're König.'
Oder: fFromm sein ist ein schönes Kleid ; je mehr man es trägt, desto
besser es steht.' Ueberhaupt war er bei seiner Belesenheit und Ver-
trautheit mit den Classikern reich an Kernsprüchen , und diese verfehl-
ten bei seiner Verwendung nur in den seltensten Fällen ihre Wirkung.
Wohin er kam, wurde er mit Freuden empfangen, wie er auch selbst
Geseilschaft liebte und suchte. Stets geistig angeregt und anregend
belebte er jedes Gespräch und gab ihm, ohne dasz er es suchte, eine
geistreiche Wendung, die immer einen tieferen Findruck zurückliesz.
Er hatte ja für alles und jedes Interesse und unterhielt sich leicht und
ungezwungen mit Hoch und Nieder, Jung und Alt. Wie schön konnte
er auch erzählen. Mehr als einmal klagte er über die schnelle Eisen-
bahn und lobte den langsameren Postwagen , der ihm bei seinen vielen
Reisen so manchen lieben Freund gewonnen hatte. Und wer es weisz,
wie treu er Freundschaften pflegte, der versteht auch was das sagen
wollte. Nicht blos an Altersgenossen, Jugendfreunden, Lehrern oder
Schülern hing er mit inniger und aufrichtiger Liebe, nein, jeder Tag
konnte ihm einen neuen Freund zuführen, dessen Bekanntschaft er
wenigstens durch einen gelegentlichen Besuch oder Brief zu ehren und
zu erhalten suchte. Daher seine grosze und gewissenhafte Correspon-
denz , sowie • häufige Veranlassung zu Besuchen und Reisen. Und es
war für ihn dies alles kein Zeitverlust, sondern er kehrte vielmehr von
diesem heitern und reinen Lebensgenüsse immer neugestärkt zum Ar-
beitstische zurück und hat sich so trotz häufigen kurzen Unwohlseins
bis in die letzten Tage eine Frische und Kraft des Körpers und des
Geistes bewahrt, die oft genug bewundert wurde. Erhielt er selbst
Besuch, so war er dankbar und kargte nicht mit der Zeit. Er übte die
ausgedehnteste Gastfreundschaft, und es waren die Wochen zu zählen,
in welchen kein Gast im Hause war. Welchem Gaste aber ist es bei
dem Wirthe nicht wol geworden? oder wer hat nicht das schönste Bild
häuslichen Glückes mitfortgenommen? Döderlein war dreimal verhei-
rathet und hinterläszt 10 Kinder. In ihrer Mitte stand er wie ein Pa-
triarch, und man konnte später seinem glänzenden Auge die Freude
ansehen, wenn er bei einem Familienfeste oder einer von ihm zufällig
veranstalteten Zusammenkunft wieder einmal alle Seinigen um sich ge-
schaart hatte , wie denn auch nichts in der zahlreichen Familie vorkam,
obgleich die Kinder fast alle längst selbständig sind, um das er nicht
wüste oder befragt war. Alle trug er auf dem Herzen, ihr Wohl und Wehe
beschäftigte ihn bei Tag und Nacht; und wie er selbst über eine Klei-
nigkeit sich kindlich freuen konnte , so schien ,es ihm das gröste Glück
andern Freude machen zu können, selbst wenn er die Möglichkeit mit
Opfern erkaufen muste. Und wie jugendlich zärtlich und feurig liebte
er die Gattin, so dasz man versucht war, die Ehe für einen fortdauern-
den Brautstand zu halten! So schien es ihm Anfangs auch unmöglich
einen Sohn als Missionar nach Indien ziehen zu lassen und sich so für
immer von ihm zu trennen; doch war er zu sehr Christ und hatte eine
zu grosze Achtung vor der persönlichen Freiheit, um nicht schlieszlich
auch dazu seinen väterlichen Segen zu erteilen. Mit unglaublicher
Pietät hing er seit den Tagen der frühesten Kindheit an seinen Eltern,
vornehmlich an seiner rherlichen' Mutter, und nannte die theuern Na-
men nie ohne Rührung und Dank; und an ihm selbst hingen in treuer
Liebe die Seinigen und haben ihn mehr als verehrt.
Nun ist Döderlein heimgegangen; möge ihm, dem Unvergeßzlichen,
ein liebendes und treues Andenken bewahrt bleiben.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 325
IX.
Den Manen Ludwig Döderlein's.
Auch er, auch er von uns gegangen!
Der greise Meister mit den Wangen,
Drauf ew'ger Jagend Blüte lag!
Der Mann mit seinem tiefen, klaren,
Lebend^en Aug', dem wanderbaren
Wort, das der Lippe nie gebrach!
Der Mann mit seiner rahig lichten,
ErhaVnen Stirae, draus das Dichten
Des hohen Denkers mächtig sprach!
Da seine Augen nun entschliefen,
Wer führt, wie er, ans in die Tiefen
Des Geistes ein der alten Zeit?
Wer weisz, wie er, die Lichtgestalten
Von Rom und Hellas zu entfalten?
Zu hüllen so in neues Kleid?
Wesz Geist ist so vom Hauch des Schönen
Durchweht, wesz Herz an Zanbertönen
So reich, wesz Mond ist so geweiht?
An Deiner Wiege stand die Mose,
Verklärter Meister, and zam Grasze
Hat hold ihr Antlitz Dir gelacht;
Sie netzte Auge Dir und Lippe
Mit Götternasz aus Aganippe
Und hat Dir Herz und Sinn entfacht.
Indesz die Andern mühvoll ringen
Durch dunkle Schatten, trugen Schwingen
Dich leicht empor zur hellsten Pracht.
"Drum war Dein Werk so hoch gesegnet,
Drum fühlte, wer Dir nur begegnet,
Von Dir sich wunderbar entflammt!
Drum war Erwärmen und Erheben,
Drum war Begeistern und Beleben
Dein selt'nes, einzig schönes Amt!
Sprach doch aus Deines Auges Grunde,
Flosz doch von Deinem heitern Munde
Nur, was dem Göttlichen entstammt.
Und mocht' auch wol die armen Seelen
Dein kecker Witz mitunter quälen,
Sie schufen selbst sich nur die Qual;
Wer in Dein Wesen je gedrungen,
Der fühlt1 auch ihn der Lieb' entsprungen •
Kein spitzer Pfeil, ein milder Strahl!
Ja, wer Dich recht erkannt, der sagte,
Ging er von Dir, dasz um ihn tagte
Wie Morgenroth es überall.
Ja wundersam und vielgestaltig,
Ja zauberhaft und urgewaltig
Hast Du die Herzen stets bewegt;
Bang fühlen drum das Herz wir klopfen,
Die Thräne heisz vom Auge tropfen,
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326 Kurze Anzeigen und MisceUen.
Da nun die kühle Gruft Dich hegt.
Doch heilig bleibt uns stets Dein Name,
Und ewig lebt der edle Same,
Den Du in unsre Brust gelegt.
Und ist aus Aethers leichten Auen
Es Dir vergönnt herabzuschauen,
Verklärter Geist, auf unsre Nacht:
Lasz Dir den schlichten Kranz gefallen,
Unwürdig Dein wol, da die Hallen
Der Zeit Dein Ruhm durchtönt mit Macht,
Unwürdig, doch als frommes Siegel
Der Lieb' und Dankbarkeit dem Hügel
Des theuern Meisters dargebracht!
Memmingen. Heinrich Stadelmann.
X.
Viro Doctissimo et Illustrissimo Praeceptori Dilectissimo
Dr. Christophoro Stephano Elsperger
Gymnasii Onoldini regimen
Ante hos viginti quinque aunos susceptum rite pieque congratulatur
' Henricus Stadelmann.
Quid vuitus hilares, quos videt undique i
Anspacense hodie Gymnasium, volunt?
Quid sacraeque preces festaque munera,
Quae coetus pius exhibet?
Quid rursus citharam sepositam diu
Nostram sollicitat? Vir V enerabilis ,
Custos, ecce, scholae nobilis inclytae
Solennem celebrat diem,
Vir, quem sancta fides nudaque veritas,
Quem constans gravitas, quem sapientia,
Quem cura officii sedula traditi
Late conspicuum facit«
Salve laeta dies, quae tribuis duci
Acris militiae debita praemial
Quae, si vota mihi sunt rata, vividum
Spectas ae vegetum seneml
Heu, nobis quod idem non licet! Hie proeul
Discretus faciem cernere candidam,
Doctor Care, Tuam et pignora pectoris
Grati ferre Tibi vetor.
Et quot, quanta Tibi munera debeo!
Tu doctis coluisti ingenium artibus,
Tu rectis animum moribus, Optime,
Finxisti et studiis bonis!
Ergo montibus ac fluminibus licet
Divisus spatii rumpere vineula
Tentabot liquidum gnara per aerem
Ferri mens aderit Tibi
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 327
Gratantttmque choro mixta preces pias
Fandet, Gare, et: Io, dicet, honoribus
Gaude promeritis , Duz juvenum bone, et
Audi vota lubens mea!
Virtutis vigeas ac Sophiae diu
Cultor, gymnasii dulce decus Tui,
Doctarum columen praevalidum artium,
Firmum praesidium domusl
Memmingae mense Januario 1864.
XI.
Kurze theoretisch-praktische Grammatik der neugriechischen Sprache
in ihrem Verhältnisse zur altgriechischen nebst einer Chrestoma-
thie herausgegeben von Dr. A. Th. Peucker. Breslau 1863.
Der Herausgeber dieser Grammatik ist, so viel wir wissen, seit
längerer Zeit Lector der neugriechischen Sprache an der Universität
bu Breslau und hatte bei der Herausgabe seines Werkchens, dessen
grammatischer Teil übrigens der Kürze halber nur die Formenlehre
enthält, die Absicht, <den Kennern des Altgriechischen Gelegenheit zu
geben , sich wenigstens eine oberflächliche Kenntnis des Neugriechischen
zu erwerben, dann aber auch die, die sich mit demselben etwas ge-
nauer beschäftigen wollen, auf die dazu unentbehrlichen Hülfsmittel
aufmerksam zu machen' (S. V f.). Zwar kann allerdings die Gramma-
tik selbst (die nur 58 Seiten umfaszt) unmittelbar blosz eine sehr ober-
flächliche Kenntnis der neugriechischen Sprache vermitteln; indesz musz
auch schon diese genügen , wenn sie zugleich zur Erkenntnis der nicht
geringen Vorteile führt, welche das Studium jener Sprache im' Allge-
meinen den Sprachforschern, besonders aber den Hellenisten gewährt.
Der Herausgeber spricht sich darüber im Vorwort, nach des Pariser
Hellenisten Hase Vorgang, aus, und gewiß können namentlich die Hel-
lenisten an einzelnen Beispielen, wie auch schon diese Grammatik sie
ihnen darbietet, die innere Verwandtschaft der neuen Sprache mit der
alten hinreichend kennen lernen. Noch mehr würde dies freilich auf
dem' Gebiete der Lexilogie der Fall sein. Lassen wir denn also der
guten Absicht des Dr. P. alle Gerechtigkeit widerfahren, so sind wir
doch der Meinung, dasz die Ausführung in manchen Beziehungen zu
wenig gründlich ist, und dasz Manches — besonders in dem Verhält-
nisse der neugriechischen Sprache zur altgriechischen — schärfer und
klarer hätte nachgewiesen und dargelegt werden sollen. Dabei ist der
Herausgeber teilweise zu wenig selbständig verfahren, was besonders
auch von der Chrestomathie gilt, die, wenn nun einmal so etwas hier
gegeben werden sollte, wenigstens durch ihre Auswahl dem Zwecke
besser entsprechen muste. Auch sind die dort mitgeteilten biographisch-
litterarischen Notizen (eben so die litter arischen Angaben: (Zur Lite-
raturgeschichte', S. VH f.) häufig gar zu oberflächlich und ungenügend,
und die Auswahl erscheint im Einzelnen nicht ganz gerechtfertigt.
Warum sind z. B. die beiden Sutsos gänzlich übergangen? In der Recht-
schreibung der neugriechischen Eigennamen fehlt es an der nötigen
Consequenz. Diese Namen müssen notwendig nach der reuchlini sehen
Aussprache behandelt, also auch nach dieser geschrieben werden; folg-
lich Korais (nicht Koray, noch weniger Coraes), eben so Risos (nicht
Rhizo, vergl. S. 2 über die Aussprache des Z), usw. Trotz dem Allen
wünschen wir der vorliegenden Grammatik wegen der guten Absicht bei
ihrer Herausgabe, die sich durch sich selbst rechtfertigt, diejenige
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328 Kurze Anzeigen und Miscellen.
Beachtung, die sie immerhin verdient, and dasz sie namentlich den
Nutzen gewähre, den sie zu gewähren vermag.
K.
XII.
Grundrisz der Naturlehre zum Behuf e des populären Vortrags dieser
Wissenschaft ausgearbeitet von G. F. H. Scholl, Dekan, Pfar-
rer in Walddorf bei Tübingen. Mit 88 Holzschnitten. Sechste,
mit einem chemischen Theil vermehrte Auftage. Ulm 1863, Ver-
lag der Wohlerschen Buchhandlung. (190 S. 8). Preis 16 Ngr.
Das Erscheinen in sechster Auflage zeugt für die Brauchbarkeit
dieses ursprünglich für den Unterricht in einer höheren Töchterschule
ausgearbeiteten Leitfadens, der besonders in Süddeutschland auch Ein-
gang in zahlreiche Bürgerschulen und Schullehrer-Seminarien gefunden
hat. Zum Commentar für den Lehrer kann die 'gemeinfaszliche Natur-
lehre' desselben Verfassers dienen, als deren Auszug die Ausgabe des
Leitfadens bezeichnet wird. Die Auswahl des Stoffes entspricht dem
Zwecke. Die Methode ist die in den gröszeren Lehrbüchern befolgte
dogmatische , nicht die von Crüger und Stöckhardt mit So viel Geschick
geförderte heuristische; der nach dem vorliegenden Leitfaden Unter-
richtende wird wol gut thun, öfter nach der letzteren zu verfahren.
Einige Stellen bedürfen der Nachbesserung l*ei einer folgenden Auflage.
Solche sind unter andern: S. 70. Eine Convexlinie (statt Fläche) ist
Hauptbestandteil unsres Auges. — S. 147 Salmiak dient zum Verzinnen
(beim). — Eisenblech wird eine Legierung von Eisenblech mit Zinn
genannt (Ueberzug von Zinn). — S. 149. 'Gewisse Pflanzen enthalten
ziemlich bedeutende Quantitäten von Kali9 (da eben nur von Kalium-
oxyd und dessen ätzenden Eigenschaften die Rede war, 'sollte hier stehn:
von Kalisalzen). — Die Illustrationen durch eingedruckte Holzschnitte
sind lobenswerth; es fehlen aber dergleichen gänzlich in dem zweiten,
von S. 127—182 reichenden Hauptteile, welcher die Chemie abhandelt
S. 153. fDie Magnesia wird wegen ihrer abführenden Wirkung in der
Heilkunde gebraucht' (soll heiszen: schwefelsaure M., da die kohlensaure
als säuretilgendes Mittel zur Anwendung kommt).
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Personalnotizen. 329
Personalnotizen.
(Unter Mitbenutzung des f Centralblattes » von Stiehl und der 'Zeit-
schrift für die österr. Gymnasien'.)
Ernennungen, Beförderungen, Ter« etnvngen , Ansneielinnngen.
Bock" Seminardirector in Münsterberg, zum Regierung*- und Schuirath
bei der Regierung zu Königsberg ernannt.
Bode, Dr., Oberlehrer am Gymnasium zu Neuruppin, zum Director
des Gymn. zu Herford^ erwählt.
Born, SchAC, als ord. Lehrer am Pädagogium Unser L. Frauen zu
Magdeburg angestellt.
Boysen, SchAC, als ord. Lehrer am Domgymnasiura ebendaselbst.
Brohm, Prorector am neuerrichteten Gymnasium zu Burg, als Pro-
fessor' prädiciert. '
Butz, ord. Lehrer am Gymnasium zu Thorn, in gleicher Eigenschaft
an der Realschule zu Elbing angestellt.
De de rieh, Oberlehrer am Gymnasium zu Emmerich, als r Professor'
prädiciert.
Dieckmann, Dr., Geh. Regierungs- und Schuirath zu Königsberg,
erhielt den pr. rothen Adlerorden II Cl. mit Eichenlaub.
Dietlein, Oberlehrer am Gymnasium zu Gütersloh, in gleicher Eigen-
schaft am Gymnasium zu Nenstettin angestellt.
Dietsch, Dr., Professor, Director des Gymnasiums u. der Realschule
zu Plauen, erhielt den russ. St. Annenorden III Cl.
Dörk, Oberlehrer am Gymnasium zu Marienburg, als f Professor'
prädiciert.
Drosihn, ord. Lehrer am Gymnasium zu Göslin, in gleicher Eigen-
schaft an das Gymnasium zu Neustettin versetzt.
Dworzak, Dr., ao. Professor des röm. Rechts an der Univ. Wien, zum
ord. Professor dieses Faches ernannt.
El sp erger, Dr. Professor, erhielt bei seinem 25jährigen Amtsjubiläum
als Rector des Gymnasiums zu Ansbach den Charakter eines kön.
bair. Schulraths.
Elvenich, Dr., ord. Professor u. Oberbibliothekar an der Universität
Breslau, zum Geh. Regierungsrath ernannt.
Eyssenhardt, Dr. SchAC, als ord. Lehrer am Friedrichs- Werderschen
Gymnasium in Berlin angestellt.
Frick, Dr., Oberlehrer am Progymnasium in Barmen, zum Director
des neuerrichteten Gymnasiums in Burg ernannt.
Geisenheyner, Lehrer, zum Gymnasial- \
elementarlehrer am Gymnasium I zu Herford lUt
Groszjohann, Lehrer, zum Lehrer der i
Gymnasialvorbereitungsschule '
Günther, Dr., SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Greifenberg
angestellt.
Hirzel, Dr., ord. Professor in der philos. Fac. der Univ. Tübingen,
zum fcector des dortigen Gymnasiums ernannt, unter gleichzeitiger
Belassung in der Stellung eines ao. Professors an der Universität.
Hoche, Lehrer am Gymnasium zu Soest, als ord. Lehrer an der Klo-
sterschule zu Rossleben angestellt.
Hoff mann, Dr. E. F., Kirchen- und Schuirath zu Leipzig, erhielt das
Ritterkreuz des Sachs. Verdienstordens.
Hörich, Hülfelehrer, als ord. Lehrer an der Realschule zu Potsdam
angestellt.
Kahler, Licentiat der Theologie, Privatdocent an der Universität
N. Jahrb. f. Phil. u. Pld. II. Abt. 1864. Hft. 5 u. 6. 22
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330 Personalnotizen.
Hall«, zum ao. Professor in der evangelisch- theol. Fac. der Univ.
Bonn \ ernannt.
Klo ss, Dr. M., Director der Turnlehrerbildungsanstalt in Dresden, er-
hielt das Ritterkreuz des nassauischen Verdienstordens.
Koch, Dr., Privatdocent, zum ao. Professor in der phil. Facultät der
Univ. Berlin ernannt.
Krohn, Dr., Lehrer am Gymn. zu Herford, zum Gymnasiallehrer in
Saarbrücken erwählt.
Lämmer, Dr., Subregens des bischöfl. Seminars zu Braunsberg, zum
ord. Professor in der theol. Fac. des Lyceum Hosianum daselbst
ernannt
Leibing, Dr., Lehrer am Friedrich -Wilhelms -Gymnasium zu Berlin,
als ord. Lehrer an der Realschule zu Elberfeld angestellt.
Leist, O., SchAC, als ordentlicher Lehrer am Gymnasium zu Eisleben
angestellt.
LÖher, Dr. F., ord. Professor an der Univ. München, zum Vorstand
des k. bairischen Reichsarchivs ernannt.
Maass, Dr., Lehrer am Gymnasium zu Neubrandenburg, als 'ord. Leh-
rer am Gymnasium zu Potsdam angestellt.
du Mesnil, Dr. SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Stolp an-
gestellt.
Michelis, Dr., Pfarrer zu Albachten, zum ao. Professor in der phil.
Fac. des Lyceum Hosianum zu Braunsberg ernannt.
Nicolai, Dr., Lehrer am Domgymnasium zu Magdeburg, als Oberleh-
rer an der mit dem Friedrich -Wilhelms* Gymnasium verbundenen
Realschule angestellt.
Olshausen, Dr., ao. Professor in der med. Fac. der Univ. Halle, zum
ord. Professor- ebenda ernannt.
Opel, Dr., Collaborator an der lat. Hauptschule zu Halle, zum Director
einer dort begründeten städt Vorschule erwählt.
Orth, ord. Lehrer an dem Gymnasium und der Realschule zu Burg-
steinfurt, zum * Oberlehrer' befördert.
Pertz, Dr., Oberbibliothekar an der köni gl. Bibliothek zu Berlin, Geh.
Regierungsrath , erhielt das Ritterkreuz des österr. Leopoldordens.
Pierson, Dr., ord. Lehrer an der Dorotheenstädt. Realschule zu Ber-
lin, zum * Oberlehrer' befördert.
Pringsheim, Dr., Privatdocent u. Mitglied der Akademie der Wissen-
schaften, zum ao. Professor in der phil. Fac. der Univers. Berlin
ernannt.
Ritschi, Dr., Geh. Regierungsrath, ord. Professor u. Oberbibliothekar
an der Univers. Bonn, erhielt das Ritterkreuz I Cl. des bair. Ver-
* dienstordens vom heil. Michael.
Röscher, Dr., Hofrath u. ord. Professor der'prakt. Staats- u. Game-
ralwissenschaften an der Univ. Leipzig, erhielt den russ. St Sta-
nislausorden H Cl.
Rose, SchAC, als ord. Lehrer am Kölnischen Realgymnasium zu Ber-
lin angestellt.
Rosenkranz, Dr., Geh. Regierungsrath u. ord. Professor der Philoso-
phie an der Universität Königsberg, erhielt den russ. St. Stanis-
lausorden II Cl.
Roediger, Dr., ord. Professor der Orient. Sprachen an der Universität
Berlin, zum ord. Mitglied der phil.-histor. Classe der preusz. Aka-
demie der Wissenschaften erwählt und bestätigt.
Röttig, wiss. Hülfslehrer am Gymnasium zu Gütersloh, als ord. Leh-
rer ebenda angestellt.
Schiel, Religionslehrer an der Realschule zu Neisze, in derselben
Eigenschaft und zugleich als Regens des Alumnats am Gymnasium
zu Glatz angestellt.
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Personalnotizen. 331
Sehmalfeld, Dr., Professor am Gymnasium za Eisleben, zum f Ober-
lehrer' befördert.
Schmid, Dr. K. A., Rector des Gymnasiums zu Stuttgart, erhielt den
russ. St. Stanislausorden II Gl.
Schmidt* Karl, Hülfslehrer am Pädagogium U. L. F. in Magdeburg,
als Collaborator am St. Elisabeth- Gymnasium zu Breslau angestellt.
Schmidt, Dr. Moritz, ao. Professor in der phil. Fac. der Univ. Jena,
zum ord. Honorarprofessor ebenda ernannt.
Schmitt, Dr., Oberechulralh u. Gymnasialdirector zu Weilburg, erhielt
den russ. St. Stanislausorden II Cl.
Schmoller, Dr., Finanzreferendar in Heilbronn, zum ao. Professor in
der phil. Fac. der Univ. Halle ernannt.
Scholle, Dr., SchAC., zum Oberlehrer an der Dorotheenstädt. Real-
schule in Berlin befördert.
Scholz, Dr., Privatdocent, zum ao. Professor in der kath. theol. Fac.
der Univ. Breslau ernannt.
Scholl, Dr. Ad., Hofrath, Professor und Oberbibliothekar in Weimar,
zum fGeh. Hofrath' ernannt.
Schultz, Dr. F. W., ao. Professor in der evang. theol. Fac. der Uni-
versität Breslau, zum ord. Professor ebenda ernannt.
Schücking, Levin, von der Univ. Gieszen in Anerkennung seiner
Verdienste um den deutschen Sittenroman zum Doctor der Philo-
sophie creiert (qui optime de fabula romanensi Germanorum mori-
bus et ingeniis accommodanda meritus est).
Schwartz, Dr. W., Professor u. Oberlehrer am Friedrichs-Werderschen
Gymnasium in 'Berlin , zum Director des Gymnasiums in Neuruppin
ernannt.
Simson, Dr., Professor am Friedrichs-Collegium zu Königsberg, zum
Oberlehrer befördert.
Stengel, Licentiat, als kath. Religionslehrer am Gymnasium zu Co*
nitz angestellt.
Trapmann, Lehrer, als ord. Lehrer an der Gymnasialvorschule zu
Dortmund angestellt.
Tyrol, evang. Pfarrer in Angerburg, zum Regierungs- und Schulrath
bei der Regierung in Gumbinnen ernannt.
Uedinck:, ord. Lehrer am Gymnasium zu Reck- \
linghausen, ( zu Oberlehrern
Vogel, Dr., ord. Lehrer an der Dorotheenstädt- l befördert.
Realschule zu Berlin,
v. Wächter, Dr., erster Professor der Rechtswissenschaft an der Uni-
versität Leipzig, Geh. Rath, erhielt den russ. St. Stanislausorden
I Classe.
Weiss, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Thorn, als ord. Lehrer
an der Realschule zu Elbing angestellt.
Witte, Dr., Geh. Justizrath u. ord. Professor in der Jurist. Fac. der
Univ. Halle , erhielt den preusz. rothen Adlerorden III Cl. mit der
Schleife.
Wolff, Dr., Professor u. ord. Lehrer am Friedrichs-Werderschen Gym-
nasium zu Berlin, zum Oberlehrer befördert. /
Wulfert, Dr., Director des Gymnasiums zu Herford, zum Director
des Gymnasiums zu Kreuznach ernannt.
Zander, Hülfslehrer am Gymnasium zu Gütersloh, als ord. Lehrer am
Gymnasium zu Colberg angestellt.
In Ruhestand getreten:
Dieckmann, Dr., Geh. Regierungs- und Schulrath in Königsberg«
Fe hm er, Oberlehrer, Conrector am Stiftsgymnasium in Zeitz.
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332 Personalnotizen.
Kaiisch, Oberlehrer, Professor u. Directorialgehülfe an der mit dem
Friedrich-Wilhelms -Gymnasium verbundenen Realschule zu Berlin. .
Springerf Dr., k. k. Hofrath, ord. Professor der Statistik u. der Fi-
nanzgesetzkunde an der Universität Wien.
Gestorben!
Ampere, Jean Jacques Antoine, Professor der neueren Litteratur am
College de France zu Paris, Mitglied der franz. Akademie und der
Akademie der Inschriften und schönen Wissenschaften, f 27 März,
63 Jahr alt.
Arendt, Karl, ord. Lehrer am Gymnasium zu Herford, f 2ß April in
Hameln.
Bloch, ord. Lehrer an der mit dem Friedrich -Wilhelms -Gymnasium
verbundenen Realschule in Berlin.
Foss, Dr. Wilh. Ludw., ordentlicher Lehrer am Gymnasium zu Elbing,
f 28 Februar.
Haase, Aug., ord. Lehrer am Gymnasium zu Herford, f 29 März,
36 Jahr alt.
Heinrich, Albin, em. Gymnasialprofessor zu Brunn, starb, 79 Jahr
alt, am 5 April (verdienter Naturforscher).
Matthaei, Oberlehrer, Mathematiker am Gymnasium zu Liegnitz,
t 27 April.
Meyerbeer, Giacomo, preusz. Generalmusikdirector , geb. 5 Sptbr.
1794, starb in Paris am 2 Mai.
Nepilly, kath. Schul- u. Regierungsrath bei der Regierung zu Brom-
berg, f 30 März.
Peter, F., Director des Gymnasiums zu Saarbrücken, starb am 3 Mai.
Petri, Oberlehrer, Professor an der Realschule zu Barmen , f 23 März.
Richter, Dr. theol. et jur., Geh. Ober-Regierungs- u. Ministerialrat!),
ord. Professor in der jur. Fac. der Univ. Berlin, starb am 8 Mai.
(Kirchenrecht.)
v. Ruttenberg, Freiherr, starb am 14 Mai zu Wiesbaden. (Geschichte
der deutschen Ostseeprovinzen.)
Saichow, Oberlehrer an der Realschule zu Tilsit, f 3 Mai.
Schröder, ordentlicher Lehrer an der Ritterakademie zu Bedburg,
t 12 April.
T^reviranus, Ludolf Christian, ord. Professor der Botanik an der
Universität Bonn, starb am 6 Mai, geb. 18 Sptbr. 1779. (Pflanzen-
Physiologie.)
Tross, Dr. Ludw., em. Oberlehrer am Gymnasium zu Hamm, starb
70 Jahr alt, zu Homburg (durch zahlreiche philolog. u. histor. Ar-
beiten rühmlich bekannt).
Uhlemann, Dr. th. et phil., Professor am Friedrich- Wilhelms- Gymna-
sium zu Berlin, auszerordentlicher Professor in der theol. Facultät,
f 19 April.
Wagner, Rud., Dr. med. et phil., Hofrath und ord. Professor in der
phil. Facultät der Universität Göttingen, geb. zu Bayreuth 1805,
starb am 13 Mai nach langem Leiden. (Berühmter Physiolog und
Anatom, ein Hauptvertreter der antimaterialistischen Richtung.)
Waitz, Dr. Theodor, ord. Professor der Philosophie an der Universi-
tät Marburg, geb. zu Gotha 1821, starb am 21 Mai. (Herausgeber
von Aristoteles1 Organon; ausgezeichneter akademischer Lehrer,
insbesondere bedeutend als Forscher und Darsteiler auf den Ge-
bieten der. Pädagogik, Psychologie und Anthropologie.)
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Zweite Abteilung.
Seite
18. Noctes scholasticae (2) von *** 233 — 246
19. Die Form der hebraeischen Poesie. Von Gymnasiallehrer
Dr. JLey in Saarbrücken 246—258
20. Die prosodische und metrische Messung der Nibelungen-
strophe (1). Von Professor Ed. Olawsky in Lissa . . . 258 — 277
21. Ueber den Vortrag der Geschichte in der Prima eines
Gymnasiums. Rede von Oberlehrer Muther in Coburg . 277 — 289
22. Ueber den Gymnasialzeichenunterricht und den darauf
Bezug* habenden Lehrplan vom 2 Octbr. 1863 (1). Von
Otto Gennerich , Zeichenlehrer und Geschichtsmaler in
Berlin 290—299
23. Die höheren Schulen und die Zeitungsanzeigen. 1. Von £. 300 — 304
24. Anz. v. Leonardo Pisano: la practica geometriae. Von
— h in — n 304—309
25. Anz. v- Ei* Rödiger: Wilhelm Gesenius' hebraeische Gram-
matik. I Teil. 19 Aufl. 1862. Von Conrector Dr. Mühlberg
in Miihlhausen 309—312
Berichte über gelehrte Anstalten usw. von Dr. Ostermann in
Fulda 313—318
Köln ("313), Kreuznach, Münstereifel , Neusz, Saarbrücken .
(316), Trier, Wesel, Wetzlar (316), Themata der Abiturien-
tenaufsätze C317).
Kurze Anzeigen und Miscellen 318—328
Aus Mittel franken, Christ. Bomhard betreff, von Professor
Dr. Thomas in München 318
Amtsjubiläum des Rector Prof. Dr. Elsperger in Ansbach.
Von G. Fr. in Ansbach 319
Ludwig JDoederlein 320
Den Manen JDoederleins. Von Studienlehrer Dr. B. Stadel-
mann in Memmingen 325
Festgrusz an Rector Prof. Dr. Elsperger. Von demselben 326
Anz. v. Th. JPeucker: kurze Grammatik der neugriechischen
Sprache.* Breslau 1863. Von K 327
Anz v H. Scholl: Grundrisz der Naturlehre. 6 Aufl. Ulm
1863. Von 2 328
Personalnotizen 329—332
Digitized by
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Bekanntmachung.
Mit Genehmigung königlicher Regierung wird »I
dreiundzwanzigste Versammlung deutscher Philologen u:
Schulmänner in den Tagen vom 27. bis 30. Septbr. d.
in Hannover stattfinden, zu welcher das unterzeichne
Präsidium jeden statutarisch Berechtigten hierdurch e;
gebenst einladet. Indem dasselbe die geehrten Fachge-
nossen auffordert, beabsichtigte Vorträge, sowie in de
pädagogischen Section zur Discussion zu stellende These.
wo möglich bis zum 31. August gefälligst anmelden v
wollen, erklärt es sich zugleich bereit, Anfragen uu
Wünsche, die sich auf die Theilnahme an der Versammlui:
beziehen, entgegenzunehmen und zu erledigen.
Hannover den 6. Juni 1864.
Das Präsidium der dreiundzwanzigsten Versammlui .
deutscher Philologen und Schulmänner.
H. L. Ahrens. C. L. Grotefend.
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Zweite Abteilung:
für Gymoasialpädagogik und die übrigen Lehrfächer,
mit Ausschluss der classischen Philologie,
hentisgegeben tm Prefesser Dr. HerHtn Mastis.
26.
Erlebtes und Bewährtes aus dem Gebiete der Erziehung.
(Fortsetzung von Jahrgang 1863, Heft 10, S. 446 ff.)
Das Fremden der Kinder.
Man wundere sich und klage nicht zu viel, noch weniger kämpfe
man gewaltsam gegen das sogenannte Fremden der Kinder auf einer ge-
wissen Altersstufe. Nicht blosz dasz die Erscheinung als Keim der nach-
maligen verecundia des Knaben und Junglings und des pudor im Mädchen
gelten kann, so liegt darin auch ein Wink der Natur, die Kinder in den
Jahren, wo Solches stattfindet, vor fremder Berührung in so weit ferne
zu halten, dasz man einesteils die Annäherung an Unbekannte nicht er-
zwingt, andernteils Fremde nicht zu sehr auf sie einwirken läszt. Die
Natur will offenbar die Kinder in dieser Zeit, vom zweiten bis vierten
Jahre, da sie am liebenswürdigsten sind, absichtlich ferne halten von dem
so thörichten und verderblichen Gebaren der Erwachsenen, namentlch
ihrem Loben und Schmeicheln, indem sie durch dieses 'Fremden* ein Ge-
gengewicht gegen deren sonstige Liebenswürdigkeit und ein Gegengift
gegen jene Giftstoffe in ihrer Umgebung geschaffen hat.
Zugleich kann man in dieser sonderbaren Erscheinung am einzelnen
Menschen, die Stufe ganzer Völker sich wiederholen sehen. Oder wissen
wir nicht, dasz fast jedes Volk eine Zeit durchlaufen musz, in der ihm
hospes und hostis gleichbedeutende Begriffe sind? Bei dem Kinde selbst
aber ist dieses 'Fremden' die erste Lebensäuszerung desjenigen Abschnitts
der geistigen Entwicklung, da das Selbstbe wustsein im Unterschied von
anderen Persönlichkeiten erwacht. Gegenüber von Sachen offenbart sich
bekanntlich dieses Unterscheiden des eigenen Selbst von den Gegenständen
der Auszenwelt nicht selten als Zerstörungstrieb. Ganz derselbe Trieb
erscheint uns gegenüber von andern Personen als widerhaariges Abstoszen
N. Jahrb. f. Phil. n. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 7. 23
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' 334 Erlebtes und Bewährtes.
des Fremden, das bei ungezogenen Kindern selbst bis zum, Schlagen derer,
die ihm freundlich nahen, sich steigern kann. Je mehr aber eine, ob auch
unliebsame, Erscheinung des Innern beim Kinde oder heranwachsenden
Zögling im Zusammenhang >steht mit naturnotwendigen Entwicklungs-
phasen, desto mehr hrft man sie mit Aufmerksamkeit zu beachten und mit
zarter Hand zu behandeln. Das gewaltsame Erzwingen des Gehorsams
ist in solchen Fällen oft ein viel verkehrterer Eigensinn als der Eigenwille
des Kindes. Dieser letztere wird vielmehr durch Nichts mehr zum Eigen-
sinn groszgezogen , als durch ungehöriges Geltendmachen unberechtigter
Ansprüche, durch den Eigensinn der Alten. Allerdings gehört genaues
Aufmerken und weise Umsicht dazu, berechtigten Eigenwillen des Kindes,
der, wie im vorliegenden Fall, tiefere Grunde hat, zu unterscheiden von
strafbarem Eigensinn, der gebrochen werden musz. Unter Anderem
möchte ein Fingerzeig , dasz das Letztere nicht stattfinde , dann gegeben
sein, wenn das Kind sich beharrlich gegen Etwas sträubt, das ihm unge-
wöhnlicher Weise Widerwillen erregt, während es sonst seinen Wünschen
ganz angemessen ist und mit seinen Neigungen zusammenstimmt. Eid
lebhafter Knabe von vier Jahren kannte kein gröszeres Vergnügen, als
seinen Vater auf einer Spazierfahrt zu begleiten. Als nun aber einmal
statt des eigenen e'inen Pferdes zwei vorgespannt waren , gab .er auf jeg-
liche Weise seine, wol aus einer Art Conservatismus flieszende, Abnei-
gung gegen das Mitfahren zu erkennen. Ohne Not ihn dazu zu zwingen,
wäre ebenso verkehrt gewesen, als das Befehlen von Liebeszeichen, wenn
ein Kind gegen eine ihm ganz fremde Person vorerst zum Gegenteil von
Liebe und Vertrauen geneigt ist.
8.
Quidquid delirant reges, pleotuntur Achivi.
Was in diesem Spruch von Horaz mit Bezug auf politische Verhält-
nisse so treffend bemerkt ist und sich in diesem Gebiet bis auf den heuti-
gen Tag so oftmals bestätigt, ist gar häufig auch der Kinder Loos, die der
Eltern Thorheft und Sünden zu büszen haben. Wie gar nicht selten be-
gegnet es dem Lehrer und Erzieher, dasz er in den Fall kommt, den Sack
schlagen zu müssen, wenn er den Esel meint, die Zöglinge tadeln oder
strafen zu müssen, während er viel lieber die Eltern am Kopf nehmen
möchte ! Das Schlimme ist nur, dasz der Esel so oft nicht merkt, dasz er
gemeint ist, wenn man seinen Sack schlägt, was auch sonst im Leben
häufig genug vorkommen soll. Aber diese Sache hat auch noch eine an-
dere Seite, von der aus sie Eltern und Erziehern in ihrem vollen Ernste
aufs eigene Gewissen fallen musz. Was gemeint ist, deutet der folgende
Abschnitt an.
9.
Die Jungen erziehen die Alten.
Vornweg sind die jüngeren Kinder eines Hauses treffliche Zucntmei-
ster für die älteren Geschwister. Die übrige Erziehung kann in vielen
Fällen nur abwehrend wirken, die, wilden Ranken beschneiden, die
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Erlebtes und Bewährtes. 335
. schlimmsten Auswüchse beseitigen ; die positive und 'directe Einwirkung
geschieht einesteils zwar auch durch den still arbeitenden Geist des Hau-
ses und das Vorbild der Eltern , andernteils aber und am nachdrücklich-
sten erziehen so die Kleinen ihre älteren Brüder und Schwestern, und
zwar in erster Linie zu den Grundlugenden des sittlichen Lebens, zu
Nachgiebigkeit und Geduld, zu Liebe und Aufopferung. Schon darum hält
es so schwer, ein einziges Kind für diese Pflichten und Tugenden recht
empfänglich zu machen, wie es denn auch die Billigkeit erfordert, Einem,
der als der Eltern einzig Kind aufgewachsen ist , einige Dosis Selbstsucht
zugutzuhalten. — Ganz besonders aber wird Vater und Mutter selbst
auch durch die Kleinen erzogen. Nicht allein, weil mit jedem Kind ein
neues Gewissen ins Haus kommt, durch die Pflichten, die überhaupt da-
durch auferlegt werden , durch das Dankgefühl , das uns diese Himmels-
gabe nahelegt, durch die nie schlafende allgemeine Besorgnis, selbst
Irgend welche Schuld zu haben, wenn Etwas versäumt oder verfehlt er-
scheint; nein auch nach vielen anderen Seiten hin findet diese rückwärts
wirkende Zucht statt. In keinem andern Verhältnis, auch nicht in dem
zwischen Mann und Weib , lernt sich Selbstverleugnung so gründlich und
zugleich so leicht, wie durch die Sorgen und Mühen für die Kinder. Auch
das Schwerste wird da möglich, wenn anders die erste Bedingung nicht
fehlt, die im Herzen wohnende Liebe zu denselben. Neben der Verzicht-
leistung auf hundert Genüsse und eigenwillige Wünsche jeder Art lernt
sich in dieser Schule, was noch saurer eingeht, die Entsagung auf die
Ehre bei Menschen. Wie oft musz eine Mutter, wenn sie die meist klei-
nen, für Niemand sichtbaren und keinen sonderlichen Dank findenden
Pflichten gegen die Unmündigen treulich erfüllt, Anderes liegen lassen,
wegen dessen sie hoch gepriesen würde von den Menschen, ja dessen
Unterlassung ihr selbst Tadel und Misachtung zuzieht I Sie musz sich
möglicher Weise als unfreundlich und ungastlich, unästhetisch und teil-
nahmlos für höhere Interessen, für pedantisch und altbacken ansehen las-
sen. Hier gilts auch , zu beweisen , wie die Liebe Alles traget und durch
böse wie gute Gerüchte zu gehen vermag. Eine poetisch oder sonst wie
schöpferisch begabte , oder auch nur für Kunst und Litteratur begeisterte
Frauennatur hat als Mutter Gelegenheit zu täglicher Entsagung und fort-
gesetzten Opfern, von denen selten die Welt Etwas weisz, durch die sie
aber sich mehr als durch alles schöne Gerede als wahrhaft gebildet aus-
weist. Denn hier wie sonst oft bewährt sich das treuliche Wort von
Horaz : Quanto quisque sibi plura negaverit , ab Dis plura feret , oder das
noch kürzere von Goethe: -Bildung ist. Entsagung. Dasz einem Erzieher
und Schulmann von der eben bezeichneten Begabung solche Opfer auch
nicht erspart bleiben, soll damit entfernt nicht geleugnet werden. So
erziehen also Kinder die Eltern und Erzieher gewissermaszen schon durch
ihr Dasein. — Wer aber genug Selbsterkenntnis und nicht zu viel Eigen-
liebe besitzt, findet leicht und oft, dasz die Kinder wie im Guten so fast
noch mehr im Unguten Abbilder; meist sogar potenzierte Abbilder sind
der Unarten des natürlichen Menschen in den Eltern, ein Satz, der dadurch
nicht umgestoszen wird, dasz förmliche Laster der Eltern je und je in
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336 > Erlebtes und Bewährtes.
den Kindern' das Gegenteil wirken, einen Abscheu gegen das Böse hervor-
rufen und für das Edle besonders empfänglich machen. Gleichwie daher
der Lehrer oft durch Mängel im Wissen, Können und Betragen seiner
Schüler auf Lücken und Fehler seines Unterrichts oder seiner Lehrart ge-
führt wird,' so kann und soll Vater und Mutter ihre Kinder, selbst Erzie-
her ihre Zöglinge als treffliche Zuchtmittel für sich selbst ansehen, sofern
ihre eigenen Sünden, sei es, dasz sie als schon besiegle oder als noch vor-
handene Feinde in ihrem Innern wohnen, an den Kindern ihnen entgegen-
treten. Dieser Spiegel ist treu und gibt das Urbild oft heller und klarer
zurück , als Einem lieb ist , wenn gleich die Züge manchmal noch häsz-
licher erscheinen, und ob, wie gesagt, mitunter auch Altes, das bereits
überwunden und abgethan ist, zum Vorschein kommt. Somit läszt sich
jener Ausspruch Goethe^s über Byron: 'werde Einer ein vernünftiger
Sohn, wenn er einen solchen Vater hat', gar wol auch umwenden und
sagen: wenn man einen Sohn, eine Tochter so und so hat, lerne man
daran mehr und mehr ein vernünftiger Vater zu werden. — Bei besseren
Naturen können überhaupt manchmal Fehler, die man sich gegenseitig zu
Schulden kommen läszt , nachdem sie für den Augenblick auseinanderge-
führt haben , doch zuletzt wieder tiefer und inniger verbinden. Und so
kann es auch geschehen, dasz ein vom Erzieher begangener Fehler, falls
er ihn zur Busze führt, ihm und dem Zögling zum Heile gereicht So
hatte ich einmal auf einzelne Spuren hin einen Zögling bei einem amt-
lichen Zwiegespräch des selbstgenügsamen Hochmuts beschuldigt, und
zwar nicht, wie ichs sonst gewöhnt bin, in der Form der Ermahnung,
er möge sich besinnen, ob er diesen Fehler nicht an sich habe, sondern
in direct ausgesprochenem Tadel. Bald aber wurde ich überzeugt , dasz
ich ihm zu viel gethan ; er weinte dergestalt , dasz er fast gar nicht mehr
zum Wort kommen konnte. Darauf räumte ich unverholen ein, es scheine,
ich habe mich getäuscht und das könne mich natürlich nur freuen. Der
Junge schied getröstet; doch muste ich befürchten, es sei ein Stachel in
seinem Herzen, vielleicht Bitterkeit oder gar Trotz zurückgeblieben. Dem
war aber nicht so, und dies bewies mir thatsächlich , wie wenig ich zu
meinem Vorwurf Recht gehabt hatte und wie er besser war, als es den
Anschein hatte. So ward mir diese Demütigung zur Aufrichtung, nicht
allein sofern ich daran Vorsicht gelernt und derartiges voreiliges Urteil
wol gründlich abgelegt habe, sondern auch, weil ich ihm gegenüber jetzt
mich weit mehr, als früher, zu innigerer Annäherung geneigt fühle." Er
und ich haben das Bewustsein gewonnen, dasz man nunmehr auf tieferem
Grunde zusammengeführt sei. So ist der Segen von Sturm und Gewitter
auch auf dem sittlichen Gebiete fühlbar — und so erziehen die Jungen
die Alten.
10.
Humanitätsfitudien und Christenglaube.
Die Rückkehr unserer Zeit zum Bekenntnis und Glauben der Väter
verspricht, trotz allem Misbrauch, der damit getrieben wird , auch für die
Erziehung gewinnreich werden zu können, indem ein festeres Gebunden-
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Erlebtes und Bewährtes. 337
sein an das Bibelwort eher geeignet ist, Charaktere zu bilden, als eine ob
auch tiefgründige Gefühlstheologie. Und dasz uns dermalen Nichts mehr
Not thue, als willensstärkende Erziehungsmittel, daran wird kein Sach-
kundiger zweifeln. Dagegen hängt der mehr bibelgläubigen Richtung meist
eine praktische Einseitigkeit an, welche die Pädagogik nicht unbeachtet
lassen darf, dasz dieselbe nemlich Philosophie und Kunst, insbesondere
auch die Poesie, oder, allgemein gefaszt, die Humanitätsstudien mit allzu
mistrauischen Augen ansieht und schönwissenschaflliche Leetüre auf das
dürftigste Masz beschränkt wissen will. Man gönnt vielfach der Kunst
und Philosophie nur um der Herzenshärtigkeit der Weltmenschen willen
und nur als geduldeten Beisassen noch einen Raum ; von einer Begeisterung
für diese rein menschlichen Versuche, Wahrheit und Schönheit zu för-
dern, soll keine Rede sein dürfen ; au mehr oder minder offenen Warnun-
gen vor dem alten und modernen Heidentum , vor dem Gultus des Genius,
der Glassiker des Altertums wie der Neuzeit, läszt man es nicht fehlen
und erweitert den Unterschied zwischen der in diesen Werken des Men-
schengeisles harschenden Weltanschauung und dem christlichen Glauben
bis zu einer tiefen unausfülibaren Kluft. Wenn auch nicht Alle so weit
gehen , sich des Mangels an gefeierten Poeten der Neuzeit und der Ab-
nahme des Interesses für philosophische Studien auf unsern jetzigen Hoch-
schulen zu freuen und dieselben für ein notwendiges Uebel zu halten,
dem freilich ein wissenschaftliches Studium der Theologie nicht auswei-
chen könne, so liegt doch manchem ängstlichen Gemüt der Wunsch nahe,
es möchten schon im Gymnasium und auch auf der Universität dem freien
Flug der Geister, so weit es immer angeht, Dämpfer angesetzt, Präventiv-
maszregeln angewendet werden.
In der That scheint es, ein christlich denkender Erzieher oder Vater
dürfe vornehmlich mit Recht Bedenken tragen, bei dem dermaligen Stand
der Din£e einen Jüngling Theologie studieren zu lassen , und könne den
Wunsch nach wesentlichen Änderungen des Studiengangs nicht dringend
genug hegen und geltend machen. Denn steht die Sache nicht so , dasz
der angehende Theologe zuerst an heidnischer Kunst und Wissenschaft
groszgezogen und dann in den Hörsälen der Philosophie angeleitet wird,
geradezu an Allem zu zweifein, dasz ihm Gott und Unsterblichkeit in
Frage gestellt, sein anerzogener Christenglaube gründlich zerstört wird?
Und auch innerhalb der theologischen Wissenschaft sind ja der Lehrer
und Schüler nicht wenige, denen der historische Boden des Christentums
ganz abhanden gekommen ist, bei denen von der biblischen Wissenschaft
als dem Fundament des Christenglaubens nicht mehr die Rede sein kann.
Der künftige Prediger des Evangeliums sieht sich , bevor er kaum weisz
und erfährt, was der Lehrbegriff der Bibel und seiner Kirche ist, eine
Schrift des alten und neuen Testaments um die andere verdächtigt, statt
von dem gewaltigen Inhalt derselben sich erfassen zu lassen , urteilt er
mit .kritischem Machtgebot darüber ab, stellt sich über die Propheten und
Apostel, ja über Christus selbst, ist und wird Alles eher, als was die
christliche Gemeinde seiner Zeit von ihm erwartet und erwarten darf.
Wollen wir auch im Vertrauen auf die Macht der Bibelwahrheit und im
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338 Erlebtes und Bewährtes.
Hinblick auf den frischen und tiefen Geist, der denn doch in neuester
Zeit in der Theologie sich mehr und mehr Bahn bricht, absehen von diesen
Ausschreitungen der kritischen Schulen; das angedeutete Bedenken in Be-
treff des Studiums der Humanitätswissenschaften und des philosophischen
Curses, durch den ja derzeit überall der Durchgang zur Theologie ge-
macht wird, bleibt jedenfalls zurück. Wäre dies nicht etwa dadurch zu
beseitigen, dasz der Gang der theologischen Studien anders geordnet
würde? Sollte es denn nicht möglich sein, den angehenden Theologen
für den Anfang die Philosophie nur von ihrer formalen Seite kennen ler-
nen zu lassen , ihn tüchtig in Logik , Dialektik und Rhetorik zu schulen
und zu üben , sodann ihn mit Geschichte und Lehrinhalt seiner Bibel und
Kirche gründlich bekannt zu machen, die tieferen philosophischen Studien
aber, bei denen die letzten und einschneidendsten Fragen des Menschen-
geistes zur Sprache kommen , auf das Ende des theologischen Curses zu
verschieben? Und ganz in ähnlicher Weise könnte bei den Humanitäts-
studien überhaupt verfahren werden. Man sollte immer vornehmlich und
zuerst den guten , gesunden Samen des Wortes Gottes einstreuen , Wur-
zel schlagen und in Halme schieszen lassen und nur daneben mit weisem
Maszhalten der Freude und Teilnahme an Werken menschlicher Kunst
und Wissenschaft Raum gönnen. — So sehr auch derlei Wunsche nicht
blosz wolgemeint, sondern gerechtfertigt erscheinen , dennoch musz die
Erfahrung und eine gesunde Pädagogik gegen dieselben und gegen die
dabei zu Grund liegenden Principien mit allem Ernste Einsprache erheben
und nach andern leitenden Grundsätzen urteilen und verfahren. Vor
Allem steht mir der Satz fest: eine jegliche echte Poesie, jedes wahre
Kunstprodukt, alle redliche Philosophie hat dasselbe Recht auf Existenz,
wie eine gute That, wie ein Satz oder System des Glaubens. Wol hat
die Idee des Guten und noch mehr die Idee des Heiligen insofern Etwas
voraus vor dem Wahren und Schönen , als zum Bestand der menschlichen
Gesellschaft und zur Erreichung ihrer letzten Bestimmung in erster Linie
erforderlich ist, dasz das Heilige und Gute als das Höchste anerkannt und
angestrebt, dasz diesem Höchsten sein Recht nicht verkümmert, sein Be-
stand in keiner Weise erschüttert und gestört werden Auch das Schönste
und Gröste, was menschliche Kunst geschaffen oder menschlicher Scharf-
sinn erforscht und erkannt hat, musz in unserer Werthschätzung zurück-
stehen hinter einem edel gestalteten Menschenleben , in welchem durch
thätiges Handeln und aufopfernde^ Leiden die höchsten Gedanken und Be-
strebungen menschlichen Geistes und Gemütes sich verwirklichen. So
hoch wir die Kunsterzeugnisse und die wissenschaftlichen Werke alter und
neuer Zeit stellen und mit Freude und Bewunderung an ihnen hinauf-
schauen, herlicher und bewundernswerther bleibt es denn doch, wenn ein
Menschenherz den spröden Stoff des natürlichen Menschen überwältigend
sich selbst zum Tempel des lebendigen Gottes umbilden läszt und in sich
selbst wie um sich her ein Gottesreich im Kleinen darstellt, Ewigkeits-
gedanken im irdischen Gefäsze zu Gestalt und Leben bringt. Ferner
steht es deshalb fest, dasz Frivolität, Verletzung des Heiligen, Misachtung
der ewigen Gesetze des Guten nie und nimmermehr geduldet werden darf,
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Erlebtes und Bewahrtes. 339
Eine Kunst und Wissenschaft, die sich dessen schuldig macht, ist ferne
zu halten von den Alten wie von den Jungen. Dean die Ideen des Quten
und Heiligen bilden so zu sagen das Brod des Lebens, und so gewis man
den Landwirt tadeln müste, der den Kornblumen auf seinem Acker so viel
Raum gönnen wollte, dasz dadurch seine Früchte Schaden litten, so ge-
wis wäre der Einzelne oder die Gemeinschaft zu tadeln , welche irgend
eine Bestrebung , ob sie auch mit der feinsten Kunst und dem höchsten
Scharfsinn ausgestattet aufträte, zum Schaden jener Grundsäulen mensch-
licher Ordnung sich geltend machen liesze. Aber das eben angeführte
Gleichnis von den Kornblumen sagt andererseits unzweifelhaft, dasz es
wider Gottes Willen und Ordnung gehandelt ist , wenn man auf dem gei-
stigen Acker der Menschheit nichts Anderes zulassen will , als das , was
oach Art der Brodfrüchte nur eben unmittelbar materiellen oder sitt-
lich religiösen Zwecken im engeren Sinne dient. Die Gyanen im Acker-
felde, die wilde Rose dort am Raine, die in die Lüfte wirbelnde Lerche,
sie alle zeugen laut von der Wahrheit, dasz der Ewige in seiner Gottes-
welt neben dem Notwendigen auch das Schöne nicht allein bietet* sondern
auch gepflegt wissen will. Und zwar ist dadurch ganz vornehmlich auch'
die Darstellung der heiteren Seite des Lebens als Aufgabe der Kunst ge-
rechtfertigt, und es bleibt dabei: 'Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.9
Und wir sprechen mit demselben Dichter : 'dem prangenden, dem heitern
Geist, der die Notwendigkeit mit Grazie umzogen, der seinen Aether,
seinen Sternenbogen, mit Anmut uns bedienen heiszt, dem groszen
Künstler ahmt ihr nach.'
Nach dem bisher Bemerkten sage ich also : Wenn ein Kunstprodukt,
eine Poesie, eine Philosophie Nichts enthält, was mit Gottes Ehre streitet,
auch in keiner Weise die Gefühle eines dem Guten und Heiligen zuge-
wandten, Gemüts verletzt, habe man kein Recht, dagegen -Einsprache zu
thun, sondern es erwächst vielmehr für Jeden, der Zeit, Kraft und Beruf
dazu hat, die Aufgabe, sich dafür empfänglich zu machen, soweit die Um-
stände es ermöglichen. Das Recht zum Widerspruch und zur Verwerfung
beginnt erst da, wo von der anderen Seite die bezeichneten Gränzen
überschritten werden. Ein poetisches Erzeugnis , ein Schriftsteller über-
haupt, gehöre er der alten heidnischen Zeit oder der unsrigen an, verliert
sein Anrecht auf Anerkennung und wird bei allem Aufwand von Geist und
Kunst verwerflich, wenn er die edelsten Gefühle und Grundsätze verletzt
oder verhöhnt, wenn er z. B. der Unwahrheit das Wort redet, die Liebe
zum Nebenmenschen, zum Vaterland, die Grundlagen des Rechts mit
Püszen tritt , an dem heiligen Institut der Ehe und der Familie rüttelt,
mittelbar oder unmittelbar darauf ausgeht, das, was allen gesitteten Völ-
kern als gut und heilig gilt, verächtlich zu machen und zu untergraben.
Solche Leetüre bleibe also ferne, aber nicht blosz von der Jugend, son-
dern jeder Altersstufe. Es kann aber auch Manches an und für sich viel-
leicht durchaus unverwerflich und ästhetisch oder philosophisch ganz und
gar gerechtfertigt, dessen ungeachtet aber pädagogisch unzulässig, für
eine gewisse Alters- oder Bildungsstufe unersprieslich, ja sogar gefähr-
lich sein, z. B. eine rein historische oder poetisch erdachte Schilderung
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340 Erlebtes und Bewährtes.
eines schlechten Charakters , einer schlechten Zeit. Wenn wir nun voll-
kommen zugeben müssen, dasz Vieles von unserer schönen Lilteratur, na-
mentlich Vieles von Goethe, in diese Classe gehöre, wenn wir ferner auf-
richtig bedauern müssen, dasz unsere deutschen Glassiker vielfach mit den
Glaubenssätzen der Bibel in Conflict geralheu sind, so sind wir andererseits
doch auszer Stand, ganz feste Regeln zu geben, was von solchen Schriften
im einzelnen Falle und auf welcher Altersstufe es gelesen werden darf. Man
kann wol sagen: den Reinen ist Alles rein und umgekehrt: wo einmal die
Phantasie verdorben ist, da wird auch aus harmlosem Stoffe Gift gesaugt.
Aber wer und wo sind die Reinen? Und hinwiederum: kann man nicht
auch mitunter zu viel böse Elemente voraussetzen und im Verbieten zu
weil greifen ? Dem einen Jungling mag man ohne Gefahr selbst Wieland's
Oberon in die Hände geben, und Shakspear gar ihm vorzuenthalten, wäre
ein Unrecht; ein Anderer gleichen Alters und scheinbar in sittlicher Bil-
dung ebenso reif, leidet durch Einzelnes sogar in Schiller's Dramen und
Gedichten schon Schaden. Das hat jeder Vater, jeder Erzieher im jedes-
maligen einzelnen Falle mit sich auszumachen, allgemeine Grundsätze las-
sen sich hier nicht mehr aufstellen. Je besser es gelingt, einen Zögling
so zu leiten und so zu stimmen, dasz er Natürlichkeiten, versteht sich
ohne lüsterne Absichten gebotene, zu ertragen vermag, desto erwünschter
musz es sein. Die Zeiten, da man den Terenz in den Schulen lesen konnte,
waren besser daran und standen in gewissem Betracht höher als diejeni-
gen, da man für nötig fand, die Oden von Horaz zu purißzieren. Fehlt
es nur nicht an fortgesetzter Wachsamkeit und wird in jedem einzelnen
Falle umsichtig erwogen, was jetzt gerade am Platze sein dürfte, so
möge man auch in Betreff der schönwissenschaftlichen Leetüre den Er-
folg Gott überlassen und bedenken , dasz es einem Erzieher ja an Mitteln
und Wegen nicht fehlt, in ungesuchter Weise ebenfalls durch Bücher,
vornehmlich aber durch Beispiel , Umgang und die guten Lebensmächle
der Gesellschaft guten Samen auszustreuen und etwaigem Gifte mehr als
Ein Gegengift zur Seite zu stellen. Fast gröszer ist die Gefahr, es könnte
in unseren Tagen durch das Zuviel von ästhetischer Leetüre Nachteil er-
wachsen. Namentlich sind die Kinderschriften mit romanhaftem Zuschnitt
vom Uebel. Der Mangel an Selbständigkeit im Studium bei unserem her-
anwachsenden Geschlecht, worüber Schulen und Behörden fortwährend
Klagen führen, hat seinen Grund teils in der Zersplitterung der lernenden
und lehrenden Kräfte, teils und vornehmlich aber in der Ueberfütterung
mit solch leichter Geistesnahrung. Wissenschaftlicher Forschungstrieb
und sittliche Kraft leiden dadurch gleich sehr Not Doch feste Gräuzlinien
und allgemeine Grundsätze lassen sich in dieser Hinsicht noch weniger
aufstellen und durchführen. — Was aber die genannten Gefahren des phi-
losophischen Studiums für Theologiestudierende und die Gedanken über
Abänderung desselben betrifft, so erscheinen die letzteren bei genauer
Erwägung als unausführbar, die ersteren aber als übertrieben. Die philo-
sophischen Studien vor Beginn des dogmatischen Studiums, nicht erst
nach dem Abschlusz desselben vorzunehmen, gebietet schon das Eine,
dasz ein Verständnis der ganzen neueren Theologie nicht möglich ist,
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Erlebtes und Bewährtes. 341
wenn man nicht zugleich oder eigentlich zuvor schon die ihr zur Seite
gehende Philosophie jeder Periode kennen gelernt hat. Allerdings ist es
gar wol möglich und tritt nicht selten ein, dasz ein junger Theologe in
den philosophischen Hörsälen zum Unglauben geführt wird , aber es ist
dann einesteils seine, andern teils der theologischen Docenten Schuld,
wenn er auf diesem Standpunkt verharrt und nicht zu der höheren Wahr-
heit durchdringt. Jedenfalls wird dadurch das, was oben über das Recht
menschlicher Kunst und Wissenschaft, nicht blosz geduldet zu werden,
sondern als gottgewolltes Bestreben und Werk zu existieren, angedeutet
worden ist, in keiner Weise umgestoszen. Wenigstens der evangelische
Christ musz es, wenn er nicht ebenso der Kraft der Wahrheit seines
Glaubens wie seiner eignen Einsicht ein Armutszeugnis ausstellen will,
als eine innere, von Gott gesetzte Notwendigkeit erkennen, dasz mensch-
liche Kunst und Wissenschaft gepflegt, dasz namentlich philosophiert
werde. Er weisz auch , dasz diesen Trieben und Kräften des Menschen-
geistes zufolge in allen und nicht in den schlimmsten Zeiten der christ-
lichen Kirche zugleich mit der Darlegung des Geglaubten auch an der Wis-
senschaft des Wissens gearbeitet worden ist. Die edelsten Geister haben
bald mit mehr bald mit weniger Erfolg gerungen, und ringen fort und
fort darnach , Glauben und Wissen zu versöhnen. Die Aufgabe selbst ist
unendlich wie alles Grosze in der Welt. Dasz sie ein Jünger der Wissen-
schaft während seiner Studienzeit löse , hiesze Unbilliges, ja Unmögliches
verlangen. Wol aber kann und musz zwar nicht allen, aber doch den
wissenschaftlich begabten Naturen zugemutet werden, dasz sie kennen
lernen , was von dieser und jener Seite behauptet und geschaffen, welche
Zweifel erhoben und wie sie zurückgewiesen worden sind. Aber erst
nicht blosz historisch sollen sie das erfahren, sondern je nach dem
Masz ihrer Kraft durcharbeiten , im eigenen Geistesleben mit durchkäm-
pfen, ihre Ueberzeugung auf dem , wo lerfor sehten und selbstbemessenen
Grunde aufbauen. Ein Gewährsmann , den auch die Glaubigen in der Ge-
meinde .anerkennen werden, Dr. Tholuck hat unlängst in kräftigen Worten
angedeutet, wie ein Theologe zur Philosophie sich zu stellen hat, als er
einige Examenscandidaten, die sich Etwas darauf zugutthun wollten, dasz
sie sich mit dieser gottentfremdeten Wissenschaft gar nicht befaszt hät-
ten , ganz treffend darauf hinwies, welch trauriges Zeugnis sie sich damit
selbst gäben. Werden nur von den theologischen Lehrstühlen aus, wie es
gegenwärtig wol bei den meisten unserer Hochschulen gerühmt werden
darf, diese philosophischen Bestrebungen nicht vornehm ignoriert, son-
dern in gebührendem Masze berücksichtigt, wird von den theologischen
Docenten nachgewiesen , wie über die wichtigsten Fragen von Seilen der
Speculation geredet und verhandelt worden ist, in wie weit dieselbe
Wahres gefunden, in wie weit Unbefugtes behauptet oder verneint hat,
wird somit die Philosophie weder als Herrin noch als Magd , sondern als
Mitarbeiterin am Werke menschlicher Erkenntnis, soweit Ihre Kraft eben
reichen mag, bereitwillig anerkannt und ihr mit billigem Wahfheitssinu
die Oränze ihres Gebiets zugeteilt ; — wahrlich es müste wunderbar zu-
geben , wenn auch bei dem dermaligen Studiengang ein junger Theologe
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342 Erlebtes und Bewährtes.
nicht zu einem befriedigenden Ziele sollte gelangen können. Zugegeben,
dasz der eine und andere, vorhersehend kritisch und skeptisch angelegte
Kopf es nicht zu dem Abschlusz bringt, der ihn befähigte, mit redlichem
Gewissen vor die Gemeinde zu treten; so fehlt es für Solche ja nicht an
Auswegen, die begonnenen Bahnen ohne Beschwerung für ihre Ueberzeu-
gungen weiter zu verfolgen und darauf zu verharren. Die Mehrzahl aber
wird jenes Ziel erreichen, vorausgesetzt, dasz von Haus aus ein guter
Glaubeosfond vorhanden ist und dasz der Studierende nicht blosz mit dem
Kopfe forscht und lernt, sondern es an der Erkenntnis seiner selbst, an
der eigenen sittlichen und religiösen Fortbildung, an Benutzung der Mit-
tel , mit den Bedurfnissen und Erfahrungen des Lebens bekannt zu wer-
den , endlich an teilnehmendem Eingehen in die Erscheinungen und Le-
benskräfte seiner kirchlichen Gemeinschaft nicht fehlen läszt.- Ist das
Gesagte wahr gegenüber von der Philosophie, so gilt es noch viel mehr
von den Humanitätsstudien, von menschlicher Kunst und Wissenschaft
überhaupt.
11.
Einige leitende Grundsätze bei der Erziehung.
Ein zwar nur formales aber weitgreifendes Erziebungsprincip liegt
in dem Satze i> Behandle die Kinder nie als bloszes Mittel , etwa zur Be-
friedigung deiner Eitelkeit, oder um djesen und jenen Versuch zu machen,
oder gar zum Scherzen und zu noch schlimmeren Absichten, sondern
immer als Selbstzweck. Gegen diesen Spruch verstöszt auch derjenige,
der bei dem Erziehungsgeschäft irgendwelchen äuszeren Gewinn sucht
oder seiner Bequemlichkeit und sonstiger Selbstsucht Raum gönnt. .-*■
Gegenüber dem Geist unserer Zeit ist darauf zu halten, dasz der Erzieher
teils für sich selbst, für die Erfüllung seines Berufs, teils für seine Zög-
linge , sofern es sich um die Fundamente des sittlichen Lebens derselben
handelt, in erste Linie die Pflichten der Gerechtigkeit stelle, in die zweite
die Pflichten der Billigkeit und erst zuletzt die der Liebe. Die sentimen-
tale Denkweise unserer Tage dreht das Verhältnis geradezu um, stellt
immerdar die Liebespflichten in den Vordergrund, legt auf selbsterwähl-
tes Gebaren in Gefühlen , Worten und Werken den Hauptwerlh. Gehor-
sam ist besser, denn Opfer, das ist ein trefflicher Satz auch auf dem
Felde der Erziehung. Mit anderen Worten : auch das Kind sehe an uns
und lerne von uns , dasz treue , sich selbst vergessende Pflichterfüllung,
gewissenhafte Achtung des übergeordneten Willens, des Gesetzes und der
bestehenden Ordnung, Berücksichtigung der ausgesprochenen Wünsche
des Vaters, der Mutter oder des Erziehers das Allererste sei, was ihm
obliege, während selbstgemachte Erweisungen von Liebe, schöne, ob
auch nicht unwahre, Worte, zarte Gefühle und gerührte Empfindungen
einen untergeordneten , mitunter selbst zweideutigen Werth haben. Zum
Nachtisch mag das Letztere zulässig sein; die kräftige, gesunde Haus-
mannskost musz aber das Erstere bilden. — Für die Väter gibt der Apo-
stel Paulus (Col. 3) in einem schlichten Wort eine treffliche und vielbe-
sagende Weisung, wenn er sagt: fIhr Väter, erbittert eure Kinder nicht,
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Erlebtes und Bewährtes. 343
auf dasz sie nicht scheu werden.9 Denn ein Hauptfehler Ton Seiten der
Väter in der Erziehung besteht darin, dasz sie das, was sie sagen
und verfugen, so oft nicht mit derjenigen zarten und selbstsuchllosen
Rücksicht thun, welche eine bessere Kindesnatur notwendig -fordert.
Feste Gonsequenz ist damit entfernt nicht ausgeschlossen ; diese erbittert
an und für sich nicht, sondern nur die lieblose, selbstsüchtige, eigen-
willige Form, in der sie aus dem Munde so vieler Väter kommt; das Lau-
nenhafte, rein Willkürliche der Befehle oder Strafen, das ists, was bitter
und scheu macht. Im Gegenteil zeigen sich gutgeartete Kinder, wenn sie
zwar strenge aber gerecht gestraft worden sind, bekanntlich bald her-
nach oft ungewöhnlich zärtlich, aufmerksam und gehorsam, gewis nicht
blosz aus Furcht vor neuer Strafe, sondern weil sie fühlen, dasz man da-
durch an ihrem besseren Selbst gearbeitet, diesem zur Erlösung verholfen
hat. Allerdings ist auch bei besseren Kindern, wenn sie festen, eigenen
Willen haben , plötzliches Aufwallen des Zornes und des Trotzes gegen-
über von gerechten Forderungen gar nicht selten; aber auch dieses ist
nicht zu verwechseln mit jenem Bitter- und Scheuwerden, das der Apo-
stel meint. Doch gerade solche charakterfeste Kinder lassen erkennen,
wie wahr das Wort Kant's ist, dasz es eines der grösten Probleme der
Erziehung sei, wie man den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich
seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Er stellt dabei drei
Punkte auf, die besondere Berücksichtigung verdienen: frei sei das Kind
in Allem, auszer in Dingen, wo es Anderer Freiheit beschränken oder
sich selbst schaden würde ; man zeige ihm , dasz es, um seine Zwecke zu
erreichen, Anderen die ihrigen lassen müsse; es Jerne einsehen,~dasz man
es deshalb erzieht, damit es einst frei leben und durch Entwehren und
Erwerben von Andern sich unabhängig erhalten könne. Wer diese drei
Rücksichten im Auge behält, kann viel befehlen und strenge strafen, kann
auch starke Naturen unter den notwendigen gesetzlichen Zwang beugen,
ohne zu erbittern ; denn diese Grundsätze flieszen nicht aus Selbstsucht,
sondern aus Liebe, nicht aus launenhafter Willkür, sondern aus der Ach-
tung vor ewigen Gesetzen , die dem Erzieher und dem Zögling gleicher-
maszen gelten.
12.
Pädagogische Antinomieen.
Lasse ja Kleinigkeiten von gröszerer Tragweite bei der Erziehung
nicht unbeachtet, principiis jobsta. Aber mache doch nicht zu groszes
Aufheben davon, so lange du nicht sichere Anhaltspunkte hast, um daran
ernsteres Auftreten dagegen knüpfen zu können, sondern warte ab, bis
derselbe Fehler sich in greifbaren Erscheinungen kund gibt, was nie aus-
bleibt, wenn anders die Vermutung richtig war, dasz der Fehler tiefer
sitze. — Urteile und handle in der Erziehung sowenig als sonst im Le-
ben blosz nach dem Erfolg; wer das thut, beweist damit meist seine Un-
bildung. Und doch, wenn du dich dabei frei weiszt von Zorn und Selbst-
sucht, must du gerade manchmal beim Erziehungswerke die Rücksicht
auf den Erfolg vorwalten lassen, sofern ein schlimmer Erfolg dem Kinde
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344 Schilling: die verschiedenen Grundansichten des Geistes.
selbst seiue Schuld mehr zum Bewustsein bringt , als da , wo bei gleich
groszer Verschuldung die nachteiligen Folgen minder in die Augen fallen.
2*.
Die verschiedenen Grundansichten über das Wesen des Geistes.
Akademische Festrede, gehalten von dem Rector der Ludwigs-
Universität Dr. Gustav Schilling, ord. Prof. der Phil. Gieszen
1863. 4. Leipzig, Commission von L. Pernitzsch.
Wer, sei es zu seiner eignen Belehrung, sei es zum Behufe des
Unterrichtes, sich in der Geschichte der Philosophie umgesehen hat,
weisz, dasz trotz der jetzt vorhandenen, teilweise vortrefflichen Hülfs-
bücher es doch sehr schwer ist , sich über die Behandlung eines und des-
selben einzelnen Gegenstandes in den verschiedenen Systemen schnell
eine genaue Kenntnis zu verschaffen , namentlich aber die vielfachen Auf-
fassungsweisen desselben Gegenstandes auf die wenigen wesentlichen
Grundunterschiede zu reducieren. Ein Hulfsmittel für die Psychologie
bietet die hier anzuzeigende Schrift, welche auch für diejenigen von
Wichtigkeit sein wird, denen sonst anderweitige philosophische Unter-
suchungen ferne, die Fragen über das Wesen des Geistes aber und ober
seine Vergänglichkeit oder Unsterblichkeit am Herzen liegen«
Der Vf. spricht zunächst von dem psychologischen-Mate-
rialismus (S. 4 f.), und zwar in einer solchen Weise, dasz uns zugleich
in nuce eine Geschichte des Materialismus überhaupt vorgeführt wird,
der nun einmal leider jetzt überall von sich reden macht. Als Vertreter
dieser Richtung erblicken wir Heraklit, Empedokles, Leukipp
undDemokrit, Epikur, den Verfasser des Systeme de la nature*),
jener f Bibel des Atheismus', wie Pristley sagt, schlieszlich Naturforscher
der Jetztzeit, unter denen namentlich Czolbe**) hervorzuheben ist, weil
dieser in Vergleich mit Vogt, Moleschott, Büchner usw. die Sache am
wissenschaftlichsten behandelt.
Heraklit erscheint als der Erste, der in beachtenswerther Weise
seine Lehre vorn ewigen Flusse aller Dinge und vom Feuer als stofflichen
und bewegenden Principe auf den Menschen und sein geistiges Sein und
Thun , ja selbst auf den Weltgeist ausdehnte. Wie in allen anderen Din-
gen, so macht das Feuer auch im Menschen die Bewegung, das Leben
und das Wissen aus , sofern der Mensch ein Teil des Weltganzen ist und
*) Systeme de la nature ou des lois du monde physique et du monde
moral par feu Mr. Mirabaud. London 1770.
**) Neuere Darstellung des Sensualismus. Ein Entwurf von Hein-
rich Czolbe. Leipzig', Costenoble 1855. — Entstehung des Selbstbe-
wustseins. Eine Antwort an Hrn. Prof. Lotze, von Heinrich Czolbe.
Leipzig, Costenoble 1856.
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Schilling : die verschiedenen Grundansichten des Geistes. 345
so lange es aus der ihn umgebenden Welt durch Athmung und Sinnes-
wahrnehmung in ihm ein- und ausgeht.
Die Art wie Empedoklesdie Sinnes Wahrnehmungen durch die so-
genannten Ausflüsse oder Ausströmungen und das Eindringen in die OeflV
nungen anderer Körper entstehen läszt, ist völlig materialistisch. Wo
die Elemente am besten und vollständigsten gemischt sind, da ist nach
ihm die Wahrnehmung und Vorstellung am vollständigsten; und dies ist
der Fall im Blute, namentlich in seinem Sammelplatze, dem Herzen,
welchem die Alten überhaupt in ihrer physiologischen Psychologie eine
gröszere Wichtigkeit beilegten als dem Gehirn.
Bei den Atom ikern Leukipp und Demokrit muste die Berücksich-
tigung der Qualitäten der Elemente in Wegfall kommen und an ihre
Stelle die Gestalt der Atome treten. Den kugelförmigen Feueratomen
werden , als den beweglichsten, die Functionen des Lebens und der Seele
aufgetragen. Kommen bei der jeweiligen Art, wie die Abbilder der Dinge
dem Seelenleibe zugeführt und schlieszlich in ihm abgedrückt werden, die
Seelenatome in eine mäszige, richtig temperierte Bewegung, so wird die
Erkenntnis eine richtige ; im Gegenteile eine falsche. Consequeiiterweise
ist hier das Wahrnehmen weder vom Denken noch vom leiblichen Leben
geschieden und durch den ganzen Leib hindurch verbreitet. Es ist eine
weitere Gonsequenz, dasz Leben und Empfindung so weit ausgedehnt
werden , als die Bewegung reicht , Lebenskraft und Beseelung unbedenk-
lich in Thieren und Pflanzen , ja auch im Reiche des Unorganischen , ob-
wol hier in geringerem Masze vorausgesetzt wird.
Epikur brachte es in seinem Anschlüsse an die nur Genannten
blosz zu einigen Inconsequenzen , die ihm durch Eigentümlichkeiten der
psychologischen Thatsachen aufgenötigt wurden.
Das ist der psychologische Materialismus im Altertum. Einen unver-
hülllen Ausdruck erhielt derselbe im vorigen Jahrhundert in dem vielbe-
rufenen Pseudonymen System der Natur.
Nach dem System der Natur ist das materielle Gehirn die Seele,
und die Seelenvertnögen oder Seelenzustande sind nur verschiedene Arten
zu wirken oder zu sein, die aus der Organisation des Körpers resultieren.
Das psychische Grundvermögen , aus dem alle anderen resultieren , ist das
Empfinden, sentiment. Es wird als ein präciser Begriff des JEmpfindens
aufgestellt , dasz es die den Sinnesorganen eigene Bewegung sei , in die
sie durch materielle Objecte versetzt werden und die, sich in das Gehirn
fortpflanzen. Die Gehirnbewegung ist ohne weiteres der Empfindung
gleich gesetzt. Da aber der Hiatus zwischen beiden doch zu auffällig ist,
so wird die Unerklärbarkeit des Empfindungsvermögens des Gehirnes ein-
gestanden und dasselbe nnr als Thatsache festgehalten ; dafür aber wer-
den zwei Hypothesen zur Auswahl angeboten. Entweder soll di6 Empfin-
dungsfähigkeit eine Folge des Wesens und der Eigenschaften der Orga-
nismen , also das Resultat einer nur 'dem thierischen Körper eigenen
Anordnung und Verbindung der Stoffe sein. Oder aber sie ist eine all-,
gemeine, allen Materien iuhärierende Eigenschaft; nur dasz man dann die
active, lebendige Sensibilität von der todten, trägen (gehemmten) zu
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346 Schilling: die verschiedenen Grandansichten des Geistes.
unterscheiden hätte. Das System hat also seinen Bankerott selbst ange-
zeigt. Die vorgegebene Erklärung des Empfindens, überhaupt des Bewust-
seins, des Wissens aus der Bewegung wird als mislungen aufgegeben und
das ganze Unternehmen als unmöglich anerkannt; die Materie, oder wenig-
stens die Nervenmasse des Gehirnes , bekommt dafür die Eigenschaft des
Empfindens oder Bewustseins als etwas Ursprüngliches. Es wird dabei
nur das unschuldige Kunststuck gemacht , die physiologische Reizbarkeit
der Nervenmasse für das psychische Bewustsein auszugeben; eine Trans-
formation , die durch die Zweideutigkeit des Wortes Sensibilität erleich-
tert war. Nachdem so das Gehirn zu der Fähigkeit des Empfindens und
Wissens oder Bemerkens gelangt ist, schreitet das System mit leichtem
Schritt vorwärts, fertigt eine Anzahl psychischer Processe schnell mit
Namenserklärungen ab, und ist später gar nicht mehr blöde, dem Gehirn
zu dem Wahrnehmen und Vorsteilen auch noch die weiteren Fähigkeiten
beizulegen sich selbst zu modiiicieren, sich auf sich selbst zu wenden,
seine eigenen Operationen zu betrachten, die empfangenen Wahrnehmun-
gen und Vorstellungen zu comhinieren, zu trennen, auszudehnen, einzu-
schränken, zu vergleichen, zu erneuern — kurz es endet, wie.es ange-
fangen, mit Erschleichungen, und setzt einfach voraus, was zu erklären
war, aus Masse und Bewegung aber nimmer erklärt werden kann.
Das jüngste Wiederauftauchen des Materialismus befremdet für den
ersten Augenblick , wenn man bedenkt , dasz seit den Anfängen bei Kant
der Hauptstrom der deutschen Philosophie entschieden idealistisch ge-
wesen ist. Aber gerade der Idealismus bei Schelling und Hegel wurde
namentlich für flache Denker und Dilettanten im Philosophieren Impuls,
wieder in das bequemere Lager des Materialismus hinüber zu gehen.
Fällt doch ohnehin die idealistische Auffassung der Welt
denjenigen schwer, die sich stets mit der Sinnenwelt durch
sinnliche Wahrnehmungen beschäftigen. Je höher also die
philosophisch dilet tierenden Naturforscher die Leistungen der
modernen Naturwissenschaft anschlugen, um so sicherer hofften sie ledig-
lich mit den methodologischen und principiellen Mitteln der mechani-
schen Naturlehre auch die Geisteslebre aufbauen zu können.
Unter diesen zeichnet sich Gzolbe durch einen ernsten wissen-
schaftlichen und moralischen Sinn aus und verdient, hier hervorgehoben
zu werden. Zu der allgemeinen theoretischen Ansicht des Materialismus,
dasz Empfindung und Vorstellung nichts anderes als räumliche Bewegung
(von Gehirnteileu) sei, hat Czolbe noch den neuen Gedanken hinzuge-
bracht, dasz eine gewisse Form der Bewegung zur Hervorbringung des
Bewuslseius erforderlich sei. Er läszt nemlich in den äuszeren Reizen
der Sinnesorgane die sinnliche Qualität der Empfindung schon vollständig
vorhanden sein , so dasz sich als,o von einem rothglänzenden Körper eine
fertige Röthe, von einem tönenden eine Melodie absondere, um durch die
Sinnesorgane in uns einzudringen. Doch sollen diese Reize oder Sinnesqua-
litäten wiederum nichts anderes, als Bewegungen von gewissen Geschwin-
digkeiten und Formen sein , die als solche in Nerven und Gehirn fortge-
pflanzt werden — Behauptungen , die weder unter einander , noch mit
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Schilling: die verschiedenen Grundansichtendes Geistes. 347
den jetzigen naturwissenschaftlichen Lehren stimmen. Gzolbe nimmt dann
weiter an, dasz das Gehirn sich dazu eigene, diesen zu ihm fortgepflanz-
ten Bewegungen eine in sich zurücklaufende Richtung zu geben, und eben
diese rückläufige kreisende Form der Bewegung mache das Bewustsein
aus. Er erklärt nemlich das Eigene der geistigen Thätigkeit (die Bewust-
heit) durch Identität des Subjects und Objects; und diese Einheit des
Zweierlei findet er nur in einer Thätigkeit, deren Anfangs- und Endpunkt
überall zusammenfalle, d. h* in in sich zurücklaufender Bewegung.
Kreisen eine Menge solcher Bewegungen nebeneinander im Gehirne, so
soll dies die Einheit des Bewustseins ausmachen. Seinen Erklärungen des
Selbstbewustseins oder Ichs mangelt es entschieden an Klarheit. Nicht
ohne Grund hat man jenen Aufstellungen entgegen gehalten, dasz nach
ihnen viele gemeinste Dinge, die in kreisender Bewegung sind, Bewust-
sein haben müsten, und dasz das, was die Einheit des Bewustseins aus-
machen soll, eher ein anschauliches Bild seines Ausein ander fallens, seiner
Spaltung und Getrenntheit abgeben würde.
An diesem Verlaufe des Materialismus können auch die blödesten
Augen sehen, was schon in seiner ersten Phase unverkennbar vorliegt,
dasz es ein unmögliches Unternehmen ist, aus der Materie, dem Soliden,
Ausgedehnten, Räumlichen den Geist zu erklären. Was wir als Materie
und mit ihr geschehend denken, ausgedehnte Masse, die ganz oder nach
ihren Teilen in Bewegung sein oder gerathen kann , in Bewegungen von
verschiedenen Richtungen und Geschwindigkeiten, das passt zum Bewust-
sein einer Empfindung oder Vorstellung, eines Gefühles, einer Begehrung
so wenig, dasz man nichts anderes als sinnlose Worte spricht, wenn man
sagt : Bewustsein ist räumliches Nebeneinandersein von materiellen Tei-
len, oder es ist die in sich zurückkehrende Bewegung derselben, Wissen
und Erkenntnis ist Anhäufung von Massen oder Berührung derselben.
Wie das Auseinander von sich berührenden Massenteilchen, wie die Ge-
samtheit der Aeuszerlichkeiten , die wir Materie nennen, in das absolute
Ineinander und die Qualität einer bewusten Vorstellung, in die reine
Innerlichkeit eines Gedankens übergehe, wie eine räumliche Bewegung
metamorphosiert werde in eine unräumliche Empfindung — das nachzu-
weisen wäre Aufgabe des Materialismus; mit kecken Worten kann sie
aber nicht gelöset werden ; dergleichen dienen nur dazu, Unkundigen,
Denkschwachen und Furchtsamen eine Zeit lang zu imponieren; Ueber-
zeugung können sie niemals hervorbringen.
Nicht der, nur untergeordnete, wissenschaftliche Werth der Rich-
tung , sondern das Interesse der Gegenwart, hat uns veranlaszt, über den
ersten Teil des Vortrages ausführlicher zu berichten. Daran reihe sich
zweitens die Psychologie des cartesianischen Dualismus , d. h. die
Ansicht von der Seele nach dem Dualismus des Descartes. Der Vf. geht
hier aus von Anaxagoras. Denn dieser repräsentiert bei den Alten den
Dualismus, insofern er zuerst den Geist den Homoeomerieen als etwas ge-
genüber stellt, das gänzlich davon getrennt, d. h. völlig geschieden und
die Materie beherschend ist. Allein Anaxagoras war noch nicht im Stande,
hierbei von aller Vorstellung der Räumlichkeit und Körperlichkeit abzu-
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348 Schilling : die verschiedenen Grundansichten 4es Geistes.
sehen ; denn trotz jenem Freisein von Materie nannte er doch den Geist
das Dünnste und Feinste und sprach von einem gröszeren und kleineren
Geiste. Erst'Descartes druckte die Eigentümlichkeiten dieser zwei
Classen von Wesen mit logischer Schärfe aus und wüste sie in bestimm-
ten Gegensalz zu bringen. Das Wesen der Körper ist nach ihm die Aus-
dehnung, die Natur der Geister ist durch räumliche Prädicate ganz und
gar nicht zu fassen; sie sind immateriell, und ihr Wesen besteht im Den-
ken oder Bewustsein. Mit dem Worte Denken bezeichnet aber Descartes
keineswegs das logische Denken ; es sollte vielmehr dies der Classenbegriff
sein für alle geistigen Vorgänge oder, noch bestimmter, die Bezeichnung
ihrer allgemeinen Eigenschaft, die Bewustheit. Diese Vorgänge brachte er
in zwei Classen, erstens Wahrnehmen und Erkennen, zweitens Wollen,
wovon nur das Letztere Thätigkeit der Seele sein sollte, das Erstere da-
gegen, mit Ausschi usz des absichtlichen Denkens, ein Leiden. Es bleibt
aber im Unklaren, woher denn das Leiden komme, da der Körper nicht
soll auf die Seele einwirken können. Ueherdies fehlt es an einer Herlei-
tung dieser verschiedenen Modificationen des Bewustseins aus dem Grund-
zustande der Seele fast gänzlich. Einerseits wird zwar eine Causalitlt
zwischen Leib uotf Seele in Abrede gestellt, und anderseits werden doch
diese entgegengesetzten Wesen zur Einheit des Menschen verbunden.
Nichts desto weniger ist es ein Verdienst des Descartes, dasz er das
organische Leben als einen Complex von mechanischen Processen von dem
geistigen absonderte, wie überhaupt die Unterscheidung der körperlichen
und geistigen Erscheinungen seitdem als ein Zug der Wahrheit gegolten
hat, auf dem die Popularität der Betrachtung des Menschen nach Leib
und Seele bis auf den heutigen Tag beruht, deren historischen Ursprung
aber die Mehrzahl der Gebildeten, z. B. der orthodoxen Dogma tiker, gar
nicht mehr kennt.
Unter den Philosophen dagegen ist der Erfolg der dualistischen Ge-
genüberstellung von körperlichen und geistigen Substanzen ein ganz an-
derer gewesen. Dies führt uns drittens auf die Aristotelische An-
sicht, die nichts anderes ist als ein Vermittlungsversuch zwischen dem
scharfen und ausschlieszenden Unterschiede oder Gegensatze von Leib
und Seele. Die Materie ist nach Aristoteles nicht ein Fertiges, nicht ein
für sich bestehendes Ding, sondern blosz der Möglichkeit nach Etwas, ein
Unvollendet-seiendes. Ebensowenig ist die Form oder formbildende Thä-
tigkeit (mit einziger Ausnahme der reinen göttlichen Thätigkeit) etwas
für sich Bestehendes, sondern sie setzt die Materie, den Stoff, voraus, in
dem uud an dem sie sich verwirklicht. Zwar ist sie als" ivipfeia das
Vorzüglichere und mehr Seiende denn die Materie. Aber, heide sind
doch nur dem Begriffe nach unterscheidbar; in den vorhandenen indivi-
duellen Dingen sind sie eins, indem die Materie dem Wachs vergleichbar
ist, welchem die Form ihr Gepräge aufdrückt. Die Seele ist die sich selbst
verwirklichende Vollendung des Leibes, die erste Entelechie des orga-
nischen Leibes als eines solchen. Auch dem Thiere, ja selbst der Pflanze
muste nun Aristoteles eine Seele zugestehen , nur dasz die Menschenseele
durch das vernünftige Denken , den voöc , bevorzugt ist. Freilich konnte
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Schilling: die verschiedenen Grundansichten des Geistes. 349
es Aristoteles nicht gelingen, aus der Zusammenbindung so heterogener
Energieen die Eine ungeteilte Seele des Menschen hervorgehen zu lassen;
der Versuch einer Vereinigung der organischen Lebensfunctionen mit
dem bewusten Geisteslehen erklärt und entschuldigt sich aus q*er Vieldeu-
tigkeit des griechischen ipuxrj. Namentlich bei der Unsterblichkeitsfrage,
wo Aristoteles den voöc von dem sterblichen Leibe sondert, tritt es an
den Tag, wie er vergeblich versuchte, Unvereinbares zu vereinigen. Dies
und weitere Widersprüche werden S. H hervorgehoben.
Als ein anderweitiger Vermittlungsversuch zwischen der scharfen Ge-
genüberstellung von Leib und Seele erscheint viertens die spinozisti-
s c h e Lehre, deren Wesentlichstes dies ist. Es existieren nicht zweierlei
Arten von wahrhaft subsi stierenden Wesen, sondern nur Eines mit den be-
kannten zwei Attributen, Denken und Ausdehnung, deren jedes der genaue
Ausdruck einer und derselben Substanz ist. Deshalb müssen sich Denken
und Ausdehnung entsprechen. Der menschliche Geist ist nun nach Spinoza
ein endlicher Teil des unendlichen göttlichen Denkens , und der mensch-
liche Leib ist ebenso ein endlicher Teil der unendlichen göttlichen Aus-
dehnung; aber man fragt bei ihm vergebens, woher diese Endlichkeiten
kommen in dem unendlichen Meere von Unendlichkeiten der göttlichen
Substanz , und schliesslich besteht, genauer zugesehen , die Seele eigent-
lich in einem Complex und einer Reihenfolge von Vorstellungen , die den
Teilen und Veränderungen des zusammengesetzten Leibes entsprechen.
Ein Ich, das sich als etwas vom dem Körperlichen Verschiedenes weisz,
konnte Spinoza nicht begründen, wenigstens nicht durch die Annahme, dasz
in dem göttlichen Denken von Allem, was in Gott sei und sieb verändere,
eine adäquate Idee sei, folglich auch von der menschlichen Seele und ihren
Veränderungen, diese Idee aber sei auf dieselbe Weise mit der mensch-
lichen Seele vereinigt sei, wie diese letztere mit ihrem Leibe; so wäre
diese göttliche Idee der Seele, also die Idee der Idee des Leibes, auch
nur das einigende Band jener Vorsteliungsmenge , die dem menschlichen
Leibe entspricht , nichts weiter davon Verschiedenes.
Nicht als ein Vermittlungsversuch, sondern als die Lösung der Frage
nach der Causalität zwischen Leib und Seele auf einem ganz neuen Wege
wird fünftens die monadologische Philosophie Leibnitzens dar-
gestellt. Dazu wird die r e a 1 i s t i s c h e Psychologie Herbart'sin ihren
Grundzügen entwickelt. Sie ruht auf der historischen Grundlage des
Leibnitzianismus , sucht aber die Psychologie exaet methodisch auszu-
führen.
Den Schlusz macht sechstens die Fichte-Hegelsche Psycho-
logie , die ebenfalls als ein neuer Weg zur Lösung der psychologische^
Fragen angesehen und kritisiert wird , worauf wir als allgemein bekann-
ter nur hinweisen.
Die Art, wie hier die widerstreitenden psychologischen Ansichten
dargestellt sind, wird, weil zugleich gezeigt ist, aus welchen Gründen
diese entgegengesetzten Ansichten hervorwachsen , auf den denkenden
Leser keineswegs den Eindruck machen, als wäre die Geschichte der Phi-
N. Jahrb. f Phil. u. P*d. II. Abt. 1864. Hft. 7. 24
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350* Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
losophie, in speeie der Psychologie, nur ein Sammelsurium der hetero-
gensten paradoxesten Meinungen, sondern er wird den Vf. begreifen,
wenn er auf derartige nur allzu oft gemachten Vorwürfe erwidernd
sagt : 'den Kundigen wird es nicht wundern , wenn der Philosoph im ße-
wustsein der in seinem Gebiete von jeher aufgewandten und immerfort
aufzuwendenden Geisteskraft und der allmählich erweiterten und berich-
tigten Erkenntnis entgegnet: introite! et heic dii sunt!'
Vielleicht befremdet es Manchen, Plato, Kant und Schilling hier
nicht ausdrücklich berücksichtigt zu sehen. Jedenfalls kam es dem Vf. nur
darauf an, die wesentlichen verschiedenen Grundansichten im Bereiche
der Psychologie darzulegen , wodurch diese Auslassungen motiviert sein
mögen. Trotz der Knappheit der Behandlung gewährt der Vortrag mehr
reellen Gewinn, als manche weitläufigen historischen Darstellungen, z. B.
in der jetzt schon etwas veralteten Geschichte der Psychologie von
Friedr.Aug. Garus (Leipzig 1808) oder auch selbst die dem System der
Psychologie von F o r 1 1 a g e (Leipzig 1855) vorausgeschickte Geschichte
der Psychologie samt ihrer ausführlichen Litteratur. Wer sich eingehend
mit der Sache beschäftigt, dem rathen wir zu einer Vergleichung der
Schrift mit der Einleitung von Volkmann's Psychologie (Halle 1856),
dessen eingehende Studien in der Geschichte der Psychologie seine eigne
Psychologie und seine Monographie, Grundzüge der aristoteli-
schen Psychologie (Prag 1858), beurkunden.
Leipzig. Prof. H. FriUsche.
(20.)
Die prosodische und metrische Messung der Nibelungen-
Strophe im MHD und NHD.
(Fortsetzung von S. 277.)
Zweiter Abschnitt.
a) Die neuhochdeutsche Nibelungen- Strophe«. »
Prosodie.
b) Im Nhd. ist, was oben beim Mhd. zur Unterscheidung beider Spra-
chen öfter bemerkt werden muste, von den Formeln l) tuittoc, 2) tött-
TTOC, 3) TÖiroc, durch welche sich die Quantitätsverhältnisse bequem
bezeichnen lassen, die dritte nicht mehr, eine vierte Formel: tujttttoc
(= Träcxe, TrpäSic = Obst, Mond) nur scheinbar vorhanden.
A) Der Stammvocal.
Kegel.
Für unsre nhd. Sprache gilt die durchgreifende Regel: a) vor ein-
facher Consonanz ist der Stammvocal lang und b) vor dop-
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Di& prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 351
pelter kurz. Da nun die Doppelconsonanz wenigstens Positionslänge
bewirkt, so fehlen uns alle Naturkürzen (= tÖttoc), welche die latei-
nische und griechische uud auch die ältere deutsche Sprache in sehr
groszer Zahl' besitzt.
NB. Diese Grundregel der Quantität neuhochdeutscher Wörter ha-
ben wir auch auf die Aussprache des Lateinischen übertragen und spre-
chen jetzt — blosz deswegen — die penultiina zwei - und die antepenul-
tima dreisilbiger lat. Wörter sehr oft grundfalsch aus z. B. hömo, döinus,
mänus ; hömines , mänibus (den Händen) ; fügimus , födimus , legimus (=
Praesens). Dies widerspricht nicht blosz den Quantitätsverhältnissen der
lateinischen Sprache ganz* und gar , sondern erschwert und verleidet dem
Anfänger die ersten Versuche in lateinischer Versbildnerei so lange,
bis er sich der, von Sexta an geübten, neuhochdeutschen Betonung
lateinischer Worte allmählich entwöhnt.
Ausnahmen von dieser Regel.
1) Nach der Formel tottoc sind in altdeutscher Weise kurz
a) die einsilbigen Stämme: bin, hin, man, gen, weg, um, an; in, von,
im, vom, zum, zur, ab, ob, -un, -zer, -ver und
b) einzelne Vollwörter : Glas, Grab, grob, Tag, mag, Wol-lust (neben :
wohl), bar-fusz (neben : baar), Her-zog (neben : Heer) , Hoch-zeit (neben :
hoch) u. a., deren Quantität aber mundartlich schwankt.
2) In Betreff der Formel: tottttoc gilt ch nach gemeiner, aber ganz
falscher Regel meist als Doppelconsonant, und der Vocal ist daher kurz
z. B. Sache, Rache, sprechen, Stich, Loch, Spruch, Sucht; als einfacher
dagegen z. B. in: Sprache, sprach, stach, suchen, fluchen, in welchen Wor-
ten wir demgemäsz den Vocal lang sprechen. Abgesehn ferner von der sehr
schwankenden Orthographie in Bezug auf sz und ss, wo eine Ueberein-
slimmung selbst zwischen den Kundigen durchaus noch nicht stattfindet,
ist folgende Regel herkömmlich und, wie es scheint, in der Dorf- und
Stadtschule und den Seminaren heimisch: 'zu z gehört tz, zu sz aber ss
als Doppelconsonant.' Demgemäsz dehnen sie .den Vocal vor z und sz und
sprechen ihn kurz aus vor tz und ss; am Ende des Wortes schreibt trotz-
dem die Mehrzahl wieder in beiden Fällen sz z. B. musz , muszt , muszte
und Fusz, fuszt, fuszte.
Dasz diese Regel der Volksschule vom sz und ss auf historischer
Grundlage nicht ruhe, braucht nicht erst erwähnt zu werden; aber die
Schwankungen der Vocale vor ch*) und sz und ss zeigen, wie es für die
Schulkinder im zarteren Alter, auf die es bei der Orthographie doch ein-
•) 'Das ch und auch das seh stellen physiologisch einfache
Laute dar. Man vermeidet ihre Gemination und schreibt nach gedehn-
ten und geschärften Vokalen (Formel: Sprache: Sache; wuschen: wa-
schen = T&iroc und xöiroc) nur das einfache ch und seh. Dadurch
tritt die Orthographie aus ihren sonstigen Fugen heraus', cf. die Kehl -
kop flaute von Dr. G. Michaelis (Berlin Lobeck. 1863 S. 13), dessen
Vorschlag, das lateinische Wort laryngales einzuführen, sich so empfiehlt,
dasz nur Pedanterie sich dagegen sträuben könnte.
24*
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352 Die prosodische und metrische Messung der Nibeluugenstrophe usw.
zig und allein ankommt,- räthllch und fördersam wäre, die langen Vocale
auch im Nhd., wie dies im Mhd. immer der Fall ist, durch irgend ein
Zeichen, wenigstens in solchen zweifelhaften Fallen dem Auge kenntlich
zu machen , die kurzen dagegen unbezeichnet zu lassen.
Scheinbare Ausnahmen von der obigen Regel.
1) Formel: tüjttttoc; z. B. spart, schonst, fährt; Bart, Obst, Pabst,
Pferd, Mond u. a. Die Ausnahme erklärt sich von selbst durch das deut-
lichere oder dunklere Gefühl der syncope z. B. sparet, schonest, fähret;
Baret; mhd. obez, habest, phaerit, phaert (= mit. paraveredus) ; mänöt,
mänet , mänt. Der lange Vooal verbleibt also auch nach der syncope.
2) Formel : tüjttoc.
Nach der obigen allgemeinen Regel ist im Nhd. der Vocal vor
einfacher Gonsonanz lang. Diese Regel ist der Zahl der Worte nach
so durchgreifend, dasz kein triftiger Grund ersichtlich ist, warum man
ohne alle Not darauf verfiel , dem Schulkinde die Dehnung des Vocals vor
einfacher Consonanz in gewissen Worten noch anderweitig zu bezeichnen.
Und dennoch ist dies zur Qual der Kinder geschehn.
Unnötige Dehnzeichen.
a) Das E nach i; b) das H, als bloszes Dehnzeichen; c) die Doppe-
lungen: aa, oo, ee z. B. wir: hier: ihr; zwar: wahr; war: Haar; er:
sehr: Meer; los: Loos; schone: ohne; Gut: Gluth (Glüht?).
Diese 3 Arten von Dehnzeichen, die sich — gegen die Formel:
tüjttoc — in der nhd. Orthographie eingenistet haben und ohne ge-
schichtlichen Grund bald stehen, bald fehlen, sind eine nur scheinbare und
zugleich unnötige Ausnahme, die übrigens, wenn man die Länge des Vo-
cals für zweifelhafte Fälle durch ein Zeichen ausdrückte, sofort ganz und
gar beseitigt wäre.
Sie sagen freilich: Durch diese Dehnzeichen sollen in der Schrift
gleichlaut ige, aber dem Sinne nach verschiedene Wörter von einander
augenfällig gesondert werden. Aber abge sehn davon, dasz diese Rück-
sicht bei vielen mit dem Dehnzeichen geschriebenen Worten gar nicht,
statt deren vielmehr blosze Willkür obwaltet, so ist dieser Grund auch
an sich nicht stichhaltig. Der Römer bezeichnet z. B. mit dem durch-
weg gleich geschriebenen Worte * sui': l)ichhabegenäht, 2) dem
Schweine, 3) sein, seiner (= oö), 4) seines (= Possessivum),
5)dieSeinigen, ohne irgend ein Misverständnis zu befürchten. — Wer-
den aber ferner z. B. die Worte: *war' und * waren' (== tüjttoc) ausz er-
halb des Satzes gesprochen oder geschrieben, dann ist es völlig gleich-
giltig, ob das Schulkind, das sie hört oder schreibt, an den Begriff denkt,
den wir lateinisch mit 'erat, erant', oder mit fverus, veris', oder mit
emerces* bezeichnen. Stehen dagegen die beiden Worte, gleichviel ob
gesprochen oder geschrieben, innerhalb des Satzes, so ist eine Ver-
wechselung kaum möglich, wenigstens eine so grosze Seltenheit, dasz
der etwaige, geringe Nachteil gegen die Qual und Not, die diese Dehn-
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 353
zeichen dem Schulkinde und dem Lehrer machen , gar nicht ins Gewicht
fäUt. Selbst Sätze wie: 'er behauptete es zwar; es war aber nicht war';
ferner: die Waren waren damals theuer, das ist zwar war; aber sei-
nen Vorteil müsz jeder waren — selbst solche Sätze würde das deutsche
Schulkind, wie es dem römischen mit dem Worte 'sui' gelungen ist, beim
Lesen ganz richtig auffassen und die Begriffe der gleichgeschriebe-
nen Worte gewisz nicht verwechseln.
Ueber diese Ausnahmen von der Quantitätsformel: tujttoc, die für
das Kind nicht blosz unnötig, sondern verwirrend und höchst schädlich
sind, läszt sich kaum reden, ohne auf die zur Zeit obwaltende Regellosig-
keit unsrer Orthographie im Allgemeinen einzugehen. Wie nemlich in
vielen andern Punkten , so finden dermalen auch in Betreff dieser Dehn-
zeichen in den Büchern allerlei Schwankungen statt; in denselben Worten
schreiben sie die Einen, Andere dagegen lassen sie weg. Da sich die
Sachlage unsrer heutigen Orthographie nach Einer Richtung hin nicht
wol besprechen läszt, so wollen auch diese Dehnzeichen E, H, aa, oo,
ee von einem allgemeinen Standpunkte aus betrachtet sein.
Die maszgebende Grundlage allerOrthographieistder
Reim; nach ihm schreibt das Schulkind bei gleichen Lauten folgerichtig
gleiche Zeichen. In den voranstehenden Beispielen: wir: hier: ihr;
zwar: wahr; war: Haar; er: sehr: Mee-r usw. hört und findet das
Schulkind Reime ; es schreibt daher — gemäsz der Formel : tujttoc —
die reimenden Worte mit einfachen Vocalen. Statt nun das Kind des-
wegen zu tadeln, was jetzt der Lehrer in der Volksschule unzählige Male
thut , müste es dieser umgekehrt gerade loben , da es , wenn auch unbe-
wust , so doch ganz richtig auf dem Gleichklange des Reimes und auf der
Analogie fuszt , wonach es gleiche Laute mit gleichen Zeichen schreibt.
Der oft wiederholte, noch dazu ganz unbegründete Tadel
des Lehrers — was wird er bewirken? Offenbar das Ohr des
Kindes für den Reim stumpf machen , seinen Verstand in der Ausübung
eines Grundgesetzes des Geistes irren und ihm endlich durch die vielen
Ausnahmen das Erlernen der Orthographie so verleiden , dasz nur die be-
gabteren Schüler darüber nicht verdummen , von den andern aber sehr
viele bald nach der Schulzeit die dem Ohre und der Analogie widerstre-
benden Regeln ganz und gar vergessen.
Nach der Gründung der historischen deutschen Grammatik durch
J. Grimm gewann man erst, wie in alle übrige Punkte der nhd. Ortho-
graphie, so auch in die Natur dieser Dehnzeichen eine richtige Einsicht.
Die fast heilige Scheu vor der hergebrachten Rechtschreibung war auf
einmal von Grund aus erschüttert, denn nun lag es klar zu Tage, dasz
Vieles , was man zeither für allein richtig und für alle Zeit maszgebend
gehalten, sehr oft nichts weiter war als reine Willkür. Dies paszt auch
auf diese Dehnzeichen , die für die Kinder wahre Quälzeichen sind , gegen
die Quantitätsformel: tujttoc verstoszen und ohne historischen Grund
willkürlich bald stehen, bald fehlen.
Die Schwankungen in der Schreibung der Dehnzeichen wurden nach
der gewonnenen Einsicht in ihre Natur in den Büchern allmählich häufiger,
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354 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
andere Neuerungen reihten sich an diese Schwankungen an, bis endlich
die Sache so weit gediehen ist, dasz alleweile in Bezug auf Orthogra-
phie ein thatsächlicher Gegensalz besteht zwischen Schule und Wissen-
schaft und zwischen Lehrern und Schriftstellern. Diese lehren und schrei-
ben nicht mehr übereinstimmend; die einen bequemen sich mehr, die an-
dern weniger an die herkömmliche Schreibweise.
Wer aber soll diesen Gegensatz , der namentlich auch in Betreff der
Dehnzeichen E, H, aa, oo und ee in den Büchern offen zu Tage tritt,
vermitteln und ausgleichen?
Die Behörden können nur vor sich überstürzenden Neuerungen war-
nen, die möglichste Erhaltung des Herkömmlichen empfehlen und auf eine
gewisse Einheit in der Orthographie bei allen Lehrern ein- und derselben
Anstalt dringen. Da sie an der dermaligen Verwirrung in der Recht-
schreibung durchaus nicht schuld sind, so mögen sie die Regelung denen
überlassen, die die Verwirrung angerichtet; die Einführung einer Staats-
Ortbographie ist zwar in Holland gelungen , in Deutschland wäre aber
der gleiche Versuch gewagter, in der Durchführung schwieriger und im
. Erfolge weit unsichrer.
Auf wessen Schultern ist also die Last und die Sorge für die Her-
stellung einer einheitlichen Orthographie zu wälzen?
Die Schriftsteller selbst fallen natürlich ganz auszer Betracht ; denn
wer will sie zwingen gerade so und nicht anders zu schreiben? Sicherlich
bleiben nur die Lehrer selbst übrig, denen diese Last aufzubürden ist;
aber welche?
Die Volksschullehrer, die die Sache am meisten berührt, entrathen,
um die thatsächlichen Schwankungen in den Büchern auszugleichen, der
unumgänglich notwendigen historisch-grammatischen Kenntnisse. Einem
Teile der Universitäts- und Gymnasiallehrer hat's an gutem Willen nicht
gefehlt. Sie haben Alles gethan, was sie konnten, um die vielfache Will-
kür in der althergebrachten Rechtschreibung nachzuweisen , die weit und
tief verbreitete hohe Verehrung gegen dieselbe mit Glimpf und Schimpf
anzugreifen und die Qual offen darzulegen, die durch sie den Schulkindern
ohne Not und ohne nachhaltigen Erfolg im Leben bereitet wird.
Aber die Sache selbst durchzuführen — das ist nicht ihres Amtes,
auch nicht ihrer Befähigung; denn das ABC zu lehren ist weder ihre Pflicht,
noch sind sie dazu genugsam vorbereitet und befähigt. Beispielsweise ist
auch der Vorschlag der am 13. Mai 1863 zu Berlin versammelten Gymna-
siallehrer: cauf der Basis des Herkömmlichen die Einheit in
der Orthographie herbeizuführen undder subjectiv-ratio-
n eilen (?) Methode mancher Lehrer nicht Raum zu geben' —
nicht viel mehr als ein pium desiderium und wird an der Thalsache , dasz
in Jen Büchern die -Orthographie überhaupt und im Besondern in Betreif
der hier beredeten Ausnahmen von der Quantitätsformel: tüjttoc ins
Schwanken gerathen ist, auch nicht das Geringste ändern.
Alle Versuche von Seiten der höheren Schulen sind bislang mis-
lungen, mochten sie von der historischen oder phonetischen Schule oder
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 355
von denen ausgehen, die sich vermittelnd zwischen beiden Schulen be-
wegen.
Gymnasiasten und Studenten und ihre Lehrer haben ja die Not und
Qual, die die Erlernung des ABC verursacht, längst hinter »ich; auf diesem
Gebiete können also nur die helfen, die es vor Allen zuerst angeht —
das sind aber wissenschaftlich gebildete, mit der historisch-
deutschen Grammatik vertraute Seminarlehrer.
In dieser Hinsicht verdienen die Vorschläge Dr. Hofifmann's, Stadt*
schullehrers in Leipzig, (Jahrb. f. Phil. u. Päd. 1861 2. Abth. S. 543), weit
mehr Beachtung , als sie, wie es scheint, zeither gefunden haben; denn
gehen sie auch zu weit, so kommen sie doch von einem wissenschaftlich-
geschulten Manne, der zugleich die Praxis der Schule kennt. Auch seine
Andeutung wegen der Dehnzeichen E, H, aa, oo und ee und des mittel-
hochdeutschen Gebrauchs, die Länge des Vocals in zweifelhaften Fäl-
len durch irgend ein Zeichen kenntlich zu machen, ist, weil sie dem Leh-
rer und dem Kinde sehr viel Mühe ersparte , durchaus nicht von der Hand
zu weisen.
Unter den Seminarlehrern hat z. B. Lehmann in Bunzlau seiner Zeit
seine Teilnahme dem Gegenstande zugewandt; jetzt aber müssen diese,
so scheint es , viele andere ihnen wichtiger scheinende Dinge zu treiben
haben; denn von ihrer heiligen Pflicht und ihrem schönen Rechte, eine
neue wissenschaftliche Grundlage der Orthographie zu legen , haben sie
im Allgemeinen einen so spärlichen Gebrauch gemacht, dasz ihre desfalsi-
gen Leistungen in die Sache fördersam fast gar nicht eingegriffen haben.
Fänden sie später mehr Zeit und Lust zur Sache, so würden sie un-
beirrt durch Vorurteile bloszer Theoretiker, die sich sei es auf den histo-
rischen, sei es auf den phonetischen Standpunkt mehr oder weniger
einseitig stellen, von dem Standpunkte der Volksschule aus allein das
wählen, was nach der Praxis in der Schule möglich ist. An den rastlosen
Bemühungen des Dr. Michaelis in Berlin um die Vereinfachung der Ortho«
graphie wurden sie dabei fördersame Beihülfe und eine sichere Grundlage
für ihre Verbesserung finden.
Eins steht aber fest: Die höhern Schulen und ihre Lehrer können die
Sache nicht durchführen — schon deswegen nicht, weil sie, Lehrer und
Schüler, dabei — um so zu sagen — nicht mit Leib und Seele beteiligt
sind. Die Seminarlehrer werden, wenn sie endlich einmal, wie es ihre
Pflicht ist, mit Hand anlegen, den Standpunkt Dr. Hoffmann's (ibidem S.
538 Mitte) einzunehmen haben; denn er ist ja eben ihr eigner. Dieser will
nicht mit Einem Schlage Alles abmachen; er sagt vielmehr und zwar ganz
mit Recht: fWenn man will, läszt sich mit wenig Mitteln sehr viel thun,
sehr viel verbessern mit wehigen Veränderungen, wobei wir weniger den
Standpunkt der Wissenschaft^ als den der Schule und demgemäsz den des
gewöhnlichen Lebens im Auge haben, so jedoch, dasz gleichzeitig sowol
der Sprachforschung als der Sprachphysiologie vollständig Genüge ge-
schieht und Rechnung getragen wird.9 Gerade dies ist auch der Stand-
punkt der Seminarlehrer, ohne deren Beihülfe die Sache im Groszen und
Ganzen auch nicht Einen Schritt fortrücken wird. Denn nur die Rücksicht
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356 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
auf die Not und Qual, die die Erlernung der hergebrachten , vielfach will-
kürlichen Orthographie Millionen von Schulkindern im zartesten Alter
bereits verursacht hat und noch verursachen wird, die Rucksicht auf
die unverantwortlich vergeudete Zeit und Muhe des Lehrers der Volks-
schule und auf die traurige Notwendigkeit, dasz dieser das Kind unzäh-
lige Male tadeln musz , wo er es , weil es seinem Ohre und der Analogie
Rechnung trägt, beloben sollte; ferner die nahliegende Gefahr, dasz sehr
viele Kinder dabei verdummen, und endlich die Thatsache, dasz der Arbeit,
Muhe und Qual des Lehrers und Schulkindes der Erfolg im Leben durchaus
nicht entspricht — das ist der Standpunkt, auf den sich Lehrer und Be-
hörden , um die hochwichtige Sache richtig zu würdigen , stellen müssen,
wenn sie nicht alle Hoffnung auf die Zurückführung der Einheit in unsere
Orthographie kleinmütig und voreilig aufgeben wollen.
B) Der Vocal in den Endungen.
Der Vocal in den Bildungssilben , meist E oder I , ist , wenn man so
sagen will, durchweg kurz; den Endungen: bar, sam, haft, heit (keit),
thum (sal) hat das dunkle Gefühl , dasz sie früher Vollworte waren , ihre
Länge erhalten, cf. oben das Mhd.
C) Der Accent. *
cDer Accent ist ursprünglich und im Germanischen durchweg geistig
bedeutsam ; sein Wesen beruht nicht in der iängereu oder kürzeren Dauer
der Silbe, auch nicht in der musikalischen Höhe und Tiefe, sondern in
der Stärke und Schwäche des Tones, im Nachdruck der Stimme', cf. K.
W. L. Heyse System d. Sprachwissenschaft S. 214 unten und S. 329.
Weil nun jede Stammsilbe geistig bedeutsam ist, so hat sie,
gleichviel ob sie lang oder kurz ist, einen Accent. Dieser kann entweder
a) Hoch ton, oder b) Tief ton sein; Bildungssilben aber, insofern wir
sie als ursprüngliche Voll worle nicht mehr fühlen, sind c) tonlos z.B.
ad Nr. a Schaf, schaff; Heer, Herr; wohne, Wonne; Gut, Schutt; Väter,
Vetter; Söhne, sonne; Hüte, Hütte; ad Nr. b. Hochton und Tiefton z. B.
gras-grün, un-gern, Haus-rath, Mark-graf; ad Nr. c. Hochton und Tou-
losigkeit z. B. Haus-es , eis-ern , glück-liche. Hochton und Tiefton z. B.
furcht-bar, hab-haft, Lab-sal, spar-sam, Ho-heit, Reich-tum. cf. eben
vorher B.
NB. Der Hoch ton auf Bildungssilben nhd. Wörter verräth sogleich
Jen fremden Ursprung der Endung oder des ganzen Wortes z. B. Zier-er-ei,
Heuch-el-ei; Theolog-ie, Mus-ik, Arithmet-ik (daneben aber: Log-ik),
Al-tar, reg-ieren, spaz-ieren; der Kaiser Aug-üst, im Monat Aug-üst (da-
neben deutscher Accent in dem eingebürgerten Vornamen: komm Aug-
ust!), der Arzt Gal-en, aber der deutsche Romanschreiber Gäl-en.
Neuhochdeutsche Metrik.
D) Der Vocal im Verse.
*Das regelnde Princip für die Rhythmisierung der
Sprache (= Versbildung) war auch im Altdeutschen von jeher
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 357
der Ton (Accent)\ cf. K. W. L. Heyse System d. Sprachwissenschaft
S. 334.
Im Nhd. unterscheiden wir zwar noch Längen und Kürzen d. h. vor
einfacher Gonsonanz dehnen , vor doppelter schärfen wir den Vokal. D a
wir aber nur die zwei Quantitätsformeln tujttoc und
töitttoc, d. h. nur Natur- oder Positionslängen haben, uns
aber die dritte, noch im Mhd. vorhandene Formel töttoc
(= Naturkürzen) jetzt ganz fehlt, so ist der Unterschied von
langen und kurzen Vocalen für den Rhythmus (— den Vers)
ohne alle Bedeutung.
Mit andern Worten: Das Versmasz in der deutschen Sprache bat
nicht sowol eine musikalische, sondern eine logische Grundlage.
In Sprachen, in denen das erste Princip waltet, reihen sich die Silben
nach ihrer verschiedenen Zeitdauer — in regelmäsziger Wiederkehr — zu
dem Lautganzen an einander, das wir Vers nennen. Der Rhythmus deut-
scher Verse beruht aber nicht auf der regelmäszigen Wiederkehr der Zeit-
dauer nach verschiedener Silben , sondern auf dem Nebeneinander einer
bestimmten Zahl concret bedeutsamer Silben, an die sich min-
der bedeutsame, die blosz zum Ausdruck der Beziehung der Worte
im Satze (= Endungen) dienen, anschlieszen. Die Zahl der ersteren
im Verse ist bestimmt, die der letztern unbestimmt.
Dieser rhythmische Grundsatz galt schon in den ältesten Zeiten. In
den Bruchstücken des Hildebrand-Liedes, dessen einzig erhaltene Hand-
schrift aus dem VIII. Jh. stammt , besteht der Vers aus einer bestimmten
Zahl concret bedeutsamer Silben; auszerdem half die Lauteinheit des Verses
Stabreim bilden. Durch diesen, der nur auf bedeutsame Silben fallen
kann , werden je 2 Stollen (== Verse) so mit einander verbunden , dasz in
der Regel der erste zwei, der zweite eine alliterierte Silbe hat. Wie
im Hildebrand-Liede , so gilt der Stabreim als Versmasz auch im Heliand
und den Edda-Liedern.
An die bedeutsamen Silben schlössen sich in dem Verse der unbe-
deutsamen mehr oder weniger an, aber immer nur so viele, dasz der
Stabreim dem Ohre und die Bedeutsamkeit der Hauptsilben , die beide
zusammen das Versmasz ausmachten, dem Verstände nicht verdunkelt
wurden.
Das Ohr des Deutschen ist jetzt an den vollen, das Versganze ab-
rundenden Schluszreim gewöhnt; der Stabreim hat für uns daher
nicht mehr die Kraft, die Einheit der zum Verse verbundenen Silben laut-
lich auszudrücken. Das musz vor dem IX. Jh. anders gewesen sein. Das
Ohr des Deutschen ist vor dieser Zeit für den Gleichklang der anlautenden
Consonanten oder Vocale feiner und schärfer gewesen und darum auch
geeigneter, die durch den Stabreim im Verse hervorgehobenen Silben als
solche herauszuhören, von den andern zu scheiden und doch wiederum
bedeutsame und minder bedeutsame Silben als Ein Lautganzes (== Vers
= Stollen und Strophe) aufzufassen.
Seitdem uns Otfried (IX. Jh.) in seinem Krist und die spätem Dich-
ter, die ihm bis auf die Gegenwart alle gefolgt sind, an den vollen End-
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358 Die prosodische und metrisch« Messung der Nibelungenstrophe usw.
reim des Verses gewöhnt haben, ist, so scheint es, unser Ohr für die
Wirkung des Stabreimes stumpfer geworden. Wir hören die Alliteration
in Versen, wo sie dicht gehäuft, aber regellos ans Ohr schlägt z. B. 'Und
hohler und hohler hört man's heulen* — lisple leise,
lisple linde'; auch in den gang und gäben Redensarten: 'mit Mann
und Maus', «über Stock und Stein', fmlt Kind und Kegel', cHaus und Hof
fühlen wir den Wohlklang des übereinstimmenden Anlauts und würden
nur ungern statt ihrer einen andern Ausdruck wählen. Ein Dichter möchte
aber kaum im Stande sein , den Stabreim , wie dies in den ältesten Zeiten
der Fall war, jetzt noch als selbständiges Versmasz zu gebrauchen , regel-
rechte Stollen zu bauen und sie durch den Stabreim zur Strophe zu ver-
binden. Fr. Rückert's Reimstaben im Rojand-Liede :
Roland der Ries am
R a t h haus zu Bremen
Steht er im Standbild
Stand haft und fest.
— ja selbst A. Chamisso's Lied von Thor's Hammer:
Was weder auf Erden
Weisz irgend Einer
• Noch hoch im Himmel,
Mein Hammer ist mir geraubt,
sind Spielereien — mehr ein schönes Zeugnis gewandten Formsinnes, als
ein wirksames Beispiel, das durch den vollen Endreim längst verdrängte
Versmasz des Stabreims in unsre Dichtung wieder zurückzuführen.
Anders verhält sich die Sache , wenn der um die Wiederbelebung
altdeutscher Rhythmik hochverdiente Simrock in seiner Uebersetzung der
Edda-Lieder (1855) den Stabreim als Versmasz gebraucht. Um ein ent-
sprechendes Bild von der Form des Urtextes zu geben , blieb ihm nemlich
nichts Anderes übrig. Unsre jetzige antikejfersmessung (cf. weiter
unten) hätte das Bild verwischt und ganz und gar getrübt; der Vollreim
des Nibelungen-Liedes (XIII. Jh.) , und des Krist von Otfried (IX. Jh.) war
für Simrock's Hauptabsicht gleichfalls nicht tauglich; er muste daher bis
zum Heliand und dem Hildebrand-Liede (IX. und VIII. Jh.) zurückgreifen,
denn erst hier bot sich ihm die analoge, urdeutsche Form des Stabreims
als Versmasz dar.
Die metrische Form dieser Edda-Lieder (cf. Simrock S. 366) verdient
jedenfalls mehr Beachtung , als ihr gezollt wird. Denn abgesehn davon,
dasz derselbe Reim und der wesentlich ähnliche Strophenbau in den älte-
sten deutschen Gedichten (Hildebrand-Lied, Muspilli) obwaltet, ragt ihre
metrische Form durch Otfried und die mhd. und nhd. Nibelungenstrophe,
als ältestes, ursprünglich-deutsches Versmasz, bis in unsreGegen-
wart hinein.
Was zunächst den Gleichklang des Anlauts betrifft, so reimen in der
Edda nicht blosz gleiche Consonanten, sondern die Vocale gelten an sich
alle unter einander als reimende Gleichklänge z. B.
Ei-nst war das A-lter, || wo Y-mir lebte |
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 359
Hier reimen die vocalischen Anlaute: Ei, A u. Y — ein sicheres Zeichen,
wie fein damals das Ohr für den Gleichklang gewesen sein musz.
Die Strophe der Edda-Lieder, die man ein 'Gesetz' nennt, besteht
aus 4 Langzeilen oder 8 Halbzeilen und ist, wie ein Vorbild der otfriedi-
schen, so auch der mhd. und nhd. Nibelungen-Strophe. Die folgende Edda-
Strophe heiszt 'Fornyrdalag' z. B.
Ihn mästet das Mark || gefällter Männer;
Der Seligen Saal || be-sudelt das Blut.
Der Sonne Schein dunkelt || im kommenden Sommer,
Alle Wetter wüthen: (| wiszt ihr was das bedeutet?
Bei Otfried längert der Auftakt, der selbst 4 Silben enthält, den einzelnen
Halbvers , und an Stelle des Stabreims verbindet der volle Schluszreim je
zwei Kurzzeilen; in der N.-Strophe endlich reimen nicht mehr die acht
Kurzzeilen zu je zwei aufeinander, sondern je zwei Langzeilen sind durch
den stumpfen Reim mit einander verbunden.
Aber in den wesentlichen Punkten stimmt die Nibelungen-Strophe
zum Baue der älteren. Es ist daher anzunehmen, dasz der Dichter, der
die Sagen von den Nibelungen in seinem Geiste zu einer Einheit verbunden
und in der Form des Nibelungen-Liedes, wie wir es jetzt besitzen, zum
Ausdruck gebracht, die Strophe nicht erfunden, sondern die vorgefundene,
viel ältere zu seinem Zwecke benutzt und umgeändert hat.
Ein anderes 'Gesetz' der Edda-Lieder heiszt 'Liodhahättr' und be-
steht aus 6 Zeilen, wovon die erste mit der zweiten und die vierte mit der
fünften Halbzeile in der eben bezeichneten Weise zu je zwei Langzeilen
verbunden sind, während die 3. und 6. Zeile gleichsam Langzeilen sind,
die meist durch 2, selten durch 3 Reimstäbe verbunden sind z. B.
Widar unchWali || walten des Heiligthums,
Wenn Surturs Lohe losch.
Modi und Magni || sollen Miölnir schwingen
Und zu Ende kämpfen den Krieg.
Ist der Stabreim als regelroäsz*iges Versmasz in unsre Dichtung nicht
mehr zurückzufahren , so fragt es sich , ob vielleicht der Prosaiker durch
neue Stabreime, die er wagte, denselben angenehmen Reiz , den die von
Jugend auf gehörten , althergebrachten entschieden auf Aller Ohr üben,
auch jetzt noch hervorzubringen vermöge. Nun in Dr. Scherr's Prosaüber-
setzung der Nibelungen (Leipzig 1860) werden z. B. 'die Kundigen die
vom Uebersetzer beabsichtigte Wirkung des Stabreims an pathetischen
Stellen' leicht erkennen , möglicherweise durch den Gleichklang auch an-
genehm berührt und angeregt werden ; der Eindruck dürfte aber 'auf das
gröszere Publikum9 geringer sein, wenn er diesem nicht ganz verloren
gienge. Gerade auf dieses gröszere Publikum ist aber Dr. J. Scherr's ge-
wagter Versuch, die Nibelungen in Prosa zu übersetzen, berechnet —
ein Versuch, der auch bei Kundigen kaum dieselbe ungeteilte Anerkennung
finden wird, als die sachgemäszen, gelehrten Bemerkungen der Einleitung.
Ist irgend eine Gattung der Prosa auch jetzt noch geeignet, Ohr und Auf-
merksamkeit des Zuhörers durch den Stabreim anzuregen und zu fesseln,
so dürfte dies die rednerische sein.
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360 Die prosodische und metrische Messung der NibeluBgenstrophe usw.
Als regelrechtes Versmasz hat, wie gesagt, Otfried (IX. Jh.) den
Stabreim durch den vollen Endreim in seinem Krist verdrängt. Natürlich
Wieb er trotzdem bei seiner Versbildung an das deutsche rhythmische
Princip gebunden, d. h., sein Vers besteht, wie später der im Nibelungen-
Liede, 1) aus einer bestimmten Zahl von concret bedeutsamen
Silben , an die sich 2) minder bedeutsame in verschiedener Anzahl
so anlehnen, dasz dem Ohre und Verstände des Dichters und Lesers alle
zusammen als Laut- und Sinneinheit gelten. Jene Silben heiszen als
Hauptbestandteile des Verses, auch im Krist Hebungen, diese dagegen,
als die unwesentlichen, Senkungen. So enthält die Kurzzeile bei Ot-
fried je 4 Hebungen ; je zwei solcher Kurzzeilen sind durch den vollen
Endreim zur Langzeile, je zwei Langzeilen zur Strophe verbunden.
Alles Wesentliche ist also so , wie es oben beim Mhd. nachgewiesen
worden ist. Ein Hauptunterschied ist der, dasz im Ahd. von den Bildungs-
silben mit den vollen Vocalen a, u, o, i viel mehr die Hebung tragen
konnten , als im Mhd. , wo der Laut dieser Silben meist zu E geschwächt
und ihre ursprüngliche Bedeutung verallgemeinert und ganz verdunkelt
ist. Statt des Vollreims findet sich bei Otfried hie und da noch der Stab-
reim; der 3te Fusz der Kurzzeilen ist meist einsilbig, und der Auftakt,
der in der mhd. N.-Strophe ein- oder zweisilbig ist, schwillt selbst bis
zu 4 Silben an.
So stand die Sache im Ahd. und Mhd. Was nun unsre heutige
Sprache betrifft, so entlehnte man früher die rhythmischen Grundsätze
aus der antiken Metrik und trug sie auf die deutsche über, ganz unbe-
kümmert , ob sie auf diese passen oder nicht.
Aber sie passen darauf gerade wie's fünfte Rad an den Wagen. Es
ist richtig, der Wortton bat in der ZwischenzeiWom 14. Jh. bis zum 16.
Jh. die ursprünglichen Quantitätsverhältnisse der deutschen Sprache so
zerrüttet, dasz unsre Sprache alle Naturkürzen (tÖitoc) verloren und so
in, einen schroffen Gegensatz zum Mhd. getreten ist. Aber auch in andern
Sprachen übt der Accent teils auf die Stammsilbe , teils auf die Endungen
einen zerstörenden Einflusz , so dasz diese merkwürdige Thatsache in der
deutschen durch gleiche oder ähnliche Erscheinungen in anderen Sprachen
erklärt wird.
Unsere und die mhd. Prosodie stehen also in schroffem Gegensatz ;
nicht aber ebenso die mhd. und nhd. Metrik. Sollte wirklich auf unsr e
heutige Metrik das antike, auf die ahd. und mhd. Metrik dagegen das
Grundprincip passen, welches oben beim Mhd. angegeben und erörtert
worden ist, so käme dies fast einem Wunder gleich, wäre beispiellos und
durch analoge Fälle in andern Sprachen kaum belegbar — mit Einem
Worte: die deutsche Sprache müste, wenn diese Annahme richtig wäre,
in wenigen Jahrhunderten ihre Natur und ihr Wesen von Grund aus ver-
ändert und ganz und gar umgewandelt haben.
Aber es ist dies in der That nicht geschehen. Sie sagen freilich
nach der antiken Metrik : die Silben der Wörter a) mensS und b) prSces
verhalten sich wie 2 : 1 und wie 1 : 2 und meinen damit natürlich das Ver-
hältnis ihrer Zeitdauer zu einander. In zwingender Folge sind dann 2
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 361
Kürzen gleich Einer Länge, ganz wie in der Musik zwei Achtelnoten einer
Viertelnote. Diesen Fundamen talsatz der antiken Metrik haben sie nun auf
die deutsche Metrik übertragen und demgemäsz etwa unsre Worte: a)
Tisches und b] Gebet mit den lateinischen a) mensa und b) preces
ganz auf dieselbe Linie gestellt und für die Silben aller 4 Worte ein glei-
ches Verhältnis im Verse angenommen.
Aber wenn man auch 10 solcher Bildungssilben: 'es' und *ge% wie
sie in diesen deutschen Worten stehen, neben einander stellen könnte,
so wären sie nimmermehr der Stammsilbe gleich und hätten im deutschen
Verse , auch dem heutigen , keineswegs dieselbe Geltung und Wirkung
als die Stammsilbe. Dasz sich also die Silben der beiden deutschen Worte
zu einander wie 2 : 1 und 1 : 2 verhielten , wie das bei den beiden lateini-
schen der Fall ist, daran ist gar nicht zu denken. Kaum könnte ein Ver-
gleich mehr hinken; denn das heiszt von dem Allerverschiedensten ein-
und dasselbe aussagen.
Der Unterschied beider Arten von Silben in den Worten : 'Hauses und
Gebet' liegt gar nicht in ihrer Zeitdauer, sondern in der Grundver-
schiedenheit ihrer Bedeutung. Die einen haben einen concreten,
fest bestimmtenBegriff, die beiden Bildungssilben dagegen einen
unbestimmt allgemeinen, die einen haben den Hochton, die an-
dern sind tonlos. Statt also zu sagen : die einen sind lang, die
andern sind kurz, was im Grunde ganz sinnlos ist, musz man die
einen Hebungen, die andern Senkungen nennen. Dieser Name be-
zeichnet die Sache allein richtig und zutreffend ; denn nicht auf die Zeit-
dauer der Silben kommt es an, sondern auf ihre Betonung d. h. die Hebung
oder Senkung , den Nachdruck oder die Nachdruckslosigkeit der Stimme.
Der Accent selbst und das Masz seiner Stärke hängt aber wieder ab von
der gröszcren oder geringeren Bedeutsamkeit der Silben. Man kann also
diese Gründregel aufstellen: Je bedeutsamer eine Silbe ist, desto
nachdrücklicher ihr Ton; je nachdrücklicher der Ton,
desto bequemer ist die Silbe als Hebung im Verse zu ver-
wenden. Das paszt wie auf die altern, so auch noch auf unsre nhd.
Sprache. Während also das prosodischeGrundprincip der beiden
Sprachen, der mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen, völlig
verschieden ist, so stimmt das rhythmische beider ganz
ürberein.
Gemäsz dem obigen Hauptgrundsatze der antiken Metrik beruht der
lateinisch -griechische Vers auf dem Zeit Verhältnis zwischen Arsis und
Thesis. Eine Folge davon ist: regelmäszig gebildete Verse ein- und des-
selben Metrum müssen in den beiden altclassischen Sprachen gleichviel
Silben zählen, oder, wenn dies nicht der Fall ist, wenigstens — alle
Silben zusammengerechnet — dasselbe Zeitmasz des Lautganzen dar-
stellen.
Ganz anders in den deutschen Sprachen. Bei diesen kommt es nicht
auf das Zeitmasz an, sondern auf den begrifflich verschiedenen
Inhalt beider Arten von Silben, die entweder als Hebung, oder als Sen-
kung dienen. Die Folge ist : deutsche Verse desselben Metrums brauchen-
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362 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
nicht dieselbe Zahl von Silben zu haben , noch das Zeitmasz aller Verse
desselben Versmaszes ein- und dasselbe zu sein.
So lange dies rhythmische Grundgesetz ungetrübt in
der deutschen Sprache waltete, wie es im Ahd. und Mhd. der
Fall war, konnte von steigenden und fallenden Rhythmen,
regelmäszig gebildeten lamben (Anapästen) und Trochäen
(Daktylen) natürlich gar keine Rede sein.
Nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften hat aber in die erörterte
Eigentümlichkeit der deutschen Metrik die lateinisch-griechische und im
Ausgange des XVI. und Anfange des XVII. Jh. auch die französische (and
holländische) störend und verwirrend eingriffen.
Bei dem damaligen groszen Abstände der deutschen Poesie von den
vortrefflichen Mustern der beiden alten Völker war es ganz natürlich, dasz
die deutschen Uebersetzer nicht blosz den Inhalt , sondern auch die Form
lateinischer und griechischer Gedichte genau und treu wiedergeben woll-
ten und endlich auf den Versuch verfielen, die steigenden und fallenden
Rhythmen der alten Glassiker, die regelmäszige Wiederkehr von 'Arsis
und Thesis nachzuahmen und die Silben des Verses zu zählen.
So trübte sich allmählich das Gefühl für das echtdeutsche Grundge-
setz , das in einer , wenn auch nicht regellosen , so doch die frei es te Be-
wegung gestattenden Gleichgiltigkeit gegen die Senkung im Verse bestand
und noch heute besteht, immer mehr, bis das Verständnis für dasselbe
zunächst den lateinisch geschulten Gelehrten und namentlich den Dichtern
der schlesischen Periode, später aber dem ganzen gebildeten Teile des
Volkes so abhanden kam , dasz man alle nach alter deutscher Art {oder
wenigstens ähnlich gemessene Verse (z. B. die Jobsiade , Schiller's Lager
im Walienstein) wegen ihres Gegensatzes zur antiken Metrik Knittelverse
genannt hat.
Zu J. Fi schart's Zeit finden sich schon mehr oder weniger regel-
mäszig gemessene lamben und Trochäen. Fischart selbst , sonst ein Mann
des Volks und groszer Kenner und Freund der Volkssprache, tritt hier
auf die Seite der Gelehrten und rechnet es sich und dem deutschen Volke
in seinen noch sehr übel beräthenen deutschen Daktylen zu groszer Ehre
an, dasz nun auch der Deutsche in Betreff der regelmäszigem Silbenzählung
inv Verse den alten Griechen und Latinen nicht nachstehe.
Die Versuche der Uebersetzer und der deutschen Dichter in der Nach-
ahmung der antiken Metra wurden im XVI. und XVII. Jh. immer häufiger,
bis Martin Opitz das Ganze in ein System brachte und so die deutsche
mit der antiken Metrik auszugleichen den Versuch machte. Dieser sein
Versuch ist so vollkommen gelungen, dasz ihm nicht blosz alle Dichter
bis auf die Gegenwart gefolgt sind, sondern dasz'jetzt die deutsche Gram-
matik alle Unkundigen nur sehr langsam von der Wahrheit zu überzeugen
im Stande ist, dasz beim deutschen Verse, auch dem heutigen, an Längen
und Kürzen, an Arsis und Thesis, an steigende und fallende Rhythmen
im Sinne der Griechen un,d Römer überhaupt nicht zu denken ist.
(Fortsetzung im nächsten Hefte.)
Lissa. Ed. Olawsky.
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Ueber den Gymjiasialzeichnenunterricht. 363
(22.)
'Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht
und den darauf Bezug habenden Lehrplan vom 2. October 1863.
(Fortsetzung von S. 299.)
Hier möchte es am Orte sein , aus der Zahl der dem Zeichnenunter-
richte an Gymnasien entgegenstehenden Hindernisse die empfindlichsten
zusammenzufassen.
Ein nicht geringer Teil der Gymnasien entbehrt zunächst der für
den Zeichnenunterricht erforderlichen Localilät. An sich durch Fenster
mangelhaft erhellte Räume, deren Dunkelheit an trüben Tagen durch
spärliche, nicht mit den geeigneten Brennern und Gylindern versehne Gas-
lampen nur insoweit aufgehoben ist , dasz allenfalls die disciplinarische
Ueberwachung der Schüler und die Erteilung des mündlichen Unterrichts,
aber eine zeichnende Thätigkeit für Lehrer und Schüler nur mit äuszer-
ster Anstrengung der Augen ermöglicht ist, müssen, weil ihre Dimensio-
nen der jeweiligen Schülerzahl der Glasse entsprechen , noch immer den
Zeichnensaal ersetzen, auf den auch der neue Lehrplan (Bemerkungen,
Art. 16) so groszes Gewicht legt. Zu diesen äuszerlichen Hindernissen
gesellen sich Schwierigkeiten, welche das Wesen des Massenunterrichts
überhaupt mit sich. bringt, die aber für den Zeichnenunterricht zum Teil
sich besonders fühlbar macheu. Die Zahl der Schüler einer Classe wächst,
wie deren wissenschaftliche Reife dies zuläszt, bis gegen 60, ja 70,
so dasz dem einzelnen Schüler ein für Zeichnen und Schreiben unerträg-
lich beschränkter Raum verbleibt. Allerhand Unterbrechungen des Unter-
richts finden hierin ihren Grund ; zudem bleibt dem Lehrer wegen der
Gedrängtheit der Subsellien und der einzelnen Plätze ein groszer Teil
hiervon unzugänglich. Wenn so gefüllte Glassen für andere Disciplinen
in zwei Abteilungen geschieden werden , so pflegen sie für das Zeichnen
vereint zu bleiben. Während für andere Disciplin'en Gleichbefähigte neben-
einandersitzen, ist für den Zeichnenunterricht die Glasse zusammengesetzt
aus geübteren, ungeübteren und aus unbegabten Schülern, welche die
ersten Anfänge kaum zu überwinden vermögen; jeder einzelne verlangt
für die in Rede stehende Disciplin mit Recht eingehende Berücksichtigung
seiner Arbeit und seiner Individualität zugleich. Das Auge des Lehrers
rausz ihm eben zu- und der Gesamtheit abgewandt sein — doch musz
die Schuldisciplin gewahrt bleiben und dürfen hier und da vorkommende
kindische Zerstreuungen dem Lehrer nicht entgehen; den Verlust, wel-
chen sein Unterricht in der 50 Minuten währenden Schulstunde (deren das
halbe Schuljahr wiederum nur 42 zählt) durch die Erfüllung der discipli-
narischen Pflichten erleidet , musz er verschmerzen.
Erwägt man nun, dasz der Zeichnenunterricht von dem Lehrer nicht
nur das lehrende Wort, wie in anderen Lehrgegenständen, sondern auch
Anleitung durch die Hand, und von dem Schüler nicht nur das
Wissen des Rechten, sondern auch dessen Uebung, zunächst also eben
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364 Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht.
Zeit fordert , welche diesem Gegenstande auf Gymnasien so karg zuge-
messen ist, berücksichtigt man, dasz häusliche Arbeiten hier nicht, wie
•in anderen Disciplinen, oder doch nur in mehrfach bedenklicher Weise das
befestigen können, was in der Schule selbst angeregt Worden, und gedenkt
man des Druckes, welchen die Gesamtheit der eben angeführten hem-
menden Momente auf die Thätigkeit des Lehrers andauernd übt, so wird
man zuzugeben haben, dasz der Zeichnenunterricht an Gymnasien in der
That mit erheblicheren Schwierigkeiten als irgend ein anderer Lehrgegen-
stand zu kämpfen hat. Ihrer wollen sich diejenigen erinnern, welche,
mit den Mühen des Unterrichts unbekannt, geneigt sind, die Schuldan
etwa ungenügenden Erfolgen ausschlieszlich der Methode oder dem Lehrer
selbst beizumessen.
Sieht man das bis zum Erlasz des neuen Lehrplanes als Reglement
für die Erteilung des Zeichnenunterrichts gültig gewesene Miuisterial-
Rescript vom 14. März 1831 ein, so begegnet man folgenden Aeuszerungen :
eAus den über die Beschaffenheit des Zeichnenunterrichts an den Gym-
nasien erstatteten Berichten der königl. Provinzial-Schulcollegien hat
das Ministerium ersehen, dasz dem Gedeihen dieses Unter-
richtszweiges an vielen Anstalten sehr bedeutende Hin-
dernisse imWege stehen. Es musz freilich zugestanden werden,
dasz diese sich nicht überall auf einmal beseitigen las-
sen, indesz ist es doch keinem Zweifel unterworfen, dasz sich sehr
viel noch erreichen läszt, wenn der Sache die gehörige Aufmerksamkeit
zugewendet, ein bestimmtes Ziel ins Auge gefaszt, und von den Lehr-
anstalten, vorzüglich den Direcloren und den Aufsichtsbehörden mit
Beharrlichkeit verfolgt wird. Das Ministerium sieht sich deshalb zu
nachstehenden allgemeinen Vorschriften und Andeutunger veranlaszt:
Hier folgt als Eingang des Art. 1 die oben zuerst citierte Stelle: cDer
Unterricht im Zeichnen gehört usw.*
Art. 2 beginnt mit den Worten:
'Es sind au jedem gröszeren Gymnasium für den Zeichnenunterricht
vier Klassen einzurichten und für jede zwei aufeinanderfolgende
Stunden wöchentlich zu bestimmen '
Die folgenden Alinea 3 bis 9 lauten :
*3) Wenn auch nicht verlangt werden mag, dasz alle Schüler zur
Teilnahme an dem Zeichnenunterrichte anzuhalten, so ist doch dahin
zu wirken, das,z künftig jeder Schüler wenigsten s den Cursus
der 1. und 2. Bildungsstufe*) durchmache.
*) Dem Rescripte folgt als Beilage I ein Lehr plan, welcher, wie
der neue Lehrplan, vorschreibt, in welcher Weise der Unterricht in
vier auf einander folgenden Stufen zu erteilen sei. Im Wesentlichen
stützt sich der alte Lehrplan auf die zu seiner Zeit blühende P. Schmid-
sche Methode. Er schreibt für die erste Stufe sehr eingehend den
Unterricht in den c Elementen des Linearzeichnens, verbunden mit der
Formenlehre', vor; für die zweite Stufe: cdie Elemente des perspecti-
vischen Zeichnens und der Schattierung'; für die dritte Stufe: f aus-
geführtes Zeichnen von Körpern und Natnrgegeaständen (A. Ausführung
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Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht. 365
4) Wo es irgend geschehen kann, musz ein eigenes Lehrzim-
mer für den Zeichnenunterricht eingerichtet werden.
5) Es ist befjedem Gymnasium der Bedarf des zur Ausführung des
Lehrplanes erforderlichen Apparats, der Vorlegeblätter usw.
genau zu ermitteln , und die Anschaffung derselben , wenn es bei man-
chen Schulen auch nur langsam und nach und nach geschehen kann,
aus den jährlichen Ersparnissen oder sonstigen dispo-
niblen Fonds der Anstalt zu bewirken.
.6) Insofern die bisher ausgesetzten Fonds zur Remuneration für
die etwa vermehrte Arbeit der Zeichnenlehrer nicht aus-
reichen, musz ebenfalls darauf Bedacht genommen werden, dieselben
aus den erwähnten Mitteln zu erhöhen.
7) Die bessere Ordnung des Zeichnenunterrichts in den Gymnasien
und höheren Bürgerschulen wird zuverläszig zur Folge haben, dasz
künftig auch diejenigen, welch e sich dem Lehrfache wid-
men, diesen Gegenstand des Unterrichts nicht mehr, wie bisher, ver-
nachlässigen werden, und indem sie sich für denselben befähigen, sich
eine Gelegenheit mehr verschaffen, als dereinstige ordentliche
Lehrer ihr Einkommen durch die auszerordentliche
Uebernahme von Zeichnenstunden zu verbessern. Am
meisten wird hierdurch die Schule gewinnen, weil sie
der Schwierigkeit überhoben wird, die die Anstellung
von Zeichnenlehrern für eine nicht bedeutende Remu-
neration und obendrein solcher, denen es gewöhnlich
an allem pädagogischen Geschick gebricht, mit sich
bringt*). Das k. Provinzial-Schulkollegium hat die Schuld irectoren
nach Schatten und Licht, a) einfache, eben begrenzte Körper, b) ein-
fache Körper mit krummer Oberfläche; B. fortgesetztes Zeichnen mit
Schattenandeutung, a) Conchylien, b) lebende Pflanzen, c) Ansichten
von Gebäuden, ganzen Zimmerseiten u. dgl.)'; für die vierte Stufe:
'Zeichnen nach Gyps und Copieren gut ausgeführter Zeichnungen (A.
Zeichnen nach Gyps, a) in Umrissen, b) vollständig ausschattiert; B.
abwechselnd Copieren gut ausgeführter Zeichnungen. [Der Anfang wird
mit architectonischen Verzierungen gemacht; dann wird zu Thieren, ,
einzelnen Teilen des menschlichen Körpers und ganzen menschlichen
Figuren fortgeschritten]).' Aus einzelnen an manchen Stellen äuszerst
praktischen Andeutungen erkennt man die Mitwirkung erfahrener Zeich-
nenlehrer an der Redaction des Lehrplanes; doch läszt derselbe als
Ganzes nicht verkennen, dasz er das Product der Nachgiebigkeit einer
für den Massenunterricht an sich unzulänglichen Methode gegen An-
forderungen ist, die aus den verschiedensten Berufsrichtungen zusam-
mengetragen werden.
*) Hierneben ist eines spätem Rescriptes vom 14 Dcbr. 1839, die
Prüfung der Gandidaten für den naturwissenschaftlichen Unterricht be-
treffend, zu gedenken, in welchem es sub 8) heiszt: fWenn sich Gan-
didaten finden sollten, die für den Unterricht in den Naturwissenschaf-
ten hefähigt und zugleich im Stande sind, den Zeichnenunterricht zu
übernehmen, und sich hierüber Vorschriften) äszig ausweisen, so ist sol-
ches in dem ihnen zu erteilenden Prüfungszeugnisse ausdrücklich zu
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 7. 25
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366 Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht.
auf diesen Punkt aufmerksam zu machen , damit sie mit Talent für das
Zeichnen begabten Jünglingen, welche sich dem Lehrfach zu widmen
gedenken, ihren Rath in dieser Beziehung erteilen können.
8) Auch von Seiten der Schullehrerseminarien kann viel geschehen,
wenn dahin gewirkt wird, dasz diejenigen Zöglinge, die für das Zeich-
nen Talent haben und übrigens zu einer Anstellung für den
Unterricht im Schreiben und in den Realkenntnissen an
den unteren Glassen der Gymnasien qualifiziert werden
mögen, so weit geführt werden, dasz sie auch den Zeichnenunter-
richt nach dem vorgeschriebenen Plan erteilen können.
9) Es bleibt bei der Bestimmung vom 2. April 1827*), nach welcher
für den Zeichnenunterricht künftig nur solche Lehrer angenommen
werden dürfen, welche ein Qualificationsattest von einer k. Kunstaka-
demie aufweisen können. Die k. Akademie der Künste hier, und die
k. Kunstakademie zu Düsseldorf sind angewiesen , die Prüfung der Aspi-
ranten zu Zeichnenlehrerstellen nach der hier in Abschrift beigefügten
Instruction **) zu veranstalten 9
So läszt sich das alte Reglement aus. In seinem Eingange findet sich
der älteste Beleg für die dem Gedeihen des Zeichnenunterrichts an vielen
Anstalten im Wege stehenden sehr bedeutenden Hindernisse. Mochten da-
mals auch , wovon hiernächst weiter die Rede sein wird , die Persönlich-
keiten der Zeichnenlehrer selbst mit zu den Hindernissen zu zählen ge-
wesen sein, so steht doch so viel fest, dasz die hier oben angeführten
Hindernisse und Schwierigkeiten den andern Teil derselben bildeten und
dasz diese bis heut, 33 Jahre später, der im Reglement ausgesprochenen
Zuversicht zuwider noch nicht beseitigt sind.
Der Inhalt des AI. 2 wurde durch ein späteres Rescript vom 24 Oct.
1837 dahin modificiert, dasz der Zeichnenunterricht für nur drei Glassen
obligatorisch blieb.
bemerken, weil es wünschenswerth ist, dasz der Unterricht
im Zeichnen zugleich von dem Lehrer in den Naturwissen-
schaften könne versehen werden.9
*) Dieselbe lautet: fUm zu bewirken, dasz zu den Zeichnenlehrer-
stellen an den Gymnasien und hofieren Bürgerschulen nur solche
Subjecte gewählt und in Vorschlag gebracht werden , welche nicht
nur die erforderliche Kunstfertigkeit, sondern auch die
nicht weniger nötige Lehrgeschicklichkeit besitzen, will
das Ministerium hierdurch festsetzen, dasz in der Regel von jetzt an
bei Besetzung der gedachten Stellen nur .solche Candidaten, die mit
einem genügenden Qualifikationsatteste der hiesigen k. Akademie der
Künste versehen sind, berücksichtigt werden, und dasz solche in Coii-
currenz mit anderen, die ihre Tüchtigkeit als Lehrer nicht sonst nach-
weisen können, den Vorzug haben sollen.
**) Dieselbe sagt unter f3) der Aspirant musz im Stande sein: a)
nach einem in Perspective gestellten Gypskopf eine schattierte
Zeichnung auszuführen; b) nach einem Vorbilde einen säubern ßisz
mit Zirkel und Lineal anzufertigen; c) in einer mündlichen Unterredung
darzuthun, dasz er über eine bei dem Unterricht zu befolgende
zweckmäszige Methode nachgedacht und fähig sei) sich dnrch
Fleisz und Uebung eine solche anzueignen.9
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Ueher den Gymnasialzeichnenunterricht. 367
Der Inhalt des AI. 3 ist nicht zur Ausführung gekommen, dt die
Versetzung der Schäler in die oberen (Hassen nicht von ihrer Reife im
Zeichnen abhängig gemacht wird.
Die Anordnung AI. 4 ist nur stellenweise zur That geworden.
Die in AI. 5 erwähnten Anschaffungen haben an massgebender Stelle
allerdings nirgend Beanstandung gefunden.
Hinsichtlich der praktischen Folgen des AI. 6 fehlt es dem Verfasser
an Belegen.
AI. 7 und 8 sind nicht in Erfüllung gegangen. Es ist darin und in
den daneben citierten Erlassen von dem in Bede stehenden Lehrgegen-
stande gesprochen , als handelte es sich dabei nur um eine Handtierung,
die sich jeder Philologe oder Physiker von einigem mechanischen Geschick
in seinen Muszestunden bis zu der Fähigkeit aneignen konnte , darin er-
folgreicher zu unterrichten, als diejenigen, welche den Gegenstand als
ihren Lebensberuf behandeln. Das Vermögen, den Sinn für die Schönheit
der Formen bei den Schülern zu beleben und auszubilden, stellt sich
nicht bei der Abendlectüre des Seminaristen über Aesthetik und den gol-
denen Schnitt ein.
Der von dem angefügten 'Lehrplane' für das Gedeihen des Unter-
richts, besonders von der Vorschreibung einer gewissen Methode erhoffte
Erfolg ist ausgeblieben. Die Methode ist vielmehr, und zwar unter den
Augen der Herren Gymnasialdirectoren , in Verfall gekommen. Durch alle
Schwierigkeiten hindurch haben sich die Zeichnenlehrer die zum Ziele
führenden Wege selbst suchen müssen.
Der Inhalt der letzten AI. 7 bis 9 fordert auf, vor der Inbetracht-
nahme des neuen Lehrplanes noch der persönlichen Stellung der Zeichnen-
lehrer an den Gymnasien zu gedenken , zumal sich aus dieser selbst ein
anderer Teil der dem Lehrgegenstande im Wege stehenden Schwierig-
keiten ableiten läszt. .
Dasz man vor 33 Jahren den Zeichnenunterricht als Gymnasiallehr-
gegenstand nur ungern in die Hände einer nicht classisch gebildeten Per-
sönlichkeit legte, hat seinen Grund unzweifelhaft in den Nachteilen,
welche der Schuldisciplin fortdauernd aus den Beweisen mangelhafter
Bildung und den pädagogischen Misgriffen der damals für das Zeichnen
sich darbietenden Mitarbeiter erwuchsen. Wie man aber einerseits auszerst
geringe Anforderungen an die allgemeine Bildung und Berufstüchtigkeit
dieser Lehrer stellte und ihrer in amtlichen Erlassen unverhohlen als
'Subjecte' gedachte, cwelche nicht nur die erforderliche Kunst-
fertigkeit, sondern auch die nicht weniger nötige Lehrge-
schicklichkeit besitzen' müsten, so boten sich auch andererseits nur
untergeordnete Kräfte, meist Nichtkünstler, Dilettanten, geographische
Kartenstecher, Organisten für die Zeichnenlehrerstellen dar. Die Ungunst,
mit welcher man diese Kräfte an den Gymnasien mitwirken sah, kann
nicht Wunder nehmen; es war aber nur eine durch die Geringachtung
der Fähigkeit, welche die Erteilung des Zeichnenunter-
richts erfordert, selbst herbeigeführte Lage, dasz man sich zu dem
Wunsche gedrängt sah, diesen Lehrgegenstand den Händen der 'ordent-
25*
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368 lieber den Gymnasialzeichnenunterricht.
liehen' Lehrer (Regl. von 1851) überhaupt, und später (Rescript vom 14.
Decbr. J839) denen der naturwissenschaftlichen Lehrer übergeben zu
können.
Thatsächlich ist Jetzteres nur in seltenen Fällen geschehen, und wol
nur zum Schaden des Zeichnenunterrichts. Auch wiederholt der neue
Lehrplan die derartigen Verlangen nicht; denn die in jedem Falle nur
dilettantenhafte 'Kunstfertigkeit' des1 naturwissenschaftlichen Lehrers
würde die Schüler sofort ausschliesslich in die Richtung des geometri-
schen Zeichnens, seitab von den dem Unterricht vorgesteckten,' zum Teil
ästhetischen Zielen führen und schwerlich den Erfolg haben, dasz sich
um den Lehrer eine 4. Glasse, ein Kreis von Schülern der oberen Glassen
schlösse, zwanglos, nur aus Interesse für den Gegenstand zusammen-
getreten. Vielmehr ist dieser Unterricht seit der Mitte der 40er Jahre in
die Hände übergegangen, welchen er seinem ausgesprochenen Zwecke und
seiner natürlichen Richtung nach zukommt, nemlich denen der Künstler
von Beruf.
Wer die Leistungen def Schüler vor dieser Zeit kennen zu lernen
sich die Mühe genommen und dieselben mit den jetzigen vergleicht, kann
nicht in Abrede stellen, dasz, wenn hier und da auch die Individualität
des Lehrers in einer gewissen Einseitigkeit der Leistungen der Schüler
sich wahrnehmbar macht, der Unterricht im Ganzen sich bedeutend ge-
hoben und , wo nicht unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstanden,
die vorgezeichneten Ziele auch wirklich erreicht hat. Auch ist durch die
Wahl zur Handhabung der Schulzucht geeigneterer Persönlichkeiten den
früher beklagten diseiplinarischen Unzuträglichkeiten abgeholfen worden
und damit der Grund zu der gegen diese Lehrergattung gerichteten Un-
gunst geschwunden.
Nichtsdestoweniger hat dies die zu erwartende Rückwirkung auf
eine Verbesserung der abnormen Stellung dieser Lehrer zu den Gymna-
sien zu üben nicht vermocht. Sie haben noch immer die Schwächen ihrer
Vorgänger zu büszen und unter der bei Schulmännern von Beruf nicht
eben seltenen Geringschätzung der Fähigkeit zu leiden, welche der Unter-
richt im Zeichnen Seitens des Lehrers erfordert. Das Zeichnen gehört in
diesen Kreisen eben zu den 'technischen Fertigkeiten'.
Wenn der Zeichnenunterricht an Gymnasien bei den untersten Stu-
fen des Könnens verweiten und bei den aus vielerlei Gründen so nahe ge-
steckten Zielen stehen bleiben musz, so erfordert er doch, wie jede an-
dere Disciplin, einen Lehrer, dessen Gesichtskreis weit über diese Ziele
reicht. Wie viel Wissen aber — mehr, als die Instruction zur Prüfung
der Zeichnenlehrer fordert — der Bildungsgang eines das Lehrfach be-
tretenden Künstlers umfaszt, und dasz er in den Mühseligkeiten und in
der Länge dem Bildungsgange eines das Lehrfach betretenden Gelehrten
mindestens gleicht, dasz auch deshalb seinen Vertretern an den Gym-
nasien wenigstens die äuszerliche Gleichstellung mit ihren gelehrten
Gollegen zukomme ... das haben, so viel dem Verfasser bekannt ist,
vor Kurzem die königlichen Kunstakademieen an maszgebender Stelle
befürwortend hervorgehoben. Die je nach der persönlichen Ansicht des
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Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht. 369
Einzelnen mehr oder weniger erhebliche Wichtigkeit des Lehrgegenstan-
des selbst darf diese äuszerliche Gleichstellung nicht verhindern, wenn
derselbe, wie im neuen Lehrplane, cein integrierender Teil des Lehrpla-
nes aller höheren Schulen' heiszt. Die Sonderstellung der Zeichnenlehrer
verfehlt sogar nicht, einen bemerklichen Eindruck auf die Anschauungen
der Schüler zu machen.
Es ist allerdings billig , dasz diese Lehrer gleich denen der anderen
Lehrgegenstände eine Probezeit zu bestehen haben und dasz deshalb
ihre Anstellung vorläufig auf Kündigung erfolge. Wenn man es aber für
zweckmäszig befunden, bewährte wissenschaftliche Kräfte durch feste
Anstellung ihrer Träger den Lehranstalten zu sichern und deren Eifer
durch die Eröffnung der Aussicht auf Beförderung , Gehaltserhöhung und
Pension anzuspornen, so liegt die Frage nahe, ob es auch billig sei, den
künstlerischen Mitarbeitern , die sich durch eine Reihe von Jahren be-
währt, die feste Anstellung und die Aussichten jener Art für immer zu
versagen. Haben sie bei übrigens ihnen mit ihren Collegen gleich zu-
gemessenen Pflichten und Einkünften nicht denselben Anspruch, wie jene,
wenigstens auf eine ihrer Thätigkeit entsprechenden Beteiligung des
Staates, resp. der Commune, an der Sicherung ihrer Zukunft? Sollen
von allen Beamten nur sie allein die moralische Zähigkeit haben , die kei-
ner Aufmunterung bedarf? Musz sie die* ussichtslosigkeit für die nächste
und die fernere Zukunft nicht darauf hinweisen, den erwählten Künstler-
beruf vor Allem , das Lehramt aber nur mit dem Grade von Hingebung
zu pflegen , welcher nach dem augenblicklichen pekuniären Ertrage des
Amtes zu bemessen ist?
Indem der Verfasser sich nunmehr zu dem neuen Lehrplane selbst
wendet, verhehlt er sich nicht das Misliche des Unternehmens, Bedenken
gegen eine, voraussichtlich auf viele Jahre hinaus als gültige Vorschrift
bestehende Anordnung vorgesetzter Behörden auszusprechen, vollends
wenn jene zum Teil principieller Art sind und sich gegen die Verordnung
im Ganzen richten. Er hofft jedoch, es werde dasMasz der Freimütigkeit,
welches von der Wahrhaftigkeit erfordert wird, die Würdigung finden,
worauf objective Erörterungen von Angelegenheiten aus den Gebieten der
Kunst und der Wissenschaften ein herkömmliches Vorrecht haben. Dem
Vorwurf, dasz er bei dem bequemen Negieren stehen geblieben , glaubt
er durch die gleich Eingangs seiner Bemerkungen gegebenen positiven
Andeutungen über den Zeichnenunterricht begegnet zu haben.
Die gegen den Lehrplan gerichteten Bedenken lassen sich zum gro-
szen Teil aus den vorhergehenden Erörterungen entnehmen. Zunächst
erwähnt derselbe, das letzte Alinea der 'Bemerkungen' ausgenommen,
nichts von den Hindernissen und Schwierigkeiten, welche dem Zeichnen-
unterrichte seit dem Erlasz des abgeänderten Reglements noch immer im
Wege stehen, und sucht deshalb auch die Förderung des Lehrgegenstan-
des nicht, wie es dem Verfasser das Zweckmäszigere scheint, in Masz-
regeln , welche jene Hindernisse zu beseitigen geeignet wären , sondern,
wie das alte Reglement, in der Aufstellung eines Lehrverfahrens. Indem
dabei unbeachtet geblieben ist, dasz ein bedeutender Teil jener Hinder-
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370 Ueber den Gymnasialzeichnenunterricht.
nisse durch Vermehrung der dem Zeichnenunterricht gewidmeten Schul-
stunden, sofort beseitigt wäre, wird diese Zeitzulage nicht allein nicht
bewilligt, sondern es werden dem Unterrichte, wie er sich unter den be-
stehenden Verhältnissen folgerichtig gestalten muste, zu den alten Auf-
gaben vielmehr noch neue und zwar solche zuerteilt, deren gründliche
Lösung die bisher gewährte Stundenzahl allein erfordern wurde.
Wer die einzelnen Sätze der 5 ersten §§ durchlieset und dabei gün-
stige Unterrichtsverhältnisse voraussetzt, kann, wie dies ja auch die Gut-
achten der drei k. Kunstakademieen und der k. Provinzial-Schulcollegien
beweisen, zu einem Einverständnis mit dem Lehrplane gelängen, weil
diese Sätze, einzeln für sich betrachtet, völlig zu rechtfertigende Aufgaben
stellen. Wer sich aber bei jeder Zeile erinnert ,*dasz gröszere Gomplexe
dieser Aufgaben zugleich, vor vollen Classen und in wöchentlich zwei
knappen Schulstunden gelöset werden sollen , dasz ferner die 2. und 3.
Unterrichtsstufe, für welche schon die perspectivischen Uebungen vor-
geschrieben sind , die unreifen Geister der Quinta und Quarta umfassen
— der wird sich sicher den Bedenken gegen die Ausführbarkeit des Lehr-
planes anschlieszen , zumal wenn er selbst zu denen gehört , welche jene
Aufgaben lösen sollen, und wenn ihm zugleich nicht mehr als wöchent-
lich zwei Stunden für jede der dr« unteren Classen beschieden sind.
Während nach der Ansicht des Verfassers der der Individualität der
Lehrer zu gönnende freie Raum (Einleitung zu den 'Bemerkungen') am
glücklichsten in der Weise dargeboten worden wäre, dasz man nach einer
allgemeinen Charakterisierung des Gymnasialzeichnenunterrichtes als ei-
nes die Erwerbung der allgemeinen Bildung fördernden Mittels nur die
Ziele desselben für die oberste Gymnasialstufe eingehend bezeichnet und
die Ueberwachung der dahin führenden Schritte lediglich der Aufmerk-
samkeit der Herren Gymnasialdirectoren überlassen hätte, bezeichnet der
Lehrplan in etwas kargen Worten zwar diese Ziele, weist aber dem un-
terrichtenden Lehrer zugleich die Schritte selbst zu und überläszt ihn
dann vor den dadurch neugeschaffenen Schwierigkeiten*) sich selbst und
dem zweifelhaften Rückhalte, welchen bei der Verantwortung der auf
dieser Bahn unvermeidlichen Fehltritte die 'Bemerkungen' gewähren
könnten.
Was den in dem Lehrplan in den Vordergrund gestellten perspecti-
vischen Unterricht betrifft, so begrüszen die beteiligten Lehrer jede Ge-
legenheit, diesen Teil ihrer Disciplin weiter als bisher entwickeln zu
können, mit wahrer Freude; denn er gibt das mathematische Correctiv
für das auf die optische Wahrnehmung allein sich stützende unsichere
Product des Könnens ab. Wie aber die oben gemachten, hierher gehörigen
Bemerkungen erkennen lassen, musz dieses Correctiv nachträglich
geboten werden, nachdem bei dem Schüler das bewuste Sehen und das
Auffassungsvermögen au einem gewissen Grade der Reife gediehen sind.
*) Hierzu gehört n. a. die Aufgabe, vor durchweg ungleich reifen
Zeichnern, wie sie die Versetzungen zusammenbringen, den theoreti-
schen Teil des vorgeschriebenen Unterrichts zu absolvieren.
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' Ueber den Gymnasialzeichnenunlerricht. 371
Nichtkünstler sehen in den ersten bildlichen Aeuszerungen des Sehens mit
-Bewustsein irtümlicher Weise die Anfange des perspectivischen Zeichnens.
Für die Elemente dieses Zeichnens, welche unbedingt die Anwendung
des Zirkels und Lineals erfordern (§ 3 des Lehrplanes), reicht die Fas-
sungsgabe eines Schülers der 2. Stufe (Quinta) bei weitem nicht aus. Sie
verlangen vielmehr auszer den Vorkenntnissen ,in der Geometrie, wie sie
allenfalls ein Tertianer hat, einige Kenntnis des orthographischen Pro-
jectionsverfahrens. Der Verfasser, der dem Studium der Perspective und
dem Unterrichte darin einen nicht geringen Teil seiner Kräfte zugewendet
hat und die ihm theure Disciplin in jeder Weise gefördert sehen möchte,
musz dem perspectivischen Unterricht auf dem Gymnasien von vornherein
jeden Erfolg absprechen, wenn demselben nicht wenigstens eine beson-
dere Stunde wöchentlich für die aus den Schülern der oberen Classen
combinierte Zeichnenciasse gewährt wird, nachdem ihm, unter Weg-
lassung des perspectivischen Unterrichts in der Quinta , durch Einrichtung
einer Stunde wöchentlich in Quarta für den Uuterricht in den Anfängen
des orthographischen Projicierens vorgearbeitet worden. Diese letzter-
wähnte Stunde würde zugleich die in § 4 des Lehrplanes verlangten
Uebungen in der Handhabung von Zirkel und Lineal gewähren.
Allerdings kann es bei der bisher beschränkten Gelegenheit, den
Schülern Anleitung in der Perspective zu geben, vorkommen, dasz Schw-
ier naeh jahrelangem Zeichnen nicht im Stande sind, einen Stuhl, einen
Tifch, oder irgend einen körperlichen Gegenstand richtig nachzubilden
(AI. 3 der 'Bemerkungen'), doch ist der im Lehrplan zur Vermeidung
dieses Uebelstandes vorgezeichnete Weg, zumal wenn er an der Hand der
Peter Schmidschen Methode betreten wird, auszerdem dasz er die Rieh*
tung verfehlt, impraktikabel. Wie' kategorisch der Pädagoge hier auch
nötigen wolle, die in Rede stehende Disciplin läszt sich nicht tyrannisieren.
Der Beginn des Freihandzeichnens nach Vorlegeblättern ist in dem
Lehrplan in die zweite Stufe (Quinta) gelegt und für dieselbe Stufe so-
gleich die Ausdehnung der Uebungen bis zum Zeichnen von Gesichtsteilen
und ganzen Köpfen in Aussicht genommen. Es ist hierzu zu bemerken,
dasz diese Zielpunkte und insbesondere die für Quarta (dritte Stufe) ge-
steckten (Freihandzeichnen nach Körpern, insbesondere nach Gypsen:
Ornamente , Blattformen , Teile des menschlichen Körpers) auch nur an-
nähernd erreichbar sind , wenn für die technische Uebung der Hand nach
Vorlegeblättern eine längere Zeit, als der einjährige Gursus in Quinta
darbietet, vorher aufgewandt werderi, und dasz deshalb die Verlegung der
ersten Anfänge dieser Uebungen nach Sexta unerläszlich scheint. Was die
für die dritte Stufe (Quarta) angeordneten Uebungen im Freihandzeichnen
nach Teilen des menschlichen Körpers betrifft, so dürfte es hier wol
beim Zeichnen des menschlichen Kopfes sein Bewenden haben müssen, da,
abgesehen von anderen Bedenklichkeiten, die Darstellungen von anderen
Teilen des menschlichen Körpers, als der Kopf, selbst von Händen und
Füszen , ohne vorherigen Unterricht in den Proportionen und der Anato-
mie des menschlichen Körpers nur Monstrositäten ergeben, an deren Ent-
stehen eine öffentliche Lehranstalt ihre Beteiligung nicht zugeben darf.
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372 Ueber den Gymnasialzeichnenunierricht.
Auch möchten diese Uebungen überhaupt wol das Gebiet der elementaren
Voraussetzungen der Kunst überschreiten.
Hinsichtlich der in dem Lehrplane für die erste (unterste) Stufe vor-
geschriebenen Unterweisung in den Elementen der Formenlehre , deren
Kenntnis für den Zeichnenunterricht wie für andere Disciplinen bei den
Schülern in der That unentbehrlich ist , dürfte an das Mihisterial-Rescript
vom 24. Oct. 1837 zu erinnern sein, wonach die in die Sexta der Gym-
nasien eintretenden Schüler diese Kenntnis aus der Vorschule schon mit-
bringen sollen. Wenn dies dennoch selten der Fall ist, so ist es allerdings
der Zeichnenlehrer, in dessen Unterricht jene Kenntnis am besten nach-
geholt werdeu kann. Mit der Uebernahme dieses Unterrichts fällt ihm
jedoch eine Aufgabe zu, welche ihrem Charakter nach in gesonderten
Stunden unter Anwendung des Zirkels und des Lineals gelöset werden
mu$z und der er sich , ohne seine eigentliche Aufgabe zu schädigen , nur
in der Weise unterziehen kann, dasz dadurch nicht die gauze Zeit des
Verweilens der Schüler in Sexta erfüllt wird.
Unzweifelhaft in der Voraussicht, dasz die Summe der in dem Lehr-
plane dem Lehrer gestellten Aufgaben diesen in die nur desto gröszere
Gefahr bringen müsse, nach keiner Seite hin zu befriedigen , je gewis-
senhafter er selbst ist, ist dem Lehrplane eine Reihe von Bemerkungen
angefügt, welche modificieren wollen, was jener streng fordert. Es ist
leicht, ihhen durchweg beizupflichten. Wie wolmeinend dieselben aber
auch der Individualität und der Methode der Lehrer einigen Spielratm
versprechen, so sind sie doch nur geeignet, die von den weiter oben er-
wähnten älteren Gebrechen eben gesundete Stellung der Zeichnenlehrer
insofern von Neuem zu gefährden, als sie die letzteren, wenn diese, den
'Bemerkungen' vertrauend, von den Satzungen des 'Lehrplanes' abwei-
chen , dem zu jedem Zeitpunkte und bei jedem etwaigen Wechsel der
Ansichten an maszgebender Stelle mit dem Anschein von Recht zu erhe-
benden Vorwurf aussetzen , dasz sie nicht das Gewünschte leisten.
Auszerdem, dasz der Verfasser hier am Schlüsse zu bedenken gibt,
ob es in Rücksicht auf das Bedürfnis des künftigen Architecten und Tech-
nikers nicht ernstlich geboten scheine, auch dem geometrischen Zeichnen
auf den Gymnasien einige gesonderte Stunden anzuweisen, weiset er
noch einmal dringend darauf hin, dasz, um die Erfolge des künstlerischen
Freihandzeichneuunterrichtes zu beben, dem Lehrer nicht eine Methode
geboten, sondern vor Allem angemessene Localitäten und einige Unter-
richtsstunden mehr gewährt werden mögen. Das ist das ceterum censeo
der beteiligten Lehrer.
AI. 11 und 16 der Bemerkungen schneiden die Hoffnung auf Er-
füllung dieses Verlangens nicht gänzlich ab.
Berlin. Otto Gennerich.
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Ueber die verbalendung -ieren. 373
28.
Ueber die verbalendung -ieren.
Der gebrauch der verben auf -ieren f) erfährt von seilen mancher,
welche als gegner der fremdwörter auftreten, sehr viel Widerspruch;
aber gewöhnlich wird nur die allgemeine behauptung ausgesprochen,
dasz man sich derselben möglichst zu enthalten bemüht zeigen müsse.
Worin diese möglichkeit bestehe, ob die entbehrlich keit des ganzen aus*
drucks oder der fremdlautende wortstamm vorzugsweise zu berücksich-
tigen sei, bleibt meistens unerörtert.
Zunächst kommt es darauf an , einem Vorurteile zu begegnen. Wenn
nemlich diese verbalendung eine fremdendung genannt zu werden pflegt,
so ist diesz zwar an und für sich richtig ; man darf aber dabei nicht ver-
gessen, dasz diese form schon im mhd. in einer zahllosen menge von Bei-
spielen vorliegt. Am nächsten steht ihr die Substantivendung -ter,
welche gleichfalls an entlehnten Wörtern auftritt z. B. mhd. banier, her-
senier, soldier, böschelier, schevalier, un4 manche verben auf -ieren sind
eben von subst. auf -ier abgeleitet, wie furnieren, barbieren. Da nun
nicht leicht irgendwo solche subst., wenn sie überhaupt noch bis in* die
gegenwart reichen, ihres fremden Ursprungs wegen zurückgewiesen wer-
den (vgl. panier, revier, manier); so darf auch die endung -ieren als
solche keineswegs dem bereiche der deutschen spräche entzogen werden,
sie gehört vielmehr wie jene andere in dasselbe hinein. Hieraus folgt,
dasz es insbesondere sowol darauf ankommt, wie der eigentliche stamm,
der mit dieser endung versehen wird, beschaffen ist, d. h. ob er in laut-
licher hinsieht unserer spräche überhaupt angemessen erscheinen darf,
als auch, wenn diesz bejaht werden kann, ob nicht etwa schon ein völlig
ausreichendes einheimisches verb vorhanden ist. An diesen beiden bedin-
gungen scheitert wol die mehrzahl von solchen Wörtern, welche heut-
zutage in rede und schrift so verschwenderisch ausgeteilt werden.
Wenn ein fremdwort bereits Jahrhunderte in der spräche verweilt
hat, so ist es eine durchaus müszige frage, ob seine stelle durch ein
deutsches bequem eingenommen werden könne; auch der vollkommenste
ersatz wäre gar nicht berechtigt, dem längst eingebürgerten und als
deutsch geltenden Worte den wag zu vertreten. Daher versteht es sich,
1) Dasz der diphthong jedesmal im rechte ist, nicht blosz bei re-
gieren und spazieren, sondern auch in den ganz entbehrlichen nnd zum
teil abgeschmackten beispielen , deren sich die moderne richtung zu
bedienen nicht verschmäht, kann durch den Vorgang im mhd., der
seine quelle im altfranz. hat, vollkommen überzeugend bewiesen wer-
den. Sodann aber bereitet die beliebte absonderung jener beiden Wör-
ter nur neue Verlegenheiten und unfolgerichtigkeiten. Wer möchte
z. b. neben barbier, turnier, quartier die davon abgeleiteten verben mit
bloszem i schreiben? Zu barbieren aber stimmt wieder rasieren, nicht
rasiren.
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374 Ueber die verbalendung -tere».
dasz Wörter wie regieren*), spazieren, furnieren, der begründung nicht
bedürfen. Aber auch gegen fallieren, marschieren, passieren, rasie-
ren , studieren , summieren und viele andere ist nicht das geringste be-
denken zu erheben ; sie leisten oft sogar durch ihre bündige und gefällige
form der spräche einen wesentlichen nutzen. Durch welchen anderen
ausdruck könnte z. b. fallieren (ital. fallire, aus lat. fallere, woher auch
fehlen) passend ersetzt werden? Ein bequemes einfaches wort gibt es im
deutschen nicht, und in den ebenfalls gangbaren schwerfälligen Verbin-
dungen 'bankerott' oder (konkurs machen9 ist das hauptwort obendrein
auch ein fremdes. Fügt sich die endung an einen deutschen stamm , so
entsteht ein ganz anderes und , genau betrachtet , minder günstiges Ver-
hältnis. Im mhd. war diese weise nicht üblich; die Wörter, welche sich
hier im 12. und besonders im 13. jahrh. gebildet haben , wurden aus dem
romanischen übernommen, z. b. parlieren, zimieren, feitieren, fischieren.
Später aber gab man sich der bequemlichkeit hin, für die bezeichnung
eines aus einem nomen entwickelten verhafte griffes ohne weiteres der
nominalform die vieldeutige endung -ieren anzupassen. Zwar hätte dafür
immerhin lieber eine echtdeutsche verbalform eintreten mögen, und die-
jenigen fälle sind zu tadeln , wo» eine bereits vorhandene deutsche endung
gegen jene undeutsche aufgegeben worden ist. Bisweilen indessen mochte
der umstand, dasz ein zu demselben stamme gehöriges verb mit deutscher
endung bereits vorhanden war, die entstehung der form auf -ieren be-
günstigt haben; man vgl. hausen und hausieren, lauten nnd lautieren,
schatten (beschatten) und schattieren. Mit einem deutschen oder doch
vollkommen eingebürgerten stamme verbindet sjch die endung auszerdem
in: halbieren, buchstabieren, kutschieren, stolzieren, hantieren (schjpn
mhd.), ausstaffieren.
Einen außerordentlich groszen, ja unübersehbaren beitrag liefern
die vielerlei technischen und terminologischen ausdrücke, durch welche
in der regel auf einfachere weise , als mit deutschen mittein möglich ist,
und oft sehr unterscheidend, mithin treffend, besondere begriffe der Wis-
senschaften und künste bezeichnet werden, z. B. alliterieren, appellie-
ren, assimilieren, applaudieren, balsamieren, blokieren, deklinieren,
disputieren, dividieren, duellieren, elidieren, exerzieren , fabrizie-
ren, fixieren, fungieren, hospitieren, instruieren, inlerpungieren,
kassieren9), komponieren, konjugieren, kopieren, kopulieren, korri-
gieren , kurieren , medizinieren, miniefen (unterminieren) , modellieren
und modulieren, musizieren, operieren, orientieren, parieren4), pun-
ktieren, redigieren, rezensieren, sondieren, suspendieren, urgieren,
visieren, zitieren. Manche unter diesen sind auch dem gemeinen leben
nicht unbekannt, sowie andere, welche hier und überall gebraucht .wer-
den, auf den namen eigentlich technischer und terminologischer ausdrücke
entweder an sich keinen ansprtich erheben können oder doch nicht mehr
2) natürlich aus dem lat. regere. Suchenwirt brauchte r regnieren '
(regnare) intransitiv; im mhd. galt richesen (v. riche, reich).
8) 1) v. Kasse 2) v. franz. casser (quassare).
4) in 3 bedeutungen.
Hager: hebräische* Vocabularium. 375
als solche betrachtet werden; vgl. auszer den genannten fallieren usw.;
gratulieren , frisieren, einquartieren, logieren, interessieren, polie-
ren, linieren, galopieren, filtrieren*). Mundarten bieten noch manche
andere ausdrucke, denen die Schriftsprache aus dem wege zu gehen pflegt
oder eine andere form erteilt, als: fingerieren,junkerieren, sehne ine-
rteren , maulieren , narrieren (schon bei Fischart , der überhaupt eine
sehr reiche ausbeute liefert) , schantieren und ausschündieren , drang-
salieren, meng eiteren (mischen), ramponieren, rungenieren (ruiniren),
figilieren ; ferner niederd. klareren (im schiffswesen) , fisenUren (visit.),
profentiren (profit.), nachttoechteriren (als Nachtwächter fungieren),
garnSren (holländ. tuinieren, den garten bestellen).
Steht einem fremdworte auf -ieren ein anderes von gleichem stamme
mit deutscher endung zur seite, so ist, wenn beide gelten sollen und
gelten, die bedeulung naturlich eine verschiedene ; vgl. oben hausen, tau-
ten und hausieren, lautieren. In solchem Verhältnisse befinden sich
passieren, kopulieren, spendieren, probieren, formieren, modellieren,
prädizieren, pressieren, regulieren, turnieren, diktieren, traktieren
zu passen, kuppeln, spenden, proben (erproben), formen, modeln,
predigen, pressen, regeln, turnen, dichten, trachten, niederd. dokte-
rer en zu doktern6). Unverwandt aber sind kieren (faire la cour) und
kurieren (curare). Blosz formell vergleichen sich mhd. tempern, balse-
men, termen mit temperieren, balsamieren und lat. terminare. Aus
dem mhd. behalten sind benedeien (benedicere), kasteien (castigare). x
Mülheim a. d. Ruhr. ' K. G. Andresen.
b) v. mlat. filtrum, filz.
6) Jenes bedeutet: sich mit kurieren abgeben, dieses: den doktor
gebrauchen , medizinieren.
29.
Hebräisches Vocabularium für die Primaner- und Secundaner
der Gymnasien, sowie für Theologiestudirende zusammen-
gestellt von Dr. A. Hager, Lehrer am Fridericianum %u
Schwerin. Leipzig, 1863. 81 S. 12.
Seitdem die neuere Didaktik sich so entschieden für ein planmäsziges
Vocabellernen bei dem lateinischen und griechischen Unterrichte ausge-
sprochen und zweckmäszige Hülfsmittel für diesen Unterricht veranlaszt
hat, hat man allmählich (nachdem schon vor 50 Jahren Gesenius ein Voca-
bellernen ex professo auch für die hebr. Sprache nachdrücklichst gefordert
hatte) auch die Notwendigkeit eines planmäszigen Vocabellernens im he-
bräischen Unterrichte anzuerkennen angefangen. Während einige Lehrer
noch der Ansicht sind, dasz der Schüler zunächst nur diejenigen Vocabeln
lernen solle, welche in den ersten Uebersetzungsstücken vorkommen, z. B.
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376 . Hager: hebräisches Vocabularium.
in den ersten Capiteln der Genesis, verlangen andere ein streng plan-
mäsziges Vocabellernen wie im Lateinischen und Griechischen. Die An-
sichten der Letzteren weichen nur darin von einander ab, dasz die Einen
von dem für diese Uebungen nötigen Vocabularium die sachliche, die
Anderen die etymologische Methode fordern. Während Stier in seinem
hebräischen Vocabularium*) im ersten Hefte die Wörter grammatisch, in
dem zweiten sachlich geordnet hat, hat Dr. Hager, Lehrer am Frideri-
cianum in Schwerin , die etymologische Methode angewendet.
So wichtig ein planmäsziges Vocabellernen für den Unterricht im All-
gemeinen auch sein mag, so ist Ref. doch der Ansicht, dasz, da es hei dem
hebräischen Unterrichte ganz besonders darauf ankommt, die Schüler
sobald wie möglich zum Uebersetzen vollständiger Stücke zu führen , es
für die Anfänger im Hebräischen am zweckmäszigsten ist, wenn sie zuerst
diejenigen Wörter auswendig lernen, welche in den Sätzen oder Stücken,
welche sie zuerst übersetzen, am häufigsten vorkommen; für die folgenden
Jahre würde Ref. eine Auswahl der Wörter , welche bei der Leetüre des
A. T. am häufigsten vorkommen , vorziehen.
Was die Einrichtung des fraglichen Vocabularium betrifft, so
zerfällt dasselbe in 82 Abschnitte, deren jeder 10 — 15 numerierte und
auszerdem einige mit einem Sternchen versehene Vocabeln enthält. Der I
Verfasser gieng von dem Gedanken aus , dasz das Pensum der Secnndauer j
für ein Jahr von circa 41 Schul wochen das Auswendiglernen der nume- <
rierten Vocabeln der 82 Abschnitte (also 20 — 30 Vocabeln für jede Woche), j
das der Primaner für die Zeit von 2 — 3 Jahren die Repetition der schon *
gelernten und das Hinzulernen der nicht numerierten Vocabeln sein soll
Die Abschnitte sollen nicht streng der Reihenfolge nach gelernt werden,
sondern das Gutdünken des Lehrers oder die Rücksichtnahme auf die ge-
rade bei der Leetüre vorkommenden Wörter soll die jedesmalige Auswahl
der zu lernenden Abschnitte bedingen.
In welcher Weise der Verfasser die etymologische Anordnung
durchgeführt hat, ergibt sich z. B. aus den Angaben der Wörter, welche
in dem ersten Abschnitt vorkommen; er beginnt mit t|b«, t]brr, 5bn,
t]b* , n^n , FM , TS , nn. Während in einzelnen Abschnitten der Grund
der Verbindung und Aufeinanderfolge der Wörter deutlich hervortritt,
sieht man bei anderen nicht gleich ein , weshalb die Verbindung stattge-
funden, z. B. Abschnitt 5, 17, 18, 25, 31 usw. Bei jedem Worte ist die
Grundbedeutung oder die am häufigsten vorkommende Bedeutung ange-
geben.
Die am Rande bemerkten Wörter, die nicht als Resultate der Sprach-
vergleichung, sondern als voces memoriales angesehen werden sollen, z. B.
*) Hebräisches Vocabularium zum Schulgebrauch. Mit Hinweisun-
gen auf die Lehrbücher von Nägelsbach, Rödiger und Seffer zusammen-
gestellt von Gf. Stier.. Erster oder grammatisch geordneter Teil. 1. Ab-
teilung: Verzeichnis der Verba. 2. Abteilung: Verzeichnis der Nomina.
Leipzig 1858. 150 S. Zweiter oder sachlicher Teil. Mit einem An-
hange Neutestamentlicher Wörter und Namen. 1859. 78 S,
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Middendorf u. Grüter: lateinische Schulgrammatiken. 377
bei t]bn Chalif, bei nbn albus, dXqpöc, bei tpü Tp^qpeiv, bei 5"t3n deh-
uen, T€lV€lv, bei 013 ttoOc, *\*\1 Tp^KClv usw. sind angenehme und be-
lehrende Zugaben. Der Druck ist im Ganzen deutlich und scharf, nur an
einzelnen Stellen, z. B. S. 17, N. 8, Z. 2; 17, 13, 2; 33, 12, 2; 73, 10;
80, 4 vermiszt man einzelne Zeichen der Vocale. Seite 82 findet sich ein
Verzeichnis der Druckfehler (20), doch ist dasselbe nicht ganz vollstän-
dig; z. B. Seite 8, IX, 3, 3; 9, 12, 2; 9, 9, 3; 25, 12; 40, 12 usw.
Essen. % Buddeberg.
30.
1. Lateinische Schulgrammatik für die unteren Gymnasialklassen.
Erste Abteilung , enthaltend: die Elementarlehre, die Formen-
lehre mit einer »um Memoriren bestimmten Wörtersammlung
und die Wortbildungslehre. Zweite Abt.: die Anfangsgründe
der Syntax mit vielen deutschen und lateinischen Uebungsätzen,
sowie zusammenhängende deutsche und lateinische Uebungs-
stücke zum Uebersetzen nebst einem deutsch-lateinischen und
lateinisch-deutschen Wörterbu che. Von Dr. Hermann Midden-
dorf und Dr. Friedrich Grüter. Vierte verbesserte Auflage.
Munster, Druck und Verlag der Goppenralhscheu Buch- und Kunst-
handlung. 1863. XIV u. 262, 200 S. 8.
2. Lateinische Schulgrammatik für die mittleren und oberen Gym-
nasialklassen, enthaltend: die ausführliche Syntax, sowie die
Quantitätslehre, die Metrik und die bedeutendsten Eigentüm-
lichkeiten des poetischen Sprachgebrauchs, nebst einigen An-
hängen. Von Dr. Hermann Middendorf und Dr. Friedrich
Grüter. Dritte verbesserte Auflage. Münster, Druck und Verlag
der Coppenrathschen Buch- und Kunsthandlung. 1863. XIII u. 336
S. 8.
Die Middendorf- Grütersche Grammatik ist bereits so günstig beur-
teilt und an so vielen höheren Lehranstalten eingeführt worden, dasz
es genügt, hier nur mit ejnem Worte anf das Erscheinen der neuen
Auflagen hinzuweisen, die, auch äuszerlich ganz angemessen aasge-
stattet, unter der nachbessernden Hand der Herrn Verf. noch vielfach
gewonnen haben. Auszer einzelnen Berichtigungen usw. in dem ganzen
Werke sind im ersten Teile auf den Wunsch mancher Lehrer mehrere
Uebungsstücke zum Uebersetzen ins Lateinische neu hinzugekommen,
und im zweiten Xßü hat die Vergleichung des Lateinischen mit dem
- Griechischen (in den Noten) , wodurch die beiden Sprachen gegenseitig
entschieden gefördert werden, eine dankenswerthe Erweiterung erfahren.
In der Orthographie sind die Forschungen von Fleckeisen u. A. sorg-
fältig benutzt worden. — Ein Punkt könnte, wie uns scheinen will,
durch eine Revision noch gewinnen: der Ablativ Singul. der Adjectiva
einer Endung (§ 46). Hier wäre zunächst das secundäre veteri zu
streichen; denn clie. bei weitem bewährteste Form istvetere, für welche
auch die correspondierenden Bildungen vetera und veterum sprechen.
Im Uebrigen aber musz unseres Erachtens der Schüler sich daran ge-
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378 Personalftotizen.
wohnen, auch in diesem Casus die Endung i als die notwendige zu
betrachten*), wovon sich einige Ausnahmen fänden; die Uebereinstim-
mung von i — ia — ium ist ihm bei den mehrgeschlechtigen Adjectiven
bereits geläufig geworden, und in diesem Bewustsein werden ihn die
Ajdjectiva einer Endung nicht stören, wenn wir die Regel etwa so fas-
sen: fWie die Adjectiva dreier und zweier Endungen, haben auch die
Adjectiva und Participia einer Endung im Abi. Sing, regelmäszig i:
z. B. audax — audaci, ingens — ingenti, memor — memori, par —
pari; doch gibt es einige Ausnahmen: 1. Folgende Adjectiva haben im
Abi. e: — ' [hier wären nun die (zu memorierenden) Adjectiva von
§ 64, II. 1. 2 mit Hinzunahme von ales, dives, über, vetus NB. nebst
deutscher Uebersetzung aufzuführen; darunter könnte eine An-
merkung folgen über das assimilierende 'Schwanken' von e zu i hin-
über: z. B. divite — diviti]. c2. Die Participien auf ans und ens haben
im Abi. neben i auch die seltnere Endung e, wenn sie' usw. (S. 39).
f Anmerkung 2: Auch bei einigen Adjectiven findet sich nebenbei die
Endung e ; z.B. felix — f elici und seltner f elice , iners — inerti —
inerte.' — Beim Comparativ würden wir die Ablativ-Endung i in eine
Anmerkung verweisen. — Bei dem Pronomen hie wäre im Plural die
Femininalform haec nachzutragen, welche bereits mehrfach in die Texte
aufgenommen ist.
Mit diesen Bemerkungen möge das grammatische Werk in seiner
verjüngten Gestalt bestens empfohlen sein!
Dresden. Pfuhl.
•) Ebenso darf man, nebenbei bemerkt, einem Sextaner nicht sagen,
dasz das Wort dies im Singular ein Commune sei; das erfährt der Schü-
ler Zeit genug , wenn ihm das Mascul. in sueum et sanguinem "'
gangen ist.
Pers.onalnotizen.
(Unter Mitbenutzung des f Centralblattes ' von Stiehl und der f Zeit-
schrift für die österr. Gymnasien'.)
Ernennungen, Beförderungen, Versetzungen, Auszeichnungen.
Altenburg, SchAC. am Domgymnasium zu Naumburg, \
Bernhard!, SchAC. an der Luisenstädtisqjien Realschule f als ordent-
zu Berlin , ' > liehe Lehrer
B i e r m an n , Dr., Adjunct bei der Bitterakademie zu Bran- 1 angestellt.
denburg, /
Bolze, Dr. W., ord. Lehrer an der Luisenstädtischen Realschule zu
Berlin, zum f Ob erlehr er' befördert.
Bracht, SchAC. an der Realschule zu Aschersieb en,i j ■» Tehrer
Buchholz, Hülfslehrer am Gymnasium zu Cottbus, > ° * 11f
Busch, SchAC. an der Realschule zu Perleberg, ) angestellt.
de la Croix, Consistorialrath , zum geh. Regierungs- und vortragenden
Rath im Ministerium der geistlichen' usw. Angelegenheiten zu Ber-
lin ernannt.
Dahms, Dr. SchAC, als ord. Lehrer an dem französ. Gymnasium zu
Berlin angestellt.
Ditt rieh, Pfarrer- in Bärsdorf, zum Regierungs- und Schulrath bei
der Regierung zu Cöslin ernannt.
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Personalnotizen. 379
Erdmann, Seh AG., als wiss. Hülfslehrer am Gymnasium zu Witten-
berg angestellt.
Eylau, SchAC., als ord. Lehrer am Gymnasium zu Landsberg a. d. W.
angestellt.
Fiege, Elementarlehrer an der Realschule zu Perleberg, als ordentl.
Lehrer an der mit dem Friedrich -Wilhelms -Gymnasium zu Berlin
verbundenen Realschule angestellt.
Gross, ord. Lehrer am Gymnasium zu Spandau, in gleicher Eigenschaft
an der Realschule zu Ruhrort angestellt.
Gudermänn, SchAC, als Collaborator am Gymnasium zu Leobschütz
angestellt.
Härtung, SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Wittenberg an-
gestellt.
Heibig, Dr., Professor u. Conrector an der Kreuzschule zu Dresden,
• ist in Anbetracht seiner Verdienste um deutsche Litteratur u. Ge-
schichte yon der philos. Fac. der Univ. Breslau zum Ehrendoctor
ernannt.
Held, Dr., Privatdocent und Licentiat der Theologie in Zürich, zum
ord. Professor in der evangel. theol. Fac. der Universität Breslau
ernannt.
Hermann, SchAC. an der Realschule zu Ruhrort,) , « Lehrer
Hypitzsch, SchAC an dem Progymnasium zu See-( ««™*«n*
hausen, ; angestellt.
Kawerau, Turn- und Hülfslehrer an der Realschule zu Perleberg, als
ord. Lehrer an der mit dem Friedr. -Wilhelms- Gymnasium zu Berlin
verbundenen Realschule angestellt.
Klapp, Dr., SchAC. an dem Fr.-Wilh.-Gymn. zu Posen, als ord. Leh-
rer angestellt.
Koch, Dr., ao. Professor in der philos. Fac. der Univ. Berlin, erhielt
das Ritterkreuz vom k. belg. Leopoldorden.
Langer, Licentiat, als Religionslehrer am Gymnasium zu Neisse an-
gestellt.
Löns, SchAC. an dem Gymnasium zu Culm, 1 , , Leh-
Ludwig, bisher Collaborator am Gymnasium zu Leob-J anlest. "
schütz, am kath. Gymnasium zu Breslau, *
Marquard, Waisenhausprediger und Lehrer am Pädagogium zu Zül-
lichau, erhielt den k. preusz. rothen Adlerorden IV Cl.
Mewes, bisher Collaborator, als ord. Lehrer am evang. Gymnasium
zu Glogau angestellt.
Mittermaier, Dr., ord. Professor der Rechtswissenschaft an der Uni-
versität Heidelberg, groszh. badischer Geheimrath, erhielt das Com-
thurkreuz des bad. Friedrichsordens II CL
Ob er dick, bisher Lehrer am kath. Gymnasium zu Breslau, als Ober-
lehrer an der Realschule zu Neisse angestellt.
Reichel, bisher Hülfslehrer an der Petri-Realschule , als ord. Lehrer
bei dem Gymnasium zu Thorn angestellt.
Ritschi, Dr., ord. Professor an der Universität Bonn, Geh. Regierungs-
rath, ist zum Ehrenmitglied der philos.-histor. Classe der k. k. Aka-
demie der Wissenschaften zu Wien ernannt.
Ruete, Dr., ord. Professor der Medicin an der Univ. Leipzig, Geh.
Medicinalrath, erhielt den k. preusz. Kronenorden III. Cl.
Schirrmann, Hülfslehrer an dem Gymnasium zu, , , T ,
Schweidnitz, l °„'Z?u
Schröder, SchAC. an dem Gymnasium zu Culm, ' angestellt.
S tapp er, als Religionslehrer an der Ritterakademie zu Bedburg an-
gestellt.
Steinhausen, Dr., SchAC, als Collaborator an der Realschule zu
Brandenburg angestellt..
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380 Personalnotizen.
Strack, Dr., Oberlehrer an der mit dem Friedr. -Wilhelms-Gymnasium
verbundenen Realschule zu Berlin, als r Professor' prädiciert und
zum stellvertretenden Director und Prorector dieser Anstalt ernannt.
Tillich, Dr., ordr. Lehrer an der Realschule zu Wittstock, als Ober-
lehrer an der mit dem Friedrich- Wilhelms-Gymnasium zu Berlin
verbundenen Realschule angestellt.
Volkenrath, Dr., bisher Lehrer an der Stadtschule zu Schwelm, an
der Realschule zu Hagen als 'Oberlehrer' angestellt.
Wachsmuth, Dr. SchAC, als ord. Lehrer an dem Friedr.-Wilhelms-
Gymnasium zu Posen angestellt.
Wackernagel, Dr. W., ord. Professor in der phil. Fac. der Univers.
Basel, zum correspondierenden Mitglied der k. k. Akademie der
Wissenschaften zu Wien ernannt.
Weise, bisher ord. Lehrer am Domgymnasium zu Naumburg, in glei-
cher Eigenschaft bei dem Stiftsgymnasium zu Zeitz angestellt.
Zauritz, bisher ord. Lehrer an der Realschule zu Perleberg, in glei-
cher Eigenschaft an der mit dem Friedrich- Wilheims-Gymnasium
zu Berlin verbundenen Realschule angestellt.
'Gestorben s
Adrian, Dr. Joh. Valentin, ord. Professor der neueren Sprachen und
Bibliothekar der Universität Gieszen, starb im Juni, 72 Jahr alt.
(Zahlreiche Arbeiten über englische Litteratur und engl. Zustände.)
Brehm, Dr. Christian Ludwig, seit 1813 Pfarrer zu Oberrenthendorf
bei Triptis, starb, 78 Jahr alt, am 23 Juni. (Der Nestor der deut-
schen Ornithologen.)
Cohn, Dr. Beruh., Privatdocent an der Universität Breslau, als Natur-
forscher bekannt, starb am 17 Juni zu Schöneberg bei Berlin.
Cureton, Dr., starb im 56 Lebensjahre zu London. (Berühmt als
gründlicher Kenner der altsyrischen Sprache und als Herausgeber
syrischer Mss. des brittischen Museums.)
Knapp, Dr. Albert, seit 1846 erster Stadtpfarrer an der St. Leonhards-
kirche zu Stuttgart, geb. am 25 Juli 1798 zu, Tübingen, starb am
18 Juni. (Geistlicher Liederdichter voll frommen Sinns and nicht
ohne Kraft der Darstellung, am meisten verwandt mit Fr. Ad.
Krummacher und Ph. Spitta. 'Evangelischer Liederschatz'. <Chri-
stoterpe'.)
Meisner, Paul Traugott, lange Jahre eine Zierde des Polytechnicums
in Wien, starb im Juli, 87 Jahr alt. (Berühmter Chemiker; all-
gemein bekannt durch seine Luftheizung usw.)
Schnitzlein, Dr. Eduard, Prof. hon. der Medicin an der Universität
Münohen, geb. 1810, starb daselbst am 21 Mai.
Seals field, Charles, deutscher Herkunft und mit deutschem Namen
Seefeld oder nach anderer Vermutung Postel, angeblich geb.
1797 zu Poppitz bei Znaim in Mähren, starb in der Schweiz, wo-
hin er sich nach seinen Weltwanderungen zurückgezogen, am
26 Mai. (Der Vater des sogen, geograph. socialen Romans. 'Der
Legitime'. fDer Virey'. fKajütenbuch' usw. Länder- und Völker-
tableaux in groszartigen Umrissen und im saftigsten, kräftigsten
Colorit.)
Zech, Dr., ord. Professor der Mathematik und Director der Sternwarte
an der Universität Tübingen, starb am 13 Juli.
Druckfehler.
Im Aprilheft (Jugendleben M. Neanders) S. 177 Z. 2 fehlen hinter
Occistarum die Worte Thomistarum, Marialistarum ; S. 178 Z. 6 v. u.
lies YXuKtirnri statt yAuKornTi.
Digitized by
Googk
]
Zweite Abteilung-
Sei*«
26. Erlebtes und Bewährtes aus dem Gebiete der Erziehung.
Fortsetzung von Jahrg. 1863 S. 445 ff. 333—844
27. Anz. v. G. Schilling: Die verschiedenen Grundansiehten
über das Wesen des Geistes. Vom Prof. Dr. H. Fritzscke
in Leipzig 344—350
(20.) Die prosodische und metrische Messung. der Nibelungen-
strophe (2). Vom Professor Ed. Olaweky in Lissa . . . 351 — 362
(22.) Ueber den Gymnasialzeichenunterricht und den darauf
Bezug habenden Lehrplan vom 2 Octbr. 1863 (2). Von
Otto Gennerich, Zeichenlehrer und Geschichtsmaler in
Berlin 363-372
28. Ueber die Verbal endung -leren. Vom Oberlehrer Dr. K.
G. Andresen in Mülheim a. d. Ruhr 373—375
29. Anz. v. A, Hager; Hebräisches Vocabularium für die Pri-
maner und Secundaner der Gymnasien. Vom Oberlehrer
Buddeberg in Essen 375—377
30. Anz. v. H. Middendorf und F. Grüter: 1) Latein. Schul-
grammatik für die unteren Gymnasialklassen und 2) Lat.
Schulgrammatik für die mittleren u. oberen Gymnasial-
klassen. Vom Professor Dr. Pfuhl in Dresden .... 377—378
^ersonalnotizen 378—380
Berichtigung.
Die Seite 331 dieser Abteilung gegebene Notiz , den Herrn Professor
^Dr Wolff am Friedrichs-Werderschen Gymnasium zu Berlin betreffend,
>eruht auf einem Irtum und ist dahin zu verstehen, dasz derselbe in
«ine sogenannte Oberlehrerstelle eingerückt ist.
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Herrn Dr. Rudolph Westphal in Breslai
Neue Sandstraase 12, 3 Treppen
ersuche ich hierdurch, seine Verpflichtungen gege:
mich unverzüglich zu erfüllen, widrigenfalls weiter
Veröffentlichungen über seine Handlungsweise erfc
gen werden.
LEIPZIG, 10. August 1864.
B. G. Teubner.
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Zweite Abteilung:
für Gymnasialp&dagogik und die übrigen Lehrf&cher9
mit Ausschlusz der classischen Philologie,
herasgegebei ?§■ Prtfesstr Dr. Herain MtsUs.
0 (30.)
Die prosodische und metrische Messung der Nibelungen-
Strophe im MHD und NHD.
(Fortsetzung von 8. 962.)
In der Versammlung der Gymnasiallehrer zu Berlin am 13. Hai 1863
scheint , wie aus einem kurzen Referate zu ersehen ist , Herr Hdpfner den
am Ende des XVI. und im Anfange des XVII. Jh. unter dem Einflüsse fran-
zösischer und holländischer Dichtung sich immer schneller vorbereitenden
Umschwung der deutschen Verskunst -eingehender besprochen zu haben.
Als Wendepunkt, von wo ab sich die deutsche Metrik der lateinisch-grie-
chischen ganz anbequemt hat, stellt er Opitzens Uebersetzung des
Heinseschen Lobgesangs auf die Geburt Christi (1619) fest.
Es liegt hier aber die Frage sehr nahe : wie ist es gekommen, dasz ein
ganz verschiedenes rhythmisches Grundgesetz einer fremden Sprache, das
auf der Zeitdauer der Silben im Verse beruht, das deutsche, das in der
begrifflichen Verschiedenheit und dem Tone der Silben des Verses wur-
zelt, innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte hat ganz verdrängen kön-
nen? Antwort: wie sehr der Schein auch dagegen ist, das altdeutsche
rhythmische Princip waltet auch heute noch in unsrer Sprache.
Der wolthuende Reiz und die den Vers abschlieszende
Kraft des Reimes, die feste Zahl der Hebungen auf der
einen Seite, die Gleichgiltigkeit gegen die Senkung auf
der andern — das ist der Kernpunkt aller deutschen Metrik.
Von diesen drei Hauptpunkten haben die nachahmenden Uebersetzer
lateinischer und griechischer Gedichte, auszerdem aber auch einzelne uns-
rer eignen Dichter den ersten Punkt in Betreff des Reimes zum Teil fallen
lassen , aber — wie weiter unten gezeigt werden soll — nur zu ihrem
eignen Nachteil und Schaden.
N. Jahrb. f Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 8. 26
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382 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
Sonst sind es zwei Thatsachen, die den nhd. Uebersetzern und Dich-
tern die Anbequemung an die antike Rhythmik ermöglicht haben : einmal
1) die althergebrachte Gleichgiltigkeit gegen die Senkung
und 2) das unterschiedslose E in den meisten Endungen, cf.
oben das beim Mhd. darüber Gesagte.
Hat ad Nr. 1 der Dichter nach dem deutschen Grundsatze die Frei-
heit, die Senkungen, oben weil sie keinMasz syf labischer Zeitdauer sind,
im Verse teilweise , ja ganz wegzulassen und so einsilbige Füsze zu bil-
den , so steht es ihm jetzt andrerseits ebenso frei, sie zu setzen und zwar
a) nach der Hebung und b) vor der Hebung , woraus sich dann die Nach-
ahmung der steigenden und fallenden Rhythmen und die regelmäszige Zäh-
lung der Silben im Verse von selbst ergab.
Nur daran bleibt der Dichter auch jetzt, wie früher, gebunden , dasz
die Zahl der Hebungen im Verse regelrecht feststeht und die Senkungen
sich zu den Hebungen so verhalten , dasz die betonten , concret bedeut-
samen Silben (= Hebungen) vor den minder bedeutsamen (= Senkungen)
hervortreten, dem Ohr und dem Verstände durch den gröszern Nachdruck
des Accents als solche bezeichnet werden und so beiden den nötigen An-
halt bieten.
NB. 1) Des deutschen Verses Anfang ist die erste Hebung , folglich
sind ursprünglich nur fairende Rhythmen möglich; dies gilt z. B. auch
von der mhd. Nibelungen-Strophe. 2) Der, dieser Strophe gleichfalls
eigene, uralte Auftakt des Verses bot aber den späteren Dichtern bei
ihren Nachahmungen antiker Metra die bequeme Möglichkeit, auszerden
fallenden auch die steigenden Versmasze der Alten nachzubilden.
3) Nach der mhd. Metrik, wenigstens im Nibelungen-Liede ist die Senkung
immer einsilbig (cf. oben beim Mhd). Bei der grundsätzlichen Gleich-
giltigkeit gegen die Senkung im deutschen Verse ist es aber leicht er-
klärlich , dasz später der Nachahmungstrieb der Uebersetzer und Dichter
diese Gleichgiltigkeit weiter ausdehnte, so dasz man je nach dem Bedarf
ein- oder zweisilbige Senkungen im Verse gebrauchte. So war denn
die Nachahmung vollständig erreicht und alle steigenden und fallenden
Rhythmen der Griechen und Römer in die deutsche Sprache eingeführt;
denn Nr. 1 gibt den antiken Trochäus, Nr. 2 den antiken lambus und
Nr. 3 den antiken Daktylus und Anapästus.
Der zweite Umstand, der den nhd. Dichtern die Nachahmung der
antiken Metra ermöglicht hat, ist aber d i e Thatsache, dasz fast alle früher
starklautigen Bildungssilben jetzt im Nhd. ein unterschiedsloses E haben.
Weder im Ahd., noch im Mhd. hätte die Nachahmung ebenso gelingen kön-
nen, ja der Versuch wäre an sich zwecklos gewesen. Bei den vielen
tonlosen E unsrer Bildungssilben bieten sich aber jetzt dem nhd. Dichter
nach Bedarf und Bequemlichkeit der Senkungen für den Vers so viele an,
dasz er bei der Nachbildung der antiken Thesis , mag das Versmasz stei-
gend oder fallend, die Thesis ein- oder zweisilbig sein, nicht leicht in
Verlegenheit kommen, kann.
Diese beiden, Thatsachen, die übrigens das deutsche rhythmi-
sche Grundgesetz selbst nicht berührt und in seiner wesentlichen
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 383
Geltung auch in der gegenwartigen Dichtung nicht verändert haben, be-
fähigen die deutsche Sprache vor den andern europäischen zur Nach-
ahmung aller antiken Metra. Ohne diese beiden Thatsachen wäre der
Versuch Opitzens , die lateinisch-griechische mit der deutchen Metrik aus-
zugleichen, ganz vergeblich gewesen. Warum er gelingen konnte, ist,
so scheint es , nach der eben geführten Erörterung von selbst klar.
Der Reim ferner — und zwar von Uralters her die Alliteration, vom
IX. Jahrh. ab der stumpfe und später auch der klingende Vollreim am
Ende — eint und rundet den Vers zu einem Ganzen ab und ist in der
Natur der deutschen Sprache tief begründet und innig mit ihr verwach-
sen. Weder der bekannte widersinnige Vorschlag Klopstock's , noch alle
Kunst altclassischer Philologen hat es vermocht, ungereimte Uebersetzun-
gen und ungereimte deutsche Gedichte volkstümlich zu machen und ein-
zubürgern. Mit dem ersten deutschen Gedicht, das die Fesseln der
lateinischen Sprache noch nicht trägt, mit dem Hildebrand -Liede taucht
zugleich auch der Reim und zwar in der Form der Alliteration in unsrer
Litteratur auf; gleiches Alter haben gewis viele von den prosaischen foN
melhafCen Stabreimen , die wir auch heute noch so gern hören und ge-
brauchen. Den Stabreim hat Otfried durch den vollen Schluszreim in seinem
Krist verdrängt, der später im Mhd. immermehr zu Ansehn und hoher
Blüte und teilweise zu solcher Reinheit gelangte, dasz selbst unsre form-
gewandtesten Dichter darin einzelne mhd. durchaus nicht übertreffen. Wenn
nhd. Dichter später, verführt durch den Nachahmungstrieb fremder Vor-
bilder, vereinzelt auch bisweilen geneigt waren, diesen Hauptreiz deut-
scher Dichtung zu gering anzuschlagen und seine den Vers ahschlieszende
Kraft zu verkennen, immer griffen sie wieder, wenn sie so recht von
Herzen zu ihrem Volke sprechen wollten , zum Reime zurück , und der
Reim wird im deutschen Liede fortklingen , so lange es eine deutsche
Sprache gibt. Denn wie die anmutigen Schallwellen des Echos in der Na-
tur das Ohr auch des Erwachsenen. zauberhaft reizen, einen gleichen Zau-
ber übt der kürzeste Reimspruch , als Laut und Wiederlaut , schon auf
das Kind im zartesten Alter — neben dem geschichtlichen der sicherste
Beleg, dasz der Reim unsrer Sprache ureigentümlich; denn das Ohr der
anders geschulten Erwachsenen kann sich an fremde Klänge gewöhnen
und dadurch verbilden — nicht aber das des Kindes und der groszen
Masse des Volks. Von Goethe's längeren Gedichten z. B. ist offenbar das
nationalste Hermann und Dorothea ; dennoch ist es nicht , wozu es sonst
so sehr geeignet wäre , Volksbuch geworden und zwar wesentlich des-
wegen, weil ihm etwas fehlt, was urdeutsch ist, nemlich der Reiz des
Reim6s — für das Ohr des Volkes ein Mangel, den ihm keine fremde,
noch so künstliche Form ersetzen kann.
Will man nun trotz allem, was dagegen spricht, statt, wie man
sollte, von Hebungen und Senkungen des Verses, lieber nach der
antiken, aber auf unsre Sprache durchaus nicht passenden Ausdrucks
weise von Länge und Kürze der Silben reden, so ist die Regel für den
Vocal im Verse sehr einfach.
Alle Silben im Verse 1) mit dem Hochton und Tiefton
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384 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
mag man dann Längen und 2) alle unbetonten Silben Kürzen
nennen, z. B. ad Nr. 1 : Haus, Fall; matt, grün; fällt, lobt; jetzt, gern;
Haus-rath, Glücks-fall ; gras-grün ; ebenso : furcht-bar, selt-sam, hab-haft,
Lab-sal, Nakt-heit; Reich- tum; ad Nr. 2: Haus-es, stritt-en, grösz-er,
glück-liche.
NB. Während der sogenannte rhetorische Accent auch der tonlosen
Silbe den Ton verleihen und sie so im Verse zum Träger der Hebung machen
kann , dienen das Pronomen , die Präposition , Gonjunction , Interjecüon,
das pronominale Adverbium, wenn sie einsilbig sind, und die Form-
wörter: hast, hat, wirst, wird, bin, bist, ist, sind — im Verse bald
als Hebung bald als Senkung.
Wollte^ man wieder eine grundfalsche Vorstellung von der Sache
erwecken, so dürfte man nur diese einsilbigen Formwörter, wie es leider
selbst in deutschen Grammatiken geschieht, nach der antiken Metrik
cMittelzeiten' nennen. Wären demgemäsz z. B. 'auch' und 'auf* mit-
telzeitig, so müste man doch folgerichtig z. B. 'auf und chaud' im
Lateinischen auch für Mittelzeiten halten. Aber jenes ist so falsch, wie
dieses. Gerade die Möglichkeit, diese einsilbigen Form Wörter im deut-
schen Verse bald als Hebungen, bald als Senkungen zu verwenden, ist
der beste Beleg, 1) dasz die Grundsätze der antiken Metrik auf die deutsche
durchaus nicht passen und 2) dasz alle Kunst von M. Opitz und seinen
Nachfolgern und alle noch so gelungenen Nachahmungen der antiken
Metra durch unsre Dichter das Grundgesetz der deutschen Metrik von den
Hebungen und Senkungen nicht berührt und zerstört haben.
Die zwiefache Verwendung der einsilbigen Formwörter im Verse
hängt nemlich wiederum durchaus nicht von der Quantität ihrer Silben,
sondern von der 'Silbenposition', d.h. von ihrer begrifflichen
Beziehung zu den benachbarten Silben im Verse ab. Das ein-
silbige Formwort hat keinen so concret bedeutsamen Begriff als die
Stammsilbe des Vollwortes; es drückt ja nur in ähnlicher Weise, wie die
Bildungssilben, die Beziehung und Verbindung der Worte im Satze aus,
aber nicht wie die Stammsilbe des Vollwurtes den concreten Gegenstand
oder die concrete Bewegung im Natur- und Geistesleben.
Darum neigt — gemäsz der 'Silbenposition' — das einsil-
bige Formwort vor einer Hebung, aber namentlich zwischen zweien
zur Senkung (= Kürze?), vor einer oder zwischen zwei Senkungen
dagegen zur Hebung (= Länge?) z. B. mir bangt's (= ~ -) und graut's
vor diesem Mann; und mir (== ~-) gehört die ganze Welt; von der
(;= - J) Stirne heisz; von allen (= ) Dingen auf (= - -) der
Welt; auf Gott (= --) und nicht (= --) auf meinen Rath; nicht
ver- (= - J) zagen, fröhlich wagen usw. Diese wenigen Beispiele, die
sich von selbst zu unzähligen ergänzen, zeigen, dasz es bei der doppelten
Verwendung ein- und desselben Formwortes im Verse nicht auf seine
Quantität, sondern lediglich auf seine geringere Bedeutsamkeit und seine
Stellung zu den benachbarten, begrifflich bedeutsamen oder un be-
deutsamen, durch den Ton hervorgehobenen oder gesenkten
Silben ankommt.
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Die prosodische uud metrische Messung der Nibelungenslrophe usw. 385
Die neuhochdeutsche Nibelungen -Strophe.
A) Die modernisierte.
Gleich im Eingange der Abhandlung ist der Zweifel ausgesprochen,
ob ein ohneallenBeweis aufgestellter Satz, wie der obige von Otto
Marbach, den unkundigen Leser in das Wesen und die Eigentümlichkeit
der Nibelungen-Strophe 9 sei es der mhd., sei es der nhd. einzuführen
geeignet sei. Der Zweifel erschien um so gerechtfertigter, einmal weil
es sich hier um .die grosze Zahl der Gebildeten handelt, die gegen eine
blosze, noch dazu allen ihren Grundanschauungen widersprechende Be-
hauptung eines Andern ihre Ansicht zu wandeln nicht gewohnt sind.
Dann sind die aus der antiken Metrik in die deutsche im Laufe der letzten
zwei Jahrhunderte herübergekommenen Grundanschauungen so weit ver-
breitet und unter Beihülfe der Gymnasien so fest eingewurzelt, dasz es
galt, den Kern aus seiner Umgebung herauszuschälen und das deutsche
rhythmische Grundgesetz, das in unsrer, wie in der mhd. Sprache, auch
heute noch waltet, der fremdartigen , antiken Hülle zu entkleiden. Das
war aber, so scheint es, ohne Darlegung der wesentlichsten prosodi-
schen und metrischen Grundregeln der mhd. und nhd. Sprache
nicht wol möglich. Der hier betretene Weg ist zwar länger, aber viel-
leicht führt er gerade deswegen sicherer zum Ziele; jedenfalls aber hat
er den Vorteil , dasz die folgende Erörterung der Sache selbst sich ganz
kurz fassen läszt.
Die Nibelungen-Strophe, wie sie sich bei Uhland (Graf Eber-
hard der Rauschebart , des Sängers Fluch) , bei Ghamisso (Abdallah) und
Andern findet, bietet auch dem, der mit der altdeutschen Metrik nicht
vertraut ist , wenig Anstosz ; sie ist im Ganzen nach der antiken Metrik
gemessen und Hebung und Senkung kehren — ohne einsilbige Füsze —
regelmäszig wieder. Nach altdeutscher Weise läszt sich die Strophe durch
folgendes Schema darstellen :
III — I I I 4 mal. Stumpfe Reimformel: aabb.
Das heiszt: Die Strophe besteht aus 4 Langzeilen; jede von diesen zerfällt
in zwei hier durch den Gedankenstrich geteilte Kurzzeilen; jede Kurzzeile
hat 3 Hebungen; die ersten Vershälften gehen klingend, die zweiten
stumpf aus ; folglich ist der Reim , da nur die Langzeilen auf einander
reimen, durchweg stumpf.
Die Abweichung der modernisierten Strophe von der antiken Metrik
zeigt sich höchstens darin, dasz Uhland 1) neben einsilbigen auch zwei-
silbige Senkungen verwendet und 2) dasz jede Langzeile in der Mitte , da
die erste Vershälfte klingend schlieszt und die zweite immer mit der Sen-
kung beginnt, einen Einschnitt, einen Ruhepunkt enthält, der angenehm
und wolthuend auf das Ohr wirkt und der Strophe auch in dieser Form
einen hohen Reiz verleiht. Der Grund dieses Reizes liegt höchst wahr-
scheinlich gerade darin , dasz mitten im Verse ganz gegen die antike
Metrik — Thesis und Thesis — um hier einmal diesen Ausdruck zu ge-
brauchen — auf einander stoszen.
Da Uhland die Senkungen regelmäszig setzt, der lateinisch-griechi-
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386 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
sehen Messung sich darin anbequemend, so liesze sich für die Strophe,
was freilich den Anfänger in der richtigen Auffassung der Sache leicht
irren könnte, nach antiker Messung auch dies Schema aufstellen:
wj.|wjl|wj.|w|| vi|wi|wi| 4mal. Stumpfe Reimformel der
Langzeilen : aa bb.
NB, Unland ist in Aller Händen, Beispiele also überflüssig. Der
Ruhepunkt in der Mitte der Langzeile ladet die Dichter aber von selbst
ein, diese zu teilen und so 1) aus zwei Langzeilen eine neue Strophe von
vier Versen, oder 2) aus allen vier Langzeilen der Strophe eine neue
von acht Versen zu machen. Der Reim wechselt dann natürlich und ist
teils klingend, teils stumpf; im ersten Falle gilt die Formel ab ab, im
zweiten die Formel ababeded. Endlich gibt es 3) auch eine neue
Strophe von vier Verseng in der nur zwei Kurzzeilen reimen, während
die beiden andern ungereimt sind. Nr. 3 findet sich häufig im Volksliede
und den diesem sich nähernden lyrischen Gedichten von Goethe und Heine
und ihrer vielen Nachahmer. In dem häufigen Gebrauche der zweisilbigen
Senkung neben der einsilbigen zeigt sich die Gleichgültigkeit gegen die-
selbe (vgl. oben), und diese hebt den Wollaut und den Reiz der Form so,
dasz das Ohr gerade dadurch sehr angenehm berührt wird.
Beispiele:
ad Nr. 1. Fr. Rückert. Die Gräber zu Ottensen.
Von Braunschweig ist's der Alte,
Karl Wilhelm Ferdinand ,
Der vor des Hirnes Spalte
Hier Ruh im Grabe fand.
Fr. Rückert. Abendlied.
Ich stand auf Berges Halde,
Als Sonn* hinunter gieng ,
Und sah wie überm Walde
Des Abends Goldnetz hieng.
ad Nr. 2. G. Schwab. Der Hirte von Teinach.
Bei Teinach lag ein Hirte
Und schlief im grünen Gras,
Derweil sein Herdlein irrte
Und frische Kräuter las ;
Den führt um ein Jahrhundert
Ein seltner Traum zurück;
Er stand und warf verwundert
Ins Dörflein seinen Blick. *)
*) Cf. Schwab 's *Mahl zu Heidelberg», worin dieselbe achtzeilitre
Strophe. *
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenslrophe usw. 387
ad Nr. 3. H. Heine. Die Wallfahrt nach Kevlaar.
Am Fenster stand die Mutter,
Im Bette lag der Sohn.
c Willst du nicht aufstehn, Wilhelm,
Zu schaun die Procession?'
clch bin so krank, o Mutter,
Dasz ich nicht hör und seh;
Ich denk' an das todte Gretehen;
Da thut das Herz mir weh.'
#
Du bist wie eine Blume
So hold und schön und rein :
Ich schau dich an, und Wehmuth
Schleicht mir ins Herz hinein.
Mir ist als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt,
Betend dasz Gott dich erhalte
So rein und schön und hold.
W. Goethe. Schäfers Klagelied.
Da droben auf jenem Berge,
Da steh ich tausendmal
An meinem Stabe gebogen
Und schaue hinab ins Thal.
Dann folg' ich der weidenden Herde,
Mein Hundchen bewahret sie mir.
Ich bin herunter gekommen
Und weisz doch selber nicht wie.
A. Ghamisso. Das Schlosz Boncourt.
Ich träum* als Kind mich zurücke
Und schüttle mein greises Haupt.
Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder,
Die lang ich vergessen geglaubt.
Hoch ragt aus schatt'gen Gehegen
Ein schimmerndes Schlosz hervor:
Ich kenne die Thürme , die Zinnen ,
Die steinerne Brücke, das Thor.
Zu diesen dreierlei Beispielen und zur Strophe Uhland's selbst, die ihre
Grundlage ist, wäre nur dies Eine zu bemerken, dasz für das deutsche
Ohr der Rhythmus viel gefälliger klingt, wenn man <Jie Verse nicht nach
der antiken Metrik iambisch liest, sondern die Senkung vor der ersten
Hebung als das, was sie ursprünglich, z. B. auch in der mhd. Nibelungen -
Strophe war, nemlich als Auf takt und in Folge dessen den ganzen Vers
als fallenden Rhythmus auffaszt.
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388 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
B. Die altdeutsch gemessene neuhochdeutscheNibelungen-
(undKudrun-) Strophe.
Vorbemerkungen.
In Betracht fallen hier: 1) die feste Zahl der Hebungen; 5)
die Gleichgiltigkeit gegen die Senkung und 3) der Auftakt.
Was Nr. 2 betrifft, so zeigt sich in der modernisierten N.-Strophe
Uhland's und ihren Abarten die Gleichgiltigkeit gegen die Senkungen nur
darin, dasz einsilbige und zweisilbige im Verse mit einander wech-
seln. Auf irgend ein Gesetz der antiken Metrik ist dieser Wechsel nicht
zurückzuführen; im Gegenteil solche Verse verstoszen ja gerade gegen
den Satz von Opitz, dasz Verse desselben Maszes gleichviel Silben ent-
halten müssen. Worauf haben sich nun unsre Dichter gestützt, als sie
sich diese Freiheit erlaubten? Offenbar nnr auf ihr deutsches Ohr und auf
ein dunkles Gefühl, dasz die Senkungen im Verse Nebensache seien, Haupt-
sache dagegen die feste Zahl der Hebungen. Welcher Dichter, durch ein
ganz richtiges Gefühl geleitet, von dieser Freiheit, zweisilbige unter ein-
silbige Senkungen zu mischen, zuerst Gebrauch gemacht, ist schwer fest-
zustellen. Thatsache ist: nachdem Goethe und Heine gerade in sehr be-
liebten, formgewandten Gedichten den Anfang gemacht, sind ihnen in
dem freiem Gebrauche sehr viele lyrische Dichter nachgefolgt. Es geschah
dies unbewust; es waltete blosz das dunkle Gefühl ob, dasz die deut-
sche Sprache dem Dichter eine gröszere Freiheit gestatte , als nach den
aus der Fremde entlehnten Regeln Opitzens erlaubt schien. Denn dieser
freiere Gebrauch ein - oder zweisilbiger Senkungen findet sich schon bei
Dichtern der Zeit, in welcher das altdeutsche Gesetz von den Hebungen
und Senkungen nicht bekannt, vielmehr die Regeln der antiken Metrik masz-
gebend waren vgl. z. B. Goethe's und Herder's 'Erlkönig', 'Erlkönigstoch-
ter', 'das Kind der Sorge9 und viele ältere Gedichte der Art.
Ist diese Freiheit der nhd. Dichter, mit welcher sie zweisilbige Sen-
kungen unter einsilbige mischen, im Grunde eine Abweichung Von der
altdeutschen Versmessung, wenigstens von der des Maszes in der mhd.
Nibelungen-Strophe, da in dieser in aller Regel nur einsilbige Sen-
kungen vorkommen , so ist darin jedenfalls ein Fortschritt zum Bessern
nicht zu verkennen. So dunkel bei den älteren Dichtern der classischen
Periode auch das Gefühl war, das sie dabei leitete, immer lag ihm die
echtdeutsche Regel von der Gleichgiltigkeit gegen die Senkung zu Grunde.
Die Folge war, dasz sich die Dichter, namentlich die lyrischen, von der
ängstlichen Sorge genauester Silbenzählung in Versen desselben Maszes
später immer mehr frei machten und an eine, ihnen durch das rhyth-
mische Grundprincip unsrcr Sprache gestattete, freiere Bewegung ge-
wöhnten. Da nun sehr viele von so gemessenen Gedichten gerade zu den
formschönsten und beim Volke beliebtesten gehörten , so musten sie sich
auch die Gelehrten, die nach der antiken Metrik und nach Opitzens Regeln
geschult waren, gefallen lassen und fanden endlich an ihnen, wenn auch
zunächst etwas widerwillig, dasselbe Wolgefallen, wie die grosze Zahl
der Gebildeten.
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 389
Aber selbst die älteren Dichter der classischen Periode (vor 1800)
sind noch einen Schritt weiter gegangen. Sie haben nicht blosz zwei-
silbige Senkungen unter einsilbige gemischt, sondern, was ihnen nach
altdeutscher Messung frei steht , neben der festen Zahl der Hebungen die
Senkung auch ganz weggelassen , was gegen M. Opitzens Regeln schnur-
stracks verstöszt. /
Die Weglassung der Senkung im Eingange des Verses in der Ballade,
ja selbst im Drama ist bei Schiller durchaus nicht unerhört. Die folgen-
den Verse:
'Mit fremden Schiffen reich beladen
Kehrt | zu den heimischen Gestaden
Der Schiffe mastenreicher Wald'.
'Und die Ritter
Se|hen hinab | in das wilde Meer9.
'Und ein Edelknecht
Tritt | aus der Knap|pen zagendem Chor.'
'Und schwarz aus dem weiszen Schaum
Klafft ] hinunter ein gähnender Spalt
Grundjlos als giengs | in den Höllenraum.'
'Und geheimnisvoll über dem kühnen Schwimmer
Schlieszt | sich der Ra|chen;.er zeigt sich nimmer.'
'Und er ist's und hoch in seiner Linken
Schwingt | er den Bejcher mit freudigem Winken.'
'Auf ihres eignen Tempels Schwelle
Trotzt | er vielleicht | den Gottern, mengt — \
'Besinnungraubend , herzbethörend
Schallt | der Erinjnyen Gesang.'
'Und Stille wie des Todes Schweigen
Liegt | überm gan|zen Hause schwer.' —
'Und sieh ! in der Fürsten umgebenden Kreis
Trat | der Sänjger im langen Talare.'
'Sterjben ist nichts |, doch leben und nicht sehen (Teil).
'Soljcher Gewaltjthat hätte der Tyrann
Wi|der die Frei|e, Edle sich vorwogen'. (Teil)
mit ihren Abweichungen sind ein Beweis dafür, dasz auchjetzt noch
im deutschen Verse nur dieconcretbedeutsamen und eben deswegen
betonten Silben , d. h. die Hebungen zählen , während die minder
bedeutsamen und eben deswegen tonlosen, als Senkungen, stehen
oder fehlen können. So unverwüstlich und ureigentümlich ist dieses
deutsche rhythmische Grundprincip , dasz die allermeisten , trotzdem sie
von Jugend auf an die antike Silbenzählung grundsätzlich gewöhnt waren,
so gemessene Verse gelesen, auswendig gelernt und in Geist und Herz
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390 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
aufgenommen haben, ohne an der Form zu kritteln und sich im Genüsse
stören zu lassen.
Die angedeuteten Abweichungen bestehen natürlich darin: Schiller
hat, was ihm nach deutscher Versmessung frei stand, freilich nur im
Eingange des Verses die Senkung, weggelassen d. h. einsilbige Füsze
gebraucht, die nach der antiken Verskunst, wo die Thesis immer im
regelmäszigen Verhältnis zur Arsis steht, völlig unstatthaft wären.
Den Versuch, Schiller's 'Taucher' nach antikem Masze zu lesen,
musz man vornherein aufgeben ; die Verse sind eben nicht antik gemessen.
Wer wurde aber das schöne Gedicht blosz deswegen , weil die Griechen
und Römer ihre Verse anders gebaut, aus der deutschen Litteratur hinaus-
stoszen und aus unsern Schulen verbannen wollen? Ein pedantischer
Gelehrter könnte freilich den Vorschlag machen ; aber das Volk wurde ihm
heim leuchten, und für Spott und Hohn hätte er nicht zu sorgen.
Die Strophe im 'Taucher' besteht 1) aus 6 Versen, von denen die
4 ersten durch die stumpfe Reimformel ab ab und die 2 letzten durch die
klingende c c verbunden sind. 2) Die Zahl der Hebungen ist 4 ; der zweite
Vers hat meist nur 3 Hebungen, aber ohne feste Regel. 3) Ein- und zwei-
silbige Senkungen wechseln mit einander. Gerade dieser Wechsel ist
aber wolthuend für das Ohr und ganz geeignet, die ruhigeren und auf-
geregteren Stimmungen des Gemüths, in die der Hörer abwechselnd ver-
setzt werden soll , passend und zutreffend auszudrücken.
Fragt nun Einer: wie in aller Welt soll ich den Taucher vorlesen?
Antwort: Lasz alle Regeln der antiken Metrik bei Seite und lies gerade
so, wie du von der Mutter reden und betonen gelernt hast; dann wirst
du von selbst und sicher die concret bedeutsamen Silben — die Hebun-
gen — vorklingen und die minder bedeutsamen — die Senkungen —
zurücktreten lassen. Die abwechselnde Verteilung ein- und zweisilbiger
Senkungen , die sich dem Wechsel der Gemütsbewegung kunstreich an-
schlieszt, und der den Vers abrundende Reim wird das üebrige thun, um
des Zuhörers volle Teilnahme und rechte Stimmung zu erwecken.
Von den übrigen Balladen schlieszt sich, was die metrische Form
betrifft, die 'Bürgschaft' dem 'Taucher* am nächsten an. Schiller hat
Tausende von Versen nach der antiken Metrik regelrecht gemessen —
wer wollte also behaupten, er habe gerade in dem beredeten Gedicht aus
Unkunde einsilbige unter zweisilbige Füsze und zweisilbigeSen-
kungen unter einsilbige gemischt? Trotzdem beruhen diese seine Abwei-
chungen nicht auf klarer Einsicht in die Sache, nicht auf der Bekanntschaft
mit dem altdeutschen Versmasze, sondern vielmehr nur auf dem dunklen
Gefühle, dem sein Ohr zustimmte, dasz man deutsche Verse so messen
könne. Die seit 2 Jh. zurückgedrängten, fast verschollenen Regeln all-
deutscher Rhythmik waren noch nicht wieder entdeckt und festgestellt;
dies ist erst seit den Zwanzigern unsers Jahrhunderts durch Lacfimann ge-
schehen. Beim Erscheinen des Tauchers* war gewis die grosze Mehrzahl
geneigt, in so oder ähnlich gemessenen Versen fehlerhafte, oder gar
Kiatl4ver$6 zu finden.
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 391
Schema der nhd. altdeutsch gemessenen Nibelungen- (und
Kudrun-)Strophe.
Im Gegensalz zu Schiller's und der älteren Dichter vereinzelten Ab-
weichungen von der antiken Versmessung sind die Abweichungen in den
folgenden Gedichten von Goethe, Unland und J. Kerner und in den nach
diesen stehenden Strophen von Simrock und Ploennies bewust und ab-
sichtlich und fuszen auf der Kenntnis der altdeutschen Versmessung.
1) W.Goethe. Ein Gleiches. 2) L. Unland. DasSchlosz amMeere.
(mit 2 Hebungen) (mit 3 Hebungen)
Ueber allen Wipfeln Hast | du das Schlosz gesehen,
Ist Ruh ; Das hohe Schlosz am Meer?
In allen Gipfeln Goljden und rosig wehen
Spürest du Die Wellen darüber her.
^aum einen Hauch; Der wind und deg Meereg Wallen
Die Vogelein schweigen im Walde ; Ga|ben sie frischen K, ?
Warte nur ! balde Vernahmst du aus hohen Hallen
Ruhest auch du ! Sai|ten und Fe8tgesang?
Die Winde und Wogen alle
Lajgen in tiefer Ruh.
Einem — Klage] lied aus der | Halle
Hört | ich mit Thränen zu.
3) J. Kerner. Die zwei Särge.
Zwei — Särge | stehen | einsam |
In des — alten | Domes | Hut. |
König — Ottmar | liegt in dem | einen |
In dem — - andern der | Sänger | ruht. |
Der — König | sasz einst | mächtig |
Hoch — auf der | Väter | Thron; |
Ihm — liegt das | Schwert in der | Linken |
Und — auf dem ) Haupte die | Krön. |
Alle drei Gedichte stehen zur antiken Metrik in vollem Gegensatze. Was
sie zu echtdeutschen macht und ihrer Form einen besondern Reiz ver-
leiht, das ist: 1) die den Vers abschlieszende Kraft des Reimes; 2) die
feste Zahl der Hebungen und 3) die Gleichgiltigkeit gegen die Senkungen,
von denen die ein- oder zweisilbigen vor der ersten Hebung den Auf-
takt bilden. Nr. 2 und 3 sind nach dem Schema der zerteilten N.-Strophe,
wie es oben bei F. Rückert's Gedicht: Die Gräber von Ottensen an-
gegeben ist , gebildet ; unterscheiden sich aber von diesem Schema durch
den freieren Gebrauch einsilhiger Füsze (vgl. Nr. 2) und des ein- oder
zweisilbigen Auftakts. Nur in Nr. 1 stehen regellos im ersten und dritt-
letzten Verse 3, statt 2 Hebungen.
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392 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
S im rock. Amelungenlied 2. Teil. Die tleib (Strophe 2 und 3).
Anrede der Frau Saga an den Dichter.
Wer — soll zu | Ende | sinjgen ||
den — deutschen | Heldenjsang? |
Lasz — ab von | andern | Dinjgen; ||
eh — dieses | dir ge|lang. )
Wo — zu das | irre | Stre|ben? ||
ver — liere | nicht dein | Wort. |
Was — ich dir | einge|ge|ben, ||
das — spült die | Wel|16 nicht | fort |
Die — theure | Heimat | prei|sen ||
das — ist wol J gut und | schön |
Doch — sollten | deine | Wei|sen ||
das — Vaterjland erjhohn; |
Ihm — hast du | dich ver|pfli|chtet, ||
es — ist so | grosz und | hehr; |
Denkst — du der | Jugend | Träu|me, ||
der — frühen | Ei[de nicht | mehr? |
Simrock. Nibelungenlied. 8. Abenteuer Str. 1.
Von — dannen | gieng da | Siegfried ||
zum — Hafen | an den | Strand ;
In — seiner | Tarn|kap|pe, (|
wo — er ein | Schifflein | fand. |
Darin — stand | unge|se|hen ||
König | Siegmund's | Kind; |
Er — führt es | bald von | danjnen ||
als — ob es | we|ht6 der | Wind. |
Das diesen Strophen Simrock's zu Grunde liegende Schema ist das oben-
stehende der mittelhochdeutschen Strophe ; daher sind zur Bezeich-
nung 1) des Auftakts, 2) der Hebungen und 3) des Schlusses der ersten
Kurzzeilen auch dieselben Zeichen gebraucht. In Betreff der gleich folgen-
den Bemerkung (Nr. 4.) ist vornherein hervorzuheben, dasz das mhd. Vor-
bild der Strophe dem Uebersetzer acht Kurzzeilen mit gehobenem ton-
losem E in dem 3. Fusze in groszer Zahl darbietet z. B.
des — bin ich | eijn£ bejstan |
die — mine | mftjgä ver| klagen | (= klag'n)
dar — umbe | scheljtln be|gan |
an — iu | sel|b£n gejnuoc |
daz — wart mit | sorjg^n gejtan. | (aus dem letzten Abenteoer.)
Dies ahmt Simrock nicht blosz in der achten Kurzzeile der obigen drei
nhd. Strophen:
Idas — spült die | Wel|14 nicht | fort. |
der — frühen | Ei|d£ nicht | mehr. J
als — ob es | wejhtä der | Wind, j
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 393
oft nach, sondern auch in andern. Was man hierin der Kunst der Nach-
ahmung des Originals, d. h. dem Uebersetzer einzuräumen geneigt sein
konnte, das wäre selbständigen nhd. Dichtern, die von der Nibelungenstro-
phe Gebrauch machten, in solcher Ausdehnung kaum gestattet. Ein-
silbige Füsze verwendet nach ungefährer Berechnung Simrock weniger,
als Ploennies, bei dem sie sich mit der besten Wirkung gar nicht selten
finden; z. B. bei Simrock:
Achtes Abenteuer. Langzeile 2.
In — seiner | Tarn|kap|pe ||
Von | preis|werthen | Hel|den||
von — groszer | Kühnjheit. | usw.
Allgemeine Bemerkungen zu den 3 vorstehenden Strophen
Simrock's.
1) Man wird geneigt sein, erste Vershälften von der Art wie:
Von — dannen | gieng da | Siegjfried I oder:
Den — Schulmeister | Niemand | sah | (8. Abent. Str. 2)
mit 4 Hebungen zu messen und wie im Mhd. so auch im Nhd. stumpfen
Versschlusz für sie anzunehmen. Aber welches auch die Ansicht Simrock's
sei, erste Vershälften von der Art, dasz sie auch unser Ohr als 4mal
gehoben zu erkennen im Stande wäre, bilden in seiner Uebersetzung
eine solche Minderzahl, dasz man sie für Ausnahmen, die dreimal ge-
hobenen ersten Kurzzeilen wegen ihrer groszen Ueberzahl dagegen für
die Regel halten musz.
Oben sind zwar gegen Rieger mit Simrock und Schleicher für die
ersten Vershälften der mhd. Strophe stumpfer Schlusz und folglich 4
Hebungen angenommen worden; aber im Mhd. berechtigt dazu der Unter-
schied des tonlosen und stummen £ — ein Gegensatz , der im Nhd. bei
unserm unterschiedlosen E der Bildungssilben ganz wegfällt. Unser Ohr
sträubt sich entschieden dagegen, die E amSchlussedesVersesals
Träger der Hebung zu hören und zu dulden.
2) Der Reim. Aus demselben Grunde sind Schluszreime der Lang-
zeile, wie sie bei Simrock im 8. Abenteuer vorkommen, z. B. gelegen:
pflegen; Leben: ergeben; gekommen: genommen; Scharen: fahren; pfle-
gen: Degen und andere in andern Abenteuern für klingende und nicht,
wie im Mhd., für stumpfe Reime zu halten.
Hier (ad Nr. 1 und 2) hört die Nachahmung des Mhd. auf, und wir
müssen den ganz veränderten Quantitätsverhältnissen unsrer Sprache und
unserm Ohre die gebührende Rechnung tragen. Nach dem Vorgange Sim-
rock's gebraucht auch 0. Marbach oft Reime der bezeichneten Art — aber
ebenso unberechtigt; denn die mhd. Formel TÖTTOC ist zur nhd. TUttTOC
geworden.
3) Der ein- oder zweisilbige. Auf ta \i9 den Simrock, Ploennies und
andere Uebersetzer nach mhd. Art gebrauchen , iiat etwas äuszerst Wohl-
klingendes und dadurch, dasz er wie vor der ersten, so vor der zweiten
Kurzzeile bald steht, bald fehlt, bald einsilbig, bald zweisilbig ist, bietet
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394 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
er dem nhd. Uebersetzer und Dichter die bequemste Möglichkeit, sich
frei und unbeengt zu bewegen und die Form dem Inhalt, das Wort der
Gemütsstimmung genau anzupassen. Seine Wirkung auf das Ohr ist so
wolthuend und reizend, dasz man geneigt sein könnte, die modernisierte
Strophe Uhland's lieber ebenso zu lesen, was schon oben angedeutet
wurde. Der Auftakt bei Uhland unterschiede sich von dem Auftakt in der
mhd. Strophe freilich dadurch, dasz er 1) nur einsilbig ist und 2) — ohne
Ausnahme vor allen ersten und zweiten Vershälften regelmäszig wieder-
kehrt. Dadurch dasz man die erste Senkung bei Uhland als Auftakt faszt,
wird der Rhythmus fallend , für das deutsche Ohr angenehmer und klingt
heimischer z. B.
Es — stand in alten Zeiten || ein — Schlosz so hoch und hehr |
Am — Ruheplatz der Todten || da — pflegt es still zu sein |
Ab — dallah lag behaglich || am — Quell der Wüste und ruht. |
Von - — Braunschweig ist's der Alte,
Karl — Wilhelm Ferdinand.
Am — Fenster stand die Mutter,
Im - — Bette lag der Sohn.
Du — bist wie eine Blume
So — hold und schön und rein.
Zwei — Särge stehen einsam
In des — alten Domes Hut.
4) Das E der Bildungssilben als Hebung. Die 8. Kurzzeile
hat, gleichsam als Abgesang, bei Simrock wie in der mhd. Strophe in
aller Regel 4, die übrigen 7 Vershälften je 3 Hebungen. Unter Nr. 1 ist
schon bemerkt, dasz den ersten Vershälften auch 4 Hebungen zu gestatten
sind , dann müssen sie aber so gebaut sein , dasz auch wir mit unserm
Ohre sie heraushören; unser tonloses E taugt aber am Schlüsse des
Verses nicht mehr zum Träger der H&bung. Es fragt sich aber, ob das
E nicht innerhalb des Verses dazu tauglich wäre? Oben stehen
mhd. Verse wie:
von — slner | stimjme be|gan |
diu — was ze | San|ten ge|nant.
Simrock wagt, dies nachahmend, z. B. im 8. Abenteuer (vgl. auch
vorher) :
I als — ob es | weh|te der | Wind |
Albejrich der | kühne j
ein — wil|de>Ge|zwerg |
Ihr — dient euch | bis zum | Tode ||
so — sprach der | listjige | Mann |
Er — schonte | seiner [ Leute^JJ
wie — ihm die | Tu|gend ge|bot [
Darum | sollt ihr ] zieren ||
mit — gutem | Staa|te den | Leib. |
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 395
In Betreff der Verwendung der einsilbigen Formwörter zur Hebung und
Senkung ist oben der sogenannten 'Silbenposition', eines gerade
für die deutsche Metrik sehr wichtigen Gesetzes, Erwähnung geschehen.
Auch hier bei diesen E innerhalb des Verses dreht es sich um dasselbe
Gesetz. Ob nemlich Bildung ssilböh mit E oder I zur Hebung geeignet sind,
hängt lediglich von den benachbarten Silben im Verse ab. Nur wenn diese
ebenso bedeutungs - und tonlos , oder noch fluchtiger sind , als die Bil-
dungssilbe, dann mag der Dichter die Bildungssilbe zur Hebung verwen-
den, wenn nicht, nicht. Natürlich gilt hier, wie schon gesagt, der
Spruch des Hüraz: conceditur Hcentia poetis sumpta pudenter; aber es
ist nicht leicht — das mhd. Vorbild vor Augen und in Gedanken — im
nhd. Verse dabei Mißbrauch zu meiden.
Wie sich auch jetzt unser durch die antike Metrik verwöhntes Ohr
an deutsche Klänge leicht gewöhnt, und was ein Dichter heute noch wagen
und auf gut Glück unserm Ohre bieten darf, das zeigt ferner Arndt's
Blücherlied. Dieses beliebte , auch historisch wichtige Gedicht ist trotz
seiner abweichenden , zum Teil gewagten Messung , die übrigens seiner
nationalen Absicht und seinem Erfolge gar keinen Abbruch gethan hat,
der Erwähnung und Beachtung wol werth. Die 4. und die letzte , sieges-
muthige Strophe lautet:
Er — hat den | Spruch ge|halten [|
als — - Krieges|ruf erjklang. |
Hei — wie der | weisze | Jüngling [|
in — Satjtel sich | schwang, |
Da ist | er's ge|wesen , |J
der — Kehr|aus gejmacht, |
Mit — eijsernem | Besen ||
das — Land | rein gejmacht |.
Drum — blaset | ihr Trom|peten ||
Hu — sa|ren he|raus |
Du — reite | Herr Feld|marschall [|
wie — Sturm | wind im | Saus |
Du — reit dem | Glück entgegen ]|
zuni — Bhein und | übern | Bhein ! |
Du — alter | tapfrer | Degen []
und — Gott soll | mit dir | sein. |
Liest man mit Beachtung des Auftakts diese beiden Srophen , unbeküm-
mert um die Begeln der antiken Versmessuhg , als fallenden Rhythmus
ganz so , wie es die von Jugend auf gewohnte Betonung der Silben ver-
langt, so wird das Ohr an dem Masze wenig Anstosz nehmen. Die Sen-
kung in diesen beiden Strophen ist regelrecht einsilbig ; die 8. Kurzzeile
hat nicht wie in der mhd. Strophe und bei Simrock 4, sondern gegen die
Regel blosz 3 Hebungen. Die Abweichungen des Maszes betreffen auszer-
dem l) die etwas gewagte Auslassung der Senkung und 2) die kühne Ver-
wendung des tonlosen E in Bildungssilben zur Hebung, z. B. ad Nr. 1.
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; f 396 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
Da — ward der | alte | Blücher (|
ein — Feld|mar|schall |,
wo 3 Hebungen ohne alle Senkung neben einanderstehen, wie in dem
mhd. Verse:
dö | sprach | Si|frit |.
ad Nr. 2. I in — Satjtel sich | schwang |
I Hu — sajren he|raus |
Mit — ei|s£rnem | Besen ||
Dasz — Taujsende | liefen [|
gar — hajstigen | Lauf usw.
Die altdeutsch gemessene neuhochdeutsche Kudrun-
Strophe.
Aus den folgenden 2 Strophen der * Widmung* an W.Grimm vor der
Kudrun von Ploennies wehen uns echtdeutsche Klänge an, und wahrlich
kein deutscher Dichter brauchte sich ihrer zu schämen und die ansprechen-
de, echtdeutsche Form abzulehnen.
Wo in | wilden { Kampfes ||
rastjlosem [ Drang |
Mit der — deutschen | Kraft die [ Woge ||
um die | Erde | rang, |
Da — reiften | gute | Recken ; [|
Speerjschaft und | Steuer,
Mäner| streit und | Minne ||
war den | Degen j über | alles | theuer. |
So — hört im | deutschen | Liede (|
Mären | wunder (sam: |
Wie — König | Hettels | Botschaft ||
zum — Jren| lande | kam |
Mit — rothem | Goldgejschmeide; ||
das — rieth der | kluge | Frute ; |
Doch — Recken | barg der | Schiffe | Bauch []
die — kauften | Hagens | Kind mit | rothem | Blute |
Das Beispiel ergibt für die Kudrun folgendes Masz :
1) Die Strophe besteht aus 4Langzeilen, von denen die zwei
ersten stumpf, die zwei letzten klingend reimen.
2) Jede Langzeile hat 2 Kurzzeilen. Die 4 ersten Vershälften
schlieszen klingend; von den 4 zweiten geht, wie eben gesagt, die erste
und zweite stumpf, die dritte und vierte klingend aus.
3) Hebungen. Die 4 ersten Kurzzeilen haben je 3, seltener 4 He-
bungen, von den 4 zweiten Kurzzeilen haben die drei ersten je 3, die
vierte (= letzte der Strophe) 5 Hebungen.
NB. Der oben beim Mhd. angeregte Zweifel, ob die 4 ersten Kurz-
zeilen stumpf oder klingend ausgehen , d. h. , 3 oder 4 Hebungen haben,
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 397
berührt das Nhd. nicht; denn da am Schlüsse des Verses unser E in
Bildungssilben die Hebung nicht tragen kann, müssen wir die ersten
Kurzzeilen mit dem auslautenden E für dreimal gehoben betrachten.
Anders verhält es sich mit ersten Vershälflen, die, wie die 7. in der
vorstehenden zweiten Strophe, wirklich 4 mal gehoben sind. Der Vers:
«Doch — Recken | barg der ] Schiffe | Bauch* ||
stimmt ganz zu dem obigen von Simrock :
*Den — Schiff|meister | Niemand | sah || ;
beide Verse haben auch im Nhd. 4 Hebungen und gleichen ganz den mhd.
Versen :
silber | gab man | unde | wät [|
dö — sprach der | alte | Hilde|brant [|
4) Die Senkungen. Ihre" besondere Bezeichnung in dem Beispiele
wäre überflüssig , Tia sie sich als solche neben den durch den Strich | be-
zeichneten Hebungen immer von selbst ergeben. Sie 1) stehen teils, in
andern Versen fehlen sie, immer passend, gewandt und wollautend. Statt
der einsilbigen Senkung gestattet sichPloennies 2) die zweisilbige, aber nur
unter gewissen Beschränkungen.
1) II *rast|losem | Drang' | 2) Auf — blutigem | Ufer|sande ||
[[ fSpeer|schaft und Steuer' ||. || Die — gute | Kunde verjnahm |
cf. die * Widmung'.
5) Der Auftakt'ist ein- oder zweisilbig und steht oder fehlt vor
den ersten und zweiten Kurzzeilen z. B.
So — hört im | deutschen | Liede ||
fMären | wunderjsam' |
Wie — König | Bettels | Botschaft ||
zum — Jren|lande | kam. |
Mit der — deutschen | Kraft die | Woge |
um die | Erde | rang |.
Uebersetzer wollen ein Bild geben auch von der äuszern Form des Urtex-
tes; darum paszt für die Uebersetzung der Nibelungen nur die eine, für
die der Kudrun nur die andre Strophe. Wras aber die Nachahmung beider
Strophen durch unsre nhd. Dichter betrifft, so empfiehlt sich diesen die
Nibelungen-Strophe mehr, als die andere. Einmal ist sie — wenn auch
in modernisierter Form — durch Uhland schon heimisch gemacht
und eingebürgert — dies ist für den nhd. Dichter, der sich ihrer bedient
und sie altdeutsch messen will, gewis ein groszer Vorteil; denn er
findet den Grund schon gelegt , auf dem er weiter bauen kann. Dann ist
die mhd. N.-Strophe an sich einfacher und volkstümlicher, als die andere,
die sich erst aus ihr entwickelt hat. Besonders erscheint die achte Kurz-
zeile der N. -Str. mit ihren 4 Hebungen, gleichsam als Abgesang der Strophe,
gefälliger, als dieselbe Kurzzeile in der Kudrun-Strophe, deren 5 Hebun-
gen zu den übrigen Kurzzeilen mit 3 Hebungen nicht in richtigem Ver-
hältnisse stehen und den Schlusz schleppend machen. Eins dagegen
empfiehlt die Kudrun-Strophe unsern Dichtern zur Nachahmung — nem-
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 8. 27
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398 Shakspeare als Schulschriftsteller.
lieh der Wechsel des stumpfen und klingenden Reimes. Die/Widmung*
vor Ploennies Kudrun, richtig hetont vorgelesen, macht z. B. selbst noch
auf Primaner den vorteilhaftesten Eindruck, obgleich ihr Ohr durch die
antike Versmessung schon ganz und gar verbildet und für die d e u t s c h e
stumpf geworden ist. Davon kann sich jeder Lehrer, der den Versuch
machen will , leicht überzeugen.
(Fortsetzung im nächsten Hefte.)
Lissa. Ed. Olawsky.
31.
Shakspeare als Schulschriftsteller.
Eine Schulrede.
Die dreihundertjährige Jubelfeier eines Dichters, dessen Werke in
der Weltliteratur Epoche machen und wol für kein Volk, selbst nicht
für das britische , von so groszer Bedeutung geworden sind , wie für das
unsrige , eine solche Jubelfeier gibt der deutschen Schule Anlasz zur Er-
wägung einer ebenso wichtigen als wenig besprochenen pädagogischen
'Frage.
Das englische Volk wird seinen Dichter durch Denkmale , Festzüge
und Spiele feiern, die deutsche Bühne wird Shakspeare's Andenken durch
die Aufführung seiner Meisterwerke huldigen. Soll auch die deutsche
Schule dem britischen Genius, dem unsre Lilteratur so unendlich viel ver-
dankt, ihre Verehrung erweisen?
Sie vermöchte das, auch nachdem ihr die Bühne abhanden gekom-
men ist, auf welcher noch vor einem halben Jahrhundert ihre Zöglinge
sich versuchten, sie könnte, ohne alles Festgepränge, dem Dichter eine
Anerkennung darbringen, die schwerer wiegt, als eherne Standbilder und
Festspiele, sie könnte ihm eine Ehrenstelle in der Walhalla einräumen,
in deren schlichtem Räume die geistigen Heroen das höchste Recht der
Unsterblichkeit genieszen, sie könnte ihn zum Schulschriftsteller er-
nennen.
Soll und kann nun der britische Jubilar in Deutschland diese hohe
Ehre genieszen, die ihm in den meisten Schulen seines Heimatlandes nicht
vergönnt ist, soll er, gleich den groszen Dramatikern des Altertums,
von der Schule als Classiker im Sinne der Erziehung , als einer der Dich-
ter anerkannt werden, denen der erhabene Beruf anvertraut ist, als Füh-
rer der Jugend zum Wahren, Schönen und Guten zu wirken?
Vor hundert Jahren, als die erste deutsche Uebersetzung Shakspeare's,
die Wielandsche, erschien und, wie Goethe berichtet, Verschlungen,
Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen wurde', hat wol man-
cher deutsche Schulmann, schon ehe ihm Lessing's glänzende Würdigung
des Fremdlings zugekommen, den hohen Werth des britischen Drama-
tikers erkannt; aber kaum ist damals einem solchen Verehrer die Ahnung
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Sliakspeare als Schulschriftsteller. 399
aufgestiegen, dasz die Frage, oh dieser Dichter als Schulclassiker gelten
solle, jemals eine im Ernst zu verhandelnde pädagogische Frage werden
könne. Wurde doch in einer Zeit,, in der Voltaire als Musterdramatiker
in Ansehen stand, kaum einer der f genialischen Jünglinge' des strasz-
hurger Goethekreises, welche für Shakspeare schwärmten, einen so revo-
lutionär klingenden Gedanken auszusprechen gewagt nahen. Ein preuszi-
scher Gymnasiallehrer jener Tage, der eine ästhetische Würdigung Shak-
speare's veröffentlicht hätte, würde sich — wäre auch sein Werk so
trefflich gerathen, wie das unsres Zeilgenossen Kreyszig — nicht nur
das Achselzucken seiner Amtsgenossen, sondern wahrscheinlich auch eine
Kahinetsordre seines groszen Königs zugezogen halben, die er nicht an
den Spiegel stecken konnte. Denn Friedrich, der noch im J. 1780 Goe-
the's Götz von Berlichingen eine abscheuliche Nachahmung der ge-
schmacklosen Stücke Shakspeare* s nannte, war in Sachen des Geschmacks
weit weniger duldsam, als in Sachen der Religion.
Heutzutage darf wol ein Schulmann jene Frage ohne groszes Wag-
nis erörtern. Weisz er doch, dasz alle Gebildeten seines Volks überein-
stimmen in der Bewunderung des ebenso durch überschwängliche Begabt-
heit, wie durch erfolgreiche Selbslschulung und Läuterung hervorragen-
den, grösten Dramatikers aller Zeiten. Wer hätte nicht die Zaubermacht
dieses Dichters empfunden , der die Herzen naiver und hochgebildeter Zu-
schauer und Leser unwiderstehlich fortreiszt, der sie bald in heiteres Be-
hagen und helle Fröhlichkeit versetzt, bald zu weihevoller Andacht stimmt,
zu innigem Mitleid rührt oder mit Schauer und Entsetzen erfüllt? Wer
staunte nicht über die poetische Schöpferkraft, die bald mit dem zartesten
Motiven anmuthig spielt, bald die gewaltigsten und furchtbarsten Auf-
gaben mit titanischer Wucht behandelt, wer bewunderte nicht den Scharf-
blick dieses gründlichen Menschenkenners , der die geheimsten »Regungen
des Herzens belauscht uncj mit markigem Pinsel in groszem , ureignem
Stile darstellt, wer schätzte nicht die reiche Fülle edler Lebensweisheit,
welche dieser geniale Denker in kerniger Form spendet? Ohne Wider-
spruch gilt jetzt Shakspeare für den grösten Charakterzeichner. Er schil-
dert alle Menschenalter vom zartesten Knaben an bis zum lebensmüden
Greise, die verschiedensten Stände vom König an bis herab zum Schuh-
flicker und Narren, die mannichfaltigsten Bildungsgrade vom reichen
Prospero und Lorenzo an unc^ vom höfischklugen Polonius bis auf den
rohen Matrosen und den Thiermenschen Caliban, er stellt die Abstufungen
des sittlichen Werthes vom hehren Helden und braven Biedermann bis.
herab zum vornehmen Lump und zum teuflischen Unmenschen Richard,
vom, Ideale der Frauennatur; einer Miranda, Portia und Imogen an bis
herab zu den Megären der Leonoren und Märgarethen. Er stellt eine
überreiche Reihe von Charakterbildern auf und alle weisz er so eigen-
tümlich, so entschieden und folgerecht hinzuzaubern, dasz sie uns mit
dem vollen Scheine des Lebens entgegentreten. Seine Figuren sind ty-
pisch und doch individuell; manche leiden an einzelnen Anachronismen
und Kostümfehlern, und doch zwingt uns der Dichter durch die Wahrheit
ihres innersten Wesens, an sie als echte Kinder ihrer Zeit zu glauben;
27*
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400 Shakspeare als Schutschriftsteller.
seine Charaktere sind bei ihrem ersten Auftreten bestimmt und voll ange-
legt und entwickeln sich doch im Laufe der Handlung durch den Kampf
zwischen Notwendigkeit und Freiheit, der den geheimnisvollen Gang des
Menschenlebens ausmacht, zur vollen Höhe. Und — was als die höchste
Tugend des Dramatikers gelten musz — unser Dichter, dessen Weltan-
schauung eine sittlich-strenge, protestantische ist, weiszdie Handlung,
deren Charaktere sich nach ihrer Eigenart ausleben, ohne dasz die dichte-
rische Subjectivität irgendwo hervortritt, meist so zu lenken, dasz die
poetische Gerechtigkeit zu voller Geltung kommt. In Shakspeare's Tragö-
dien waltet nicht das tyrannische Fatum des antiken Drama , nicht ein
blindes Ohngefähr, auch nicht jene moderne schönfärberische Absicht-
lichkeil, welche einen sogenannten moralischen Schlusz herbeizwingt,
aber wol das unerschütterliche sittliche Princip, welches wir, nicht
selten freilich in herber Weise, in der Weltgeschichte als Weltgericht
erkennen.
Alle diese hohen Eigenschaften, die Shakspeare in einer Vollständig-
keit und Fülle in sich vereinigt, wie kein andrer Dichter, werden jetzt
von allen gebildeten Völkern , selbst von solchen , denen die Form seiner
Dichtungen noch jetzt und vielleicht für immer anslöszig ist, anerkannt
und gepriesen ; alle Beurteiler stimmen darin überein, dasz er den erhabe-
nen Beruf, der von Hamlet dem Drama vorgezeichnet wird, glänzend er-
füllt hat, den Beruf: 'der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der
Tugend ihre eignen Züge , der Schmach ihr eignes Bild und dem Jahr-
hundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.'
So gewis aber in der Werthschätzung Shakspeare's auf allgemeine
Zustimmung zu rechnen ist , so gewis hat sich eine Ansicht , die doch
im Grunde nur eine pädagogische Folgerung aus jenem ästhetischen Urteil
ist , auf Bedenken gefaszt zu machen, die Ansicht nemlich, dasz die reife-
ren Zöglinge höherer Lehranstalten , namentlich der Gymnasien , mit die-
sem Dichter bekannt gemacht und zum eignen Studium desselben ange-
regt und befähigt werden sollen.
Als gewichtiges Bedenken tritt zuerst die Thatsache entgegen , dasz
Shakspeare's Werke bisher so wenig Eingang in jene Anstalten gefunden
haben. Nur in höhereu Realschulen und in den vereinzelten Gymnasien,
welche dem Englischen gleiches Recht mit dem Französischen einräumen,
werden Dramen unsres Dichters gelesen. Was ist wol Ursache, dasz ihm
nicht überall gleiche Ehre widerfährt? Die deutsche Schule leidet doch
nicht an der spröden Ausschlieszlichkeit der englischen, welche das Alte,
wenn es auch veraltet, ebenso streng beibehält, als sie dem Guten den
Zutritt erschwert, weil es neu ist. Vergleicht man den Lehrplan eines
Gymnasiums unserer Tage mit dem vor hundertjährigen, welche Menge
neuer Unterrichtsgegenstände findet sich da vor! Das Griechische ge-
nieszt gleiche Rechte mit dem Lateinischen, es wird Französisch, Erd- und
Naturkunde, Literaturgeschichte gelehrt; man studiert die griechischen
und lateinischen Dramatiker, man erklärt den Corneille und Racine, man
liest die Dramen der deutschen Classiker — und der gröste Dramatiker
aller Völker und Zeiten bleibt den Jünglingen, die nicht zufällig eins sei-
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Shakspeare als Schulschriftsleller.
ner Stücke lesen oder auffuhren sehen, unbekannt. Da kann wo] Hiebt
blosz die Knappheit der zugemessenen Zeit Ursache sein, es müssen Be-
denken häherer Art entgegenstehen. Diese zu erwägen, wird daher erste
Aufgabe sein.
eFürdie Jugend ist das Beste eben gut genug.' Nun, die Schöpfun-
gen eines Genius, die von seinen Landsleuten eine weltliche Bibel genannt
worden sind, die von den meisten gebildeten Völkern zu den alle Jahr-
hunderte überdauernden Kunstwerken gezählt werden, genügen ja wul
dem strengen Maszstabe , den die Schule anlegen musz.
Aber — so könnte man einwenden — wir haben an den griechi-
schen und vaterländischen Dramen Musterwerke genug, um die Jugeml in
dies Gebiet der Dichtung einzuführen. Brauchen wir, die den Nathan und
die Minna von Barnhelm, den Götz und die lphigenie, Wallenstein und
Teil besitzen , noch weitere Anleihen beim Auslande zu machen? WVi^
Beschränkung thut not, sonst müsten wir am Ende auch Sakuntala und
Calderon in der Schule lesen. Das Vielerlei führt vielmehr zu oberfläch-
licher Naschlust und zur Verwirrung des Stilgefühles, als zu ernstem
Studium und zu festem ästhetischem Bewustsein.
Vielleicht führt ein andrer Gegner eirien noch strengeren Abwei-
sungsgrund hinzu. Die Schule — sagt man und mit gutem Grunde —
soll durch die Leetüre der Dichter nicht blosz die ästhetische Bildung
fördern, sondern auch den Nationalgeist wecken und läutern, sie soll bed
Unterricht und Erziehung unter andern die löblichen Eigenschaften pfle-
gen, die unsrem Volk eigen sind. Warum nun der deutschen Jugend ge-
rade diesen Dichter vorführen, der mit jeder Faser schroffer Engländer,
der ein so ausschlieszliches Kind seines Volkes und seiner Zeit ist, dasz
er die in seinen Dramen auftretenden Griechen, Bömer, Italiener als leib-
haftige Vollblutbriten der Elisabethzeit schildert, der nach echter Jolm-
kllart fremdes Leben mit solchem insularen Hochmut behandelt, das/ er
die gegen England kämpfenden Ausländer meist als treulose und Teige
Maulhelden, dasz er die Jungfrau von Orleans als gemeine Hexe darsteil L?
Die Leetüre eines solchen Dichters fördert doch unmöglich die humane
Unparteilichkeit, die weltbürgerliche Empfänglichkeit für das Grosze und
Gute der Fremde, zwei edle Tugenden, durch welche das deutsche Volk
allen Völkern voransteht. Und wie — so dürfte ferner eingewandt wor-
den — wie soll dem geschichtlichen Sinne das Lesen eines Dichters zu-
träglich sein, der in den Parteikämpfen des alten Born nur Reibungen
zwischen Baronen und Pöbel schildert, der das tyrannische Gebähten
Heinrich's des Achten beschönigt, der in den Kämpfen der Rosen die,
furchtbaren Fehden des Feudaladels verherlicht, ohne dem sich kräftig em-
porarbeitenden Bürgertum und dem Protestantismus auch nur die beschei-
denste Andeutung zu gönnen ?
Das sind in der That Ausstellungen, die auch ein Verehrer des Dich-
ters nur mildern und entschuldigen, aber nicht ganz beseitigen kann. Wir
könnten sie umgehen, wenn wir den wolbegründeten Einwand gellend
machten, dasz die für die Schule zu empfehlenden Stücke wenig oder
nicht an solchen Mängeln leiden; aber das wäre eine sophistische Masz-
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Google
^r>>"^p:^r.'
402 Shakspeare als Schnlschriftsteller.
regel, da wir ja durch die Vorführung einzelner Dramen zum späteren
Studium aller Shakspcareschen Dichtungen anreizen und befähigen wollen.
Wir gestehen also zu, dasz Shakspeare nicht nur einzelne Auachronismeu
begangen, dasz er auch in der Auffassung einzelner geschichtlicher Ereig-
nisse eine weniger durchdringende Kenntnis bewiesen, als sie neuere,
durch Geschichtsphilosophie gebildete Dichter haben, und dasz er an Par-
teilichkeit weit mehr leide , als sie von den Engländern unsrem Schiller
wegen seiner Schilderung der Elisabeth und Maria vorgeworfen worden.
Liegt denn aber in jenen Schranken , in welche der Volkscharakter
und der Zeitgeist auch einen so selbständigen Genius bannten, wirklich
eine Gefahr für den jungen deutschen Leser, wie sie es in der That für
manchen jungen Briten ist? Gewis nicht. Deutschen Jünglingen ist durch
den Gesamtunterricht und besonders durch den Geist unserer Dichter, die
den Nathan und die Jungfrau von Orleans geschrieben, eine Weltanschau-
ung eingeprägt, welche durch jene Einflüsse nicht verändert werden kann.
Sie wissen, dasz der Dichter auf einer höheren Warte stehen solle, als
auf der 'Zinne der Partei* und der Nationalität, dasz er dem fremden
Volke gerecht werden müsse wiß dem eignen ; sie haben in der Rütliscene
und im Egmont ein so ergreifendes Bild des neuen politischen Elementes,
das sich aus der eisernen Zeit des Faustrechtes emporringt, kennen ge-
lernt, dasz sie durch Shakspeare's dichterisches Behagen an der Ritterzeit,
die er so unvergleichlich zu malen weisz , so wenig irregeführt werden,
als durch den, gewis auch nicht strenggeschichtsmäszigen, Götz von Ber-
lichingen Goethe's.
Obgleich also zugestanden" werden musz, dasz an Shakspeare einzelne
Züge auffallen, die seine Befangenheit in nationalen und säkularen Vorur-
teilen verrathen , halten wir ihn dennoch der Ehre eines Schulschriflstel-
lers für würdig ; ja wir würden ihn als solchen empfehlen, wenn auch in
Deutschland ein neuer, ihm ganz ebenbürtiger Genius aufträte, Dramen
schüfe, welche bedeutende Perioden der Weltgeschichte mit ebensoviel
Leben und mit noch tieferem geschichtsphilosophischen Verständnis dar-
stellte , historische Tragödien , die für unser Volk das wären , was die
des britischen Dichters für seine Zeit gewesen. So gut unsere Jugend
den Sophokles liest, obgleich wir eine Goethesche lphigenie besitzen, so
gut soll Shakspeare ihr bekannt werden, obgleich wir Wallenstein und Teil
neben seine Meisterstücke setzen dürfen. Denn welcher Höhergebildete
möchte sich begnügen, die Schöpfungen der Neuzeit in sich aufzunehmen,
ohne den Grund zu kennen, auf welchem die Neueren gebaut, das Vor-
bild, das sie von falschen Regeln befreit und zum Schaffen ermutigt hat?
Die Lilteraturgeschichte ist ja deshalb ein stehender Teil unsres Gymna-
sialunterrichts geworden. Wie soll aber ein Schüler die Frühlingsstürme
unsrer classischen Zeit, die Sturm- und Drangperiode, den Aufschwung
unsrer dramatischen Dichtung, die ästhetische Reformation Lcssing's, die
Grundgesetze des deutschen Trauerspiels begreifen, ohne Shakspeare zu
kennen? Wie wäre eine klare Vorstellung von den internationalen Wir-
kungen der modernen Wellpoesie zu gewinnen, ohne den ausländischen
Dichter zu kennen, der, nächst der Bibel und den antiken Classikern, den '
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fci
Shakspeare als Schulschriftsteller. 403
mächtigsten Einflusz auf die deutsche Dichtung , auf die bildenden und
darstellenden Künste und auf die Wissenschaft vom Schönen geübt hat?
den Dichter, an dessen Darstellung unsrc Schauspieler von Eckhof Ijis
Davvison sich schulten , durch dessen Werke unsere Tondichter von Beet-
hoven bis Mendelssohn, unsre Maler von Füszli bis Kaulbach zu Schöpfun-
gen begeistert, unsre Dramatiker von Lessing bis Hebbel geleitet oder
irregeführt worden sind ? Ja noch mehr, Shakspeare hat seinen Wirkungs-
kreis weit über die Schulen der Künstler und Gelehrten hinaus erweitert,
er ist mehr als ein andrer fremdländischer Schriftsteller der neueren Zeit
derart auf deutschem Boden eingewurzelt, ja in Saft und Blut unsres
Volkes übergegangen, dasz manche seiner Figuren so volkstümlich ge-
worden sind, wie Nathan, Faust und Teil, dasz viele seiner sinnreichen
Gedanken nunmehr als sprichwörtliches Gemeingut umlaufen, gleich den
Sentenzen unserer Classiker. Aus alle dem scheint aber sicher zu folgen,
dasz der gebildete Deutsche eher die Bekanntschaft mit vielen einheimi-
schen Werken untergeordneten, selbst mittleren Ranges entbehren dürfe,
dasz er die Kenntnis des französischen Theaters, ja sogar des griechischen
Dramatikers eher missen könne, als die Vertrautheit mit Shakspeare's Dra-
men , welche in gewissem Sinne zu den^ epochemachenden Mächten der
deutschen Litteraturgeschichte gehören.
Indessen läszt sich von andrer Seite einwenden, dasz man gar wol
die hohe litteraturgeschichtliche Bedeutung Shakspeare's anerkennen könne
und doch gegen die Schullectüre seiner Dramen Einsprache erheben müsse.
Freilich solle ihn jeder Gebildete kennen ; aber kennen müsse ein solcher
auch den Goetheschen Faust, und wer empfehle diesen für die Schule?
Shakspeare sei eben kein Schriftsteller für die Jugend, er müsse für das
reifere Leben aufgespart werden.
Im strengsten Wortsinne nehmen natürlich solche Gegner den Aus-
druck : f für die Jugend* nicht. Denn was sollte dann der Schule übrig
bleiben? Haben doch Cäsar und Sophokles so wenig an einen Leserkreis
von Knaben und Jünglingen gedacht, als Shakspeare, der als praktischer
Schauspieldirector recht eigentlich sein Globepublicum im Auge hallte und
— wie die Prologe, seine einzigen persönlichen Aeuszerungen über ästhe-
tische Fragen, andeuten — sich demselben nicht selten mit gewissem
Widerstreben anbequemte.
Aber auch im eingeschränkten Sinn ist jener Einwand nicht stich-
haltig. Freilich eignet sich nicht jedes Drama unsres Dichters für die
Jugend. Ausgeschlossen bleiben beim Schulstudium die Lustspiele, die
Jugeudwerke und alle Tragödien , welche Leidenschaften schildern, deren
Vorführung pädagogische Bedenken erregen. Othello und Richard den
Dritten , Romeo und Hamlet wird selbst ein begeisterter Verehrer, der in
diesen Dramen die durchdringendste Seelenkunde und die gröste Schöpfer-
kraft des Dichters bewundert, so wenig wie die Emilia Galotti, die Räu-
ber, den Werther und die Wahlverwandtschaften für zulässig halten.
Aber auch ein vorsichtiger Pädagog wird für Jünglinge den Julius Cäsar,
Coriolan und Macbeth , den Kaufmann von Venedig und den Sturm, unter
den Königsdramen Richard den Zweiten — ein Stück, das trotz des un-
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404 Shakspeare als Schulschriftsteller.
männlichen Helden schon durch die Turnierscene die Jugend hinreiszt —
nicht für gefährlich erklären. Ja vielleicht dürfte für Gymnasiasten, denen
man so vieLsittlichen Halt zutraut, dasz sie den Horaz und Aristophanes
in der Schule lesen , auch der Sommernachtstraum , sogar Heinrich der
Vierte zulässig sein. Jedenfalls bleibt auch bei sorgsamster Auswahl
noch eine ausreichende Zahl von Dramen übrig, deren Lesung unverfäng-
lich ist.
Ein naives Verständnis solcher Shakspeareschen Stücke, die selbst
den ungebildeten Zuschauer hinreiszen, wird der an griechischen und
deutschen Mustern gebildeten Jugend nicht abzusprechen sein, und für
ein tieferes Eindringen, für die Beachtung der meisterlichen Charakte-
ristik, der künstlerischen Gestaltung soll ja eben der Unterricht sorgen.
Allerdings ist Shakspeare kein leichter Schriftsteller, denn auch der
Forscher slöszt wol bei wiederholter Lesung auf dunkle Stellen und frü-
her ungeahnte Tiefen, und Niemand darf sich rühmen, diesen Dichter aus-
zukennen. Aber wäre das ein rechter Schulschriftsteller, den die Jugend
seinem vollen Wesen nach verstände und zu würdigen vermöchte?
f Eigentlich lernen wir nur von den Büchern, die wir nicht beurteilen
können9. Dies sinnreiche Paradoxon Goethe's gilt besonders für die Jüng-
lingen zu empfehlenden Dichter. So wie im Sittlichen nur das unerreich-
bar hohe Ideal die rechte Nacheiferung erweckt , so ist im Gebiete des
Schönen nur das Werk für die Jugend wahrhaft bildend, das über das
Gemeinverständliche hinaus unergründlichen Gehalt ahnen läszt.
Ein naives Verständnis der Shakspeareschen Stücke trauen wir also
den Schülern der Gymnasien zu; damit soll aber nicht gesagt sein, dasz
ihnen die Einsicht in das Künstlerische verschlossen bleiben werde. Für
das erste Studium der dramatischen Poetik bietet gerade unser Dichter
treffliche Gelegenheit. Für alle seine Schöpfungen liegt der urkundliche
Text der Chroniken oder Novellen vor , denen die Fabel entnommen ist,
und meist lassen sich mühelos die künstlerischen Beweggründe heraus-
fühlen , welche den Dichter zur Erweiterung oder Umformung jener ge-
gebenen Grundzüge veranlaszten. Wol bei keinem Dramatiker der Vorzeit
ist ja der Einblick in die geistige Werkstätte , in welcher die rohen Mar-
morblöcke zu Kunstgebilden gestaltet werden , mehr erleichtert , als bei
Shakspeare, obgleich er keine Briefe und Tagebücher hinterlassen hat und
als Mensch uns nur in sagenhafter Verschwommenheit entgegentritt. Des-
halb hält es meist jricht schwer, den jugendlichen Leser auf die Gesetze
"der sittlichen Weltanschauung und Poetik zu führen, welche unser Dich-
ter — den nur die Oberflächlichkeit für ein regelloses Kraftgenie hält —
mit Strenge beobachtet..
Schwierigkeit bereitet es dagegen vielen, vielleicht den meisten jun-
gen Lesern , sich zu dem für Shakspeare so charakteristischen Humor in
das rechte Verhältnis zu finden. Jungen Engländern scheint diese Fähig-
keit angeboreu. Nie sah ich solche stutzig werden oder Anstosz nehmen,
wenn der Dichter mit grellem Kontraste neben das Erhabene das Gemeine,
neben das Schöne das Häszliche, neben das Tragische das Burleske stellt.
Der Humor ist eben ein so natürliches Element der englischen Litteratur
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Shakspeare als Schulschriftsteller. 405
und des Volkscharakters, dasz die Jugend sich in solche Stilmischung so
leicht findet, wie ein britisches Theaterpublicum eine tolle Posse kräftig
belacht, die unmittelbar nach dem Lear über die Bühne geht. Anders er-
geht es vielen deutschen Neulingen. Manche misverstehen den ernsten
Dichter, dessen hochkomische Figuren ihnen äuszerst ergötzlich sind,
derart, dasz sie wähnen, der Hauptnachdruck seines Werkes liege auf
dem eingewebten Satyrspiele, und die Rückkehr zum Errist schwierig fin-
den y andere — und dies sind keineswegs die poetisch Unempfänglichen
— fühlen sich, wenn der Rüpel oder Narr die eben vom Helden verlas-
sene Bühne betritt oder sich gar in einer Hof- oder Volksscene unter die
Helden mischt, so verdutzt und verletzt, dasz sie 'den Humor mit Kühle
und Achselzucken aufnehmen. Ein junger Leser meiner Bekanntschaft
war, als wir die Scene lasen, in welcher Faustan" an Percy's Heldenleiche
seine burleske Eisenfresserei ausläszt, völlig empört über die f Roheit' des
von ihm bewunderten Dichters. - '
Auf diesem Gebiet ergeht an den Lehrer oft die Aufforderung , dem
Neuling die Hand zu reichen, damit derselbe, um den Dichter zu verstehn,
in Dichters Lande gehen lerne. Da der Humor, obgleich im strengsten
Sinn eine Stilmischung, doch eine berechtigte Stilgaltung ist, so hat
wol die Schule, die ja auch den Humor iu Horaz Episteln und in Aristo-
phanes anerkennt, vollen Grund, dies Genre, in dem die Briten sich unter
allen Nationen hervorthun und Shakspeare unter allen Briten hervorragt,
im Drama vorzuführen. Allerdings liegt darin für die Jugend eine gewisse
Gefahr — hat doch keine Kühnheit des groszen Dichters die Nachahmer
öfter irregeführt, als seine unnachahmliche Laune — aber Shakspeare' s
Humor enthält zugleich ein Gorrectiv für den, besonders durch Schiller's
Einfiusz, leicht überschwänglich werdenden Idealismus der deutschen
Jünglinge. Denn es kommt ihnen hier eindringlich zum Bewustsein, wie
das Hohe und Edle in diesem Leben beständig auf das Gemeine und Rohe
stöszt, wie die Wirklichkeit der Idee oft ironisch entgegentritt und wie
sich der mannhafte Dichter, der trotz seines Realismus nie das Ideale aus
den Augen verliert, über dieses den Schwächling verwirrende und ent-
mutigende Schauspiel künstlerisch hinwegsetzt. Zur ästhetischen Würdi-
gung dieser Eigenheit führt den jungen Deutschen am leichtesten die
Vergleichung des Schillerschen Macbeth mit dem Originale. Dasz unser
stil strenger Dichter verletzende Schroffheiten beseitigt, aber auch die
wilde Grösze, welche die halbbarbarische Zeit der Handlung so imposant
malt, abgeschwächt hat — das nimmt auch der junge Leser leicht wahr.
Nachdrücklicher als das schwierige Verständnis des Shakspeareschen
Humors werden wahrscheinlich von Pädagogen , welche über die Schul-
lectüre unsres Dichters berathen , zwei Ausstellungen betont , die sie an
seiner Sprache machen.
Zunächst die unbestreitbare Thatsache, dasz die Gesprächsweise in
unsres Dichters Dramen manche für unser Schicklichkeitsgefühl anstöszige
Ausdrücke zuläszt und zwar nicht blosz Naivetäten, die ein unbefangener
Siun als natürliche Offenheit einer kindlichen Zeit ebenso ungekränkt
übersieht, wie die Nacktheit der antiken Plastik und der Spraehe Homer's,
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406 Shakspeare als Schulschriftsteller.
sondern auch Unziemliches, was seihst in jener derben Zeit als Zweideu-
tigkeit und Lascivität gelten sollte. In den für die Schullectüre geeigne-
ten Dramen kommen solche Anstöszigkciten nur wenig vor; indes ist —
man denke nur an die Pfortnerscene in Macbeth — auch für diese eine
der heickelsten Fragen der pädagogischen Gasuistik nicht zu umgehen.
Soll man einiger Mängel wegen Meisterwerke mit dem Schulbanne be-
legen? Dawider hat die Erziehungslehre im Bezug auf antike Dichter
schon richtig entschieden. Soll man verfängliche Stellen ohne Bedenken
mitlesen lassen , im Vertrauen , dasz das Anstöszige durch den Ernst des
Studiums und durch die Offenheit neutralisiert und als Rostfleck einer
meisterhaften Bildsäule entschuldigt werde? Was man bei dem Privat-
studium, wenn der Lehrer einen ernsten Jüngling vor sich hat, vielleicht
wagen kann , möchte doch in gröszeren Glassen bedenklich erscheinen,
und man wird — so sehr man auch den castigierten Classikern der
Jesuitenschulen abhold sein mag — doch eine Schulausgabe Shakspeare's
wünschen , in welcher die maxima reverentia , die man der Jugend schul-
det, streng beobachtet ist. Solchem Wunsch entspricht Fölsing's Schul-
ausgabe von vier Dramen, welche nach dem Vorgange des in England
viel verbreiteten Familien - Shakspeare alles Bedenkliche mit thunlichster
Schonung des Zusammenhanges beseitigt, eine erwünschte Auskunft.
Leider besitzen wir noch keine deutsche Bearbeitung der Shakspeareschen
Dichtungen , welche die Entfernung jener Muttermäler des Zeitalters , die
ja auch für die Bühnendarstellung notwendig ist , mit ebensoviel feinem
Takt anstrebt, als die treue und schöne Wiedergabe der ebensosehr durch
Prägnanz als durch Farbenpracht, durch Wuchtigkeit als durch musika-
lische Schönheit unübertrefflichen Diction. Eine solche Bearbeitung wäre
gewis die schönste Festgabe zu des Dichters Jubeltage.
Wahrscheinlich knüpfen aber die Gegner an diese Lobpreisung der
Shakspeareschen Dichtersprache einen neuen Einwand an. Dieselbe sei
nicht von so gleichmäsziger Vollendung , dasz sie der Jugend als classi-
sches Muster vorgestellt werden könne. Es fehle ihr das goldene Masz-
halten, sie leide nicht selten an zu grellen Farben, an asiatischem Pompe.
Wie der üppige Urwald Riesenbäume und Prachtblumen in wunderbarer
Fülle erzeuge, so lasse er daneben auch geiles Gestrüpp und Unkraut
sprossen. Neben erhabener Würde finde sich hohle Grandezza, neben
meisterhafter Versinnlichung Unklarheit durch gehäufte, nicht zusammen-
stimmende Bilder, neben echten Naturlauten erklingen schwulstige Phra-
sen, neben glänzendem Witze mache sich gezierte Witzelei , neben genia-
ler Unmittelbarkeit gesuchte mythologische Gelahrtheit geltend. Deshalb
seien Shakspcare's Stücke der Jugend ebenso verführerisch und schädlich,
wie die Jugenddramen Schiller's und die Prosa Jean PauFs.
Ein unbedingter Verehrer unsres Dichters würde diese Ausstellungen
als frevelhafte Mäkelei verurteilen. Erklärte doch die Tiecksche Schule,
dasz Einer, der in Shakspeare nicht alles bewundere, überhaupt nicht sa-
gen dürfe , dasz er ihn bewundere. Selbst solchem Trumpf gegenüber
wird doch ein besonnener Schulmann wol eingestehen müssen, dasz er
den Euphuismus (jene galante Ziererei , welche das , Gespräch durch
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Shakspcare als Schulschriftsteller. 407
schwülstige Metaphern, ungeheuerliche Hyperbeln, spitzfindige Antithesen
und geschraubte Wortspiele zu würzen sucht) eher für eine zu entschul-
digende Mode, als für das wahrhaft Grosze unsres Dichters halte und dasz
er furchte, diese Manier, welche in den Jugenddramen und* Lustspielen
»ersehe und spurweis auch in den Dramen der reifen Zeit vorkomme,
werde für die jungen Leser schon deshalb verführerisch sein, weil sie
einem zu höchster Sympathie hinreiszenden Dichter anhafte.
Würde aber nicht selbst ein solcher Beurteiler das Sprachstudium
unsres Dichters schon deshalb empfehlen müssen, damit jenem befürchte-
ten Einflüsse vorgebeugt werden könne , da doch Shakspeare den meisten
Junglingen bekannt wird und eine Warnung vor seiner Bekanntschaft
wirkungslos sein würde? Junge Groszstädter sehn ja Romeo und Hamlet
auf der Bühne , und viele strebsame Jünglinge lesen die in Büchern und
Zeitungen belobten Dramen, deren Uebersetzungen mehr verbreitet sind,
als die Stücke aller andern ausländischen Dramatiker, für sich.
Die erste Bekanntschaft mit Shakspeare ist aber für die Bildungsge-
schichte eines Jünglings ein so bedeutsames Moment, dasz sie die volle
Beachtung der Erzieher verdient. Sie ist eins der gfoszen, unvergesz-
lichen Ereignisse des Lebens , wie der erste Anblick der Alpen und des
Meeres. Ergeht es doch den jungen Lesern allen, wie Wilhelm Meister,
von dem Goethe erzählt: *In kurzem ergriff ihn der Strom des groszen
Genius und führte ihn einem unübersehbaren Meere zu, worin er sich gar
bald völlig vergasz und verlor.'
Fern bleibt es natürlich einem Lehrer, der seiner eignen Jugend ein-
gedenk ist , den Neulingen ein solches Treiben auf diesem Riesenstrome
der Poesie dadurch zu vernüchtern, dasz er sie an ästhetischen Schwimm-
gürteln zu halten sucht und dem jungen Schwimmer kein Abenteuer
gönnt. Eine Art Shakspearesche Sturm- und Drangperiode durchzuma-
chen , ist gewis eine der zulässigsten Jugendschwärmereien.
Aber dem Jüngling bei solchem 'Treiben auf dem unübersehbaren
Meere' für immer sich selbst zu überlassen , während man ihn für das
weniger klippenreiche classische Drama der Griechen und Deutschen völ-
lig einschult — das ist doch kaum folgerecht. Soll man nicht auch hier
streben, den poetischen Naturtrieb zu wahrem Kunstsinn zu erhöhen,
soll man das Schwelgen phantasiereicher Jünglinge im ^Phantastischen
und Ungeheuerlichen und ihre ikarischen Versuche , dem Dichter nachzu-
fliegen, soll man das eitle Haschen Witzlustiger nach humoristischen
Seltsamkeiten und groteskem Unsinn, wie es Goethe als das Gebahren
seines shakspearomanen Freundes Lenz schildert, ruhig gewähren lassen ?
Zwar wird solche Schwärmerei nur bei überspannten Naturen so verderb-
lich wirken, wie bei diesem in der Genialitätssucht Verkommenen. Aber
einigen Schaden erleiden dodh auch einzelne weniger stürmische Jung-
linge, für welche die ungeleitete Shakspeafelesung nicht sowohl dem
Treiben auf einem Meere, als dem. Fortgerissen werden von einem fRegen-
strom aus Felsenrissen,' gleicht. Wie mancher Begabte von Grabbe bis
Hebbel bewies nicht durch seine Dichtungen , dasz er das Absonderliche
eines urtümlichen Genius für dessen wahre , nachahmenswerlhe Grosze
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408 Shakspeare als Schulschriftsteller.
hielt, dasz ihm — wie es den französischen Romantikern ergieng — der
Hexenspruch: 'Schön ist häszlich, häszlich schön' zum ästhetischen Glau-
benssatze geworden, sei! Und müssen wir nicht alle gestehen, dasz die
erste Bekanntschaft mit Shakspeare für eine Zeit lang unempfänglich und
ungerecht gegen die antike Tragödie stimmt, und dasz es dem raschen
Parteigeist der Jugend schwer wird , sowol dem Idealismus als dem Rea-
lismus sein Recht zuzuerkennen? Hier ist eine Aufgabe der ästhetischen
Hodegetik zu erfüllen , welche um so weniger der Universitätszeit ver-
spart bleiben darf, als die Wahrscheinlichkeit grosz ist , dasz unter dem
Drange der Fachcollegien solche Studien zurückstehen werden.
So befestigen denn alle Erwägungen die Ansicht, dasz es gerathen
sei, die reiferen Zöglinge der höheren Schulen in die reiche Galerie der
Shakspeareschen Dichtungen einzuführen, welche als Kunstwerke an sich
und als epochemachende Werke in der deutschen Litteratur und Kunst
insbesondere für den Deutschen von höchster Wichtigkeit sind.
Mögen noch einige Andeutungen über die für das Schulstudium
Shakspeare's geeignete Methode gestattet sein !
«In Lehranstalten, welche dem Englischen gleiches Recht mit dem
Französischen einräumen — ein Recht, das dieser Sprache ohne Zweifel
gebührt und in Zukunft wol überall zuerkannt werden wird — in sol-
chen Schulen ist Shakspeare natürlich mit den Schülern der obersten Glasse
in der Urschrift zu lesen. Die altertümliche, hochpoetische Sprache hat
ihre Schwierigkeiten, aber zugleich so grosze Reize, dasz der Lehrer ver*
sichert sein kann, die für Kunstschönheit empfänglichen Schüler werden
später durch eigne Anstrengung sich weiter einzuarbeiten suchen und
wenigstens neben der Uebersetzung die Urschrift vergleichen.
Aber auch solche Gymnasien , in deren öffentlichen Unterricht das
Englische nicht aufgenommen ist, sind im Stande, unsern Dichter für
ihre Zöglinge zu verwerthen. Freilich hat das Lesen einer Uebersetzung
nicht den vollen bildenden Einflusz, wie das Studium des Urtextes; da-
gegen bietet eine so wolgelungene Uebersetzung wie die Schlegelsche
den Vorteil , dasz der junge Leser, der hier weniger Anstrengung für das
Verständnis der Sprache bedarf, seine Aufmerksamkeit ungeteilt der poe-
tischen Kunst hingeben kann. Als Gegengrund wird wol der Mangel an
Zeit eingewandt. Die Lehrpläne der Gymnasien sind allerdings reich be-
setzt, und die Warnung vor dem Zuviel ist wolberechtigt. Dieser Schwie-
rigkeit läszt sich aber dadurch begegnen, dasz in jedem Lehrgange des
für deutsche Litteratur bestimmten Unterrichtes ein Shakspearesches Drama
vorgeführt oder dasz wenigstens ein in den Ferien gelesenes Stück in
einigen Stunden besprochen und zum Thema von Aufsätzen und Rede-
übungen gemacht wird. Vielleicht wäre es nicht unthunlich, als Surro-
gat für die obsolet gewordenen Aufführungen des Schultheaters dann
und wann eine Scene oder ein Stück mit verteilten Rollen lesen zu las-
sen. Der geschichtliche Unterricht in der deutschen Litteratur, für welche,
unser Dichter schon durch seine Anregung der Uebersetzerkunst segens-
reich gewirkt hat und für deren classische Periode er ein den antiken
Meistern gleichwerthiger Leitstern geworden ist, darf ohne Zweifel einer
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Shakspeare als Schulschriftsteller. 409
weniger bedeutenden Periode etliche Stunden absparen, um in die be-
deutsamste Macht der neuen Weltpoesie einzufuhren.
Zu einer solchen Einführung bedarf es für Schuler, Welche schon
antike und deutsche Musterdramen unter Leitung der Lehrer studiert ha-
ben, in der That nicht zu vieler Zeit. Eine Stunde genügt, um von dem
Wenigen, was wir über Shakspeare's Leben sicher kennen, das Wfssens-
werthe mitzuteilen. Der Schüler, der nach der ersten, gemeinsamen oder
privaten Lesung eines Stückes über den Gang und die Motive der Hand-
lung, sowie über die Charakteristik zu berichten angehalten und dabei
auf Uebersehenes oder Mis verstandenes aufmerksam gemacht wird, er-
fahre nun durch den Lehrer die Quelle, der die Fabel entlehnt ist, um
durch deren Vergleichung Einblick in die Poetik des Meisters zu erlangen.
Verschont bleibe er dagegen mit hochfliegenden kunstphilosophischen und
culturhistorischen Theorien , zumal , wenn sie wie viele Faustcommen-
tatoren, überschwänglich grübeln und 'geheimnissen'. Der Ralh, den
Jarno dem Wilhelm Meister erteilt, gilt auch für die Schule: 'Nur Eins
bedinge ich mir aus, dasz Sie sich an die Form nicht stoszen, das Uebrige
kann ich Ihrem richtigen Gefühle überlassen.' Die Form ist es in der
That hauptsächlich, zu deren Verständnis der Jüngling einiger Nachhülfe
bedarf. Es soll ihm über einzelne Schwierigkeiten des Ausdrucks hin-
weggeholfen werden, er soll die Kostümfehler als unwesentliche Mängel,
die bei der vortrefflichen Haltung der Gesamtfarbe kaum stören, übersehen
lernen, soll die Spuren des Euphuismus, die der Dichter selbst einmal als
Haftene Phrasen, seidene Ausdrücke und sammtene Hyperbeln* verspottet,
als Accommodation an das Zeitalter erkennen, die auch einem so selbstän-
digen Genius nicht ganz erspart blieb, und soll endlich und hauptsächlich
die unerschöpfliche Quelle echter Poesie, die in diesen Werken quillt,
ahnen und verehren lernen.
Gelingt es aber der Schule, ihre Zöglinge mit 'warmer Verehrung
für einen groszen Dichter zu erfüllen und zur innigen Befreundung mit
demselben anzuregen — was wol bei keinem Dramatiker, auszer bei
Schiller, leichter ist — so hat sie Groszes gewonnen. Sie befähigt da-
durch die Jünglinge, sich eine reiche Fülle der herlichsten Gaben, welche
die Litteratur bietet , anzueignen , ein Erbe anzutreten , das einen kost-
baren Schatz für das ganze Leben darstellt. Wer fühlte nicht dankbar,
wieviele köstliche Stunden edlen Kunstgenusses, wie manche werthvolle
Lebensanschauung, wie viele sittliche Anregungen er seinem Shakspeare
verdanke, zu dessen Dichtungen, wie zu den Werken der Natur, der Mann
und Greis mit stets frischer Bewunderung und Erbauung zurückkehrt?
Wäre dieses Gastgeschenk, das der bewirthete Genius sicher hinter-
läszt , allein schon werth , dasz die Schule Shakspeare in den Kreis ihrer
Classiker aufnehme , so empfiehlt sich sein Studium noch in einer andern
Hinsicht, welche eine für das Leben des ganzen Volks heilsame Wirkung
verspricht.
Ueber keine Frage sind wol die Sjtimmen der Aesthetiker mehr einig,
als darüber, dasz der gegenwärtige Zustand des deutschen Theaters kein
erfreulicher sei. Und Lehrer und Erzieher werden am wenigsten diesem
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410 Shakspeare als Schulschriftsteller.
herben Urteile widersprechen wollen. Gerathen sie doch oft in peinliche
Verlegenheit, wenn sie von ihren Pflegebefohlenen um die Erlaubnis zum
Theaterbesuch angegangen werden, da auf kleineren Bühnen plumpe Pos-
sen , platte Lustspiele und täppische Nachahmungen frivoler Demimonde-
rührstücke, auf gröszeren fade Prunbopern und lüsterne Ballette eine
grosze Rolle spielen.
Die Schuld dieses Misstandes liegt nicht in der Dürftigkeit der Epi-
gonenzeit allein — hat doch die Gegenwart den Genusz einer reichen
Erbschaft guter dramatischer Werke — sie liegt nicht sowol in den
Künstlern, als im Publicum, von welchem das Theatex leider nicht als
Kunstanstalt von hoher sittlicher Bedeutung, sondern nur als leichter
Zeitvertreib betrachtet wird.
Kann aber die Schule etwas zur Besserung jenes Wolstandes thun,
so ist sie gewis dazu verpflichtet.
Schwärmerei wäre es, vom Schulstudium classischer Dramatiker zu
erwarten, dasz es junge Schöpferkräfte wecken und bilden werde; aber
das vermag die Erziehung; dasz sie die Jugend für das Grosze und Schöne
mit einer Begeisterung erfüllt, die sich noch über die Schulzeit hinaus
warm erhält und dasz sie dadurch der leidigen Duldsamkeit gegen das
Miltelmäszige und Gemeine wehrt, die ein schlimmer Feind des Guten ist.
Und für diese Aufgabe der ästhetischen Erziehung erscheint neben
den unsterblichen Dichtern des Altertums und dem deutschen Dreigestirn
kein Dramatiker förderlicher, als Shakspeare. Wer einmal die chohe Kraft
des Herakles', vor der unsere Heroen sich in Demut beugten, lebendig
inne geworden, wer sich in dessen Geist vertieft, der ist gefeit gegen den
eiteln Zeitvertreib und die unreinen Lockmittel der schlechten Kunst, der
hält sich nicht blosz in kühler Vornehmheit vom Schlechten fern, sondern
sucht auch die echte Kunst zu unterstützen und zu fördern. Eine wahre
Popularität Shakspeare's bei der gebildeten Jugend — müste sie nicht all-
mählich auf das gröszere Publicum vorteilhaft wirken?
Die Zukunft wird lehren, ob diese Hoffnung eine überspannte ge-
wesen. Shakspeare, der fast drei Menschenalter hindurch Verschollene,
der im achtzehnten. Jahrhundert hauptsächlich durch deutsche Dichter und
Kunstforscher Gewürdigte und zu Ehren Gekommene wird im neunzehn-
ten Jahrhundert gewis auch in der deutschen Schule mehr und mehr zu
seinem Rechte gelangen , wird der höchten Dichterehre teilhaft werden,
der Ehre, ein Schulclassiker zu sein.
B. Sigismund.
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Wohlrab : Rede über einen Platonischen Ausspruch. 411
32.
Was hat Plato unter den Worten verstanden : glücklich der
Staat, in welchem die Könige Philosophen sind?
Festrede von Dr. Wohlrab, gehalten zur Geburtstagsfeier Sr. Majestät
des Königs Johann von Sachsen am 12. December 1863 in der Kreuz«
schule zu Dresden.
Wir haben heute den Gang unserer gewöhnlichen Beschäftigungen
unterbrochen, um den Tag festlich zu begehen, an dem vor zweiundsech-
zig Jahren unser allverehrter König diesem Lande geschenkt worden ist.
Wir haben dazu ebenso reichliche Veranlassung, als die andern Stände
unsers Vaterlandes. Denn unser königlicher Herr hegt für alle Beschäf-
tigungen und Berufsarten seiner Unterthanen eine gerechte Anerkennung,
Iaszt ihnen allen eine gleichmäszige Förderung angedeihen. Für die Fort-
schritte in der Industrie zeigt er ebenso ermunternde Teilnahme, als er
die wissenschaftliche Forschung sogar durch eigene Beteiligung an der-
selben ehrt; der Rechtspflege widmet er selbst nicht geringere Sorgfalt,
als ihm die Erhaltung des Wehrstandes am Herzen liegt. Und über diesen
notwendigen Factoren unseres heutigen Staatslebens vergiszt er nicht die,
welche zur Zierde und zum Schmucke gereichen, auch die Kunst, der ja
die Mitglieder unseres Fürstenhauses von jeher eine treue Neigung ge-
widmet haben, erfreut sich seiner erhabenen Pflege. Diese königliche
Teilnahme ist trotzdem, dasz sie sich auf alle Berufsarten erstreckt, doch
keine oberflächliche, sondern im Gegenteil eine so eingehende, dasz jeder
Stand, dem unser König gerade seine Aufmerksamkeit zuwendet, glauben
könnte, er sei der Gegenstand ganz besonderer Fürsorge. Und so können
auch wol die Schulen getrost des Glaubens leben , dasz des Königs Auge
treu über sie wache. Wissen wir es ja doch alle, wie viel er sich die
eigene geistige Durchbildung hat kosten lassen, so dasz wir daraus schon,
wenn es uns sonst an Beweisen mangelte, mit Notwendigkeit schlieszen
müssen, dasz er die Bildungsstätten des Geistes und Herzens nicht wenig
achten kann. Wissen wir es doch alle, dasz er es nicht verschmäht hat,
im Kreise seiner Familie selbst als Lehrer thätig zu sein und dasz er sich
dieser Beschäftigung mit einem Ernst und einer Treue hingegeben hat,
die für jeden Lehrer musterhaft sein kann.
Diese königliche Huld, die sich gleichmäszig über alle Glieder des
Staatswesens verbreitet, erweckt in Jedem Freudigkeit für der! Beruf, der
ihm zur Bewährung seiner Kräfte angewiesen ist, facht in Allen einen
edlen Wetteifer an. Unser König selbst aber löst eben dadurch , dasz er
die Einheit aller Factoren, aus deren Zusammenwirken erst ein wolgeord-
neles stattliches Leben erblühen kann, in letzter und höchster Stelle ver-
mittelt, den erhebendsten Teil seiner Aufgabe. Ein solches allseitiges
Interesse, wie es sich hierin kund gibt, hat offenbar eine ungemein um-
fassende Bildung zur Voraussetzung, und mit Stolz dürfen wir Sachsen es
aussprechen, dasz wir einen Fürsten haben, dem in dieser Beziehung Kei-
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412 Wohlrab: Was hat Plato unter den Worten verstanden:
ner Seinesgleichen die Palme streitig machen wird. Es ist daher schon
oft bei den festlichen Anlässen , die der Feier desselben gelten , daran er-
innert worden, wie durch ihn der Ausspruch Plato's eine Bestätigung
gefunden habe, dasz das Elend der Staaten nicht eher ein Ende erreichen
werde, als bis die Könige Philosophen werden. Auch ich glaube der
heutigen Feststimmung, welcher Ausdruck zu geben ich diesmal berufen
bin , nicht besser entsprechen zu können , als indem ich an dieses plato-
nische Wort anknüpfend zeige , welchen Sinn sein Urheber damit verbun-
den hat. Vielleicht thut es gerade bei diesem Ausspruche Not, seine ur-
sprüngliche Bedeutung sich klar zu machen, da er beim ersten Anblick
sicherlich für jeden etwas Befremdliches hat. Denn unter Philosophen ver-
steht man doch gewöhnlich Leute, die dem praktischen Leben entfremdet
das Wesen des Geistes und die allgemeinsten Fragen desselben auf eine
selbständige, von der christlichen Offenbarung unabhängige Weise zu er-
forschen suchen. Wie es aber nun einerseits wol kein Volk gegeben hat,
das solchen Männern die Leitung der wichtigsten Geschäfte in die Hand
gegeben hätte, so zeigt uns auch die Geschichte mit fast einziger Aus-
nahme des Pythagoreerbundes kein Beispiel auf, dasz wirklich einmal
Philosophen nach Staatsgewalt gestrebt hätten. Wer nun mit solchen
fast handgreiflichen Einwürfen Plato's Ausspruch gerichtet zu haben
glaubte, würde diesem ebenso feinen als tiefen Geiste groszes Unrecht
anthun, um so gröszeres, als er sich in den Büchern vom Staate aus-
drücklich vor denselben verwahrt hat. Solche ungerechtfertigte Ausstel-
lungen entspringen aber daraus , dasz man Plato's Worte für sich nimmt
und ihnen auf eigene Faust eine gewisse Bedeutung vindiciert. Man
wird denselben also am besten entgegentreten, weun man nachsieht, in
welchem Zusammenhange Plato sie vorgebracht hat.
Plato thut den genannten Ausspruch in seinem Werke vom Staate.
Es heiszt da im fünften Buche : 'Wenn nicht entweder die Philosophen
Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und
Machthaber echte und tüchtige Philosophen und beides, Herschermacht
und Philosophie, in einer Person vereinigt ist, wenn nicht alle diejenigen,
welche sich jetzt dem Einen oder dem Anderen einseitig zuwenden , ohne
Nachsicht von der Herschaft ausgeschlossen werden , so gibt es keine Er-
lösung vom Uebel für die Staaten, ja ich glaube nicht einmal für die
Menschheit; bevor es nicht soweit gekommen ist, wird niemals die Staats-
verfassung, die wir entworfen haben, so gut es geschehen kann, wirklich
werden und ans Licht treten.'
Schon aus den letzten Worten ist ersichtlich , dasz Plato in diesem
Satze Rücksicht nimmt auf die in den vorhergegangenen Büchern vom
Staate enthaltenen Erörterungen, welche wesentlich die Aufstellung einer
Staatsverfassung zum Inhalt haben, und dasz er hierin die Bedingung an-
gibt, unter der dieselbe ins Leben treten kann. Es ist also unmöglich,
dieses Wort Plato's zu verstehen , wenn man die Staatsverfassung nicht
kennt, die er dargestellt hat, und wiederum wird man für diese kein Ver-
ständnis haben, wenn man nicht weisz, in welchem Sinne er sie entwor-
fen hat. Plato ist kein Gesetzgeber, wie Lykurg oder Solon, der für ein
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glücklich der Staat, in welchem die Könige Philosophen sind? 413
bestimmtes Volk eine Verfassung zu schaffen hat, er ist überhaupt kein
Mann des Lehens und der Praxis. Plato ist von Haus aus Dichter und was
die Musen ihm bei seiner Geburt verliehen hatten , dessen konnte er sich
nie wieder enläuszern, so sehr er sich der Philosophie in der Folge hingab.
Diese poetische Begabung ist aber nicht nur für die Form der platoni-
schen Schriften von maszgebendem Einflusz gewesen, insofern sie die
dramatische Einkleidung seiner philosophischen Theorien veranlaszt hat,
sie ist auch für seine Philosophie selbst von unverkennbarer Wichtigkeit.
Dem philosophischen Denken sind Grenzen gesetzt, über die es nicht hin-
ausgehen kann , und doch gibt es jenseits derselben noch Gebiete , in die
nur dichterische Ahnung oder religiöser Glaube uns leiten. Diese betritt
ungestraft kein Philosoph, wenigstens nicht insofern er Philosoph ist.
Dem Plato verlieh seine dichterische Begabung die Schwingen, die ihn aus
dem Reiche der erkennbaren Dinge hinübertrugen in eine ideal gestaltete
Welt über den Wolken dieser Erde. Er macht gar oft von dem schönen
Vorrechte wahrer Dichternaturen Gebrauch, das geistig Geschaute in sei-
ner unmittelbaren Wahrheit einfach hinzustellen; er thut dies namentlich
in den philosophischen Mythen, für die der griechische Geist einmal eine
besondere Begabung hatte. Dasz Plato noch nicht reiner Philosoph ist,
sondern das poetische Element bei ihm noch vielfach bestimmend auftritt,
darauf weist schon seine historische Stellung in der griechischen Litte-
ratur hin. Die ganze griechische Litteratur nimmt von der Poesie ihren
Ausgangspunkt , Homer ist der Ghoreg. Aus der Poesie muste sich die
Prosa erst allmählicli herausarbeiten. Wie nun die* Geschichtsschreibung
durch Herodot mit der Mythenpoesie noch zusammenhängt, in ihrer Rein-
heit erst in Thukydides ihren Gipfelpunkt eAicht, so ist auch die Philo-
sophie hei Plato noch vielfach auf poetische Elemente basiert, tritt selb-
ständig in der ganzen groszartigen Strenge ihres Begriffes zuerst bei
Aristoteles auf. Wer also Plato einseitig als Philosophen auffaszt, thut
ihm sicherlich ebenso Unrecht , als wer nur an seinen Dichterberuf sich
halten und den Philosophen in ihm gar nicht finden wollte. Wir müssen
diesen Gesichtspunkt festhalten zum Verständnis seiner ganzen Philoso-
phie, wie zum Verständnis einzelner Teile derselben ; wir müssen dessel-
ben speciell bei seiner Lehre vom Staate eingedenk bleiben.
Man kann durchaus nicht sagen, dasz Plato sich seiner eigentüm-
lichen Stellung nicht bewust gewesen wäre. Von seinem Staatsideale
sagt er selbst, dasz er zunächst an die Ausführbarkeit desselben nicht ge-
dacht habe. Er vergleicht es vielleicht nicht ohne Ahnung, dasz ver-
wandte Kräfte hier thätig seien , mit einem idealen Bilde. Niemand hat
von einem Künstler, der eine ideale menschliche Schönheit dargestellt hat,
den Nachweis zu fordern, dasz es eine solche auch geben könne. Mit
demselben Bechte kann Plato aus philosophischen und poetischen Ele-
menten ein Staatsideal aufstellen, ohne dasz er die Ausführbarkeit dessel-
ben nachzuweisen hätte. Dasz er ernstlichen Widerspruch, ja Spott und
Hohn erfahren würde, wenn er seine Ideen vom Staate ohne Weiteres als
realisierbar hingestellt hätte, das hat er selbst sehr wol erkannt. Schon
das Wort bleibt der Natur der Sache nach hinter dem Gedanken zurück;
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 8. 28
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414 Wohlrab: Was hat Plato unter den Worten verstanden:
wenn aber gar der Gedanke ins Leben eingeführt werden soll , das rein
Geistige in das Materielle, so liegt klar zu Tage, dasz mehr noch als der
zarte Blütenstaub vom Idealen abgestreift werden musz. Es ergibt sich
hieraus, wie sehr diejenigen Unrecht thun, die von rein praktischen Ge-
sichtspunkten aus an das platonische Wort herantreten und es bemakeln,
was dann leicht genug ist; sie legen aber einen Maszstab an, mit dem
Plato nicht gemessen sein will.
Welches ist nun der ideale Staat, wie ihn Plato sich denkt? Es ist
— könnte man mit einem Worte sagen — die Verkörperung des Ge-
rechtigkeitsbegriffes. Was ist aber wieder die Gerechtigkeit? Die Beant-
wortung dieser Frage bildet hiernach naturgemäsz den Kern des Werkes
vom Staate, welches daher auch den zweiten Titel irepi bixaiou erhalten
hat. Plato sagt sich zunächst los von der gewöhnlichen griechischen
Auffassung, zu welcher der natürliche Mensch consequenterweise gelan-
gen musz, wonach gerecht ist, wer Jedem gibt, was ihm gebührt, d. h.
dem Freunde Gutes, dem Feinde Böses. Plato, obwol noch von keiner
geoffenbarten Religion berührt, erhebt sich doch hoch über das allge-
mein sittliche Bewustsein seiner Zeit, indem er lehrt, Böses thun dürfe
der Gute überhaupt niemals, also auch dem Feinde nicht, es sei über-
haupt in alle Wege besser , Unrecht leiden als Unrecht thun. Aber auch
eine andere Auffassung der Gerechtigkeit, die von sehr angesehenen Man-
nern vertreten wurde, kann Plato nicht teilen. Die Sophisten nemlich
verfochten mit vielem Beifall den Satz, Recht sei identisch mit Macht.
Der Stärkere erhebe, was ihm vorteilhaft erscheine, durch seinen bloszen
Willen zum Gesetz ; diesem sei man Gehorsam schuldig. Hiergegen wen-
det Plato ein, dasz jeder Maflhthaber, sofern er ein Sterblicher ist, dem
Irtum unterworfen ist und sich über seinen wahren Vorteil lauschen
kann. Faszt man dagegen einen Machthaber ideal auf, so braucht er eben
für sich nichts mehr, ist sich selbst genug. Seine Aufgabe kann dann
also nur darin bestehen, das Beste der Untergebenen zu fördern, wie denn
überhaupt bei jeder Kunst — und das Herschen ist auch eine Kunst — :
nicht die Seite die wesentliche sein kann, wonach sie dem, der sie aus-
übt, Nutzen bringt, schon deshalb nicht, weil dies ja allen Künsten ge-
meinsam ist, sondern nur die, wonach sie für Andere einen Nutzen schafft.
Dient der Herscher nur des Soldes wegen dem Wohle der Untergebenen,
so ist er ein Söldling; sucjit er seinen Vorteil- widerrechtlich, wozu er
wegen seines Machtbesitzes viel Gelegenheit hat, so ist er ein Betrüger;
übt er das Herscheramt nur der Ehre wegen, so wird der Nimbus, der
ihn umgibt , gleichfalls zerrinnen und nichts übrig bleiben , als ein ehr-
geiziger Mensch. Also ist es eine unwürdige Auffassung, dasz der Vor-
teil des Stärkeren das Recht sei.
Wenn sich Plato auf diese Weise von den seinem Zeitalter geläu-
figen zwei Auffassungen des Gerechtigkeitsbegriffes losmacht, was setzt
er an deren Stelle? Mit wenig Worten läszt sich das nicht leicht sagen;
es wird sich am besten aus einer kurzen Darstellung seines Staatsideals
ergeben. Das Bedürfnis nach staatlicher Ordnung geht nach Plato's An-
schauung hervor aus dem Gefühle der Unzulänglichkeit des Einzelnen.
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glücklich der Staat, in welchem die Könige Philosophen sind? 415
Kein Mensch ist zur Befriedigung aller seiner Bedurfnisse sich selbst ge-
nügend; Einer bedarf immer des Anderen. Je nach seinen Kräften über-
nimmt nun der Eine dieses , der Andere jenes Geschäft. So entsteht ganz
von selbst eine gewisse Teilung und Organisation der Arbeit und wie-
derum nach der Bedeutsamkeit der Leistungen des Einzelnen eine gewisse
Classification und Rangordnung der Menschen. Da hiernach die Verschie-
denheit der natürlichen Anlagen die Abstufungen im "Staatsleben bedingt,
so ist es allerdings consequent, wenn Plato bei der Feststellung der
verschiedenen Stände von den Seelenkräften ausgeht, deren er drei an-
nimmt.
Die niedrigste Seelenkraft, die, welche am meisten noch an das Kör-
perliche grenzt, ist die ImGuuia, der begehrliche Teil der Seele. Sie ist
vorwiegend in der groszen Masse, die den letzten Stand, den Stand der
Handarbeiter und Ackerbauer bildet. Diese Begehrlichkeit droht dem Gan-
zen Verderben; es musz ihr also eine Schranke gesetzt werden. Dies ge-
schieht, indem Plato dem dritten Stande als Gegengabe die CW(ppocuvr|,
die Besonnenheit, bestimmt, die Tugend, welche die Begierden auf das
rechte Masz zurückführt. Die Besonnenheit hat nemlich einerseits im
einzelnen Menschen ein gewisses Gleichgewicht zwischen den sinnlichen
Begierden und dem wenn auch unbedeutenden, so doch vorhandenen gei-
stigen Leben dieses letzten Standes herzustellen, andrerseits eine gewisse
Harmonie zwischen diesem Stande und den übrigen dadurch herbeizufüh-
ren, dasz sie zur Anerkennung des notwendigen Unterschiedes zwischen
Herschenden und Gehorchenden hinleitet. Vor Armut, wie vor Reich-
tum ist der letzte Stand gleichmäszig zu bewahren, da ihn Beides zur Er-
füllung der ihm eigentümlichen Geschäfte untüchtig macht, die Armut,
insofern ihm dann die Mittel fehlen , mit denen er allein eine Arbeit gut
ausführen kann, der Reichtum, insofern er ihn leicht zur Vernachlässi-
gung der ihm aufgetragenen Geschäfte verleitet. Im Uebrigen wird inner-
halb dieses Standes wieder eine strenge Scheidung dadurch herbeigeführt,
dasz Jeder nur ein Geschäft betreiben darf, das, wozu er vorwiegende
Anlagen und Fähigkeiten besitzt; denn nur auf diese Weise kann es Jeder
zu einer gewissen Vollkommenheit und eigenen Befriedigung bringen. Im
Ganzen aber hat dieser niedrigste Stand, so wichtig er thatsächlich schon
durch sein numerisches Uebergewicht im Staatsleben selbst ist, für Plato,
der ihn nur als die materielle Grundlage seines Staatsgebäudes ansieht,
das geringste Interesse.
Uebcr diesem Stand der Handarbeiter und Ackerbauer erhebt sich
der schon geistigere Stand der Krieger. Die diesen eigentümliche Seelen-
kraft ist der öuuöc, der strebsame, eifernde Teil der Seele, von welchem
Zorn, Mut, Energie nur verschiedene Aeuszerungen sind. Die Tugend,
welche diesem Stande speciell zukommen und ihn vor Ausschreitungen
bewahren soll, ist die dvbpeia, die Tapferkeit, welche Plato als die rich-
tige Vorstellung von dem erklärt, was in Wahrheit zu fürchten und nicht
zu fürchten ist. Der Erziehung dieses Standes wendet Plato eine grosze
Sorgfalt zu. Zur Ausbildung seiner geistigen Anlagen, also vorzugsweise
des öujiöc, wird die musische Kunst angewendet d. h. Poesie, Musik,
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416 Wohlrab: Was hat Plato unter den Worten verstanden:
Alles, was auf die Seele veredelnd einwirkt, zur Ausbildung der körper-
lichen Anlagen, die in hohem Grade vorausgesetzt werden, die Gymna-
stik , durch die zugleich der Mut gestärkt werden soll. Doch soll keines
von beiden Bildungsmitteln ausschlieszlich gebraucht werden ; denn wer
allein die musische Kunst treibt, wird weichlich, wer allein Gymnastik,
wird roh. Dieser so gebildete Kriegerstand hat im eigenen Staate gewis-
sermaszen eine polizeiliche Thätigkeit; er hat also für Auf rech terhaltung
der bestehenden Ordnung und für die Ausführung der vom Herscherstande
gegebenen Befehle zu sorgen. Doch ist hierbei namentlich als eine Frucht
der Bildung in der musischen Kunst zu erwarten , dasz sich die Strenge
und Härte, die diesem Stand von Haus aus eigen ist, nie in Bohheit
äuszern, sondern dasz sie gemildert und ermäszigt zu einem freundlichen
und humanen Verhalten den Bürgern gegenüber erscheint. Als eigent-
licher Kriegerstand aber tritt dieser Stand den äuszeren Feinden des Staa-
tes gegenüber auf und gegen diese hat er sich in seiner ganzen Furcht-
barkeit zu bewähren. Es soll dieser Stand ohne alles Eigentum sein, um
nicht durch die Sorge um dasselbe von der Erfüllung seiner Pflichten ge-
gen den Staat abgehalten zu werden; er soll lagerartig zusammenwoh-
nen und speisen von einer mäszigen Naturalbesoldung , die ihm der letzte
Stand liefert. Dieser Kriegersland, dem also die Erhaltung des Staates
nach innen und auszen zufällt, bildet gewissermaszen das Bindeglied zwi-
schen der Masse der Unterthanen und dem Herscherstande.
Der Herscherstand selbst entwickelt sich aus dem Kriegerstande.
Diejenigen Krieger, welche die allerfahigsten sind, werden zu einer ge-
wissen Zeit ausgesondert und speciell auf das sorgfältigste erzogen. Dem
Herscherstande kommt die höchste Seelenkraft zu, der voöc, die Ver-
nunft. Die ihm eigentümliche Tugend ist die coqpia, die Weisheit, die
gewissermaszen als ein Gulminationspunkt aller Tugenden anzusehen ist,
mithin alle Tugenden in sich beschlieszt. Während also die beiden unte-
ren Stände nur einzelner Vorzüge teilhaft sind, ist der Herscherstand
schon dadurch hoch über dieselben erhaben, dasz in ihm alle Vorzüge im
höchsten Grade vereinigt sind. Diese Elite der begabtesten und unter-
richtesten Männer widmet alle Sorgfalt ungeteilt dem Wole der Unter-
gebenen ; denn aller Sorge um eigenen Besitz sollen sie, wie der Krieger-
stand, enthoben sein.
Diese drei Stände, die für das platonische Staatsideal am meisten
charakteristisch sind, sind nicht so von' einander geschieden, dasz ein
Uebergang aus dem einen in den* andern nicht möglich wäre. Sie sind
zunächst auf die natürlichen Anlagen der Einzelnen und auf den Erfah-
rungssatz begründet, dasz die Kinder meist nach der Art der Eltern sind.
Doch wie es hiervon Ausnahmen gibt, so sollen Einzelne aus den unteren
Glassen in die oberen herübergenommen werden können, wenn sie die
nötige Befähigung dazu darlegen; ebenso sollen solche, die den oberen
Ständen angehören, unter Umständen degradiert werden können. Jedem
ist also durch die Einreihung in einen gewissen Stand der Kreis seiner
Pflichten bestimmt und klar vorgeschrieben, und hier ergibt sich nun von
selbst, was Plato unter der Gerechtigkeit, der von den vier Cardinal-
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glucklich der Staat, in welchem die Könige Philosophen sind? 417
tugenden der Griechen, auf die er sein Staatsideal basiert, einzig verstehen
kann. Die Gerechtigkeit besteht nemlich nach ihm in nichts Anderem, als
dasz Jeder die Stelle, die ihm angewiesen ist, auch nach allen seinen Kräf-
ten auszufüllen sich bemüht und in keiner Weise in die Thätigkeitssphäre
des Anderen hinübergreift. Hierauf beruht zugleich die Glückseligkeit
jedes Einzelnen , wie des Ganzen. Denn alle Stände sollen sich glücklich
fühlen, nicht einer vor den andern. Das Glück eines Jeden besteht aber
darin, dasz ihm Gelegenheit zur Entfaltung der in ihm liegenden Kräfte
verliehen ist. Allerdings ist das Glück der Einzelnen trotzdem noch ein
ungleichartiges; die Herscher werden in anderer Weise glücklich sehr,
als die Handwerker; allein man kann doch Niemandem eine andere und
höhere Glückseligkeit bieten, als die, für welche er empfänglich ist und
wozu ihn seine ganze Weise befähigt.
Dies die Grundzüge des Platonischen Staatsideales. Charakteristisch
ist demselben zunächst, dasz hier der Staat eine grosze Erziehungsanstalt
ist, in welcher Jedem zu der Vollkommenheit verholfen werden soll, die
ihm nach seinen Anlagen zu erreichen möglich ist. Ferner zeichnet er
sich durch eine ungemein entwickelte Gentralisalion aus, wie wir sie in
der Geschichte in Zeiten finden, die sich den höchsten Culturstufen nähern.
Die Herscher sind in diesem Staate das geistige, Alles durchdringende
Princip, die anderen Stände stehen in absoluter Abhängigkeit von ihnen;
sie leiten das gesamte Erziehungswesen , unter ihrer Aufsicht wird jede
Kunst und Wissenschaft getrieben und geübt. Da das gesamte Staats-
wesen hiernach in dem Herscherstande gipfelt, so ist es natürlich, dasz
Plato über seine Stellung und Bildung so eingehend spricht,, dasz der
Schilderung desselben der ganze zweite Teil des Werkes vom Staate ge-
widmet ist.
Zunächst spricht es Plato ganz offen aus , dasz diejenigen , die er an
die Spitze seines Staates gestellt wissen will, also die Herscher, Niemand
Anders sind, als die Philosophen. Es fragt sich also, was er darunter
versteht. OlXocoqna ist, übersetzt, Studium sapientiae, Liebe zur Weis-
heit. Wenn nun einerseits Liebe zu etwas der Trieb ist, der einzig dar-
auf ausgeht, sich das anzueignen, worauf er gerichtet ist, so ist Weisheit
andererseits die Erkenntnis dessen , was in dieser Welt wechselnder Ge-
stalten das unverändert Bleibende ist, dessen, was im Gegensatz zu dem,
was zu sein scheint, wirklich ist. Wer also die Dinge nimmt, wie sie
uns nun eben erscheinen, ohne sich daran zu kehren, dasz sie heute diese,
morgen jene Gestalt annehmen, der ist kein qnXöcocpoc, sondern ein
qnXoboSoc ; denn er bleibt bei der öö£a, beim bloszen Meinen, stehen,
das allerdings wahr, aber auch falsch sein kann, wie sein Gegenstand,
die Erscheinungswelt, eben auch zwischen dem Seienden und dem Nicht-
seienden in der Mitte liegt. Ein Philosoph kann also nach Plato nur der-
jenige genannt werden, der nach Weisheit, coqna, strebt, nach dem
Wissen, „welches dem Bereiche des Irtums entnommen ist; Object der
Weisheit aber kann in Folge dessen nur das sein, was den erscheinenden
Dingen zu Grunde liegt, was sich, während die Dinge wandelbar sind, un-
veränderlich als dasselbe darstellt.
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418 Wohlrab: Was hal PJato unter den Worten verstanden:
Das aber , was in die unendlich vielgestaltige Welt Einheit bringt,
in dem Wechselvollen das Bleibende ist , in dem Scheinenden das Seiende,
sind die Ideen d. h. zunächst die allgemeinsten Art- und Gattungsbegriffe.
Man gelangt zu denselben dadurch , dasz man , was in der Erscheinungs-
welt wesentliche Eigenschaften unter sich gemein hat, zu der Einheit
eines Begriffes verbindet. Nach der gewöhnlichen Auffassungsweise sind
diese begrifflichen Einheiten ein blosz Gedachtes, nichts Reelles, weil sie
nur in unsern Köpfen existieren, während die Mannichfaltigkeit der Dinge,
von denen sie abstrahiert sind, der wirklichen Welt angehört, Realität
hat. Plato dreht das Verhältnis vollständig um; ihm sind die Ideen
das Wirkliche, die Dinge nur die Darstellungsformen derselben in der
Körperwelt. Der Grund hierfür liegt nahe. Plato fragt, wie eigentlich
alle griechischen Philosophen von Thaies an, was das Bleibende im Wech-
sel ist, und identifiziert dieses mit dem Seienden, dem wahrhaft Realen.
Consequenter Weise erklärt er nun die Ideen, diese allgemeinsten Begriffe,
dafür; denn sie sind allerdings von Anfang an bis heute immer dieselben
geblieben, sind unzerstörbar und unverwüstlich gegenüber den der Ver-
gänglichkeit anheimfallenden Einzelwesen, aus denen sie construiert sind.
So ist — um nur ein Beispiel anzuführen — die Idee eines Baumes von
den ersten Zeiten an, wo es Bäume gab, bis heute immer dieselbe ge-
blieben, während die Bäume selbst in unabsehbarer Menge entstanden und
immer wieder vergangen sind.
Wenn so die Ideen begriffliche Einheiten sind, die eine Vielheit von
Erscheinungen unter sich befassen , so gibt es dann wieder in der Weit
der Ideen einen gewissen Organismus, wonach höhere Ideen eine Mehr-
heit niederer in sich schlieszen. So gelangt man stufenweise zuletzt zu
einer höchsten Idee , in der Alles gipfelt. Diese ist die Idee des Guten.
Plato führt für dieses Verhältnis aus dem Gebiete des Geistigen ein ent-
sprechendes aus dem Gebiete des Sinnlichen an. Mit den Augen sehen
wir die Dinge; die Sichtbarkeit der Dinge wird vermittelt durch das Licht;
das Licht aber geht aus von der Sonne. In ähnlicher Weise erkennen
wir mit der Vernunft die Erscheinungswelt; dieses Erkennen wird vermit-
telt durch die Ideen, die Ideen erfassen wir aber nur vermöge ihrer Er-
leuchtung durch die höchste Idee, die Idee des Guten. Wenn also die
Ideen zunächst das Licht, das geistige Medium, sind, durch welches wir
allein die Erscheinungswelt richtig erfassen , so sind sie doch selbst noch
nicht das Höchste , sondern erst ein Ausflusz des Höchsten x der Idee des
Guten; sie verhalten sich also zur Idee des Guten, wie das Licht zur
Sonne. Wie nun die Sonne den Erdendingen auszer ihrer Wahrnehm-
barkeit durchs Auge erst Werden und Wachsen verleiht f so gibt die Idee
des Guten den übrigen Ideen nicht blosz die Möglichkeit erkannt zu wer-
den, sondern auch das Sein selbst, die Realität. Die Idee des Guten be-
faszt also zweierlei in sich: sie ist einerseits der Träger der höchsten
Erkenntnis, andrerseits aber der letzte Grund alles wahrhaft Realen, und
Jeder wird hiernach leicht ahnen können, dasz sie überhaupt nichts ist,
als die philosophische Bezeichnung, die.Plato für die Gottheit selbst hat.
Unter dem Guten aber hat man in diesem Sinne nicht allein das moralisch
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glücklich der Slaat, in welchem die Könige Philosophen sind? 419
Gute zu verstehen, sondern man hat es im allgemeinsten Sinne zu fassen,
so dasz das moralisch Gute oder die Tugend, wie das Gerechte und
Schöne, nur Teile desselben sind. Dasz aber das Gute in diesem Sinne
das Höchste ist, was es gibt, geht schon daraus hervor, dasz jeder
Mensch wenigstens nach dem Scheine desselben strebt, also wenigstens
in dunkler Ahnung jener Idee nachgeht.
Um diese dreifache Abstufung, welche zwischen der Erscheinungs-
welt, den Ideen und der Idee des Guten stattfindet, zu veranschaulichen,
braucht Plato das bekannte Gleichnis von der Höhle. Man denke sich eine
unterirdische Höhle , in welche kein Strahl der Sonne dringen kann , die
nur matt erleuchtet ist ; man denke sich Menschen , die sich von jeher in
derselben befunden hätten. Diese würden offenbar die Schattenbilder, die
von vorübergetragenen Gegenständen in diesen Kerker fielen, für die Dinge .
selbst halten. Sie würden von diesem Wahne erst befreit werden, wenn
sie aus dieser Höhle herausträten und die Dinge selbst, vom Sonnenlicht
erleuchtet, sähen. In einem solchen Kerker befindet sich nun der Mensch,
so lange er auf Erden ist. Wer also die Erdendinge für wirklich hält,
gleicht dem Höhlenbewohner , der die Schattenbilder für die Dinge selbst
nahm. Die Erdendinge, die erst auf der dritten Stufe von der höchsten
Idee aus stehen , sind mithin nur irdische Darstellungsformen der Ideen,
die Ideen selbst werden wir in einem höheren Dasein erst erblicken und
ebenso die Idee des Guten, die Sonne dieser idealen Welt. Gewis eine
Auffassung der Dinge , der ein hoher poetischer Reiz inwohnt. Hat doch
ein neuerer Dichter sich zu derselben Anschauungsweise in folgenden
Versen bekannt :
Was da lebt auf dem Ringe,
Was da webt auf der Flur,
Abbild ewiger Dinge
Ist es dem Schauenden nur.
Dieser erhabenen Anschauungsweise , wie wir sie eben zu schildern
versuchten , ist nach Plato nur der wahre Philosoph fähig und teilhaft.
Er aliein trägt also , wie überhaupt das wahre Wissen , so speciell das
Urbild des Staates, wie er sein musz, in seiner Seele. Man musz ihn also
an die Spitze stellen, äamit er die Welt nach demselben gestalte. Nur er
vermag das ; denn nur er besitzt die Weisheil und mit ihr die Totalität
der Tugenden; in der Weisheit ist ja jede Tugend mit enthalten. Dem
Weisen kann die Besonnenheit nicht fehlen, da das Streben nach dem
Wahren, das ihn ganz beseelt, jede niedere Begierde erstickt; er musz
Tapferkeit besitzen , da er bei seinem umfassenden Blick über das Ganze
weisz , wie wenig das Erdenleben eines Einzelnen besagen will, wie eng-
herzig es also ist, Todesfurcht zu hegen. Ebenso kann ihm die Gerechtig-
keit nicht fremd sein, da er die Grundbedingung des Staatsorganismus
am besten kennt, wonach Jeder zunächst seine Stelle ausfüllen musz, den
Anderen aber nicht beeinträchtigen darf.
Aber woher kommt es nun, dasz die Philosophen gerade beim Volke
nicht im besten Ansehen stehen, dasz das Volk nicht nur nicht geneigt
ist, ihnen die Herschaft anzuvertrauen, sondern dasz es sogar Jeden vor
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420 Wohlrab : Was hat Plato unter den Worten verstanden :
ihnen warnt, ja sie verfolgt? Plato gibt hier ohne Weiteres zu, dasz
philosophische Naturen in den gewöhnlichen Staaten entweder unpraktisch
oder sittlich verderbt sind , allein nach seiner Ansieht ist das nicht ihre
Schuld, sondern die jener Staaten selbst. Nicht die Afterphilosophen
verderben das Volk, sondern vielmehr umgedreht, das Volk verdirbt meist
die wirklich philosophisch angelegten Naturen, so dasz diese schlieszlich
nur das Echo der Volksmeinung sind. Da das Volk nemlich von der wah-
ren Philosophie nichts versteht, hält es philosophisch begabte Jünglinge
davon ab und leitet sie in Bahnen, wo alle Lockungen des Ehrgeizes und
des Glanzes der äuszeren Güter auf sie einwirken. Dadurch werden sie
ihrem wahren Berufe entfremdet und lassen sich zur Verwaltung des
verderbten Staates bestimmen. Plato denkt hierbei offenbar an Alkibiades,
den hochbegabten Liebling des Sokrates, der eine so verhängnisvolle Rolle
in der Geschichte seines Vaterlandes gespielt hat. Wenn so durch das
Volk die Philosophie ihrer besten Jünger und Pfleger beraubt wird , tre-
ten unberufene Geister an deren Stelle. Diese werden Sophisten , welche
die unwissende Menge für die wahren Philosophen hält und die eigentlich
die Philosophie in Verruf bringen. Und so bleiben nur noch wenige
wahre Philosophen übrig, die dann, um ihrem wahren Berufe treu zu
sein und sich für ihre höhere Heimat, das Jenseits, vorbereiten zu kön-
nen, sich von der Verwaltung der Staaten, wie sie eben sind, zurückzie-
hen , eben darum aber auch nicht das Höchste erreichen , was nur durch
die Leitung eines tüchtigen Staates möglich wäre. Da es aber nach Plato's
Ansicht einige wahre Philosophen noch gibt, so ist die Ausführung des
Staatsideals immerhin noch als möglich anzusehen.
Wir haben somit das Bild eines Philosophen entworfen, wie ihn sich
Plato geschickt denkt zur Leitung eines Staatswesens. Es fragt sich nur
noch, wie ein solcher Philosoph wird, wie er zu erziehen ist. Plato ver-
langt, dasz in den Jahren, in welchen der Körper noch in seiner Entwick-
lung begriffen ist und diese Entwicklung vor der geistigen vorwiegt, die
Erziehung eine entsprechende sei , dasz also zunächst für eine tüchtige
Ausbildung des Körpers gesorgt werde, damit dieser hernach beim wis-
senschaftlichen Studium seinen Dienst nicht versage. Zu diesem Behufe
ist die musisch-gymnastische Erziehung anzuwenden. Beginnt dann der
Geist zu reifen, so musz dieser eifriger geübt werden ; es nimmt der wis-
senschaftliche Gursus seinen Anfang , in dem die mathematischen Wissen-
schaften den ersten Baug einnehmen. Wer sich hierbei so bewährt hat,
dasz er in Allem leicht folgen konnte, tritt dann in die höchste Erziehung«
classe ein , in welcher der Unterricht streng philosophisch ist. Ist diese
Erziehung im fünfunddreiszigsten Lebensjahre vollendet , so haben sich
diese Männer bis zum fünfzigsten Jahre in Feldherrnstellen und Staats-
ämtern zu bewähren. Wenn dann der Körper dafür zu schwach gewor-
den ist, der Geist aber zur höchsteu Reife gelangt, dann erst ist man
fähig in das eigentliche Herschercoilegium aufgenommen zu werden und
zu gleicher Zeit im Höchsten von Allen, in der Philosophie, etwas Selb-
ständiges zu leisten; erst dann soll man sich derselben ausschlieszlich
widmen. So geht die Entwicklung des Körpers und des Geistes den ent-
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glucklich der Staat, in welchem die Könige Philosophen sind? 421
gegengesetzten Gang. Das allmähliche Sterben des Philosophen mitten
im Erdendasein, die allmähliche Ablösung vom Körperlichen bereitet
vor zur höchsten Stufe der Entwickelung , zum Leben im Jenseits.
So steht der Philosoph als Herscher im platonischen Staate in seiner
idealen Grösze vor uns, ein Mann, dem Tiefe der Erkenntnis ebenso eigen
ist, als er sich im Leben bewährt hat, in dem Wissen, wie Können in der
höchsten menschenmöglichen Potenz vereinigt sind. Es ist so natürlich,
sich den Ersten im Staate auch als den Grösten, als den Träger aller
Vorzuge zu denken. Ebenso natürlich ist es, dasz Jeder dieses Ideal eines
grösten Menschen nach seiner individuellen Richtung sich gestaltet, dasz
es mithin dem Plato identisch war mit dem Bilde, das er sich von dem
wahren Philosophen macht. Dasz aber ein philosophischer Zug wahre
Herschergrösze nicht beeinträchtige , dafür fehlt es an Belegen in der Ge-
schichte nicht. Der Biograph Plutarch wird nicht nur bei Numa Pompi-
lius an das platonische Wort erinnert, dasz nur die Staaten glücklich
seien , in denen die Philosophen das Scepter führen , sondern auch bei
Cicero 5 der Plato's Schriften so eifrig gelesen hat. Vielleicht mit noch
gröszerem Rechte haben gleichfalls schon die Alten darauf hingewiesen,
dasz das platonische Ideal eines Herschers wenigstens annähernd verwirk-
licht sei in Mark Aurel , dem römischen Kaiser , der seiner Beschäftigung
mit der Philosophie den Beinamen phiiosophus verdankt , den aber diese
Beschäftigung zur Ausübung jeder Herschertugend nicht untauglich ge-
macht hat.
Dies,e idealen Herschergestalten , wie Plato sie uns zeichnet, wie sie
in der Geschichte, wenn auch selten genug uns entgegentreten, sind zwar
von uns, liebe Schüler, und unseren Verhältnissen schon äuszerlich durch
eine ungeheuere Kluft getrennt, aber doch nicht so getrennt, dasz wir
uns von ihrer Grösze gar nichts aneignen könnten. Sind doch im Grunde
die Vorzüge, welche die Herschergrösze bedingen, wesentlich keine ande-
ren, als die, welche jeden Menschen in jedem Stande zieren. Es hat Jeder
von uns in seiner Stellung ein Reich, in dem er mit Einsicht und Treue
walten soll. Dasz dieses Reich, das wir unser nennen, äuszerlich viel-
leicht beschränkt und unansehnlich ist, soll uns nicht beirren. Denn es
kommt nicht so sehr darauf an, ob ein Amt grosz oder klein sei, als viel-
mehr auf die Treue, mit der wir seiner warten, auf den Sinn, in dem wir
es führen. Es haben schon Viele grösze Aemter gehabt und sie in klein-
lichem Geiste verwaltet und Alles schlecht gemacht, und wiederum hat
Mancher in einem kleinen Amte einen groszen Sinn bewährt und weithin
segensreich gewirkt.
Dies gilt nicht blosz, liebe Schüler, von dem Berufe, dem ihr euer
späteres Leben bestimmt habt, es gilt schon von der Stellung, die ihr jetzt
einnehmt. Ihr seid jetzt in dem Stadium der allgemeinen Vorbildung für
die Lebensstellung, die ihr später einzunehmen gedenkt. Das Gymnasium,
diese Ringschule des Geistes, bietet dazu Gelegenheit, wie kaum andere
Schulanstalten, da es zu einer harmonischen Entwicklung aller dem Men-
schen verliehenen Kräfte die besten und umfassendsten Mittel hat, nicht*
wie andere Schulen, vorhersehend einzelne Kräfte übt. ^ Wenn ihr also,
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422 Herbst : historisches Hülfsbuch für die oberen Classen usw.
jede einseitige Neigung bekämpfend, in allen Zweigen des euch gebotenen
Unterrichtes euch tüchtig bewährt, so seid ihr sicher, dasz ihr die Vor-
bedingungen für ein specielles Gebiet, dem ihr euch in der Folge widmen
wollt, in euch vereinigt, seid ihr sicher, dasz ihr später im Organismus
des Staatslebens kein verwerfliches und unnützes Glied bildet. Nur da-
durch also, dasz ihr eure jetzige Stellung, so untergeordnet sie nach
Auszen erscheinen mag, richtig erfaszt und ausfüllt, bildet ihr euch zu-
gleich zu echten Patrioten heran. Denn nicht nur mit dem Schwerte in
der Hand bewährt man Patriotismus — dann könnte er nicht von Jedem
und nicht zu jeder Zeit bewährt werden — nein, ebenso ehrenwerth ist
der Patriotismus, welchen Jeder bethätigt, indem er treu und fest auf
dem Posten steht, den ihm das Vaterland anweist. Und so wollen wir es
uns heute wieder geloben, dasz wir, Jeder an seiner Stelle, das Unsere
thun wollen, wie wir können. So erweisen wir dem theuren Vaterlande
Dank und Liebe , so dienen wir am besteh unserem huldreichen Könige,
den Gott noch lange uns erhalten möge.
33.
Historisches Hülfsbuch für die oberen Classen von Gymnasien
und Realschulen. HL Neuere Geschichte. Von W. Herbst,
Director des Friedrich- Wilhelms -Gymnasiums zu Cöln. Mainz
1864. 131 S. gr. 8. Preis 16 Sgr.
Die Hülfsbücher für den historischen Unterricht bilden bekanntlich
längst eine ansehnliche Bibliothek, welche mit jedem Jahre wächst, und
wirklich ist das historische Hülfsbuch wie es sein soll, eine der schwie-
rigsten didaktisch-pädagogischen Aufgaben , deren Lösung man aber doch
allmählich von verschiedenen Seiten näher rückt. Einen sehr bedeutenden
Fortschritt nach dem Ziele dürfen wir in dem vorliegenden Werke, des-
sen dritter , die neuere Geschichte seit der Reformation umfassende Teil
zuerst erscheint, unzweifelhaft erkennen. Für die wenigen Lehrer der
Geschichte an Gymnasien und Realschulen, welche den gesamten Stoff der
neueren Geschichte selbständig durchgearbeitet haben , wird freilich am
Ende jede Einteilung, die nicht die ihre ist, eLwas Beengendes haben, und
sie werden am liebsten nur eine tabellarische Uebersicht in den Händen
der Schüler sehen : für die weitaus gröszere Mehrzahl der Lehrer dagegen,
welche ohne längere Studien an den Stoff herantreten, und mit ihnen also
für die Masse der Schüler ist mit diesem neuen Lehrbuch ein Hülfsmittel
geschaffen , das wichtige Vorzüge vor den meisten seiner Vorgänger vor-
aus hat.
Der Verfasser, auf 14jährige Erfahrung an fünf verschiedenen vater-
ländischen Schulen gestützt, will dem Lehrer eine Hülfe bieten, die ihn
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Herbst : historisches Hülfsbuch für die oberen Classen usw. 423
nicht, wie so manche andere, dem Lehrbuch gegenüber zu einer völlig
untergeordneten Rolle verdammt. Dem Schüler soll das Buch an den aus
fuhrlichen Vortrag erinnernd, eine breite und sichere Grundlage der Re-
petition geben, und sein Text besteht daher *ohne für sich etwas darstel-
len zu wollen5 abwechselnd aus Satzfragmenten, ausgeführten Sätzen,
einzelnen Worten, etwa so wie ein in Wirklichkeit bekanntlich nicht
existierender Idealprimaner den wolgeordneten Vortrag des Lehrers in ein
gleichfalls in Wirklichkeit nicht existierendes Idealmanuscript eintragen
würde. Den Hauptnachdruck legt der Verfasser auf die Klarheit der Dispo-
sition, und das Buch ist demnach auch bis ins Detail hinaus sorgfältig,
und setzen wir hinzu , geschickt gegliedert : durch die knappe Form , das
höchst verständige Verzichtleisten auf stilistische Ausführung ist es in
den Stand gesetzt , ein verhäMtnismäszig weit reicheres Detail zu bieten,
als ähnliche Bücher, und in dieser Beziehung sind neben der sorgfältigen
Behandlung der Ortsbezeichnungen besonders die durch kleineren Druck
bemerkbaren, je am passenden Orte eingestreuten Biographien (im
Ganzen 36) rühmend hervorzuheben. Dagegen ist das culturhistorische
Material mit Recht ausgeschlossen , da es für den Schüler zu weit führen
würde und eine Reife des Urteils, eine genaue Kenntnis der Ereignisse
schon voraussetzt, welche der historische Unterricht, der ohnehin schon
schwerbelastet , erst schaffen soll. Eine nähere Darlegung dieser Grund-
sätze zugleich mit seinen Ansichten über den ganzen Unterrichtszweig
verspricht der Verf. für einen der demnächst erscheinenden Teile, wo er
auch die Frage erörtern wird, ob die neuere Geschichte überhaupt auf
Gymnasien zuzulassen sei: möge es ihm dort gelingen, diese müszige
Frage, die' nur ein abstracter Gymnasialidealismus aufwerfen kann, gründ-
lich abzuthun.
Diese Grundsätze der Vorrede erscheinen uns durchaus verständlich
und sie sind in dem Buche consequent und gut durchgeführt. Der Text
ist, trotz der unausgeführten Sätze, überall vollkommen deutlich, correct
(mit Ausnahme etwa der fkaum geborenen Tochter Maria Stuart* S. 47),
dem Schüler, nachdem der erläuternde Vortrag dazu gekommen, sicher
nirgends unverständlich. Die Darstellung ist rein sachlich gehalten, so
dasz es unbedenklich an paritätischen und selbst an rein katholischen
Schulen verwendet werden kann ; in den Thatsachen haben wir es durch-
aus sorgfältig gefunden : nur zwei nennenswerthe Versehen sind uns auf-
gestoszen. Ludwig XIV. wird S. 68 cvon hoher Gestalt' genannt, wäh-
rend ihm selbst der eifrigste Legitimist wenig über 6 Fusz geben kann,
und der Herzog von Braunschweig , der unglückliche Feldherr von 1792
und 1806 ist nicht, wie der Verf. S. 107 sagt, cder Sieger von Crefeld und
Minden im 7jährigen Krieg' ; er ist der im 7jährigen Krieg allerdings mit
Ehren genannte 'Erbprinz5, hat bei Crefeld zum Siege wesentlich mit bei-
getragen, war aber bei Minden, soviel Ref. weisz, nicht zugegen. Sieger
von Crefeld und Minden ist Herzog Ferdinand von Braunschweig, der
vierte Sohn des regierenden Herzogs Ferdinand Albrecht II. ; er ist eben
in jenem Jahr des Feldzugs in der Champagne gestorben. Um hier noch
eine äuszere Kleinigkeit zu erwähnen, so findet sich S. 55 eine Ver-
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424 Herbst: historisches Hülfsbueh für die oberen Classen usw.
schwendung leeren Raumes , welche bei einem solchen Buche nicht wol
angebracht ist.
Das Wichtigste und für manchen Lehrer geradezu Entscheidende an
einem solchem Buche ist die Anordnung , welche wir deshalb nach ihren
Hauptzügen mitteilen. Der Verf. teilt den Stoff in 3 Perioden: Zeitalter
der Reformation; Zeitalter der absoluten Monarchie; Zeitalter der Revo-
lution. Der erste dieser 3 Hauptabschnitte gibt in 4 Unterabschnitten die
Geschichte der Reformation in Deutschland bis 1555; denAb-
fall der vereinigten Niederlande von 1559 — 1609; den 3 0 j ä h -
rigen Krieg bis 1648; die englisclie-Revolution bis 1689; der
zweite Hauptabschnitt (abs. Monarchie) in 3 Abteilungen und Unterab-
schnitten das Zeitalter Ludwigs XIV. 1661 — 1715; das' Zeitalter
Petcr's des Groszen 1689 — 1725; das Zeitalter Friedrich' s des
Groszen 1740 — 86; der dritte endlich, gleichfalls in 3 Unterabschnitten
Frankreich in den letzten Zeiten des Königtums und als
Republik 1789—1804; Frankreich als Kaiserreich — 1812; den
deutschen und europäischen Freiheitskampf gegen Frank-
reich (richtiger vielleicht gegen Napoleon) 1813 — 1815. Mit dem letz-
tern Jahre schlieszt der Verf. und zwar mit wolbewuster Absicht. Die
Gliederung geht dann weiter ins Einzelne, und diese weitere Gliederung
erscheint uns fast überall als praktisch und wolgelungen : zur Charakteri-
stik der Anordnung bemerken wir noch, dasz der Verf. überall die groszen
Hauptactionen durch ein vorauf gesandtes caus der Vorgeschichte' dem
Verständnis zu erleichtern sucht , also die Geschichte Englands von 1509
— 1642 z. B. unmittelbar vor den Abschnitt über die englische Revolution
rückt; die Geschichte Frankreichs vom Frieden von Chateau-Cambresis
(1559) ab unmittelbar vor 'das Zeitalter, Ludwigs XIV.'; den Abfall der
amerikanischen Golonien unmittelbar vor den ersten Abschnitt der dritten
Hauptperiode usw. : ein Verfahren, dem es für ein Schulbuch an zutreffen-
den Gründen nicht fehlen kann.
Irren wir nicht , so gibt es zwei Wege , auf denen die auf weilen
Räumen spielende, tausendfältig in einander sich verschlingende Geschichte
des neueren Europa Schülern der höheren Classen zu Verständnis und
sicherem Ueberblick gebracht werden kann. Entweder man steckt das
ganze Gebiet mit thunlichster Schärfe nach Zeiträumen und Unterzeit-
räumen mit ganz bestimmten Anfangs- und Schluszzahlen ab und behan-
delt innerhalb derselben die Geschichte der einzelnen Länder nach der
Reihenfolge ihrer Wichtigkeit für die einzelnen Epochen oder sonslwel-
eben verständigen Gesichtspunkten, indem man es zugleich den (didak-
tischen und katechetischen) Repetitionen überläszt, den Zusammenhang
z. B. der englischen Revolution mit dem Ganzen der neueren Geschichte
Englands klar zu stellen : o d e r man sucht die Geschichte gröszerer Coni-
plexe von Ereignissen z. B. die englische Entwicklung von 1509—1689,
die französische von Heinrich II. bis- Ludwig XIV. in ununterbrochener
Darstellung zu bewältigen und mag dann bei den Repetionen jener syn-
chronistischen Erkenntnis der einzelnen Zeiträume einige Rechnung tra-
gen. Die Disposition des Verf. scheint uns auf dieser letzteren Methode
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Herbst : historisches Hülfsbuch für die oberen Glassen usw. 425
zu beruhen und sie hat ohne Zweifel für den Unterricht grosze Vorzöge.
Der Schüler erhält in diesem Buche und nach diesem Wege die Geschichte
der niederländischen Unruhen, die Geschichte Englands von Heinrich VIII.
bis Wilhelm von Oranien, die Entwicklung der französischen Monarchie
von Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1517 in ihrem ganzen Zusammenhang:
dies gibt, wenn der Lehrer einigermaszen seine Pflicht erfüllt, eine si-
chere Grundlage bestimmter Kenntnisse, nach welcher wir vor Allem sire-
ben müssen: es vereinfacht und verlieft den Unterricht, indem es den
Schüler zwingt, längere Zeit seine Gedanken auf einen Gegenstand, einen
Ideenkreis , ein Land zu richten. Aber freilich hat es auch seine unver-
kennbaren Nachteile. Es erschwert z. B. die Einprägung der Hauplzahlen,
wie denn das vorliegende Buch (an sich freilich ganz wahr) für die drei
Hauptepochen gar keine bestimmten Anfangs - und Schluszzahlen nennt,
die erste Periode für Spanien und die Niederlände bis 1609, für Deutsch-
land bis 1648, für England bis 1689 gehen läszt oder wenigstens beim
Schüler diesen Schein erweckt; innerhalb des zweiten Hauptteils dann
wieder das Zeilalter Ludwig's XIV. mit 1661 beginnen läszt und die seit-
herige Entwicklung Frankreichs als Vorgeschichte dieses Zeitalters abhan-
delt, so dasz also während des ganzen ersten Zeitraums, zu dessen Cha-
rakteristik sie wesentlich gehören, der Hugenottenkämpfe, des
30jährigen Krieges der Franzosen kaum gedacht ist, wodurch auch für
das Verständnis des spanisch-niederländischen Kampfes ein wesentliches
Moment verloren geht. Freilich werden dergleichen Mängel von jeder
Disposition über einen so unermeszlichen und widerstrebenden Stoff, wie
die neuere Geschichte fast unzertrennlich sein, und wir beabsichtigen
nicht, der woldurchdachten und mit gröstem Fleisz durchgeführten An-
ordnung des *Hülfsbuchs' damit einen Vorwurf zu machen. Im Allge-
meinen gestehen wir allerdings mehr für den ersten jener Wege gestimmt
zu sein, dessen Schwierigkeiten freilich auch grosz genug sind und sich
nur durch Klarheit des Vortrags und fleiszige Repetition überwinden las-
sen. Nur zur Vergleichung der beiden Wege stellen wir hier eine Dispo-
sition auf, welche sich dem Ref. bei wiederholter Behandlung des Gegen-
standes ergeben hat : zur Erläuterung bemerken wir, dasz die Schlusz- und
Anfangszahlen innerhalb der Geschichte der einzelnen Länder natürlich
nicht absolut zu respectierende Grenzmarken sind, und dasz die Vor-
aussetzung eines fruchtbaren Unterrichts nach dieser Disposition die ist,
dasz jedem der drei groszen Zeiträume, in deren Annahme Ref. mit Hrn.
Herbst übereinstimmt, eine geographisch-territoriale Uebersicht vorauf-
gehe und eine Repetition nach den einzelnen (Haupt-) Ländern während
des ganzen Zeitraums ohne Berücksichtigung der Unterabschnitte nach-
folge.
I. 1517 — 1648. Die Zeit der Religionskämpfe.
(Geographisch-territoriale Uebersicht: Europa zu Anfang des 16. Jh.)
1) 1517 — 1555. a) Deutschland bis 1555, b) Spanien und Frankreich
(bis 1559, Chateau-Cambresis), c) England (bis 1558, Elisabeth's Regie-
rungsantritt), d) allgemeine Uebersicht über die Verbreitung der prote-
stantischen Ideen in den übrigen Ländern.
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426 Herbst: historisches Hülfsbuch für die oberen Gassen usw.
2) 1555 — 1618. a) Italien und Allgemeines über Stellung des Katho-
licismus, b) Spanien und die Niederlande, c) England (entweder bis 1603
oder 1625) , d) Frankreich ,' e) Deutschland.
3) 1618—1648. a) Der 30jährige Krieg (Deutschland), b) die eng-
lische Revolution (bis zum Tod des Königs 1649), c) Uebersicht der Resul-
tate des Zeitabschnitts für die verschiedenen Länder.
Repetition des ganzen Zeitraums nach den einzelnen Ländern ohne
Berücksichtigung der Unterabschnitte 1. 2. 3.
II. 1648—1789. Die Zeiten der absolutistischen Politik.
Geographisch- territoriale Uebersicht: Europa in der Mitte des 17. Jh.
1) 1648 — 1701. a) Frankreich , b) England und die Niederlande (bis
zum Tod Wilhelm's von Oranien), c) Deutschland und der Osten, d) Schwe-
den und der Norden.
2) 1701- — 1740. a) Der spanische Erbfolgekrieg, b) der nordische
Krieg, c) Folgen dieser Kriege und weitere Entwicklung der einzelnen
Mächte bis 1740.
3) 1740 — 1789. a) Deutschland, b) Ruszland und der Norden, c) Eng-
land und seine Golonien , d) Frankreich.
Repetition des ganzen Zeitraums wie oben.
III. 1789 bis zur Gegenwart. Das Zeitalter der Revolution.
1) 1789—1815. a) 1789—1799 französische Revolution, b) 1799—
1812 die Monarchie Napoleons, c) 1812 — 1815 die Befreiungskriege.
lf) lIK ^ Gegenwart.]! FaUeD für * *** we*
/Repetition wie oben, wobei bei den einzelnen Ländern die Haupt-
momente ihrer Geschiente seit 1815 und nur diese ohne ausführliche
Darstellung vorgeführt werden.
Wir geben diese Disposition nur als Probe; wollten wir sie im Ein-
zelnen ausgearbeitet vorlegen, so würde ein eigenes Lehrbuch" daraus,
welches zu schreiben nicht in unserer Absicht liegt, um so weniger, je
mehr wir von den Vorzügen des vorliegenden durchdrungen sind. Dasz
der Verf. mit 1815 schiieszt, billigen wir; nur hätten wir gern etwa in
der Einleitung erwähnt gesehen , dasz der bewegliche Endpunkt neuerer
Geschichte der jedesmalige Augenblick der Gegenwart sei, dasz der Strom
der Geschichte wie die groszen Ströme in der Natur an seiner Mündung
immer neues Land ansetze, dessen künftige Geschichtsschreibung sich
dann bemächtige: und für eine weitere Auflage möchte sich vielleicht we-
nigstens eine kurze Aufzählung der seit 1815 erfolgten territorialen
Veränderungen empfehlen. Wir empfehlen damit dieses Hülfsbuch, in
welchem der Verf. den schwierigsten Teil einer schwierigen Aufgabe in
vielfach neuer, höchst beachtenswerther und, wenigstens nach unserem
Urteil sehr wolgelungener Weise gelöst hat, fleisziger Prüfung und fleiszi-
gem Gebrauche. Wir erkennen in dem vorliegenden Teile eine Bürgschaft
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 427
*D
für die beiden noch ausstehenden , denen wir mit Verlangen entgegen-
sehen und von denen wir das Beste hoffen dürfen , da der Verf. sich des
Stoffes völlig Herr zeigt, seine Gedanken an langer Erfahrung hat reifen
lassen und ebendeshalb, was ein besonderer Vorzug dieses Buches ist, ge-
nau weisz was er will. Dies verleiht dem ganzen Buche den Charakter
der Bestimmtheit und Sicherheit, und damit wir seinen grösten Vorzug
zuletzt nennen, es zwingt den Schüler und, was da und dort auch nicht
ganz übel ist, den Lehrer zum Denken und zum ernstlichen Studium und
macht seiner ganzen Anlage nach einen blosz thematischen und mecha-
nischen Unterricht zur Unmöglichkeit.
Mors. Jäger.
Kurze 'Anzeigen und Miscellen.
XIII.
Litterarische und culturhistorische Mitteilungen aus Griechenland.
In Smyrna gab es bereits im vorigen Jahrhundert eine sogenannte
'Evangelische Schule' zur Bildung des griechischen Volkes. Sie ward
im Jahre 1733 von vier Griechen errichtet und hat sich trotz mancher
Kämpfe und Anfechtungen bis auf unsere Tage erhalten. Gegenwärtig
steht sie unter der Leitung des gelehrten, litterarisch thätigen und als
tüchtiger Pädagog bewährten Griechen Xanthopulos, und auch seine
Mitarbeiter an dem Werke der Bildung der griechischen Jugend wer-
den wegen ihrer Kenntnisse und ihres Eifers gerühmt.*) Aufgeklärte
und Bildung liebende Smyrnäer unterhalten sie durch ihre Beiträge.
Bei Gelegenheit des Beginns der Prüfungen an der 'Evangelischen
Schule' in Smyrna am 1. Juli 1862 hielt der genannte Xanthopulos eine
Rede, die dann auch in Athen im Druck erschienen ist und eine Ge-
schichte jener Schule enthält.
Neben dieser 'Evangelischen Schule' bestand in früherer Zeit in
Smyrna auch ein Gymnasium, das durch die an ihm als Lehrer ange-
stellten Griechen und durch seine Erfolge unter der griechischen Ju-
gend ebenfalls eines besonderen Rufes sich erfreute. Die griechischen
Einwohner von Smyrna errichteten dieses Gymnasium im Jahre 1810
und beriefen an dasselbe den damals in Wien lebenden, durch deutsche
Wissenschaft gebildeten, namentlich mit der Kantischen Philosophie
vertrauten Konstantin Kumas aus Larissa in Thessalien. Dieser lehrte
dort einige Jahre lang Mathematik, Physik und Philosophie, war 1814
*) Xanthopulos war bisher Lehrer an einem der beiden Gymnasien
in Athen gewesen, wo er zugleich Mitherausgeber der wissenschaft-
lichen Zeitschrift: OiXfcrujp (1861 u. 1862) war. Von ihm erschienen:
TTcpl irouöaYWYiKflc otöacKaXiac (Konstantinopel, 1854) und GeuaTOYpa-
q>ia Ik tj)c CT]U€pivf\c eic xf|v dpxafav £XXnviKr|v (Athen, 1868); auch
hatte er (Athen, 1857) die f Kleine Syntax des attischen Dialekts von
Krüger' übersetzt herausgegeben, und 1848 f. erschien in Athen unter
seiner Redaction die wissenschaftliche Zeitschrift: QiXoXofiKÖc Cuv£k-
örjuoc.
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428 Kurze Anzeigen und Miscellen.
und 1815 Oberlehrer an der von Demetrius Murusis im Jahre 1803 in
Kurutsehesme in Konstantinopel errichteten Nationalschale, kehrte dann
aber wieder nach Smyrna in seine frühere Stellang zurück, in der er aufs
Neue zwei Jahre lang (bis 1817) thätig war. Nachdem er zu wissen-
schaftlichen Zwecken von 1817 — 20 in Wien gewesen war und zum Be-
huf der abermaligen Uebernahme der Lehrerstelle am Gymnasium in
Smyrna unsere deutschen Universitäten besucht hatte, auch schon im
August 1820 nach Smyrna gekommen war, verhinderte der im Frühjahr
1821 erfolgte Ausbruch des griechischen Freiheitkampfes den Antritt
seines Lehramtes, und Kumas gieng damals wieder nach Wien zurück.
Während seines ersten Aufenthalts in Smyrna von 1810 — 13 hatte Ku-
mas auch die beiden Brüder Konstantin und Stephan Oikonomos zu
Lehrern an das dortige Gymnasium berufen,. Erstem für die altgrie-
chische Sprache und Rhetorik, Letztern für Naturgeschichte and Che-
mie. Beide haben sich im Verein mit Kumas durch ihre Vortrage und
ihren Unterricht am Gymnasium zu Smyrna um die Bildung der griechi-
schen Jugend grosze Verdienste erworben.
Auch an andern Orten mit griechischer Bevölkerung, die noch un-
ter der türkischen Herschaft stehen, in Europa und in Asien, zeigt sich
in den griechischen Gemeinden ein reges geistiges Leben. So besitzt
die Stadt Mitylene auf der Insel Lesbos (die jedoch gegenwärtig den
Namen der alten Hauptstadt der Insel angenommen hat) seit mehreren
Jahren eine höhere Schule, die von den dortigen Griechen begründet
worden ist und auch von ihnen unterhalten wird. Diese Schule zählte
im Jahre 1859 bereits hundert Schüler, welche sich zum Besuch der, Uni-
versität in Athen vorbereiten. Bei dieser Schule befindet »sich zugleich
ein Museum und eine Bibliothek, aber gleichwol ist noch alles im Werden
begriffen. Auch eine Schule für Mädchen ist dort errichtet worden, in
der die Töchter der griechischen Familien der Insel hinreichende Bil-
dung und Vorbereitung zum Eintritt in die Mädchenpensionate in Smyrna
und Athen erlangen. Das Diakonissenhaus in Smyrna, das teils wegen
seines verständigen Schulplans, teils wegen seiner prachtvollen Einrich-
tung als eine der besten Erziehungsanstalten der Levante gilt, hat
schon mehrere Zöglinge von Mitylene erhalten, aber besonders richtet
'sich die Sehnsucht der dortigen jungen Mädchen nach den Schulen und
Erziehungsanstalten Athens.
(Fortsetzung folgt.)
Leipzig. Th. Kind,
r
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Zweite Abteilung.
Die prosodische und metrische Messung der Nibelungen-
•tröphe (3). Vom Professor Ed. Olawsky in Lissa . . . 381-398
uakspeare als Schulschriftsteller. (Schulrede.) Von Pro -
ssor Dr. B. Sigismund 398—410
as hat Plato unter den Worten verstanden: glücklich
r Staat, in welchem die Könige Philosophen sind?
<trede von Dr. M. WoMrab, gehalten zur Geburtstags-
v Sr. Majestät des Königs Johann von Sachsen am
-December 1863 in der Kreuzschule zu Dresden . . 411—422
'Z.v. W.Herbst: historisches Hülfsbuch für die oberen
lassen von Gymnasien und Realschulen, in. Neuere
-schichte. Vom Kector Dr. 0. Jäger in Mors .... 422—427
Anzeigen und Miscellen 427-~428
-'• Litterarische und culturhistorische Mitteilungen aus
'echenland. Von Th. Kind in Leipzig 427
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Leipzig,
Druck und Verla? von B. G. Teobner.
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Zweite Abteilung:
für Gymnasialpädagogik und die übrigen Lehrfächer,'
mit Ausschlusz der classischen Philologie,
herungegebei tm Prtfeswr Dr. Heraaia Masias.
9 84.
Zum Gedächtnis Shakspeare's.
.Bede, gehalten am 23. April 1864 im Gymnasium zum h. Kreuz zu Dresden
vom Gymnasiallehrer J. Schöne.
England feiert heute das 300jährige Geburtsfest seines grösten Dich-
ters, Shakspeare's. Nach Stratford, einer kleinen, stillen Stadt am Avon,
• wo der wellbewegende Dichter in dieses Dasein trat, pilgern heute wol Tau-
sende seiner Landsgenossen, mit andächtigem Staunen das einfache Haus
zn betrachten, wo seine Wiege stand ; Millionen Andre aber, denen es ver-
sagt ist, mitzupilgern , sie schauen im Geiste nach jener Stätte, von wel-
cher der grosze Genius ausgieng, dem sie ihre Huldigungen darbringen.
In diesem Augenblicke hallt wol das ganze Land wieder von dem Ruhme
des vaterländisch gesinnten Dichters, des süszen Schwans von Avon, wie
sie ihn nennen, desz kühner Flug auf den Ufern der Themse einst das
Entzücken Elisabeth's und Jacob's war!
Wol hat kein anderes Land so tiefe und reiche Beziehungen zu dem
groszen Dichter, als jenes Land, das ihn geboren, dessen Sprache er
spricht, dessen Geschichte er zur Schau stellt, dessen Sitte und Leben er
in seine Spiele webt, dem er einen nie verwelkenden Kranz gewunden in
jenen Worten, die er dem sterbenden Gaunt auf die Zunge legt:
*Der Königsthron hier, dies gekrönte Eiland,
Dies Land der Majestät, der Sitz des Mars,
Dies zweite Eden , halbe Paradies,
Dies Bollwerk, das Natur sich selbst erbaut,
Der Ansteckung und Hand des Kriegs zu trotzen,
Dies Volk des Segens, diese kleine Welt,
Dies Kleinod, in die Silbersee gefaszt,
Die ihr den Dienst von einer Mauer leistet,
K. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 9. 29
DigitizedbyVjOOQlC
430 Zum Gedächtnis Shakspeare's.
Von einem Graben , der das Land vertheidigt,
Vor weniger beglückter Länder Neid ;
Der segensvolle Fleck, dies Reich, dies England,
Die Amm' und schwangre Schoosz erhabner Fürsten,
An Söhnen stark und glorreich von Geburt ;
So weit vom Haus berühmt für ihre Thaten,
Für Christendienst und echte Ritterschaft,
Als fern im starren Judenthum das Grab
Des Weltheilands liegt, der Jungfrau Sohn:
Dies theure, theure Land so theurer Seelen,
Durch seinen Ruf in aller Welt so theuer —
Allein, wir wissen, grosze Dichter gehören nicht blosz der Nation an, aus
der sie hervortreten, sie gehören der Welt: gerade das, was sie grosz
macht, sprengt die Schranken der Nationalität. Der grosze Glaube und
die grosze Liebe, in denen sie ihre Werke anpflanzen, das, was ihre An-
schauungen und Gedanken verklärt , ihre Rhythmen beflügelt , ihre Worte
beseelt, ihr umfassender Geist, ihre goldenen Sprüche und Lehren, dies
Alles gibt ihnen gleichsam ein Vaterland und eine Sprache; dies macht,
dasz alle Geister ihnen gehorchen ; dies versammelt sie alle in einem ge-
weihten Pantheon , dessen Hallen Jedem offen stehn !
Und dennoch, unter Allen, die sich dem Angesicht des englischen
Dichters heute nähern dürfen , ist sich der Deutsche einer innigeren Ver-
bindung mit demselben bewust, als andere Nationen. Er erinnert sich,
dasz das Volk, aus dem Shakspeare hervortrat, dem germanischen Stamme
angehört, und vernimmt in der Sprache , ja selbst in dem Namen des ge-
waltigen 'Speerschüttlers' auch seiner Sprache Klänge ; er erinnert sich.
dasz die Werke des Briten der Geist der Freiheit durchweht, der von
Wittenberg ausgieng und die romanische Welt zertrümmerte oder er-
schütterte ; er erinnert sich , dasz einst , als er entschlossen seine Muse
dem romanischen Joche entrisz, Shakspeare als ein befreundeter Genius
herzutrat, um hülfreiche Dienste zu leisten.
Oder waren es nicht die genialen Bühnenwerke Shakspeare's, welche
unsern Lessing leiteten, als er den Deutschen in seiner Dramaturgie das
wahre Wesen dramatischer Poesie entwickelte und durch seine fEmilia
Galotti' den unerschütterlichen Grundstein legte zu dem Bau eines eige-
nen tragischen Schauspiels unserer Nation, war es nicht Shakspeare, des-
sen Geist den Dichter des 'Götz* und des 'Egmont'' umschwebte? VVai
nicht der flammende Schiller, als er zornig seine 'Räuber* in die Nation
warf, von dem Zauberstabe Shakspeare's berührt — ja, schauen nicht
selbst aus dem grösten Drama unserer Nation, dem 'Wallenstem* die Zuge
des englischen Dichterheros hervor, dessen historische Stücke der Dichter
las, als er den mächtigen Stoff in seinem Haupte trug?
Doch wahrlich — Deutschland hat nicht blosz empfangen von dem
englischen Dichter, es hat auch gegeben. Sie gestehen es jenseits des
Canals zu, dasz das tiefere Verständnis ihres Dichters den Deutschen zu
danken sei : c Wir hatten hier zu Lande keine nennenswerthe Kritik über
Shakspeare9, sagten sie neulich, 'bevor Lessing und Goethe uns lehrten, ^
Digitized by Vj OOQ IC
/
Zum Gedächtnis Shakspeare's. 431
wie er zr verstehen und zu bewundern sei. Es würde eitel sein, zu be-
haupten , dasz wir selbst jetzt etwas besitzen , was mit den Leistungen
Tieck's, Schlegel's und Gervinus' verglichen werden kann.'
So besteht zwischen Deutschland und Shakspeare das intimste Ver-
hältnis, und ohne Ruhmredigkeit darf es ausgesprochen werden : wir Deut-
schen sind allmählich in dem stammverwandten Dichter heimisch gewor-
den; er ist heimisch geworden unter uns, und wenn es wahr ist, dasz
auf gewisse Weise ein Dichter durch diejenigen, die mit Begeisterung und
Liebe ihn pflegen, selbst empfängt, so hat unser Vaterland nicht unge-
gründeten Anspruch auf die Ehre , welche England selbst ihm zugesteht,
das zweite Vaterland Shakspeare's zu sein.
Und so erfüllt Deutschland eine schöne Pflicht und genieszt zugleich
ein schönes Vorrecht, wenn es mit Freudigkeit der Feier sich anschlieszt,
welche England seinem grösten Dichter heute widmet.
Das Gleiche geschehe von uns, geliebte Schüler. Es ist Keiner unter
uns, den nicht ein Strahl des Geistes getroffen, der von Shakspeare aus-
gieng, Keine*, der nicht einstimmen sollte in die Worte, mit denen einst
der 21jährige Goethe vor seinen Freunden in Straszburg eine Festrede
über Shakspeare einleitete: (die Betrachtung eines einzigen Fusztapfen
dieses Giganten', sagte er, f macht unsre Seele feuriger und gröszer, als
das Angaffen eines tausendfüszigen königlichen Einzugs. Wir ehren heute
das Andenken des grösten Wanderers und thun uns dadurch selbst eine
Ehre an. Von Verdiensten , die wir zu schätzen wissen , haben wir den
Reim in uns.'
Den grösten Wanderer nannte Goethe den englischen Dichter! Wir
nehmen ihn an, diesen auszeichnenden Namen; denn gewis, so lange wir ,
von Beanlagung und Schöpferkraft reden, hat die Welt unter den Men-
schen keinen, den sie ihm an die Seite stellen könnte! 0, dasz wir ein
Bild seiner Wanderschaft hätten ! Aber so klar und vollständig sein Geist
in seinen Werken sich ausprägt , so wenig kennen wir Person und Leben
des Dichters, so wenig läszt sich erkennen, auf welche Weise sein Dasein
in Beziehung stand zu seinen Gedanken oder wie er den Kern seiner sitt-
lichen Natur in Sturm und Drang bewahrte !
Noch bis heute hat die Wissenschaft das mythische Dunkel nicht zu
verscheuchen vermocht , in welches das Leben dieses Zauberers eingehüllt
ist. Kein Document beantwortet uns glaubhaft die Frage: welche Bildung
Shakspeare genossen, keines die : was er bis zu seinem Abgang von Strat-
ford nach London unternommen , keines die : warum er , Weib und Kind
zurücklassend, nach der Hauptstadt sich wandte, keines endlich gibt zu-
verlässige Kunde, was er in den ersten 2 Jahren in London begonnen.
Gewis ist: als 25jähriger Mann betritt er, Miteigentümer des besten Thea-
ters der Hauptstadt geworden , seine glanzvolle künstlerische Laufbahn.
Und schon im ersten Jahre, obwol zunächst nur auf Bearbeitungen
älterer Stücke sich beschränkend, erlangt er solche Erfolge, dasz der ster-
bende Green, der Dichter Heinrich's VI., den so eben Shakspeare bearbeitet
ftatte, seinen Genossen zurief : fSeht da, die mit unsere Federn geschmückte
Krähe, die mit dem prahlt, was sie uns entrisz. Unter der Narren- und
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432 Zum Gedächtnis Shakspeare's.
Liebhaberkappe besitzt er das Herz eines Tigers. Er traut sich so viele
tragische Kraft zu , als nur einer der Besten unter uns besitzt ; er ist ein
wahres Factotum, er glaubt die ganze Bühne aus den Angeln heben und
eine neue Epoche beginnen zu können!'
Was Green's Besorgnis geweissagt, das geschah : in 24 Jahren schuf
Shakspeare 36 Stücke : er stellte die Kyd und Peele und Lodge und Green
und Marlowe alle in Schatten, und als er seine Bahn vollendet, vereinigten
sich alle Genossen der poetischen Zunft in dem Rufe seines grosten Neben-
buhlers :
f Triumph, Britannien, du kannst den Einen zeigen,
Vor dem Europens Bühnen all* sich neigen !'
Aber was wissen wir mehr von dem Leben dieses siegreichen Dichters?
Wollen wir Dichtung nicht für Wahrheit nehmen, nicht viel mehr als dies :
Shakspeare genosz die Gunst Elisabeth's und Jacob's, so wie die Freund-
schaft des edlen Mäcenaten der Dichtkunst und des Theaters , des Grafen
Southhampton, dein er seine erzählenden Gedichte und seine Sonette wid-
mete; er war ein guter, aber kein groszer Schauspieler; die Rolle des
Geistes im Hamlet war seine beste Leistung; seine Truppe, wo der gröste
Dichter mit dem grosten Mimen der Zeit , wo ein Shakspeare mit einem
Burbadge wetteiferte, überflügelte die andern Schauspielertruppen so,
dasz sie noch ein zweites Theater errichten konnte ; bereits 10 Jahre, be-
vor er wieder in seine Heimat zurückkehrte, gab Shakspeare den Schau-
spielerberuf auf, blieb jedoch Miteigentümer des Theaters; wir wissen
ferner, dasz unser Dichter der Glanzpunkt eines berühmten Clubs war,
wo er mit Jonson jene berühmten Turniere des Geistes lieferte, von
denen Beaumont schreibt : f Was für Dinge haben wir hier gesehen , wel-
che Worte gehört, so fein, so voll geistigen Feuers, als wollte Jeder, von
dem sie kamen , seine ganze Kraft in einem Schlage erproben ;' wir wis-
sen, dasz Shakspeare's Wolstand erfreulich zunahm und er schon 1597
mit seinem Gewinn als Schriftsteller und Theateractionär eines der gro-
sten und schönsten Häuser in seiner Geburtsstadt ankaufte, woran sich in
den folgenden Jahren weitere Erwerbungen von Grundbesitz in und bei
Stratford anschlössen ; wir wissen, dasz nachdem er schon mehrere Jahre
abwechselnd in London und in Stratford gelebt, er die letzte Zeit seines
Daseins ununterbrochen in Stratford zubrachte, um inmitten seiner Fa-
milie und umgeben von Freunden, deren seine Liebenswürdigkeit ihm
viele erwarb, oder auch landwirtschaftlichen Beschäftigungen sich hin-
gebend, die Früchte seiner glücklichen Anstrengungen zu genieszen; wir
wissen endlich, dasz er am 25. März 1616 bei voller Gesundheit sein Te-
stament unterzeichnete, aber schon einen Monat darauf, am 23. April, d. i.
an seinem 52. Geburtstage starb !
Und so vermögen wir denn keinen befriedigenden Blick zu werfen
in die geistige, künstlerische und sittliche Entwickelung des übermäch-
tigen Dichters, dem wir Romeo und Hamlet, den Sommernachtstraum und
Macbeth, das Wintermärchen und den Lear, die römischen und die eng-
lischen Historien verdanken. — Was uns die alten Documente, aüsgeruu-
gen und analysiert durch die englische Shakspearegesellschaft verkünden,
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Zum Gedächtnis Shakspeare's. 433
reicht aus , um zu erkennen , dasz er in groszer , bewegter , fruchtbarer
Zeit da stand unter hohen Stämmen ein Riesengipfel, aber es zeigt uns
nicht, wie der söszeste und der erhabenste, der heiterste und der furcht-
barste aller Dichter durch Kampf zum Siege schritt. Und doch, wer könnte
ohne dieses Verlangen, tiefer in das Geheimnis des Daseins dieses Dich-
ters blicken zu können , auch nur das eine an den Freund gerichtete So-
nett lesen:
*Wenn ich , von Menschen und vom Glück verstoszen
Am Thor des Himmels unnütz forschend steh1,
Gebannt ins trübste von den Erdenloosen , *
Verwünschend, weinend auf mein Elend seh',
Wenn ich so gern möcht' diesem Hoffnungsreichen ,
Schön von Gestalt, umringt vom Freundeskreis,
Dem Künstler hier, dem dort am Ziele gleichen;
Wenn, was ich hab*, ich nicht zu schätzen weisz;
Wenn ich , aufgebend mich , mich selbst mir raube —
Da denk ich dein — und wie die Lerche dann,
Die mit dem Tag aufsteigt aus Erdenstaube,
Singt meine Seele Hymnen himmelan :
So reif macht deine Liebe mich und grosz ,
Ich tauschte nicht mit eines Königs Loos!'
Beschränken wir also unsere Betrachtungen auf den groszen Dramatiker
und Dichter, der in Shakspeare's Werken in voller Klarheit dasteht!
Sollten wir kurz antworten auf die Frage, was denn nun diesen
Shakspeare zu einer so einzigen und Stauneu erregenden Erscheinung
macht, so würden wir sagen: Niemand hat je eine so reiche poetische
Welt mit gleicher Sicherheit und Freiheit in so vollendeter Weise durch
die lebensvollste aller künstlerischen Formen, das Drama, hervorge-
bracht !
Die dramatische Poesie ist Shakspeare's Lebenselement. Zwar be-
sitzt er alle poetischen Kräfte in gleicher Stärke , die lyrischen , wie die
epischen, aber er stellt sie in den strengen Dienst des Dramas — und
gibt ihnen die gros te Bewegung und Wirkung. Die Höhe, welche der
dramatische Fürst in seinen vollendetsten Schöpfungen erstie-
gen , scheint uns oft die Grenzen des Menschen Möglichen zu überragen.
Denn in jedem Teile derselben ist dieser Dichter gleich grosz.
Es mag wol dramatische Dichter gegeben haben , die ihren Stoff bis
in die feinsten Einzelheiten hinein überlegten, ihre Entwürfe auf das
Strengste disponierten , sich von jeder bevorstehenden Wendung der Ac-
tion, von jeder Scene und ihrer Stellung und Bedeutung Rechenschaft
gaben, ja das Verhältnis der einzelnen Glieder zum Ganzen und unterein-
ander abwogen ; es mag Dramatiker gegeben haben , welche mit diesen
Eigenschaften auch noch die Fähigkeit verbanden, verschiedene Fäden an-
zuknüpfen, dieselben ineinanderlaufen und sich kreuzen zu lassen, am
Ende aber sie alle auf demselben Punkte zu vereinigen, so dasz trotz der
scheinbar verschiedenen Wege , auf denen der Verlauf der Handlung vor-
wärts wandelt, endlich die Einheit der letzteren triumphierend dasteht
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434 Zum Gedächtnis Shakspeare's.
— aber welcher Gompositionskünstler wagte zu wetteifern mit dem Dich-
ter des Königs Lear, des Kaufmanns von Venedig, Hamlet' s, Othello's usw.,
der nicht nur in sicherem Besitze solcher Vorzüge ist, sondern solche
Vorzüge selbst in Schatten zu stellen weisz. Denn wer vermöchte je
schon in die ersten Scenen den Keim des Ganzen mit gleicher Sicherheit
zu pflanzen, wie Shakspeare, und uns schon hier mit tiefster Ahnung des
Ausgangs zu erfüllen? Wer vermöchte eine gleiche Fülle in Manigfal-
tigkeit von Begebenheiten so concentrisch zu binden, die Handlung durch
so reiche Gontraste hindurchzuleiten und der Fabel an jedem Punkte ein
% so mächtiges Interesse, eine so grosze Spannung und Schnellkraft zu ver-
leihen? *Wie eine Lawine, die mit immer wachsendem Umfang und stei-
gender Schnelle den Felshang hinunterstürzt , bis sie donnernd die Tiefe
erreicht, so braust die Handlung seiner Stücke in stürmischem und un-
aufhaltsamem Gange, hier und da in mächtigen Schlägen hervorbrechend,
vorwärts und wartet nicht, bis sie ans Endziel gelangt!'
Aber das Wunderbarste ist: diese Kunst Shakspeare's erscheint ganz
Natur: die vollendete Gestalt selbst seiner grösten Entwürfe erscheint
nicht durch den Calcul des Verstandes hervorgebracht, sondern wie durch
ein inneres organisches Gesetz hervorgewachsen ! Davon der tiefste Grund
der ist, dasz Shakspeare, einem echt germanischen Zuge getreu, das Ge-
webe der Handlung aus dem Innern der Charaktere spinnt, t im entschie-
denen Gegensatze zu den Dramatikern der romanischen Welt, welche ihre
Figuren in das Gewebe der Handlung hineinstellen und durch dieselbe
bedingen. Auf den Charakteren ruht der Bau der Shaksp eare-
schen Dramen und die ganze ergreifende, wahrhafte Poesie seiner
Compositionskunst.
Und gerade in der Charakteristik ist diesem Dichter längst einstim-
mig der erste Preis zuerkannt. Schon die grosze Zahl durchaus von ein-
ander verschiedener Gestalten , die er geschaffen , setzt in Erstaunen : auf
seinen allmächtigen Ruf erscheinen Wesen der wirklichen Welt, wie We-
sen einer phantastischen Sphäre : sein Kiel hat jedes Alter und jedes Ge-
schlecht, ja alle 'Stände und Nationen bezwungen: in dem unabsehtichen
Maskenzuge, den er aufführt, gewahren wir Könige und Narren, hohe
Helden und niedere Gesellen, Greise und Kinder, Männer und Frauen,
Herren und Diener, Engländer und Franzosen, Römer und Italiener, Weisze
und Schwarze , Geister und Hexen , ja man darf sagen : Shakspeare habe
alle möglichen Charaktertypen in allen denkbaren Modificationen geschildert !
Diese Manigfaltigkeit der Charaktere wird nur durch £ins über-
troffen, durch die Kunst, mit welcher er sie behandelt. Als echter Dra-
matiker zeigt er sich darin, dasz er seine Personen durch sich selbst,
durch die That und die Situationen darzustellen weisz ; dasz er einer jeden
die rechte Stelle anweist und keiner einen gröszeren Spielraum gewährt,
als ihr nach der Grundidee des Stückes zukommt, dasz er sie immer in
dem Wellenschlage einer rastlos fortschreitenden Handlung erhält und in
die Einzelheiten und Besonderheiten ihres Wesens nur so weit eingeht,
als ihm sein dramatisches Spiel erlaubt. Aber unendlich schön ist es, zu *
sehn, mit welcher Unbefangenheit und herzlichen Wärme er dennoch das
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Zum Gedächtnis Shakspeare's. 435
ganze Leben, das in jeder einzelnen Gestalt liegt, effaszt.» Volle Menschen
will er uns zeigen und er besitzt allerdings die unnachahmliche Kunst,
mit wenigen Zögen den Schein einer Figur hinzustellen, die leibt und lebt;
in wenigen Worten, die sie spricht, bricht ihre ganze Eigentümlichkeit
hervor, der Kreis ist fest gezogen, in welchem sie wandelt, keine einzige
bewegt sich in ganz allgemeiner Sphäre, keine einzige ist ein bloszer Re-
präsentant einer Glasse, keine dient nur zur Verkörperung einer mensch-
lichen Schwäche oder Verkehrtheit oder gar blosz zum Sprachrohr des
Dichters! Prägen sich diese Personen mit ihrem selbständigen Wesen
und ihren markierten Zögen unauslöschlich unserer Phantasie ein, so sind
sie gleich wol leichter erkennbar, als erklärbar. Der Dichter, dessen Auge
in die Tiefen menschlicher Individualität und Persönlichkeit hinabdrang
und das Räthselhafte und Geheimnisvolle menschlicher Eigenartigkeit er-
kannte, wusle auch hiervon seinen so klar und deutlich gezeichneten Ge-
stalten etwas mitzuteilen. Und so stehen nicht nur die hervorragendsten
unter ihnen als Probleme da, sondern selbst Nebenfiguren setzen oft durch
ihre Sonderbarkeit den Philosophen, wie den Mimen in Verwirrung. Es
war eben nicht kühle Berechnung, mit welcher Shakspeare eineine Zöge
zu einem festen- und lebendigen Charakterbild zusammenfügte, sondern
mit Naturgewalt stiegen seine Gestalten aus allen Voraussetzungen und
Bedingungen , in die er sie gestellt sah , ihm auf. Darum glauben wir an
sie, darum, so wenig diese Wesen Nachahmungen wirklicher Wesen sind,
haben sie doch eine so gewaltige Wirklichkeit, dasz wir an ihrem
Dasein ebenso wenig zweifeln, als an dem Dasein derer, die mit und un-
ter einem Dache wohnen!
Fast noch wunderbarer erscheint aber Shakspeare , wenn er seine
Charaktere nicht unmittelbar als etwas Fertiges vor uns hinstellt, son-
dern, wenn er sie, wie in den Schilderungen Macbeth's , Richard's III.,
Heinrich's V usw., vor unseren Augen werden läszt und ihren ganzen
Entwickelungsprocesz vorführt. Als das Allergröste aber, weil hierdurch
die ganze Structur seiner Stücke zugleich das mächtigste Interesse ge-
winnt, preist man mit Recht die ungeheure, treibende Kraft, welche in
seinen Hauptcharakteren arbeitet. 'Unwiderstehlich ist die Gewalt , mit
welcher sie ihrem Schicksal entgegen, bis zum Höhepunkt des Dramas
aufwärts stürmen , in allen ein markiges Leben und starke Energie, nicht
nur der Leidenschaft, auch des Willens.'
In reinem Dreiklang mit Gomposition und Charakterschilderung hält
sich Dialog und Sprache unseres Dichters ! Alles athmet Handlung und
Leben. Die epischen Elemente haben Bewegtheit und Gedrängtheit; die
Monologe leiten immer durch Affect auf die Handlung lebendig über; die
Wechselrede zeigt sich nirgends als einen bloszen Austausch von Gedan-
ken und Gesinnungen, sondern gleichsam als der Flügelschlag bewegter
Handlung. Niemand versteht besser die Sprache des echten Dramatikers,
als Shakspeare. Aus jeder Zeile braust dramatisches Leben; so sprechen
Personen , welche mitten im Drange einer Action stehen , . und dennoch
redet eine Jede, Könige wie Diener, Männer wie Frauen, Greise wie Kin-
der, ihre eigene Sprache; ihre Worte sind das naive Bild ihrer Seele!
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436 Zum Gedächtnis Shakspeare's.
Unaussprechlich schön ist das farbige Spiel, das der Rede dieses
Dichters eigen ist. Anmutige, kühne, seltsam aufglühende Bilder ergreift
die Flammenmuse des Dichters. Das Gröste wie das Kleinste, das Nächste
wie das Entfernteste, Alles steht gleichsam harrend am Ufer, auf seinen
Wink in den Strom seiner Rede zu tauchen. 'Selbst das Unbelebte drängt
sich hinzu', sagt Goethe, 'und spricht mit, die Elemente, Himmel, Erde
und Meer, Phänomene, Donner und ßlitz, wilde Thiere erheben ihre
Stimme, oft scheinbar als Gleichnis, aber ein- wie das anderemal mit-
handelnd'! Noch bewundernswerther zeigt sich die Darstellungskraft
unseres Dramatikers in dem Zuge, welchen ebenfalls Goethe andeutet:
'selbst, was bei einer groszen Weltbegebenheit heimlich durch die Lüfte
säuselt, sagt er, was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in den Her-
zen der Menschen verbirgt, wird ausgesprochen! Das Geheimnis musz
heraus , und sollten es die Steine verkündigen !'
Daneben besitzt Shakspeare eine gleich grosze Kraft im Komischen,
wie im Tragischen! Und wie er die Komödie zu einem reich ausgestatte-
ten Bilde menschlicher Thorheiten und Schwachheiten erhebt, in welchem
durch den naturgemäszen Prozesz der Handlung, nicht durch den mecha-
nischen des launischen täppischen Zufalls das Schicksal in Mislingen und
Demütigung sich offenbart, so stehen seine Tragödien da als groszartige,
furchtbar schöne Bilder menschlichen Leidens , in das die überschwellen-
den Fluten der Leidenschaft den Schuldigen hinabziehn. Shakspeare ist
der erste Dichter , der die Schicksalsidee in voller Reinheit und Vernünf-
tigkeit darstellt. Wer fällt, den fällt seine That. Der faule Fleck eines
blind waltenden, unfühlenden, ja grausamen und schadenfrohen, aus über-
natürlichen Sphären wirkenden Fatums, ist entfernt. Shakspeare kennt
den ganzen tiefen Ernst und doch auch den Stral der Güte und Milde
der göttlichen Weltregierung, die dem Menschen das Wort verkündet:
'in deiner Brust sind deines Schicksals Sterne !'
Es liegt gewis Shakspeare's eignes Glaubensbekenntnis in dem , was
er den Edmund im König Lear sagen läszt : 'das ist die ausbündige Narr-
heit der Welt, dasz wenn wir am Glücke krank sind, wir die Schuld auf
Sonne, Mond und Sterne schieben. Als wenn wir Schurken wären durch
Notwendigkeit, Narren durch himmlische Einwirkung, Schelme, Diebe,
Verräter durch die Uebermacht der Sphären, Trunkenbolde, Lügner und
Ehebrecher durch erzwungene Abhängigkeit von planetarischem Einflusz
und Alles, worin wir schlecht sind, durch göttlichen Anstosz.' Auch fol-
gender Dialog offenbart vortrefflich unseres Dichters Theologie : 'Ich kann
Euch lehren, Vetter, selbst den Teufel zu meistern', sagt Morti-
mer zum Heiszsporn; — 'Und ich, Freund', sagt der, 'ich kann Euch
lehren sein zu spotten
Durch Wahrheit, redet wahr und lacht des Teufels.
Habt ihr die Macht , ihn zu rufen , bringt ihn her,
Ich schwör', ich habe Macht ihn wegzuspotten!
0, lebenslang sprecht wahr, und lacht des Teufels!'
Aber war es nicht ein Unfug, den tiefsten Ernst ins Komische zu mischen?
War es nicht eine empörende Verwegenheit, Härte und Gewaltsamkeit,
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Zum Gedächtnis Shakspeare's. 437
komische Scenen in die Tragödie zu mengen ? — Vorurteil und Beschränkt-
heit haben lange darauf erkannt. Aber wessen Seele die Schwungfedern
nicht hat, sich auf die Höhe zu erheben, von welcher der auserlesene
Liebling, der Musen das bunte Spiel des Menschenlebens, f teilnehmend und
mitfühlend, aber niemals befangen' betrachtet, wer es nicht fühlt, dasz
jene Mischung in letzter Instanz eine Entmischung, die höchste Läute-
rung und Vertiefung des Einen wie des Andern ist, wer jenen — wir
müssen das Wort gebrauchen , weil es kein anderes gibt — wer jenen
wahrhaft groszen Humor nicht fassen kann, welcher durchaus der Stand-
punkt Shakspeare's ist, jene Empfindung, wo sich Laune und Wehmut
innigst berühren — der stelle, beleidigt, verwirrt, erschreckt, nicht er-
quickt, gerührt und versöhnt, seinen Shakspeare hin, er wird ihn, ebenso
wenig verstehn, als er sich in den tausend oft so herben Widersprüchen
des Lebens zurechtzufinden weisz. Aber doch ist Shakspeare nur darum
der gröste Dramatiker, weil er zugleich der gröste Dichter ist. Die Form
des Dramas ist nur das Fahrzeug , in das er seine Schätze birgt.
Wenn er den Hamlet sagen läszt: 'Es war von Anfang des Schau-
spiels Zweck und er ist es noch jetzt, der Natur gleichsam den Spiegel
vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes
Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Ge-
stalt zu zeigen', so hat Niemand diese Aufgabe nach Umfang und Tiefe
vollkommener erfüllt, als er.
Seine Dramen sind , was sie sein sollen , die abgekürzte Chronik sei-
nes Jahrhunders. Auf das Feinste und Geistvollste verarbeiten und spie-
geln sie das ganze Leben des alten, kräftigen und lustigen England wie-
der: Gewohnheit, Sitte, Denken, Thun aller Volkskreise, die reichen
Elemente der Gultur und Bildung des mondbeglänzten, scheidenden Mit-
telalters, wie der aufgehenden, sonnebeleuchteten Epoche , in der auch
wir noch athmen. Aber all' diese Fülle von endlichen Erscheinungen ist
doch nur da, um ein Ewiges auszusprechen, auszusprechen was war, was
ist und sein wird : Antwort zu geben auf jene groszen , Leben und Tod
umspannenden Fragen, welche an jedes Menschen Herz anklopfen.
Und gewis, wenn noch einmal drei Jahrhunderte dahingeflossen sind
und Bildung und Lebensweise von Neuem sich gewandelt haben, man
wird abermals bekennen , was wir heute bekennen , dasz Shakspeare am
besten wisse , was der Mensch ist , wie ihm zu Mute ist und wie es ihm
ergeht! dasz er das Bäthsel der Sphinx am besten gelöst. Die nach uns
kommen, sie Alle, wir wissen das, unterzeichnen das Geständnis Goethe's:
cDer kannte das innere Menschencostüme!'
Es wäre ein thörichtes Beginnen, hier weiter die reichen poetischen
Schätze Shakspeare's aufzeigen und schildern zu wollen. Denn wie er
in leichtem Spiele, ohne Schweisz und Müh' die ganze bunte Manigfaltig-
keit des Naturlebens vor unsern erstaunten Blick hinzaubert, so steuert
sein Kiel auch sicher durch die Sphären der Religion und Moral , der Po-
litik und Kunst, der Sitte und Lebensweisheit, und es gibt kaum ein
Amt, kaum ein Feld menschlicher Thätigkeit, kaum einen Zustand der
Seele , es gibt keine Gemütsart , keine Tugend , keine Schmach , die seine
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438 Zum Gedächtnis Shakspeare's.
Kunst nicht berührt. Durch alle Kreise des Daseins treibt er unsere säu-
migen Gedanken!
Gedenken wir ja des Wortes, dasz ein groszer Mann aussprach, als
er einst über Goethe nachsann, als einer Mahnung an uns ergangen: 'Ueber
einen groszen Dichter zu schreiben oder zu sprechen, ist nie mehr, als
ein Herumgehen um das Unaussprechliche!'
Und dennoch , wir können heute von der Betrachtung dieses her-
lichen Genius nicht scheiden, ohne den Kern seiner dichterischen Persön-
lichkeit zu berühren: seine Wahrhaftigkeit, Sittlichkeit, Männ-
lichkeit, Gesundheit und Heiterkeit.
Es gibt keine Stelle in den sämtlichen Werken Shakspeare's, in wel-
cher die Sünde reizend und verführerisch gezeichnet wäre ; ihn besticht
kein Titel , kein Rang , nicht Bildung , nicht Schönheit , er zeichnet und
verurteilt die Lüge am König, wie am Bettler. Es gibt keine Stelle in
Shakspeare, die ihn eines Schwankens, einer Verderbnis, einer Verbildung
bezüchtigen könnte; sein Auge ist sicher und klar, durch keine Gelehr-
samkeit ermattet, durch keine Cultur getrübt, durch keine Philosophie
verwirrt oder schief gestellt; seine Phantasie ist keine Träumerei und
Schwärmerei; sie segelt nicht auf der nebetvollen See des Unendlichen,
sondern trotz des kühnsten, ja verwegensten Schwunges schreitet sie
sicher auf dem Festlande der Wirklichkeit. Shakspeare's Empfindung,
ebenso zart als tief, ist niemals krankhaft und weichlich; durch die bun-
ten Gefilde seiner Poesie zieht sich ein Urgebirge seltener Mannhaftigkeit '
Und fmit Entzücken erfüllt ihn die Welt, die Männer, die Frauen, sie
stehen alle von einem lieblichen Schimmer umgössen vor seinen Augen;
den Geist der Freude und unumwölkten Reinheit verleiht er dem Cover-
sum.' Ja , wenn wir diesen Dichter so ohne alle eitle Vornehmheit und
kühle Selbstgefälligkeit wandeln sehn , in unbekümmerter Stimmung sich
mischend unter Hoch und Niedrig , alles mit gleicher Zuneigung betrach-
tend und behandelnd , dann ahnen wir wol , was die Wunderkräfte seines
Geistes inmitten eines groszen Weltlebens frisch erhielt, kräftig bewegte
und zur Schönheit weihte! Wir meinen, aus seinen Poesien halle das
königliche Wort wieder, das Sophokles in den Mund Antigone's legte:
'Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da!'
Erst einhundertfünfundzwanzig Jahre nach seinem Tode ward dem
in der Kirche zu Stratford ruhenden Dichter ein prächtiges Denkmal in
Westminster errichtet , eine lebensgrosze Bildsäule ! Seine Hand ruht auf
einem Buche, das Prospero's Worte aus dem f Sturm' trägt :
*Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden
Die wolkenhohen Thürme , die Paläste,
Die hehren Tempel , selbst der grosze Ball,
Ja, was daran nur Teil hat, untergehn;
Und wie dies leere Schaugepräng' erblaszt,
Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug
Wie der zu Träumen , und dies kleine Leben
Umfaszt ein Schlaf!'
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Zum Gedächtnis Shakspeare's. 439
Besser wol hätte das Ehrendenkmal des lebensvollsten Dichters das zuver-
sichtliche Wort geschmückt, das der römische Dichter für sich in An-
spruch nahm: cnon omnis moriar!'
Zwar als er dahingegangen, kam eine Zeit, wo er von seinen Lands-
leuten und der Welt fast vollständig vergessen ward. Der finstere , jedem
heiteren Lebensgenüsse abholde Puritaner, der das Theater als die gerade
Heerstrasze zur Verdammnis ansah, erhob triumphierend sein Haupt, und
ein blutiger und ernster Krieg bannte die frohe Schaulust des alten Eng-
lands. . Und als dann die Wirren des erschütternden Kampfes vorüber
waren, griff, wie in der ganzen gebildeten Welt, so auch in England ein
neuer Geist und Geschmack Platz. Der französische Classicismus , eine
Misgestalt, die in altertümelnder Hülle das modernste Leben einer erkün-
stelten Hof- und Gesellschaftswelt spiegelte und anpries, schritt siegreich
durch die Welt!
Nun hiesz poetische Entwürfe auf das Drahtgerippe überlieferter Re-
geln spannen so viel als das Geheimnis künstlerischer Gomposition be-
sitzen, geistreich und witzig sein, erfinden, zierliche Worte in gereimte
Alexandriner bringen, dichten! Nun ward persönliche Anschauungsweise,
individuelle Anlage, freie Wahl des Inneren unter das Gebot universell
stereotyper Formen gestellt, Phantasie und Empfindung durch das Stre-
ben nach kalligraphischer Gorrectheit gedämpft, Natur und Wahrheit, die
ersten und ewigen Kriterien der Kunst, als Rohheit und Unanständig-
keit in Verruf gebracht.
Schwer hat sich dieses französisch gebildete Zeitalter, wo Lebens-
art mehr galt als Gefühl, Menschlichkeit, Gesinnung und Charakter, wo
die vornehme Standes tragödie Racine's, des Zärtlichen, undVoltaire's, des
Prächtigen als die höchste Vollendung dramatischer Kunst und als die
Offenbarung des destiliiertesten Geschmackes angesehen ward, an dem
naturwahren , kräftigen und volkstümlichen Dichter Alt-Englands vergan-
gen , der gerade jetzt wieder aus seiner längeren Vergessenheit zögernd
hervortrat. *Du gibst nur Eicheln, statt Brod% rief Mr. Rymer in England
ihm zu, denn leider, Shakspeare war nicht von den modernen Interpreten
des Aristoteles und Horaz erzogen! cDu bist ein trunkener Wilder', rief
Voltaire in Frankreich, denn leider, Shakspeare verstand nicht die Natur
delicat darzustellen cavec certains traits de Fart !' 'Ich mag dich nicht9,
rief der Schildknappe der Franzosen in Deutschland , der Prof. Gottsched
in Leipzig, *denn du kennst die Regeln der vernünftigen Schaubühne
nicht und wagst sogar zu den groszen Helden , die von vvichtigeu Staats-
geschäften reden, possentreibende Handwerker zu gesellen!9
Aber mochte man auch immer murren , verdammen , lästern , Shak-
speare's Genius brach sich endlich siegreich Bahn ! Im Mutterlande weckte
Garrick's Kunst eine frische Begeisterung für die alten nationalen Geistes-
spiele Shakspeare's , und es bewahrheitete sich , was ein Zeitgenosse des
Dichters in einem Lobgedichte einst verkündet: ces werden die Tage
kommen9, weissagte er , *die alles Neue verschmähen, Alles für unbedeu-
tend achten werden , was nicht Shakspeare's ist , dann wird jeder Vers
neu erstehen und den Dichter aus seinem Grabe erlösen.'
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440 Zum Gedächtnis Shakspeare's.
In Deutschland, wo der franzosische Geschmack mit der Stärke einer
Naturgewalt die Geister und die Sinne seit anderthalb Jahrhunderten ge-
fesselt hielt, wo Not und Despotismus die besten Eigenschaften des natio-
nalen Charakters niederhielten und die Ungeister der Philisterei, wie
Goethe sagt , ihr Wesen trieben : stockende Pedanterie , kleinstädtisches
Wesen , kümmerliche äuszere Sitte , beschränktes Urteil , falsche Sprödig-
keit, platte Behaglichkeit, anmaszliche Wurde — hier in unserm Vater-
lande war es Lessing, seit Luther der erste Mann, in welchem die cha-
rakteristischen Eigenschaften der deutschen Natur zuerst wieder in voller
Reinheit, Gesundheit und Stärke hervortraten, hier in Deutschland war es
Lessing, welcher dem britischen Dichter eine freie Bahn eröffnete. Denn,
als im Jahre 1759 noch immer die Verpflanzung des französischen Classi-
cismus nach Deutschland als ein heilsames Unternehmen gepriesen ward
und man mit guter Zuversicht aussprach: eNiemand wird leugnen , dasz
die deutsche Schaubuhne einen groszen Teil ihrer ersten Verbesserungen
dem Herrn Prof. Gottsched zu danken hat', da war es Lessing , der, eine
Lanze für Shakspeare einzulegen, mit der Erklärung in die Arena stieg:
'Ich bin dieser Niemand!9 Und nun stellte er, der Welt zum Stau-
nen , die Corneille und Voltaire vom Throne stoszend , den einzigen Shak-
speare , den verachteten Shakspeare auf die Höhe des Sophokles.
Dies geschah im Geburtsjahre Schillert. Der Würfel war gefallen.
Die hamburgische Dramaturgie führte siegreich das ausgesprochene Thema
durch. Sie zertrümmert den künstlichen Bau einer ererbten ästhetischen
Bildung, die ihre Fäden an die Auszenseiten der antiken Kunst anknüpft,
sie bringt die autonome Gewalt zur Geltung, die in dem wahren dich-
terischen Vollgeiste liegt, sie setzt an die Stelle des Verstandesideals,
welches die gesamte bisherige Poesie beherschte, jene bildungsreiche
Phantasie in ihr Recht, die wahrnimmt auch, was nje die kühlere Ver-
nunft begreift und deren Selbstherlichkeit und Macht Niemand in Wort und
That so schön darstellt, als der Diehter des Sturms und des Sommer-
nachtstraums :
'Des Dichters Aug', in schönem Wahnsinn rollend
Blitzt auf zum Himmel , blitzt zur Erd' hinab,
Und wie schwangere Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel , benennt
Das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz!'
Zu gleicher Zeit gaben Wieland und Eschenburg der Nation durch ihre
Uebersetzung einen ersten allgemeinen Begriff von der Grösze des eng-
lischen Dichters. Dann erschien der stürmische Herder auf dem Plan , um
die prometheische Kraft desselben in groszen und kräftigen Zügen zu
schildern! Schröder brachte ihn in Hamburg auf die Bühne, und seine
Kunstreise, wenige Jahre darauf nach Berlin, über Dresden und Prag nach
Wien, München, Mannheim, Gotha, Braunschweig unternommen, um
überall Shakspearesche Rollen zu geben , war ein Triumph für den deut-
schen Schauspieler, ein Sieg für den englischen Dichter. Seitdem endlich
die unvergleichliche Uebersetzung der Schlegel-Tieck hervorgetreten ist,
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Zum Gedächtnis Shakspeare's. 441
hat das Wort seine volle Wahrheit erhalten: Deutschland ist das zweite
Vaterland Shakspeare's! Inzwischen hatte der Deutsche auch sein eigenes
Vaterland wieder entdeckt. Aus dem Kreise jugendlicher Dichter, deren
idealer Mittelpunkt Shakspeare war, trat Götz von Berlichingen hervor,
um den vollen Durch bruch einer neuen deutschen L-itteraLur
zu verkünden. Der Dichter dieses Dramas hat es nicht versäumt, dankbar
zu bekennen, wie er, in das . grosze Buch Shakspeare's blickend , ilage-
standen, einem Blindgeborenen gleich, dem eine Wunderhand das Gesicht
in einem Augenblicke schenkt, wie er aufs Lebhafteste seine Existenz um
eine Unendlichkeit erweitert fühlte und wie seines Werthes Vollgewinn
auf jenen Stunden ruhte, die er in seiner Jugend dem Shakspeare ge-
widmet.
'Ich erinnere mich nicht', sagt eine berühmte Stelle im Wilhelm
Meister, cdasz ein Buch, ein Mensch oder irgend eine Begebenheit des
Lebens so grosze Wirkungen auf mich hervorgebracht hätte, als diese
köstlichen Stücke. Sie scheinen das Werk eines himmlischen Genius zu
sein, der sich den Menschen nähert, um sie auf die gelindeste Weise mit
sich bekannt zu machen. Es sind keine Gedichte! Man glaubt vor den
aufgeschlagenen Ungeheuern Büchern des Schicksals zu stehen , in denen
der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust und sie mit Gewalt hin
und wieder blättert. Ich bin über die Stärke und Zartheit, über die Ge-
walt und Ruhe so erstaunt und auszer aller Fassung gebracht, dasz idi
nur mit Sehnsucht auf die Zeit warte, da ich mich in einem Zustande he*
finden werde, weiter zu lesen. — Alle Vorgefühle, die ich jemals über
Menschen und Schicksal gehabt, finde ich in Shakspeare's Stücken erfüllt
und entwickelt. Es scheint, als ob er uns alle Räthsel offenbarte, ohne
dasz man doch sagen kann : hier oder da ist das Wort der Auflösung.
Die wenigen Blicke, die ich in Shakspeare's Welt gethan, reizen mich
mehr als irgend etwas Anderes, in der wirklichen Welt schnellere Fort-
schritte zu thun, mich in die Flut der Schicksale zu mischen, die über
sie verhängt sind, und dereinst, wenn es mir glücken sollte, aus dem
groszen Meere der wahren Natur einige Becher zu schöpfen und sie von
der Schaubühne dem lechzenden Publicum meines Vaterlandes
zu spenden.'
Wie nun der englische Dichter in der Nation fortwuchs , wie er un-
sere Dichter und Künstler ergriff und mit Begeisterung erfüllte , wie er
unsere Wissenschaft in Bewegung setzte, so dasz verschiedene Kräfte
wetteifernd ihn wieder übersetzten, seine Texte säuberten und erläuter-
ten, sein Wesen zu durchdringen und seine Geschichte darzustellen such-
ten, welche Wirkungen endlich und Erfolge sich an diese Bestrebungen
anknüpften, bleibe hier unausgesprochen. Aber das ist gewis: Shakspeare
steht als eine geistige und sittliche Macht ersten Ranges in unserer Nation
und hat mit Recht in unsern Bibliotheken neben Lessing, Goethe und
Schiller seinen Platz. Und so lange deutsch gesprochen werden wird,
wird man seinen Shakspeare lesen; er wird fortfahren, unser Dasein zu
erweitern, den Geist zu bilden, Herz und Charakter zu stärken; er wird
fortfahren, uns zu befreien, indem er ausspricht, was wir denken und
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442 Zum Gedächtnis Shakspeare's.
fühlen, aber selbst nicht sagen können; er wird fortfahren, uns beizu-
stehn in allen Wechselfällen des Lebens, auch als Tröster in Schmerz und
Sorge, als Pfleger in Krankheit, als Gefährte in der Einsamkeit!
Doch laszt mich, lieben Freunde, noch ein Wort hinzufügen: In
Dingen der Kunst und Poesie gilt der Satz : eden Stoff sieht Jedermann
vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu thun hat, und die
Form ist ein Geheimnis den Meisten.' Eine gütige Schöpferhand hat jeder
Menschenseele jene geheimen Kräfte eingeformt, zarte und feine Eindrücke
zu empfangen, Schönes und Edles mit unterscheidendem Blicke zu gewah-
ren, rege Unlust zu empfinden an dem, was häszlich ist, entstellt und
plump in seiner Art.
Aber wenn wir den Schlummerliedern der Trägheit und des Genus-
ses horchen, wenn wir von der Macht des Gewöhnlichen und Gemeinen
uns überwältigen lassen , wenn die Spenden schmutzigen Reichtums oder
eitler, prahlerischer Ehre uns locken, Bewunderung und Liebe preis zu
geben, so werden wir selbst in dem grösten Dichter der Welt nicht mehr
finden, als wir werth sind zu finden, feilen Stoff zu fauler Unterhaltung!
Bildung, mit Fleisz erworben, musz mütterlich die göttliche Saat,
die in unsre Brust gesät ist, pflegen, belebend ansonnen, geistig über-
strömen und vor dem Erstarren schirmen !
Möchte diese Anstalt, möchte dieser Tag in dieser Anstalt, der
300jährige Geburtstag Shakspeare's, den zu feiern uns keine Rücksicht
hat abhalten können, dazu beisteuern, dasz einst dieFormderSchön-
heit Eurem Geiste ihr Geheimnis offenbare.
Wir wissen, was wir thun. Wol sind diese Räume mehr dem Homer
gewidmet, als dem Shakspeare. Wol ist es recht, dasz wir unsere Bil-
dung nicht mit dem Briten , sondern mit dem Griechen beginnen. Aber
wir treiben den Homer nicht, weil er ein Grieche ist, sondern wir lernen
Griechisch, weil es einen Homer gibt. Auch lieben wir den alten Dichter
■ nicht, weil er alt, sondern weil er ewig jung ist. Und darum schlieszen
wir unsere Bildung auch nicht . mit Homer und dem Altertume ah. Zum
Segen für unser theures Vaterland nahmen einst seine besten Söhne den
Shakspeare wie einen aus einer höhern Welt herabgestiegenen Seher, wie
einen von den Todten auferstandenen Schicksalskündiger bei sich auf und
mit freudigem Erstaunen fanden sie in dem groszen und echten Germa-
nen gleichsam ihre eigenen Uranfänge, ihr eigenes ihnen so lange ent-
fremdetes Selbst und Ich wieder. Seitdem hat sich der deutsche Genius
in sich selbst von Neuem befestigt. Zum Segen für das Vaterland wird
es gereichen, wenn das Wachstum dieses Dichters in Deutschland kein
Ende .nimmt und auch unter Euch, liebe Schüler, wenn Ihr Männer ge-
worden seid, das Wort an dem Homer des Dramas sich erfüllt, das
Propertius von dem Homer des Epos äuszert :
*Poster$tote suum crescere sentit opus!9
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*
Hapten; 'Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf. 443
35.
Stundenpläne.
Vortrag für die Versammlung rheinischer Schulmänner zu Düsseldorf,
den 29 März 1864,)von Rector Dr. TL Hansen.
Wir denken bei dieser Ueberschrifl nicht an die hlosze reine Tech-
nik des Stundenplanes; wie denn bei zu groszer BeLonung des Tech-
nischen oder bei zu ängstlicher Sorge um die Technik die Gefahr ins
Mechanische zu fallen näher rückt und über Formen das Wesentliche in
den Hintergrund tritt. Die Schule ist kein Bureau ; und vor der Bureau-
kratie hat sie sich auszer ordentlich zu hüten. Daher musz von vornherein
der Schein vermieden werden, als ob die Schule um des Stundenplans
willen da wäre, und als ob es ganz besonders darauf ankäme, dasz der
Stundenplan sich hübsch ausnehme und auf drauszen Siehende, hei der
Schule nur indirect oder gar nicht Betheiligte einen wolgefalligen Ein-
druck mache. Man sage nicht, dasz dieses Bedenken ganz grundlos sei
und an solche Verirrungen nicht zu denken. Wenn z. B. besondere Kunst-
griffe vorgeschlagen oder ausprobiert werden, um den Stundenplan her-
zustellen , oder um sich diese Arbeit zu erleichtern und zu verkürzen i so
kann dies .zwar ganz unverfänglich sein und von löblichem Eifer zeugen,
sich eine Brücke zu bauen, um desto länger und bequemer bei der Sache
selbst verweilen zu können. Allein^es kann auch vielleicht eine Liebhabe-
rei an Paradespiel und Ostentation sein, von der manche Schule, je 'höher1*
sie ist, desto weniger sich frei sprechen kann.
Wir denken hier vielmehr nur an eine Arbeil, bei welcher der Cha-
rakter sein stilles Wesen treibt und ernste Ziele verfolgt , die wahrhaft
werthvoll sind. Demjenigen, der sich dieser Stellung der Sache bewust
ist, ist die Anfertigung des Stundenplans weder eine Ausübung der Kunst-
Fertigkeit, noch eine leichte Spielerei, sondern ein sittliches Thuu, dessen
Ausführung sich ihm lediglich und ausschlieszlich aus der Natur der Sache
selbst ergeben musz. Solche geistige, organische Auffassung lüszL auch
keine Stabilität zu, sondern man vergegenwärtigt sich stets, dasz zu dem
einen rechten Ziele gar manigfache Wege führen, und dasz manche
Rucksichten auf das Wesentliche zu nehmen sind 7 die etwa von Jahr zu
Jahr eine immer wieder andere, neue Psysiognomie des Stundenplanes
bedingen.
Besinnen wir uns auf die verschiedenen Gegenstände, die zumeist
zu berücksichtigen sind, und zwar ohne besondere locale Verhältnisse
als masz gebend in Betracht zu ziehen, also auf die allgemein gültigen.
Es werden , wenn wir sie vorerst nur nach einander aufführen wollen,
folgende sein :
1) die Stufe, insbesondere die Altersstufe der einzelnen Classen;
2) die Natur der einzelnen Lehrgegenstände ;
3) die Individualität usw. der Lehrer;
4) die Jahreszeit.
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444 Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf.
Gehen wir nun, ohne uns auf die Redensarten einer captatio benevolentiae
einzulassen, näher auf diese Gegenstände ein, indem wir ausdrücklich aus-
sprechen , dasz wir im Allgemeinen , wo nicht ausdrücklich das Gymna-
sium genannt ist, die höhere Bürgerschule, resp. Realschule im Auge
haben ; da mit concreter Grundlage sich am besten operieren läszt, werde
ich mir erlauben, aus meiner eigenen für jetzt nur noch vierclassigen
Schule Beispiele beizubringen.
1.
Wir nennen zuerst die Stufe der einzelnen Glassen, insbe-
sondere die Altersstufe. Es ist eine begründete Sorge sinniger und
verständiger Mütter, dasz die Knaben heutzutage schon früh mit zu vie-
lerlei Dingen in der Schule belastet werden. Wir wollen vorerst, in Be-
tracht dessen, dasz die Fächer und die Stundenzahl für dieselben vorge-
zeichnet ist, annehmen, dasz diese die angemessene sei. Dies ange-
nommen, wird aber doch die Frage sein, ob nicht bei Sextanern es
wünschenswerth , ja vielleicht notwendig sei, die einzelnen f Stunden' in
Wirklichkeit nur ä % Stunde zu rechnen und, wenn es irgend möglich
(zulässig) ist, während der dadurch entstehenden Pausen diese Glasse so
weit zu beaufsichtigen, dasz die übrigen nicht gestört werden.
Wenn man uns einwenden wollte, die Einrichtung der Schulgebäude
möchte diese Maszregel nicht zulassen, dann ist die einfache Antwort
die, dasz eben auf diesen Umstand Rücksicht zu nehmen ist bei dem Bau
und der Einrichtung der Schulgebäude. Man wird die Classe Sexta
. schon aus mehr als einem Grunde möglichst nahe an den Ausgang nach
dem Hofe zu legen haben. Auszerdem wird man dafür zu sorgen haben,
dasz der Schall gerade aus dieser Glasse am wenigsten in die übrigen
Räume des Gebäudes dringe. Einmal ist es in dieser Glasse nicht zu um-
gehen , dann und wann die Schüler sämtlich im lauten C h o r sprechen zu
lassen. Wann und wo aber der Schüler spricht, soll er laut und klar
sprechen , und im Chor nicht etwa gedämpft. Und ferner wird es hier,
wo es vor allen Dingen Pflicht ist, dem Schüler das Leben in der Schule
überhaupt lieb und werth zu machen, im Religionsunterricht wie bei Be-
handlung der Muttersprache sehr naturgemäsz sein, bisweilen einmal ein
Lied oder eine Strophe aus einem Kirchen- oder Nationalhede anzustim-
men. Den jungen Knaben in diesen Stunden *ein Heft führen' lassen', ist
Schattenspiel und bureaukratischer Unsinn; aber mit ihm ein frisches
Lied des Glaubens oder der Liebe zu den heiligsten realen Gütern des
deutschen Volkes anzustimmen, das ist Leben und unvergängliches
Wesen.
Liegt also aus natürlichen und deshalb verständigen Gründen die
Classe Sexta so, dasz sie weder im Unterricht noch auszerhalb des-
selben andere Classen stören kann, dann kürze man getrost jede ^Stunde'
etwas ab und sei des gewis , dasz man davon nur Gewinn sich verspre-
chen darf. Ein einsichtsvoller Arzt, Dr. GustavPassavantin Frankfurt
am Main , liesz vor nicht gar langer Zeit sehr lesenswerthe Aufsätze in
der cDidaskalia' abdrucken und dann (Hermannsche Verlagsbuchhandlung
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; lausen: Vortraf Tür die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf. 445
2665) für sich erscheinen : * über Schulunterricht vom ärztlichen Stand-
[■unkte*, ge widmet "dem für die Gultur des Menschengeschlechts so über*
aus wichtigen und in seiner Stellung noch nicht allgemein und hinläng-
lich gewürdigten Lehrerstande. ' Wir ersuchen jeden, der etwa vom
bureaukratischen Standpunkte aus unseren Wünschen entgegentreten
möchte, diese kleine Schrift, die nur 5 Ngr. kostet, sich recht genau
durchzulesen; es ist wirklich der Mühe werth, auch für solche, die nicht
alle und jede Ansicht des Verfassers teilen. Wir sind unerschütterlich
davon überzeugt, der Verf. habe Recht zu klagen, dasz unsere Kinder,
Mädchen und Knaben, zu viel, namentlich zu anhaltend, sitzen.
In den 'Erläuterungen' zur 'Unterrichts- und Prüfungsordnung der
Realschulen usw.' (Berlin 1869. Ausgabe in 4. S. 6 unten) zu S 1 heiszt
es: fder Wunsch, che eigenen Arbeiten der Schüler mehr in die Sc h u 1 e
selbst zu verlegen, hat bisweilen Directoren bewogen, die Zahl der
für einen Lehrgegenstand bestimmten Stunden zu erhöhen und durch
ausgedehntere Beschäftigung der Schüler in den zu diesem Zwecke ver-
wehrten Schulstunden die häuslichen Arbeiten zu ersparen. So fem
dieser Zweck wirklich erreicht wird und keine pädagogischen Bedenken
entgegenstehen, ist ein solches Verfahren auch ferner gutzuheiszen und
verdient Anerkennung,' Abgesehen davon, dasz zu einer derartigen V e r -
mehrung der Stunden vor allen Dingen eine gröszere Zahl von Lehr-
kräften erforderlich sein wird , wenn nicht das Uebel entstehen soll, dasz
die Lehrer über Masz und Gebühr angespannt und dadurch abgespannt
werden, ist auch in Rücksicht auf die Hauptpersonen, die Schüler,
zu bemerken, dasz der Gewinn, den eine solche Maszregel haben möchte,
auf der anderen Seite durch Ueberladung der Schüler -verloren gehen
musz.
Im Allgemeinen ist es sehr zweckmässig , daran festzuhalten , dasz
der Schüler, was er in der Schule wirklich lernt, kennen und können
lernt, nicht im Hause zu lernen braucht. Dann stört ihn weder diese oder
jene Unruhe kleiner und beschränkter häuslicher Vorhältnisse , noch die
Versuchung, sich von Anderen unrechtmäszig helfen zu lassen; von einem
Anderen nicht zu reden. Allein, wenn dies besonders schon von den
kleinsten Schülern gilt, so folgt doch daraus noch durchaus nicht, dasz
man diesen Knaben, die überhaupt erst an die Zucht der höheren Schule
und ihre eigentümliche Atmosphäre — oft mit Mühe — sich gewöhnen
müssen, eine noch gröszere Zahl von Schulstunden aufzuladen hätte. Man
würde dadurch eine Ueberladung hervorrufen, die sich schwer rächt.
Wir brauchen uns nicht allzusehr zu wundern, wenn die Sextaner seihst
in den Händen eines frischen, jugendlustigen Lehrers erlahmen. Wir
fühlen es vielmehr mit ihnen, dasz sie zu viel des Guten aufgetischt be-
kommen. Es gilt auch hier das Wort aus 'einem trivialen Gebiete: man
soll die Pferde nicht gleich früh, nachdem sie angeschirrt worden, zu
scharf laufen lassen, wenn noch ein längerer Weg vor ihnen liegt.
Wenn die Classe Sexta durch intensive Thätigkeit gehörig ange-
strengt wird, so sind vier Stunden am Vormittag, vollends wenn nur eine
Pause, die ^ständige um 10 Uhr, in der Mitte liegt, ihrinderRegel
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 9. 30
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446 Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner' in Düsseldorf.
nicht zuzumuten, sobald noch Nachmittags 2 Stunden folgen. Wie soll
es ein Sextaner ohne Nachteil für körperliche und geistige Gesundheit
aushalten, z. K hinter einander an Einern Vormittage 8 — 9 Religion, 9—
10 Deutsch, 10 — 11 Rechnen, 11—12 Latein zu lernen, selbst wenn Nach-
mittags nur 'leichtere* Sachen, z. B. Schreiben, Gesang u. dgl. folgen?
(Ueber die Folge der Fächer reden wir unten näher.) Oder ist es besser,
wenn Deutsch und Latein, zwei Sprachen, auf einander folgen? wenn ]
also das Rechnen, das doch vernünftiger Weise zumeistKopfrechnen j
sein musz, zuletzt eintritt, wo jeder der Knaben sich nach frischer Luft -
zu sehnen sein unbestreitbares Recht hat?
Ab der Anstalt, an der ich zu arbeiten habe, werden der Sexta statt
der in der Unterrichtsordnung Torgezeichneten 30 Stunden wöchentlich
nur 25 erteilt. Wenn gleich dieser Ausfall schon durch Mangel an Lehr-
kräften notwendig wird, so können wir ihn durchweg auch um der Schü- :
ler selbst willen nicht beklagen. Es fallen aus : von den 3 Religionsstun-
den eine, von den 3 geographischen (geschichtlich-geographischen) eine,
von den 5 Rechenstunden eine, und endlich beide Stunden Naturgeschichte.
Wir bedauern eigentlich nur den Ausfall der dritten Religionsstunde. (In
besonderen persönlichen Verhältnissen liegt es, dasz im Winter noch
auszerdem statt 3 Stunden Schreiben nur 2 gehalten werden können;
was mich allerdings nicht erfreut. Diese ausfallende Stunde bringen wir
hier also nicht mit in Anschlag, da sie im Sommer nicht ausfällt.) Zu
den übrig bleibenden 25 Stunden kommen noch hinzu 1 Stunde Gesang
und 1% Stunde Turnen , so dasz immer noch 27% Stunden wöchentlich
die Sexta Schulunterricht genieszt. Es ist meine unerschütterliche Ueber-
zeugung, dasz man mit 27% + 5 Stunden, also mit 32% Stunden Schul-
unterricht die Sextaner überladet. Dagegen war es uns bei 27%
Stunden möglich, z. B. im letzten Semester nur an drei Tagen vier Stun-
den auf den Vormittag zu legen. (Nur zwei wären es gewesen, wenn
nicht der Gonfirmandenunterricht der Tertianer einen Tauseh nötig ge-
macht hätte.) Aber einer dieser Tage ist die Mittwoch, und an einem
der anderen Tage findet sich Nachmittags nur das Turnen von 3—4% Uhr
auf dem Stundenplan der Glasse; an dem dritten liegen durch besondere
Verhältnisse zwei Schreibstunden, eine Vor«, eine Nachmittags. Hat man
32%, oder, wo das Turnen auf 2 — 3 Stunden ausgedehnt wird, 33—34
Stunden für Sexta , dann musz man nicht nur die Mittwoch und Sonn-
abend, sondern jeden Vormittag mit 4 Stunden besetzen und behält dann
noch für jeden der vier Nachmittage 2 — 2% Stunden durchschnittlich
übrig; oder man musz für jeden Nachmittag 2 Stunden ansetzen und au
einem derselben noch für das Turnen 1%— 2 Stunden zulegen. Wie soll
dabei ein Sextaner, also (normal) ein 10 — lljähriger Schüler, aushal-
ten? Und nun werden obendrein vielfach schon nach vollendetem neun-
ten Jahre, was ich entschieden misbilligen musz, die Knaben in die Sexta
aufgenommen; wie dann vollends?
Gehen wir nun zu der nächsten Glasse über, deren Aufgabe schon
durch das Hinzutreten eines neuen Faches, des Französischen,
ungemein erschwert wird. Die Quinta hat bei den besonderen Verfallt-
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Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Dusseldorf. 447
Bissen unserer Anstalt 1 Stunde Religion , 1 Stunde Deutsch, 1 Stunde
Latein, 2 Stunden Naturwissenschaften weniger, als die Unterrichtsord-
nung vorschreibt, dagegen Mathematik und Rechnen 2 Stunden mehr,
ebenso Geographie und Geschichte 1 Stunde mehr, also im Ganzen 2
Stunden weniger, d. h. statt 31 nur 29 wöchentliche Stunden, wozu dann
freilich »och 1 Stunde Gesang und 1% Stunde Turnen hinzukommen , so
dasz die Quinta in Summa 31% Stunden wöchentlich Schulunterricht ge-
nieszt. Ich hoffe, dasz es späterhin möglich sein wird, die 2 Mehrstunden
Mathematik zu streichen und dafür der Religion und der Muttersprache je
eine Stunde zuzulegen. Dagegen beklage ich den Ausfall der beiden an-
deren Stunden nicht sehr. Zwar musz der Schuler in der Volksschule
(resp. Vorclasse) im Schreiben tüchtig geübt sein und der lateinische
Unterricht intensiv ersetzen, was ihm extensiv abgeht. Aber es ist ein
Gewinn für den Kuaben , dasz er (das Turnen abgerechnet) nur 30 Stun-
den und nicht 32 wöchentlich in der Schule sitzen musz. Wir brau-
chen ihn also nicht an jedem der vier übrigen Tage (Mittwochs und Sonn-
abends fallen je 4 Stunden) 6 Stunden an die Schulbank zu spannen,
sondern an zweien kommen nur 5 heraus, zu denen dann das Turnen
tritt. Wir können es nur für ein Glück halten, wenn vor vollendetem
11 Lebensjahre der Knabe nicht jeden Tag 6 Stunden sitzen musz. Wir
wurden sogar auf die 4. Stunde Geographie und Geschichte verzichten und
uns ferner mit 4 Stunden Französisch statt der 5 begnügen, in der Ueber-
zeugung, dasz 4 bei fester Unterlage des lateinischen Sextapensums ganz
ausreichen.
Der Quarta kann man schon etwas mehr zumuten, da sie (normal
gerechnet) die Knaben von 12—13 Jahren oder von ihrem 12. bis zu
ihrem 13. Jahre beherbergt, denen die Schwierigkeit, sich in die Mathe-
matik hineinzufinden, auch wenn sie (wie nach der Unterrichtsordnung)
in Quinta nicht vorbereitet oder eingeleitet worden ist , niemals so grosz
sein wird, wie den Quintanern die Schwierigkeit des Französischen. Den-
noch hat die Quarta bei uns 1 Schreibstunde und 2 lateinische Stunden
weniger als nach der Unterrichtsordnung, so dasz sie auch nur auf 30
Stunden incl. Singen und excl. Turnen kommt. Wären wir aus andern
Gründen nicht verhindert , 1 oder 2 Stunden dem Latein zuzulegen , wir
wissen nicht, ob wir es ohne weiteres gerne thäten. Denn 30 wöchent-
liche Stunden auszer Turnen ist für diese Knaben des Sitzens genug.
(Ob Knaben beim Singen nicht besser stehen, ist zwar fraglich oder
eigentlich — keine Frage.)
Die Tertia erhält nun noch das Englische zu dem Uebrigen mit
4 Standen hinzu. Naoh der Unterrichtsordnung fallen dagegen von der
Stundenzahl der Quarta aus : die 2 Schreibstunden , 1 Stunde Latein und
1 Stunde Französisch; so kommt Tertia auf eine Stundenzahl von 32,
auszer Singen und Turnen, und steht mit Quarta, wie mit den oberen
Classen gleich. Bei uns kommt sie sogar auf 33 excl. Singen, also incl.
Singen auf 34, incl. Turnen auf 35% Stunden. Im Lateinischen sind an
unserer Anstalt zwar nur 4 Stunden statt 5 ; aber es treten 2 Physik-
stuudea hinzu, weil fast alle Schüler aus Tertia in den Beruf übergehen.
30*
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448 Hansen : Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf.
Trotzdem möchte ich nun freilich wünschen , in dieser Glasse mich dem
Plan der Unterrichtsordnung genau anzuschlieszen und die Physik weg-
fallen zu lassen, dafür 5 Stunden Latein anzusetzen. Wir tragen vorläufig
den besonderen Verhältnissen Rechnung ; obwohl nur in dem Falle, wenn
mit dem zweijährigen Gursus der Tertia Ernst gemacht wird, der Un-
terricht in der Physik etwas nützen kann, namentlich im zweiten Jahre
des Tertianers. Bei dem jetzigen Stande der Naturwissenschaft überhaupt
und bei der jetzigen Methode ihres Unterrichts werden die Stunden in der
Physik erst in den oberen Glassen fruchtbar werden. Selbst in der Natur-
geschichte läszt sich zum Teil vor Tertia nicht viel thun. Früher frei-
lich, vor etwa 20 — 25 Jahren, unterrichtete man wohl schon 10jährige
Knaben in der 'Mineralogie'. Aber auch in der Botanik und Zoologie
kann es am wenigsten auf die Masse des zu Lernenden, sondern vielmehr
meist nur auf die Uebung im Beobachten ankommen, die in der That in
einigem Zusammenhang erst nach dem 12. Jahre in dem Knaben
fruchtbar gemacht werden kann. Scheut man sich daher mit Recht vor
der Ueberladung der Schüler der unteren Glassen , dann warte man ge-
trost mit aller Naturwissenschaft bis in Quarta; die Resultate werden
schlieszlich bessere sein. ,
Die oberen Glassen fassen wir zusammen. Warum die Unterrichts-
ordnung usw. den Secundanern 4, den Primanern nur 3 Stunden Latein,
dagegen den Primanern 3 Stunden Zeichnen zuweist, also 1 Stunde mehr
als allen anderen Glassen, ist mir nicht klar. Wenn die 'Erläuterungen'
zu der Unterrichtsordnung (S. 72) darin Recht haben, dasz im lateinischen
Unterricht 'möglichst viel gelesen werden' soll, so wird man gewis
nicht von den 4 lateinischen Stunden der Sekunda in Prima eine opfern
können, da erst hier eigentlich die sachliche Seite dieses Unterrichts aus-
gebeutet werden kann. Und es würde doch etwas idealistisch sein , dem
Privatfleisze der Primaner einer Realschule gerade eine Vorliebe für das
Lateinische zuzumuten. Ganz anders steht es mit dem Zeichnenunterricht.
Es liegt in der Natur der Sache, dasz in diesem Gebiete der Privat-
fleisz thätiger und fruchtbarer sein wird. Viel eher würden wir dazu
veranlaszt sein , von den 2 Zeichnenstunden für Prima eine zu streichen,
als eine 3. Stunde hinzuzufügen. Will man dem Lateinischen die 4. Stunde
nicht lassen, lege man der Geschichte und Geographie eine Stunde- zu,
die mit 3 Stunden kaum auskommen, wenn doch in Prima eine Stunde der
mathematischen Geographie gewidmet sein musz, die sich der Mathema-
tiker nicht nehmen lassen wird und darf. Oder man kehre im Unterricht
in der Muttersprache zu den vier Stunden der unteren Glassen (resp. der
Sexta) wieder zurück; dies würde um so ersprieszlicher für eine solche
Realschule sein, die so glücklich ist einen Germanisten von jener rein
gelehrten, nur in Wortklauberei ihre Seligkeit suchenden Sorte, wie sie
hier und da vorkommen soll, nicht zu besitzen.
Fassen wir noch kurz zusammen, was in Betreff der Stundenzahl
der einzelnen Stufen zu sagen sein möchte. Der Sexta dürfen nach unse-
rer Ansicht nicht mehr als höchstens 26 excl. Turnen wöchentliche Stun-
den zugemessen werden, der Quinta in der Regel nur 28, der Quarta 30,
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Googk
Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf. 449
der Tertia, Secunda, Prima je 32. Der augenscheinliche Beweis, dasz
solche Verteilung ausführbar sei, läszt sich allerdings nicht hier, sondern
nur im wirklichen Leben der Schule führen; aber wir sind fest über-
zeugt, dasz die schlieszlichen Resultate beim Abgange der Schüler aus
Prima, resp. Secunda oder Tertia bessere sein würden.
Dabei sind zwei oben angedeutete Voraussetzungen nicht auszer
Acht zu lassen :
1) dasz vor vollendetem zehnten Lebensjahre kein Schüler in die
Sexta aufgenommen wird;
2) dasz dennoch der Gursus der Tertia ein unbedingt zweijähriger
sein musz, ganz einzelne Fälle vorzüglicher Schüler ausgenommen.
Hier wird nun auch der rechte Ort sein , zum Ueberflusz hinzuzu-
fügen, dasz es ein unberechenbarer Schade für die Realschule ist, wenn
sich an einen halbjährigen Besuch der Secunda bestimmte Rechte knü-
pfen. Wer selbst in dieser Classe Jahre hindurch unterrichtet, hauptsäch-
lich in dieser Classe sich bewegt hat, wer ferner die Stimmen vieler
stimmfähiger und stimmberechtigter Gollegen über diesen Punkt gehört
und Jahre hindurch verfolgt hat, für den heiszt es 'Eulen nach Athen tra-
gen', wenn man darüber noch ausführlicher sprechen wollte. So ergibt
sich noch eine dritte Voraussetzung zu den zwei obigen , nemlich :
3) dasz die Berechtigung zum einjährigen Militärdienste künftig auf
sämtlichen höheren Schulen jeder Gattung an den ein- oder
noch besser zweijährigen Besuch der Secunda geknüpft sei , richtiger : an
das Zeugnis der Reife für Obersecunda oder das für Prima.
Solche Voraussetzung, wie z. B. dasz bei allen Versetzungen aus
einer Classe in die andere strenge verfahren werden musz , dasz man we-
der auf die Körperlänge eines Schülers noch auf die Gemütsbewegungen
seiner Tanten oder Basen u. dgl. Rücksicht nehmen darf, verstehen sich
für jeden vernünftigen Menschen von selbst. Wer diese Voraussetzung
nicht gebührend achten will, hätte wenigstens nie Lehrer und Erzieher
werden sollen, sondern lieber nur ständiges Mitglied eines Damen-Cafö.
2.
Bei der Abfassung des Stundenplanes ist ferner in Betracht zu ziehen
die Natur der einzelnen Lehrgegenstände.
Was zunächst die Religion anlangt, so wird man ihre Stunden,
so viel wie möglich, an den Anfang der Tagesarbeit legen, demnächst
am liebsten an den Schlusz derselben, und zwar, da es doch bedenklich
ist, diesen Gegenstand als fünften oder sechsten der Tagesordnung aufzu-
zählen, an den Schlusz des Mittwoch- oder Sonnabendvormittags. Die
letztgenannte Stunde empfiehlt sich insbesondere noch dadurch, dasz sich
doch an vielen Anstalten eine Wochenschluszandacht an die Stunden des
Sonnabends anreihen wird. (Ueber Schulandachten in höheren Schulen
vgl. Zeitschrift für Gymnasialwesen. 14. Jahrgang. 1860. S. 241 — 255.)
Besondere Umstände bedingen besondere [Einrichtungen. Wenn z. B. an
unserer Anstalt regelmäszig den Winter hindurch am Montag und Don-
nerstag, Dienstag und Freitag und eine Zeitlang zuletzt auch des Mitt-
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450 Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zn Düsseldorf.
wochs und Sonnabends Vormittags 11 — 12 Uhr Confirmandenunterricht
gehalten wird, so würde eine Anzahl von Schülern besonders der Tertia
und Quarta den Winter hindurch wöchentlich 6 und zuletzt 8 Religions-
stunden haben , wenn der Stundenplan auf jenen Umstand keine Rücksicht
nähme; das wäre offenbar eine Ueberladung, die noch empfindlicher in
dem Falle würde, wenn die Geistlichen, wie nicht ganz selten geschieht,
die Stärke ihres Religionsunterrichts in massenhaften häuslichen Auf-
gaben suchen. Dieser Ueberladung vorzubeugen ist Pflicht; wir setzten
bei uns also nicht etwa Montags und Donnerstag 8 — 9 Uhr für Tertia und
Quarta Religion an, sondern an denselben Tagen 11 — 12 Uhr, so dasz
die Confirmanden als solche vom Religionsunterricht der Schule frei blie-
ben. Es kommt bei derartigen Fragen ja nicht auf das an, was uns etwa
lieb oder unlieb ist, sondern lediglich auf das, was pädagogisch sich
rechtfertigt. So kostete es denn auch keinen groszen Kampf, am Dienstag
der Tertia 11—12 gar keinen Unterricht, am Freitag eine Zeichnen stunde
anzusetzen, und für Quarta 11 — 12 Dienstags Naturgeschichte, Freitags
ein anderes Fach zu bestimmen ; so dasz der Unterricht beim Geistlichen
nicht sonderlich störend in den Gang des Schullebens eingriff.
Die Stunden , die der Muttersprache gewidmet sind , können so we-
nig , wie alle folgenden , einen bestimmten Platz im Stundenplan ein für
alle Mal beanspruchen. Dennoch ist ihre Stellung auf der Tagesordnung
nicht gleichgültig v Es ist eine unbestrittene Wahrheit , dasz jeder Unter-
richt zugleich Unterricht in der Muttersprache sein soll. Diese Wahrheit
wird sich desto mehr bestätigen, je weiter wir in die oberen Classen
rücken. Als absonderlicher Lehr gegenständ wird sich demnach die
Muttersprache am meisten in der Sexta herausstellen. Das liegt in ver-
schiedenen Gründen , von denen wir hier nur den hervorheben wollen,
dasz der Schüler meistens mit einer gewissen Virtuosität einen Dialect
oder ein Plattdeutsch handhabt, wenn er in die Sexta eintritt, und oft
mit Mühe und Not gewöhnt werden musz , das Hochdeutsche von seiner
übrigens in ihren Grenzen durchaus berechtigten Alltagssprache zu unter-
scheiden. (Im Uebrigen wolle der Leser auszer den mancherlei bekannten
Schriften über den Unterricht in der Muttersprache vergleichen: Zeitschrift
für das Gymnasialwesen. 15. Jahrgang. 1861. S. 254 ff.)
Weil es so sehr schwer ist, die Sextaner durchweg an lautes Spre-
chen, an deutliche und klare Aussprache zu gewöhnen, so wird es sich
empfehlen die Stunden der Muttersprache in dieser Glasse so zu legen,
dasz der Schüler mit frischer Kraft an sie herantritt, also an den Anfang
des Tages, so weit dies thunlich ist. Liegt doch auch, wie uns schon
Arndt's 'Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann' lehrt,
die Beschäftigung mit deutscher Sprache nicht weit ab von der mit deut-
schem Glauben, dem Glauben und Trost der Väter; und gilt dies doch
vollends für den Knaben im zarten Alter, wo die junge Seele in voller
Empfänglichkeit sich öffnet, wenn sie richtig angefaszt wird. Das Latei-
nische wird der Muttersprache den ersten Platz nicht streitig machen
können; und wir haben demnächst in Sexta kein Fach, das an den Anfang
der Morgenarbeit zu legen gleich wichtig wäre.
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Hansen : Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Dusseldorf. 451
In Quinta und Quarta ist es schon anders, weil in jener Gasse die
französische Sprache, in dieser dann die Mathematik hinzutritt, deren
Wichtigkeit für die Realschule ja nicht erst nachgewiesen zu werden
braucht, die aber auch, wenn der Schüler erst an sie herantritt, seine
ganze Kraft fordern. Deshalb eben wird es nicht immer möglich sein , in
diesen Glassen die Tagesordnung mit der Muttersprache zu eröffhen.
Noch weniger ist dies in Tertia möglich , da hier das Englische mit
neuer Eigentümlichkeit auftritt, in die der Schüler sich hineinarbeiten
musz. Von der Physik und Chemie gilt in Secunda dasselbe, wenn auch
nicht in gleichem Grade, von dem Gesichtspunkt aus betrachtet, den wir
hier einnehmen.
In Prima erst, wo kein neuer Lehrgegenstand mehr hinzutritt, wer-
den wir darauf zurückgehen können, dasz die Muttersprache nach der
Religion die erste Stelle in der Morgenarbeit fordert. Wenn daher, wie
wol manchmal der Fall sein mag, die Mathematik an jedem Wochentage
die Stunde von 8 bis 9 Uhr in der Prima einnimmt, so liegt dies vielleicht
in anderen Rücksichten, die mit der auf die Natur der Gegenstände zu-
sammenwirken , aber sicherlich nicht in dieser letzteren allein.
Vom Lateinischen wird nicht viel mehr zu sagen sein. Hat die
Sexta 8 wöchentliche Stunden, so ists viel werth, wenn es sich einrichten
läszt, dasz eine und 'dieselbe Stunde an jedem Vormittage für das Latei-
nische angesetzt werde, z.B. die zweite (9 — 10),oder die dritte (10 — 11).
Im letzteren Falle hat man den Vorteil , dasz die Hauptpause unmittelbar
vorhergeht. Und kein Lehrer, der die Jugend wirklich kennt und zu be-
handeln weisz, wird im Ernst behaupten wollen, dasz die lustigen Spiele
der Pause die Knaben zu sehr zerstreuen. Ich habe einen Director ge-
kannt, der von dieser fixen Idee nicht zu curieren war. Wer so zaghaft
spricht , stellt sich selbst in vielen Fällen nur ein Armutszeugnis aus.
Die beiden lateinischen Stunden , die nun noch übrig bleiben, die 7. ü. 8.,
fallen entweder von selbst auf zwei Nachmittage, oder man legt, was an
einem einzelnen Tage nicht schaden kann, eine zweite lateinische Stunde
an einem der Wochentage hinter die erste ; nur musz dann die grosze
Pause dazwischen liegen. Dies kann, an einem einzelnen Tage geübt,
sehr fruchtbar sein, sobald der Lehrer der Art ist, dasz er seine Schüler
zu gewinnen und zu fesseln weisz. In diesem Falle kann die letzte noch
bleibende Stunde, die 8. der Woche, am besten so verwerthet werden,
dasz sie ein anderer Lehrer erteilt. Hat z. B. der Dirigent der Anstalt
den lateinischen Unterricht der Sexta nicht selbst in Händen , was sich
übrigens von Zeit zu Zeit, z. B. in jedem fünften Jahre (die 2jährige Ter-
tia vorausgesetzt) , empfiehlt , so wird er wol daran thun , von den acht
Stunden eine zu erteilen, die dann als Repetitionsstunde gelten wird.
So z. B. hielten wir es zuletzt an unserer Anstalt. Und dann wird man
kein Bedenken tragen, auch diese Stunde, in ähnlicher Weise wie die 7.
der Woche, auf den Vormittag zu legen, wenn anders dies sonst sich
empfiehlt.
In Quinta und Quarta kann sich an das Lateinische das Französische,
in Tertia das Englische auf dem Stundenplan anschlieszen , in Secunda
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452 Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf.
auch etwa zwei Mal wöchentlich die Geschichte, wenn es die der alten
Völker ist.
Der Zeichnenunterricht wird nach unserer Meinung nicht im-
mer gut ans äuszerste Ende als Anhang geschoben, sondern dient in un-
teren und mittleren Glassen oft sehr zweckmäszig zur Abwechselung zwi-
schen zwei Sprachen usw. Ja er läszt sich kleineren Knaben gegenüber
oft gar nicht anders legen.
Was das Singen betrifft, so ist es geradezu ein Fehler, dasselbe in
der Regel an den Schlusz der Tagesarbeit zu verlegen, wo nicht etwa die
unglückliche Einrichtung des Schulgebäudes dies zum notwendigen Uebel
macht. Es will mir überhaupt vorkommen, als ob besonders der Gesang-
unterricht mancherlei Misgriffe erleiden müste. Ohne darauf hier weiter
uns einzulassen , als es unser besonderer Zweck fordert, wollen wir nur
bei dieser Gelegenheit rathen, bei der Auswahl der singenden Schüler aus
der Masse etwas wählerischer zu sein und nicht alle möglichen Schüler
zuzulassen , die doch einmal keine Stimme , wenigstens für den Augen-
blick noch keine Stimme haben, oder denen jede Spur von musikalischem
Gehör nun doch einmal abgeht. Was hilft es — dies ist der erste Haupt-
grund — in hochklingenden Worten (s. viele Schulreden) zu bekennen,
dasz man im Gesänge das Schöne pflegen und im Schüler den Sinn für
das Schöne wecken und ausbilden wolle usw., wenn man doch durch Zu-
lassung »von absolut unmusikalischen Schülern den Geschmack der übri-
gen von vornherein ebenso verdirbt, wie z. B. dem am Ciavier lernenden
Kinde Gehör und Geschmack durch ein schlechtes Instrument verdorben
werden! Und ferner — dies ist der zweite Hauptgrund — vor allem
soll der Knabe lernen allein singen, ohne sich auf einen anderen oder
die anderen zu stützen, und das Singen jedes einzelnen musz für jeden
anderen instructiv sein oder werden können.
Doch wir sprechen uns vielleicht noch an einer anderen Stelle näher
über diesen Gegenstand aus. Hier beschäftigt uns die Einordnung des
Singens in den Stundenplan. Die Stimme des Schülers soll geübt werden;
damit dies geschehen könne, musz man sie vor allem erhalten und scho-
nen. Jeder Sänger denkt darauf, vor dem Singen seine Stimme und über-
haupt seinen Körper nicht sonderlich anzustrengen , damit ihm hernach
nicht die Kraft versage. Man thut das gerade Gegenteil , wenn man z. B.
nach einem fast unausgesetzten Unterricht von 8 — 12 und von 2 — 4 Uhr
die Gesangstunde von 4 — 5 Uhr abhält. Sie dahin zu legen ist ganz ver-
kehrt. Wenn wir an unserer Anstalt die Gesangstunden im letzten Win-
ter von 2 — 3 Uhr Nachmittags hielten, so ist das auch eigentlich nicht
die rechte Zeit, wenn gleich sie am Anfang der Nachmittagsarbeit liegt
Denn zu bald nach dem Mittagsessen singt es sich nicht aufs beste. Doch
ist immerhin diese Zeit viel besser als die von 4 — 5 Uhr, wo der Schüler,
der recht fleiszig teilgenommen, müde von der Arbeit der Ruhe bedarf
oder der freieren Beschäftigung, wie sie z. B. das Turnen bietet.
Die Gesangstunde liegt am besten Vormittags und zwar, wenn nicht
andere Gegenstände vorgehen, z. B. von 10—11 Uhr. Natürlich musz der
Lehrer so verständig sein, zu warten, bis die Schüler sich von der raschen
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Hansen : Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf. 453
Bewegung des Spieles körperlich und geistig etwas beruhigt haben , und
nicht ein solcher Pedant sein, dasz er im ersten Moment schon die volle
Kraft seiner Schüler für den Gesang in Anspruch nehmen will , sobald er
unmittelbar nach, dem Zeichen mit der Glocke in die Glasse tritt. Auch
von 11 — 12 Uhr ist eine sehr geeignete Stunde für den Gesang, sobald
man unmittelbar vorher einen Gegenstand hatte, der die Schüler gar
nicht oder nur wenig zum Sprechen nötigt, z. B. Schreiben oder Rechnen.
(Es bedarf ja för keinen Verständigen der besonderen Bemerkung, dasz
wir uns hier vorläufig den Anfang der Schulstunden Vormittags um 8 Uhr,
Nachmittags um 2 Uhr denken. Fängt der Unterricht im Sommer z. B.
um 7 Uhr an, so ändert sich darnach selbstredend das Uebrige.)
Sollte sich etwa aus persönlichen Gründen , deren es manche geben
kann , empfehlen , die Gesangstunden recht früh am Tage zu legen , dann
darf unter keinen Umständen dagegen als Einwand geltend gemacht wer-
den , die singenden Glassen möchten die übrigen stören. Mag nun der
Gesangunterricht in der Aula oder in einem sonstigen Baume gehalten
werden, das Gebäude musz so eingerichtet sein, dasz der Gesang niemals
stören kann. Der Stundenplan hängt nicht von einem etwa verkehrt an-
gelegten Schulgebäude ab , sondern die Anlage des Schulgebäudes musz
sich natürlich nach dem vernünftigen in der Natur der Sache begründeten
Stundenplan richten oder nach den Verhältnissen, die dieser fordert.
Demnach darf nichts im Wege stehen, auch schon in die zweite
Stunde des Vormittags den Gesang zu legen, wenn andere Gründe
irgendwo dafür sprechen. Wir sagen: in die zweite; denn die erste,
möchten wir nicht empfehlen , da bekanntlich die Stimme meistens nicjit
gleich Morgens in Ordnung ist, wie die Erfahrung vieler Redner, um von
Sängern nicht zu reden, bezeugt.
Es bleibt uns für unseren zweiten Hauptpunkt noch übrig , einige
Bemerkungen über die Zusammenstellung des Stundenplanes im Ganzen
zu machen. Sollten sich übrigens Gollisionen herausstellen zwischen dem
für das Ganze zu Empfehlenden und dem im Einzelnen oben als wün-
schenswerth Bezeichneten , so werden solche nicht unausgleichbar sein.
Sie werden sich, wie alle Gollisionen auch anderer Art, die sich etwa aus
sonstigen in der Natur der Verhältnisse liegenden Rücksichten ergeben,
durch den Grundsatz esuum cuique' erledigen lassen. Wir haben uns
hier die Aufgabe in ihre Momente aufgelöst klar zu machen.
Ein Grundsatz, der für alle Glassen durchweg Geltung beanspruchen
möchte, ist dieser : es ist gut, Sprachen und 'Wissenschaften' ('Realien')
und etwa auch Technisches abwechseln zu lassen, wenigstens nicht zu-
sehr die eine Gattung bald und bald wieder die andere zu häufen. Man
wird z. B. aus inneren Gründen ganz wol thun, in Sexta Deutsch und
Latein an vier Tagen hinter einander zu legen , wenn ein und derselbe
Lehrer Beides vertritt. Man wird aber z. B. Bedenken tragen , in Tertia
von 8 — 12 Uhr hinter einander Muttersprache , Latein, Französisch und
Englisch zu legen, und zwar nicht blosz aus dem Grunde, weil sich dem-
nach zu viele häusliche Arbeiten auf einen Tag häufen könnten , sondern
schon darum, weil vier sprachliche Stunden nach einander eine Ueber-
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454 Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf.
ladung hervorrufen , die man nicht wol verantworten kann« Ebenso we-
nig wird man in Secunda oder Prima Mathematik, Physik, Naturgeschichte,
Chemie hinter einander auf den Plan eines Vormittags setzen dürfen, so
sehr auch je zwei und zwei und alle vier Fächer unter sich verwandt sind.
Wenn auch ein Schüler treu seine Pflicht thut, so ist doch nicht gesagt,
und auch nicht von jedem zu verlangen, ja nicht einmal zu wün-
schen, dasz er an allen Lehrgegenständen ein gleich lebhaftes Interesse
nehme. Denken wir uns nun einen Schüler, der Sprachen, Litteratur und
Geschichte, so weit es seine Kräfte gestatten, mit warmer Vorliebe um-
faszt, dem es dagegen nicht gelingen will, aus Gründen, die sehr ver-
schieden sein können , der Mathematik oder den Naturwissenschaften ein
sonderliches Interesse abzugewinnen; wie würde man sich verwundern
können, dasz ein solcher Schüler bei einer derartigen Anhäufung homo-
gener Fächer auf einen Vormittag lahm und gleichgültig wird, endlich
auch das geringere Interesse, das er hatte, gänzlich fahren läszt!
Vor jeder Ueberhäufung hat man sich gewis sehr zu hüten. Man
wird, wenn nicht Deutsch und Latein in eines Lehrers Hand liegen, selbst
nicht einmal diese beiden Gegenstände in Sexta hinter einander legen,
sondern z. B. so verfahren, dasz man folgen läszt, wie wir es zuletzt bei
uns machten: Deutsch, Rechnen, Latein, Schreiben; an zwei anderen
Tagen: Rechnen, Latein, Zeichnen; und wiederum an zweien: Religion,
Deutsch, Geographie, Latein.
Doch gibt es eine Einrichtung , die man in oberen Glassen versucht
hat, aber auch nur in diesen versuchen darf: nemlich zwei Stunden hin-
ter einander denselben Gegenstand zu nehmen. Für alle Fächer wird es
nicht ausführbar sein , aber wol für einige ; ja es ist sogar für einzelne
fast notwendig. Der Chemiker kann nicht wünschen, zwei Stunden prak-
tische Uebungen in Prima in eine Stunde an zwei Tagen zerlegt zu sehen,
sondern er wird eines Nachmittags ungeteilt bedürfen. Einen gleicheu
Wunsch wird der Zeichnenlehrer für seine Zwecke in Prima haben, wenn
anders wirklich die Prima mehr als einer wöchentlichen Zeichnenstunde
bedarf. Ebenso wird, besonders einer stärkeren Prima gegenüber, in
Prima, und selbst in Secunda die Physik oft zwei Stunden nach einander
fordern. Ferner könnte sich fragen, ob in einer Secunda, in welcher
noch praktisches Rechnen getrieben wird, für die höheren und verwickel-
ten Rechnungsarten nicht bisweilen zwei Stunden beisammen liegen könn-
ten. Doch man hat auch schon für die Mathematik in Secunda und dann
natürlich vollends in Prima zwei Stunden zusammengelegt, und zwar
gleich die ersten Morgenstunden von 8 — 10 Uhr. Die Ansichten darüber
mögen geteilt sein unter den Fachmännern ; Verf. erinnert sich ?on einem
Fachmann gehört zu haben, dasz er es an einer Anstalt so vorgefunden,
in Secunda aber es wieder aufgegeben habe, auch in Prima es nicht all-
zusehr preisen könne.
Vorübergehend, aber auch nur so, hat Verf. an unserer Anstalt
etwas Aehnüches sogar iu Tertia, gerade in dieser Zeit, in einem Teile
des Wintersemesters 1863/64, ausgeführt. Dies gieng so zu: wir hatten
dach im Jahre 1863 die Gedenktage aus den Freiheitskriegen. Je »ehr
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Hansen : Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf. 455
dem öffentlichen Leben des deutschen Volkes diese in 50 Jahren als. solche
nicht wiederkehrende Festperiode auf eine unverantwortliche Weise ver-
kümmert worden ist, desto weniger durfte die Schule sie vernachlässigen ;
denn die Jugend erbt von den Vätern und musz nicht vergessen, wie die
Väter gelebt und gelitten haben für des Volkes höchste und heiligste Gü-
ter. Was der Staat versäumte, musten Haus und Schule, so gut es inner-
halb der natürlichen Grenzen möglich war, zu ersetzen suchen. Verf. hat
in Tertia die Muttersprache und die Geschichte. Die Verwandtschaft die-
ser beiden Gegenstände in der deutschen Schule trat demjenigen Lehrer,
der ein lebendiges Glied seines Volkes zu sein sich nicht schämt sondern
freut, wol nicht leicht mit gröszerer Entschiedenheit entgegen als gerade
jetzt, in Veranlassung der vaterländischen Gedenktage» Die Erkenntnis
ihrer Verwandtschaft muste verwerthet werden. Nichts lag näher, als für
die ersten Monate des Wintersemesters sich eine kürzere Schilderung der
Freiheitskriege zu suchen, die zugleich in würdiger, vielleicht muster-
gültiger Prosa geschrieben wäre, und diese in den Stunden der Mutter-
sprache und der Geschichte, die an einem der Wochentage sogar zusam-
men lagen, ganz durchzulesen und möglichst in Fleisch und Blut aufzu-
nehmen. Eine solche Schilderung bot sich uns von selbst. Anfang
Octobers erhielt ich von den mir befreundeten Theodor Golshorn in
Hannover seine Freiheitskriege9 unmittelbar aus der Druckerei. Ich musz
nach bestem Wissen diesem Büchlein das Zeugnis geben, dasz es mit eben
so viel Fleisz des Studiums wie Kunst der Darstellung, und mit der wärm-
sten Liebe zu Land und Volk geschrieben ist. Ich habe es in und mit der
Tertia ganz durchgelesen. Darnach glaubte ich es dem alten unverwüst-
lichen Kohlrausch schuldig zu sein, seiner bekannten Skizze, die er
auch für die Schule abgefaszt, Aufmerksamkeit zu schenken. Und so ha-
ben wir auch seine kurze Geschichte der Freiheitskriege ganz durchge-
lesen und damit einen Zeugen gehört , der jene grosze Zeit mit vollem
Be wustsein im Mannesalter durchlebt hat. Dasz nicht blosz gelesen
wurde, versteht sich von selbst. Einzelne Bilder wurden zum Gegen-
stande schriftlicher deutscher Arbeiten genommen , und dann auch, wenn
diese corrigiert waren, zur Hebung im mündlichen Vortrage benutzt.
Daran reihten sich nationale Gedichte aus jener Zeit an , so dasz etwa die
Hälfte dieses Semesters hindurch der Stoff für den Unterricht in Mutter-
sprache und Geschichte nur aus jener groszen Zeit genommen war und
die ganze Aufmerksamkeit der Classe, die begreiflicher Weise solchem
Stoffe gegenüber eine sehr lebhafte war , ausschlieszlich auf diese
Zeit in den betreffenden Stunden sich concentrierte. Nachdem nun diese
Ausbeutung der so combinierten Stunden in Muttersprache und Geschichte
zu einem gewissen Abschlusz gekommen war, kehrten wir zu dem (von
Ostern bis Ostern gehenden) Jahrespensum in der Geschichte , wie zu an-
derweitiger prosaischer und poetischer Leetüre in der Muttersprache zu-
rück; nur dasz die schriftlichen Arbeiten (nur in der Classe gemacht)
sich wol den ganzen Winter hindurch meist nur auf die Freiheitskriege
bezogen haben.
Für obere Glassen gibt es auch noch eine andere Zusanunenziehung
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456 Hansen: Vortrag für die Vers, rbein. Schulmänner zu Dusseldorf.
der Stunden, die gewis keine Ueberhäufung heiszen kann. Man kann,
nicht nur ohne Schaden sondern sogar zum Vorteil der Sache , sich oft-
mals bewogen fühlen, wenn man z. B. Geschichte und Geographie in
einer Hand hat, eine Zeitlang nur Geschichte zu treiben und dann wie-
der, sobald man zu einem Hauptabschnitt gelangt ist, nur Geographie.
Es empfiehlt sich nicht selten, die ganze Aufmerksamkeit in vier wöchent-
lichen Stunden auf ein Gebiet zu vereinigen. Es kann besondere Vor-
liebe dazu ermuntern, aber auch andererseits besondere Not dazu zwin-
gen. Die Geschichte Alexander's wird man nicht gerne in zu langen
Zwischenräumen verlaufen lassen, so wenig wie die der Völkerwande-
rung; und andererseits wird jeder Lehrer, der nicht davon lassen kann,
sich in der Schule mit den Diadochenkämpfen in extenso zu plagen , den
Schülern nichts Haftendes beibringen, wenn er nicht mehrere Stunden
in einer Woche dazu verwendet; sonst vergiszt die Mehrzahl von einer
Stunde zur anderen, was da gewesen ; denn so viel Reiz diese Periode für
Philologen haben mag , für Schüler ist und bleibt sie ungenieszbar.
3.'
Bei der Abfassung des Stundenplanes ist ferner in Betracht zu zie-
hen die Individualität usw. der Lehrer.
Davon reden wir hier nicht, dasz die Verteilung der Fächer sich nach
der 'facultas docendi' der einzelnen Glieder des Lehrercollegiums richten
müsse. Das ist ja allbekannt. Nicht ganz so bekannt aber ist, dasz mit-
unter ein Fach durch einen nicht mit der 'facultas docendi9 Ausgerüsteten
besser besorgt ist als durch einen Mann der 'facultas'. Das lautet freilich
paradox und läszt sich hier nicht beweisen. Aber wer aus Erfahrung
dem beistimmt, was der Apostel I. Gor. 1 v. 8 sagt, versteht uns. Und
wenn wir auch uns einen Lehrer denken, der vom Wissen nicht eben
aufgebläht ist, so kann etwa schon durch bloszes Ungeschick ein
groszes Wissen in der Hand eines Lehrers sehr viel Unheil anrichten.
Denken wir z. B. an die vaterländische Nationallitteratur oder an die Ge-
schichte. Wie schlimm kann es wirken, wenn da ein Lehrer mit groszer
Gelehrsamkeit und 'glänzenden Zeugnissen9 kein Maszhalten kennt und
um das Bedürfnis der Jugend sich gar nicht bekümmert! Es beschleicht
uns bisweilen ein eigentümliches Gefühl, wenn wir Vacanzanzeigen in
öffentlichen Blättern lesen. Da wird z. B. gesucht ein Director und Mel-
dungen werden erwartet 'unter Anlegung der Zeugnisse'; oder es wird
für obere Classen ein Oberlehrer verlangt , der seine Qualifikation 'durch
Zeugnisse ausweisen' könne'. Sollte die ausdrückliche Betonung der
Zeugnisse etwa deshalb geschehen , um der Goncurrenz von sonderbaren
Schwärmern zu begegnen , so wird man sich solche auch ohne derartige
Zeugnisse vom Leibe halten können. Wenn z. B. zu einer vacanten Di-
rectorstelle an einer Realschule I. Ordnung im Preuszischen sich ein
jugendlicher, kaum 25jähriger theologischer Candidat aus dem blütenrei-
chen Lande Mecklenburg meldete , so ist solcher ruheloser Parcival schon
durch die Unterschrift seines Gesuches genügend charakterisiert. Ande-
rerseits aber ist doch sehr zu bedenken, dasz Zeugnisse, sobald sie auch
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Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf. 45?
nur 5 — 10 Jahr alt sind, oftmals schon gar nicht mehr auf den Inhaber
passen , so wenig wie eine Photographie des 25jährigen Jünglings noch
für ein getreues Bild des 35jährigen Mannes gelten kann. Somit werden
bei der Besetzung der ersten oder höheren Stellen an einer Anstalt ver-
blichene Zeugnisse wol nicht so sehr in Betracht kommen , wie das Urteil
einsichtiger Zeitgenossen und die eigene Anschauung competenter Leute
von den betreffenden Persönlichkeiten, welche in Goncurrenz treten.
Von der 'facultas docendi' wollten wir also eigentlich nicht spre-
chen, sondern, abgesehen von dieser, von den Rücksichten, die bei
Abfassung eines Stundenplans durch die Individualität der Lehrer einer
Anstalt geboten sind. Die Fächer, sind ja wenigstens nur zum Teil indi-
viduelles Eigentum, andererseits aber Gemeingut Vieler; und nur die Be-
handlung des betreffenden Faches ist rein individuell. Diese allein geht
uns also hier unter anderen individuellen Sachen an. Der geneigte Leser
wird mir zu Gute halten, dasz ich raus der Schule plaudere9; dies aber
ist hier offenbar nicht zu vermeiden und oft weit besser als um ein an-
deres Sprichwort zu gebrauchen, 'wie die Katze um den heiszen Brei her-
umschleichen'.
Zu jener individuellen Behandlung des Faches kommt nun noch eben
manches andere Individuelle hinzu, das hier unmöglich alles angefühet
werden kann. Es ist die individuelle Erscheinung eines bestimmten Tem-
peraments, es ist das Lebensalter, die Lebensführung, der .Charakter; es
gehören hieher Neigungen und Liebhabereien , die nicht ins Blaue hinein
toll und blind durch die abstracte Autorität eines Vorgesetzten ohne
Weiteres ignoriert, oder zum Schweigen gebracht werden dürfen.
Wenn wir uns über dieses Letzte gleich näher erklären müssen, so
thun wir dies am besten durch ein als vorhanden angenommenes Beispiel.
Denken wir uns einen schon an dreiszig Jahren im Amte stehenden Leh-
rer einer höheren Schule, gleichviel ob Realschule oder Gymnasium. Wir
nennen ihn X., eine stille, etwas ängstliche Natur. Der Mann ist vielleicht
kein lumen mundi, hat aber in seiner Sphäre seine Pflicht getreu nach
besten Kräften Jahr aus Jahr ein erfüllt und bisher das Glück genossen,
unter den Auspicien vielleicht schon mehr als eines milden und besonne-
nen, seiner eigenen Schwachheit sich stets bewusten Dirigenten zu stehen ;
wie es denn ja solche gibt, die das 'docendo discere' nicht vergessen. Mit
einem Male nun ändert sich die Scene : Es tritt eine Vacanz im Directorat
ein ; plötzlich erscheint wie ein deus ex machina , oder wie * das wunder-
bare Mädchen im Thal bei armen Hirten9, überraschend vielleicht selbst
für die nachte beikommende Schulbehörde, ein neuer Director aus weiter
aschgrauer Ferne. Dieser Mann ist etwa nebenbei auch bestimmt, als
Vorposten für eine exaltierte politische oder kirchliche Richtung zu die-
nen und die ihm untergebenen und ihn umgebenden Leute schon durch
seine würdevolle Erscheinung mores zu lehren. Doch — lassen wir dies.
Der Mann tritt in den Kreis des Collegiums — doch nein — er nimmt
auszerhalb des Kreises Stellung ; er ist ja der 'Director', führt sich viel-
leicht gar mit den Worten ein bei dem Antrittsbesuch im Hause der Col-
legen: 'Ich bin Ihr Director.' Ob in Wort oder Ton sich der 'horno ru-
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458 Hansen : Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf.
sticus 9 verrftth, ist ihm gleichgültig. Der Mann soll einen Stundenplan
machen. 'Wir fassen9, sagt er, cnur die Sache ins Auge, und nur das
Amt ist maszgebend.9 Ob da ein schon schwacher, bald 60jähriger Col-
lege, ob etwa noch mehrere gleichfalls langgediente Männer, oder obs
lauter kräftige Dreisziger sind, ist natürlich gleichgültig. Nun gehts an
den Stundenplan. Ein Zufall bewahrt vor zu vielen Zwischenstunden; es
gibt für jeden 'nur* jeden zweiten Tag etwa eine, also 'nur9 drei wö-
chentlich — eine mäszige Zahl! Aber es liegt 'im Interesse der Sache9,
dasz zu jeder Zeit recht viele Lehrer der Anstalt in der Schule erschei-
nen; das ist 'pädagogisch'; wer also nicht Nachmittags um 2 Uhr da ist,
musz um 3 Uhr da sein und umgekehrt. Unser alter College X-, den wir
uns als Beispiel genommen, bekommt *im Interesse der Sache9 jeden
Nachmittag um 2 Uhr eine Stunde. Wollte er von seinem Bedürfnis spre-
chen, nach langjähriger Gewohnheit ein Mittagsschläfchen zu nehmen,
da würde es heiszen: Mas Amt schläft nie zu Mittag9; und schon die
nimbusumstrahlte Amtsmiene des Chefs läszt ihn jede Aeuszerung unter-
drücken. Der alte Veteran geht an vier Tagen der Woche um 2 Uhr in
die Schule, hat vielleicht noch einen weiten Weg zu gehen, ist also, nach-
dem er Vormittags schon 3 Stunden mit einer Zwischenstunde, d. h. fac-
tisch so viel wie 3% Stunden gegeben hatte, total müde und schläfrig,
wenn er in der Classe ankommt. Ist das zu verwundern?
Lassen wir den Collegen X., und denken uns den Coliegen Y. Die-
ser ist noch ein ganz junger Mann. Von ihm wird verlangt, er solle noch
Studien machen, da es ihm hier an der gehörigen 'facultas9, dort an der
pädagogischen Klarheit mangele. Aber erstens hat ein junger wissen-
schaftlicher Hülfslehrer eine Menge Stunden, und zweitens entweder gar
kein Einkommen , oder doch ein sehr spärliches , so dasz er auch auf ein
ansehnliches Quantum Privat- oder Arbeitsstunden angewiesen ist ; er ist
zu Allem gut genug , wird also auch zur Aushülfe bei der Schul- oder
Schülerbibliothek, oder gar bei beiden verwandt. Nun sollte man den-
ken, der Stundenplan des Collegen Y. wäre einigerinaszen angethan, ihm
doch etwas zusammenhängende Zeit zu Studien zu gönnen. Aber dem ist
nicht so : er hat diverse Correcturen , bekommt vielleicht unter anderen
den (ganz abgesehen von den Correcturen) schwersten Unterricht, den es
geben kann, die Muttersprache in Tertia oder Secunda, und dabei Zwi-
schenstunden, keinen freien Nachmittag, und doch auch an keinem einzi-
gen Tage die Morgenstunden bis 1.0 Uhr frei. Wie kann unter solchen
Umständen vernünftiger Weise verlangt werden, dasz ein. solcher junger
Mann, im Kampfe mit Widerwärtigkeiten und Sorgen und Lasten aller
Art, noch Zeit, Kraft und Lust behalten solle, fruchtbare Studien zu
machen?
Diese beiden Beispiele werden genügen. Exempla doceant! Knüpfen
wir noch einige Bemerkungen an diese Bilder aus dem Leben an. Wenn
die höheren Rücksichten, auf die Schüler und die Lehrgegenstände, ge-
bührende Berücksichtigung gefunden haben, dann darf nicht allein, son-
dern dann musz Rücksicht genommen werden auch auf die höchst ver-
schiedenen Persönlichkeiten im CoUegium, und es ist dann nicht allein
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Hansen: Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf. 459
gestattet, sondern Pflicht, die Wunsche der einzeln«! Lehrer zu hören
und möglichst in Rechnung zu bringen. Kommt man mit offener Frage,
zeigt man Humanität, so bekommt man offene Antwort, gewinnt Ver-
trauen. Der eine hat gerne die ersten Morgenstunden von 8 Uhr ah regel-
mässig besetzt, der andere gerne frei. Waram sollte man dies, wenn es
möglich ist es zu berücksichtigen, dennoch ignorieren? Jeder Lehrer
aber hat gerne wenigstens einen von den vier Nachmittagen in der Woche
frei, wenn nicht einen Vormittag. Mir ist eine Anstalt im Rheinlande
bekannt, an weicher jeder Lehrer stets einen freien Vormittag in der
Woche hat. Und sollte dies etwa nicht leicht ausführbar seheinen , so
ist es jedenfalls, wenn man will, ausführbar, selbst solchem Lehrer, der
24 oder 26 etatsmäszige Stunden hat, einen freien Nachmittag zu gön-
nen; ein solcher, der nur auf 30 Stunden angewiesen ist, kann ohne
grosze Schwierigkeit zwei freie Nachmittage haben , ja vielleicht ausser-
dem einet Vormittag. Für strebsame Leute ist dies eine Wolthat, da sie
zusammenhängende Zeit zu eigener Arbeit gewinnen; und wenn diese
freien Zeiten der längeren Erholung gewidmet wären, ist das für die
Schule ohne weiteres ein Unglück? Oder meint etwa Jemand im Ernste,
es würde damit etwas Reelles gewonnen, wenn man einen Mann von
Morgen bis Nachmittag spät im Trabe erhalten will, der — doch nur im
langsamen Schritt daherschlendert?
4.
Wir haben nun noch einen Nick auf diejenigen Rücksichten zu richten,
die durch die Jahreszeit geboten sind. Heben wir nur Einiges hervor.
Ohne Zweifel fallen uns sogleich die Naturwissenschaften ein; und
wollen wir nur dies Eine bemerken , dasz es ja gewis ganz unverfänglich
ist, im Sommer in einer unteren Classe Botanik anzusetzen, resp. zu bo-
tanisieren, während man im Winter dieselben Stunden anderweitig,' etwa
für Rechnen oder Algebra (z. B. in Quinta) verwendet. Oder man setzt für
den Winter dem chemischen Laboratorium in oberen Glassen mehr Stun-
den an, die man im Sommer anderweitig verwendet, da doch der Heerd
geheizt werden musz und kaum zu zweifeln ist, dasz diese Experimente
sich im Winter behaglicher ausführen lassen. Was hindert ferner, im
Sommer, bei im Ganzen günstigerer Beleuchtung, eine Zeichnenstunde
mehr, als im Winter zu halten, und dagegen eben im Winter dem Singen
eine Stunde mehr zu widmen? — Um die Geduld der Hörer nicht zu er-
müden, eile ich zum Schlüsse und möchte nur einen Punkt zur Sprache
bringen.
An manchen Anstalten ist es eingeführt, im Sommer den Vormittags-
unterricht von 7 Uhr statt von 8 Uhr seinen Ausgangspunkt nehmen zu
lassen. Ich habe es selbst mehrere Jahre hindurch an einer Anstalt mit-
gemacht, obwol ich weder nach einer persönlichen Neigung noch vom
Gesichtspunkt der Schule aus diese Einrichtung lieben konnte. Da ich
während vier Sommersemester jeden Morgen von 7 Uhr an Stunden
hatte, so habe ich oft genug Veranlassung gehabt zu prüfen, ob diese
Einrichtung zweckmäszig sei.
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460 Hansen : Vortrag für die Vers, rhein. Schulmänner zu Düsseldorf.
Wenn auch nie zu leugnen sein wird , dasz besondere örtliche Ver-
hältnisse hier und da eine einzelne Stunde von 7 — 8 Uhr in der Woche,
auch regelmäszig, wünschenswert!], ja notwendig machen können, so
habe ich mich doch nicht überzeugen können , dasz es gerathen sei , die
einzelne Erscheinung zum allgemeinen Gesetz für den Stundenplan zu
machen.
Nehmen wir die Dinge wie sie sind. Die Schule musz, so viel an
ihr liegt, mit dem Hause Frieden halten und dessen Ordnung nicht stö-
ren. An zwei verschiedenen Anstalten der Rheinprovinz stand ich, bevor
ich in meine jetzige Stellung eintrat ; und ich habe weder im Oberlande
noch am Niederrhein bemerken können, dasz im Allgemeinen die Leute
Morgens sonderlich früh aufgestanden wären. Wenn es nun auch zu viel
gesagt wäre von der rheinischen Schuljugend, was r Vater9 Boain einst
von uns schleswig-holsteinischen Soldaten sagte: 'Sie müssen Morgens
erst satt sein und dann nochmals essen , dann sind sie aber auch zu ge-
brauchen', so ist doch so viel gewis, dasz ein Junge nur dann ordentlich
in der Schule zu gebrauchen ist , wenn er etwas Ordentliches vorher ge-
nossen hat. Nüchterne Schüler tauten Morgens in der Schule nichts;
denn sie sind Märtyrer. Von den Lehrern wollen wir nicht reden.
Gesetzt aber auch, es würde dem leiblichen Teile des Knaben so früh
Morgens sein volles Recht, dann wird er, wie die Sachen stehen, mei-
stens aber immer allein und wol auch in Sturmeseile sein Frühstück ge-
nieszen. Das Familienleben bleibt ihm in früher Morgenstunde in der
Regel verschwunden. Wo in einem Hause — und dies ist ein Glück —
auf die Erscheinung der Familie als eines Ganzen ein Werth gelegt
wird , da ist man gar nicht erbaut von einer Schuleinrichtung , die ein
Zusammenkommen der ganzen Familie in der Morgenstunde hindert. Und
am wenigsten empfiehlt sie sich an solchen Orten, wo die Mehrzahl der
Väter Geschäftsleute sind, die an den Wochentagen inre Kinder nur beim
Essen und Trinken sehen , da der Abend , nach rheinischer Sitte wenig-
stens, die Väter in corpore in das Gasino u. dgl. regelmäszig entführt.
Von den etwaigen Störungen, die es einem Hause bereitet, wenn
vielleicht, weil die Kinder verschiedene Schulen besuchen, das eine Kind
desselben um 8 Uhr, das andere um 7 Uhr in die Schule musz, wollen
wir nicht reden. Das aber musz hervorgehoben werden, dasz die Stunde
von 11 — 12 Uhr, die der Schüler gewinnt, wenn er, statt von 8 — 12,
von 7 — 11 Uhr seinen Unterricht hat, mit seltenen Ausnahmen sicher ver-
loren ist, während er früh vor 8 Uhr, ohne Gelegenheit zur Zerstreuung,
seine freie Zeit eher ordentlich anwenden wird.
Wenn ich nunmehr meine Mitteilungen schliesze, so thue ich dies
mit dem Wunsche, dasz man es mit Nachsicht aufnehme, wenn dieselben
nicht sonderlich interessant waren; es wird wol anerkannt sein, dasz
über Stundenpläne interessant zu sprechen , nicht leicht ist. Wenn
man zugibt, dasz meine Urteile, Wünsche und Vorschläge nicht alles
praktischen Werthes entbehren, bin ich reichlich belohnt und herzlich
dankbar.
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
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(20.)
Die prosodische und metrische Messung /der Nibehjjji*'^
Strophe im MHD. und NHD. ^
(Fortsetzung und Schlusz von S. 3W.,
Gegen den Strom der Zeit zu schwimmen ist gefahrvoll ; wer in dem
Wagnis umkäme , der hat kein Recht sich zu beklagen. Trotzdem sehen
wir mit wolwollender Teilnahme auf einen solchen mutigen Schwimmer ;
denn oft schon hat — gegen aller Erwartung — der Muth des Tapfern
den Strom der Zeit durchbrochen und in ein anderes neues Bett hinüber-
geleitet.
Nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften führte in der deut-
schen Dichtkunst, wie oben angedeutet, der Strom der Zeit die altdeutsche
Versmessung mit unwiderstehlicher Gewalt hinüber in. das Gebiet der
antiken Metrik. Die Uebersetzer lateinischer und griechischer Gedichte
und später auch die heimischen Dichter in ihren eignen Schöpfungen sind
in den letzten zwei Jahrhunderten dieser Strömung widerstandlos ge-
folgt — und haben aus Vorliebe für das fremde das heimische Gut ver-
achtet und preisgegeben. Diese ihre Vorliebe sollten sie schwer büszen ;
denn während sie sich früher nach alter deutscher Weise unbeengt und
frei im Verse bewegen konnten, drückt und lähmt sie jetzt der Zwang
einer fremden Fessel. Aber trotzdem haben sie ihre Vorliebe für das
ausheimische Masz des Verses durch eine seltene Kunst der Nachahmung
Gelehrten und Ungelehrten unter Beihülfe der lateinischen Schulen so
wirksam eingeimpft, dasz der Faden, an welchem die mittelhochdeutsche
und unsere heutige Metrik zusammenhängt, mitten durchgerissen und
unsrer Dichtung die Rückkehr zur echtdeutschen Messung des Verses für
immer abgeschnitten zu sein schien.
Und doch haben in unserm Jahrhundert einzelne kühne Schwimmer
den Strom der Zeit durchbrochen und zwar mit dem glücklichste Erfolge.
Sieht man sieh nemlich auf dem Gebiete der schönwissenschaftlichen
Litteratur um und fragt sich, was von ihren Erzeugnissen gegenwärtig
auf das ganze Volk maszgebenden Einflusz übe, was nicht — so erscheint
im Allgemeinen die Poesie in den Hintergrund gedrängt ; im Vordergrunde
steht allein der Tendenz - Roman , die Absichts-Novelle und die politische
Beredtsamkeit. *
Die untergeordnete Gattung der Lyrik wuchert wie früher so auch
jetzt üppig fort ; aber es scheint nicht gewagt, mit Gervinus die lyrischen
Dichter der Gegenwart und ihre Leistungen in Bausch und Bogen zu mes-
sen. Auch wirkt jetzt das lyrische Gedicht nicht an sich ; nicht die Schön-
heit seiner Form, sei sie antik, sei sie altdeutsch, verleiht ihm Aner-
kennung und Verbreitung, sondern die Meinung, die Ansicht des Dichters
auf dem Gebiete des politischen, nationalen, religiösen und socialen
Lebens.
N. Jahrb. f. Phil. o. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 9. 31
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462 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
Darin hat Gervinus vollkommen Recht ; aber wenn er mit Goethe und
Schiller unsre Dichtung überhaupt für abgeschlossen hält , so ist das —
so Gott will — ein Irtum , es sei denn , dasz auch das politische Leben
des deutschen Volkes bereits abgeschlossen wäre und seinem Ende ret-
tungslos entgegengienge.
Für unsre Zeit, die in rastloser Hast forttreibt und in dem wirk-
lichen Leben des Einzelnen und ganzer Völker weitgreifende Ereignisse
von so wunderbarer Art , dasz sie vor 100 Jahren die auskreisendste Phan-
tasie eines Romanschreibers nicht hätte ersinnen können, in ungestümem
Wechsel au einander reiht — für eine solche Zeit ist von der Lyrik we-
nig oder nichts , vom Drama aber Alles zu hoffen.
Unsern Dramatikern fehlt aber bis jetzt noch der sichere Grund und
Boden. Sie suchen den Stoff nach vielseitiger Umschau in fremden Zeilen
und bei fremden Völkern und finden ihn leider noch nicht da, wo er
allein zu suchen ist und wo ihn Shakespeare gefunden hat — nemlich
mitten im Schosze des eigenen Volkes, der eigenen Gegenwart Ist aber
einst auf dem politischen Gebiete Deutschlands der sichere Grund und
Boden gelegt — dann werden auch nach Goethe und Schiller dramatische
Dichter aufstehen ebenbürtigen oder höheren Ranges.
Noch weniger endlich als die Lyrik schickt und paszt sich zur Hast
und Eile unsrer Zeit der zögernd langsame Fortschritt der epischen Dicht-
gattung. Was aber nach Goethe's idyllischem Epos: Hermann und Doro-
thea in dieser Gattung Vortreffliches geleistet worden ist, das hängt Alles
— um von dieser Rundschau in der Poesie der Gegenwart zur Sache
selbst zurückzukehren — mit den Leistungen der Dichter mehr oder
weniger zusammen, die von der altdeutschen Metrik — gegen den Strom
der Zeit sich stemmend — soviel es irgend angieng , zu erhalten gesucht
haben. • ~~"
Die feste Zahl der Hebungen, die Gleichgiltigkeit gegen die Senkung
und endlich der Reiz des Reimes — das sind die echtdeutschen Mittel der
metrischen Form , durch welche zuerst Goethe, später Heide im volks-
tümlichen Liede, dann die Balladendichter zu wirken gesucht haben. Weit
gefehlt, dasz ihre vielfachen Abweichungen von der antiken Metrik, un-
bewuste und be wüste, der Wirkung ihrer Gedichte geschadet hätten,
reizen diese das Ohr vielmehr in angenehmer Weise; denn es hört hier
heimische, liebliche Klänge, die ihm selbst die an fremdes Masz gewöhnte
Gelehrsamkeit nicht hat angewöhnen und ganz verleiden können.
Die Zeit für langathmige, zu Tausenden von Strophen anschwellende
Epen ist für immer vorüber; soll aber ein kürzeres, knapper gefasztes
Epos jetzt oder später noch gelingen und in dem Volke tiefere Teilnahme
finden — so ist seine Form schon fix und fertig — es ist dies die Nibe-
lungen-Strophe , wie sie uns altdeutsch gemessen bei den UebersetzeriL,
modernisiert in dem kleinen Epos Uhland's: Graf Eberhard der Rausche-
bart vorliegt.
Nachdem die rastlosen Bemühungen von J. H. Voss und Goethe's
Versuch, durch seine Idylle: Hermann und Dorothea unter dem deutschen
Volke den antiken Daktylus einzubürgern, völlig mislungen sind, so bleibt
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 463
dem Epiker der Zukunft kaum eine andere Wahl als die Nibelungen-Strophe.
Versteht er seinen Vorteil, so wird er sich vor dem einförmigen Trochäus
Herder's im Cid und d$n aus der Fremde entlehnten Ottave Rime Schiller' s
in der Aeneide hüten und, will er sich nicht sofort an die altdeutsch mes-
senden Uebersetzer, Simrock und Ploennies, so doch wenigstens an Uh-
land's modernisierte Strophe halten.
Selbst die Uebersetzer der epischen Gedichte der Griechen und Rö-
mer könnten, so scheint es, aus dieser Wahl der metrischen Form Vorteil
ziehen. Miszt man nemlich den zeitherigen Erfolg ihrer vielfachen Be-
mühungen , dem deutschen Volke diese Gedichte genieszbar zu machen,
im Groszen und Ganzen, so ist derselbe in der Wirklichkeit weit gerin-
ger, als es den Anschein hat. Abgesehn davon, dasz Stolfund Inhalt dieser
Uebersetzungen den Leserkreis schon an sich sehr beschränkt, so bleiben
fast nur die altclassischen Philologen, die sich aus ihnen Belehrung holen
oder daran ihre Kritik üben wollen, und die grosze Zahl derer übrig, die
sie nicht des Genusses wegen lesen, sondern sich das Verständnis des
Urtextes erleichtern, d. h. die eigne Muhe und Anstrengung ersparen
wollen. Soll sich der Kreis der Leser, soweit dies der Natur der Sache
gemäsz überhaupt möglich ist, einigermaszen erweitern, so können die
Uebersetzer dies nur durch den Reiz der Form erzielen.
Die Uebersetzung soll ein treues Abbild des Urtextes sein und dem
fremden Volke denselben Genusz gewähren , wie der Urtext dem eigneu.
Seit Herder und Lessing haben sich aber unsre Uebersetzer daran ge-
wöhnt, die Treue nicht mit sclavischer Nachahmung zu verwechseln,
sondern auch der Muttersprache ihr wolbegründetes Recht zu lassen. Es
fragt sich nun , ob die Uebersetzer der altclassischen Epen nicht noch ei-
nen Schritt weiter gehen und statt des ungefügen Daktylus , den für das
deutsche Ohr schon der Mangel des Reims jedes Reizes entkleidet, die
Nibelungen -Strophe wählen und so den Inhalt in ein deutsches Gewand
kleiden sollen. Ein Versuch der Art ist ganz neuerdings gemacht worden.
In den Blättern für literarische Unterhaltung (Leipzig 1863. April? Mai?)
macht nemlich H. M. auf eine Schulschrift des Dir. Moritz Zille in Leipzig
aufmerksam, die einen Teil der Aeneide in der Form der Nibelungen-
Strophe übersetzt enthält. Aus den zwei dort mitgeteilten Strophen läszt
sich ein Schlusz auf das Ganze nicht machen ; aber wer auf dejn Stand-
punkte steht, auf welchem diese Abhandlung fuszt, der kann den Ver-
such nur willkommen heiszen ; jedenfalls sollten die altclassischen Philo-
logen dem neuen Wagnis ihre volle Teilnahme widmen , sei es um den
Versuch zu verwerfen, sei es um ihn zur Nachahmung zu empfehlen.
Zwei Eigenschaften freilich setzt eine solche Kritik voraus; sie lassen sich
in Kürze durch zwei Namen kennzeichnen — durch die Namen: J. H. Voss
und L. Unland.
Der Erfolg, den Uhland's Balladencyclus in den weitesten Kreisen
und — was für die Verbreitung und Einbürgerung einer neuen Sache
sehr wesentlich ist — selbst bis tief in die Schule hinein gehabt hat,
liegt nicht blosz an dem ansprechenden Inhalte und der angemessenen
Darstellung , sondern namentlich auch in der äuszern dichterischen Form.
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464 Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw.
Wie sehr Uhland's Strophe aucli noch von der mittelhochdeutschen
abweicht., sie hat auch in dieser modernisierten Form etwas Wohltuen-
des, Anheimelndes, mag der ihr innewohnende Reiz woran es sei liegen.
Vielleicht ist es die sich der Lippe und dem Ohre von selbst darbietende
Möglichkeit, die — an sich undeutsche — erste Senkung des Verses nach
deutscher Messung als Auftakt zu fassen, sodasz dann der fallende
Rhythmus einen wolthuenden Reiz auf das Ohr übt , oder sei es die echt-
deutsche Gleichgiltigkeit gegen die Senkung, die sich auszer in der Mi-
schung ein- und zweisilbiger besonders in der Mitte der Langzeile zeigt,
wo Senkung und Senkung — ganz gegen die antike Metrik — auf ein-
ander stoszeu und gerade dadurch dem Hörer einen angenehmen Ruhe-
punkt darbieten. Wie wollaulend und bequem sich auch lyrischen Dichtern
die gekeilte Strophe als Masz darbietet, ist oben nicht näher erörtert,
durch Beispiele jedoch genugsam angedeutet.
Aber nicht blosz Uhland's modernisierte, sondern auch die altdeutsch
gemessene Strophe , wie sie die nhd. Uebersetzer und auch Rückert und
Geibel in eignen Gedichten gebrauchen, wird sich immermehr Anerken-
nung verschaffen und allmählich auch einbürgern. Zur Zeit ist es freilich
nötig, immer wieder und wieder darauf hinzuweisen, was unsre Dichter
in den letzten zwei Jahrhunderten an freier Bewegung im Verse einge-
büßt, und von den Fesseln zu reden, die jetzt jede freie Regung ihrer
Glieder hemmen und lähmen.
Wenn Simrock in seiner Uebersetzung der Edda (1855. S. 354. 355)
die hohen Verdienste der Begründer der deutschen Altertumswissenschaft
verdienter Maszen und beredten Mundes hei vorhebt, so thut er sich selbst
(ebendort) Unrecht, wenn er meint, dasz seine Leistungen auf diesem
Gebiete der Litteratur bei der Nation nicht die Anerkennung gefunden
haben , die er verdient zu haben glaubte.
Das ganze Volk wird und kann solchen Bestrebungen nur sehr lang-
sam folgen. Zwischen der Zeit der Begebenheiten, die den Inhalt des
Nibelungenliedes und der deutschen Heldensage bilden, und zwischen
uns liegt eine Kluft, die sich nie mehr ganz ausfüllen läszt. Wäre in das
Leben des griechischen Volkes etwa im 6. Jh. vor unsrer Zeitrechnung
ein Ereignis von auch nur ähnlich groszartigem Einflüsse hereingebrochen,
wie ihn das Christentum auf die heidnischen Germanen geübt hat, so
hätte Homer dasselbe Geschick ereilt wie den Dichter der Nibelungen;
seine Gesänge wären nie Volksbuch der Griechen geworden oder wenig-
stens nicht geblieben.
Was nun den Inhalt der Nibelungen anbetrifft, so ist dieser von der
Art, dasz keine Kunst des neuhochdeutschen Uebersetzers das Lied je
wieder zu einem Volksbuche im weitesten Sinne des Wortes machen
könnte. Aber auch für den engeren Kreis der groszen Zahl der Gebildeten
war hier zwischen dem Alten und der Gegenwart eine Vermittlung nötig,
und diese Vermittelung hat vor allen andern Simrock übernommen und
glücklich durchgeführt. Die Begründer der deutschen Altertumswissen-
schaft hatten die verschütteten Schachte altdeutscher Poesie wieder auf-
gegraben und die dort aufgehäuften Schätze zunächst den allerengsten
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Die prosodische und metrische Messung der Nibelungenstrophe usw. 465
Kreisen der Fachgelehrten zur Schau gestellt. Sollte die Zahl der Teil-
nehmenden vermehrt und einst auch die gelehrte Schule mit in diesen Kreis
hineingezogen werden , so bedurfte es ganz besonderer Anregung durch
leicht faszliche Belehrung, welche die Begründer der deutschen Altertums-
wissenschaft weder gaben, noch zu geben im Stande waren. ^Simrock's
nhd. (Jebersetzungen sind aber gleichsam eine solche Belehrung in auch
für weitere Kreise faszlichem Gewände.
So ist es gekommen , dasz sich die Zahl der Teilnehmer , wie das
Verständnis der Sache von Jahr zu Jahr mehrt und klärt — ein schöner
Lohn für Simrock's anregende Bemühungen, wenn man die Schwierig-
keiten, die in dem Stoffe selbst liegen, und die tiefeingewurzelten Vor-
urteile gegen die äuszere Form bedenkt, die beide erst zu beseitigen
waren.
Namentlich in Bezug auf diese äuszere Form sind Simrock's Ver-
dienste augenscheinlich und tief eingreifend ; denn es galt nicht blosz in
das Wesen der mittelhochdeutschen Metrik und im Besonderen der mhd.
Nibelungen-Strophe einzuführen, sondern auch durch das schlagende Bei-
spiel der eignen neuhochdeutschen Uebersetzung die tiefeingewurzelten
von der antiken Metrik ins Deutsche herübergekommenen Vorurteile der
deutschen Grammatiker und Dichter zu bekämpfen und die letztern zur
Nachahmung und Nachfolge anzureizen.
Vergleicht man endlich die neuhochdeutsche Nibelungen -Strophe,
wie sie die Uebersetzer altdeutscher Gedichte jetzt gebrauchen , mit der
im Blücherliede , so kann man die auf der genauen Kenntnis der mhd.
Strophe und Metrik ruhende Versmessung jener eine gelehrte, die
Arndt's eine ungelehrte nennen.
Arndt kannte das Masz der mhd. Strophe nur im allgemeinen Umrisz,
im Einzelnen fragte er nur sein Ohr , ob es eine solche Messung , wie er
sie wagte, vertrüge. Aber gerade in diesem seinem unbewusten, naiven
Verfahren liegt der beste Beweis, dasz M. Opitz und alle Dichter nach ihm
den deutschen Grundsatz von den Hebungen und der Gleichgiltigkeit gegen
die Senkung aus unserer Sprache und Dichtkunst mit Stumpf und Stiel
auszurotten doch nicht vermocht haben.
Gelehrte und Gebildete überhaupt waren, als Arndt's Blücherlied
erschien, durch die Dichter der beiden alten Völker an das Masz der an-
tiken Metrik gewöhnt und durch die deutschen in ihrer Gewohnheit noch
mehr bestärkt worden. Jede auch noch so geringe Abweichung davon
galt als unverzeihlicher Fehler, und Gedichte, die an die altdeutsche Art
der Versmessung auch nur von fern erinnerten , brandmarkte und that
man ab mit dem Namen Knittelverse.
Trotz alledem gieng M. Arndt, wie überall so auch hier ein echter
Ritter ohne Furcht und Tadel, der antiken Metrik hart zu Leibe und masz
sein Lied vom alten Blücher mit deutschem Masze und nach seinem deut-
schen Ohre.
Tausende und aber Tausende haben in und nach den Freiheitskriegen
das Lied lieb gehabt und , ohne an seiner Versmessung irgend Anstosz zu
nehmen, frischweg mitgesungen. Arndt's Erfolg mit diesem seinem Ge*
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466 Kurze Anzeigen und Miscellen.
dicht bei dem ganzen deutseben Voljte kann als das beste Zeugnis gelten,
was ein Dichter, zumal wenn er jetzt — nach der Entdeckung der Gesetze
der mhd. Metrik — die ihm gestattete Freiheit der Bewegung im Verse
maszvoller als Arndt selbst gebrauchte, auch heute noch wagen durfte
und von der altdeutschen Rhythmik für die Zukunft unsrer Poesie zu ret-
ten im Stande wäre.
Lissa. Ed. Olawsky.
Kurze Anzeigen und Miscellen.
XIV.
Bericht über die Versammlung von Gymnasial- und Realschullehrern
zu Oschersleben am 8n Mai d. J.
Der Sonntag Exandi führte auch diesmal, wie sonst, eine zahlreiche
Versammlung von Lehrern höherer Unterriehtsanstalten nach Oschers-
leben. Es waren durch mehr als 40 Anwesende vertreten die Gymna-
sien der Städte Braunschweig, Wolfenbüttel, Helmstedt, Blankenburg,
Wernigerode, Quedlinburg, Halberstadt, Magdeburg und Burg. Ausser-
dem hatten der Herr Provinz ialschulrath Dr. Heiland, sowie der frü-
here Director des Magdeburger Domgymnasiums, Prof. Dr. Wiggert,
die Versammlung mit ihrer Gegenwart beehrt.
Der Vorsitzende, Propst Dr. Müller aus Magdeburg eröffnete die
Verhandlungen durch Mitteilung der in Vorschlag gebrachten Thesen.
Es waren folgende: 1) Ob es nicht zweckmässig sei, auf den Gymna-
sien die Leetüre der Ilias derjenigen der Odyssee vorangehen zu lassen
(Director Jeep aus Wolfenbüttel). 2) Ueber metrische Uebungen im
Lateinischen auf Gymnasien (Dr. Müller). 3) Ueber Hebungen der
Schüler mittlerer und unterer Ciaseen in lat. und griech. Grammatik,
angeschlossen an Lesung angemessener Schriften, von Seiten oberer
Schüler unter wechselnder Aufsicht der Lehrer (derselbe). 4) Ueber jähr-
liche oder halbjährliche Versetzungen, jährliche oder halbjährliche Cur-
sen (Provinzialschulrath Dr. Heiland). £) Ueber Censuren (derselbe).
Obwol nun von vielen Seiten das Verlangen laut wurde, es möchte die
These 4 zuerst zur Sprache kommen, entschied man sich schliesslich
auf den Wunsch des Herrn Schulrath Heiland mit Berücksichtigung
der Priorität für die 1. These, setzte aber die Behandlung der 4. und
ö. These ausdrücklich für die nächste Versammlung fest, für welche
später bei Tisch als Termin der 14. August, als Zusammenkunftsort
Thale festgesetzt wurden; Prof« Dr. Rehdantz aus Magdeburg wurde
zu gleicher Zeit zum Ordner, Director Wiggert aus Magdeburg und
Dr. Willmann aus Halberstadt zu Referenten bestellt.
Director Jeep aus Wolfenbüttel leitete darauf die Besprechung
seiner These mit einigen Worten ein. Wenn etwas an sich Naturge-
mäszes umgekehrt werde, so müsse man sich fragen, ob hinreichende
Gründe zu solcher Umkehrung vorhanden seien. Das Naturgemäsze sei
nun die Ilias, als das der Abfassungszeit nach frühere, mit seinem In-
halt auf denjenigen der Odyssee vorbereitende Gedicht früher zu lesen,
als die Odyssee. Da nun der Inhalt der Ilias, die Kampf- und Sehlacht-
scenen gerade das jugendlichere Alter vorzugsweise fesseln and die
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Kurze Anzeigen und Miscelleu. 467
Gliederung desselben ebenfalls leicht überschaubar sei und deiri Schü-
ler keine gröszeren Schwierigkeiten bereite, da endlich der Unter-
schied der Sprache kein wesentlicher sei, so scheine ihm die Umkeh-
rung der Aufeinanderfolge in der Leetüre nicht hinreichend motiviert
zu sein. — Die sehr gut gewählte These rief eine sehr lebhafte De-
batte hervor, welche sich bald zu einer Verhandlung über die Leetüre
des Homer überhaupt ' die zweckmäszigste Einrichtung derselben, und
dergleichen Fragen mehr erweiterte und eine Menge fruchtbarer Be-
merkungen und anregender Mitteilungen aus dem Gebiet der Theorie
und Praxis veranlaszte. Dir. Wiggert aus Magdeburg machte zum
Beweise, wie viel näher dem jugendlichen Alter die Odyssee, als die
llias liege, auf die gröszere Manigfaltigkeit des Inhalts der Odyssee,
so wie auf das Märchenhafte, die Phantasie des Knaben vorzugsweise
Anziehende desselben aufmerksam. Prof. Rehdantz hob in gleiehem
Sinne das geographische Element der Odyssee hervor und wie der jün-
gere Schüler- noch nicht im Stande sei, die sich häufenden Kampfscenen
in ihrer Verschiedenheit auseinanderzuhalten und damit die Kunst der
Schilderungen zu verstehen, wie sie ihm vielmehr leicht einförmig und
ermüdend erscheine. Director Fr ick aus Burg wies darauf hin, wie
schon deshalb der Knabe sich in der Odyssee weit heimischer fühle,
weil sie zu stetem Hintergrunde das Familienleben und das häusliche
Leben habe, in dessen Sphäre das Knabengemüt gerade mitten inne
stände. Provinzialschulrath Heiland machte auf die mildere Färbung
der ganzen Culturwelt und das tiefere Gemütsleben in der Odyssee
gegenüber der wilden, nicht selten rohen Welt der llias aufmerksam,
die den reiferen Schülern mehr verständlich und anziehend erscheine,
als den jüngeren. Als ein Beitrag zur Beurteilung der Frage aus der
Praxis heraus wurde von ihm mitgeteilt, wie die Abiturienten des
Quedlinburger Gymnasiums bei Bearbeitung des Themas, ob ihnen die
llias oder die Odyssee lieber sei, sich zur Hälfte für je eines der Ge-
dichte entschieden hätten. Man bestritt ferner, ob die Sprache der
llias nicht schwieriger sei, als diejenige der Odyssee, erinnerte an die
Fülle von Gleichnissen in der llias, das geringere Verhältnis derselben
in der Odyssee, obwol zugegeben werden muste, dasz gerade diese
auch für jugendlichere Gemüter schon einen besonderen Heiz haben.
War man nun dem Thesensteller gegenüber darüber einig, dasz die
Leetüre der Odyssee zweckmäsziger, wie bisher derjenigen der llias
vorangehe, so machte der Schulrath Heiland doch darauf aufmerk-
sam und gab der Debatte dadurch eine neue fruchtbare Anregung, dasz
die Odyssee allerdings in der bisherigen Weise der Behandlung oft zu
kurz komme, indem sie zu sehr als Lernbuch der Homerischen Formen-
lehre benutzt, und bei Seite gelegt werde, wenn nach Ueberwindung
der formalen Schwierigkeiten — in Prima — der eigentliche Genusz
der Leetüre für den Schüler beginne. Er empfahl deshalb fleiszige
Repetitionen der Odyssee auch in der Prima, sowie Anfertigungen von
Arbeiten, als Zeugnisse und Controlle der Verarbeitung der Leetüre.
Director Fr ick wünschte überall, wo es noch nicht eingeführt sei, Ab-
solvierung der Homerischen Formenlehre und Einführung der Homer-
leetüre in die Tertia, damit die Schüler auch schon in der Secunda zu
einem reineren Genusz der Leetüre kommen könnten. Daran schlosz
sich eine lebhafte Erörterung der Art der Lesung, ob statarisch, ob
cursorisch, wieviel privatim zu lesen sei, inwieweit ein schnelles Lesen
ohne Schaden für das Verständnis und die Gründlichkeit zu treiben sei,
ob gleichzeitige Verwendung der griechischen Stunden auf Prosa- und
Dichterleetüre statthaft sei. Director Richter aus Quedlinburg wies
auf die Ueberbürdung der Schüler hin , wenn die Homerlectüre forciert
werde und daneben dieselben Anforderungen an sie bei Lesung der
übrigen griechischen und lateinischen Autoren gestellt würden, worauf
der Schulrath Heiland an den Ausspruch F, A. W*lfs erinnerte, der
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468 Kurze Anzeigen und Miscellen.
von dem Schüler eines Gymnasiums nichts verlangt habe, als Leetüre
und Kenntnis des Homer, Herodot und Xenophon unter den Griechen
und dasz im schlimmsten Falle der Sophokles wegfallen könne, wenn
nur der Schüler dahin komme, den Homer als erarbeiteten Besitz mit
von der Schule hinwegzunehmen. Oberlehrer Pfau aus Quedlinburg,
Collab. Steinmeyer aus Wolfenbüttel u. A. machten belehrende Mit-
teilungen über ihre Praxis und hielten eine gründliche Lesung des gan-
zen Homer bei der gewöhnlichen Stundenzahl nicht gut für möglich.
Professor Rehdantz erklärte sich gegen zu gelehrte Behandlung des
Sprachlichen, durch welche die Leetüre ohne verhältnismäszigen Ge-
winn aufgehalten werde. Die Homerische Syntax sei z. B. fast ganz
aus dem Spiel zu lassen. Director Fr ick erinnerte an Nägelsbach,
der die cursorische Leetüre des ganzen Homer, bei welcher der Dich-
ter sich fortwährend selbst repetiere, in seiner Gymnasialpädagogik
verlange. Das Resultat der unter groszem Anteil geführten Debatte
war, dasz man /sich entschied für Beibehaltung der bisherigen Folge
der Lesung der Ilias nach der Odyssee , für möglichst frühe Erledigung
def formalen Schwierigkeiten (schon in Tertia) , für rein möglichst cur-
sorisches Lesen, das durch kleine Privatarbeiten aller Art, Benutzung
des deutschen Unterrichtes u. dgl. m. zu einer gründlichen gemacht
werden könne, für die Leetüre wo möglich je eines Dichters oder Pro-
saikers in allen griechischen Leetürstunden, für Beschränkung des
grammatischen Details bei der Interpretation, für beschränkte Ausdeh-
nung der Privatlectüre.
Obwol nun schon die Besprechung dieser ersten These die sonst
übliche Zeit der Verhandlung hinweggenommen hatte, war man doch
einstimmig dafür, sofort noch an die zweite vom Propst Dr. Müller
vorgeschlagene heranzugehen: über metrische Uebungen im Lateinischen
auf Gymnasien. Der Vorsitzende leitete die Besprechung damit ein,
dasz er aus seiner eignen Erfahrung anfangs der Schulzeit in Meiszen,
dann später aus seiner reichen Lehrthätigkeit heraus den groszen Segen
darlegte , den die metrischen Uebungen für ihn und dann auch für seine
Schüler gehabt hätten, und wie er deshalb wünsche, diese Segnungen
zu einem Allgemeingut aller höheren Schulen gemacht zu sehen. Es
entspann sich nun auch hier eine lebendige Erörterung , in welcher die
verschiedenen Vorzüge solcher Uebungen hervorgehoben und allseitig
ohne Widerspruch anerkannt wurden, nur vor einem Uebermasz und
zu hohen Anforderungen an den Schüler auf diesem Gebiet gewarnt
wurde. Professor Rehdantz wies auf den Thatbestand hin, nach wel-
chem die metrischen Uebungen heutzutage nur noch auf sehr vereinzel-
ten Anstalten betrieben würden. Der Schulrath Heiland fand, von
ihrer hohen Schätzung im Beginn des höheren Schullebens vom Refor-
mationszeitalter ausgehend, einen Grund ihrer Vernachlässigung in dem
Eingehen der Pädagogik auf die einseitigen Nützlichkeitsforderungen,
welche diese Fertigkeit als fbrotllose Kunst' in Miscredit gebracht hät-
ten. Gerade deshalb aber,' um ihrer rein idealen Zwecke willen und der
ihnen innewohnenden Kraft, den Geschmack und ästhetischen Sinn zu
bilden, sei an ihnen festzuhalten. Director Frick suchte einen andern
Grund ihrer Vernachlässigung darin, dasz die Schule eine Zeit lang in
dem verkehrten Streben, die Schüler mit möglichst vielem Wissen und
Material zu belasten, das Moment der Arbeit und selbstthätigen Ver-
arbeitung des Stoffes zu sehr hintenangesetzt habe ; mit der Erkenntnis
dieses Misgriffes und der Reaction dagegen, würden auch der Stimmen
immer mehr, welche jene Uebungen zurückverlangten, deren Haupt-
vorzug mit darin liege , an einem kleinen handlichen und übersehbaren
Material die Arbeit und Selbsttätigkeit der Schüler zu wecken und zu
prüfen. Daneben wurden Vorschläge verschiedener Art über die Be-
treibung dieser Uebungen gemacht. Man wollte nicht kunstvolle und
gröszere metrische Compositionen als allgemeine Forderungen an alle
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 469
Schalen hingestellt wissen, sondern Verständnis und Anfertigung des
Distichon sollte als unerläszliche , aber auch ausreichende Fertigkeit
angesehen werden. Dies gab dem Schulrath Heiland Veranlassung,
darauf hinzuweisen, dasz man auch dafür sorgen müsse, dasz Schüler
Distichen zu Gesicht bekommen und die Leetüre lateinischer Dichter
nicht au8schlieszlich auf die Metamorphosen des Ovid, den Virgil und
Horaz beschränkt bleibe.
Die Teilnahme der Versammlung war eine so rege , dasz die Mehr-
zahl noch die Besprechung der 3. These wünschte, welche indessen^
durch die Einsprache des Wirths gehindert wurde. Darauf folgte ein'
fröhliches Mahl mit manigfaltigen Trinksprüchen auf den würdigen
Jubilar, den Herrn Oberschulrath Krüger aus Braunschweig, den Vor-
sitzenden Propst Dr. Müller, den Herrn Schulrath Heiland, dessen
auszerordentliche Gabe anzuregen den belebendsten Einflusz auf die
Versammlung ausübte, auf den Director Dr. Wiggert, das neu er-
richtete Gymnasium zu Burg u. A. Referent, welcher dieser Versamm-
lung zum ersten Mal beiwohnte, nahm den günstigsten Eindruck mit
hinweg und in Erinnerung an andere ähnliche nur zahlreicher besuchte
Zusammenkünfte das Gefühl, wie kleinere Kreise, in denen die Debatte
den Charakter gemütlicher Besprechung trägt, weit günstiger daran
sind, als gröszere Versammlungen, in denen die Notwendigkeit steife-
rer parlamentarischer Formen Vielen die Zunge bindet, welche sonst
wol Neigung und Fähigkeit hätten, Anregendes und Belehrendes bei-
zusteuern.
XV. ' .
Die siebente Versammlung mittelrheinischer Gymnasiallehrer zu
Weinheim a. d. Bergstrasze am 17. Mai 1864,
Nachdem die sechste Versammlung mittelrheinischer Gymnasialleh-
rer vor 2 Jahren zu Darmstadt getagt hatte, wurde im vorigen Jahre
von der siebenten Versammlung Abstand genommen mit Rücksicht auf
die gleichzeitig anberaumte allgemeine deutsche Lehrerversammlung in
Mannheim. Nach dem Beschlüsse einer daselbst am dritten Pfingsttage
zusammengetretenen Anzahl mittelrheinischer Gymnasiallehrer war für
die siebente Versammlung Weinheim zum Ort der Zusammenkunft
ausersehn und Hr. Regierungsrath Firnhaber aus Wiesbaden mit den
Vorbereitungen beauftragt worden. Von den Städten, an welche Hr.
Dir. Bender aus Weinheim im Auftrage Firnhaber^s Einladungen hatte
ergehen lassen, waren folgende 15 vertreten: Darmstadt, Frankfurt,
Grosz-Gerau, Hanau, Heidelberg, Köln, Mainz, Mannheim; Neustadt a.
d. Hardt, Speier, Weinheim, Wiesbaden, Worms, Würzburg und Zwei-
brücken. Unter den 48 Anwesenden befanden sich auszer den Direc-
toren und Lehrern Prof. Dr. Urlichs aus Würzburg, Prof. Dr. Kay-
ser und Starck aus Heidelberg. Die Sitzungen fanden in dem Fest-
saale des Benderschen Institutes statt.
Um 10 Uhr eröffnete der * Vorsitzende , Reg. R. Firnhaber, die
Versammlung und nachdem er die Anwesenden begrüszt hatte, sprach
er das Bedauern aus, dasz Hr. Dir. Classen, der eigentliche Gründer
des Vereins mittelrheinischer Gymnasiallehrer, in Folge, seiner Beru-
fung nach Hamburg an den Versammlungen desselben nicht mehr Teil
nehmen könne. Auf seinen Vorschlag wurde sofort ein Telegramm mit
dem freundlichsten Grusze der Versammlung an denselben abgeschickt.
— Weiterhin sprach er sein Bedauern darüber aus, dasz die Realschul-
lehrer auf den nemlichen Tag eine Versammlung ihrer /Fachgenossen
nach Mainz berufen und so denjenigen von ihnen, welche früher die
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470 Kurze Anzeigen und Miscellen.
Gymnasiallehrerversammlung besacht hatten, es unmöglich gemacht ha-
ben, an beiden Versammlungen Teil zu nehmen.
Der Besprechung in Mannheim eu Folge sollte der Präsident der
Versammlung von den Anwesenden selbst gewählt werden. Die Wahl
fiel auf Hrn. Dir. Bender aus Weinheim, welcher nach Verlesung der
Mitgliederliste Hrn. Prof. Starck ersuchte, seinen angekündigten Vor-
trag 'über die Bedeutung der Aegis, speciell in der Hand des Apollo
und auf der Schulter des Ares' zu beginnen. — Als Secretäre fungier-
ten Dr. Ü. Oncken aus Heidelberg und Dr. K. Boszler aus Darm-
stadt.
Der Redner gieng von der für die Erkenntnis des Apollo von Bel-
vedere so wichtigen Veröffentlichung des Apollo Stroganoff durch Ste-
phani aus und wies auf die von diesem Gelehrten erkannte und immer
mehr zur Geltung kommende Thatsache einer in der Hand gehaltenen
Aegis hin. Die daran geknüpften Vermutungen Preller's u. A., den
Apollo als Schützer des delphischen Heiligtums im Verein mit Zcuc
Cuit/)p zu betrachten, konnten durch die neuen Untersuchungen des
Redners Bestätigung und umfassendere Begründung in dem Wesen de?
Aegis finden. Diese knüpften sich an ein unediertes treffliches Mar-
morwerk der Madrider Sammlung, welches in einer Abbildung vorlag
und demnächst in der Archäologischen Zeitung veröffentlicht werden
wird; es stellt einen jugendlichen Körper mit korinthischem Helm und
mit der Aegis auf der linken Schulter dar, in welchem die Aresnatur
vollständig ausgeprägt ist und zwar in echt attischer Auffassung des
den Kriegsdienst tauenden Epheben. Die Aegis auf der Schulter fand
ihre Analogie in Münzen und geschnittenen Steinen von Ptolemäus I,
von einem König Menander und von römischen Imperatoren, wobei die
stehende Bezeichnung als Cunrf|p und als Jupiter Juvenis zu beachten
war und zugleich die Verbindung der Aegis mit Waffenrüstung, aber
auch mit den Symbolen der Fruchtbarkeit, des friedlichen Gedeihens,
der Rettung und Erhaltung der Bürger. Dasz auch solche Beziehungen
dem Wesen des Ares nicht fremdartig seien, suchte der Redner aus
wichtigen Stellen attischer Dichter und aus dem attischen Ephebeneid
darzuthun. Hiernach wandte er sich zum Wesen der Aegis selbst, als
dem Attribute des Zeus und der Athene. Aus den Sagen von ihrer Ent-
stehung, aus homerischem Sprachgebrauch der Wörter aific und alvio-
Xoc, aus der Darstellung der Athene als 6ed Koupoxpöcpoc, aus den Bei-
namen der Aegis und aus Cultgebräuchen wurde nachgewiesen, wie in
ihr, dem Bilde der Gewitterwolke, von vornherein eine Doppelbedeutung
inwohne, einerseits die des Schreckens, der Besiegung feindlicher Mächte,
andrerseits strömenden Segens, erfrischende Jugendkraft gebenden Zu-
flusses, der Rettung aus Gefahr. Ueber die Form des Wortes atifioxoc
bemerkte der Redner, dasz sie mehr auf alE selbst oder atfic hinweise,
als auf altic, alriboc. Er schlosz mit der Bemerkung, dasz die Aegis
auch für die Schule ein bedeutungsvolles Symbol in seiner Doppelheit
sei für die notwendige Einigung strenger Zucht und freundlicher, Kraft
und Jugendlichkeit fördernder Fürsorge.
Es entspann sich eine kurze Discussion zwischen Dr. Weidner
aus Köln und dem Redner, von denen ersterer den Ausfall des ö in
altioxoc, welches er von airic herleitete, zu rechtfertigen suchte, ferner
einwendete, dasz die Wolken stets als rettende und fruchtbringende
dargestellt würden, niemals dagegen in der von dem Redner bezeichne-
ten Doppelgestaltigkeit, und endlich gegen die Deutung des Madrider
Marmors als eines Ares hervorhob, dasz die Aegis nur von Lichtgott-
heiten getragen werde, Ares aber der Gott des Schreckens sei, der ge-
rade durch das Vortreten der Wolken vor das Licht erzeujrt werde.
Dagegen wies Prof. Starck auf das reiche Bilderleben der Wolke und.
der Ziege bei den Griechen hin, sowie auf die mannigfaltige Gestaltung
des Ares, der in der ältesten Sage geradezu den universellen Charakter
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 471
eines Lichtgottes habe. Prof. Fi ekler aus Mannheim machte endlich
auf einige Bronzefiguren der Mannheimer Sammlung aufmerksam, wel-
che nackte, schreitende Männer darstellen mit einem Schutze am lin-
ken Arm und demnach möglicher Weise auch auf Ares zn deuten seien.
Nachdem der Vorsitzende dem Redner im Namen der Versamm-
lung für seinen lehrreichen und auch für die Schulmänner so interes-
santen Vortrag den Dank ausgesprochen hatte, ersuchte er Hrn. Prof.
Urlichs die Rednerbühne zu besteigen, welcher sich erboten hatte, der
Versammlung entweder Thesen über das Abiturientenexamen vorzulegen
oder einen Vortrag über Herodot's Gelehrsamkeit zu halten. Da wei-
tere Gegenstände der Besprechung nicht vorlagen, beschlosz man, zu-
nächst den Vortrag über Herodot's Gelehrsamkeit und seine Quellen zu
hören.
Der Vortragende gieng von der Ansicht Dahlmann's «us, welcher
in seinen 'Forschungen auf dem Gebiet der Geschichte9 ausgesprochen,
dasz Herodot die ihm vorangegangenen Schriftsteller zwar gelesen, aber
auszer Hekatäus wenig oder gar nicht für sein Geschichtswerk benutzt
habe. Im Gegensatz hierzu wies er naeh, dasz Herodot die ganze ihm
zugängliche Litteratur genau gekannt und viel mehr schriftliche Quel-
len benutzt habe, als Dahlmann zugibt. Indem aus unsrer allerdings
nur dürftigen Kenntnis der Logographen Schlüsse auf Herodot und sein
Geschichtswerk, sowie umgekehrt aus Herodot Rückschlüsse auf die
Werke der früheren Geschichtsschreiber gemacht wurden, erwies Red-
ner im Einzelnen durch eingehende Interpretation wichtiger Stellen,
dasz in der ganzen persisch-griechischen Geschichte Herodot die Werke
des Gharon und Hellanikos benutzt, gegen die er sich jedoch durch-
weg ablehnend verhält, und dasz für Mythologie und Litterarhistorik
insbesondere Pherekydes als Quelle gedient habe.
Nach diesem ebenso gründlichen wie geistvollen Vortrag trat eine
Pause von einer halben Stunde ein. — Hierauf richtete der Vorsitzende
die Frage an die Versammlung, ob die Thesen des Hrn. Prof. Urlichs
über das Abiturientenexamen heute noch besprochen oder nicht viel-
mehr auf die Tagesordnung der nächstjährigen Versammlung gesetzt
werden sollten. Man einigte sich dahin, dasz zunächst nur die Vor-
frage, ob überhaupt das Maturitatsexamen notwendig und ob es beizu-
behalten sei, discutiert, die Hauptfragen aber für die nächste Versamm-
lung vorbehalten werden sollten. Auf Urlichs' Vorschlag wird beschlos-
sen, dasz inzwischen für das nächste Jahr statistische Notizen über das
philologische Examen auf Universität und über das Abiturientenexamen
gesammelt würden, für ersteres von Behaghel, für letzteres von Land-
ferman (Preuszen), Schmid (Würtemberg und Baden), Urlichs (Baiern),
Mommsen (Hannover und Holstein), Piderit (Kurhessen), Klein (Groszh.
Hessen), Firnhaber (Nassau). — An der Dicussion über die Frajre, ob
Abiturientenexamen sein solle oder nicht, beteiligten sich die Hrn. Dir.
Mommsen aus Frankfurt, Piderit aus Hanau, Prof. Urlichs, Prof.
Starck und Hofmann aus Heidelberg, Reg.R. Firnhaber und Prof.
Schmidt aus Mannheim. Mommsen legte zunächst seine Erfahrun-
gen über das Abiturientenexamen in den Ländern, in denen er bereits
gewirkt hat, dar und hob insbesondere die ausgezeichneten Erfolge in
sittlicher Beziehung bei den Schülern der Anstalten hervor, an welchen
ein solches nicht stattfinde; jeder sittliche Erfolg sei aber unendlich
viel höher anzuschlagen, als der intellectuelle ; wenn die Gymnasiallehrer
ihre Pflicht in der That erfüllten,, so könnten sie auch ohne ein solches
Examen über die Reife der Schüler für das Universitätsstudium leicht
entscheiden. Dagegen zeigte Piderit, dasz, ein Maturitatsexamen zu
halten, die Ehre dem Publicum gegenüber verlange, ebenso die Gerech-
tigkeit dem Schüler gegenüber, den man nicht dem bloszen Eindruck
nach beurteilen dürfe, zumal da man irren könne; es sei ferner vielfach
&ur Stimulation der Schüler nötig, da nicht alle aus innerem Antrieb
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472 Kurze Anzeigen und Miscellen.
das Ziel der Gymnasialstadien zu erreichen im Stande seien; endlich
sei es auch eine Palästra für künftige Examina. Die Einwendun-
gen, die man gegen ein Abiturientenexamen mache, insbesondere
die, dasz es abrichte und geistig tödte, beruhen nur auf falscher
Handhabung desselben. Starck hält das Abiturientenexamen schon
deshalb für notwendig, weil der Staat ein Recht habe, es von demjeni-
gen zu fordern, welcher die Universität beziehe; es sei gewissermaszen
das erste Staatsexamen. Hofmann ist der Ansicht, dasz das Gymna-
sium, wenn es nach 7— W Jahren, während derer es einen Schüler un-
terrichtet habe, nicht beurteilen könne, ob derselbe zum Besuch der
Universität reif sei, sich selbst ein Armutszeugnis ausstelle ; traue man
dem Gymnasium eine solche Beurteilung ohne Examen nicht zu, so
dürfe man überhaupt die Lehrer nicht prüfen lassen, sondern müsse
eine Prüfungscommission bestellen. Mommsen glaubt mit Rücksicht
auf Starck's Bemerkung, dasz durch ein gelindes Examen beim Bezie-
hen der Universität geholfen werden könne, wogegen Ur lieh s einwen-
det, dasz ein solches'doch nicht von Universitätsprofessoren, sondern
'nur von den Gymnasiallehrern gehalten werden könne. Firnhaber
erklärt alle Gründe, welche man für das Abiturientenexamen vorbringe,
für nichtig» schlieszt sich ganz den Ansichten Mommsen's an und zeigt,
wie die preuszische Maturitätsordnung nur aus dem Bestreben entstan-
den sei, das Ziel des Gymnasialunterrichts in allen Schulen des Landes
gleich zu machen. Schmidt hebt hervor, dasz es vor Allem auf den
Geist des Examens ankäme, welches eine Recapitulation des gesamten
Gymnasial Wissens in sich begreifen müsse. Endlich zeigte Piderit
im Gegensatz zu Mommsen's Ansicht, dasz der intellectuelle Erfolg auf
dem Gymnasium nicht hintenanzusetzen sei, dasz derselbe vielmehr auch
etwas Sittliches in sich enthalte und dasz überhaupt beides, das sitt-
liche und das intellectuelle Moment, unmöglich getrennt werden könn-
ten. Der Vorsitzende schlosz hierauf die Discussion mit dem Be-
merken, dasz die Frage, ob ein Maturitätsexamen sein solle oder nicht,
nicht zu entscheiden sei, ohne dasz damit die Frage nach der Art und
Weise der Abhaltung des Examens verbunden werde.
Bei der hierauf folgenden Berathung über den Ort der nächstjähri-
gen Versammlung wurde Frankfurt bestimmt und zum Vorsitzenden
Dir. Mommsen daselbst gewählt. Nachdem der Schlusz der diesjähri-
gen Sitzung um 2 Uhr erfolgt war, vereinigte ein gemeinsames Mahl
die Mitglieder, welche sich gegen Abend mit herzlichem Abschied und
mit der Erinnerung an einen ebenso lehrreichen wie genuszvollen Tag
trennten.
\K. #.]
XVI.
Versammlung von Gymnasial- und Reallehrern in der Altmark und der
Priegnitz zu Seehausen in der Altmark am 19. Juni 1S64.
Diese Jahrbücher haben zu verschiedenen Malen Berichte über
Versammlungen Von Lehrern höherer Anstalten gebracht, die neben
den allgemeinen Versammlungen deutscher Philologen und Schulmän-
ner den Zweck verfolgen, nicht blosz persönliche Bekanntschaften zwi-
schen den Lehrern benachbarter Anstalten zu vermitteln, sondern vor-
nehmlich durch Austausch von Mitteilungen, Erfahrungen und Ansichten
und eingehende Besprechung über die mannigfachsten Fragen des Un-
terrichts und der Zucht fördernd und belebend auf die Schule selbst
einzuwirken. Bei der Eröffnung des Progymnasiums zu Seehausen durch
Herrn Provinzialschulrath Dr. Heiland am 20, April 1863 wurde zuerst
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 473
der Gedanke angeregt, auch eine solche Versammlung zur Verbindung
der Anstalten der Altmark und der Westpriegnitz zu begründen, und
nachdem auf einer vorläufigen Zusammenkunft von Gymnasiallehrern
aus Salzwedel, Stendal und Seehausen über die Grundsätze eine Eini-
gung herbeigeführt war, wurde die erste ordentliche Versammlung zu
Seehansen am 19. Juni d. J. abgehalten. Leider waren manche ent-
weder durch die weitere Entfernung oder durch andere Umstände be-
hindert frühere Zusagen zu erfüllen: insbesondere konnte Herr Provin-
zialschulrath Heiland selbst wegen Krankheit nicht kommen. So hatten
sich von Stendal, Salzwedel, Perleberg und Seehausen 22 Teilnehmer
eingefunden. "
Es lag der Versammlung zuerst die von Dir. Dr. Weser aus Perle-
berg aufgeworfene Frage vor : f Wie ist der Unterricht in der deutschen
Literaturgeschichte in den oberen Classen zu behandeln, wenn er den
in dem Ministerialrescript vom 13. Dec. 1862 gestellten Forderungen
entsprechen soll?' Nachdem von dem Hrn. Thesensteiler zuerst der
gesamte Stoff des deutschen Unterrichts in den oberen Classen kurz
umschrieben und das Verhältnis der verwendbaren Unterrichtsstunden
zu dem zu bewältigenden Material als ein nicht eben günstiges be-
zeichnet war, richtete er, an den Schlusz des betr. Passus in dem Min.
Rescr. anknüpfend, die Discussion zuerst auf die Frage, ob und wie
das Mittelhochdeutsche in den Unterricht hineinzuziehen sei. Darüber
war man allgemein einverstanden, dasz man von Gothisch und Althoch-
deutsch abzusehen habe, dasz es aber aus inneren und äuszeren Grün-
den wünschenswerth sei, die bedeutendsten Dichtungen des Mittelalters
im Original mit den Schülern zu lesen, obwol von einer Seite das Lesen
gediegener Uebersetzungen als ausreichend bezeichnet Wurde, die Schü-
ler mit dem Geiste dieser Dichtungen bekannt zu machen und in ihnen
die Lust zu erwecken, später aus der ursprünglichen Quelle zu schö-
pfen. Ebenso waren die Ansichten darüber verschieden, ob nur Nibe-
lungen oder ob auch Wolfram von Eschenbach (Parcival), Walther von
der Vogelweide und Gudrun in der öffentlichen Leetüre zu berücksich-
tigen oder ob nach voraufgegangener öffentlicher Lesung der Nibelun-
gen das Andere den Privatstudien zu überlassen sei , desgleichen dar-
über, ob diese Leetüre nach Prima oder Secunda zu verlegen sei,
obschon die Mehrzahl sich für eine einjährige Leetüre der mittelhoch-
deutschen Dichtungen in Secunda, resp. Untersecunda aussprach, so
dasz das andere Jahr des Cursus der neuhochdeutschen Leetüre vorbe-
halten werden müste. Die Ansicht einiger, dasz der Lehrer dabei zu-
gleich Lexicon und Grammatik sein und so durch Ersparung der für
Behandlung der Grammatik erforderlichen Zeit Raum für ausgedehntere
Leetüre gewonnen werden solle, fand lebhaften Widerspruch: ein kur-
zer Cursus der Grammatik, der wenigstens die mittelhochdeutsche De-
klination und Conjugation umfasse, müsse voraufgeschickt werden. Ge-
ringeres Gewicht konnte man dem Einwände beimessen, dasz, wenn
das Mittelhochdeutsche auf ein Jahr in Secunda beschränkt bleibe,
später vieles vergessen werde. Indessen wurde mit Nachdruck darauf
aufmerksam gemacht, wie knapp durch Entziehung des einen Jahres
die dem Unterrichte in der neueren Literaturgeschichte verbleibende
Zeit sei, der doch die Hauptsache bleiben müsse. Da man indessen
darüber einverstanden war, dasz der litteraturge schichtliche Unterricht
nicht eine Summe von Notizen und fertigen Urteilen geben dürfe, son-
dern vielmehr nebst einem kurzen Ueberblicke über den Gang der deut-
schen Litteratur eine durch Lesung einer Anzahl von Hauptwerken ver-
mittelte Kenntnis der bedeutendsten Schriftsteller als sein Ziel zu
betrachten habe, dasz neben der Correctur von Aufsätzen, Dispositions-
ubungen, Uebungen im freien Vortrage u. a. die Zeit in Anspruch
nehmen, so wurde die Entscheidung über das Mittelhochdeutsche vertagt
und zunächst beschlossen, dasz ein Canon neuhochdeutscher Leetüre
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474 Kurze Anzeigen und Miscellen.
aufgestellt werden solle, in welchen in der Schule zu lesende Stucke
der Werke solcher Schriftsteller aufzunehmen seien, die den Geist der
bedeutendsten Epochen oder einzelner Litteraturgattungen vorzüglich
repräsentieren. Als wünschenswerther Anfang wurde die Zeit der Re-
formation (Hans Sachs) bezeichnet. Dir. Weser erklärte sich bereit,
einen solchen Canon zu entwerfen, welcher der nächsten Versammlung
als Material zu weiterer Berathung unterbreitet werden soll: die Werke
sollen teils in der Classe gelesen, teils zu Objecten von Besprechungen,
mündlichen Referaten oder freien Vorträgen der Schüler gemacht werden.
Auf Anregung des Director Dr. Krahner aus Stendal kamen die vier
vertretenen Nachbaranstalten überein, bei der Aufnahme verwiesener
Schüler sich gegenseitig dadurch zu unterstützen, dasz ein solcher
Schüler nicht ohne ein besonderes Schreiben des Directors derjenigen
Schule, von welcher er verwiesen ist, zur Aufnahme auf einer andern
Anstalt gelangen solle : dieses Schreiben soll sich über den betreffenden
Schüler in rückhaltsloser Weise aussprechen und insbesondere darüber,
ob etwa erhebliche Bedenken die Aufnahme widerrathen lassen.
Ein heiteres Mahl vereinigte dann die Teilnehmer der Versamm-
lung, bei dem namentlich der neuangeknüpften wie erneuerter alter
Beziehungen in freudiger Weise gedacht wurde. Mögen denn diese
alljährlich am zweiten Sonntage nach Pfingsten in Seehausen stattfin-
denden Versammlungen das ihnen gesteckte Ziel immer mehr und immer
besser verwirklichen. -
S. D.
XVII.
Mis celle.
Es sei mir erlaubt, zu den höchst "dank eng werthen Mitteilungen
R. Hoche's in dieser Zeitschrift über fEin Schulheft C. M. WielandV
einen kleinen Nachtrag zu liefern. Die lateinischen Arbeiten nnd die
deutschen Uebersetzuugen aus dem Lateinischen, die Wieland im Som-
mer 1748 zu Kloster Bergen machte, sind von einem Lehrer Hennicke
durchgesehen. Hierzu bemerkt der Berichterstatter, dasz Wieland selbst
unter den Bergenschen Lehrern diesen Mann nicht als einen von denen
erwähne, welche einen besondern Einflusz auf ihn geübt hätten.
Nun findet sich in Raumer's Historischem Taschenbuch Jahrg. 10
S. 359—464 ein Aufsatz von C. W. Böttiger in Erlangen, betitelt: f Chri-
stoph Martin Wieland nach seiner Freunde und seinen eignen Aeusze-
rungen'. Hierin berichtet Böttiger S. 377, wie folgt. e Wieland klagte
darüber (16. März 1801), dasz er immer nur Halbwisser im Griechi-
schen geblieben sei. In frühester Jugend habe ihm sein Lehrer Hen-
nicke, ein eingefleischter Pedant, durch die albernste Methode das
Griechische so verleidet, dasz er damals unter dem Vorwand, kein Theo-
log werden zu wollen, dieser Sprache ganz Valet gegeben, dagegen
aber recht gut lateinisch sprechen und schreiben gelernt habe.9
Offenbar bezieht sich diese Herzensergieszung auf die Klosterbergensche
Zeit, während Böttiger sie unter diejenigen einreiht > welche das Leben
des Knaben Wieland im Elternhause betreffen. Aus den Worten ist
ersichtlich, dasz dieser Hennicke auf Kloster Bergen auch im Griechi-
schen unterrichtet hat; nicht minder scheint daraus hervorzugehen, dasz
Wieland wenigstens seine lateinische Sprach- und Schreibfertigkeit ge-
rade diesem Lehrer verdankte.
Dresden. Eduard Niemeyer.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 475
(XIII.)
Litterarische und culturhistorische Mitteilungen aus Griechenland.
(Fortsetzung von S. 428.)
Mehr als jetzt, fanden in früherer Zeit gewisse Sympathien zwi-
schen den -Griechen und den Rumänen oder Romanen (den eingebore-
nen Bewohnern der Donauprovinzen, oder wie sie auch genannt wer-
den und vorzugsweise sich selbst gern nennen, den Daciern) statt.
Zwar giengen sie ebensowol auf dem Gebiete des politischen Lebens als
auf dem der Bildung und Litteratur zunächst mehr von Griechen aus,
aber sie fanden doch auch von Seiten der Rumänen eine Art Aner-
kennung. Dies hing mit der früheren Verwaltung und Regierung der
Moldau und Walachei durch die aus der Classe der Fanarioten gewähl-
ten Hospodare zusammen, hat sich aber seit der Zeit besonders geän-
dert, nachdem jene Provinzen eine Art politischer Selbständigkeit und
Unabhängigkeit erlangt haben. Seitdem ist das Band, das die beiden
verwandten Nationalitäten verknüpfte und das in der Gleichheit der
Leiden und der Hoffnungen eine innere Rechtfertigung findet, wenn
nicht ganz gelöst, doch sehr locker geworden, und es hat vielmehr
zwischen beiden Nationalitäten eine gewisse Eifersucht Platz ergriffen,
die sie von einander trennt und ungebührlich verfeindet.*) Gleichwol
unterlassen einzelne gelehrte Griechen es nicht, ihr Interesse an der
Entwickelung der rumänischen Nation in politischer und intellectueller
Hinsicht auf jede mögliche Weise zu bethätigen. Einer der namhafte-
sten dieser Gelehrten ist der Grieche Tabakopulos, der früher eine
griechische Lehranstalt in Bukarest errichtete und leitete, auch meh-
rere griechische Schriften ins Rumänische übersetzte, und später
eine Griechisch-Rumänische Zeitschrift: cO George, in beiden Sprachen
herausgab. Er liesz es sich darin vorzüglich angelegen sein, den Be-
weis zu führen,' dasz die Griechen nicht nur die, den Rumänen der
Donaufürstentümer neuerdings, nach dem Aufhören der Regierung der
Fanarioten zu Teil gewordene Verbesserung ihrer Lage durchaus nicht
übersehen und keineswegs gering anschlagen, sondern dasz sie sie ihnen
in noch grösserer Vollkommenheit wünschen, und er sprach es offen aus,
dasz f ein jeder Strahl der Freiheit, der einen einzelnen Teil des christ-
lichen Orients erwärmt, auch über die anderen Teile desselben Licht
und Wärme verbreitet, und dies dem Ganzen zu Gute kommt.9 Auch
verständige und aufgeklärte Rumänen dringen auf die Vereinigung
aller einzelnen christlichen Völkerschaften der Türkei und verlangen,
dasz die Griechen und Rumänen, die Albanesen und Südslaven ihre
Zwistigkeiten und Antipathien vergessen sollen. fAuch wenn sie es
nicht dahin bringen, sich zu lieben, sollen sie doch wenigstens sich zu
verstehen lernen. Sie haben — was man auch sage — mehr gemein-
same, als trennende Interessen.9 Mit diesen Worten sprach sich die
rumänische Prinzessin Helene Ghika, die pseudonyme Gräfin Dora
d'Istria, im ersten Teile ihrer 'Excursions en Roume'lie et en Morde'
(Zürich und Paris, 1863), S. 238 über diesen Gegenstand aus: aber sie
verlangte auch nach dem, was sie S. 27 bemerkte, dasz die Griechen die
innigsten Beziehungen mit den Völkern vder Halbinsel zu vervielfälti-
gen suchen müssen, indem sie deren Traditionen, Sitten, Bestrebungen
*) Seit der Zeit, da Obiges — im Sommer 1862 — geschrieben
worden, sind die früheren Sympathien der Rumänen für die Griechen
in offenbare Antipathien gegen sie umgeschlagen, und hat namentlich
in den Donauprovinzen eine Art Exterminationsprocess gegen griechi-
sche Wissenschaft und Sprache begonnen. .
igitiz^d by
Googk
476 Kurze Anzeigen und Misceilen.
und gerechten Ansprüche achten, und besonders sei es nötig, dasz sie
sich auch den rumänischen Völkerschaften im Norden der Donau nähern.
In Athen erschien 1862 der erste Teil eines vielfach interessanten
Werkes über die Insel Samos, unter dem Titel: Cajtuaicd, das eine Ge-
schichte der Insel von den ältesten Reiten bis auf die Gegenwart ent-
halten soll und den Griechen Epaminondas Stamatiadis zum Verfasser
hat. Nachdem Samos, diese reingriechische Insel, in den Jahren 1821
u. f. für ihre politische Selbständigkeit gekämpft und den Unabhängig-
keitskampf siegreich durchgeführt, jedoch durch den Beschlusz der
europäischen Diplomatie nur das beschränkte Recht erlangt hatte, von
einem Griechen beherscht zu werden, hat sich das dortige Gemein-
wesen auf dem Gebiete der Gesetzgebung und der Finanzwirthschaft
in gleicher Weise vorteilhaft entwickelt, wie dies in Ansehung des
öffentlichen Unterrichts der Fall ist, indem auf der Insel Samos gegen-
wärtig nicht nur Schulen für Knaben, sondern auch vier Erziehungs-
anstalten für Mädchen bestehen. Auf diese alte Mitkämpferin und
zweitgeborene Schwester Griechenlands richtet nun zunächst die Mo-
nographie des Griechen Stamatiadis die Aufmerksamkeit seiner Lands-
leute, aber sie verdient auch die Beachtung des gelehrten Auslands.
Der wissenschaftlich gebildete Verfasser hat dabei alle ihm zugäng-
lichen Quellen mit allem Eifer und ebenso gewissenhaft als mit ver-
ständiger Kritik benutzt, und er bedient sich zur Darstellung der Er-
gebnisse seines Studiums und seiner Forschungen einer reinen gefälli-
gen Sprache. Der bisjetzt allein erschienene erste Band umfaszt die
alte Geschichte' bis zum Jahre 1463, wo, nach der zehn Jahre früher
erfolgten Vernichtung des byzantinischen Kaiserreichs, die Einwohner
der Insel Samos durch Seeräuber sich genötigt gesehen hatten, nach
Chios auszuwandern, und er beschäftigt sich auszerdem mit der Geo-
graphie, den Bewohnern und ihren Beschäftigungen, der Religion, dem
Staatswesen, den Naturerzeugnissen und den äuszeren Beziehungen
der Insel. In einem Anhange enthält das Buch eine grosze Anzahl von
teils bereits gedruckten, teils noch ungedruckten Inschriften aus Sa-
mos, oder solchen, welche von Samos handeln und auf Samos- Bezug
haben. Die griechische Kritik empfiehlt das Buch als ein fnicht ge-
wöhnliches' (uf] £<prjuepov) und besonders auch als zweckmäsziges Mu-
ster für alle diejenigen griechischen Gelehrten, die in ähnlichen Mono-
graphien über die Geschichte ihres Vaterlandes Licht zu verbreiten
und aufzuklären beabsichtigen.
Von dem Griechen Ramphos«, dem in Band 88, Heft 1, S. 41 er-
wähnten Verfasser der historischen Novelle: *0 Kaxcavruj vrjc , ist spä-
ter eine andere Novelle unter dem Titel: cAl TeXeuxctiai r^pai tou
'AXfj-TTacä' (Athen, 1862) erschienen, die als eine weitere Bereicherung
der romantischen Litteratur Griechenlands angesehen werden musz. Sie
zeichnet sich besonders durch genaue Kenntnis der Thatsachen, Sitten
und Gebräuche, durch Wahrheit der Schilderungen, Gewandtheit und
Gefälligkeit der Sprache, so wie durch Geschmack der Darstellung aus,
und der Verf. hat es verstanden , bedeutsamen Epochen der Geschichte
des griechischen Volks durch eine geschickte dramatische Behandlungs-
weise Leben zu verleihen und einzuathmen, so dasz sein Buch zu der
in Griechenland seltenen Classe derer gehört, die zugleich belehren
und unterhalten.
(Fortsetzung folgt.)
Leipzig. Th. Kind,
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Personalnotizen, 477
Personalnotizen.
(Unter Mitbenutzung des fCentralblattes* von Stiehl und der * Zeit-
schrift für die österr. Gymnasien'.)
Ernennungen, Beförderungen, Versetsungen, Auszeichnungen.
Altendorf, H. RM ord. Lehrer am Gymnasium zu Deutsch- Cr one, als
«Oberlehrer' prädiciert.
y. Arneth, Alfr., k. österr. Regierungsrath, zum Mitglied der k. bel-
gischen Akademie der Wissenschaften ernannt.
Bellermann, Dr. Ludw., SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zum
grauen Kloster in Berlin angestellt.
Bercio, SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Bastenburg an-
gestellt
Bergen roth, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Thorn, als f Ober-
lehrer' prädiciert.
Bischof, Dr., ord. Professor in der phil. Facultät der Univers. Bonn,
Geh. Bergrath, erhielt den k. preusz. rothen Adlerorden II. Classe
mit Eichenlaub.
Bracht, Dr., Lehrer an der Realschule zu Aschersleben, als ordentl.
Lehrer am Domgymnasium zu Magdeburg angestellt.
Brüggemann, Dr., Geh. Ober-Reg.-Rath , vortragender Rath im geist-
lichen Ministerium zu Berlin, erhielt das Comthurkreuz des päpst-
lichen Gregoriusordens.
Orecelius, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Elberfeld, als 'Ober-
lehrer' prädiciert.
Curtze, M., SchAC. am Gymnasium* zu Thorn, \
Dielitz Dr., SchAC. am Gymn. zum grauen^ d L h
Kloster in Berlin, > *" «teilt
Drenkhahn, bisher Collaborator am Gymn. zui "
Stettin, jetzt am Gymn. zu Stendal, /
v. Drygalski, Herrn., ord. Lehrer am KneiphÖfschen Gymnasium zu
Königsberg, als Oberlehrer an dem Altstädtischen Gymnasium ebenda
angestellt.
Fenzel, Dr. Eduard, ord. Professor an der Universität- Wien, Director
des botan. Gartens, erhielt das Ritterkreuz des königl. belg. Leo-
poldordens.
Fiedler^ Jos., Archivar des geh. Haus-, Hof- u. Staatsarchivs zu Wien,
zum wirkl. Mitglied? der k. k. Akademie der Wissenschaften für
die philos.-hist. Classe ernannt.
Fischer, Herrn., SchAC. am Domgymnasium zu\
Naumburg, i
Friedländer, Dr., SchAC. am Friedrichsgym-f als ord. Lehrer ange-
nasium zu Berlin, / stellt.
Francke, Dr. Rieh., bisher Lehrer am Gymna-1
sium zu Gera, jetzt am Gymn. zu Burg, /
Franke, Dr., als wissenschaftlicher Hauslehrer an der Raths- und
Friedrichsschule zu Cüstrin angestellt.
Gottschick, Dr., Director des Pädagogiums in Putbus, zum Provin-
zial-Schulrath und Mitglied des Provinzial-Schulcollegiums in Ber-
lin ernannt.
Gumlich, Dr., SchAC, als ord. Lehrer am Friedrichsgymnasium zu
Berlin angestellt.
Haus s er, Dr. L„ ord. Professor, derzeit Prorector der Universität
Heidelberg, groszh. bad. "Hofrath^ erhielt das Comthurkreuz des
groszh. sächs. Hausordens vom weiszen Falken.
Haidinger, k. österr. Hofrath, Director der geolog. Reichsanstalt zu
Wien, erhielt das Ritterkreuz des Leopoldordens.
N. Jahrb. f. Phil. o. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 9. 32
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478 Personalnotizen.
Heinrich, Religionslehrer an der Bürgerschule zu Neustadt in Ober-
schlesien, in gleicher Eigenschaft an das Gymnasium zu Sagan
versetzt.
Heissing, Hülf sichrer am Progymnasium zu .
Dorsten, f als ord. Lehrer ebendas
H e u w i n g , Hülfslehrer , Vicar am' Progynon, j angestellt
zu Dorsten, % '
Herbst, Friedr., SchAC. an der Friedrich- Wilhelms -Schule zu Stettin
als Collaborator angestellt.
Heyland, Th. Fr., SchAC. am Gymn. zu Salzwedel als ord. Lehrer
angestellt.
Höpfner, Dr. E., ord. Lehrer am Wilhelms-Gymnasium zu Berlin, als
Oberlehrer an das Gymnasium *zu Neuruppin berufen.
Jacob, Joh., SchAC, als ord. Lehrer am Gymn. zu Colberg angestellt.
Jelinek, Dr. Karl» Professor u. Director der k. osterr. Centralanstalt
für Meteorologie, zum corresp. Mitglied der mathemat. naturwiss.
Classe der k. k. Akademie der Wiss. zu Wien ernannt.
Jerzykowski, Dr. Professor , bisher > Oberlehrer am Gymnasium zu
Trzemeszno, in gleicher Eigenschaft am Marien -Gymnasium zu
Posen angestellt.
Kleine, Dr., ord. Lehrer am Gymn. zu Burgsteinfurt, als Oberlehrer
am Gymn. zu Cleve angestellt.
Kneisel, ord. Lehrer am Gymn. zu Bonn, erhielt den konigl. preusz.
rothen Adlerorden IV Cl.
Krause, Dr. H., Bedacteur der prot. Kirchenzeitung in Berlin, wegen
seiner Verdienste um die prot. Kirche und Theologie von der Uni-
versität Zürich aus Anlasz der Calvinfeier zum Doctor der Theo-
logie ernannt.
Krosta, Dr., bisher Hülfslehrer, als ord. Lehrer am Gymnasium zu
Bastenburg angestellt.
Langen, Dr., bisher ord. Lehrer am Gymnasium zu Trier, in gleicher
Eigenschaft am Gymn. an März eilen zu Cöln angestellt.
Likowski, Licentiat der Theologie, als Religionslehrer am Marien-
gymnasium zu Posen, sowie als Subregens des mit diesem Gymn.
verbundenen Alumnats angestellt.
Lothholz, Dr., Professor* am Gymn. zu Wernigerode, zum Director
des Pädagogiums in Putbus ernannt
Magnus, Dr. G., ord. Professor u. geh. Begierungsrath an» der Univ.
Berlin, zum Mitglied des Curatoriums der Bergakademie ernannt.
Meyer, Dr. Emil, bisher Privatdocent an der Univ. Göttingen, zum
ao. Professor in der philos. Fac. der Univ. Breslau ernannt.
Molstein, Dr., Gymnasiallehrer, als ord. Lehrer am Domgymnasium
zu Magdeburg angestellt.
Mosenthal, Dr. A., dramatischer Dichter, zum Bibliothekar des k. k.
österr. Staatsministeriums in Wien ernannt.
Bänke, Seminardirecto r in Barby, zum ev. Begierungs- und Schulrath
bei der Begierung in Liegnitz ernannt.
Bichter, Dr. Arthur, ord. Lehrer am Domgymnasium zu Magdeburg,
in gleicher Eigenschaft am Domgymn. zu Halberstadt angestellt.
Bitschi, Dr., ord. Professor u. Oberbibliothekar an der Univ. Bonn,
geh. Begierungsrath, erhielt das Bitterkreuz des k. hannov. Guel-
fenordens und das Bitterkreuz I Cl. des groszh. sächs. Hausordens
vom weissen Falken.
Boren, Dr., Director der Bitterakademie zu Bedburg, zum Director
des Gymnasiums in Brilon berufen.'
Bolle tt, Dr. Alex., ord. Professor der Physiologie an der Universität
Gratz, zum corresp. Mitglied der mathem. naturwiss. Cl. der k, k*
Akademie der Wiss. in Wien ernannt.
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Personalnotizen. 479
#
Rose, Dr. G., orä. Professor u. geh. Regierungsrath an der Univ. Berlin,
zum Mitglied des Curatoriums der Bergakademie ernannt«
Rothenburg, SchAC, als ord. Lehrer am Gymn. zu Prenzlau angestellt
Saal, Dr., Oberlehrer am Gymnasium an Marzellen zu Cöln, als Pro-
fessor' prädiciert.
Saraland, ord. Lehrer am Gymnasium zu Neustadt In Westpreuszen,
zum Oberlehrer befördert.
Schindler, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Tilsit, als Professor
und Oberlehrer am Gymnasium zu Elbing angestellt.
Schröder, SchAC, als ord. Lehrer am Gymn. zu Oleve angestellt.
Schwarzlose, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Insterburg, zum
Oberlehrer ebenda befördert.
Sengebusch, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zum grauen Kloster in
Berlin, zum Oberlehrer befördert und demnächst als 'Professor*
prädiciert.
Stiehl, Regierungs- und Schulrath in Magdeburg, in gleicher Eigen-
schaft an die Regierung und das Provinzial-Schulcollegium in Stettin
versetzt.
Stürzebein, Dr. Seh AG., als Collaborator am Gymnasium zu Greifen-
berg angestellt.
Tomaszewaki, Dr., ord. Lehrer am Gymnasinm zu Neustadt in West-
preuszen, als 'Oberlehrer' prädiciert.
Tuch, Dr. SchAC, als ord. Lehrer am Gymn. zu Wittenberg angestellt.
Voigt, Dr., Hauptpastor zu Stade in Hannover, zum ord. Professor in
der theol. Fac. der Univ. Königsberg ernannt.
Volkmann, Dr., ord. Lehrer am Gymn, zu Thorn, als Oberlehrer an
das Gymn. zu Duisburg berufen.
Vollhering, Hülfslehrer, als ord. Lehrer am Gymn. zu Göslin angestellt.
Weber, Dr., kathol. Religionslehrer am Gymn. zu Sagan, in gleicher
Eigenschaft an das kath. Gymn. zu Breslau versetzt.
Weierstrasz, Dr., ao. Professor in der philos. Fac. der Uni v- Berlin,
zum ord. Professor ebenda ernannt.
Weisz, Dr. SchAC, als ord. Lehrer am Gymn. zu Thorn angestellt.
Winiewski, Dr., ord. Professor in der phih Facult. der Akademie zu
Münster, erhielt den Charakter als cGeheimer Regierungsrath'.
Worpitzky, Dr., SchAC, als ord. Lehrer am Friedrichsgymnasium zu
Berlin angestellt.
Wunder, Dr. Herrn., bisher Oberlehrer an dem Gymnasium zu Plauen,
in gleicher Eigenschaft an die k. Landesschule zu Grimma versetzt.
Wutzdorf, Dr., bisher ord. Lehrer am Domgymnasium in Halberstadt,
zum Rector der höheren Bürgerschule in Langensalza ernannt.
In Ruhestand gesetzt (auf ihr Ansuchen):
v. Lühraann, ord. Lehrer am Gymnasium zu Stralsund.
Meuaa, Dr., Ober-Regierungsrath, Dirigent der Abteilung für Kirch en-
und Schulwesen bei der Regierung zu Frankfurt, unter Ernennung
zum Ehrenmitgliede des Regierungscollegiums und Verleihung des
k. preusz. Kronenordens II Cl.
Mozart, Joseph, k. k. Rath im Staatsministerium zu Wien (Mitbe-
gründer u. Mitredacteur der Zeitschrift für die österr. Gymnasien').
Anderweitig ausgeschieden:
Berthold, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Stendal.
•St üb er, Dr., ord. Lehrer am Domgymnasium zu Halberstadt.
Gestorben:
Fay, Andreas, f am 26 Juli im Alter von 78 Jahren. (Durch Ueber- .
Setzungen und eigene Dichtungen hochverdient um die ungarische
Liitteraiur, berühmter Redner und Deputierter des Pesther Comitats).
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480 Personalnotizen.
Fluck, Joh. Jacob, Dr. Th., Stadtpfarrer und vordem ord. Professor
an der kath. theol. Fac. 'der Univ. Gieszen, f im Anfang Juli.
Geffken, Job., Dr. theol. n. phil., Prediger zu St. Michaelis in Ham-
l bürg, t am ^ Octbr. (Eifriger Forscher der Hamburg. Geschichte
und als Förderer des Gustav-Adolf-Vereins weitbekannt.)
Gerlach, Dr. G. W., ord. Professor der Philosophie, Senior der Uni-
vers. Halle , f am 1 Octbr. im fast vollendeten 78 Lebensjahr. (Der
letzte jener Professoren, welche nach Aufhebung der Universität
Wittenberg von dort nach Halle übersiedelten.)
Hasselbach, Dr., emerit. Director des Gymnasiums zu Stettin, starb
83 Jahr alt, am 29 Juni ebenda.
Held, Dr., Director des Gymnasiums zu Schweidnitz.
Hinze, Oberlehrer, Professor am Gymnasium zu Brieg.
Hohenegger, Ludw., erzherzogl. Hüttendirector, Mitglied der k. k.
geolog. Reichsanstalt in Wien, f am 25 Aug. in Teschen. (Von ihm
u. a. ein gediegenes geologisches Werk über die Earpathen.)
Huyn, Dr., commiss. Rector an der höh. Bürgerschule zu Saarlouis.
Junghuhn, Dr. Franz, f 52 Jahr alt, am 20 April auf Java. (Seit
langen Jahren für Erforschung des indischen Archipels- thätig.
(Java, seine Gestalt, Pflanzendecke und innere Bauart' 3 Bde. ff.)
K ab seh, Dr. Willi., Privatdocent der Botanik an der. Univ. Zürich,
verunglückte am 20 Juni bei einer Besteigung des hoben Säntis.
Knar, Dr. Joh., 42 Jahr lang ord. Professor der höhern Mathematik
ander Univ. Gratz, f am 1 Juni, 64 Jahr alt. (Sein letztes demnächst
zur Veröffentlichung gelangendes Werk 'Die harmonischen Reihen'.)
Kuhlmey, Dr., Licentiat der Theologie, Lehrer am Gölnischen Gym-
nas. zu Berlin, f ebenda am 10 Juli. (Durch seine Forschungen in
der deutschen Literaturgeschichte und Sprachwissenschaft ehren-
voll bekannt.)
Matter, Jac, Professor am protest. Seminar zu Straszburg, im Jahre
1846 Mitgl. des obersten Unterrichtsrathes in Paris, f am 23 Juni,
73 Jahr alt. (Histoire du Ghristianisme. Histoire du Gnosticisme.)
Michael, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Sagan.
Muni er, Dr., Prof. am Gymn. zu Mainz, Stadtrath, ertrank am 19 Juni.
Muttke, Dr., ord. Lehrer am Gymnasium zu Neisse.
Neumann, Lehrer an der Realschule zu Münster.
Passow, Dr., Director des Gymnasiums in Thorn, f am 3 Aug.
Puls, Dr., Collaborator am Gymnasium zu Gleiwitz.
Reboul, Jean, als Naturdichter bekannt und durch A. Dumas u. La-
martine (sein Vorbild) in die Litteratur eingeführt, f zu Nimes sm
- 29 Mai nach langen Leiden. (Er war 1796 geb. und hat zeitlebens
das Bäckerhand werk betrieben. fPoe,sies'. 1836 erste Sammlung.
1846 zweite Sammlung.)
Schacht, Dr. Hermann, ord. Prof. an der Univ. Bonn, Director des
botan. Gartens daselbst. (Epochemachende Forschungen auf dem
Gebiete der Pflanzenphysiologie.)
Schneemann, Dr., Oberlehrer am Gymnasium zu Trier, f am 9 Juli.
Sigismund, Dr. Berthold, früher Arzt, dann Professor am Gymnasium
zu Rudolstadt, Mitarbeiter an dieser Zeitschrift, f 45 Jahr alt am
11 August in Folge heftiger Blutstürze. (Gemütvoller, inniger Ly-
riker, feinster Beobachter u. Darsteller des Volks- u. Naturlebens.)
Szalay, Ladisl., f im Alter von 50 Jahren am 17 Juli zu Salzburg.
(Der bedeutendste Geschichtschreiber Ungarns; im J. 1848 Gesandter
der ungar. Regierung bei der deutschen Centralgewalt in Frankfurt.)
Vorreiter, Dr., ord. Lehrer am Gymn. zu Gütersloh, f a™ 14 Juni.
Walter, Dr., ord. Lehrer am Progymn. zu Freienwalde, f "& ^wa^-
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Zweite Abteilung.
22 te ? mS ShakßPeare's- W., ^halten an, «April he"e
Gvl, ^y,mnaslum zum h- ««uz zu Dresden. Vom
Gymna8laUehrer Dr. F. Schöne in Dresden 42q . ,.,
?et raDnr;/" eldorrf' den 29 März i864- v°m
(•20 ^ tv *' Hansen in Lennep ... 44o ,fin
Kurze InzLi ?"J. V? Pr°fe8S°r Ed' Ö/öw^ in Lissa ^1 - 466
^^ B7ri2lUn, MiSCeUen *>6-476
schul! I ^e Versammlung von Gymnasial- undReal-
XV Die *hn ZU °scherslebei1 am Sn Mai d. J • 466-469
lehre/16 nte Versammlun£ mittelrheinischer Gymnasial-
en A' ZUB Weinheim a- d' Bergstrasze am 17 Mai 1864.
XVI. Vers " 469-472
Altma tmmlun^ von Gymnasial- und Reallehrern in der
Vn„ « Ulld der JPi'ieg-nitz zu Seehausen am 19 Juni 1864.
yo« ZJ. in o
XV#- Mis ii * • 472~474
(XIII). Litr V°m Kector Dr' Ed% Niemeyer in Dresden 474
Grie h ische lmd eulturhistorische Mitteilungen aus
^rSona;n t6.nIaild (2)- Von Th' Kind m LeiPziS 475-476
° 1Zen ■ • 477—480
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Leipzig,
Druck und Verlag von B. G. Teubner.
1S64.
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Zweite Abteilung:
für Gymnasialpädagogik und die übrigen Lehrfächer,
mit Ausschlusz der classischen Philologie,
herausgegeben von Professor Dr. Hermann Mas ins.
36.
Noctes scholasticae.
Nr. 2.
Mechanisch und denkend.
1 Die beiden Begriffe, welche an der Spitze dieses Aufsatzes stehen,
! gehören zu denen, welche mir in meinem Lehen die gröste Sorge und
! den grösten Verdrusz gemacht haben: die gröste Sorge, weil von der
richtigen Einsicht in sie die richtige Gestaltung und Haltung all und je-
des Unterrichts abhängt, den grösten Verdrusz, weil es mir immer
schwer gefallen ist, für diese Begriffe eine scharfe Formel zu finden.
Es ist mir oft begegnet, über das mechanische Verfahren eines Leh-
rers bei seinem Unterrichte Klagen zu hören ; so oft ich aber auch ge-
fragt habe, welchen Unterricht man mechanisch nenne, und wodurch er
sich von einem auf Denken gegründeten und auf Anregung zum Denken
hinstrebenden unterscheide, so habe ich mich stets mit einigen allgemei-
nen Redensarten begnügen müssen. Ist der Unterschied zwischen beiden
etwa ein flieszender, nur auf ein gewisses Verhältnis der Mischung hin-
auslaufender? oder liegt er so auf der Hand, dasz man ihn als selbst-
verständlich voraussetzen kann? Mir für meine Person ist die Schwierig-
keit diese Begriffe zu fassen stets grosz erschienen, und ich schreibe auch
jetzt diese Worte, nicht als ob ich über diese Schwierigkeit hinaus zu
sein wähnte, sondern um vorläufig damit abzuschlieszen und für mich
selbst wie für andere einen Standpunkt zu gewinnen , von dem aus neue
Schritte zu neuen Untersuchungen gethan werden könnten.
Hieraus wird man sich den Verdrusz erklären können, von dem
ich oben gesprochen habe; gröszer noch ist die Sorge, die diese Be-
griffe jedem Schulmanne verursachen. Welche Schäden entstehen da-
durch von der untersten Classe an bis zur obersten hinauf, wenn es
N.Jahrb.f.Phl!.„.Pad.II. Abt. 1864. Hit 10. ILdbyGoOgk
1
Zweite Abteilung:
torGymnasialpädagosik uod die Obrfgeo Lehrfächer
m»t AusscLIusz der cWschen Phflologie
«mm,gegebcn r« l'rofosser 0,. flfrmailü M.sin*.
36.
Nocles scholasticae
Nr. 2.
Mechanisch und denkend.
bttn V,,,l „s, * , , ,'", ""'T Let,en die 8^le Sorg« „,,„
BefaUen ist, i,i, die«l£2S. Vord«-«", «,i! es mir
■ *' mir oftVelS m T '"" SC,';"'ft! Fonuel z" '"'''™-
1 *» 'h,,, ' f i>e ' ; m;U: '"«'»»•«I, nenne, und w,„h„
■n gä i ? r ' S,letS !'"'' ""'S"1 aM«croe"
mwxendcr nu a f ■ n ,,(T, "'tc™l.i,d tische,, beiden
<lu nu, au ,m ,,e,v Ve,.]i;illiijs (|oi
'» ««n Lann; Mir für meine Person fsl die Scfmie
»lere ein ,, S ,i i »««uschlieszen und Tür luidk
««« einen StandpüDkt ,u gawta,, ,,lü ,,,,„
hm f olonudiungen geüi«, „erden ktaata.
«*n sich den Verdrns, „ L, -„;„,,
habe; grösser nod, fsl
• 1 1 •- ■
' *t*n Ui«»se an bu tu ioaiif. rt
3|gill2edbyGooglc
482 Noctes scholasticae.
beim Unterricht an dem Einen oder dem'Andern ganz* fehlt, ja wenn auch
nur das Eine so praevaliert, dasz das Andere nicht zu seinem vollen Rechte
kommen kann! Hier bleibt ein Lehrer ganz im Mechanischen stecken,
dort weisz ein anderer Lehrer es nicht zum AbschJusz eines denkend ge-
haltenen Unterrichts im Mechanischen zu bringen. Denn, dasz ich es
schon hier offen ausspreche, dem Unterricht der Schule ist das Eine eben
so notwendig wie das Andere ; hierin liegt aber zum Teil auch seine
grosze Schwierigkeit und der Grund, warum es verhältnismäszig mehr
gute akademische Docenten als Lehrer gibt. Der Lehrer musz eben in
zwei Sätteln gerecht sein, und es gibt wenige, welche hierzu geschickt
sind.
Und an dieser Einsicht, dasz nämlich der Schulunterricht beide Ele-
mente in sich verbinden müsse, sehen wir es so unendlich fehlen. An
diesem Mangel krankt oft eine ganze Glasse oder eine Lection durch
mehrere Classen , scheitert oft alle Muhe und Sorge , welche treue und
gebildete Lehrer auf ihren Beruf verwenden. Durchschnittlich freilich so,
dasz in den untern Classen das Denken durch das Mechanische überwu-
chert und erstickt wird, in den obern Classen umgekehrt das Mechanische
nicht zu seinem Rechte kommen kann; aber auch in entgegengesetzter
Weise. Wir unsrerseits sind , um unsere Ansicht in möglichst scharfer
Weise schon hier auszusprechen, der Meinung, dasz aller Unterricht
durch drei aufeinanderfolgende Stadien hindurchgehen
müsse, und zwar, indem er mit dem Mechanischen beginnt, von diesem
zum Denken übergeht und endlich zum Mechanischen zurückkehrt. Wir
haben daher gleich von vorn herein nicht gefragt, ob mechanisch oder
denkend, sondern mechanisch und denkend als notwendig zueinander-
gehörend bezeichnet.
Wirdürfen uns hier der Pflicht überheben, den Procesz zu verfolgen,
in welchem sich das Seelenleben des Menschen vollzieht von den ersten
Eindrücken an , welche die Seele von der sie umgebenden Welt erfährt.
Die neuere Zeit hat hierfür viel gethan: namentlich auf Her hart müs-
sen wir verweisen und die Werke , welche aus Herbart's Schule hervor-
gegangen sind. Die sogenannte speculative Philosophie- hat für die Psy-
chologie wenig oder nichts geleistet. Ein Analogon aus einem andern
Gebiete mag uns zu unserer Betrachtung den Uebergang erleichtern.
Ein bedeutender und zu seiner Zeit viel geltender und viel ange-
feindeter Meister des Orgelbaus war, um den scharfen, schneidenden Ton
gewisser einzelner Pfeifen zu vermeiden, auf den Gedanken gekommen,
denselben Ton , aber voller , runder , durch eine Combination von einer
Anzahl Pfeifen herzustellen. Dieser Versuch gelang ihm auf eine über-
raschende Weise. Ich kenne selbst mehrere Orgeln, an denen er diese
seine Orgelmixturen, so nannte er jene Mixturen, mit glänzendem
Erfolge angewendet hat. Der mechanische Unterricht ist jenen einzelnen
Flöten , der denkende diesen Orgelmixturen vergleichbar. Auch im Den-
ken ist eine Anzahl von Tönen zu einer volleren einheitlichen Wirkung
vereinigt. Werfen wir, um dies klarer zu erkennen, einen flüchtigen Blick
auf die Vorgänge unseres inneren Lebens.
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Noctes scholasticae. 483
Wir sehen hier eine unabsehbare Reihe von mannigfaltigsten Be-
wegungen und Veränderungen in rascher Aufeinanderfolge, ein ununter-
brochenes Fluctuieren namentlich von Vorstellungen , welche in diesem
Augenblicke sich bilden, emporgehoben und Objecte unserer Aufmerksam-
keit werden, im nächsten Augenblicke vor andern zurückweichen und
gleichsam unter das Niveau unseres Auges herabsinken, wo sie bald völ-
lig versinken und für immer untergehen, bald aber des Momentes warten,
iu dem sie durch andere Vorstellungen wieder zum Leben erweckt
und in das ßewustsein zurückgerufen werden sollen. Ist nun das erste
Entstehen dieser Vorstellungen von dem zufalligen Einwirken der äusze-
ren Welt abhängig, so dasz wir uns hierbei mehr leidend als thätig ver-
halten, so ist die Einwirkung , welche die Vorstellungen auf einander
ausüben, eine solche, welche zum Teil wenigstens eben so nach gewissen
psychischen Gesetzen erfolgt, wie die Veränderungen in der Natur
um uns her nach gewissen physischen Gesetzen geschehen. Die in
jedem Augenblick gleichsam eulminierenden Vorstellungen, auf welche
die momentane Aufmerksamkeit fällt, mögen mehr und mehr unter dem
Einflusz des Zufalls stehen ; die Art und Weise jedoch , wie die einmal
entstandenen Vorstellungen andere zurückdrängen , dann selbst herabsin-
ken, dann wieder durch neue Vorstellungen reproduciert werden, die Art
und Weise, wie die Vorstellungen sich assoeiieren und aus wiederholten
Associationen dauernde, feste Gedankenverbindungen und abgeschlossene
Gedankenkreise hervorgehen usw. ist eine, wie die Beobachtung lehrt,
zum Teil von Zufälligkeit freie, gleichmäszige und normale. Zum
Teil, sage ich; denn allerdings ist in diesen Bewegungen, so weit wir
ihnen folgen können, auch ein aller Analogie Widerstreitendes und Unbe-
rechenbares.
Indes diese Welt der in uns auf und ab wogenden, sich erhebenden
und sinkenden Vorstellungen erweitert sich. Durch die Beziehungen der
Vorstellungen auf einander werden in uns neue Vorstellungen hervorge-
rufen und befestigt, welche nicht mehr Bilder äuszerer Wahrnehmungen
sind, sondern innere Produktionen , wie die der Zeit, der Causalität usw.
Ferner treten mehrere einzelne Vorstellungen von gleichartigen Gegen-
ständen von selber zu einer Gesamtvorstellung zusammen, in welcher
allerdings die individuellen Züge jener erbleichen und sich verwischen,
dagegen die gemeinsamen und notwendigen Merkmale sich verdichten und
eineConsistenz gewinnen. Und wie unter gewissen Verhältnissen die
Vorstellungen zu Gefühlen und zu Willensstrebungen werden, so wirken
diese wieder auf die Bildung und Weiterbildung von Vortellungen zurück.
Die Aufmerksamkeit, welche vorher bewustlos auf einem Teile des Wahr-
genommenen ruhte, wird nunmehr zu einer gewollten und steigert sich
zur Beobachtung, welche sich nicht blosz auf äuszere Erscheinungen
richtet, sondern auf die Vorgänge im eigenen Innern, so dasz das Uner-
hörte geschieht, dasz der agierende Schauspieler zugleich auf der Bühne
weiterspielt und von der Bühne herabsteigt, um von unten, unter die Zu-
schauer gemischt, sein eigenes Spiel zu beobachten. Und wie vorher die
Einzelvorstellungen sich von selber zu Gesamtvorstellungen verbanden,
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484 Noctes scholasticae.
so nimmt jetzt das Vorstellen, unter dem Einflusz des Willens und dieser
seiner Absicht sich bewust, diese Operation des Abstrahierens vor, um
zu gewissen erstrebten Resultaten zu gelangen. Andererseits unterwirft
es die Vorstellungen , welche es in sich als schon gebildete und fertige
vorfindet, seiner Kritik, um sie in ihre elementaren Bestandteile aufzu-
lösen und den Procesz, durch den sie entstanden sind, noch einmal durch-
machen zu lassen. So wie oben die Association der Vorstellungen bald
nach gewissen Gesetzen bald regellos geschah , 'so wirkt jetzt der Wille
in einer solchen Weise auf das Denken ein , dasz diese Association mit
Be wustsein vorgenommen und das Spiel des Zufalls und der Phantasie
dabei abgeschnitten, auch nicht das zufällige Eintreten derselben abge-
wartet, sondern von vorn herein mit Bewustsein erstrebt, angeregt, ge-
leitet und beschränkt werde.
Doch es ist kaum nötig unsere Betrachtung dieser Phaenomene un-
seres inneren Lebens noch weiter auszudehnen; wir bedurften dieser
Lehnsätze aus der Psychologie nur, um daraus gewisse Folgerungen zu
ziehen , die uns für das Folgende zu einer Art Basis dienen könnten. In
dieser Welt bewegt sich auch die Thätigkeit des Lehrers, und zwar der
Teil derselben, welcher uns hier speciell beschäftigt, der Unterricht.
Wir fassen diese Folgerungen in einer Reihe von Thesen zusammen.
1. In der Seele findet eine ununterbrochene Bewegung statt, indem
in ihr in rastlosem Wechsel Vorstellungen entstehen, verschwinden, wie-
der entstehen, zum Teil durch gleiche Eindrücke von auszen (unmittel-
bare Reproduction), zum Teil durch andere Vorstellungen nach den
Gesetzen der Vorstellungsassociation (mittelbare Reproduction)
wieder belebt.
2. Diese Processe , welche sich natürlich und ohne unser Zulhun
vollziehen, können unter die Herschaft des Willens gestellt und mit
Bewustsein zu einem bestimmten Zwecke vorgenommen und darnach ge-
ordnet, geregelt und auf bestimmte Ziele hingeleitet werden. Der Unter-
richt hat die Verpflichtung dies zu thun.
3. Unter dieser Leitung kann ebensowol die unmittelbare Repro-
duction der Vorstellungen bis zur völligen Befestigung dieser Vorstellun-
gen wiederholt als auch hierfür die Association der Vorstellungen ver-
wandt werden. Die erstere Art des Unterrichts, welche auf unmittelbarer
Reproduction ruht, ist der mechanische, die zweite, welche auf Re-
production durch Association ruht, der denkende Unterricht.
4. Der mechanische Unterricht hat seine Aufgabe erfüllt, wenn
durch ihn eine Vorstellung oder ein gröszeres Ganze von Vorstellungen
innere Consistenz erworben hat.
5. In dem auf Association der Vorstellungen basirlen Unterricht ist
zunächst das Willkürliche und Regellose in der Association zu verhindern.
Die Zerstreuung und Zerstreutheit des jugendlichen Alters be-
steht eben hierin, dasz die Association der Vorstellungen sich selber über-
lassen bleibt, anstatt unter die Herschaft des Willens gestellt zu werden.
6. Die Verknüpfung von Vorstellungen behufs des Unterrichts ist
teils eine notwendige teils eine ingeniöse. Notwendig ist diejenige
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Noctes scholasticae. 485
Verknüpfung von Vorstellungen , welche entweder in der Natur des Den-
kens oder in dem Inhalt jener Vorstellungen begründet ist. Ingeniös mö-
gen die Verknüpfungen heiszen, welche anscheinend willkürlich, in der
That aber auf die Erreichung des vorschwebenden Zweckes berechnet sind.
7. Die notwendige Verknüpfung von Vorstellungen ist entweder
eine analytische oder eine synthetische. Die erstere löst die Vor-
stellung, welche als eine fertige vorliegt, in die Elemente auf, aus denen
sie gebildet ist, die zweite nimmt diese Vorstellung als ein Ganzes auf
und weist ihr ihre Stellung zu andern Vorstellungen an.
8. Diese andern Vorstellungen sind entweder solche, welche über,
oder solche, welche neben jener liegen. In dem ersteren Falle erhält
die Vorstellung ihren Platz in einein allgemeineren , in einem gröszeren
Umfang; in dem zweiten Falle wird sie mit andern ihr verwandten Vor-
stellungen in Berührung gesetzt.
9. Die Verknüpfung der Vorstellungen ist eine affirmative oder
eine negative. Zwar liegt auch in dem affirmativen Urteil eine Nega-
tion. Denn indem die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gerichtet
ist, weist sie zugleich alle übrigen sich herandrängenden Vorstellungen
von sich ab.
10. Nachdem der Procesz des Denkens zu einem bestimmten Zwecke
vollzogen und das beabsichtigte Resultat erreicht ist, treten die einzelnen
Momente der Denkoperation wieder zurück und die gewonnene Kenntnis
oder Fertigkeit wird wieder ein Element für neue geistige Processe. Da-
mit sie dies könne, musz sie wieder die Natur eines mechanischen d. h.
nicht mehr vermittelten Wissens oder Könnens annehmen.
Auf diese Weise vollzieht sich in unwandelbar gleichen Bahnen die
Bewegung des Denkprocesses : vom Mechanischen zum Denken und vom
Denken wieder zurück zum Mechanischen. Wer es wagen wollte , entwe-
der mit dem Denken zu beginnen oder mit dem Denken aufzuhören, würde
eben so einen falschen Weg einschlagen, wie wenn er das Denken aus
seinem Unterricht verbannen wollte.
Ich habe diese Thesen nicht zu dem Zwecke aufgestellt, um sie
Schritt für Schritt eingehend zu erörtern , sondern um eine Uebersicht
über die Tragweite der uns vorliegenden Fragen zu geben und dem Leser
einen leitenden Wink zu geben, worauf er sein Auge zu richten habe.
Jetzt da dies geschehen ist , darf ich mich wieder freier auf diesem Ge-
biete bewegen und vom Theoretischen und Speculativen mich wieder zu
dem Praktischen wenden.
Das Mechanische haben wir oben als das bezeichnet, womit der
Unterricht naturgemäsz beginnen müsse ; es ist zugleich dasjenige Lernen,
welches dem Knabenalter das bequemste, leichteste und liebste ist. Der
Gang, welchen der noch nicht geübte und erstarkte Geist dabei zurückzu-
legen hat , ist der möglichst kürzeste , er kehrt dabei von jedem kleinen
Ausfluge, den er zu machen wagt, gleich wieder in das sichere Nestchen
zurück; er freut sich des gelungenen Ausfluges, er freut sich der Kraft,
welche er bereits besitzt, wie das Kind sich freut, das dem Vater oder
der Mutter von der schweren Last, die diese tragen, ein kleines Spänclien
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486 Noctes scholasticae.
abnehmen kann. Es wäre unbarmherzig, dem Kinde diese Freude entwe-
der überhaupt nicht zu gönnen oder doch durch voreiliges Entziehen zu
stören. Wie oft habe ich Knaben gesehen, die, spärlieh begabt, bei an-
derm Unterricht mürrisch und verstockt dasaszen, und deren Gesicht auf-
leuchtete , wenn sie wieder einmal im Mechanischen sich tüchtig zeigen
konnten! Wie oft habe ich, wenn mir eine Glasse erschöpft schien, um
sie neu zu beleben, gesagt : nun sollt ihr mir noch einmal eure Vocabeln
aufsagen, und sofort Alle, auch die Schwächsten, frisch und munter wer-
den gesehen! Auch wenn der denkende Unterricht es nicht erforderte,
an bereits befestigte Vorstellungen anzuknüpfen, müste der Lehrer, wel-
cher seine Schüler wirklich lieb hat, dennoch wünschen, ihnen die Freude
an dem Mechanischen erhalten zu können, wie wir auch sonst unsere
Kinder so lange als möglich kindlich, jugendlich zu erhalten wünschen.
Und da dieser Reiz des Mechanischen auch später fortdauert, so ergibt
sich hieraus die Nalurgemäszheit und Notwendigkeit, diesem Bedürfnis
der Seele auch noch später in angemessener Weise Rechnung zu tragen.
So lernen die Schüler gleich zu Anfang, und ehe noch von einem
eigentlichen Verstehen des Gelernten die Rede sein kann, so manches,
dessen sie später bedürfen, und in Hoffnung des späteren Verstehens,
schon jetzt mechanisch auswendig; jetzt wird ihnen das Lernen leicht
und macht ihnen Freude , später würde es ihnen , wenn das Gedächtnis
nicht früh geübt ist, schwer und unangenehm werden : den Katechismus,
das Einmaleins, Gesangbuchslieder, welche der ältere Schüler nur mit
wachsendem und wol begründetem Widerwillen lernen würde, die Opera-
tionen des Rechnens, Namen und Zahlen , so viel man von ihnen fordert.
Sie gewinnen auf diesem Wege das Material von Kenntnissen , welches
später denkend verarbeitet werden kann, und üben zugleich die herliche
und unentbehrliche Kraft des Gedächtnisses, welche sowol für ernstes
Denken als für die spätere praktische Brauchbarkeit im Leben eine uner-
läszliche Bedingung ist.
Es ist daher eine grosze Verkehrtheit, dieses mechanische Lernen
entweder zu misachten oder doch nicht mit systematischer Strenge zu
verfolgen ; aber ich möchte auch gegen einen Misgriff warnen , den ich
oft machen sehe. Es ist bekannt, dasz die Schüler ihren Katechismus,
ihre Kirchenlieder meist mit vielen Fehlern, ohne richtige Betonung, in
einem leiernden Tone hersagen. Die Fehler musz man natürlich verbes-
sern ; aber zu fordern , dasz sie das Gelernte auch mit Ausdruck , mit
Empfindung hersagen, ist unvernünftig. Denn dies hiesze zugleich eine me-
chanische und eine denkende Function fordern; es hiesze fordern, dasz
man zugleich den Weg a b a und a b c a zurücklege. Mechanisch und
denkend sind nicht simultan, sondern succedierend; sie können
nicht beide zugleich, sondern nur nacheinander betrieben werden.
Eben so ist es, wenn die Knaben einer Sexta declinieren bonos nomi-
ne s. So betonen sie und fallen immer wieder in diese Betonung zurück,
weil sie naturgemäsz und völlig vernünftig dasjenige hervorheben , was
ihnen als das Bedeutendere erscheinen musz: die Endung. Lasse man
sie doch so lernen ; beim Lesen wird es ihnen nie einfallen so zu beto-
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Noctes scholasticae. 487
nen. Die Zeit und Mühe , die man darauf verwendet, ihnen diesen Accent
auszutreiben, kann viel besser gebraucht werden. Dies mochte ich denen,
die Schulen zu inspicieren haben, zur Erwägung vorlegen. Ich selbst bin
dagegen stets nachsichtig gewesen, weil es ein Fehler ist, der von selbst
abfallt.
Hieraus ergibt sich , wie sehr diejenigen allen psychischen Gesetzen
widerstreiten, welche beim Unterricht mit Denken nnd Verstehen und
wissenschaftlicher Behandlung beginnen zu müssen glauben. So hat man
neuerdings das Lateinische und Griechische zu lehren angefangen. Eine
SchnJgrammatik von Gurtius, von Lattmann und andern sieht freilich ganz
anders aus, als Buttmann, Rost oder Matthiae. Director Goebel in Ko-
nto hat sich jüngst die, wie uns dünkt, sehr undankbare Mühe gegeben,
genau darzulegen, in was für Fehlern sich eigentlich unsere Vulgargram-
matik herumtreibt. Ich stimme ihm ganz bei und dociere so ziemlich
dasselbe wie er ; aber ich thue es in Prima, beim Homer besonders, nicht
in Quarta, wo ich mich zufrieden gebe, wenn meine Schüler die Erschei-
nung kennen und von den Motiven, welche die Erscheinung hervorgetrie-
ben haben, keine Ahnung haben. Ich gestatte ihnen kaum einen Blick
auf das Lateinische hinüber. Ebendasselbe haben erfahrene Lehrer des
Französischen erinnert : die Anknüpfung an das Lateinische schade mehr
als sie nütze, und ich bin völligst mit ihnen einverstanden, dasz diese
Vergleichung nur als ein leichter Scherz stattfinden sollte. Die Maetz-
nersche Grammatik ist nicht für Anfänger geschrieben, sondern zum
Zweck eines historisch-systematischen Studiums. Und so ist es überall
die Norm, dasz mit Mechanischem zu beginnen und dies bis zur Befesti-
gung fortzusetzen sei , wobei es einem geschickten und munteren Lehrer
nicht an Gelegenheit noch an Mitteln fehlen wird, auch in dies Mechani-
sche Leben zu bringen, selbst die Mathematik, welche mehr als ir-
gend eine andere Disciplin mit der Praetension auftritt, einen streng sys-
tematischen Gang gehen zu wollen, setzt sowol im Arithmetischen als im
Geometrischen bereits eine praktische Geläufigkeit voraus, wenn der wis-
senschaftliche Unterricht nicht in der Luft schweben soll. Ich habe die
erfahrensten Lehrer in diesem Fache eine geometrische Propädeutik for-
dern hören d. h. eine sich im Mechanischen haltende Vorbereitung. Und
so lahmen und kranken Disciplineu , denen dieser mechanische Anfang
fehlt, wie die Geschichte, wo sie erst in höhern Glassen begonnen
wird und gleich mehr in einer rationellen als in der herodoteisch-mecha-
nischen Weise getrieben werden musz. Ich denke, verständige und ur-
teilsfähige Leser werden ahnen, was ich unter herodoteisch-mechanischer
Weise verstehe ; ich kann es hier nicht weiter erörtern. Ueberall, dies ist
das Ergebnisz des Bisherigen, bildet das Mechanische die Basis des Unter-
richte». Man musz , sagte Schopenhauer gelegentlich , bereits etwas
wissen , damit man es durchdenken könne. Wir werden vielleicht unten
sehen, dasz 'sich eben so jeder Unterricht im Mechanischen abschlieszen
und vollenden müsse.
Wir wenden uns nunmehr von dem mechanischen Unterricht zu dem
denkenden.
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488 Noctes scholasticae.
Nach unseren obigen Erörterungen ist denkender Unterricht der-
jenige, welcher nicht mehr auf unmittelbarer Reproduction von Vorstel-
lungen ruht , sondern auf einer durch Association von Vorstellungen ver-
mittelten. Die Verknüpfung von mehreren Vorstellungen ist ihm also
wesentlich. Und zwar ist diese Verknüpfung, wie wir oben bemerkten,
eine beabsichtigte, um eines bestimmten Zweckes willen vorgenommene,
wenn sie auch nicht immer als eine notwendige, sondern auch als
eine ingeniöse erscheint.
Der mechanische Unterricht hat wie alle mechanische Thätigkeit eine
bestimmte Grenze , über die er nicht hinausgehen darf, ohne die Gefahr
den Geist abzustumpfen, und sich selber zu vernichten, die Resultate,
nach denen er strebt, aufzuheben und zu zerstören. Der Knabe lernt
seinen Katechismus, sein Einmaleins, seine Declination und Conjugation
auswendig, ohne sich weiter etwas dabei zu denken. Wird dies mecha-
nische Lernen, Ueben, Wiederholen über jene Grenze hinaus fortgesetzt,
so tritt bei dem Lernenden bald eine Gedankenlosigkeit ein, bei der er
auch nicht einmal mehr an das denkt, was er hersagt, sondern geistig
ganz abwesend ist. Dies zeigt sich darin, dasz er z. B. aus einem Gebote
oder einer Bitte des Katechismus in ein anderes Gebot oder eine andere
Bitte geräth, oder sich durch Aehnlichkeit des Wortklanges verleiten läszt
das Gelernte vollständig zu verdrehen, wovon ja jeder Schulmann die er-
götzlichsten Beispiele geben kann. Von einem Bewustsein über das Ge-
lernte , von einer Anwendung , welche dem Aufsagen folgen soll , ist vol-
lends keine Rede. Diese Erscheinung zeigt sich aber nicht blosz bei Knaben,
sondern auch bei Erwachsenen ; ich bin ihr oft genug bei Primanern be-
gegnet, welche etwa Ruthardtsche loci memoriert hatten. Der Grund
liegt aber nicht in dem Mechanischen an sich, sondern in der Ausdehnung
des Mechanischen über jene Grenze hinaus. Denn jede Vorstellung schrumpft
in sich selbst zusammen, wenn sie nicht durch das Hinzutreten einer an-
dern Vorstellung Lebenskraft und die Möglichkeit sich zu erhalten em-
pfängt. Denn erst durch das Zusammentreten mehrerer Vorstellungen
werden diese Vorstellungen zu Kräften. Die erste Vorstellung wird
durch die zweite gehemmt und hierdurch gereizt, sich in sich zusammen-
zunehmen und. der zweiten gegenüber zu behaupten und als thatkräftig
zu beweisen. Ein näheres Eingehen auf diesen Procesz dürfen wir uns
nicht erlauben und verweisen daher auf die oben bezeichneten Werke.
Es ist hier wie überall im Leben. Die Hemmung und Beschränkung er-
zeugt und entwickelt Kräfte, welche niemand geahnt hatte.
Gehen wir nunmehr auf die einzelnen Arten dieser Verknüpfung von
Vorstellungen ein.
Die Vorstellung tritt uns zunächst als ein Ganzes und Fertiges ge-
genüber. Es ist hierbei gleichgültig, ob die Vorstellung eine einfache
oder zusammengesetzte ist , ob sie ein einzelnes Wort oder einen Com-
plexus von Wörtern, ein einzelnes Factum oder eine Reihenfolge von
Facten , einen einzelnen Gegenstand oder eine Vielheit von Gegenständen
zum Iuhalt hat. Auf der Stufe des Mechanischen bleibt das Vorgestellte
in dieser Ganzheit und Fertigkeit unangetastet. Nun tritt aber zu dieser
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Noctes scholasticae. 489
Vorstellung eine andere, deren psychischen Ursprung wir hier nicht wei-
ter zu verfolgen haben, die der Kraft, welche das, was als Erscheinung
vor uns steht, hervorgetrieben hat, oder die des Ganzen und seiner
Teile, indem es eben diese Kraft ist, welche einen dieser Teile nach
dem andern hat hervortreten und so das Ganze allmälich erstehen lassen.
Beide Vorstellungen einander begegnend und aufeinander stoszend, haben
die Thätigkeit zur Folge, das Ganze als Ganzes , das Seiende als Seiendes
zu zerstören und es in seine Teile aufzulösen. So erklärt sich der natur-
liche Trieb gerade des Knaben als des vorwiegend denkenden zu zerstören,
sei es die Blume, die er eben gebrochen, sei es das Haus, welches er eben
gebaut hat, sei es ein Spielzeug, das von ihm so dringend gewünscht ist.
Dieser Trieb ist nun für den Unterricht zu benutzen und mit Rücksicht
auf den Zweck desselben zu regeln und zu leiten.
Denn wenn es auch dem denkenden oder zum Denken emporstreben-
den Geiste natürlich ist, seihe Vorstellungen diesem analytischen Procesz
zu unterwerfen, so folgt daraus noch nicht, dasz der Geist von selber
und auf die rechte Weise diesen Procesz vornehmen werde. Es gibt viele
Dinge, die uns uaturgemäsz sind und die wir doch lernen müssen; jedem
Menschen ist es natürlich dasz er gehe; wer aber recht gehen soll, musz
dazu methodisch angeleitet und geübt werden. So ist auch das Denken
jedem natürlich; damit der Mensch aber immer denke, damit dies Denken
ihm ein Bedürfnis werde und damit er auf die richtige Weise denke , ist
ihm eine verständige und dessen, was sie will, bewuste Anleitung nötig.
So ist ein sich Begegnen zweier Vorstellungen ein natürlicher Vorgang;
aber diese Vorstellungen werden ebensooft aneinander vorübergehen,
ohne sich zu berühren. Dasz dies Letztere nicht geschehe , dasz sie sich
vielmehr einander aufsuchen und an einander heranziehen, dasz dies Be-
gegnen immer mehr das Gewöhnliche und Selbstverständliche werde,
dazu ist eine bestimmte Leitung nötig, welche hierfür die Aufmerk-
samkeit errege und die Gewöhnung hieran bewirke. Ohne diese
Leitung kann es sehr wol geschehen , dasz der Mensch in seinem Traum-
und Dämmerungsleben dahinlebe , ohne dasz ihm das Auge geöffnet wird
für das , was in ihm und um ihn her vorgeht , wie denn Tausende von
Menschen durch Flur und Wald gehen, ohne von den Blumen, welche
gleichsam des menschlichen Auges warten, das Geringste wahrzunehmen,
während dem Knaben , der nur vier Wochen lang Unterricht in der Bota-
nik gehabt hat, hierfür das Auge aufgethan ist, so dasz er da, wo er bis
dahin wie ein Träumender hin und zurückgegangen ist, nun eine neue bis
dahin ihm unbekannte Welt zu erblicken glaubt. Es ist nicht genug
zu beherzigen , dasz dies Denken sich nicht von selber findet , sondern
vielmehr durch Erweckung der Aufmerksamkeit, gleichsam durch eine
Oeffnung des bis dahin verschlossenen Auges , und durch Gewöhnung er-
strebt und angebildet werden musz.
Der Unterricht verläszt demnach die Sphäre des Mechanischen, indem
er auf die Vorstellung, auf welcher die Aufmerksamkeit des Knaben ruht,
eine andere Vorstellung, nennen wir es die der Kraft , des Werdens oder
des Ganzen und seiner Teile , lenkt , so dasz diese Vorstellungen aufein-
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490 Noctes scholasticae.
ander stoszen. Durch diesen Zusamoienstosz erhält, wie oben gezeigt ist.
die eine wie die andere Vorstellung neue Kraft oder wird vielmehr zu
einer Kraft, und dem, was ohne diese Verbindung sich würde wieder
verfluchtigt haben, wird hierdurch Gonsistenz und Dauer verliehen. Wir
sagen dem Knaben oft genug : 'sieh dir das genau an', und wollen, dasz
er nicht bei der allgemeinen Betrachtung stehen bleibe , sondern das Ein-
zelne ins Auge fasse. Vielleicht versteht er, was wir meinen ; er wird es
sicher verstehen, wenn wir ihn anhalten das Ganze Teil für Teil zu be-
trachten und noch besser es in die Teile auseinanderzulegen , aus denen
er es zusammengesetzt sieht Die Botanik, darum für die untern (Has-
sen eine so unentbehrliche Disciplin und viel bedeutender und bildender
als die Zoologie, geht immer diesen Weg. Sie läszt den Schüler die
Pflanze in die Hand nehmen und diese von der Wurzel bis zur Blüte hin- :
auf in ihre Teile auseinandernehmen und jeden Teil für sich auf das Gc- '
naueste betrachten usw. Indem der Knabe dies thut , wird die Blume, -
welche ihm vorher als ein Fremdes gegenüberstand, durch diese auf sie j
verwendete Thätigkeit gleichsam zu einer eigenen Production und er em- "
piindet darüber eine Freude, wie sie bei eigenem Schaffen von Jedermann ,
empfunden wird : es ist jetzt seine Pflanze geworden und er fügt sie mit ■
dem Stolz eines selbsterworbenen Besitzes in sein Herbarium ein. Durch
diese Leitung aber wird in ihm der Geist gewöhnt, fortan alle Blumen in ,
ähnlicher Weise zu betrachten, und hierdurch ist nicht blosz jene Blume
für ihn in eine höhere Sphäre erhoben und in ein helleres Licht gestellt.
sondern auch eine Betrachtungsweise in ihm hervorgerufen worden.
durch welche der Geist auf eine höhere Stufe emporgerückt, eine neue
Kraft in ihm erweckt und er selber seiner würdiger geworden ist.
Diese Betrachtungsweise, welche von der Erscheinung gleichsam
rückwärts geht , ist nun , weil sie auf einem notwendigen geistigen Pro-
cesz ruht und also eine notwendige Gedankenform ist, in allen Disciplinen
anwendbar. Ganz besonders aber ist sie es bei den Sprachen, und
zwar sowol bei der Flexion als bei der Wortbildung und Gomposition miil
in der Syntax , und hier beim einfachen und zusammengesetzten Satze.
eben so bei der Lehre vom Stil wie bei der Poetik. Der erste Schritt ist.
wenn man den Boden des Mechanischen verläszt, immer derselbe, überall
und auf allen Stufen des Unterrichts: die Auflösung des Ganzen in seine
Teile, die Erkenntnis des Gewordenen, Festen in seinem Procesz des Wer-
dens, gleichsam ein von neuem Schaffen des Daseienden.
Der Knabe lernt die Declination und Gonjugation einfach auswendig,
so dasz er sie mechanisch hersagen kann. Jetzt trennt er das vor ihm
stehende Wort in seine Bestandteile: Stamm und Endung. Hierdurch
bekommt das todte Wort für ihn Leben , es hört auf ihm ein fremdes zu
sein. Die vergleichende Sprachforschung, mit richtigem Tacte benutzt,
bietet ein unendlich reiches Material, um den Schüler anzuregen und in
Bewegung zu bringen. Welches die Grenze sei^ innerhalb deren sich diese
Analyse auf der Schule überhaupt zu halten habe, kann zweifelhaft sein
Ich habe sie nur so weit ausgedehnt, als sie durchaus nötig war, um völ-
lig Räthselhaftes zu erklären, um auch im Anomalsten die Geltung und
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Noctes scholasticae. 491
Wirkung von Gesetzen ahnen zu lassen. Doch hierüber ein andermal.
Wie sehr dies Verfahren zur Befestigung des Wissens beiträgt , habe ich
oft erfahren. Noch kurzlich hörte ich , wie in Sexta die Schüler trotz
aller Mühe mit pro s um und possum nicht ins Klare kommen konn-
ten. Ich zeigte ihnen, dasz das Eine aus prod-sum, das Andere aus
pot-sum entstanden sei, und liesz sie nun selbst die Flexionen versu-
chen. Es gelang. Auch die Wortbildungslehre, auf Schulen meist über-
gangen und nur gelegentlich -berührt, bietet unglaublich bildende Ele-
mente in reichster Fülle. Dem Knaben musz hierfür das Auge aufgethan
werden; von selbst findet sich das nicht. Dieselbe Operation wiederholt
sich beim Satze. Unsere Väter legten auf das Gonstruieren das gröszte
Gewicht; es mag sein, dasz man es ziemlich geistlos betrieben hat, man
hätte es doch nicht so fallen lassen sollen, wie es geschehen ist. Es ist
auszer usus gekommen, und die Schüler tappen jetzt wie Blinde umher:
es ist Zufall, wenn sie das Rechte treffen. Noch schlimmer ist es, wenn
sie an einen complicierten Satz gerathen. Ich vermisse mehr als sonst
das hierfür gebildete und hierzu gewöhnte Auge , sowol bei der Leetüre
als beim Verständnis der Grammatik. Und doch ist dies die unerläszliche
Voraussetzung für jede freie und selbständige Leetüre. Derselbe Procesz
Jäszt sich dann weiter aufwärts verfolgen. Eine Rede des Cicero, eine
Ode des Horaz, ein sophokleisches Stück ist nur dann erst verstanden,
wenn die Teile des Ganzen klar erkannt vor dem Auge liegen. Wie
schwer ist diese Klarheit bei den sallustischen Reden zu gewinnen!
Doederlein glaubte ihrer sicher zu sein, wie er überhaupt schärfer sah,
feiner fühlte und geistvoller combinierte als wir andern. Leider hat er,
wozu ich ihn reizte , wenig hiervon mitgeteilt. Und doch ist erst , wer
diese künstlerischen Ganzen in ihre Teile auseinanderzulegen gelernt hat,
im Stande, auch selbst, in welcher Sprache es auch sei, künstlerisch zu
bilden und ein Ganzes zu schaffen. Auch ins Ethische wird diese Leitung
und Gewöhnung hinüberwirken : den Sinn für innere Ordnung und Har-
monie und das Bedürfnis von diesen zu erwecken und zu stärken. Weiter
kann ich dies nicht verfolgen: nur eins möchte ich bemerken. Diese
Richtung musz frühzeitig eingeschlagen werden : schon in Sexta , wenn
das Alechanische abgethan ist. Gewisse Organe der Seele müssen früh-
zeitig gebildet werden; zu spät in Angriff genommen, haben sie oft schon
ihre Biegsamkeit verloren , und ein Verlust für das ganze Leben ist die
Folge dieser Versäumnis. Dies gegen die unendliche Thorheit derer,
welche glauben, hierzu sei immer noch die Zeit und das Festhalten im
Mechanischen sei ein zu ersetzender Schade. Die feineren Talente auf der
Schule habe ich meist früh gebildet gesehen.
Mit dem eben erwähnten Procesz verbindet sich meist der des Ne-
beneinanderstellens des Gleichen oder Aehnlichen wie des
(Je gen teils hiervon. Es ist ein bekanntes psychologisches Gesetz,
dasz verwandte Vorstellungen einander hervorrufen; eben dasselbe gilt
von contrastierenden Vorstellungen, vorausgesetzt natürlich, dasz diese
innerhalb derselben Sphäre einander entgegengesetzt sind. Was nun hier
ofeae unser Zuthun in der Bewegung unserer Vorstellung geschieht, eben
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492 Noctes scholasticae.
dasselbe kann und soll zur geistigen Belebung und Bildung der Jugend
mit Bewustsein vorgenommen, und der natürliche Trieb geregelt und ge-
leitet und die Beziehung der einen Vorstellung auf eine andere ihr ver-
wandte eine feste Gewohnheit und ein dauerndes Bedürfnis werden. Es
geschieht dies, indem die natürliche Bewegung in ein bestimmtes Betle
geleitet und so vor Ausschweifungen bewahrt wird. Ich will einige die-
ser Schranken, welche ihr zu ziehen sind, anführen, indem ich noch ein-
mal daran erinnere , dasz jene Bewegung erst durch diese Beschränkung
zu einer Kraft wird.
Zuerst ist der Geist, indem er dem Willen unterworfen wird, dazu
zu gewöhnen, dasz er diese Verbindungen nicht dem Spiele des Zufalls
überlasse, sondern sie behersche und beschränke. Auch im Traume reiht
sich Vorstellung an Vorstellung ; aber es fehlt der über sie herschende
Geist, um ungehörige, unsittliche, phantastische Vorstellungen zurückzu-
weisen und , wenn sie sich doch wieder herandrängen , durch andere zu
bekämpfen. Auch das Knabenalter hat eine Neigung sich diesen Träume-
reien hinzugeben und in sie zu verlieren. Diese Neigung kann , wenn ihr
nicht entgegengearbeitet wird , so wachsen , dasz die Denkfähigkeit des
Knaben dadurch zerstört wird, dasz ihm die Kraft verloren geht, diese
Gombination von Vorstellungen in eigene strenge Zucht zu nehmen. Das
Letztere wird nun geschehen, wenn die Combination sich auf Vorstellun-
gen einschränkt, deren Beziehung auf einander eine klare und bewuste
ist. Natürlich kann eine Vorstellung nie in eine andere übergehen ohne
eine Vermittelung ; aber diese Vermittlung kann mit Blitzesschnelle durch
eine so grosze Reihe von Vorstellungen bewirkt werden , dasz es nicht
möglich ist diese Mittelglieder im Bewustsein festzuhalten und daher je-
ner Uebergang als ein wirklicher Sprung ohne Vermittelung erscheint.
Ein Beispiel wird uns klar machen, worum es sich handelt. Zwisdheu
Rose und Mädchen steht die vermittelnde Vorstellung blühend,
zwischen Rose und Nelke die Vorstellung r o t h ; zwischen Rose und
Spazier fahrt ist die Vermittelung dunkeler, getrübt; ebenso zwischen
Vocabeln und Zucker, zwischen Karl V und unser neuer Kut-
scher. Die Verbindungen nuu, welche der Knabe so gern macht und
welche ihn am meisten reizen , sind die letzteren : diese eben sind abzu-
schneiden dadurch , dasz er in der Sphäre der ersteren festgehalten und
in Bewegung gebracht wird, d. h. in der Sphäre derer , bei denen er sich
der verbindenden, vermittelnden Vorstellungen bewust ist. Dies ist ein
höchst wichtiger Punkt, fast möchte ich sagen einer der Krebsschäden, an
denen unsere Jugend krankt.
Das Zweite ist sodann, dasz die Vorstellung, welche die primäre
war,, im Besitz dieses Primates bleibe, und zwar mit dem Bewustsein fest-
gehalten, dasz die mit ihr sich verknüpfenden oder absichtlich verknüpf-
ten Vorstellungen nur ihretwegen da sind und eben nur durch diese Be-
ziehung auf jene ihren augenblicklichen Werth erhalten. Hiermit hängt
denn zusammen, dasz nicht Vorstellung an Vorstellung gereiht werde1"
bis der Ausgangspunkt dieser Reihe von Vorstellungen gänzlich aus dem
Bewustsein entschwinde. Diese Regel ist um so wichtiger, als das Ler-
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Noctes scholasticae. 393
nen verhältniszmäszig immer etwas ist, was das Knabenalter mit Unlust
treibt und wozu es mit Zwang angehalten werden musz , wenn dieser
Zwang auch ein moralischer sein kann. Wenn nun sich dieser sauren
Arbeit des Verstandes das leichte Spiel der Phantasie zur Seite stellt, wie
es ja bei jener. Verbindung von Vorstellungen da ist, so ist die Gefahr -
sehr nahe , dasz der Knabe sich der Phantasie hingebe und bei den Se-
cundär - und Hülfsvorstellungen verweile. Dies zeigt sich aus der Nei-
gung der Knaben, zumal geistig geweckter und reger Knaben, den Lehrer
bei diesen secundären Vorstellungen durch allerlei Künste festzuhalten
und an der schnellen Buckkehr zu dem trockenen Gegenstande zu verhin-
dern. Alles ist ihnen lieber als das, womit sie sich gerade beschäftigen
sollen. Es ist durchaus nicht leicht, hier das rechte Masz zu finden, und
kein Alter und keine Erfahrung so sicher, dasz sie nicht des Rathes be-
durften, in dieser Beziehung ja über sich zu wachen. Der Geist ist auch
hier wol willig, aber das Fleisch ist und bleibt schwach.
Diese Verknüpfung ist nun doppeller Art: sie ist entweder eine
notwendige oder eine ingeniöse. Einige Beispiele aus der Ge-
schichte werden uns dies dies deutlich machen.
Alle Beziehungen von geschichtlichen Stoffen, einzelnen Thaten und
Ereignissen wie gröszeren geschichtlichen Kreisen, werden entweder mit
gleichzeitigen Dingen gemacht oder mit solchen, die in der Suc-
ccssion liegen. Man verzeihe die Ungenauigkeit des Ausdrucks. Ich
hätte sagen sollen : die Vorstellung eines Ereignisses verbindet sich mit
der Vorstellung eines andern in dieselbe Zeit fallenden Ereignisses. Sei
es indesz darum, wenn wir nur über das, was ich meine, einverstanden
sind. Gleichzeitige Ereignisse zu verbinden ist nun nicht willkürlich,
sondern natürlich und notwendig, denn von selbst ensteht, wenn von
einem Ereignis die Rede ist, die Vorstellung, dasz dies Ereignis nicht
könne allein dagestanden und die übrige Welt geruht haben; selbst wenn
dies letztere der Fall gewesen wäre, würde man es doch nicht ohne weite-
res glauben, sondern sich erst selbst davon überzeugen wollen. Eben so
und mehr noch gilt dies von der Succession der Ereignisse. Ein Krieg
entsteht nicht ohne Ursachen. Je gröszer ein Ereignis ist, desto tiefer
gehen seine Wurzeln in die Vergangenheit hinab, desto weiter reichen
' seine Folgen in die Zukunft hinaus. Dies ist wenigstens die erste und
natürlichste Annahme , wenn sie sich auch keineswegs immer bestätigen
sollte. Bei den groszen asiatischen Weltstürmern, einem Dschingiskhan,
Tamerlan, Nadir Schach ist weder das Eine noch das Andere in ausge-
zeichnetem Grade der Fall. Es ist also die Verbindung eines Ereignisses
mit Gleichzeitigem oder die Betrachtung jenes Ereignisses in einer Suc-
cession etwas der menschlichen Denkweise Notwendiges. Dagegen nenne
ich ingeniös die Verbindung, welche zwischen nicht zusammenhängenden
Vorstellungen geknüpft wird, wenu diese durch eine glückliche Phantasie
zu Stande kommt. So ist Raphael an einem Charfreitag geboren und
an einem Charfreitag gestorben; geboren mit Luther in demselben Jahre
und gestorben in einem Alter von 38 Jahren (1483 die Umkehrung der
beiden letzten Zahlen), gestorben in einem Aller, in dem so viele geniale
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494 Noctes scholasticae.
Naturen — hier gilt es sie zu sammeln und aufzuzählen — von der Erde
geschieden sind! Und wie alt ist dagegen Michel Angelo, wie alt Tizian
geworden ! Oder wie viele wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte
fallen in Jahre, deren Quersumme 15 gibt, von jenem Vertrage vonVerduii
an bis zur Auflösung des römischen Reichs oder bis zum endlichen Sturze
des gewaltigen Napoleon! Oder dasz 1640, 1740, 1840 in Preuszen ein
Thronwechsel stattgefunden hat ! Ich habe kaum noch nötig nachzuweisen,
dasz durch diese Gombinationen , sowol die der ersten als auch die der
zweiten Art, das Einprägen geschichtlicher Kenntnisse unendlich erleich-
tert wird , viel mehr als durch mnemotechnische Operationen , obwol ich
den letzteren durchaus nicht feind bin. Eben so wenig aber ist zu be-
zweifeln, dasz Gombinationen dieser Art dem Schüler so geläufig und ha-
bituell werden können , wie man den gewandten und erfahrenen Reisen-
den an der Weise herauserkennt, wie er eine Gegend, eine Stadt, einen
Dom aufzufassen und anzufassen versteht. Wenn der geschichtliche Un-
terricht anregend , belebend und sich fest einprägend werden soll , wird
man wol thun diese Subsidien nicht von der Hand zu weisen.
Diese Gombination von Vorstellungen findet nun in allen Gebieten
des Unterrichts ihre vielfältigste Anwendung : überall erscheint sie als
eine Anknüpfung des Unbekannten an Bekanntes, des Entfernteren an
näher Liegendes , des Unsichtbaren an Sichtbares, des Abstracten an Con-
cretes. Eine jede Vorstellung sucht, um sich zu erhalten, von selbst eine
andere, an die sie sich anlehnen und auf die sie sich stützen könnte. Wo
diese Stütze für sie nicht zu finden ist, ist sie auch der Gefahr des Ver-
schwindens ausgesetzt. So ist es wol möglich, dasz der Naturforscher
für geschichtliche Dinge, der Historiker für Namen von Pflanzen und Mi-
neralien kein Gedächtnis habe; es fehlt beiden an einem Quantum von
bekannten und festen Vorstellungen, die -der neuen Vorstellung als Stütze
dienen könnten. Ein sehr lieber Freund hat sich viele Jahre umsonst be-
müht, mir Pflanzenkenntnis beizubringen ; ich hatte, wie ich oft scherzte,
in meinem Seelenrepositorium einmal kein Fach, wo ich diese Vorstel-
lungen unterbringen konnte. Später hat sich auch dies Gedächtnis noch
bei mir gefunden % aber nicht an verwandte Gegenstände angelehnt, son-
dern an liebe Knaben, weiche ich in der Botanik unterrichten und lebhaft
mit der Botanik beschäftigt sah. So natürlich aber dieses Gombinieren ist
und so sehr wir auch die Phantasie lebhafter Knaben in Bewegung sehen,
diesem Bedürfnis zu genügen, so wenig sind wir doch der Verpflichtung
überhoben, auch diese Sache in die Hand zu nehmen. Denn dem natür-
lichen Drange und Zuge steht ebenso die natürliche Trägheit entgegen,
aus welcher der Knabe herausgetrieben werden musz. Wie oft begegnet
es mir bei sonst tüchtigen Schülern , dasz sie — ich habe Primaner im
Auge — es hieran fehlen lassen. Es werden bei den alten Autoren Geld-
summen, Entfernungen, Zeitbestimmungen gegeben: wollte Gott doch,
dasz es ihnen von selber einfiele diese Dinge an ihnen bekannten zu mes-
sen. Es bedarf allen Ernstes, um sie aus dieser Passivität herauszubrin-
gen. Hierzu aber musz frühzeitig der Grund gelegt werden, denn
auch hier gilt das oben Gesagte: diese Organe werden, wenn sie nicht
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Noctes scholasticae. 495
früh gebildet sind, später schwerer entwickelt, wenn die Elasticität des
ersten Alters nicht mehr vorhanden ist. Das Denken stellt sich nicht von
selber ein, wenn die Jahre dazu kommen ; wenn die Seele einmal im Me-
chanischen alt geworden ist, will es mit der freien und leichten Bewe-
gung des Geistes nicht mehr vorwärts. Ueberdies aber ist es nicht so
leicht, die Fundstätten für die Vergleichung zu finden. Denn es ist
nicht genug , dasz der Schüler etwa die Combinationen , welche sich ihm
darbieten, ergreife und verwerthe; er musz sich auch geradezu um-
sehen und umthun lernen nach Vorstellungen, ähnlichen wie contras-
tierenden, welche diesem Zwecke dienen. Nägelsbach hat in seiner
Stilistik einen Abschnitt, welcher von den Fundstätten des lateinischen
Ausdrucks handelt; man könnte eben so eine Lehre von den Fundstätten
für Combination von Vorstellungen schreiben. Zuweilen bieten sich
solche Orte wie von selber dar, öfter aber entziehen sie sich dem ersten
AnWicke und wollen aufgesucht sein. Die Vergleichung einer neu zu ler-
nenden Sprache mit der Muttersprache ist eine natürliche; die der latei-
nischen mit der griechischen, die der französischen mit den beiden anti-
ken Sprachen ist eine ferner liegende , und der Knabe musz hierzu ange-
halten und angeleitet werden. Diese comparative Richtung ist überhaupt
erst spät in die Wissenschaft gekommen, und es ist noch nicht lange her,
dasz es uns bei Ritter 's Behandlung der Erdkunde war, als ob wir in eine
völlig neue Welt von Anschauungen und Vorstellungen eingeführt wür-
den und als ob es wie Schuppen von unsern Augen fiele. Und auch jetzt
noch, wie wenige Lehrer wissen diese Dinge zu verwerthen und dadurch
Leben in den Unterricht zu bringen , geschweige denn dasz man auf die
eigene Vergleichung der Knaben warten sollte. Noch weniger will man
daran, die Geschichte mit der Geographie zu verbinden. 0 ja, so weit
bringen es einige Lehrer, dasz sie einige historische Data localisieren und
die Locali täten so beleben; aber dasz sie den notwendigen Zusam-
menhang zwischen der Erdoberfläche und ihrer Formationen mit der. Ge-
schichte in deren groszen Bewegungen aufsuchen sollten, liegt ihnen
völlig fern. Auch hier braucht man die Rute, die nach dem helleren
Golde, dem neuen Gedanken zuckt, wie Klopstock sagt, und auch diese
Hute ist kein Märchen , und der Lehrer kann und soll sie seinen Schüler
finden lassen.
Für manche Disciplinen ist zu rathen , dasz man an das tägliche Le-
ben mit ihnen anknüpfe, für andere, dasz man sich mehr an die Ge-
schichte halte. In das mechanische Rechnen kommt etwas Goncretes und
Lebendiges hinein, wenn man die Zahlen benennt , wenn man Rechnungen
vornehmen läszt, wie sie täglich in einer Haushaltung vorkommen, in die
Mathematik als eigentliche Wissenschaft, wenn man ihre Anwendbarkeit
für das wirkliche Leben zeigt. Man spricht mir von der strengen Wis-
senschaft; ich will gern von dieser Strenge etwas aufgeben, wenn ich
nur Leben, Frische, Bewegung in diese Disciplin hineinbringen könnte.
Üasselbe gilt von der Botanik, von der Mineralogie. In den sprachlichen
Lectionen bietet die Geschichte das geeignetste Material zu Uebungs-
stucken, wie dies auch von vielen Verfassern von Uebungsbüchern aner-
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496 Noctes scholasticae.
kannt ist. Denn ethische Sentenzen sind dein Sextaner noch viel zu hoch
und Sätze, in denen sie hören, dasz die Magd die Bank nach dem Garten
getragen hat oder dasz im Walde viele und grosze Bäume stehen, können sie
unmöglich reizen und für die junge Seele etwas Nahrung bringen. Aber
es ist völlig ebenso verkehrt, wie neuerdings noch Ploetz gethan hat —
quem tarnen honoris caussa nomino — historische Beispiele zu häufen,
die für ihn eben so unverständlich sein müssen. Die Beispiele sind am
besten historisch, aber dies Historische musz ihnen bereits bekannt und
geläufig sein. Ich hatte in Tertia die Gewohnheit, alleUebungsstücke und
Exercitien aus einem sehr beschränkten Kreis der Geschichte zu nehmen.
Pyrrhus , Hannibal , Caesar spielten darin eine Hauptrolle. Ich that das
natürlich aus sehr guten Gründen: ich wollte auch an Bekanntes anleimen.
Ueberdies halte und hielt ich dafür, dasz alles zufällig und sporadisch Ge-
lernte eigentlich werthlos sei, und wies daher diejenigen zurück, welche
sich damals über diese meine Beschränkung wunderten. Würden in Sexta
und Quinta noch die herlichen griechischen Sagen erzählt , so würde ich
mich an diesen Kreis anschlieszen. Jedenfalls rathe ich den Lehrern der
untern Glassen dies als Grundsatz fest zu halten, dasz vernünftiger Weise
Neues nur an Altes , Unbekanntes nur an Bekanntes angeschlossen wer-
den kann. Ein näheres Eingehen hierauf und praktische Vorschläge für
das Lateinische behalte ich mir für eine andere Gelegenheit vor.
Wenn nun so Vorstellung sich an Vorstellung reiht, so ist damit
auch der Anfang gemacht zu einem Zusammenfassen vieler ähnlichen oder
auch vieler unterschiedenen und contrastierenden zu einer Gesamtvorstel-
lung des Gemeinsamen, bei welcher nicht mehr das Einzelne und Indivi-
duelle betrachtet wird, sondern das Allgemeine, welches sich von dem
Einzelnen , an dem es ursprünglich haftete , gelöst und zu einem eigenen
Sein zusammengenommen und verdichtet hat. Das Denken abstrahiert
dies Gemeinsame von den einzelnen Erscheinungen vermittelst der Re-
flexion. Sobald es zu diesem Besultate gelangt ist, faszt es, indem es
sich zu den Individuen zurückwendet, welche ihm zur Gewinnung dieses
Gemeinsamen contribuiert haben, diese zusammen und beugt sie unter
dies Gemeinsame als sein Gesetz und seine Regel , denen sich keines der
betreffenden Individuen entziehen kann. Und mit diesen Vorstellungen,
welche nicht mehr die Bilder sinnlicher von auszen her empfangener
Wahrnehmungen, sondern eigene, freie Productionen sind, unternimmt
es dann seine ferneren Operationen, welche zu immer höheren, umfassen-
deren allgemeinen hinaufführen. Doch diese Operationen haben wir ja
nicht zu verfolgen.
Ein Beispiel mag uns den Fortschritt des Denkens in dieser Bezie-
hung klar machen.
Der Knabe liest peritus linguae Latinae: man sagt ihm: das
heiszt bekannt mit der lateinischen Sprache. Die Vergleichung
des Lateinischen mit dem Deutschen zeigt ihm die Verschiedenheit der
Construction. Aber er findet nicht blosz hier, sondern überall peritus
mit dem Genitiv verbunden. Er abstrahiert hieraus die Regel: peritus
müsse immer mit dem Genitiv verbunden werden. Es stöszt ihm hierauf
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Noctes scholaslicae. 497
juris consultus auf; dann sieht er gnarus, dann ignarus so ver-
bunden. Auch diese Wörter haben die Construction, welche ihm bei
peritus schon so aufgefallen war? Er sieht ferner, wie nahe diese
Wörter ihrer Bedeutung nach miteinander verwandt sind, und steigt nun
von jenen Regeln zu einer höheren Regel auf, dasz alle Adjectiva dieser
Bedeutung den Genitiv bei sich haben. Es sind aber auch noch andere
Adjectiva von anderer Bedeutung und gleicher Construction. Er musz
noch einmal höher hinaufsteigen und diese sämtlichen Adjectiva zu einer
neuen noch umfassenderen Regel zusammenziehen.
Es fragt sich nun, welche Stellung dies Allgemeine, dessen Aus-
druck die Regel ist, im Untericht einzunehmen habe.
Der natürliche Gang ist ohne Zweifel derselbe , den das Denken sel-
ber hierbei genommen hat. Also auch der Unterricht gehe aus von der
Erscheinung, von dem einzelnen Falle oder den mehreren einander ähn-
lichen einzelnen Fällen aus einer bestimmten Sphäre. Der Schuler werde
angehalten die Augen aufzuthun und das Gleiche in den einzelnen Fällen
zu sehen. Dies Gleiche ist nun das Gesetz, welches in der Sprache gilt.
Es ist aber nicht blosz das Gesetz, sondern auch für ihn eine Regel,
nach der er sich einer neuen einzelnen Erscheinung gegenüber zu richten
hat. Von diesem Allgemeinen ausgehend sagt er nun: dieser vorliegende
Fall ist auch einer, welcher in den Bereich jenes Allgemeinen, unter die
mir bekannte Regel fällt. Dieser Denkakt ist ein Urteil, und zwar ein
subsumierendes Urteil. Es ist hierbei ganz gleich, ob dieser ein-
zelne Fall eine bereits vorhandene und vorliegende Erscheinung ist oder
aber eine solche, welche erst gebildet werden soll d. h. ob dieser ein-
zelne zu subsumierende Fall in der Leetüre oder in einem Exercitium usw.
vorkommt. Wir gehen also von der Erscheinung aus und kehren wieder
zur Erscheinung zurück : vom Einzelnen durch das Allgemeine zum Ein-
zelnen.
Diese Sachen scheinen alle leicht, einfach und selbstverständlich,
aber die Erfahrung zeigt, wie viel dagegen gesündigt wird und wie wich-
tig es also ist, hierüber ein klares und sicheres Bewustsein zu haben. Von
den Grammatiken will ich nicht reden , obwol auch sie die Beispiele vor-
anstellen sollten; aber auch der Unterricht pflegt insgemein von dem
Allgemeinen, der Regel, auszugehen. Diese wird im besten Falle erklärt,
durchgenommen; ich habe auch Fälle vor Augen, wo ein Lehrer vor
dieser Erklärung die Regel zum Auswendiglernen aufgab; dann werden
die Beispiele übersetzt, und hierauf wird die Regel an*Sätzen angewandt,
welche der Lehrer selbst bildet oder bilden läszt, und so eingeübt. Das
Einzige , was diesem grundverkehrten Verfahren zur Entschuldigung ge-
sagt werden kann, ist dies, dasz es compendiari scher sei als das
oben bezeichnete. Indes wozu dieses Gompendiarische? Ist nur das Auge
gebildet, der Verstand geschärft, die Kraft ins Leben gerufen: mit wie
wenig Regeln läszt sich da eine Sprache erlernen! Mit wie wenigen
haben wir sie einst erlernt! Dies ist das eigentliche Bedürfnis, welches
wir empfinden: Kraft, Können, Freiheit und Selbständigkeit im Denken,
im Arbeiten, im Producieren. Das Wissen und dasz wir darauf den Ton
N. Jahrb. f. Phil. a. Päd. II. Abt. IBM. Hft. 10. Djg |fl 34 Q0(
498 Noctes scholasticae.
gelegt haben , hat uns so weit heruntergebracht und wird uns noch wei-
ter herunterbringen. Wiese hat einmal eine Grammatik ohne Regeln als
eins seiner Desiderien bezeichnet. Dies Wort bezeichnet ihn allein als klar
sehenden Pädagogen. Aber was es für Frucht gebracht hätte , kann ich
nicht absehen. Die Regeln sind unser Schatz , und wo unser Schatz ist,
da pflegt auch unser Herz zu sein. Wir verachten die Regeln nicht, aber
wir wollen sie von den Schülern selbst erzeugt und so in lebendigen
Flusz gebracht sehen, in dem sie sich ja wie die Fülle von Ausnahmen
zeigt, in der That und Wahrheit befinden. Und dasz ich auch dies hinzu-
füge, auf dem Rückwege von der Regel bedenke man ja, dasz das subsu-
mierende Urteil das Wichtigste ist, das Einüben aber das Nebensächliche
und das Mittel für einen höheren Zweck ; wenn nicht durch das immer
mehr um sich greifende Einüben das geistige Leben wieder ins Mecha-
nische hinabsinkt und darum auch so wenige Frucht trägt. Ich lasse so
viel arbeiten, und es hilft und hilft nichts, höre ich fortdauernd klagen:
wie soll dies arbeilen aber helfen? Lasz weniger arbeiten und treibe
deine Knaben statt dessen ins Denken hinein , so wirst du bald andere Re-
sultate sehen.
Es würde uns zu weit führen, wenn wir hier weiter zu zeigen un-
ternähmen, wie auf diesem Wege das Denken dazu gelangt, gröszere
Ideenkreise innerlich zusammenzuschlieszen und sich so den Weg zur
Wissenschart und zum System zu bahnen. Wir wenden uns lieber einem
andern Punkte zu, der für das Denken und einen von Denken und Anre-
gung zum Denken erfüllten Unterricht von gröster Bedeutung ist. Wenn
wir nicht fürchteten roiszverstanden zu werden, möchten wir, was wir
im Auge haben, als das Erkennen der Vernunft in den Erschei-
nungen bezeichnen.
Wir haben in dem Obigen das Denken als in der Verbindung mehre-
rer Vorstellungen bestehend erkannt; der denkende Unterricht leitete die
Schüler dazu an, diese Verbindung von Vorstellungen zu vollziehen, und
zwar nicht einmal oder zufällig , sondern immer und mit Notwendigkeit
aus einem Bedürfnis und Drang der Seele heraus. Hier war die hinzu-
tretende Vorstellung die des Ganzen und seiner Teile, dort die des Aehn-
lichen und Unähnlichen innerhalb der gleichen Sphäre , dann die des Ge-
nerellen; hier haben wir es nun mit der der Gausalität zu thun. Es ist
nicht unsere Aufgabe nachzuweisen, wie dieser Begriff in der Seele sich
bildet; der Unterricht findet ihn bei dem Schüler bereits auf den ersten
Stufen vor, wenn auch noch nicht entwickelt und Denken und Wollen des
Knaben beherschend. Indem er ihn benutzt , hilft er ihm an Kraft und
Stärke gewinnen. Dieser Begriff nun ist es, durch den erst das Verste-
hen wirklich wird. Man mag lange einen Gegenstand erkannt haben, in
seinen Teilen, in seinem Unterschied »von andern gleichen, in dem grös-
zeren Ganzen, dem er angehört; ein Verstehen tritt doch nur erst dann
ein und mit dem Momente, wo der Verstand in ihm die ratio, den ob-
jeetiven Verstand, sich selber wieder findet. Nun erst kommmt das
Denken, in dem es zu sich selbst kommt, zur wahren Ruhe und Befrie-
digung.
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Noctes scholasticae. 499
Dieses Verstehen nun ist von dem Unterricht auf allen seinen Stu-
fen und in allen Disciplinen gleichmäszig anzustreben; wenn es auch nach
den Objecten des Unterrichts ein verschiedenartiges ist , ein anderes in
der Mathematik und in der Physik , ein anderes in der Geschichte und
Geographie , ein anderes in den Sprachen , ein anderes in der Naturbe-
schreibung, ein anderes in der Religion. Eben so wird es durch die Stufe,
auf welcher der Schüler steht, ein anderes. Schon der Sextaner soll und
kann die Sprache, welche er zu treiben hat, verstehen; wie wird dies
Verstehen von Stufe zu Stufe ein anderes bis zu der Stufe hinauf, wo an
der Hand der vergleichenden Sprachforschung das innere Leben der
Sprache, die Veränderungen, welche im Lauf der Zeit in und mit der
Sprache geschehen sind, die Gesetze, nach denen diese Veränderungen er-
folgen, die Zwecke, welche die Sprache zu erreichen strebt, und weiter
und weiter die lebendige Beziehung, in welcher diese Sprache zu dem
bestimmten Volksindividuum, dessen Sprache sie ist, steht, immer tiefer
und sicherer erkannt wird! Eben so ist die Geschichte von vorn herein
rationell zu betreiben und das Warum zu einem Momente des Unter-
richts zu machen. Es ist kaum zu sagen, und nur von dem zu begreifen,
welcher in stetigem Verkehr mit diesem Lebensalter steht , wie bald der
fähige Knabe die Sagenwelt hinter sich läszt und über sie hinaus ist oder
hinaus will. Ich habe gleichfalls , wie es Niebuhr gethan, in frühen Jah-
ren meinen Kindern diese Sagen erzählt; aber ehe man es sich versieht,
ist der Glaube daran verschwunden und die Reflexion über diese Dinge
da, vor welcher diese schöne Zauber- und Wunderwelt erbleicht, und der
Moment erschienen , wo dem Knaben eine andere Geschichte darzubieten
ist. Aber wie wird dies Verstehen ein anderes und immer wieder ein an-
deres bis zu dem Punkte , wo allein noch der Gedanke einer göttlichen
Weltregierung und eines persönlich waltenden Gottes das Suchen , Stre-
ben und Ringen der nach Wahrheit verlangenden Seele zufrieden stellen
und dies Verstehen vollenden kann! Ein Unterricht, der dies Verstehen
nicht erstrebte, nichtrauf allen seinen Stufen erstrebte, sondern sich mit
der Erscheinung, mit dem Factischen, sei es noch so glänzend, noch so
erhaben, noch so herzbewegend, begnügte, wäre kaum ein Unterricht zu
nennen.
Hier stehen wir nun an einem Punkte der Entscheidung. Alles oben
Erwähnte ist gleichsam nur vorbereitend gewesen; hier trennt sich das
eigentliche Denken vom Mechanischen; hier musz es sich zeigen, sowol
ob der Lehrer im Mechanischen seine eigentliche Sphäre und seine Le-
bensaufgabe hat, als auch ob in dem Schüler eine höhere Befähigung vor-
handen ist. Und doch möchte ich diese Entscheidung nicht allzufrüh ein-
treten lassen; denn vieles ist in der Seele verborgen, was man dort
überhaupt nicht vermuthet, was aber sich zu regen, zu keimen, sich
ans Licht hinaufzuringen beginnt, wenn der rechte Mann da ist, %r dies
verborgene Leben zu wecken im Stande ist. Ja, und dies ist mir hier das
Wichtigste, ich habe es vielfach erlebt, dasz Schüler , welche im Stadium
des Mechanischen völlig beschränkt erschienen, sich geistig gleichsam er-
munterten, als diese Saite bei ihnen angeschlagen wurde. Denn für ge-
34*<- T
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500 Noctes scholasticae.
wisse Naturen, denen es an einer lebhaften Phantasie, an geistiger Be-
weglichkeit und Agilität, an rascher Fassung und Anwendung fehlt, ist
dies Basieren des Unterrichts auf Begreifen und Verstehen etwas Natür-
liches und Heilsames. Ich habe in dieser Hinsicht viele und mich über-
zeugende Erfahrungeu gemacht, auf die ich mich gern berufe, da ich das
Bewustsein habe, mit groszer Sorgfalt beobachtet zu haben, wie jeder
Sachverständige meinen Worten anhören wird. Das -Wörtchen warum
ist oft wie eine Fackel, welche in eine trübe und dunkele Seele Licht und
Leben bringt. Wenn mir ein College sagt : ich musz mich mit diesem
oder jenem oder auch mit meiner Glasse, so arm ist sie an Geist, auf das
Mechanische beschränken, so erwidere ich ihm wol: greifen Sie es nur
einmal mit dem Denken, mit dem Rationellen an, und ich finde meist, dasz
wenn dies geschieht, und wenn der Lehrer den Willen seiner Schüler be-
herscht, ein anderer Geist in diese seine Schüler kommt. Der natürliche
Weg ist freilich der Von dem ÖTl zum blÖTi; oft aber musz man erst
zum biön kommen, ehe man das öti erreicht.
Ich gebe ein Beispiel.
Unsere lateinischen Grammatiken sind, und natürlich, mit einer
Menge von Regeln angefüllt, welche den Unterschied der lateinischen
Sprache von der deutschen zur Voraussetzung haben. Der Schüler soll
sich in diesen Regeln dieses Unterschiedes bewust werden. Er musz zu
dem Behufe diese Regeln lernen. Der nächste Procesz ist für ihn der,
diese, Regeln , in dem er die in sie zusammengefaszten Erscheinungen in-
nerlich versteht , gleichsam wieder aufzuheben , wie sie ja für den über-
haupt nicht vorhanden sind , der die Sprache als Muttersprache spricht,
und für den verschwinden, der sie wie seine Muttersprache als eine le-
bendige zu gebrauchen im Stande ist. Sie lösen sich auch insofern auf,
als sich bald ergibt, dasz in ihnen nur scheinbar Verwandtes äuszerlich
zusammengestellt ist , was sich als völlig verschiedenartig herausstellt.
So lernt der Knabe: persuadeo heiszt überreden, und regiert den
Dativ; überreden hat den Accusativ bei sich. Dies lernt er sehr bald,
aber der Gebrauch und die Anwendung im Passiv macht ihm Mühe. Wenn
ich nun den Lehrer sich hiermit abmühen sehe , sage ich wol dem Kna-
ben: suadere hängt mit suavis zusammen und heiszt etwas als
suave darstellen; persuadere heiszt bis ans Ende d.h. so lange,
bis einer es glaubt oder thul, etwas als suave darstellen. Uebersetze
es also als wünschenswerth, gut vorstellen. Der Dativ versteht
sich nun von selbst. Soll nun der Knabe übersetzen : ich bin überredet
worden, so lasse ich dies zuvor übersetzen : es ist mir als gut vorgestellt
worden, mihi persüasum est. Ob trectare, lehrt die Grammatik,
heiszt beneiden: im Gegenteil, es heiszt entgegenstreben, entgegenar-
beiten. Man beneidet mich musz also erst umgewandelt werden:
mir wird entgegengearbeitet. Und dieser Procesz wird von dem
Schüler sehr bald und sehr sicher gemacht, wenn er hierzu angeleitet
wird, wenn man ihn namentlich sehen läszt, dasz er auf diese Weise et-
was kann, was er bis dahin nicht konnte. Ich habe einem, solchen armen
Jungen hierbei das Auge ordentlich vor Freude leuchten sehen , wenn er
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Noctes scholasticae. ,501
so etwas begriffen hatte. Wozu nun diese Quälerei mit all jenen Regeln ?
Man sage doch dem Knaben : i n v i d e o = misgönnen ; i u v o = unter-
stützen; sequor = zu erreichen suchen, erstreben, zumal da sequor
sapientiam doch nicht heiszt folgen; aequo = erreichen; utor
= sich helfen mit einer Sache; opus est lihris,= das Werk ist,
kommt zu Stande durch Bücher, oder opus sunt libri = die ßücher
sind das Werk; poenitet me rei = mich ergreift Reue über eine
Sache oder von einer Sache her, je nach der Ansicht, die man von dem
Casus hat; refert patris = res patris fert, wenn das auch nicht rich-
tig sein sollte. Die Lehre von den Temporibus und Modis liegt der den-
kenden Betrachtung schon näher, läszt sich ohne sie kaum zum Bewusl-
sein bringen; doch ist auch in sie noch viel mehr Rationelles hineinzu-
legen möglich. Die Synonymik hat Doederlein für alle Zeiten auf
den Boden verpflanzt, auf den sie hingehört, auf den des Etymologischen.
Je mehr sie sich dessen erinnert, desto mehr wird sie in das Verständnis
des Schülers eindringen , desto mehr aufhören , für ihn ein äuszerliches
Wissen zu sein. So viel steht wenigstens fest, dasz durch dies Verste-
hen das Wissen erst rechten Halt, innere Gediegenheit und Dauer em-
pfangt, dasz es aber bei vielen Naturen das einzige .Mittel ist, um sie
überhaupt zum Wissen heranzubringen. Namentlich bei langsamen und
trägen Naturen, bei einer überwiegend aus schwachen Schülern bestehen-
den Ciasse ist dieser Gang der notwendige ; er ist langsam aber sicher ;
es ist so nicht viel, aber doch etwas zu erreichen, und dies Etwas ist
von groszer Wichtigkeit, wenn es in sich einschlieszt , dasz dadurch eine
dauernde Richtung auf das Denken mitgeteilt sei.
Das Verstehen ist in allen Gebieten des Erkennens dem Streben nach
das gleiche, nämlich das Finden der Vernunft in dem Vorgestellten, der
Form nach dagegen ein verschiedenes , durch die Natur der vorgestellten
Objecte bedingtes und modificiertes. Dies zu verfolgen müssen wir un-
sern Lesern überlassen.
Es ist jedoch auch dies noch nicht ausreichend, um uns das Bild des
denkenden Unterrichts zu vollenden. Denn in allem eben Erwähnten bleibt
die Vorstellung doch wesentlich innerhalb des Vorgestellten stehen, und
das Höchste, was sie erreicht, ist das, dasz sie sich in das Object ver-
tiefe und von der Erscheinung bis zu den letzten Gründen derselben liin-
absteige. Aber das Object bleibt hierbei dem vorstellenden Subject als
ein fremdes und äuszerliches gegenüberstehen und läszt dieses in seinem
Innern unbewegt , auszer dasz aus dem Bewustsein eines neu errungenen
Wissens oder Könnens oder überwundener Hindernisse, gewonnener Kraft
ein Gefühl der Lust und insofern auch eine Freude an dem Objecte her-
vorgeht. Aber die Freude und das Interesse an der Sache selbt ist damit
nicht gewonnen. Damit das Letztere geschehe, musz das Vorstellen sich
über die Sache und über die Gesamtheit aller jener Objecte in die Sphäre
der Idee erheben und diese letztere nicht blosz als das Ziel aller jener
geistigen Bewegungen und Strebungen erkennen, sondern auch zu dem
Masze und Kriterium derselben machen. Wie diese Ideen des Schönen,
des Wahren, des Sittlichen und die diese alle umfassende und einigende
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502 Noctes scholasticae.
Idee Gottes psychologisch entstehen , sich bilden und vollenden — denn
angeboren sind sie dem Menschen nicht , so dasz sie der Mensch von Na-
tur besäsze — können wir hier nicht zu erörtern versuchen; unsere
Aufgabe ist nur, dasz diese Ideen auch Tür den Unterricht, um diesen zu
einem denkenden werden zu lassen, verwendet und verwerthet werden
müssen, zu erinnern. Denn ohne sie tappt alles Lernen schlieszlich doch
wie im Dunkeln und bildet die Seele nicht wahrhaft, nicht harmonisch.
Wozu all das Lernen? fragt der Knabe und Jungling mit Recht verdros-
sen, wenn ihm nicht die Idee der Wahrheit in der Ferne gezeigt wird als
eine solche , in welcher alles Lernen und Wissensstreben seine Einheit,
seinen Gentralpunkt habe? So ist es mit aller Kunst ohne die Idee des
Schönen , so mit det Geschichte ohne die des Sittlichen , so mit Allem,
was der Mensch denkt und strebt ohne einen letzten und höchsten Gen-
tralpunkt, die Idee Gottes. Diese Ideen haben, indem sie sich in das End-
liche und Sichtbare hinabsenken , sich dort verleiblicht , aber auch eben-
sowol dieses Endliche , welches sie durchdrungen haben , vergeistigt und
verklärt ; sie hier wiederzuerkennen und von da zur Uridee hinaufzustei-
gen und diese Verbindung ununterbrochen offen zu erhalten, ist des
Menschen würdig und endlich doch die letzte Aufgabe des Unterrichts,
des Lehrers.
Aber hierzu kann und musz frühzeitig der Anfang gemacht werden.
Der Knabe sieht nicht von selber das Schöne in der Blume, das Edle in
einer Handlung; das Natürliche ist ihm, die Blume zu zerreiszen, den Kä-
fer zu zertreten , den Hund zu quälen , das Nest auszunehmen usw. In
dieser natürlichen Rohheit verbleibt er, wenn nicht Umgang, Erziehung,
Unterricht ihn derselben entreiszen. Was nun das Schöne anbetrifft,
so ist es zunächst die Naturschönheit, an welcher dem Knaben der Sinn
für dasselbe aufgehen musz d. h. nicht blosz in Ausdrücken der Bewun-
derung und des Entzückens, sondern in Belehrung über die Elemente, de-
ren Vereinigung das Schöne zum Schönen macht, über das Verhält-
nis der Teile untereinander und zum Ganzen , über die Mischung der Far-
ben usw. Eben so sollte dem Knaben sehr früh der Sternenhimmel als
ein Bild der Ordnung bekannt werden. Ich habe es nie unterlassen mei-
nen Kindern frühzeitig dies zu geben , einheimisch zu werden am Ster-
nenhimmel und hier zuerst den Eindruck des Erhabenen zu empfinden.
Es ist sehr zu bedauern, dasz man die Wichtigkeit und Bedeutung dieser
Disciplinen für die Bildung des Knabenalters so wenig zu schätzen weisz.
Eben so ist es mit dem Ethischen. Was hilft doch alle Geschichte auf
der Schule, wenn nicht der Sinn für das sittliche und das ethische Urteil
dadurch gebildet wird? Und doch wie wenig geschieht das? Tausendmal
frage ich die Schüler : möchtest du lieber Demosthenes oder Philipp ge-
wesen sein? lieber mit Brutus oder mit den Triumvirn gestanden haben?
und ich finde sie ohne ein sittliches Bewustsein , ohne eine sittliche Ent-
scheidung. Dann beklage ich schwer , dasz dem Jahre der Frühling ge-
nommen sei. Auch hier musz ich es als ein groszes Unrecht betrachten,
welches der Jugend angethan wird, dies, dasz die Geschichte so spät erst
zum Object des Unterricht wird. Eine Hauptquelle für ethische Bildung
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Migault: Versuch einer engl. Schulgramraatik. 503
bleibt ihr zu lange verschlossen. Eben so ist die Lust am Erkennen früh-
zeitig zu beleben. Auch das Wahre weckt, wie das Schöne und Sittliche,
in der Seele Freude , obwol hierfür die Empfänglichkeit erst später er-
wacht. Doch ist das peinigende Gefühl, welches der Schüler beim Nicht-
vel'stehen empfindet, und welches sich selbst in seiner Miene und seiner
ganzen Haltung ausprägt, und die Freude, welche auf jenes Gefühl beim
endlich erlangten Verstehen folgt, immerhin schon frühzeitig zu benutzen,
um den Schüler ahnen zu lassen , dasz das Wahre überhaupt ein Bedürf-
nis für ihn sei. Von dem vielen Schönen, Edlen und Wahren erhebt sich
dann das Denken, indem es einerseits festhält, dasz das Wahre, Schöne
und Gute für den Menschen da sei, und andrerseits erkennt, wie vergäng-
lich das Schöne , wie dunkel und beschränkt sein Wissen , wie schwach
sein Streben nach dem Guten sei, und wie viel des Unschönen,. der Täu-
schung, der Sünde in der Welt sei, zu jener Sphäre der Idee, in der das
zu finden sei, was man hier vergeblich suetie, und in welcher man einst
alle Sehnsucht seines Herzens werde befriedigen können.
Diese Erörterungen haben mich zu lange aufgehalten, als dasz ich
noch mit der Darlegung die geneigten und geduldigen Leser ermüden
durfte, dasz auch all dies durch Denken vermittelte Erkennen schlieszlich
doch wieder, um für das Leben nutzbar zu werden, zum mechanischen
Besitz werden müsse. Ohne diese Geläufigkeit, so will ich dieses
zweite mechanische Wissen und Können nennen, z. B. in der Leetüre ei-
nes Autors, im. Verfertigen eines lateinischen oder deutscheu Aufsatzes,
in der Lösung einer mathematischen Aufgabe, in der Verbindung histori-
scher Dinge hat der Unterricht doch seinen letzten Zweck verfehlt.
* **
87.
Versuch einer englischen Schulgrammatik auf historisch-kritischer
Grundlage von Dr. Henry Gabriel Migault Erste Ab-
theilung : die Formenlehre. Nürnberg, Zeiser.
Ein eigentümliches Werk! Wer nur einige Seiten darin gelesen hat,
wird den ausländischen Verfasser sofort erkennen. Das ist nicht die Art
wie wir deutsche Grammatik schreiben — das Grammatikfabricieren,
dessen Blütezeit hoffentlich vorüber ist, einmal ganz bei Seite gelassen.
So würde in Deutschland höchstens ein Docent an der Universität Gram-
matik vortragen können, er müste freilich in vielen Dingen etwas mehr
wissen als der Herr Dr. Migault , obgleich dieser dafür manches Andere
lehren kann, was der gelehrte deutsche Professor, vorausgesetzt dasz er
nicht ein halber oder ganzer Engländer geworden ist, aus Büchern nicht
hat lernen können.
Wir sind nicht recht klar geworden , welche Glasse von Grammatik
wir hier vor uns haben. Es ist ein , wie der Verf. selbst sagt , so durch-
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504 Migault: Versuch einer eng]. Schulgrammatik.
aus e eigenartiges' Werk, 'nach Anlage und Ausführung selbständig9, dasz
es in unsere herkömmlichen Kategorien nicht passt. Wir möchten es am
liebsten als einen Versuch bezeichnen, die Wissenschaft unter einem
populären Gewände dem Leser vorzuführen, obgleich auch in dieser Be-
ziehung wiederum an beiden etwas fehlt und es doch ein gar zu kühnes
Unternehmen wäre, Grammatik zu popularisieren. Wir kommen dem
Sachverhalt vielleicht näher, wenn wir sagen, der Verf. habe, das utile
cum dulei miscens, sich bestrebt, den trocknen grammatischen Stoff durch
allerlei eingestreute Bemerkungen (passende und unpassende) anziehender
und genieszbarer zu machen. Und das ist ihm , allerdings nur teilweise
gelungen.
Eine Schul -Grammatik liegt nicht vor. Welcher Lehrer wagte es
in seiner Schule ein Lesebuch zu gebrauchen, das auf 200 Octavseiten
weiter nichts abhandelt >als die Formenlehre! Regeln sind genug darin,
die auch durch vereinzelte Beispiele erläutert werden, wie sie aber prak-
tisch verwerthet werden sollen , ist unerklärlich. Der Verf. verweist in
der Vorrede auf S. 179 seines Werkes , wo er seltsam genug bei Gelegen-
heit des substantivischen Particips sich über diesen Punkt des weiteren
ausspricht — andere Autoren setzen so etwas in die Vorrede. Dort wird
nun als Ziel angegeben , dasz cder Lernende in den Stand gesetzt werden
soll, aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen, auf ein sogar (sie!)
schwieriges Englisches (der Verf. schreibt durchweg nach englischer Weise
die Adjectiven von Ländernamen grosz — ) Buch sich selbständig zu prä-
parieren.' Den umgekehrten Process verwirft der Verf. gänzlich :
1) 5Fürs Griechische und Lateinische , selbst fürs Französische , sind
derartige Uebungen (Uebersetzen aus dem Deutschen) notwendig, wenig-
stens rathsam , wegen der schwierigen Formen , und weil diese Sprachen
schon im frühen Alter erlernt werden; die Formenlehre des Englischen
aber ist eine so überaus einfache und leichte ( — wozu dann aber 200
Seiten!! — ), dasz, wenn dieselbe nur klar hingestellt und genau defi-
niert (sie!) worden ist, der Schüler sie ohne Schwierigkeit begreift und
behält (?). Folglich (?) kann er sie auch anwenden , ohne sie in wahrhaft
kindischer Weise und mit groszer Verschwendung von Zeit , Papier und
Dinte mittelst hundert und aber hundert Uebungen erst noch mechanisch
einexerciert zu haben.'
Derselbe Grund, der für die anderen Sprachen gilt, ist für das Eng-
lische durchaus eben so gültig , nur nicht in derselben äuszerlichen Aus-
dehnung. Es ist eine alte Erfahrung, dasz Schüler, welche die Formen
nicht schriftlich eingeübt haben , fast ohne Ausnahme nicht zur gehörigen
Sicherheit in ihrer Anwendung gelangen. Man sieht aber auch auf den
ersten Blick, dasz der geehrte Herr Verf. den Schul -Unterricht nicht
recht kennt, sondern seine Ansicht auf Erfahrungen aus Privat-Unterricht,
der es mit gereifteren Schülern zu thun hat, gegründet hat. Für Kinder,
sagt er, habe er seine Grammatik nicht berechnet — wir Schulmänner
haben es aber mit Kindern, denn 13-— 14jährige Knaben sind Kinder, zu
thun, folglich — können wir eine solche Grammatik wie die vorliegende
nicht verwenden.
Digitized by VjOOQlC
Migault: Versuch einer engl. Schulgramraatik. 505
2) 'Deshalb sind meines Erachtens die einzigen Uebungen zum Ueber-
setzen aus dem Deutschen ins Englische, die für gereiftere junge Leute
nötig oder wünschenswerth sind, solche, welchen Logisches (?) oder
Idiomatisches zum Thema dient, solche mithin (sie!), welche eine Bekannt-
schaft mit der Syntax voraussetzen und um die Syntax sich drehen. Die
Uebungen können dann gröszere Dimensionen annehmen usw. — statt dasz
die Klimperei ad infinitum mit Variationen über z. B. 'der Sohn des Vaters9,
cich liebe ihn5, 'die Bäume sind hoch* usw. , denen , die nur einige Gei-
stesreife und Bildung besitzen, sehr Jtald recht langweilig und sogar lä-
cherlich vorkommen müssen.'
Ganz recht! Aber der Verf. scheint nicht zu bedenken, dasz man
heutigen Tages an eine Schul -Grammatik andere Anforderungen stellt,
dasz nur eine solche Anspruch auf mehr als ephemere Bedeutung erheben
kann , die in geeigneter Weise den Lernenden sofort in die Syntax ein-
führt. Er gesteht ja selbst, dasz ihm nur wenige Grammatiken zu Ge-
sicht gekommen seien. Indes, er nennt mit Becht derartige Uebungen
Klimpereien, langweilig und lächerlich, wie sie sich leider noch in Gram-
matiken neuesten Datums finden , z. B. in der von Zimmermann , wo in
wahrhaft geisttödtender Weise der Schüler fast 2 Jahre lang mit Varia-
tionen ähnlicher langweiligen und lächerlichen Sätze geplagt wird. Allein
der Verf. schüttet das Kind mit dem Bade aus. Denn aus dem Misbrauch,
der mit dem Uebersetzen aus dem Deutschen ins Englische getrieben wird,
der leider nicht minder bei dem Unterrichte in anderen Sprachen zu finden
ist, die alten nicht ausgenommen, folgt nur, dasz man selbst es besser
machen soll. Das Uebertragen aus der Muttersprache in eine fremde ist
und bleibt unentbehrlich, wenn jemand eine Sprache wirklich lernen
will , wenn er mehr können will als einen Schriftsteller lesen oder ver-
stehen.
Und so durchaus verdammenswerth scheinen uns Sätze wie die oben
angeführten auch nicht zu sein. Nicht nur lassen sich Variationen der-
selben anbringen, die für ein jugendliches Gemüt ansprechend sind, die
dem Knaben trotz, oder vielleicht wegen ihrer Einfachheit besser gefallen
als manche andere tiefen Inhalts seiende oder sein sollende, sondern auch
in ihrer einfachsten Form besitzen sie einen pädagogischen Werth , der
nicht verkannt werden darf. Es macht dem Schüler, der eine Sprache er-
lernt, keine gröszere Freude als wenn er, nachdem kaum das Alphabet
absolviert worden , einen Satz in der neuen Sprache bilden kann , und es
hiesze ihm die Lust und Liebe zur Sache unnötig erschweren, wollte man
ihn entweder, wie unser Verf. meint, gar keine Sätze bilden lassen, oder
diese selbst durch Ausdehnung, die man ihnen nach innen und nach
auszen giebt> schwieriger zu handhaben machen. Es sind die einfachen
Sätze eben so naturgemäsz , als es unverständig sein würde , einem klei-
nen Kinde complicierte Spielsachen in die Hand zu geben. Doch bitten
wir die Sache cum grano salis zu verstehen. Dehnen sich solche einfache
Uebungen über ihr natürliches Gebiet aus, nemlich über die Anfangs-
gründe, so werden sie absolut schädlich, nicht blosz langweilig und
lächerlich, weil sie das Bessere zurückhalten ; sie dürfen nur zur Einübung
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506 Migault: Versuch einer engl. Schulgrammatik.
der Formen dienen und der Lehrer musz sie überschlagen , wenn er die-
sen Zweck gesichert glaubt. Wir meinen daher, dasz das Fehlen von
Uebersetzungsstoff aus der Muttersprache ein entschiedener Mangel jeder
Grammatik ist, die eine Schulgrammatik sein will.
Das dritte Argument des Verf., dasz der Schüler später mit um so
gröszerer Leichtigkeit und Sicherheit, wie auch mit unendlich gröszerer
Lust und Liebe das Uebersetzen betreiben werde, bedarf nach dem Ge-
sagten keiner weiteren Bemerkung. Für uns bleibt also als Resultat: mit
einer Schulgrammatik haben wir es uicht zu thun, und es wäre zu wün-
schen gewesen , es stände einfach 'Grammatik' da.
Wie sieht es nun aber mit der historisch-kritischen Grundlage aus?
Wir bedauern, dasz der Verf. diese Worte hat auf den Titel mit-
drucken lassen, denn um es kurz zu sagen: die historisch-kritische Grund-
lage könnte nur dem genügen, der von den Fortschritten, die die wissen-
schaftliche Grammatik in den letzten Decennien gemacht hat, unberührt
geblieben ist.
Was meint man z. B. zu der Erklärung, welche der Verf. S. 68 von
der anomalen Gomparation von gut, schlecht usw. giebt? Er sagt: *man
brachte geflissentlich (!) verschiedenartige Wurzelwörter in Eine Rubrik,
um bei so häufig vorkommenden adjeetivischen Bezeichnungen, wie die
in Frage stehenden ohne Zweifel sein musten, einer gewissen Einförmig-
keit des Tones (!) überhoben zu sein.' ! ! — S. 58 wird das Neutrum als
ein späteres Erzeugnis der Grammatik dargestellt, und zwar (!) ein Er-
zeugnis 'der gesellschaftlichen Gonvenienz, des todten Me-
chanismus, der nacktesten Prosa.' Denn 'Geschlechtsverneinung
ist kein Element in der Naturpoesie (!) einer Sprache , hat absolut nichts
zu schaffen mit jenem seelenvollen Mysticismus, wenn ich mich so aus-
drücken darf, der da erkennt (?) und empfindet, dasz alle Dinge in einem
gewissen Sinne Positivität (!) und Sexualität besitzen, sofern als durch
wechselseitige (sie!) Anziehung und Wirksamkeit Alles und Jedes, ob
Aeuszerliches oder Innerliches, erzeugt und erhalten wird.' Wir möch-
ten doch sehr bezweifeln, dasz derartige Herzensergieszungen in eine
historisch-kritische Grammatik gehören , und dann den Verf. fragen , für
was für f Schüler' er sie geeignet hält. — S. 75 heiszt es: *Da — das
Neuhochdeutsche ohne Weiteres (!) aus den comparativischen Formen
regelmaszig die Superlativformen gebildet hat, statt die letzteren, wie
sonst Sitte ist (!), aus Positivformen zu entwickeln, sokann man sich
nicht sonderlich darüber wundern, dasz die Engländer
ihrerseits auch sehr willkührlich verfahren sind usw. —
obgleich zu wünschen gewesen wäre, dasz sie sich mit Einer
Superlativform immer begnügt hätten (!). Hatten sie sich aber nun ein-
mal an dergleichen Bildungen gewöhnt (!) , so kann man sich auch kaum
darüber wundern, wenn sie ein paar andere Superlative nach derselben
Schablone (!) fabricierten (!!), und zwar aus Substantiven heraus.' —
Welch* naive Vorstellung von der Bildung der Wörter und Wortfonnen
ist doch in diesen wenigen Zeilen enthalten ! Zu der Höhe der Anschauung,
dasz die Sprache etwas Gewordenes, nach festen Gesetzen sich Ent-
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Migault: Versuch einer engl. Schulgrammatik. 507
wickelndes ist , kann der Verf. sich nirgends erheben , ihm ist sie etwas
Gemachtes , Fabriciertes !
Dasz im Englischen nicht wie im Deutschen das reflexive Pronomen
mit dem reciproken zusammenfällt, wird S. 97 als ein Beweis *von dem
gesunden Verstände und Geschmacke' der Engländer angeführt. Dafür
wird S. 118 der Mangel einer besonderen Conjunctivform im Englischen
als ein chöchst linkisches Verfahren' bezeichnet ! Gleich darauf figurieren
Aussprache und Rechtschreibung als *blosze Erschwernisse'! —
Es giebt im Englischen eine ziemlich zahlreiche Glasse von scheinbar star-
ken Verben, besonders solchen, welche meist schon im Angelsächsischen
ihr Imperfect und Particip durch Contraction bilden — diese nennt der
Verf. zwitterhaft unregelmäszige. (Nebenbei bemerkt, bringt er
nur solche in diese Glasse, welche auf d oder t ausgehen.) Er will nicht,
wie andere englische Grammatiker, fdem gelehrten Schein zu Liebe', die
Ausdrücke estark und schwach' adoptieren. *Regelmäszig' ist ihm nach
allen Proben offenbar nur das, was mit den heutzutage geltenden Re-
geln übereinstimmt, alles Andere ist unregelmäszig, anomal oder zwitter-
haft. Wo bleibt bei einer solchen Anschauung die historisch-kritische
Grundlage?
Noch einige Beispiele ! To do ist ein in eminentem Sinne unregel-
mäsziges Verb, es bildet Imp. did, Part. done. Anstatt nun, wie der Verf.
es bei manchen andern, selbst wo es ganz überflüssig erscheint, macht,
auf das Angelsächsische zurückzugehen , welches dd , dide , gedön zeigt,
meint er , did scheine fast (!) aus do-ed , also einer ursprünglich (! !) re-
gelmäszigen Form erwachsen zu sein, und done stehe vermutlich für
do-en! Ob das letztere auch eine ursprünglich regelmäszige Form
sein soll , erfahren wir nicht. — Dasz das Imperfect von make die Form
made hat (es ist eine Gontraction von macode, dem Imp. des schwachen
agl. Verbs maejan) ist ihm unbegreiflich. *Mir ist zwar die Behauptung
vorgekommen, made sei aus maked erweicht worden (!), dann aber
müste man ja maded sagen (!!!), und überdies (!) ist maked durchaus nicht
härter (!) als baked , slaked. Solcherlei Erklärungsversuche erklären we-
niger als gar nichts.' — Was soll man dazu sagen?!
In der Vorrede heiszt es : — rohne jedoch bei den etymologischen
Untersuchungen und Vergleichungen solche Erörterungen zu berücksich-
tigen, die auf pure Spitzfindigkeiten und Spielereien hinauslaufen, welche
dem nüchternen Gedanken keinen Halt gewähren , nicht einmal der Phan-
tasie ein erquickliches Bild geben und für rein praktische Zwecke durch-
aus unfruchtbar sind.' Der Verf. hat ganz recht , wenn er überall histo-
rische Gründe und logische Principien aufgefunden und nachgewiesen
haben will, aber er sollte dafür auch desto strenger gegen sich selbst
sein und nicht selbst in die gerügten Fehler verfallen. So leitet er z. B.
summons die gerichtliche Vorladung, nicht vom franz. la semonse (von
semondre = submonere) ab, sondern von einem fabelhaften fsummoneas
= du sollst fordern , mit welchem Worte vermutlich das Englische Cila-
tionsgesetz beginnt'! — Das Wort groom in bridegroom, vgl. brydguma
i. e. Mann der Braut, ist nach ihm dem Persischen (!) entlehnt, *in
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508 Migault : Versuch einer engl. Schulgrammatik.
welchem ein ahnliches Wort einen Pferdeknecht bedeutet, das unter
dem pferdeliebenden und pferdezüchtenden Englischen Volke sehr populär
wurde — so kam der einem Frauenzimmer verlobte Mann, sprachlich
wenigstens, zu der sehr unerquicklichen Ehre, einem Stall-
knecht gleichgestellt zu werden'!! Dasz noch jetzt im Hollän-
dischen grom einen Jüngling bedeutet, der einerseits als Krieger, Lie-
bender aufgefaszt wird, andrerseits wie lat. puer und franz. garcon in
*dinner' übergeht, dasz altfranz. gromme = serviteur, voiturier ist, dasz
auf diese Weise das agl. guma initgrom, groom zusammenfallen konnte,
wird übersehen.
Wir wollen mit ein paar ergötzlichen Proben von des Verf. etymo-
logischen Erklärungen dies Capitel schlieszen. Woman, agl. vifman i. e.
Weibmensch , soll aus womb-man entstanden sein , NB. womb ist die Ge-
bärmutter, der Mutterleib ! ! Wenn die keuschen blauäugigen, blondlocki-
gen, seidenwimperigen (sit venia verbo!) Engländerinnen wüsten, wie ihr
Landsmann im barbarischen Deutschland ihren Geschlechtsnamen erklärte !
Shockingü Nachbarin, Euer Fläschchen! — An einer anderen Stelle wird
filly, deutsch dem Ursprung nach, wie kaum ein anderes Wort, nemlich
Füllen, von dem franz. fille, das Mädchen abgeleitet ! ! Beim Lesen solcher
Etymologieen (welche allerdings dem nüchternen Gedanken einen Halt
gewähren , auch der Phantasie ein erquickliches Bild geben !) fällt uns
jener berühmte englische Etymologe ein , der alles Ernstes pancake =
Pfannkuchen aus dem griechischen ttov kgckov ableitete, weil Pfann-
kuchen in einer Zeit verschmaust werden, in der f alles böse9 ist, in
der Fastenzeit nemlich , da man Busze thut für seine Sünden.
Es freut uns, dasz wir mit dem bisher Gesagten unser Referat nicht
schlieszen dürfen. Ist auch die vorliegende Grammatik keine Schulgram-
matik , man müste denn Schule im weitesten Sinne des Wortes fassen , als
einen Ort oder eine Gelegenheit etwas zu lernen, und musz auch der
Anspruch, welchen der Verf. auf eine historisch - kritische ßehandlungs-
weise seines Stoffes erhebt, mit aller Entschiedenheit als unberechtigt
zurückgewiesen werden, so enthält doch das Buch eine Fülle höchst
schätzenswerthen Stoffes, der in einer von einem Deutschen geschriebe-
nen Grammatik nicht zu finden ist. Und das ist der Hauptwerth des Wer-
kes. Was ein Deutscher von der Formenlehre der englischen Sprache zu
lernen hat, findet er in jeder leidlichen Grammatik einfacher und zweck-
mäsziger, er wird bei dem Memorieren derselben — und viel ist es nicht
— nicht durch weitschweifige Einleitungen und überflüssige Auseinander-
setzungen gestört. — Was er hier auf 200 Seiten durcharbeiten musz,
kann er anderswo auf 20 Seiten lernen. Aber das Werk des Herrn Dr.
Migault ist jedem Lehrer zu empfehlen. W olver standen , nicht dem an-
gehenden Lehrer, der die Sprache erst ordentlich lernen will, sondern
dem, der durch Sprachstudien, durch hinreichende Kenntnis vom Angel-
sächsischen und Altenglischen gegen unwissenschaftliche Darstellungs-
weisen und gegen falsche Etymologieen gesattelt ist. Für einen solchen
enthält unser Buch des Guten viel, das er freilich zusammensuchen
musz, wofür er aber dem Verf. dankbar sein wird. Insofern treffen wir
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Migault: Versuch einer engl. Schulgrammatik. 509
auch mit dem Verf. zusammen, wenn er in der Vorrede sein Buch *phi-
lologisch gebildeten Lehrenden' empfiehlt; wenn er aber hinzufügt, es
werde auch 'geistig-gereiften Lernenden* nicht unwillkommen sein, so
würden wir es aus Vorsicht einem solchen nicht in die Hand geben. Neben
dem vielen Guten läuft so manches mit unter, was, wenn auch nicht ge-
radezu unrichtig, doch schief dargestellt oder nur halb richtig ist, so
dasz für uns der Spruch: Verlernen ist schwerer als Lernen* maszgebend
ist. Dagegen wird der praktische Lehrer das Werk mit Interesse durch-
lesen und manches Neue und Wissenswerthe darin finden.
So verdient z. B. gleich die Einleitung , die von der Aussprache han-
delt , eine eingehende Beachtung , obgleich sie von Ungenauigkeiten nicht
frei ist, z. B. dasz das lange a wie äh lautet, statt wie eh mit einem An-
klänge von i ; dasz mare wie mähr zu sprechen ist , statt beinahe zwei-
silbig, mit erweichendem r; dasz das lange u nach 1 den Laut uh an-
nimmt, wenn es auch nicht ganz wie juh klingt; dasz die Endungen ble,
die usw., wie bell, dell lauten. Was der Verf. aber sonst über die dem
Engländer eigentümliche Aussprache einzelner Buchstaben vorbringt , wie
des th, r, ist sehr beherzigenswerth.
Es würde uns zu weit führen, wenn wir im Einzelnen auf die
Punkte aufmerksam machen wollten, welche dem Studium unserer Lands-
leute zu empfehlen sind. Der Verf. hat jedenfalls mit groszer Aufmerk-
samkeit und mit einem für einen Ausländer seltenen Verständnis die Eigen-
tümlichkeiten des Deutschen verfolgt und begriffen, und ist so berechtigt
uns Deutsche auf manches zu verweisen , was uns vielleicht unwesentlich
erscheint, oder woran wir nicht einmal denken, was aber doch ein eigen-
tümliches Licht auf die englische Sprache wirft. Von besonderem Nutzen
für den deutschen Lehrer sind eine Fülle von Winken über den Gebrauch
einzelner Wörter und Redensarten, die in keinem Lexicon und in keiner
Grammatik zu finden sind, die aber dem sehr erwünscht sein müssen, der
nicht durch längeren Aufenthalt in England oder durch Verkehr mit Eng-
ländern Gelegenheit gehabt hat, sich darüber zu orientieren.
Wir sehen mit einiger Spannung dem Erscheinen des zweiten syn-
taktischen Teiles entgegen. Hier noch mehr als in der Formenlehre wird
sich zeigen, in wie weit der Verf., der mit ziemlicher Gewandtheit
deutsch schreibt, seinem Gegenstande gewachsen ist. Das syntaktische
Gebiet der englischen Sprache ist dasjenige, auf welchem noch manche
Lorbeeren zu verdienen sind. Schlieszlich möchten wir den Verf. bitten,
eipfacher zu schreiben , damit sich das Gepräge an den Perioden , welches
den Engländer verrät, mehr verliere, und damit der philosophische An-
strich verschwinde, der bei grammatischen Studien, und zwar mit Recht,
in entschiedenen Miscredit gerathen ist.
P. Dr. R.
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510 Klaiber: evangelische Volksbibliothek.
88.
Evangelische Volksbibliothek, herausgegeben ton Dr. Klaiber,
Garnisonsprediger in Ludwigsburg. Erster Band. Enthal-
tend Luther, Zwingli, Melanchthon, Calvin. Stattgart, Becher
1862.
Der Unterricht in der Religion ist eines der schwersten , wo nicht
das schwerste der Gymnasialfächer; Erziehung zur Religion, sei es in der
Familie, sei es in der Schule, musz aber jedenfalls als das schwerste, wie
als das höchste Stück der Erziehung gelten. Das macht: Religion ist keine
Fertigkeit, deren Mitteilung wenig Geist und Leben, nur Ausdauer und
eigene Fertigkeit erfordert, Religion ist keine Kenntnis noch Wissenschaft,
die sich lehren läszt , wo Geist und Verstand bei Lehrern und Lernenden
vorhanden ist, Selbstdurchdachtes, nicht aber Selbsterlebtes, in rechter
Weise geboten wird; nein, Religion ist Leben und Kraft, und dies läszt
sich mitteilen nur von dem, in dem sie selbst in lebenskräftiger Weise
Saft und Blut, Person und Gestalt gewonnen hat. Am besten bestellt ist
darum diese Erziehung da , wo eine ausgeprägte religiöse Persönlichkeit
ohne viele Worte durch bloszes Dasein, durch stilles und offenes Wirken,
ihr leuchtendes und wärmendes Licht walten läszt. Der einzelne Erzieher
wird aber, und zwar, je frömmer er ist, desto lebhafter fühlen und ge-
stehen müssen, dasz er hierzu fremder Beihülfe, mächtiger Bundesgenos-
sen bedarf, solcher Persönlichkeiten nemlich, in denen frommes Leben
und Kraft des Glaubens möglichst ungetrübt sich offenbart. Natürlich
steht hier als erster Bundesgenosse, vielmehr als der vorderste Führer
und Herzog für beide Teile, für die Erziehenden wie für Zöglinge, der
Erlöser selbst da und nächst ihm die Apostel und Propheten des alten und
neuen Bundes. Aber auch Andere, in denen die Kraft des göttlichen Gei-
stes in gesunder evangelischer Frömmigkeit sich bekundet und bewährt
hat, können und sollen als Mithelfer und Mitarbeiter beigezogen werden.
Insbesondere wenn es sich um Weckung der Liebe zur eigenen Kirche,
um Nährung der Treue gegen das Bekenntnis, dem man angehört, handelt
— und der Kundige weisz , dasz auch dies nicht entbehrt werden kann,
weun man wirklich zu eifriger und thätiger Frömmigkeit erziehen will—;
da darf es nicht fehlen an Bekanntschaft mit den für die innere Entwicke-
lung der Kirche bedeutendsteh Männern, mit den Helden des Glaubens, die
durch Wort und That und Schrift Gründer und Bildner dieser Kirche ge-
worden sind. Und zwar musz dieselben vornweg der Erzieher und Leh-
rer kennen und an ihrem Leben sein Leben entzündet und genährt haben,
wenn er irgend für seine Kirche , deren Glauben , Bekenntnis und Lehen,
erwärmen und begeistern will ; denn das gelingt am Allerwenigsten mit-
telst bloszer doctrinärer und dogmatischer Erörterung. Aber auch der
Zögling sollte, wo es möglich ist, nicht allein durch Vermittlung des
Lehrers in Unterricht und Gesprächen, sondern daneben auch unmittelbar
mit den Heroen seiner Kirche, ihrem Leben und ihren Schriften bekannt
werden.
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Klaiber: evangelische Volksbibliothek. 511
Diesem Bedürfnisse von Schule und Haus hat unsere neuere theolo-
gische Litteratur vielfach zu entsprechen gesucht. Wir haben nicht we-
nige treffliche Werke über die ersten Männer der beiden Kirchen, welche
durch die Reformation ins Leben gerufen worden sind, so wie auch über
die Zierden derselben aus den nachfolgenden Jahrhunderten. Neben um-
fassenden Quellenschriften von entschieden wissenschaftlichem Gehalt wur-
den populäre Biographieen in dieser Richtung veröffentlicht, so nament-
lich in der von Tholuck herausgegebenen Sonntagsbibliothek , die bis in
die neuesten Zeiten hereinreicht und z. B. jetzt auch das Leben von G. H.
Schubert in einem mäszigen Bändchen bietet. Als zwischen beiden Arten
von Schriften dieser Art in der Mitte stehend, und dem, was in der frag-
lichen Beziehung für Gymnasiallehrer und -tchüler nächstes Bedürfnis,
zugleich aber auch den verfügbaren Mitteln an -Zeit und Geld angemessen
ist, ganz besonders entsprechend erscheint mir das in der Aufschrift ge-
nannte Sammelwerk. Es mag zum Beweis des Gesagten genügen, wenn
hier in Kurzem darauf hingewiesen wird, was mit demselben beabsichtigt
ist und was die verschiedenen Mitarbeiter bis jetzt geleistet haben. Der
einzelne Leser mag darnach dann selbst bemessen , in wie weit er wün-
schen musz , sich selbst mit dem Werke bekannt zu machen und es na-
mentlich zum Frommen von Lehrenden und Lernenden seiner Schulbiblio-
thek einverleibt zu sehen.
Beabsichtigt ist , unter dem oben genannten , freilich etwas zu wei-
ten Titel , das für alle Zeiten Werthvollste und Wirksamste aus der reli-
giösen Litteratur der älteren Zeit der evangelischen Kirche in Auswahl
zusammenzustellen und einem ausgedehnten Leserkreise zugänglich zu
inachen. In fünf Bänden, von ca. 40—50 Lieferungen ä 18 Kr. (5 Sgr.),
somit zu einem äuszerst billigen Preise , soll caus den Schriften der Vor-
fechter des Reiches Gottes in der evangelischen Kirche das bleibend
Werthvollste ausgewählt, und teils durch kurze Biographieen dieser Glas-
siker unserer Kirche teils durch geschichtliche Anmerkungen zu leben-
digem Verständnis gebracht werden. Neben der Erbauung will man ins-
besondere auch Belehrung über wichtige Gegenstände der christlichen
Glaubens- und Sittenlehre aus zuverlässigem Munde geben. Man hofft,
manchem denkenden Laien, mancher Familie, welche ernste und gehalt-
reiche Leetüre liebt, einen bleibenden Schatz zu religiösem Selbstunter-
richt darzubieten, auch Schul- und Lehrerbibliothen mit einem werth-
v ollen Material für das Privatstudium, wie für die verschiedenen Zweige
des Religionsunterrichts zu bereichern, und ist überzeugt, dasz aucli prak-
tische Geistliche, denen meistens nur Weniges von dem, was die Samm-
lung aufnehmen wird, im Original oder in gröszeren Gesamtausgaben zu
Gebote steht, diese Gabe willkommen heiszen. So durfte es auch gelin-
gen , in vielen Lesern durch diese Lebensbilder und Schriften der Refor-
matoren und ihrer Nachfolger die Liebe zu diesen Glaubenshelden unserer
Kirche zu erwerben oder zu stärken und durch den Gewinn einer reiche-
ren Erkenntnis ihre Anhänglichkeit an die Kirche selbst zu vermehren.'
Dies der ausgesprochene Zweck dieses Sammelwerks. An demselben
sollen nach dem vorliegenden Plane nicht weniger als sechszehn Mit-
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512 Klaiber: evangelische Volksbibliothek.
arbeiter sich beteiligen, welche insgesamt schon gefunden und genannt
sind. Dieser Punkt ist es , der ganz besonders geeignet war , von Anfang
an eine günstige Meinung für das Unternehmen zu erwecken. Denn es
sind nicht wenige Namen darunter, die teils überhaupt in der schrift-
stellerischen Welt schon bekannt sind, teils, was die Hauptsache ist, mit
der von ihnen übernommenen Aufgabe längst vertraut und als Kenner der
Schriften und Schicksale der Männer, die sie schildern wollen, sich schon
durch gröszere Arbeiten gerade über dieselben Leuchten der Kirche be-
währt haben. So ist Pfarrer Eberle durch seine Studien und Schriften
über Luther, Professor Dr. Sigwart als Quellenforscher und Schrifsteller
über Zwingli, Decan Hartmann als Verfasser eines gröszeren Werkes über
Brenz, Decan Gerock als geistlicher Liederdichter allen Sachkundigen
rühmlich bekannt. Die Namen: Krummacher, Palmer, Ledderhose, HofT-
mann haben gleichfalls in der fraglichen Litteratur einen guten Klang.
Unter diesen Umständen läszt sich erwarten, dasz wir einem Uebelstand,
der bei encyclopädischen Werken so gerne eintritt, dem Mangel an Be-
herschung des Stoffes , in dieser Sammlung nicht begegnen werden.
Dieser Erwartung entspricht nun, wie mir scheint, das, was bisher
geleistet und geboten worden ist, in erfreulicher Weise. Ausgegeben
wurde bis jetzt der erste Band, welcher auf 758 Seiten das je etwa auf
einem Bogen geschilderte Leben und die Auswahl aus den Schriften Lu-
ther's, Melanchthon's, Zwingli's, Galvin's enthält, auch jedesmal ein spre-
chendes Bild des Mannes in Holzschnitt an der Spitze der Lebensbeschrei-
bung trägt ; ferner die erste Hälfte desjenigen Bandes , der die geistliche
Dichtung, nicht blosz die Kirchenlieder, der evangelischen Kirch« von
Luther bis Klops tock in reicher Auswahl enthalten soll und bis jetzt in
acht Lieferungen die Dichter bis unmittelbar nach dem dreiszigjährigen
Kriege gebracht hat ; endlich von dem zweiten Bande in Prosa die fünf
ersten Hefte , welche uns Brenz , Matthesius und J. Arnd vorführen.
Bei der Auswahl der prosaischen Schriften fragt es sich in erster
Linie, ob kein namhafter Mann und Schriftsteller der evangelischen Kirche
aus der betreffenden Periode fehlt und ob die aufgenommenen nach Le-
ben, Charakter und schriftstellerischen Leistungen es wirklich verdienen,
in diesem Ehrentempel zu stehen. Dasz auszer den schon genannten noch
die weiteren in Aussicht gestellten : Scriver, Herberger, Spener, Francke,
Bengel, Tersteegen, H. Müller, V. Andrea, Conrad Rieger, Zinzendorf, als
der Aufnahme würdig gelten müssen, wird nicht in Abrede gestellt wer-
den können. Vielleicht könnte es sich aber im Laufe der Zeit herausstel-
len , dasz man noch den einen und andern Ebenbürtigen und etwa auch
noch Männer der Kunst und Wissenschaft überhaupt , die auf dem Boden
des evangelischen Bekenntnisses stehend Groszes geleistet haben, in einem
Ergänzungsband nachzubringen veranlaszt wäre. Dann würde wenigstens
der weitumfassende Titel des Werks eher gerechtfertigt sein. Die zweite
und wichtigere Frage ist aber , ob man in der gegebenen Auswahl aus
den Schriften der aufgenommenen Männer wirklich die bedeutendsten und
am meisten charakteristischen Werke derselben bekomme. Dies ganz
sicher zu beurteilen, geht über die Kräfte des. Berichterstatters, und es
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Klaiber: evangelische Volksbibliothek. 513
wäre hier auch nicht am Ort, näher darauf einzugehen. Bei denen des
ersten Bandes dürfte wol nichts Wesentliches fehlen. Von Luther's Art
zu schreiben und zu reden z. B. erhalt man unter den vier Rubriken:
'Schriften wider Rom, wider die Secten und Rotten, Luther zu Haus und
unter Freunden (Briefe und Tischreden), Luther in Kirche und Schule',
ein recht markiertes und vollständiges Bild.
Die poetische Abteilung , von der , wie gesagt , der erste Halbband
vorliegt und die in einem zweiten abgeschlossen wird, hat Diaconus Paul
Pressel, Verfasser eines epischen Gedichts über Franz von Sickingen, be-
arbeitet. Die nach Art der ^Anthologie christlicher Gesänge von Rambach
18179 ausgeführte Arbeit ist mit gutem Tact behandelt. Die Dichter der
verschiedenen Perioden und Schulen sind möglichst vollständig aufge-
führt, selbst die unbedeutenderen; neben den streng geistlichen auch
Einzelnes , das ans Weltliche streift, z. B. von Hans Sachs und Ulrich von
Hütten. Streiten liesze sich darüber,. ob nicht mancher geringere Dichter-
ling lieber ganz hätte übergangen, dagegen von den Meistern ersten Ran-
ges, z. B. von Gerhard ziemlich mehr mitgeteilt werden sollen; von seinen
125 Liedern sind blosz 14 aufgeführt. Die Textesrevision ist fast durch-
weg genau nach dem Original. Die bei jedem Dichter vorangestellte Le-
bensbeschreibung und Charakteristik gibt natürlich bei der durch die
grosze Zahl bedingten Kürze keine so gedrungenen und doch zugleich
lebensvollen Bilder, wie dies bei den Biographieen der prosaischen Abtei-
lung der Fall ist, aber die Angaben sind jedenfalls auf die bekannten
neuesten Leistungen der Hymnologen basiert, und man wird nicht weni-
gen recht treffenden und schlagenden Urteilen begegnen. Hier und da
läszt sich ein näheres Eingehen und eine kritische Sichtung der Notizen
vermissen. So steht z. B. das Lied: *Mitten wir im Leben sind' unter den
Gedichten Luther's , und es wird nur dabei bemerkt : 'Zuerst in dem Er-
furter Enchiridion von 1524/ Richtiger und gewis manchem. Leser er-
wünscht wäre etwa die Bemerkung : dies Lied stammt aus dem zehnten
oder elften Jahrhundert und war schon vor Luther mehrfach verdeutscht
worden. Es soll als Schlachtgesaug in der Schlacht bei Sempach 1386 ge-
sungen worden sein.
Schönthal. L. Mezger.
89.
Lateinische Vorschule. Erster Cursus für die unterste Classe
{Sexta). Enthaltend eine methodische Stufenfolge und eine
systematische Elementargrammatik nach den Redeteilen von
Dr. C. Plpetz, Professor. Berlin 1863, Verlag von F. A.
Herbig. VI u. 151 S. kl. 8. Ladenpreis: ungeb. 8 Sgr.
Hr. Prof. Ploetz, dessen französische Uebungsbücher sich einer so
groszen Verbreitung erfreuen, hat in dem vorliegenden Buche versucht,
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 18W. Hft. 10.
Digitizei
^Google
514 Ploetz : latein. Vorschule.
ein ähnliches Hülfsmittel für die Erlernung der lat. Sprache zu schaffen.
Sehr richtig bemerkt der Hr. Vf., dasz der Lehrer das dreifache Ziel für
Sexta , nemlich : * Erlernung und feste Einübung der regelmässigen und
der allergebräuchlichsten unregel massigsten Forme»; Erwerbung eines
Wortschatzes; Einführung in die ersten syntaktischen Elemente', rascher
und sicherer durch Anwendung eines Buches erreiche, als durch den
Gebrauch zweier oder dreier Bücher nebeneinander. Die elat. Vorschule'
soll nun ein solches Buch sein ; es enthält einen methodischen und einen
systematischen Teil. Ueber den zweiten dürfte nicht viel zu sagen sein ;
er gibt einen kurzen Abrisz der regelmäßigen Formenlehre; desto mehr
aber über den ersten ; besonders dürfte Mancher mit dem , was der Hr.
Vf. unter den ersten syntaktischen Elementen versteht, nicht einverstan-
den sein.
Die Bedenken , die dem Ref. bei der Durchsicht dieses Buches auf-
gestoßen sind , sind folgende.
Vor altem kann sich Ref. nicht mit dem Gange des Lehrbuchs ein-
verstanden erklaren , obsehon viele Wege nach Rom führen.
Gleich in der ersten Lection musz der Knabe , der vom Latein noch
keine Ahnung hat, ego, tu, nos, vos lernen und zugleich merken, dasz
diese Fftrwörter im Nominativ nur dann ausgedrückt werden , wenn man
sie hervorheben will ; ebenso ex und cum mit de« Abi. Das ist zu viel
auf einmal verlangt; das Erstere ist zu schwer für den Anfänger, und
das Zweite zu früh, da er erst § 7 lernt: *auf die Frage womit? steht
der Abi. Also : mit den Waffen : arm« (hlossse Abi., nicht cum).' Dadurch
wird der Knabe , dem es noch grosze Mfthe macht , die Casus in der ge-
wöhnlichsten Bedeutung anzuwenden, verwirrt, und es ist daher wol
besser, erst die Casus allem anzuwenden, bis der Schüler sicher ist; die
Präpositionen kommen dann noch zurecht.
In der dritten Lection sollen bereits die griechischen Wörter gelernt
werden; Ref. hält das für ganz verfehlt, um so mehr, als bis dahin blosz
die Anwendung des Nem., Gen. u. VocaL geübt worden ist; die griechi-
sche Declination gehört nach Quarta (vgl. Pfautsch, Programm des Gym-
nasiums zu Landsberg a. d. W. 1861, ein Programm, das von jedem Leh-
rer des Lat in Sexta verdient gelesen zu werden). Ebenso ist dort über-
flüssig die Erklärung von verb. trans. u. intrans. und die Erwähnung, dasz
der Accusativus 'des nähern Objects' auf die Frage wen? was? steht.
Was denkt sich der Sextaner unter einem näheren Object? Und wenn
man wirklich — aber gewis nur nach groszer Mühe — im Stande ge-
wesen ist, ihm diesen Begriff klar zu machen, was hat man damit ge-
wonnen? Sicherlich nicht mehr, als wenn man ihm gesagt hat: der Ac-
cus, steht auf die Frage wen? was? Mehr braucht der Sextaner nicht zu
wissen. Unnötig ist auch die Vorrede zu § 14.
Lect. 17 wird schon gelernt: cne (beim Conjunctiv u. Imper.) nicht.'
Also : ne fuissemus miseri müste es jetzt heiszen , da keine Regel dazu
gegeben ist, mit denen der Hr. Vf. sonst sehr freigebig ist; in den deut-
schen Uebungsbeispielen kommt aber auszer: 'Knaben, seid nicht müszig,'
kein hierauf bezüglicher Satz vor, wahrscheinlich weil der Hr. Vf. selbst
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Ploetz: latein. Vorschule. 515
gefühlt hat, dasz der Unterschied von non und ne heim Gonjunctiv für
den Sextaner zu schwer sein dürfte. Zur Einübung des Conjunctivs kom-
men von jetzt an sehr viele Beispiele von indirecten Fragesätzen vor. Im
Deutschen steht allerdings immer der Conj. in Klammern angegeben;
Ref. glaubt aber, dasz man, besonders in Sexta alle Verbalformen und so
auch den Conjunctiv in ihrer eigentlichsten Bedeutung einüben müsse,
nicht aber den Schüler von vorn herein durch Sätze , wie : e die Herren
haben nicht gewust, wo die Sklaven gewesen sind (Conj.)', verwirren.
Der Satz : § 17. Utinam semper amicus noster e s s e s musz gestri-
chen werden , wenn man genau sein will.
Die Umwandlung des Act. in das Pass. und umgekehrt § 19 ist viel
zu zeitig. Sätze, wie § 30: 'die Soldaten der römischen Legionen waren
Männer von groszer Tapferkeit', und alle derartigen gehören nach Quin-
ta; ebenso § $1: eder Ruhm des Vaterlandes hegt (lateinisch: ist) einem
guten Bürger am Herzen (Dativ).* Vgl. § 54. Die Bildung der Adverbia
ist bereits § 38 zu lernen ; Schönborn hat gewis richtiger diese für Sexta
ziemlich schwierige Sache nach Quinta gelegt. Nach Quinta gehört
ferner:
$ 39. Statt quam mit dem Nominativ kann man auch den bloszen
Ablativ setzen.
$ 49.' Auf die Fragen: wie lange? wie lang? wie hoch? usw. steht
der Accusativ.
% 50. Exercitus regis erat quingentorum milium hominum. (In dem-
selben § steht der Satz : In der Schlacht bei Cunaxa usw., so wie § 47
apud Bibracte, ohne dasz irgendwo angegeben ist, dasz die Städtenamen
Neutra sind.)
§54. Ist es für den Sextaner genügend, die Formen ii, iis zu
wissen; ei, eis mögen erwähnt werden, wenn sie in der Leetüre vor-
kommen.
§ 56. coptimus quisque jeder beste, d. h. der beste* wird woj ge-
wöhnlicher übersetzt: gerade die besten. Man kann zufrieden sein, wenn
man im Stande gewesen ist, Quartanern diese Verbindung begreiflich zu
machen.
Von § 62 an wird der Accus, cum Inf. häufig angewendet. Der Hr.
Vf. sagt hierüber S. V : f Die Infinitive können nur vermittelst der Con-
struetion des Accusativus cum Infinitivo genügend geübt werden. Hier
war die Aufgabe , diese Elemente mit Beschränkung auf das Aliernotwen-
digste der Fassungskraft des Anfängers anzupassen. Wo er den Acc. c.
Inf. setzen soll , wird dem Schüler in jedem einzelnen Falle angegeben,
die Construction tritt überhaupt nur auf, um die Infinitivformen zu
üben. Dies bitte ich zu erwägen und mit der Weise, wie ich diese
Uebungen von Lection 62 an behandele, erst einen praktischen Versuch
zu machen, ehe mir entgegnet wird, mit Sextanern den Acc. c. Inf.
durchzunehmen sei schlechterdings unmöglich.'
Öasz es möglich ist, wird man wol zugeben können; aber ob bei
dem für Sexta so umfangreichen Pensum es möglich ist, auszer diesem
noch so vieles Andere zu bewältigen, ist eine andere Frage. Entschieden
35*
516 Ploetz : latein. Vorschule.
in Abrede zu stellen ist es für Gymnasien, die wie das, an welchem Ref.
thätig ist, halbjährige Curse haben. Wenn aber vollends gleich in dem-
selben § 62 ein Satz vorkommt wie: Haud ignorabanl tyranni urbium
Graecarum, sibi dominationem Persarum utilem esse, so ist darüber wol
nichts erst weiter zu sagen. Soll einmal der Acc. c. Inf. in Sexta gelernt
werden , so müssen wenigstens Sätze mit dem Pron. refl. vermieden wer-
den. Der Grund, dasz man den Infin. nur im Acc. c. Inf. genügend üben
könne, wird auch nicht für jeden stichhaltig sein. Die Infin. Praes.
und Perf. können auch in Beispielen ohne den Acc. c. Infin. geübt wer-
den; und wenn der Sextaner nur die Formen der Infin. Futur, genau
wreisz , so wird er in Quinta bald im Stande sein , sie im Acc. c. Infin.
anzuwenden.
Dasz dem Sextaner viel zu viel zugemutet wird , zeugen auch Sätze
wie: Quum Caesari nuntiatum esset, magnum timorem tenere legionarios
nova specie Germanorum territos, milites in concionem vocavit et ora-
tionem habuit, qua illorum animos confirmavit; vgl. § 91. § 116. 117.
118 u. a.
§ 103. Longum est iter per praecepta, breve per exempla geht über
die Auffassungskraft des Sextaners.
Dagegen ist auf das genus der Wörter zu wenig Rücksicht genom-
men. Der Hr. Vf. hat versucht , die Genusregeln zu vereinfachen, und sie
ebenfalls in Reime gebracht. Es ist richtig, dasz die alten Zumptregeln
(übrigens von Putsche auch schon vereinfacht) viel überflüssige Wörter
enthalten, aber sie haben den Vorzug, dasz sie sich leicht lernen, und man
wird die überflüssigen mit in den Kauf nehmen müssen , bis man bessere
haben wird, die sich ebenso leicht lernen. Dies dürfte man jedoch von
denen des Hrn. Verf. nicht behaupten; denn der Reim ist mitunter sehr
schwerfällig, und dann sieht man oft nicht ein, warum manche Wörter
aufgenommen sind, wie: annalis, canalis, fas, nefas, während z. B. un-
guis , compes , margo fehlen.
Die Regel: Feminina die auf us,
Bei welchen das u bleiben musz,
ist wegen rus, crus u. a. falsch.
Auch wird in den* späteren §§ das genus der Wörter in den Bei-
spielen zu wenig berücksichtigt , und der zeitraubenden Dictate , welche
die gedruckte Methode verhindern soll, dürfte der Lehrer nicht ganz über-
hoben sein.
Ebenso hätten die Regeln über die Endungen der dritten Declinatioii
e, i; a, ia; um, ium etwas vollständiger sein können. Von den Adiectivis,
die e, a, um haben, ist blosz vetus angegeben und memor mit um, wäh-
rend pauper, dives, celer fehlen; von Substantivis fehlen z. B. canis, iu-
venis. Sehr irre führen kann die Regel §23: ium haben: viele einsilbige
Wörter, besonders die auf s und x mit vorhergehenden Gonsonanten;
und unter den darauf folgenden Vocabeln befindet sich : laus und lex ne-
ben nix. Wörter wie navis , vis , turris usw. mit ihren Abweichungen
werden gar nicht erwähnt. Auch Formen wie: mi, Deus, fili, Pompei,
filiabus, oder die Comparationen von Wörtern wie similis, benevolus,
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Ploetz: iatein. Vorschule. 517
dürften für Sexta nicht zu schwer sein. *) Vielleicht hätte noch manches
durchgenommen werden können , wenn nicht so viel Raum auf die Ein-
übung des Praes. u. Perf. Act. u. Pass. der ersten Gonjugation verwen-
det worden wäre.
Was die Auswahl der Vocabeln betrifft, so ist auch diese nicht im-
mer angemessen. Die Anzahl derselben ist zu grosz ; wären wenigstens
diejenigen weggelassen, die ohne eine zeitraubende Erklärung für den
Sextaner böhmische Berge sind : wir meinen die termini technici aus dem
alten Staatenleben:
dictator der Dictator, j
Senator der Senator,
archon der Archont,
consularis ein gewesener Consul,
satrapes der Satrap,
senatorius senatorisch ,
praetor der Prätor,
consulatus das Consulat,
praetura die Prätur ,
tribunus plebis ein Volkstribun,
cohors die Cohorte ,
manipulus die Manipel,
ephorus ein Ephor,
triumvir ein Triumvir (Dreimann) (!),
Vestalis, e vestaiisch,
suffes, etis der Suffet,
principatus der Vorrang, die Hegemonie, (!!).
Was denkt sich der Sextaner unter *Suffet' oder f Hegemonie'?
Auszer diesen dürften wol noch viele andere zu verbannen sein, be
sonders solche, die in dem Buche selbst nur um eines Beispiels willen
vorkommen, wie: horologium, ductare, circus, caro vitulina, tripus,
ferner pallidus , ecce , redux, dimidiura, mercenarius, afflictare, inferi,
commcntarii, rebellare, pacare, commeatus, pabulatio, classiarius, prae-
valere, cloaca u. a.
Was aber ganz überflüssig für Sexta ist, das sind die zu lernenden
Redensarten. Erst musz der Anfänger lernen wörtlich übersetzen ; das
bessere Deutsch findet sich zum Teil von selbst oder wird später gelernt;
man lernt in Sexta nicht gleich lateinisch sprechen. Wenn der Sextaner:
bellum parare, sich zum Kriege rüsten,
a partibus alicuius stare , zu Jemandes Partei gehören ,
risum tenere, sich des Lachens enthalten,
petere rem aliquam ab aliquo , Jemanden um eine Sache bitten,
lernt, so wird er höchstens verwirrt; diese Sachen kommen später zu-
recht.
*) Ref. erhielt eben das Februar-Märzheft 1862 von MützelFs Zeit-
schrift für Gymnasialwesen, in dem sich eine Recension der Ostermann-
schen Uebungsbücher von Pf autsch befindet, und freute sich, dasz er
in vielen Ansichten mit diesem übereinstimmt.
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518 Kurze Anzeigen und Miscellen.
Trotzdem , dasz dies Buch mit groszer Sorgfalt ausgearbeitet ist *)
und durch die neue Methode viele Vorzüge vor anderen hat, wird doch
die Einführung desselben in Gymnasien wegen der zu groszen Anforde-
rungen an den Sextaner nicht gut thunlich sein.
Druck und Ausstattung sind gut; Druckfehler finden sich nicht;
auszer etwa lones statt Iones 66; Saumes statt Samnis 106; militum
romanorum neben milites Äomani 21.
Breslau. Gustav Dziatas.
*) Von Vocabeln fehlt blosz 'benachrichtigen' § 77; und § 51 wird
qui angewendet, das erst § 53 durchgenommen wird.
Kurze Anzeigen und Miscellen.
XVIH.
Versammlung rheinischer Gymnasial- und Reallehrer zu Düsseldorf
• am 29. März 1864.*)
Der Vorsitzende des geschäftsleitenden Ausschusses**), Director Dr.
Kiesel eröffnete die von etwa 100 Lehrern der rheinischen höheren
Unterrichtsanstalten besuchte Versammlung in der Aula des Gymnasiums
zu Düsseldorf, Morgens um 10 Uhr, mit der Ernennung der Herren
Oberlehrer Dr. Schmitz (Gymnasium zu Düren) und Dr. Czech (Real-
schule zu Düsseldorf) zu Protokollführern; auf Antrag des Dir. Hein en
wird dem Dir. Kiesel auch der Vorsitz in dieser Versammlung über-
tragen.
I. Erster Gegenstand der Tagesordnung: Bericht über geogra-
phische Lehrmittel.
Oberlehrer Dr. Schauenburg (Realschule in Düsseldorf): Er er-
greife das Wort nur auf ganz ausdrückliche äuszere Veranlassung, nicht
aus Autoreneitelkeit, und bitte von vornherein, davon abzusehen, dasz
das zunächst zur Sprache zu bringende neuere Hülfsmittel für den Un-
terricht in der Geographie von ihm selbst angegeben sei.***) — An-
•) Vgl. Bd. 88 S. 237 dieser Jahrbücher.
**) Dieser bestand für das Jahr 1863/64 aus Dir. Dr. Kiesel vom
Gymnasium in Düsseldorf, Dir. Dr. Hein eh von der Realschule in
Düsseldorf, Rector Dr. Jäger vom Progymnasium in Mors, Oberlehrer
Dr. Liesegang vom Gymnasium in Duisburg, Oberlehrer Dr. De icke
von der Realschule in Mülheim a. d. Ruhr.
***) Die Besprechung der Schauenburgischen Fluszkarten hatte schon
auf der Tagesordnung der vorjährigen Versammlung gestanden, war
aber wegen der Kürze der Zeit ausgesetzt worden. Zahlreiche Stim-
men, darunter namentlich auch die des vorjährigen Referenten in die-
sen Blättern hatten für die diesjährige Versammlung die interessante
Frage zur Discussion gestellt zu sehen gewünscht ; ein Verlangen, wel-
chem der Ausschusz gern nachgegeben hatte.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 519
schaulichkeit und Lebendigkeit seien die Haupterfordernisse jedes Un-
terrichts, besonders aber des geographischen, dessen nächstes Object,
die Kenntnis der plastischen Gestaltung der Erdoberfläche, vor vielen
anderen Lehrgegenständen geeignet sei, die ( räumliche' Phantasie zu
entwickeln. Während die Karten des Atlas das Bild des Landes dem
einzelnen Schüler darstellen, gebe die Wandkarte dem gesamten Cö-
tus eine .gemeinsame Anschauung, welche gehoben werde durch die un-
mittelbar angeschlossene Erläuterung des Lehrers, Von gröster Brauch-
barkeit aber müste eine Karte sein, welche mit jenen Vorzügen auch
den verbände , dasz die Schüler auf ihr das Abbild des geographischen
Objectes vor ihren Augen entstehen sähen und dasz es ihnen für so-
fortige Hervorbringung durch eigene Zeichnung den nötigen Anhalt böte.
Ein solches Lehrmittel sollen nun die von ihm, dem Vortragenden, her-
ausgegebenen Wandkarten sein, welche in gröstem Format in blauem
Oel färb endruck auf schwarzem Wachspapier hydrographische Netze
zeigen. Eine ähnliche Karte von Deutschland habe er bereits vor 16
Jahren für die Realschule in Siegen mit Oelfarbe auf eine schwarze
Holztafel gezeichnet und für den Unterricht in der Geschichte und
Geographie von Deutschland benutzt; dabei sei insbesondere auch der
grosze Vorteil hervorgetreten, den der Gebrauch solcher Karten für die
Einigung der aus jenen verschiedenen Disciplinen gewonnenen Vorstel-
lungen mit sich bringe. Später habe er denselben Gedanken in Düs-
seldorf weiter verfolgt und endlich vor nunmehr 10 Jahren bei Dietrich
Keimer in Berlin zwei solche Fluszkarten, die eine von Deutschland,
die andere von Mitteleuropa, erscheinen lassen, welche in verhältnis-
mäszig wenigen Exemplaren, eigentlich nur der Probe halber, vorbe-
reitet worden seien. Er habe nun jetzt über die Erfolge Bericht zu
erstatten. Alle Lehrer, welche diese Karten benutzten, hätten sich im
höchsten Grade befriedigt über dieselben ausgesprochen und möchten
sie nicht mehr im Unterrichte entbehren. Freilich sei die Brauchbar-
keit erst durch den Gebrauch zu erkennen, wie denn andrerseits die
Verbreitung solcher Karten auf das Hindernis stosze, dasz sie sich nicht
leicht zur Ansicht versenden lassen; ebenso könnten allerdings nur sehr
tüchtig orientierte Lehrer den vollen Erfolg mit derselben erzielen. Der
Vortragende verbreitet sich nun über die Anwendbarkeit der Karten im
Einzelnen. Zunächst dienen sie einem ähnlichen Zwecke , wie die carte
muette der Franzosen, indem die Schüler bei Repetitionen die Flüsse
und auch sonstige, mit Kreide weiter einzutragende Objecto zu benen-
nen hätten. Die Einübung der Flüsse geschieht durch Nachzeichnen ih-
res Laufes in seinen charakteristischen Krümmungen, durch Andeutung
des directen Abstandes zwischen Quelle und Mündung, ferner durch
Eintragen der Namen oder blosz ihrer Anfangsbuchstaben. Küsten-
linien, Buchten, Halbinseln, Inseln werden ebenso angegeben und be-
zeichnet. Dann werden auf die mit dem Schwamm leicht gereinigte
Karte die Wasserscheiden eingetragen und an diese schlieszt sich die
Angabe der Höhenzüge , so oft ganze Gebirgsländer , Gebirgszüge. Ber-
ge , Gebirgspässe leicht an die Fluszquellen angeknüpft werden können.
Hierauf folgt, nachdem die Karte wieder gesäubert worden, das blosze
Eintragen der Namen oder Höhenzahlen der Gebirge. In ähnlicher
Weise wird sodann, an die Flüsse angelehnt, die politische Umgren-
zung der Staaten mit Kreide angegeben, ferner die wichtigsten Städte
in ihrer an oder nahe bei den Flüssen bestimmten Lage eingetragen,
diese dann durch Eisenbahnlinien verbunden. Zuletzt wird noch von
dem Vortragenden, der seine Mitteilungen überhaupt auf das Instructiv-
ste praktisch illustrierte, für die Anwendung im Geschichtsunterrichte
beispielsweise das successive Anwachsen des preuszischen Staatsgebie-
tes in Hervorhebung der Altmark, Uckermark, Mittelmark usw. unter
Beifügung der Jahreszahl der Erwerbung — auf der Karte anschaulich
gemacht.
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520 Kurze Anzeigen und Miscellen.
Oberl. Dr. Ho che (Gymnasium in Wesel): Er verkenne die grosze
Brauchbarkeit der Schauenburgischen Fluszkarten keineswegs, welche
er selbst früher am Gymnasium in Minden zu erproben Gelegenheit
gehabt habe. Dennoch könne er ein Bedenken nicht zurückhalten.
Warum seien nicht lieber die Gebirge statt der Flüsse zum Ausgangs-
punkte genommen? Es liege doch nahe, dasz man vom Prius in der
Natur, welches der Schüler selbst täglich als das Prius erkenne, auch
im Unterrichte ausgehen müsse. Uebrigens sei es auch für die prakti-
sche Anwendung der Karten weit leichter, nach dem -Laufe der Ge-
birge den Lauf der Flüsse, als umgekehrt zu construieren. Dazu
komme, dasz gerade Gebirgszeichnungen leicht durch Unsauberkeit
undeutlich 'würden.
Dr. Schauenburg: Seiner Ansicht nach sei weder ein Gradnetz
noch, eine Gebirgskarte so zweckmäszig, als ein Flusznetz. Jenes als
Grundlage für die Eintragung des hydrographischen Elementes — Sven-
Ogrensche Methode — gebe nur ganz unzureichende Anhaltspunkte für
die Schüler und lasse nicht, wie das Flusznetz, beim Weglöschen der
Zeichnung ein stets bestimmter werdendes Bild der charakteristischen
Form zurück; dieses — das Gebirgsnetz — ohne Flüsse und Meere
überhaupt kaum darstellbar, würde kein zusammenhängendes Bild er-
geben; auch lieszen sich die hohen Dimensionen nicht klar ausdrücken.
Die Gebirge aber etwa mit den Flüssen verbunden seien schon ein Zu-
viel ; dadurch würde auch der Selbstthätigkeit des Schülers zuviel vor-
weg genommen.
Oberlehrer Dr. Uppenkamp (Gymnasium in Düsseldorf): Nach
seiner Erfahrung — und er habe schon lange Zeit mit dieser Karte
unterrichtet — könne er die Angaben von Schauenburg nur bestätigen;
zur klaren Erkenntnis der topographischen Verhältnisse sei die Karte
sehr wol geeignet. Zwar seien in der Natur allerdings die Gebirge
das Prius, aber der Gang in der Entwicklung der natürlichen Verhält-
nisse sei doch nicht maszgebend für den Gang des Unterrichtes; man
lehre nicht immer das zuerst Gewesene zuerst. Der grosze Vorzug die-
ser Karten liege in ihrer Einfachheit, man könne z. B. das Alpensystem
mit dieser Karte von Deutschland viel besser klar machen, als mit
jeder anderen.
Auf eine Frage von Schauenburg an Collegen, welche im Un-
terrichte diese Karten angewendet haben, bestätigen Dr Czech und
Eck (beide von der Realschule in Düsseldorf) die vorzügliche Brauch-
barkeit derselben. Dr. Czech fügt noch hinzu, dasz seiner Ansicht
nach die Eintragungen von Städten usw. auf keiner anderen Karte
so leicht gemacht werden könnten, als auf dieser Fluszkarte; die
Lage der Städte und der zwischen ihnen hergestellten Verbindungen
richte sich ja meistenteils nach dem Laufe der Flüsse, nach den Ufern
der Seen und Meere , sei überhaupt von hydrographischen Verhältnissen
vorzüglich abhängig.
Dr. Ho che: Durch die Einzeichnung mit Kreide könnten die Hö-
hendimensionen noch weniger klar ausgedrückt werden, als wenn die
Karte die Gebirge bereits enthielte (ohne die Flüsse). Ein vollständi-
ges Gradnetz werde niemand verlangen, aber die Angabe einiger oder
einer Hauptlinie sei sehr wünschenswerth , z. B. für Deutschland des
ÖOsten Parallelkreises.
Dr. Schauenburg: Gemäsz der Projection der Karten — konisch
mit Berührung in 50° N. Br. — seien die Meridiane gerade Linien, die
Parallelkreise Kreisbogen; mit Hülfe der Zahlenangaben am Bande
der Karten lassen sich jene mit dem Lineal, diese aus freier Hand oder
mit leicht zu treffenden Vorkehrungen in hinreichender .Genauigkeit
eintragen.
Auf eine Frage wegen der Dauerhaftigkeit der Karten gibt Dir.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 521
Kiesel befriedigende Auskunft. Die vorliegende sei an seiner Anstalt
10 Jahre lang ununterbrochen in Gebrauch und noch unbeschädigt.*)
Hiermit wird die Discussion über die Schauenburgischen Fluszkar-
ten geschlossen.
Director Dr. Schacht (Realschule in Elberfeld): Er wolle noch
ein anderes Lehrmittel für den geographischen Unterricht in Vorschlag
bringen, nemlich Stereoskopenbilder, die sich mit Vorteil verwenden
lieszen.
Oberlehrer Dr. Liesegang ( Gymnasium in Duisburg) : Stereos-
kopen möchten in einzelnen Fällen wol vorteilhaft sein, lieszen aber
jedenfalls nur einen sehr beschränkten Gebrauch in sehr kleinen Clas-
sen zu, da nur wenige Schüler zugleich hineinsehen könnten.
Oberlehrer Dr. Müller (Gymnasium in Wesel): Das stereoskopi-
sche Bild sei immer ein unvollkommenes, weil es kein Modell, z. B. des
Gebirges gebe; viel mehr würde dies erreicht durch Reliefkarten, wel-
che weit über den Stereoskopen ständen.
Director Schacht: Er halte die plastischen Karten für weniger
vollkommen als die Stereoskopen.
Hiermit wird dieser Gegenstand verlassen.
Der Vorsitzende macht die Versammlung darauf aufmerksam, dasz
der Geh. Reg. Rath Altgelt und der Oberbürgermeister Hammer —
beide von Düsseldorf — sich in ihrer Mitte befinden. Die Versamm-
lung gibt ihrer Freude über diese Beteiligung von Mitgliedern der
Schul Verwaltung durch allgemeines Erheben von den Sitzen den gebüh-
renden Ausdruck.**)
II. Der zweite Gegenstand der Tagesordnung waren die von Rector
Dr. Jäger aufgestellten Fragen, die häuslichen Arbeiten der
Schüler und Aehnliches betreffend.
Rector Dr. Jäger (Progymnasium in Moers): Er sei nicht der al-
leinige Verfasser dieser acht Fragen, dieselben seien zum Teil von
Director Heinen aufgestellt und hätten schon im Jahre vorher von
diesem zur Besprechung gebracht werden sollen, was die Kürze der
Zeit damals verhindert habe. Er (Jäger) habe dieselben nur redigiert.
Bei der nun folgenden Discussion werden zuerst Frage 1 u. 2 zu-
sammengefaszt:
1) Ist die Behauptung richtig, dasz die Zöglinge unserer höheren
Schulen trotz entgegenstehender Verordnungen und Verfügungen noch
immer unter einem Zuviel häuslicher Arbeiten leiden? ist dies insbe-
sondere bei den oberen Classen (Prima) der Fall?
2) Dasz der Hausaufgaben im Allgemeinen zu vielerlei sind,
scheint sicher: lassen sich hiegegen bestimmte Grundsätze aufstellen?
z. B. Einteilung der Lehrfächer für jede Classe in solche, für welche
Hausarbeiten verlangt werden, und solche, bei denen die Aneignung
des Lernstoffs ausschlieszlich oder beinahe ausschlieszlich in den Lec-
tionen geschieht? (in Gymnasien: Schreiben, Zeichnen, Naturkunde in
den unteren Classen, Geschichte und Deutsch in den mittleren, etwa
Französisch in der obersten ?)
Director Dr. Probst (Gymnasium in Cleve): Ueber die erste Frage
hätten eigentlich nicht Lehrer, sondern nur die Eltern ein Urteil ; doch
könne von einem Zuviel in den häuslichen Arbeiten seiner Ansicht
*) Das Material ist Wachspapier, aber auf sehr starke Leinwand
aufgezogen.
**) Im vorigen Jahre hatte die Versammlung die Genugthuung ge-
habt, auch einen Vertreter des Provinzialschulcollegiums in ihrer Mitte
zu sehen. Sollten wirklich die tactlosen Bemerkungen eines Referates
in einem Localblatte für die Abwesenheit bestimmend gewesen sein?
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522 Kurze Anzeigen und Miscellen.
nach wol nicht die Rede sein; Lehrmittel und Lehrmethode seien gegen
frühere Zeiten so ausserordentlich verbessert worden, dasz die Kennt-
nisse jetzt dem Schüler fast 'anflögen'. Daher fielen auch in den Abi-
turientenprüfungen nicht mehr* so viele Schüler durch als sonst. Seiner
Erfahrung nach hätten auch die Schüler noch immer zu anderen Din-
gen hinreichend Zeit, was z.B. das Kneipengehen hinreichend beweise.
Rector Dr. Hansen (Bürgerschule in Lennep): Das Urteil der El-
tern über ein Zuviel der Arbeiten bei ihren Söhnen sei sehr relativ
und könne hier gar nicht in Betracht kommen; das Publicum sei ein
f vielköpfiges Ungeheuer.' Uebrigens seien an den verschiedenen An-
stalten die Verhältnisse auch sehr verschieden.
Oberlehrer Dr. Ho che: Auf das Gerede des f vielköpfigen Unge-
heuers' werde allerdings keine Rücksicht zu nehmen sein, sehr wol
aber auf das Urteil verständiger Eltern, deren es überall gebe. Es sei
allerdings wahr, dasz vielfach zuviel aufgegeben würde , seiner Ansicht
nach besonders in den unteren und mittleren Classen, weniger in
Prima. Von der gerühmten Wirkung des cAnfliegens' bei der verbes-
serten Lehrmethode sei noch wenig zu merken; überhaupt sei nicht zu
verkennen, dasz mit dem Worte f Methode' auch mancher Misbrauch
getrieben werde. Ein Hauptübelstand in der angeregten Beziehung sei
der, dasz für Nebenfächer, wie Naturgeschichte und Aehnliches, grosze
häusliche Arbeiten verlangt würden, die gar nicht zu bewältigen seien,
Auswendiglernen von ganzen Seiten u. dgl.; dadurch würden die Schü-
ler stumpf und für * wirklich nötige Arbeiten unfähig gemacht. Die
häuslichen Arbeiten würden immer auf die Hauptfächer zu beschränken
sein. Was endlich das f Kneipengehen' der Primaner anbetreffe, so
würden auch vermehrte häusliche Arbeiten dem nicht steuern; das
würde am meisten überall von den schlechten Primanern getrieben, die
auch die Fessel der häuslichen Arbeiten abzuschütteln wüsten.
Director Probst: Wer in Naturgeschichte etwas aufgebe, sei ein
schlechter Lehrer, ebenso in Geographie; ja er wolle es auch ausspre-
chen, wer in Geschichte etwas aufgebe, sei ein schlechter Lehrer.
Rector Dr. Jäger: Er gestehe sehr gern, dasz er auch zu den
Probstischen schlechten Lehrern gehöre , da er auch in der Geschichte
häusliche Arbeit verlange. An ein Zuviel der häuslichen Arbeiten
glaube er ganz entschieden, finde aber namentlich Prima überlastet.
Director Kiesel: Das Uebermasz sei der Fehler, der aus einem
gewissen Verstecke heraus jeder Anstalt drohe; das sei wol im Allge-
meinen festzuhalten, dasz je besser der Unterricht, desto leichter die
häusliche Arbeit.
Director Schacht: Man müsse sich vergegenwärtigen, was für
jede einzelne Classe aufzugeben sei, wie viel Zeit der Mittelschlag der
Schüler brauche, um seine Arbeiten zu vollenden. Der Redner ergeht
sich darauf des Weiteren in speciellen Vorschlägen für die Realschule,
für Sexta, Quinta usw.
Geh. Reg. Rath Altgelt: Dasz die Schulverwaltung darauf auf-
merksam geworden sei, dasz wirklich ein Uebermasz stattfinde oder
stattgefunden habe, scheine ihm aus der Fassung der ersten Frage her-
vorzugehen, namentlich aus den Worten: f trotz entgegenstehender Ver-
ordnungen und Verfügungen.'. Er wünsche nun - — für ihn als Mitglied
der Schulverwaltung habe das groszes Interesse — zu erfahren, ob wirk-
lich trotz der Anordnung der Behörde noch immer eine Ueberbürdung
stattfinde, resp. wie dem zu steuern sei.
Director Probst: An jeder Anstalt werde das Masz der Arbeiten
durch die Conferenz vorgeschrieben.
Director Kiesel: Die betreffenden Verfügungen seien nur ganz
allgemeiner Natur, bestimmt gezogene Grenzen könne es nicht geben;
sehr häufig gebe der Lehrer aus ganz wolmeinender Absicht zuviel auf.
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Kurze Anzeigen und Miscelleu. 523
Reetor Jäger: Das Zuviel bestehe ganz besonders in dem Zuvie-
lerlei; darüber könnten wol bestimmte Normen aufgestellt werden.
Kector Götz (Progymnasium und höhere Bürgerschule in Neuwied):
Statistisch festzustellen, ob und inwiefern eine Ueberbürdung vorhan-
den sei, sei völlig unmöglich; die ganze Frage sei wesentlich eine
Gewissensfrage, darüber abstimmen könne man nicht. Qualitativ wie
quantitativ . sei die Frage zu fassen; wenn auch die Zahl der häus-
lichen Arbeiten beschränkt würde, so könne doch der Schüler immer
noch überbürdet werden.
Reetor Jäger schlägt darauf vor, die beiden ersten Fragen den
einzelnen Collegien zur weiteren Besprechung zu überlassen und in der
Discussion weiter zu gehen.
Hiermit wird zur Frage 3 übergegangen:
3) Läszt sich nicht namentlich das schwere Joch der deutschen
Aufsätze ohne Schaden der Sache für bestimmte Classen etwas er-
leichtern?
Reetor Hansen: Er gebe nur ganz ausnahmsweise eine schrift-
liche Arbeit im Deutschen oder Lateinischen auf, da die Schüler sich
zu viel helfen lieszen. Die Aufsätze usw. lasse er unter seinen Augen
in der Classe anfertigen.
Director Schacht: Er sehe nicht ein, wie ein Primaner bei 3
wöchentlichen Stunden im Deutschen auch noch seine Aufsätze in der
Schule anfertigen solle ; er möchte vorschlagen , über jedes' aufgegebene
Thema nach einigen Tagen mit den Schülern zu sprechen; man könne
ihnen auch die Wahl des Themas bisweilen überlassen.
Reetor Jäger: Er beziehe das f schwere Joch der deutschen Auf-
sätze' ganz besonders auf Tertia. Gerade in dieser Classe ,wird am
meisten gesündigt. Es sei ihm ein Gymnasium bekannt, an dem man
in ganz mechanischer Auffassung ein groszes Heil in der 14tägigen
Anfertigung eines Aufsatzes in Tertia ^erblicke. Was Hansen's Ansicht
anbetreffe, so schütte dieser im vollsten Sinne des Wortes das Kind
mit dem Bade aus.
Reetor Hansen: Er habe zur Anfertigung eines Aufsatzes in Se-
eunda drei Stunden hintereinander gebraucht.
Reallehrer Dr. Hindorf (Realschule in Ruhrort): Nicht nur im
Deutschen, sondern auch im Französischen und Englischen seien die
Aufsätze der Zahl nach möglichst zu beschränken; eine Arbeit in jeder
Sprache für jedes Quartal halte er für ausreichend, also in den drei
lebenden Sprachen für das Jahr zusammen 12 Aufsätze.
Director Schacht: Es handle sich hier zunächst um die deutschen
Aufsätze; diese müsten jedesmal vom Lehrer vorher in der Classe or-
dentlich durchgearbeitet werden. In Tertia könne wol alle zwei Wo-
chen ein Aufsatz geliefert werden.
Hierauf wird zur Besprechung der Fragen 4 und 5 übergegangen:
4) Die Schüler vor Ueberbürdung zu schützen, wird vornehmlich
den Classen Ordinarien zukommen: gibt es Mittel, ein Masz täglicher
Arbeitszeit für die verschiedenen Classen festzustellen und festzuhalten?
5) Hat die Proclamierung einer bestimmten Arbeitszeit, welche an
einzelnen Schulen geschieht, wirklichen Erfolg gehabt? ist hier eine
wirkliche Controle möglich? Öaben die Hausbesuche, auf welche an
manchen Orten ein übertriebener Werth gelegt zu werden scheint, sich
in dieser Beziehung erfolgreich erwiesen?
Director Schacht: An vielen brandenburgischen Schulen sei eine
Arbeitszeit von 5 — 7 Uhr Abends angesetzt und die Lehrer giengen ab-
wechselnd als Inspectoren herum, freilich nicht ohne vielfachen Wider-
spruch der Eltern; er sei gegen eine solche bestimmte Arbeitszeit. Die
aufzugebenden Arbeiten müsten so gewählt werden, dasz für Prima das
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524 Kurze Anzeigen und Miscellen.
Maximum der zur Anfertigung zu verwendenden Zeit vielleicht auf 3%,
für Sexta etwa auf 1 Stunde zu normieren sei.
Director He inen: Die Prociamierung einer bestimmten Arbeits-
zeit, in welcher die Schüler zu Hause ihre Schularbeiten zu machen
hätten , sei wegen der möglichen Colliesionen mit den Eltern unzulässig.
Auch wenn die Anfertigung der Arbeiten im Schuliocale geschehe (so-
genanntes Silentium , gegen ein Honorar an die beaufsichtigenden Leh-
rer), könne die Teilnahme daran nur eine freiwillige sein. Dagegen
sei es Pflicht der Lehrercollegien , sich in gemeinsamen Berathungen
über das Masz der Zeit zu verständigen, welches Schüler von mittlerer
Begabung für die häuslichen Arbeiten zu verwenden hätten, und dabei
habe man nicht nur die periodischen schriftlichen Arbeiten, sondern auch
die laufenden Vorbereitungen für den Unterricht in Betracht zu ziehen.
Es sei Fürsorge zu treffen, dasz die Schüler weder für einzelne Unter-
richtsfächer, noch an einzelnen Tagen mit häuslichen Arbeiten über
Gebühr in Anspruch genommen würden und namentlich, dasz sie nicht
an demselben Tage mit zu Vielerlei sich zu beschäftigen hätten. Das
Letztere hindere den Schüler, sich liebend in einen Gegenstand zu
versenken, und bringe ihn dadurch zum 'Teil um die Früchte des Flei-
szes, welche er bei gleichem Aufwände von Zeit von einer gesammelten
und concentrierten Thätigkeit erwarten dürfte. Dasz mehr geschehen
müsse, um die Schüler des Segens, welcher auf einer solchen Thätig-
keit ruhe, teilhaftig zu machen, werde ziemlich allgemein gefühlt, aber
die dahin gerichteten Vorschläge erstrebten mehr oder weniger Abän-
derungen in dem Lehrplane, über welche die Behörde zu entscheiden
habe; auch stünden sich diese Vorschläge selbst zum Teil schroff
gegenüber. Zu den Mitteln aber, welche jede Schule in ihrer Gewalt
habe, um die Schüler vor Ueberbürdung zu schützen, gehörten folgende,
die sich ihm (dem Redner) durch die Erfahrung bewährt hätten. Im
Anfange des Schuljahres werde unter Zugrundelegung des Schulplanes
in der Conferenz für jede Unterrichtsstunde in jeder Classe festgesetzt,
ob und wieviel Zeit der betreffende Lehrer an häuslicher Vorbereitung
für dieselbe beanspruchen dürfe. Es sei nicht möglich , dasz der Schü-
ler sich immer für sämtliche Stunden eines Tages präparieren könne;
für gewisse Stunden sei ihm Nichts aufzugeben. Die Festsetzung die-
ser Stunden gleichsam als Nullstunden , für welche gar keine häusliche
Vorbereitung verlangt werden dürfe, sei Sache der Verständigung.
Jüngere, leicht zu f feurige' Lehrer, welche oft zu rasch vorwärts gi en-
gen, würden durch diese Nullstunden gewissermaszen genötigt, häufi-
gere Repetitionen anzustellen und öfter die Schüler auch an Nichtprä-
pariertem sich versuchen zu lassen; ferner würde durch dieselben dem
unseligen Treiben solcher Lehrer entgegengearbeitet, welche zu be-
quem, um in der Stunde mit den Schülern den Unterrichtsstoff gehörig
durchzuarbeiten, seine Aneignung vorzubereiten und durch manigfache
Uebungen zu erleichtern — an den häuslichen Fleisz der Schüler über-
mäszige Forderungen stellten und die Unterrichtsstunde fast nur zur
Controlle desselben verwendeten. Selbstredend sei bereits bei Entwer-
fung des Stundenplanes darauf Bedacht zu nehmen, dasz nicht in bun-
tem Durcheinander die Unterrichtsgegenstände an einem Tage aufein-
ander folgen. Ueberdies aber empfehle es sich, dasz häufiger, beson-
ders bei Unterrichtsgegenständen, welchen eine gröszere Stundenzahl
eingeräumt sei , zwei Stunden nach einander oder wenigstens an dem-
selben Tage demselben Gegenstande gewidmet werden; natürlich sei
dabei die Art des Lehrobjectes und das Alter der Schüler zu berück-
sichtigen (man werde z. B. gewis nicht die Sextaner 2 Stunden nach-
einander mit Kopfrechnen beschäftigen wollen) ; aber das hindere nicht,
dasz dieses Princip bereits wesentlich in den mittleren und noch ent-
schiedener in den oberen Classen zur Anwendung komme. Durch die
so herbeigeführte gröszere Gleichartigkeit und Concentrierung in der
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Kurze Anzeigen und Miscelleu. 525
häuslichen Thätigkeit des Schülers und seiner Thätigkeit in der Schule
könne der Erfolg des Unterrichts nur gesteigert werden; zugleich werde
der Lehrer über die Grösze der Anforderungen, welche er an den häus-
lichen Fleisz der Schüler stelle, sich mehr klar, wenn er an demselben
Tage mehrere Stunden in einer Classe gebe, als wenn diese auf ver-
schiedene Tage verteilt seien. * Gegen die etwaige Besorgnis , dasz bei
2 Stunden nacheinander in demselben Fache die Schüler leicht ermat-
ten würden, könne er wenigstens die Versicherung geben, dasz sich
dieses bei seinen vielfältigen Erfahrungen nicht herausgestellt habe. —
Ein anderes Concentrationsmittel bestehe darin, dasz bei verwandten
Fächern, besonders wenn sie in der Hand desselben Lehrers liegen,
eine längere Zeit hindurch alle oder doch die meisten der ihnen zu-,
gewiesenen Stunden bald dem einen, bald dem andern zugewendet
werden; z. B. wenn zwei Schriftsteller in derselben Sprache gelesen
werden, möge man die Leetüre beider nicht fortwährend nebeneinan-
der laufen lassen, sondern möge eine Zeitlang, z. B. einen Monat oder
bis man zu einem gewissen Abschlüsse gelangt sei, nur den einen le-
sen, dann den andern ausschlieszlich oder fast ausschlieszlich vorneh-
men. Aehnlich in der Mathematik mit dem algebraischen und geome-
trischen Teile; insbesondere empfehle es sich, in Quarta die Algebra
in der ersten Zeit ausschlieszlich zu betreiben usw.
Bei der vorgerückten Zeit wird hiermit die Berathung der Jäger-
schen Fragen abgebrochen und beschlossen, die Besprechung über den
zweiten Satz von Frage 5, sowie über die Frage 6 — 8 als ersten Punkt
für die nächstjährige Tagesordnung aufzustellen.*) Bei der Wichtig-
keit von Frage 8 wird zugleich der Fragsteller aufgefordert, bis zur
nächsten Versammlung das nötige nicht unbedeutende Material zu sam-
meln, ein Wunsch, dem Jäger nachzukommen verspricht.
III. Dritter Gegenstand der Tagesordnung ist die Besprechung der
Thesen über den Unterricht im Französischen am Gymnasium;
Proponent: Rector Loehbach (Progymnasium in Andernach).
1) Hauptzweck des Unterrichts im Französischen ist die Einführung
in das Verständnis der Schriftsprache.
2) Die Erlangung praktischer Fertigkeit im schriftlichen und münd-
lichen Gebrauche der Sprache liegt nicht im Zwecke des Gymnasial-
unterrichts.
3) Der grammatische Unterricht und die schriftlichen Arbeiten sind
daher möglichst zu beschränken; vielmehr ist der Hauptnachdruck auf
flieszendes Uebersetzen des Gelesenen zu legen; auch ist im Maturi-
tätsexamen kein französisches Scriptum zu fordern , sondern die Leetüre
als Maszstab für die im Französischen erlangte Reife anzunehmen.
4) Für das Gymnasium sind daher nur solche Lehrbücher des Fran-»
zosischen zu empfehlen , welche das zum Verständnis der Schriftsprache
nicht unumgänglich erforderliche grammatische Detail weglassen.
Rector Löhbach: Er wolle die Notwendigkeit des Unterrichts im
Französischen für Gymnasien als allgemein zugestanden voraussetzen
und hier nur die Frage untersuchen, auf welche Weise bei der geringen
Stundenzahl das relativ Meiste geleistet werden könne. Die Ursache der
bisher so geringen Leistungen im Französischen liege darin, dasz man
*) Die Fragen 6 — 8 waren:
6) Was ist von den Strafarbeiten zu halten?
7) Was von den Privatstudien an oberen Classen? sollen sie schul-
maszig controliert werden, sollen sie gänzlich frei gegeben werden oder
gibt es ein Mittleres?
8) Ist der Vorschlag, den Nachmittagsunterricht zu beschränken,
beziehungsweise ganz aufzugeben, realisierbar und realisierenswerth?
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526 Kurze Anzeigen und Miscellen.
den Unterricht in einer Weise betreibe, als ob dem Gegenstande wöchent-
lich 4—6 Stunden gewidmet wären. Für die Reallehranstalten sei es aller-
dings wünsohenswerth und notwendig, dasz der Schüler das Französi-
sche geläufig spreche und schreiben lerne , für das Gymnasium dagegen
sei das Verständnis der Schriftwerke die Hauptsache und die aus der
Leetüre gewonnenen neuen Anschauungen der wesentlichste Gewinn.
Daher habe sich der Unterricht auf dem Gymnasium fast ganz auf die
Leetüre zu beschränken, und zwar auf die der neueren Schriftsteller ,
durch welche das Interesse für die Sprache mehr geweckt werde, als
durch die französischen Classiker, Bezüglich der zweiten von ihm auf-
gestellten These, bemerkt der Proponent, dasz der Lehrer Unrecht
thue, wenn er bei den Eltern den Glauben erwecke, als wolle er den
Schülern praktische Fertigkeit im Schreiben und Sprechen des Fran-
zösischen beibringen. Die Aeuszerungen des Prof. Zandt in Karlsruhe
über die Stellung und Bedeutung des französischen Unterrichts an den
höheren Lehranstalten möchten wol für Baden berechtigt sein, hätten
aber für die preusz. Rheinprovinz gar keine Geltung. Für den fran-
zösischen Unterricht wähle man den Weg, den man früher auch bei
den alten Sprachen eingeschlagen habe; man gehe rasch durch die
Grammatik hindurch und zur Leetüre über. Der Schüler gelange doch
nur selten an das Ziel eines vollständigen- grammatischen Verständnis-
ses und bringe sein Wissen in dieser Beziehung zu keinem Abschlüsse;
durch reiche Leetüre dagegen lerne der Schüler auch Vocabeln, Wort-
verbindungen und Aehnliches; die Sprache trete ihm wirklich als etwas
Ganzes und Lebendiges vor die Seele. Die Folgerungen aus diesen
Prämissen ergeben sich von selbst: man verziehte auf das französische
Scriptum beim Maturitätsexamen und gebrauche nur Lehrbücher, die
sich auf das ursprünglich notwendige grammatische Material beschränken.
Director Roeren (Ritterakademie zu Bedburg): Der französische
Unterricht am Gymnasium sei überhaupt eine Concession an die For-
derungen der Neuzeit; der Schüler solle sich ein theoretisches Wissen
erwerben und daneben eine gewisse praktische Fertigkeit sich an-
eignen. Dieses Ziel könne auch wol erreicht werden, nur müsse die
Methode sich ändern; man dürfe diesen Unterricht nicht zu früh an-
fangen. Früher habe man mit dem Französischen erst in Tertia, ja
wol erst in Secunda begonnen. Jedenfalls müsse der Schüler, bevor
er das Französische anfange , eine gewisse grammatische Durchbildung
schon erreicht haben; er halte es daher für ganz passend, das Franzö-
sische erst in Tertia zu beginnen, aber freilich dann mit 4 wöchentli-
chen Stunden. In Bezug auf The.se 4 bemerke er, dasz die Zusammen-
stellung einer Grammatik nach Löhbach's Wünschen grosze Schwierig-
keiten haben werde; dasz auch jetzt etymologische Feinheiten ausge-
schlossen werden, sei ja selbstredend. Sicherheit im schriftlichen und
Anbahnung einiger Fertigkeit im mündlichen Gebrauche der Sprache
sei das Ziel des Unterrichts, welches festzuhalten sei.
Director Kiesel: Zu einem wirklichen Verständnisse der Schrift-
sprache könne man nur gelangen durch die Uebung des Uebersetzens
aus dem Deutschen in das Französische. Ohne diese Forderung wür-
den die Primaner leicht noch weniger für das Fach thun, als jetzt.
Director Schacht: Beim französischen Unterrichte müsse auch
das Ohr geübt werden; die Scripta brauchten nicht so schwierig zu sein.
Director Probst: Früher habe man am Gymnasium gar französi-
sche Aufsätze gemacht; bei dem Scriptum müsse man jedenfalls ste-
hen bleiben; die Sprache würde auch sonst in den Augen des Schülers
zu sehr sinken. Was- den Anfang des franz. Unterrichts betreffe, so
halte er denselben in Tertia für zu spät, weil das Organ zur Einübung
der Aussprache bei dieser Altersstufe nicht mehr so bildsam sei, als in
Quinta.
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Kurze Anzeigen und Miseellen. 527
Hiermit wird, da der Proponent nichts erwidert, die Debatte ab-
gebrochen.
IV. Vortrag des Rector Dr. Hansen (Bürgerschule in Lennep) 'über
Stundenpläne'. Derselbe konnte, zwar nicht in seiner ganzen Ausdeh-
nung angehört werden, da die festgesetzte Zeit des Schlusses (3 Uhr)
abgelaufen, ist aber inzwischen bereits vollständig in diesen Jahrbb.
mitgeteilt worden , weshalb wir uns begnügen auf das betreffende (9.)
Heft S. 443 ff. zu verweisen.
In den geschäftsführenden Ausschusz für das nächste Jahr wurden
durch Stimmzettel gewählt: Director Dr. Kiesel, Dir. Dr. Herbst
(Friedrich-Wilhelms- Gymnasium in Köln), Rector Götz, Professor Dr.
Pütz (Gymnasium an Marzellen in Köln) und Oberlehrer Dr. Hoch©.
Als Ort der nächsten Versammlung wurde Köln bestimmt. Eine sehr
starke, für Duisburg stimmende Minorität befürchtete, dasz für viele
der Teilnehmer vom Niederrhein, welche bis jetzt das Hauptcontingent
bildeten, die Entfernung von Köln zu grosz sei, sowie dasz die Hoff-
nung, welche bei der Wahl leitend gewesen war, auch den Oberrhein
mehr heranzuziehen, sich nicht erfüllen werde. Ob diese Besorgnis
gegründet war, wird der Verlauf der nächsten Versammlung lehren;
jedenfalls sei derselben die Frische und Lebendigkeit der diesjährigen
Zusammenkunft gewünscht, durch deren taktvolle Leitung der Herr
Vorsitzende sich den aufrichtigen Dank der Teilnehmer verdient hat.
w. n. h.
(xm.)
Litterarische und culturhistorische Mitteilungen aus Griechenland.
(Fortsetzung von S. 474.)
Nach einer Mitteilung im «DiXkruip, 1862, Septemberheft S. 279 ist
der Grieche Kontopulos mit groszem Eifer und unausgesetzt bemüht ge-*
wesen, die Unterrichtsmethode in der franz. Sprache für die Griechen
möglichst zu vereinfachen. Er hat zu diesem Zwecke eine ziemlich
umfangreiche Schrift: fN6x 'OXXevööpcpeioc |u£öo6oc irpdc xaxctav öioa-
acaXiav Tf|c YaXXiKfJc YXuicClr|C, (Smyrna 1862) erscheinen lassen. Auch
sonst schenkt man in Griechenland der Erlernung der französischen
Sprache eine besondere Aufmerksamkeit. In Athen erschien eine f Neui-
TdTi] u46oooc 'OXXevböpcpou irpoc £K|uä6r|civ tt\q TaXXixf)c tXuüccric' (1862),
die die Erlernung der französischen Sprache in sechs Monaten in Aus-
sicht stellt, und eine crpajüt|LiaTiK^ t^c YaXXucifc ^Xdiccrjc öewpnriKfi Kai
irpctKTiKfV (1862), welche der Secretär der Akademie in Besancon, Des-
rues, für die Griechen ausgearbeitet und die die Genehmigung des Mi-
nisters des Cultus und öffentlichen Unterrichts erhalten hatte.
Daneben fanden jedoch in der Litteratur auch andere, näher lie-
gende Gegenstände die gebührende Beachtung. Ein Professor der Rhe-
torik, Logik und Philosophie am Lyceum in Leukadien, Stamatelos,
hatte eine fPr)TOpiKif|' (Zante 1862) herausgegeben, die ihren Gegenstand
nach den Regeln der Theorie und Praxis (fcpapjuto-f/i) behandelt, und
welche der OiXfcTUJp den Schülern und Lehrern, vornehmlich aber allen
denen als besonders nützlich empfahl, die — wie dies seit Ende des
Jahres 1862 nach der Octoberrevolution in Griechenland häufiger vor-
gekommen und zu einem Bedürfnis geworden ist — 'unwiderstehlich
zum öffentlichen Sprechen getrieben werden' (äKCtTacx^TUüc elc Xoyo-
iroitav <p£povTdi). Dagegen verfolgte ein in Hermupolis auf der Insel
Syra erschienenes Schriftchen: fTo kv *€p|Lioim6X€t 6£axpov irpoc Tf|v
KctTäcxaciv toO XaoO Tfjc £X€u6£pac '€XXdooc' den Zweck, zu einer rich-
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528 Kurze Anzeigen und Miscellen.
tigen, allein berechtigten und gemeinsamen Vorstellung in Griechen-
land von der Bildung eines Nationaltheaters zu verhelfen.
Der in Athen im Jahre 1862 erschienene zweite Teil des auf drei
Teile berechneten Werks über Konstantinopel, von Skarlatos Byzantios,
unter dem Titel: KiuvcTavTtvoÖTroXic (der erste Teil desselben erschien
im Jahre 1855), führt dieses fleiszige, der neugriechischen Litteratur
zur Ehre gereichende Werk, in einer geschmackvollen Darstellung, auf
Grund gelehrter Studien und unter gewissenhafter Benutzung der vor-
handenen Quellen, weiter fort. Der gedachte zweite Teil beschäftigt
sich zunächst mit der Beschreibung der Umgebungen der Stadt und
des Bosporus, wozu auch zwei Karten des letztern und der Inseln der
Propontis gehören, und enthält in einigen Anhängen geschichtliche Ver-
zeichnisse der byzantinischen und osmanischen Kaiser, der Veziere und
der Patriarchen. Die politische und wissenschaftliche Zeitung, €övo-
jLiia, rühmt besonders den Reichtum und die Gewandtheit der Sprache,
die sich namentlich in den reizenden Naturschilderungen kundgibt, so
wie die Genauigkeit und Strenge der Forschung und Prüfung des Ver-
fassers in der Behandlung der einzelnen, selbst der unbedeutendsten
Gegenstände.
(Fortsetzung folgt.)
Leipzig. Th. Kind.
XIX.
In memoriam Frederici Iacobsii.
(D. VI. m. Octobr. 1864.)
Volvente semper gurgite temporum
Seclis vorantur secula, saepeque,
Quae clara viderunt priores,
Posteritas sepelit tenebris.
At non Tuis, Vir Maxime, laudibus,
Iacobse, divinum Aonidum decus,
öffecit aetas: quas colebas,
Te recolunt, pia turba, Musae
Famamque fluctu temporis invido
Mergi vetant; ut sidus amabile,
Quod nulla nubes condit, usque
Nomen honosque Tuus refulget
Nain, ceu caput ver quum extulit aureum,
Tristis recedit bruma, novo viget
Tellus calore aetherque purus
Lumine ridet amoeniore,
Splendent decoris floribus hortuli
Laetoque fontes prosiliunt sono
Cunctamque naturam Favoni
Blanda novat genitalis aura:
Sic, sive Grajüm seu Lata sacros
Campos paternum sive teris solum,
Seu alta doctrinae subire
Te iuvat aut roseas corollas
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 529
Hortis odoris nectere, seu vocas
Ad vindicandam sanguine patriam:
Quodcunque tentas, ecce gnavam
Vita vigorque operam sequuntur.
Flammabat ignis nempe sacer Tibi
Mentem Camenae et Spiritus acrior
Pectusque laetis incolebat
Cum Charisin Probitas severa.
Ex bis beatis fontibus ingeni
Cordisque fluxit, quam stupet et colit
Serum genus, virtutis illa,
Dive, Tuae species verenda.
Haue, doeta pubes, mentibus intimis
Servate grati semper imaginem,
Fortem modo vobis patronam,
Nunc hilaram coisitem futuram!
Memmingae. Henricus Stadelmahn.
XX.
Jubiläen.
Am 20 October beging der vielverdiente Rector des Gymnasiums
St. Nicolai in Leipzig, Hr. Prof. Dr. Karl Friedrieb August Nobbe,
das 60jährige Jubiläum seiner Lehrthätigkeit. Ohne eine eingehende
Darstellung des seltenen Festes versuchen zu können, bemerken wir
% zuvörderst, dasz der Jubilar, welcher 1814 als Collaborator an der
Thomasschule eingetreten war, bereits 1816 an die Nicolaischule be-
rufen wurde und an dieser fortan ununterbrochen als Lehrer und seit
dem Jahre 1828 als Rector gewirkt hat. Die gewissenhafte Treue, mit
welcher er sich seinem Amte gewidmet , die väterliche Zuneigung, wel-
che er seinen Schülern bewiesen, und der gesegnete Erfolg seiner Ar-
beit sind in aller Zeit dankbar anerkannt worden. Und so gestaltete
sich denn ungesucht die Feier seines Jubeltages zu einer allgemein
städtischen; aber auch weit über den Kreis der Stadt und des Vater-
landes hinaus erstreckte sich die ehrenvolle und herzliche Teilnahme.
Nachdem schon der Morgen mit Gesang begrüszt worden, begann um
9 Uhr im Saale der Buchhändlerbörse der Festactus. Als Sprecher
des Lehrercollegiums von St. Nicolai gab Herr Tertius Dr. Hempel,
selbst ein früherer Schüler des Jubilars, ein Lebensbild des letzteren
in lateinischer Rede , während Hr. Conrector Prof. Dr: Lipsius ein von
ihm verfasztes s^eeimen quaestionum Lysiacarum überreichte. Ihnen
folgten, in Wort und Schrift ihre Verehrung zu bezeugen, die gegen-
wärtigen Schüler der Anstalt, denen sich dann in langer Reihe die
glückwünschenden Deputationen der Behörden usw. anschlössen. Indem
wir hier nochmals ausdrücklich auf jede Vollständigkeit des Berichts
verzichten, heben wir unter diesen neuen Auszeichnungen des Jubilars
an erster Stelle die Verleihung des Ritterkreuzes vom Verdienstorden
hervor, welche im Namen Sr. Majestät des Königs und unter dem be-
redten Ausdruck der Anerkennung durch Hrn. Kreisdirector von Burgs-
dorff erfolgte; sodann die Begrüszung von Seiten des städtischen Pa-
tronats durch Hrn. Bürgermeister Dr. Koch , von Seiten der Universität
N. Jahrb. f. Phil. u.Päd. II. .\bt. 1S64. Hft. 10. 36
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530 Kurze Anzeigen und Miscellen.
durch Herrn Rector magnif. Geh. Medicinalrath Professor Dr. Buete,
und die Herren Decane Hofrath Professor Dr. Drobisch und Domherr
Professor Dr. Tuch, von Seiten der Geistlichkeit durch Herrn Su-
perintendent Professor Dr. Lechler und Pastor Dr. Ahlfeldt, von Seiten
der Thomasschule durch Herrn Professor Rector Dr. Eckstein« In
gleicher Weise erschienen und sprachen als Vertreter der übrigen
Schulen Leipzigs die Herren Directoren derselben (Prof. Dr. Wagner,
Bulnheim, Dr. Reuter, Dr. Hauschild, Dr. Bornemann, Schott, Dr.
Eichler, Teichmann, Schöne, Kransz, Dr. Kyn), im Namen der ehe-
maligen Schüler Hr. Prof. Dr. Klotz, endlich die Deputierten der Gym-
nasien Bautzen, Plauen, Zwickau, Pforta, Meiszen, Grimma. Die
werthvollen Gaben aufzuzählen, welche diese teils lateinischen, teils
deutschen Ansprachen begleiteten, würde ein längeres Verzeichnis er-
fordern. Aus der Zahl der Festschriften insbesondere erwähnen wir
noch beispielsweise den von Professor Dr. K. Keil in Pforta verfaszten
f commentariolus de inscriptione Attica' (einen Sieger in der AcuAiraön,-
opouia betreffend), die (lusus otiosi conjecturarum in Theocriti Carmen I'
von Dr. K. Freytag, Archidiaconus in Meiszen, ferner rdas grosze Ge-
bet der drei schweizerischen Urcantone9 von Prof. Delitzsch in Erlan-
gen (der erste getreue Abdruck eines uralten Schweizer Landesgebets,
der zugleich eine alte Verdeutschung der berühmten Antiphona Media
rita in morte sumus und einen köstlichen Gebetspruch des Nicolaus von
Flue enthält), endlich Prof. Ecksteines (commentariolum de epigrammate
latino cellae Auerbachiae ' , das in geistvoll anmutiger Weise die In-
schrift eines Faustbildes in Auerbachs Keller behandelt und eine ebenso
einleuchtende als zwanglose Deutung der corrumpierten Worte gibt. —
Tiefbewegt von der Fülle aller der Liebe und Ehren, die ihm gewor-
den, ergriff am Schlüsse der Feier der Jubilar noch einmal das Wort
und faszte in herzlicher Rede seinen Dank und seine Wünsche zusam-
men, welche wir unsrerseits nur mit dem Gegenwunsche erwiedern
können, dasz dem verehrten Veteranen noch langehin die jugendliche
Kraft des Geistes und Körpers bewahrt ^bleibe, welche ihm sein rei-
ches Wirken möglich machte. Nachdem hierauf noch ein von Hrn. Dr.
Dohmke gedichtetes und von Hrn. Gesanglehrer Höpner componiertes
Festlied gesungen worden, löste sich die Versammlung fürerst auf, um
Kachmittags an dem im Schützenhause veranstalteten Festmahle teil-
zunehmen, bei dem es nicht an neuen und auszeichnenden Ueber-
raschungen für den Jubilar fehlte. (Unter Anderem gieng ein Tele-
gramm von Professor Max Müller aus Oxford ein.) Am Abend fand ein
Fackelzug der Nicolaischule statt, dem als classischer Nachklang des
Festes am 23 Octbr., von Hrn. Dr. Fiebig geleite jt, eine wolgelungene
Aufführung der Antigone folgte. M.
An demselben 20 October beging das groszherzogliche Friedrich-
Franz - Gymnasium zu Parchim in Mecklenburg die Feier seines 300-
jährigen Bestehens. Da weitere Details über dieselbe uns fehlen, so
begnügen wir uns auf die feinsinnige, gediegene Festschrift des jetzi-
gen Directors Dr. Conrad Hense hinzuweisen. Sie behandelt 'die poe-
tische Personifikation in griechischen Dichtungen mit Berücksichtigung
lateinischer Dichter und Shakspere's ,' und verweilt zunächst bei sol-
chen Wendungen des sprachlichen Ausdrucks , welche in der Phantasie
ein Bild menschlicher Gestaltung hervorrufen, als z. B. fcdpa, KÖjnn,
ndTumoV, irpöcumov, Kpöra<|>oc usw.
itf.
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Kurze Anzeigen und Miscellen. 531
XXI.
Erwiderung. K
In den am 3n Juli d. J. ausgegebenen Heften dieser Jahrbücher
befindet sich ein mit f£' unterzeichneter Aufsatz über 'die höheren
Schulen und die Zeitungsanzeigen'. Wenn in demselben auch mit Recht
gegen die in den öffentlichen Blättern allzusehr wuchernde Reclame
kleinerer Schulen geeifert wird, so hat sich doch der geehrte Hr. Ver-
fasser allzuweit von seinem Eifer hinreiszen lassen und Dinge behaup-
tet, von denen er wissen muste, dasz sie unwahr sind. Zugleich hat
er Persönlichkeiten und, was noch weit schlimmer ist, religiöse Fragen
mit hineingezogen und so seine gerechte Klage in einen ungerechten
Angriff gegen Collegen und Anstalten verwandelt.
Den ganzen Aufsatz kritisch zu beleuchten, fehlt mir die Zeit;
nur will ich auf zwei besonders auffallende Punkte, aufmerksam machen,
die dem geneigten Leser genug beweisen werden.
Zunächst stellt Hr. ff>' ( f jÜr|TU)p ' ?) fzum Ergötzen der Leser' ein
Beispiel auf, in welchem auch meiner Wenigkeit gedacht wird und
zwar in einer, wie die obige Bemerkung schon zeigt, nichts weniger
als lobenden Weise. Ich erachte es um so mehr als. eine Pflicht, diesen
gänzlich kritiklosen Angriff zurückzuweisen, als dem Lehrer nach mei-
ner Meinung die Unbeflecktheit seines Namens das höchste Gut sein
musz. Hätte der geehrte Hr. Verfasser aus reiner Quelle, nemlich aus
Programmen der Schulen geschöpft, so würde er ersehen haben, dasz
ich zu der Zeit, wo der angeführte Artikel in der Kölner Zeitung ge-
standen haben soll*), gar nicht mehr Rector der höheren Bürgerschule
in Grevenbroich war, also durchaus kein Interesse daran haben konnte,
mittels vorgeschobener f dankbarer Eltern', (die nicht ohne Nutzen bei
Hoff und Daubitz Studien gemacht', Reclame zu machen. Als ich be-
reits mein Rectorat niedergelegt hatte, erschien ein öffentlicher Dank
an mich von verschiedenen Eltern in dem Grevenbroicher Kreisblatte;
auch diesem Danke stand ich fern, wie ich überhaupt kein Freund von
solchen Veröffentlichungen bin. Doch hatten die dortigen Bürger mit
diesen Annoncen hauptsächlich einen localen Zweck im Auge , der wei-
ter nicht hier an die Oeffentlichkeit gehört. Dasz nun ein müsziger
Schreiber aus diesen rein örtlichen Dingen Anlasz genommen, eine
Zeitungsannonce oder einen Zeitungsartikel zu schreiben, kann mir,
dem abgegangenen Rector, in keiner Weise zum Vorwurf gemacht
werden. — Wenn ich nun auch nicht verlange, dasz der geehrte Ver-
fasser f£' sich mit meinen Personalien befaszt, so hätte ich von dem
Rechtsgefühle und von dem kritischen Scharfsinn desselben doch er-
warten können, dasz er sich vor allem von den Thatsachen genau un-
terrichtet und sich solch grober Irtümer enthalten haben würde.
Der zweite Irtum, der dem Hrn. ff>' zugestoszen, ist etwas stärke-
rer Natur. Er schreibt nach Anführung der Reclame des Emmericher
Gymnasiums: cEs wäre überflüssig, hierzu noch ein Wort weiter zu
bemerken, als dasz das Gymnasium in Emmerich — nach Angabe
inMushacke's Schulkalender — in 6 (Hassen 98 Schüler hat.'
Wenn man eine Quelle, wie Mushacke, anführen will, so musz man
mindestens die neueste Auflage nehmen, und da findet er nicht f98',
sondern c136' Schüler angeführt. Wie darf aber ferner ein Schulmann,
dem die Programme der Schulen zur Hand sind, aus einer Quelle wie
*) In dem Aufsatze sah ich den Artikel überhaupt zum ersten Mal,
da ich die Zeitungsannoncen durchzulesen, nicht die Zeit habe und da
ich in denselben auch nach einer andern Stelle mich umzusehen noch
nicht genötigt bin.
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532 Kurze Anzeigen und Misceilen.
Mushacke schöpfen? Wenn diesem in der groszen Masse von Zahlen
und Angaben der lapsns passiert, dasz er aus dem Schulprogramme
statt der Gesamtfrequenz r132' die Zahl der aus dem Vorjahre geblie-
benen 98 Schüler aufnimmt, so ist dies leicht begreiflich; dem Lehrer
dagegen, der das Sichtige wissen musz, sobald er nur will, ist ein
solcher Fehler geradezu unverzeihlich, um so mehr als er die falsche
Zahl zur Unterstützung seiner falschen Deductionen benutzt. Wenn der
Herr '£', der in dem Aufsatze keine kritischen und keine historischen
Lorbeern gepflückt hat, verlangt, dasz von den drei niederrheinischen
Gymnasien zu Emmerich, Wesel und Cleve, das katholische eingehen
soll*) (wahrscheinlich wegen der berühmten *98' Schüler), so ist er mit
den Verhältnissen des Niederrheins gänzlich unbekannt und zeigt wie-
derum eine dem Lehrer nicht ziemende Ignoranz oder er ist jedes
Billigkeitsgefühles bar. Im Jahre 1861/62 zählte das Gymnasium zu
Emmerich 98 Katholiken und 31 Protestanten, das zu Cleve 68 (resp.52)
Katholiken, 77 Protestanten, das zu Wesel hatte 198 Schüler, leider
gibt das Programm über die confessionellen Verhältnisse keinen Auf-
schlusz; doch zeigt die Thatsache, dasz 3 von 5 Abiturienten Katholi-
ken waren, hinreichend dasz das Gymnasium kein rein evangelische«
sei. Wäre es wünschenswerth , dasz eines der 3 Gymnasien fiele, so
stände der Schülerzahl nach nur die Wahl zwischen Cleve und Emme-
rich. Da aber in Wesel ein protestantisches Gymnasium vorhanden, so
ist es eine Intoleranz , die ihres Gleichen in den Annalen der Religions-
kriege sucht, zu verlangen, dasz die 166 (resp. 150) katholischen Schü-
ler zu Gunsten von 118**) protestantischen, welche das Weseler Gym-
nasium auszerdem in der Nähe haben, ihrer Anstalt beraubt werden
sollten. Wären von jenen 199 Schülern in Wesel***) nur 40— 60 Katho-
liken, so wäre es eine Verhöhnung jeglichen Gerechtigkeitsgefühles zu
verlangen, dasz für etwa 250 Protestanten 2 Gymnasien und für 220
Katholiken keines bestehen soll. Weiteres hierüber zu sagen, erscheint
kaum nötig. Der Leser wird wol aus diesen zwei angeführten Beispie-
len ersehen, mit welch kritischem Scharfsinn und mit welchem ßecht-
lichkeitsgefühle Herr r£' in seinem Aufsatze verfahren.
Ueber die Meinung des geehrten Herrn Verfassers, die wol als
Schluszfolgerung seiner kritischen Bemerkungen gelten soll, dasz so
ziemlich allen kleineren Anstalten das Recht der Existenz abzusprechen
sei, will ich an dieser Stelle nicht mit ihm streiten. Gern bin ich aher
bereit, offenen Auges gegen ihn, der auch gerade keiner sehr groszen
Anstalt anzugehören scheint — sonst würde er sich kaum so tief in das
Annoncenwesen einlassen — auf der nächsten Lehrerversammlung in
Köln zu Ostern 1865 das Existenzrecht der kleineren Anstalten zu ver-
theidigen.
Dr. Ad. Dronke.
*) Eine andere Deutung als der Wunsch , das Gymnasium in Em-
merich möge verschwinden, läszt wol kaum die Bemerkung auf Seite
304 zu.
**) Für das Schuljahr 1862/63 stellen sich jene Zahlen auf 159 und
108 (resp. 106 im Sommersemester). Hierbei ist zu bemerken, dasz aus
Cleve und Umgegend eine nicht unbedeutende Anzahl katholischer
Schüler ferner liegende Anstalten beBucht.
***) Im Jahre 1862/63 hatte das Gymnasium zu Wesel 190 Schüler
und von 9 Abiturienten waren 2 Katholiken.
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Zweite Abteilung.
Seite
36. Noctes scholasticae (2). Von *** 481—503
37. Anz. v. H, G. Migault: Versuch einer englischen Öchul-
grammatik. Erste Abteilung. Von Dr. R. in P. . . . 503—509
38. Anz. v. Klaiber: Evangelische Volksbibliothek. Erster
Band. Vom Professor L. Mezger in Schönthal . . . 510 — 513
39. Anz. v. C.Ploetz: Lateinische Vorschule. Erster Cursus.
Vom Gymnasiallehrer Dr. G. Dzialas in Breslau . . . 513 — 518
Kurze Anzeigen und Miscellen 519—532
XVIII. Versammlung rheinischer Gymnasial- und Reallehrer
zu Düsseldorf am 29 März 1864. Von R. R. in W. . . 519—527
(XIII). Litter arische und culturhistorische Mitteilungen aus
Griechenland (2). Von Th. Kind in Leipzig 527—528
XIX. In memoriam Frederjci Jacobsii (VI Octbr. 1864). Vom
Studienlehrer Dr. Stadelmann in Memmingen .... 528 — 529,
XX. Jubiläen des Professor Dr. F. A. Nobbe, Rector der Ni-
colaischule in Leipzig und
des groszherzogl. mecklenb. Friedrich -Franz -Gymnasiums-
zu Parchim. Von M. 529—530
XXI. Erwiderung. Von Dr. Ad. Dronke 531—532
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Leipzig,
Druck und Verlag von B. G. Teobuer.
1864.
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Zweite Abteilung:
für Gymnasialpädagogik und die Obrigen Lehrfächer,
mit Ausschlusz der classischen Philologie,
herausgegeben von Professor Dr. Her Mann Mas Ins.
40.
!Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwickelung unserer
Litteratur während der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
i hunderts.
Dasz die deutschen Gymnasien als lateinische Schulen die Mutter-
sprache lange Zeit hindurch nicht blosz vernachlässigt, sondern als etwas
der Schulbildung Fremdes, ja Nachteiliges fern gehalten haben, ist ihnen
oft znm Vorwurf gemacht worden. Denn wenn man auch recht wol be-
griff, wie die groszen Humanisten und Pädagogen des 16. Jahrhunderts
iß ihrem Eifer für reine Latinität, die einerseits in einer reichen Littera-
tur so grosze Vorbilder, andererseits im Dienste der Kirche und des Staa-
tes so hervorragende Bedeutung hatte, bewogen werden konnten, die
wissenschaftlich noch wenig fixierte und im Munde des Volkes noch sehr
rohe deutsche Sprache als ungeeignet für den Schulunterricht zurückzu-
weisen und selbst aus dem Verkehre der Schüler unter einander zu ver-
drängen; so hatte man doch Grund zu dem Bedauern, dasz die Schulen
so lange der mauigfachen Anregungen und Förderungen, welche die
Entwickelung der vaterländischen Litteratur darzubieten schien, sich be-
rauhten, während sie durch die fast ausschlieszliche Beschäftigung mit
den Meisterwerken des Altertums doch nicht vor ödem Mechanismus und
arger Geschmacklosigkeit bewahrt worden sind. Es konnte manchen so
vorkommen , als ständen sie ganz auszerhalb des nationalen Lebens.
Aber man wird im Tadel sich zu mäszigen haben. Die Schulen,
welche seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu fröhlichem Gedeihen kamen,
durften zunächst freilich nicht daran denken, über die durch grosze
Autoritäten festgestellten Normen hinauszugehen, und die Kreise, denen
sie dienen sollten, erwarteten auch von ihnen gar nichts anderes, als sie
geben wollten; allein unmerklich stellte sich doch ein mehrfaches Ver-
hältnis zwischen ihnen und dem Vaterländischen her. Zuerst schon durch
die Kirche. Denn obschou nie Art, wie diese ihre Wissenschaft ausbildete,
W. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 11. 37
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534 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwickelung unserer Litteratur
noch besonders dazu beitrug, dasz die überlieferten Einrichtungen festge-
halten wurden, so rnuste doch bei der innigen Verbindung, in welcher
die Schulen mit der Kirche standen, dasjenige, was in dieser volkstümlich
blieb , vor Allem das fromme Lied , erfrischend auch durch die Schulen
hindurch wirken, wie denn auch wieder Rectoren und Cantoren in groszer
Zahl der Kirche Lieder und Sangweisen gegeben haben. Es kam hinzu,
dasz die schon von den Reformatoren empfohlene und von der Kirche fort
und fort, schon um der geistlichen Stoffe willen, nicht ungern geförderte
Schulkomödie, obgleich eine Zeitlang lateinisch, immer lieber in deutsche
Formen sich kleidete und so immer entschiedener auch die Aufmerksam-
keit der dabei Thätigen auf dasjenige , was in deutscher Sprache möglich
sei, hinlenkte. Aber auch der Unterricht in den alten Sprachen förderte
mittelbar in mancherlei Weise. Er machte doch immer wieder mit edlen
und schönen Mustern bekannt, und je mehr man darauf bedacht war, in
Prosa und in Versen Nachbildungen versuchen zu lassen, desto leichter
konnte es geschehen, dasz man auch in deutscher Sprache Nachbildungen
wagte. Als nun durch Martin Opitz die deutsche Poesie festere Regeln
und höhere Geltung gewonnen halte, kam sie auch in den Schulen zu
einem Einflusz , den die Männer der Reformationszeit nicht einmal zu ah-
nen vermocht hatten. In Schlesien und den von da aus bestimmten Land-
schaften rief die fröhlich und kräftig entwickelte Poesie überall auch in
den Schulen poetische Bestrebungen hervor, und es ist gar nicht zu be-
schreiben, mit welchem Eifer nun von Lehrern und Schülern auch in
deutscher Sprache gereimt ward. Es entstand jene in einzelnen Ausläu-
fern bis in die Gegenwart hereinreichende Gelegeilheitspoesie, die sich
um alle bedeutenderen Vorkommnisse des Lebens rankte, zuweilen aber
auch von dem Besondern die Betrachtung auf das Allgemeine lenkte und
zu höherem Aufschwünge Mut fand. Und dasz solche Schulpoesie bei den
Bürgern der Städte wie bei den Herren des Adels freundliche Anerkennung
erhielt, läszt doch auch wieder voraussetzen, dasz durch den Unterricht
der Schulen in weiteren Kreisen Sinn für Poesie, und deutsche Poesie,
geweckt war. Im Ganzen freilich ergab sich bei diesen Bestrebungen
wenig bleibender Gewinn.
Da hätte nun der classische Unterricht sehr förderlich werden kön-
nen, wenn er selbst nur von besserer Beschaffenheit gewesen wäre. Aber
diesem Unterrichte läszt sich für das ganze 17. Jahrhundert wenig Gutes
nachsagen. Man war in der Auswahl der zu lesenden Autoren schon un-
sicher; sehr oft erfuhr die Leetüre zu Gunsten der Exercitien ungehörige
Beschränkung; fast überall lag das Studium des Griechischen darnieder.
Es fehlte durchaus nicht an Männern, welche ihre Classiker gründlich
verstanden und mehr oder weniger geschickt nachbildeten, wie denn
überhaupt die zweite Hälfte des siebzehnten und der Anfang des acht-
zehnten Jahrhunderts an trefflichen Schulmännern reich gewesen ist ; aber
viel groszer war die Zahl der in Pedanterei und Schlendrian Befangenen,
und nicht selten wurden die wackersten Bestrebungen Einzelner durch
zähen Widerstand gelähmt oder nach kurzen Erfolgen wieder gänzlich
vereitelt. Wirklieb geistbildender Unterricht war gewis selten.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 535
Es ist allgemein bekannt, wie erst durch Gesner und Ernesti in
die classischen Studien wieder Geist und Leben kam ; nach allen Seiten,
bis in sehr entlegene Winkel, lassen sich die Spuren ihres Wirkens ver-
folgen. Man darf dabei jedoch nicht vergessen , dasz fortwährend noch,
selbst in berühmten Anstalten, die alte Praxis ihre Freunde behielt und
dasz es auch nach der Mitte des Jahrhunderts noch zahlreiche Schulen
gab, durch welche nur selten ein frischer Lufthauch strich. Was Chr.
Felix Weisze von dem Unterrichte, den er im Gymnasium zu Altenburg
empfangen, zu berichten weisz1)^ wird sicher auf viele andere Schulen
jener Zeit passen. 'Auch hier war ein elender Religionsunterricht nach
einem ebenso elenden Gompendio und die Verdeutschung oder Verstümme-
lung etlicher griechischer und lateinischer Autoren in einer bunten halb-
jährlichen Abwechselung, ohne Zweckmäszigkeit der Wahl, ohne Sach-
kenntnis der Auslegung, mit einem pedantischen Einkäuen grammatischer
Regeln , welche man mehr als den Geist des Autors aufsuchte, Alles, wo-
mit man sich beschäftigte ; an eine Leetüre der Alten zur Bildung des
Verstandes, des Geschmackes und Herzens war nicht zu denken; das
Sprachstudium selbst ward ohne Philosophie getrieben und der Geist des
Jünglings durch die Beschaffenheit desselben mehr eingeschläfert und un-
terdrückt , als aufgemuntert und erhoben.9 Wie dürftig es um die Mitte
des Jahrhunderts im Lyceum zu Chemnitz aussah, wie traurig auch um die
Interpretation Homer's durch den Rector Hager, der doch eine Ausgabe
desselben besorgt hatte, davon hatte Heyne, der in solchem Unterrichte
seine erste Bildung erhielt, viel zu erzählen.2)
Wenn es sich aber um das Verhältnis unserer Gymnasien zur .Ent-.
Wickelung unserer Litteratur handelt, so darf immerhin gesagt werden,
dasz jene zu dieser doch fort und fort in einer ziemlich regen Wechsel-
wirkung gestanden haben. Es hat bis tief in das 18. Jahrhundert hierin
an auffallenden Versäumnissen , an starken Schwankungen, an bedauer-
lichen Misgriffen nicht gefehlt ; allein es ist auch zu zahlreichen Versuchen
der Annäherung und Verständigung gekommen, und wahrnehmen läszt
sich , dasz einerseits die Schulen manigfach zu dem wundervollen Auf-
schwünge unserer Litteratur, wie er seit der Mitte des vorigen Jahrhun-
derts sich vollzogen hat, beigetragen, andererseits auch diese wieder auf
jene eine immer weiter gehende Einwirkung ausgeübt. Dies scheint mir
nun ein der Betrachtung sehr würdiger Gegenstand, und je wünschens-
werther es zumal in dieser Zeit erscheinen kann, dasz die Schulen sich
deutlich machen, was sie für die nationale Entwickelung zu leisten im
Stande sind, desto mehr darf es vielleicht als gerechtfertigt geltep, wenn
ich durch Zusammenstellung einiger Thatsachen zu zeigen versuche,
wie unsere Schulen allmählich in ein klar bestimmtes Verhältnis zu un-
serer Litteratur, der edelsten Trägerin der nationalen Entwickelung, ge-
treten sind.
1) Selbstbiographie S. 5 f.
2) Heeren, Biographische nnd litterarische Denkschriften (Gottin-
gen 1823) S. 19 ff. Wie in diese Schale durch Ernesti's Schüler Krebs
neues Leben kam, ist hier natürlich auch gesagt.
37* ,
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536 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwickelung unserer Litteratur
Fragen wir hierbei zuerst, wie die Entwickelung unserer Litteratur
durch die Gymnasien vorbereitet worden, so wird der eigentlichen Antwort
das Geständnis vorauszuschicken sein, dasz an ein be wüst voll es Hinstre-
ben auf eine höhere Entwickelung der vaterländischen Litteratur bei deu
Schulmännern vor und nach der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht zu den-
ken ist. Vielmehr liesze sich durch zahlreiche Beispiele zeigen, dasz auch
diejenigen , welche dieser Litteratur Teilnahme zuwandten , meist in auf-
fallender Weise hinter der Entwickelung derselben zurückblieben. Andreas
Gryphius hatte in unseren Schulen noch seine stillen Verehrer, als sonst
Niemand mehr durch seine Tragödien sich erschüttern liesz, und Gott-
sched^ Einflusz wirkte in den Schulen noch fort, als alle Welt schon sei-
nen Gegnern Recht gegeben hatte und die Säule seines Ruhms zertrüm-
mert am Boden lag. Anderen Schulmännern schien Beschäftigung mit
schöner Litteratur dem Ernste wissenschaftlicher Studien so fern zu lie-
gen, dasz sie eine solche weder sich selbst noch ihren Schülern gestatten
zu dürfen glaubten. Von einer würdigen, weiten und freien Auffassung
des Verhältnisses, in welchem die Litteratur eines Volkes zum Gesamt-
leben desselben stehe , wie sie die tiefsten Erregungen und Bedürfnisse
desselben zum Ausdruck bringen und wiederum tausendfach bestimmend
darauf zurückwirken kann, war damals überhaupt noch selten oder nie
die Rede.
Dennoch hatten die Schulen Manches, was jene Entwickelung mit
vorbereiten konnte. Irren wir nicht, so ist das Verdienst, das sie in die-
ser Beziehung sich erworben haben, bisher öfter verkannt, als anerkannt
worden, so nahe es auch gelegen hätte, den Gegenstand in erstere Er-
wägung zu ziehen.3) Wenn überhaupt festzuhalten ist, dasz unsere clas-
sische Litteratur nicht aus einem reich und energisch sich entfaltenden
Volksleben und unter der liebevollen Pflege groszsinniger Fürsten, son-
dern durch rege, vielseitige, froh aufstrebende Thätigkeit eines besonde-
ren Standes im Volke, der gelehrt Gebildeten, vorzugsweise, ja in den
ersten Jahrzehnten fast allein ihre Entwickelung gewonnen hat4); so
niusz doch wol in den Anstalten , aus welchen diese gelehrt Gebildeten
hervorgiengen, Manches gelegen haben, was diese Entwickelung mit ein-
zuleiten im Stande war.
Da haben wir zunächst die Beschäftigung mit den classi-
schen Dichtern des Altertums, wie sie die Schule vermittelte, ins
3) Vgl. Oebeke, Ueber den Unterricht im Deutschen auf den
preuszischen Gymnasien (Aachen 1862. 4) S. 2: f Selbst damals, als die
Gymnasien noch lateinische Schulen hieszen, sind sie die stille Geburts-
stätte des wiedererweckten deutschen Volksgeistes gewesen und der
erste Turnplatz desselben «in Liedern und im Vorspiel der Ideen, wel-
che Thaten bedeuteten». Dort hat sich jenen empfänglichen «Söhnen
Teut's» der Prometheus-Funke entzündet, wodurch sie die Schöpfer der
neueren deutschen classischen Werke geworden; dort sind durch das
aneifernde Wettringen mit der vollendeten Darstellungskunst der Grie-
chen und Römer dem deutschen Sprachgenius wieder Kraftbe wustsein
und Flügelgewandtheit zu frischem Aufschwung gezeitigt.'
4) Koberstein S. 840 f.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 537
Auge zu fassen. Noch immer hatten die Dichter vor den Prosaikern ent-
schieden den Vorzug, und wenn etwas Gröszeres durchgearbeitet, wenn
etwas Ganzes erreicht wurde , so wars bei der Leetüre der lateinischen
Dichter. Terenz freilich hatte, als das siebzehnte Jahrhundert ihm gegen-
über bedenklich geworden und des Schonäus Terentius christianus zu Ehren
gekommen war, das hohe Ansehen, welches er bei Melanchthon und allen
Humanisten jener früheren Zeit genossen , nicht wieder erlangt , aber er
hatte doch immer noch ganz andere Geltung als gegenwärtig, wo er
Schülern nur selten in die Hände kommt. Neben ihm fand Plautus auch
nur sehr bsschränkte Anerkennung, die höchste aber Virgil. Vorsichtige
Schulmänner lieszen unentschieden , ob er vor Homer den Vorzug ver-
diene, aber Niemand war darüber in Zweifel, dasz in ihm Alles, Form
und Inhalt, Bilderschmuck und Gedankenfülle der höchsten Bewunderung
werth sei, dasz man der geprüfteren Jugend für Bildung des Urteils , des
Geschmackes, des sittlichen Gefühls kaum etwas Geeigneteres in die
Hände geben könne , während ja selbst Männer noch die Aeneide als ein
Handbuch der Staatsweisheit lesen könnten. Es gab nun freilich Schul-
männer, die bei Erklärung dieses Epos einer so übertriebenen Genauigkeit
sich befleiszigten , dasz sie während eines ganzen Jahres kaum einen Ge-
sang absolvierten, aber es fehlte auch an solchen nicht, die ihre Freude
an dem Dichter den Schülern völlig mitzuteilen verstanden und ein um-
fassenderes Verständnis desselben ihnen möglich machten. Man wird kaum
sagen können , dasz es mit Horaz ganz ebenso gestanden. Man schätzte,
man bewunderte ihn , man lernte ihn auswendig , man flocht seine Sen-
tenzen gern auch in die gewöhnlichen Gespräche ; wenn wir aber zu er-
fahren suchen , wie er in den Schulen damals gelesen worden , so begeg-
nen uns doch auch Thatsachen, welche befremden können. Er kommt
in den Lectionsberichten seltener vor als man erwarten sollte, oder es
findet sich für ihn nur etwa eine Stunde wöchentlich und für Primaner
und Secundaner zugleich ; die Episteln und Satiren scheint man überall
zurückgestellt und auch bei den Oden mancherlei Bedenken gehabt zu
haben.5) Im Allgemeinen ist gewis richtig, dasz der eine Hagedorn durch
die Art, wie er dichtend, nachbildend und erläuternd auf die Gedichte des
Horaz hinwies , mehr als die Philologie seiner Zeit dazu beigetragen hat,
die Horazische Lebensweisheit in weiten Kreisen so populär zu machen.6)
Unentschieden blieb die Stellung Ovid's. Die Metamorphosen erscheinen
auf den Lectionsplänen jener Zeit viel seltener als jetzt, dafür treffen wir
dann und wann auf die Tristien und die Heroiden. Individuelle Liebhabe-
rei war es wol, wenn auch der dunkle Persius oder gar Claudian gelesen
wurden. Man musz hierbei aber durchweg im Auge behalten, dasz durch
die neben den öffentlichen Lesestunden einhergehenden und jene manig-
fach ergänzenden Privatstunden tüchtiger Lehrer oder auch durch den
5) Gewis war der von Höre in Meiszen 1741 herausgegebene De-
lectus carminum Horatii ad publicas enarrationes adhibitus (Einteilung
der Oden in gewisse Classen) verständig angelegt.
6) Hettner, Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts III 1, S. 345.
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538 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwickelung unserer Litteratur
stillen häuslichen Fleisz strebsamer Schüler die Bekanntschaft mit den la-
teinischen Dichtern nicht unerheblich sich erweiterte. Seit dem Auftreten
Gesner's und Ernesti's bemerkt man weit umher auch in dieser Beziehung
erfreulichen Fortschritt und regeres Leben. Besonders ist nun aber die
Wirksamkeit jener Männer den griechischen Dichtern , wie dem griechi-
schen Unterrichte im Ganzen, zu Gute gekommen. Auf diesem Gebiete
war freilich auch viel Verdienst zu erwerben. Die griechischen Dichter
waren fast überall auf ganz ungebührliche Weise vernachlässigt, und in
Gymnasien, wo der griechische Unterricht in Tertia oder gar erst in Se-
cunda begann, auf wenige Stunden beschränkt blieb und wol auch als
ein facultativer Lehrgegenstand angesehen wurde, konnte man nicht wol
über Theognis oder Hesiod's Werke und Tage hinauskommen; es war
unmöglich, dasz man zu einer fruchtbaren Homerlectüre sich erhob, und
Vermessenheit konnte es genannt werden, wenn doch etwa des Euripides
Phönissen oder des Aristophanes Wölken gelesen wurden.7) Sehr anzie-
hend müste es sein, den Aufschwung zu betrachten, den seit Gesner das
Studium flomer's genommen hat, an welches dann wie von selbst die ein-
gehendere Beschäftigung mit den Tragikern sich anschlosz. Um 1770
hatte sich bereits eine weitgehende Umwandlung vollzogen. Bis in die
Anstalten der Brüdergemeinde wirkten die Impulse der groszen Philolo-
gen. In Nisky las Seh leierm acher mit seinem Freunde v. Albertini
(1783 — 85) mit groszer Rapidität Homer, Hesied, Theokrit, Sophokles,
Euripides und Pindar, dabei blosz Hederich's Lexicon und die märkische
Grammatik benutzend. 8)
Mit der Dichterlectüre standen nun aber zahlreiche Imitationen in
Verbindung, denen hier und da wol noch gröszerer Fleisz als der Lee-
türe und Interpretation sich zuwandte. Man wollte ja doch, wo möglich,
Redner und Poeten bilden und las also Redner und Dichter der Alten
meist nicht um ihrer selbst willen und um mit ihrer Anschauungsweise,
mit ihrem Geist und Charakter, mit den eigentümlichen Verhältnissen,
unter denen sie sich entwickelt haben und wirksam gewesen sind, ge-
nauer bekannt zu werden , sondern um Musterstücke zu haben , an denen
man durch allerlei Uebungen, erst durch mehr mechanische Variationen
und Amplificationen , dann durch freiere Reproductionen und Nachbildun-
gen zu höherer Fertigkeit sich emporarbeiten könne. Man wird nun frei-
lich zugeben müssen , dasz auch diejenigen , welche es zu gröszerer Fer-
tigkeit in der Imitation brachten, selten den Weg zu selbständigeren
Productionen fanden ; aber man darf doch auch sagen , dasz durch solche
7) Ein Stadium des Griechischen, wie es Winckelmann in dem
einsamen Seehausen sich zur Aufgabe machte, dürfte damals äuszerst
selten gewesen sein. S. Winckelmann's Briefe an seine Freunde, her-
ausgegeben von Daszdorf, IS. 10: Seebussae litteras graecas retraetavi
undequaque conquisitis libris veterum. Sophoclem, quem vix depono
manibus, ex Scholiis [graecis adhibitis coniecturis infinitis locis emen-
davi et interpunxi, ut exemplar meum in reeudendo hoc tragico poeta
videatur aliquid lucis afferre posse. ,
8) Aus Schleiermacher's Leben I S. 8 f. Vgl. (Gammert) Geschichte
des Pädagogiums der evangelischen Brüder-Unität (Nisky 1867. 8) S. 8 ff.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 539
Uebungen ein feinerer Formsinn, selbst für prosaische Darstellung, aus-
gebildet und ein gründlicheres Verständnis des Nachgebildeten gewonnen
werden konnte. Immerhin haben wir diesen Uebungen bei der Frage, die
uns hier beschäftigt, besondere Teilnahme zuzuwenden. Es mag Lächeln
erwecken, was uns von DaumhA in Zwickau, einem der trefflichsten Rec-
toren seiner Zeit (-f- 1687) erzählt wird: assuefaciebat discipulos suos,
ut eandem sententiam centies vel saepius carmine redderent, qua in re
ipse tantus artifex fuit, ut unum versum millies et amplius versare pos-
set9), und Mitleiden erregt es, wenn man sieht, wie Heyne unter der
Leitung seines Pathen mit Versemachen sich plagen muste 10) ; aber die
Uebertreibung war doch nicht die Regel , und bei mäsziger und feiner
Behandlung der Sache muste doch vielfach neben dem sich bildenden Sinn
für schöne Form auch der Trieb zu ausgedehnterer und feinerer Hand-
habung derselben sich entwickeln. "Da haben nun gewis die Anleitungen
der Schule, lateinische Musterstucke auch in deutschen Versen wiederzu-
geben, Vielen den Uebergang zu selbständigem Dichten in der Mutter-
sprache noch auf besondere Weise bereitet. Aber man übte die Schüler
ja auch in deutscher Dichtkunst fort und fort. Anleitungen dazu waren
in groszer Anzahl erschienen und die Bemühungen, nach derselben Poeten
zu bilden, immer allgemeiner geworden. Als nun im J. 1729 Gottsched
seinen 'Versuch einer kritischen Dichtkunst für die Deutschen' herausge-
geben hatte, schienen diese Bestrebungen einen neuen Impuls erhalten zu
haben. Aus gründlichen und vielseitigen Studien hervorgegangen, gab das
Werk jedenfalls feste Normen, instructive Beispiele, eine ansprechende
Uebersicht und war für die Schulen , wenn geschickte Männer es behan-
delten, gewis auch nützlich zu machen. Solchen Bestrebungen blieben
nun selbst die Fürstenschulen, obwol ihr Eifer für die Alten ein fast aus-
schlieszender zu sein schien, keineswegs fremd. Hatte doch schon 1684
unter den Alumnen in Meiszen ein Tflanzorden' zur Pflege deutscher
Poesie sich gebildet, unstreitig eine Nachahmung der groszen poetischen
Genossenschaften jenes Jahrhunderts.11) Im J. 1712 hatte ein Alumnus
der Schulpforta ein so vorzügliches deutsches Gedicht geschrieben, dasz
der ehrliche Gerber in seinen 'Unerkannten Wolthaten Gottes in Sach-
sen' mit wahrem Enthusiasmus davon zu reden sich gedrungen fühlt. 12)
Im J. 1740 konnte der schon genannte Gonrector Höre in Meiszen cEdle
Früchte deutscher Poeten, erste Probe' herauszugeben sich entschlieszen,
eine zunächst doch für die Jugend bestimmte Anthologie.13) Manche
Schulmänner gewannen wol selbst als deutsche Dichter in weiteren Krei-
sen Ansehn, wie der Rector Wenzel in Altenburg und Zittau (f 1723),
dessen Gedichte in mehreren Sammlungen (Lorbeerhayn 1700, Cypressen-
wald 1701, Altenb. Rosengebüsch 1719) erschienen sind und gewis auf
9) Ludovici, Schul-Historie III S. 113. ,
10) Heeren a. a. O. S. 17 f.
11) Müller, Geschichte der Fürsten* und Landschule in Meiszen
. 41 f.
12) II 245 ff.
13) Müller a. a. O. II S. 138.
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540 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwickelung unserer Litteratur
die unter seiner Leitung stehende Jugend manigfach anregend gewirkt
haben. Kein Wunder, wenn die Lust zum Versemachen Viele in das
spätere Leben begleitete. Gellert*s Vater erquickte sich noch in seinem
mühevollen Predigtamte zu Hainichen an der Poesie, und die Gedichte, die
er selbst schrieb , mögen doch wieder für seinen Sohn der erste Anlasz
geworden sein , dasz er , als Knabe von dreizehn Jahren und vor seinem
Ein tri ttt in die Fürstenschule zu Meiszen, als Dichter sich versuchte.14)
Aus solchen von der Schule gekommenen Antrieben durfte auch die Ent-
stehung der 'görlitzer poetischen Gesellschaft' in Leipzig (1697) zu erklä-
ren sein , die später als 'deutsche Gesellschaft' unter Gottscheds Leitung
eine so eigentümliche Bedeutung für unsere Litteratur erhalten sollte.15)
Wiefern die im weitern Umkreis sich erhaltende Schulkomödie
, weckend und bildend auf die jungen Geister gewirkt hat , ist schwer zu
bestimmen. Fort und fort drängte sich auch sehr Geschmackloses in den
Vordergrund; ernste Männer beklagten und rügten immer wieder, dasz
durch die scenischen Aufführungen den eigentlichen Schulstudien so viel
kostbare Zeit entzogen und die Sittlichkeit der Jugend groszen Gefahren
ausgesetzt werde. In manchen Fällen verirrte man sich zu wahrhaft kin-
dischen Thorheiten , wie z. B. , wenn in Arnstadt 1705 von den Alumnen
der hochgräflichen Landschule rdie Klugheit der Obrigkeit in Anordnung
des Bierbrau ens' in Scene gesetzt wurde. '*) Aber auch die Abmahnun-
gen, welche aus pietistischen Kreisen kamen, und selbst Verbote der Re-
gierungen blieben ohne durchgreifende Wirkung.17) Die Schulkomödie
war beliebt beim Volke, das ja sonst in solcher Beziehung selten etwas
Rechtes sich geboten sah, und auch die Geldeinnahme der unmittelbar
dabei Beteiligten kam allezeit mit in Rechnung. Anziehend müste es nun
sein , zu ermitteln , wie die Schulkomödie, früher doch in einem ziemlich
scharf abgegrenzten Kreise sich bewegend , immer entschiedener mit dem
kunstvolleren Drama der Zeit in Zusammenhang getreten ist. Wie man
bald nach dem Ende des dreiszigjährigen Krieges in Schlesien Dramen von
Gryphius und Lohenstein auf Schultheatern zur Aufführung gebracht
hatte , so bemühten sich auch wieder regsamere Schulrectoren , die Dra-
men, welche sie selbst für ihre Schüler schrieben, in eine höheren An-
forderungen entsprechende Form zu bringen. Die zahlreichen dramati-
schen Arbeiten von Christian Weise stellen eine in mancher Beziehung
doch sehr anerkennen swerthe Ausgleichung beider Richtungen dar. Es
ist darum auch erklärlich, dasz Weise's Leistungen, obwol zunächst nur
für seine Schule berechnet und unter groszem Geschäftsdrange meist in
groszer Eile hingeworfen , weit umher Beifall fanden und besonders gern
auf den Schultheatern aufgeführt wurden. Für die sächsischen Schulen
wäre dies wol durch eine ganze Reihe von Thatsachen zu beweisen ; es
kann aber genügen , an die Eindrücke zu erinnern , welche durch Auffüh-
14) Cramer, Geliert's Leben (Leipzig 1774) S. 10.
16) Danzel, Gottsched und seine Zeit S. 79 f.
16) Henneberger im Deutschen Museum 1856, Nr. 48.
17) Gegen die Schulkomödie erklärte sich sehr bestimmt auch G.
Arnold in seiner Schrift: Woleingerichteter Schulbau, 1711.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 541
rung Weisescher Stücke in Chemnitz ebensowol der junge Heyne als der
gerade in der Geschichte 'der dramatischen Poesie später bedeutend ge-
wordene Chr. Felix Weisze empfangen hat. !8) Was der Letztere bei Dar-
stellung einer biblischen Komödie des berühmten Rectors gesehen hatte,
das 'brachte ihm eine solche Lust bei nach Allem, was Theater hiesz, dasz
seitdem selbst eine Marktschreierbühne mit dem Doctor und Hanswurst
für ihn ein groszes Interesse hatte und er begierig Alles aufsuchte und
las, was eine Komödie hiesz.9 Dieses Vergnügen an der Komödie aber
und die damit rasch sich entwickelnde Neigung für die Dichtkunst über-
haupt öffnete ihm den Sinn für die Schönheiten der griechischen und
römischen Dichter, die er dann in mancherlei Art nachzubilden sich be-
mühte. Als Gottsched auf dem Gebiete der Litteratur zur Geltung eines
Dictators gekommen war , fanden natürlich auch seine dramatischen Ar-
beiten Zugang zu den Schulen. Unter den sächsischen Rectoren waren
Baumeister in Görlitz, Gerlach in Zittau und Richter in Annaberg be-
sonders treue Anhänger Gottsched's, welche daher auch vor seinen kunst-
mäszigeren Werken die Schulkomödie nach altem Zuschnitt fast ganz zu-
rücktreten lieszen.
Inzwischen hatte doch auch der Unterricht in deutscher
Grammatik und Stilistik einige Sicherheit gewonnen. Dasjenige
freilich, was schon im 17. Jahrhundert für die deutsche Grammatik, und
gerade von Schulmännern geleistet worden war10), scheint keinen allge-
meineren Einflusz geübt zu haben ; aber die Notwendigkeit , Gesetz und
Brauch der Muttersprache zu zeigen und dadurch zu den seit längerer
Zeit betriebenen poetischen Uebungen eine Ergänzung zu schaffen , em-
pfanden allmählich alle strebsameren Pädagogen. Der Rector Grosser
in Görlitz erklärte gleich beim Antritt seines Amtes (1695), dasz in sei-
nem Gymnasium neben dem Lateinischen und Griechischen auch das Deut-
sche gründlich getrieben werden solle ; er berief sich dabei auf Cicero's
Autorität, der ja auch (nach Off. II) für sehr nötig gehalten, neben dem
Griechischen seine Muttersprache zu üben; die Hypothesis mancher Critici
aber, dasz sich das Deutsche bei einem geborenen Deutschen von selber
gebe, wollte er nicht gelten lassen, und überdies meinte er, dasz die
Rücksicht auf die Erfordernisse des bürgerlichen Lebens dazu anleiten
könne , bei manchen Subjectis das Deutsche wol noch sorgfältiger als das
Lateinische und Griechische zu excolieren.20) Sehr verständig hat sich
auch Grosser' s Zeitgenosse Gottfried Ho ff mann in Zittau, wie jener ein
Schüler Christian Weise's , über deutschen Unterricht ausgesprochen.21)
In Annaberg hatte man unter dem Rector Clodius (1731 — 40) für die
18) Ueber den Ersteren Heeren a. a. O. S. 24; über den Anderen
seine Selbstbiographie 8. 7 f.
19) K. v. Räumer in seines Vaters Geschichte der Pädagogik III 2.
20) 'Ausführlicher Entwurf der im Görlitzer Gymnasio eingerichte-
ten Methode.'
21) In seinem trefflichen Buche: Das Zittauische Die cur hie und
hoc age, d. i. ausführlicher Bericht von denen im Zittauer Gymnasio
verordneten Lectionibus. Zittau 1709. 4,
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542 Das Verhältnis der Gymnasien Mir. Ent Wickelung unserer Litteratur
dritte Ciasse Dictate deutscher Stöcke zur Einübung der Orthographie,
für die oberen Glassen Uebersetznngen ins Deutsche , selbst Nachbildung
horazischer Satiren, in Versen; die eigentlich poetischen Uebungen, in
denen Günlher's Gedichte als Musterstücke benutzt wurden, waren in die
Privatstunden verwiesen.*3) Die Leipziger Schulordnung von 1723 ordnete
an , dasz in den beiden obern Glassen nächst der lateinischen , der grie-
chischen und der hebräischen Sprache sonderlich die deutsche im Reden
und Schreiben mit den Knaben vorgenommen und sie auch hierin bei Zei-
ten wol unterrichtet werden sollten.23) Es versteht sich nun von selbst,
dasz immer entschiedener auch bei den Redeacten der Gymnasien das
Deutsche zur Geltung gelangte. Schon im J. 1698 hatte der Rector Rei-
mann am Martineum in Halberstadt bei einem zweitägigen Actus an dem
einen Tage vier Schüler auftreten lassen , welche in hebräischen , griechi-
schen, lateinischen und deutschen Versen eben diese Sprachen zu preisen
hatten, worauf am folgenden Tage ebenso viele Redner dieselben Sprachen
in Prosa verherlichten , um schlieszlicli einem fünften Redner Platz zu
machen, der das Studium der deutschen Sprache seinen Commili tonen
angelegentlichst empfehle.24) Von dem Rector Win hold in Zwickau
konnte 1717 gerühmt werden, dasz er seine Scholaren zierliche deutsche
Reden halten lasse, was mehr Nutzen habe, als wenn sie viel lateinische
oder griechische oder hebräische Reden hielten.25) Von groszer Bedeu-
tung auch für die Schulen konnte Gottsched* s f Grundlegung einer
deutschen Sprechkunst* (1748) werden. Dasz bei diesem Unterrichte fort-
während Vieles dürftig und unbeholfen blieb, ist ohne Weiteres anzu-
nehmen26); wie man um 1740 am Lyceum in Wernigerode die stilistischen
Uebungen eingerichtet hatte, macht bis ins Einzelne dasjenige anschau-
lich, was Pröhle aus einer damals für jene Anstalt veröffentlichten Me-
thodologie mitgeteilt hat.27) Die Wirkung konnte doch nicht ausblei-
ben, dasz die Schüler auf Gesetz und Schönheit ihrer eigenen Sprache
aufmerksam wurden, und für das, was sie selbst in dieser Sprache sehrie-
ben, ein schärferes Bewustsein des Zulässigen gewannen. Der Einflusz
solcher Bestrebungen wird doch auch in der Schriftsprache jener Zeit
mehr und mehr bemerkbar, und wenn auch gewis anzuerkennen ist, dasz
die reinere, edlere, leichtere Prosa, welche um die Mitte des Jahrhunderts
in den Werken der Litteratur gewöhnlicher wird, zu einem groszen Teile
auf andere Einwirkungen zurückzuführen ist, so wird man einiges Ver-
dienst dabei doch immer für die Schule in Anspruch nehmen dürfen.
Vergessen wir aber ein Verdienst besonderer Art nicht, das die
Schulen jener Zeit mittelbar um die höhere Entwicklung der Litteratur
22) Spiesz, Unterrichtsweise des Lyceums zu Annaberg (Annaberg
1856. 4.) S. 13.
23) Stallbaum, Die Thomasschule in Leipzig (1839. 8.) S. 45.
24) Siderer, Geschichte des Halb. Martineums (1845. 4.) S. 20 ff.
26) Gerber a. a. O. II S. 813 f.
26) Ueber Grimma vgl. Palm De pristina illustris Moldani disci-
plina (1840. 4.) p. 24.
27) In seinem Programm: Gleim auf der Schule S. 6 f.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 543
sich erworben haben: sie haben der Jugend zu freierer Entwickelung des
individuellen Lebens einen gröszeren Spielraum und zu produktiver Thä-
tigkeit mehr Zeit und Kraft übrig gelassen, als dies ihnen nach den Ein-
richtungen der Gegenwart möglich sein wurde. Die Zahl der Lehrgegen-
stände und der Unterrichtsstunden war verhältnismäszig gering, die
Anforderungen an den Fleisz der Schüler konnten billige genannt wer-
den, kirchlicher Brauch und locale Verhältnisse gaben manche nicht un-
erwünschte Unterbrechungen im gewöhnlichen Gange des Schullebens;
leicht also konnte eine strebsame Natur, wenn sie einmal zu freierer Thä-
tigkeit angeregt war, dieser mit unverkümmerter Lust sich hingeben, und
wie es leichter war, in die Privatlectüre der Classiker mit einer gewissen
Harmlosigkeit, ja mit innigem Behagen sich zu vertiefen, so fand sich
auch zu selbständiger Production, nach Umständen ausreichende Möglich-
keit. Es konnte freilich geschehen, dasz trägere Geister bei solcher
Schulpraxis nur dürftige Kenntnisse sich erwarben ; aber wer seine Zeit
benutzen , seine Kraft üben wollte , der konnte bei aller Armseligkeit der
Lehrmittel etwas vor sich bringen und zu einer Selbständigkeit in Arbei-
ten und Schaffen kommen , deren Bedeutung ihm sich vielleicht erst dann
ergab , wenn die Ueberraschung seiner Umgebungen über das , was er zu
leisten vermochte , zu einer Ueberraschung für ihn selbst wurde. Jeden-
falls konnten auch in dieser Beziehung unsere Schulen bei Vielen frische
Empfänglichkeit für tüchtige Leistungen auf dem Gebiete der Litteratur
entstehen lassen, und wo sie Empfänglichkeit nicht weckten, tödteten
sie doch nicht die vorhandene, weil sie die jungen Geister mit dem,
was sie gaben, nicht überfüllten, nicht überreizten. Zuweilen lhaten sie
zu wenig; aber die Jugend ergänzte schon.
So haben wir die Momente zusammengefaszt, welche eine Beantwor-
tung der Frage zu enthalten scheinen, wiefern überhaupt ein Einflusz der
Gymnasien auf die Entwickelung unserer classischen Litteratur möglich
gewesen sei. Obwol nun ohne Weiteres zuzugeben ist , dasz noch ganz
andere Factoren haben wirksam werden müssen, um unsere vaterländi-
sche Litteratur zu so reicher und glänzender Entwickelung zu bringen :
so wird man doch in keinem Falle verkennen dürfen , dasz auch jene Mo-
mente von Bedeutung gewesen und bei eingehender Schätzung stark mit
in Rechnung zu bringen sind. Dies ergibt sich, wenn man genauer zu
ermitteln sucht , was die Repräsentanten jener Entwickelung den Schulen
zu verdanken gehabt haben.
Man könnte aber' die bedeutenden Vertreter unserer Litteratur, wenn
die Vorbildung in Betracht kommt , welche sie durch die Schule gewon-
nen haben, in drei Glassen bringen. In der ersten Glasse würden die be-
rühmten Zöglinge der Fürstenschulen zu vereinigen sein; in der zweiten
lieszen sich die unter dem Einflüsse des Pietismus Gebildeten zusammen-
stellen; in die dritte würden die aus besseren Stadtschulen Hervorgegan-
genen gehören. Es ist hierbei kaum nötig , die dreierlei Anstalten , von
denen die Rede ist, ausführlicher zu charakterisieren. Haben wir bei den
Fürsten schulen eine ganz entschieden humanistische, den Neuerungen ab-
holde, vorzugsweise auf formale Bildung gerichtete Unterrichtsweise, so
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v
544 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwicklung unserer Litteralor
tritt uns bei den Pietistenschulen einerseits ein Hinwirken auf Erregung
frommer Gefühle, andererseits eine gewisse Vorliebe für das Realistische
entgegen, während die Stadtschulen wieder, nicht ohne mancherlei Schwan-
kungen zwischen jenen und diesen, in der jtfitte sich halten, und zum
Teil experimentierend und neuernd dem Bedürfnisse weiterer Kreise zu
genügen suchen.
Es ist nun nicht zu leugnen, dasz die Fürstenschulen für unsere Be-
trachtung stark in den Vonlergrund treten. Was ist nicht schon mit dem
Einen gesagt, dasz in Schulpforte Klopstock, in St. Afra Lessing gebil-
det worden ist ! Aber wir wollen uns doch auch nicht zu der Annahme
verleiten lassen, dasz der Unterricht dieser ehrwürdigen Anstalten damals
ein vorzüglicher gewesen sei. Vielmehr war die Behandlung der classi-
schen Schriftsteller wenig anregend und bildend. Man liesz Historiker,
Redner und Dichter gleich mechanisch übersetzen und gieng wenig auf
Gehalt, Geist und Eigentümlichkeit der einzelnen Autoren ein; als Haupt-
sache galt Imitation in Prosa und in Versen. Wenn nun auch nicht zu
leugnen ist , dasz fähigere Köpfe es darin weit brachten , so war doch
sicher bei <len Meisten der Gewinn an feinerer Geschmacksbildung
ziemlich zweifelhaft. Die Pflege deutscher Sprache und Litteratur war
noch fast gänzlich ausgeschlossen, und die Beschäftigung der Schüler mit
Werken deutscher Dichter konnte nur eine verstohlene sein. So urteilt
über die Zustände in Meiszen C ramer (im Leben Geliert's S. 12 f.).
Sehen wir, was bei solcher Bildungsweise dennoch sich ergab.
Da mag zuerst an die Fürstenschüler Geliert, Raben er, Gärt-
ner, J. E. Schlegel erinnert werden; aber es genügt für unseren
Zweck , den Ersten als Schüler von St. Afra , den zuletzt Genannten als
Zögling der Schulpforte etwas genauer zu betrachten. Was nun Geliert
anlangt, so wird man sagen dürfen, dasz er durch seine humanistischen
Studien zwar nicht ein tieferes Verständnis des classischen Altertums,
wol aber jene Sauberkeit und Gefälligkeit des Stils gewonnen habe, die
mehr oder weniger Alles , was er geschrieben hat , auszeichnet. Er war
übrigens in Meiszen der sanfte, weiche Jüngling nicht, als den man sich
ihn nach demjenigen, was er später gezeigt hat, denken könnte: er hat
sogar durch schroffes Auftreten in schwere Strafe sich gebracht. Uebri-
gcns trug er kein Bedenken, von den verbotenen Früchten deutscher
Poesie zu naschen : neben den Gedichten von Neukirch und Hanke las er
auch die des unglücklichen, in Elend untergegangenen Günther, und diese
Leetüre machte, nach seinem eigenen Geständnis, aus seinem Geiste einen
feuerspeienden Aetna , der alle um ihn her liegenden gesunden Gegenden
verwüstete und die in seiner Seele aufkeimenden Pflanzen von Vernunft
in Asche verwandelte. — Ungleich höher erhob sich als Schüler J. E.
Schlegel. Schon unter des Vaters Leitung in seiner Geburtsstadt Meiszen
mit altclassischer Litteratur und deutschen Dichtern (Neukirch und Hanke
auch hier bewunderte Vorbilder) bekannt geworden, wagte er in Schul-
pforte sich rasch an Nachbildung antiker Muster in deutscher Form. Von
den lateinischen Dichtern fand er rasch den Uebergang zu den griechi-
schen; im Verkehr mit Euripides wurde er selbst ein dramatischer Dichter.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 545
Bekanntlich schrieb er damals bereits eine Hecuba und (nach der tauri-
schen Iphigenia) die Geschwister in Taurien; ein drittes Trauerspiel,
Dido, war unstreitig aus der Aeneide hervorgewachsen. Ein feuriger
Jüngling , obwol äuszerlich von gemessenem Ernste , arbeitete er mit der
liebenswürdigsten Begeisterung und gosz die Verse zu Hunderten wie in
vollem Strome hin ; aber er übte auch wieder die äuszerste Strenge gegen
sich, indem er bei erneuter Durcharbeitung ganze Beihen seiner Verse
strich oder umbildete. Kein Wunder, dasz er der Liebling seiner Mit-
schüler war , die seine dramatischen Versuche mit Enthusiasmus aufnah-
men und, aller Aufsicht zum Trotz, in einer einsamen Zelle bei dürftigen
Decorationen und in sehr unscheinbarem Gostüm aufführten. Als Schle-
gel 1739 nach Leipzig kam, um unter Gottscheds Leitung sich zu stellen,
hatte er vom Wesen der antiken Tragödie und der Tragödie überhaupt
wahrscheinlich schon eine viel richtigere Ansicht als sein Meister, der
vor französischen Vorbildern sich beugte.
Um dieselbe Zeit aber, wo Schlegel die Schulpforte vqrliesz, trat
Klop stock in sie ein. Im Verkehre mit den groszen Epikern der Alten
bildete sich hier der Sänger des Messias. Aber er widmete den Glassikern
überhaupt ein sehr eingehendes Studium,
jenen alten Unsterblichen,
deren dauernder Werth , wachsenden Strömen gleich,
jedes lange Jahrhundert füllt.
Ein Jüngling, in welchem Kraft und Zartheit, Zutraulichkeit und Vorsicht,
tiefes Gemüt und ein fast priesterlicher Ernst wunderbar sich verbanden,
machte er auf seine Umgebungen den Eindruck, dasz in ihm etwas Ge-
heimnisvollgroszes reife. Was die Schule im Besondern dazu beitrug, dasz
dieses Beifen mit voller Sicherheit gelang, läszt sich wol nicht ausreichend
bestimmen ; aber wir wissen doch , dasz auch für ihn lateinische Vers-
übungen und die daran sich schlieszenden Versuche in deutscher Sprache,
die unstreitig den antiken Musterformen sich näher hielten, als sonst zu
jener Zeit Nachahmungen solcher Art, eine gute Vorbereitung gewesen
sind und viel dazu beigetragen haben, dasz Klopstock später als Lyriker
und als Epiker das Schöne antiker Formen zu so ausgedehnter Anerken-
nung bringen konnte. Aber ein so kräftiger Geist, wie der seinige war,
entwickelt sich auch bei unvollkommenen Anregungen sicher und stetig
und ergreift auch das zufällig Nahegebrachte mit freiem und groszem
Sinne. Wer vermöchte jene eigentümliche Verbindung christlich-frommer
Begeisterung und deutsch-patriotischer Erhebung, die in dem von der
Schulpforte scheidenden Klopstock bereits sich vollendet* hatte, auf directe
Einwirkungen seiner Lehrer zurückzuführen?
Und wieder ein völlig anderes Arbeiten und Streben bietet sich uns
dar, wenn wir, nach St. Afra zurückgekehrt, inLessing's Zelle treten.
Aber wir verzichten hier auf die Charakteristik des in lebendigster Thätig-
keit so schnell über das ihn Umgebende emporwachsenden Jünglings, um
nicht unwillkürlich in dasjenige hineinzugerathen, was so oft schon dar-
gestellt ist.
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546 Das Verhältnis der Gymnasien zur Eni Wickelung unserer Litteratur
Wir haben ja weiter noch von den Zöglingen der Pielistenschulen
zu reden. Da gebührt nun wol dem Hallischen Waisenhause die vorzüg-
lichste Aufmerksamkeit. Wir wissen, dasz der heilige Ernst, der unter
A. H. Francke durch die weiten Räume der mit bewundernswürdiger Um-
sicht und herlicher Glaubenskraft geschaffenen Anstalt waltete, unter
seinen Nachfolgern zum Teil in trübe Aengstlichkeit und lähmende Pein-
lichkeit übergieng; aber es konnte doch auch so noch Gutes geschehen bei
der Manigfaltigkeit des Unterrichts und der Leitung, die für Manches ent-
schädigte, Anderes milderte, dem individuellen Bedürfnis Einzelnes bot,
was an sich nicht erwartet werden konnte.
Was Ramler in Halle für seine spätere Thäligkeit gewonnen hat,
läszt sich wol nicht genauer sagen ; doch ist anzunehmen , dasz der Un-
terricht des Waisenhauses durch die metrischen Uebungen, die gefordert,
und durch die Nachahmungen, die so möglich gemacht wurden, viel dazu
beigetragen , ihn zu einem so sichern Kenner antiker Metrik zu machen
und seinen Dichtungen jene Reinheit der Form zu geben, welche seine
Zeitgenossen auch dann bewunderten, wenn die Gedichte sie kalt lieszen.
Aber das Waisenhaus hat zwei Jahrzehnte später auch den in so ganz
anderer Richtung denkenden Bürger gebildet, diesen so volkstümlichen
und die stärksten Gefühle mit so leidenschaftlicher Offenheit aussprechen-
den Dichter. Wie derselbe als Zögling des Pädagogiums im Waisenhause,
ungehemmt durch die Aengstlichkeit des Inspektors, die Vorschule zu
einem die Schranken des von Kirche und Sitte Geheiligten so kühn durch-
brechenden Dichterlebens gehabt bat, ist bekannt; zunächst freilich ver-
söhnte er noch durch den Anschlusz seiner poetischen Versuche an Klop-
stock's Messias mit manchen gewagten Neuerungen den Inspector , dem
doch selbst Klopstock's Orthodoxie etwas verdächtig war.28) Und wie
ist nun Bürger's Altersgenosse und Mitschüler von Göckingk unter
demselben Einflüsse auch wieder ein so ganz anderer geworden !
Im diesem Zusammenhange ist noch des berühmtesten Schulers, den
das stille Klosterbergen gehabt hat, Wieland' s, zu gedenken. Der
unter der Leitung eines pietistischen Vaters früh reifende Wieland hat
bekanntlich schön als Knabe von neun Jahren, lateinische und deutsche
Verse gemacht ; in seinem dreizehnten Jahre war er mit Virgii und Horaz
bekannt geworden, hatte er Gottscheds Dichtkunst studiert, an der from-
men Lehrdichtung von Brockes sich erfreut, den Plan zu einem Epos
edas zerstörte Jerusalem' entworfen. Als Zögling von Klosterbergen
unter den Einflusz des frommen Abtes Steinmetz gestellt, erhielt er ne-
ben den Studien, zu denen sein unersättlicher Wissensdurst ihn führte,
und unter den Aufregungen seines Gemüts, die teils hieraus, teils aus
den gehäuften Andachtsübungen der Anstalt sich ergaben, zu poetischen
Versuchen manigfachen Antrieb durch den Unterricht selbst, wie ein noch
vorhandenes Schulheft von ihm (aus dem Sommer des J. 1748) bis in das
28) Daniel, Bürger auf der Schule (Halle 1845. 4.) S. 20—22.
Vgl. Pröhle, G. A. Bürger, sein Leben und seine Dichtungen. Leip-
zig 1866. 8.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 547
Einzelnste erkennen läszt. 29) Er gewann damals schon jene ganz auszer-
ordentliche Leichtigkeit in Handhabung der poetischen Formen, die seine
Zeitgenossen an ihm bewunderten. Die ganze erste Periode seiner poeti-
schen Thätigkeit — man hat sie die seraphische genannt — läszt die
Nachwirkung der frommen Erziehung, die er empfangen hatte, erkennen,
aber auch den plötzlichen Umschwung ahnen, den seine vor Steinmetz
verborgen gehaltene Leetüre französischer Poeten und Philosophen auch-
schon vorbereitet hatte.
Unter den Schulen der dritten Art, den städtischen Gymnasien, tref-
fen wir da und dort solche, welche eine ausgedehntere Beachtung der
vaterländischen Sprache und Poesie sogar als Aufgabe ansahen. Lassen
wir zuletzt auch aus diesem Kreise einen Repräsentanten hervortreten,
den liebenswürdigen Gieim. Die Oberpfarrschule in Wernigerode, die
ihn von 1734 — 38 unter ihre Schüler zählte, hatte gerade damals unge-
mein zahlreiche und manigfaltige, poetische Uebungen: neben denen in
lateinischer Sprache regelmäszig auch deutsche, nur nicht so, dasz man
auch im Deutschen antike Versmasze nachgebildet hätte, aber sonst sehr
verschiedene Metra , auch Bilderreime , Akrosticha , Chronosticha , Frage-
reime, Anagramme und andere Spielereien. Welche Liebe für Anakreon
und Horaz der junge Gleim damals in sich entwickelte, braucht nur flüch-
tig angedeutet zu werden, und keinem Zweifel unterliegt es, dasz er als
Schüler schon zu jener leichten, behaglichen, gutmütigspielenden Art des
Dichtens kam, die ihm unter den Anakreontikern unserer classischen Lit-
teraturperiode eine gesicherte Stellung verschafft hat. Aber freilich hat
Gleim durch alle Beschäftigung mit der antiken Poesie niemals eine tie-
fere Einsicht in dieselbe gewonnen, und so ist ja auch in seinen späteren
Nachahmungen alter Dichter von deren Geiste kaum ein Hauch zu spü-
ren. Nichtsdestoweniger wird Gleim in der Geschichte unserer Littera-
tur allezeit mit Teilnahme genannt und eine immerhin bedeutsame Ent- .
Wickelung dieser Litteratur mit seinem Namen in enge Verbindung gesetzt
werden. Hatte ihn das Spiel mit so manigfachen poetischen Formen,
welches die Schule ihn treiben lehrte, die Energie nicht gewinnen lassen,
welche poetische Vertiefung macht und wiederum zu freierem Auf-
schwünge befähigt; so hatte er dafür etwas Anderes gelernt: durch die
Poesie das Leben zu verschönen und zu beglücken, sein ganzes langes
Leben in Poesie zu verwandeln. — Wie Uz als Schüler des Gymnasiums
in Ansbach durch die Beschäftigung mit Anakreon und Horaz zum Dichter
geworden ist , wollen wir hier eben nur berühren.
Es versteht sich übrigens von selbst, wie sehr die Schüler der städti-
schen Gymnasien dadurch noch für eine freiere Bildung Anregung und
Nahrung erhalten konnten , dasz sie in vielfachem Zusammenhange mit
dem litterarischen Leben der sie umgebenden und in den Schulen gern
auch ihre Mittelpunkte erkennenden Kreise standen.30)
29) S. Ho che' s Mitteilungen über ein Schulheft "Wieland's, Neue
Jahrbücher 88, 253 ff.
30) Für einen interessanten Fall zeigt dies Knothe in seinem Pro-
gramm: K. F. Kretschmann, der Barde Kingulph (Zittau 1858. 4.) S. 2 f.
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548 Das Verhältnis der Gymnasien zur Ent Wickelung unserer Litteratur
Aber es ist Zeit, dasz wir zu der anderen F?age, die uns hier be-
schäftigen musz, übergehen und uns deutlich zu machen suchen, wie
unsere Gymnasien durch die Entwickelung der Litteratur in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts bestimmt worden sind. Wir werden uns
natürlich auch hier auf Andeutungen zu beschränken haben.
Zunächst ist nun freilich von den Gegenwirkungen und Hemmungen
zu reden , welche ziemlich lange noch die Litteratur in den Schulen er-
fahren hat. Die hervorgebrachten Nethoden hatten für das Neue keine
Stelle ; religiöse und sittliche Bedenken wirkten mit ein ; die Erneuerung
der classischen Studien durch Gesner und Ernesti empfahl gerade den
strebsamsten Schulmännern so energisch die alte Litteratur, dasz ihnen
für die des eigenen Volkes nicht viel Teilnahme übrig blieb. In den
sächsischen Fürstenschulen war lange durch strenge Gesetze das Lesen
'deutscher Bücher' verpönt und auch dadurch niedergehalten , dasz mit
solcher Begriff und Vorwurf unwissenschaftlichen Sinnes sich verband.
Man duldete später Klopstock , Rabener und Geliert ; aber man gestattete
auch den reiferen Schülern nur mil Zögern die Beschäftigung mit Lessing's
Werken und mit dem Besten, was man von Goethe besasz, und es konnte
vorkommen , dasz ein Lehrer beim Unterricht in der Geschichte sorgfal-
tiglich vor den Schülern seine Bekanntschaft mit Schiller's Jungfrau von
Orleans zu verbergen suchte , weil er in den Verdacht der Zeitverschwen-
dung und der Ungründlichkeit zu kommen fürchtete. Wie Schiller's Räu-
ber den Grimmensern zunächst nur in einer mühsam gefertigten Abschrift
zugänglich wurden , welche Aufregung in die jungen Geister durch die
plötzlich vermitlellte Bekanntschaft mit dem Wallenstein, mit Maria Stuart
mit der Jungfrau von Orleans geworfen wurde , wissen wir aus deu Auf-
zeichnungen von Baumgarten-Crusius.81) Beachtens werth ist übri-
gens, dasz der Brief , in welchem' der junge Baumgarten-Crusius seine
Teilnahme für die neue Litteratur und die gewaltigen Umwandlungen
seiner Zeit ausspricht, in einem ganz vorzüglichen Deutsch geschrieben
ist und ein sehr gutes Zeugnis für die Schule ablegt, die er durchgemacht
hatte. Auch wollen wir nicht verschweigen , dasz in Grimma 1797 durch
den Bector Mücke eine deutsche Lesebibliothek für die Alumni begründet
worden war.82)
Wo Schulmänner zu Anerkennung der vaterländischen Litteratur
und zu Berücksichtigung derselben auch beim Unterrichte sich bestimmen
lieszen, traten doch auch wieder sehr wunderliche Dinge zu Tage. In
Rastenburg wurde 1765 von der Schule aus bekannt gemacht: f Damit
auch die grösten Dichter in unserer Muttersprache unserer Jugend nicht
gänzlich unbekannt bleiben möchten, so hat Rector einige lehrreiche Ge-
dichte des wellberühmten Baron von Ganitz , des Freiherrn von Haller,
des Herrn von Hagedorn und des preuszischen Dichters Herrn Prof. Bock
31) Leben des Rectors Baumgarten-Crusius, nach den von ihm hin-
terlassenen Mitteilungen zusammengestellt von seinem Sohne (Oschatz
X853. 8) S. 33 ff.
32) Palm p. 24.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 549
unvergleichliches Gedicht «die Furcht vor Gott, das gröste Grundgesetz
der Thronen» auswendig lernen und hersagen lassen.'33) Aber im J. 1772
(unter einem neuen Rector) ist von solcher Concession nicht mehr die
Rede. — Der Rector Bauer in Hirschberg (1767 — 99), ein Schüler
Ernesti's , kam über Haller und Geliert eigentlich nie hinaus. Er kannte
zwar auch Lessing's Werke und liesz sogar Dramen desselben in seiner
Schule auffuhren , aber in seinen Schriften, wenn auch ohne Nennung des
Namens, polemisierte er gegen ihn und konnte sich nie in seine Ansichten
vom Drama finden. Klopstock war ihm zu überspannt und dunkel,
Wieland und Goethe aber verabscheute er geradezu und nannte sie ge-
legentlich Narren; besonders widerwärtig waren ihm Werther's Leiden.
Und doch machte er selbst deutsche Gedichte, und noch 1795 konnte es
geschehen, dasz die Universität Wittenberg ihn als Dichter krönte.84)
Anders freilich stellte sich die Jugend zu dem Neuen. 'Wenn in
einem Zeitalter eine neue Sonne durchbricht, reflectieren die jungen Leute
immer am lebhaftesten ihre Strahlen.9 Es wäre nun wol ein lohnendes
Geschäft darzustellen, wie die groszen Dichter jener Zeit auf unsere
Jugend im Allgemeinen wirkten; aber wir dürfen hier uns nur darauf
beschränken, zu den nach dieser Seite schon gemachten Bemerkungen
noch einige Ergänzungen zu fügen. Kaum zu ermessen ist der Einflusz,
den Klopstock auf dje Jugend ausgeübt hat. Beschränkter war die Gel-
tung Wieland's, da diesem mit gutem Rechte auch die Wachsamkeit der
Erzieher und Lehrer entgegenarbeitete; wie dem jungen F. A. Wolf sein
Rector Wieland's Musarion aus der Hand schlug , erzählen seine Biogra-
phen.35) Viele strebsamere Geister zog Lessing an; die Kühnheit seiner
Gedanken, die Originalität seiner Leistungen , die Wahrhaftigkeit seines
ganzen Wesens wirkten unwiderstehlich. Wir wissen, mit welcher Be-
wunderung der junge Friedrich Jacobs und sein Freund Georg Schatz zu
Lessing emporschauten.36) Was soll ich nun von den Wirkungen sagen,
die Goethe's Götz und Werther hervorriefen , oder von dem Eindrucke,
den Schiller's erste Dramen machten!87) Man brauchte da durch beson-
dere Veranstaltungen nicht nachzuhelfen, und als ein seltsamer Einfall
konnte es gelten, dasz Gleim sein Buch Halladat hundertfach an Schulen
verschenkte. Kleine Vereine von Schülern zu verstohlenem Genüsse oder
auch zu emsiger Nachbildung des von den groszen Meistern Dargebotenen
mag es an vielen Orten gegeben haben; bestimmtere Nachrichten aber
über solche Bestrebungen hat nur in seltenen Fällen der Zufall uns er-
33) Heinicke, Zur ältesten Geschichte des GymnasiumB in Rasten-
burg (1846. 8.) S. 59.
34) Dietrich, Zur Geschichte des evangelischen Gymnasiums in
Hirschberg (1862. 4) S. 17 f.
35; Arnoldt, F. A. Wolf I S. 14.
36) Ja c ob's Personalien S. 19 f. S. 336 f.
37) Vgl. Köpke, Ludwig Tieck I S. 6 f. 31 f. Goethe's Werther
fand selbst bei den Jesuitenschulen in Dillingen Eingang. Christoph
v. Schmid, Erinnerungen aus meinem Leben (Augsb. 1863) I S. 122 f.
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 11. 38
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550 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwickelung unserer Lilteratur
halten.88) Dabei konnte es indes immer geschehen, dasz selbst sehr be-
gabte Schüler, und in bedeutenderen Städten, noch am Ende des Jahr-
hunderts von den gröslen Leistungen unserer Dichter nichts erfuhren.
Kohlrausch bekennt, dasz er während seiner Schuljahre in Hannover
(bis Ostern 1799) nichts von Schiller oder Goethe gelesen und erst in
Göttingen mit des Letzteren Tasso bekannt geworden, nun aber auch
sogleich den mächtigsten Eindruck erhalten.39)
Es war kein Wunder, wenn, ganz besonders unsere dramatische
Poesie, die seit Lessing so energisch sich entwickelte, die jugendlichen
Geister in Anspruch nahm. Und diese wirkte nun auch noch dadurch
auf das Gesamtleben der Schulen ein% dasz sie da, wo man scenische Dar-
stellungen noch nicht aufgeben mochte, die zum Teil so thörichten Schul-
komödien nach altem Schnitt verdrängte und die Leistungen wirklicher
Dichter dafür zur Geltung brachte. Die Geschichte des Schul thealers
schlieszt mit der Aufführung dramatischer Arbeiten von Lessing und
Weisze. Freilich gieng in diesen Dingen Alles nach individueller Ansicht
und Bestimmung, namentlich der Rectoren. Während manche diesen Auf-
führungen bereits ein Ende machten , hielten andere mit Zähigkeit an der
überlieferten Praxis fest ; auch ist es wol geschehen , dasz man , nachdem
das Schultheater schon geschlossen worden, noch einmal es wieder eröff-
nete , weil entweder der entstandene Ausfall in der Einnahme der Veran-
stalter auf andere Weise nicht zu ersetzen war, odef die beteiligten Kreise
der Bevölkerung eine Wiederaufnahme des Abgeschafften ausdrücklich
wünschten. Der Rector Richter in Zittau nahm gleich im Jahre nach dem
Hubertusburger Frieden, zu einer Zeit also, wo die Stadt, im Sommer
1757 durch die Oesterreicher in Trümmer geschossen, noch in keiner
Weise sich erholt hatte, die scenischen Darstellungen wieder auf und
führte in drei aufeinander folgenden Tagen seinem Publicum folgende
Stücke vor: am ersten Tage Voltaire' s Tancred in deutscher Uebersetzung,
mit Geliert's Orakel als Nachspiel, wozu der Cantor Gössel die Musik ge-
setzt hatte; am andern Tage Geliert's Loos in der Lotterie, mit einem
Nachspiele Mer Wolf, welches als kleines Schäferstück bezeichnet wird;
am dritten Tage Don Ranudo de Colibrados von üolberg, mit Wieder-
holung von Geliert's Orakel Richter* s Nachfolger Sintenis erklärte
sich 1784 in einem Schulprogramme rv.on dem Unnützen, Schädlichen und
Lächerlichen der Schaubühne' gegen die bisherige Praxis; allein vier
Jahre später kündigte er doch wieder 'jugendliche Theaterübungen' an,
die sich 1789 als *Redeübungen durch Schauspiele' wiederholten ; indes
machte 1790 ein Verbot der städtischen Behörde diesen Aufführungen
ein Ende.
Aehnlich war der Verlauf in den schlesischen Gymnasien. Der Rec-
tor Bauer in Hirschberg, dessen wir schon gedachten, liesz auszer der
Minna von Barnhelm auch Emilia Galotti und , was weniger bedenklich
38) Wir erinnern an den Primanerverein, den J. H. Vosz als Schü-
ler in Neubrandenburg zn Stande brachte.
39) Erinnerungen aus meinem Leben S. 48 f.
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während Her zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 551
war , die Juden und den Schatz von Lessing auffuhren ; daneben wurden
in Scene gesetzt von Weisze: List über List , Richard III. , die Poeten
nach der Mode; von Holberg: das arabische Pulver und die honnette
Ambition ; ferner Goldoni's Vormund, Moliere's Geiziger, Mercier's Deser-
teur u. a. Bauer hatte übrigens schon mit der Auswahl viel Plage, da
stets für drei aufeinander folgende Tage wenigstens ebenso viele Stücke
zu beschaffen waren; auszerdem aber fühlte er sich verpflichtet, Alles,
e was ihm zu frei , leichtsinnig , wild , heftig , auch zuweilen , was ihm
allzu zärtlich vorkam9, nicht minder dasjenige , was ihm Händel zuziehen
konnte, zu ändern; endlich hatte er auch Prologe und Epiloge auszu-
arbeiten und für die Einladungsschriften Abhandlungen auszuarbeiten, in
denen er ästhetische und litterarische Fragen behandelte. Weil nun zu-
gleich die Eiuübung der Schüler für die bezeichneten Aufführungen grosze
Mühe machte und viel Zeit kostete, fühlte er sein Herz sehr erleichtert,
ja zu einer leidenschaftlichen Freude erregt, als 1776 an die Stelle dieser
Aufführungen ein kurzer dreistündiger Redeactus gesetzt ward.
Wie eifrig aber in dieser Zeit einzelne Rectoren noch sein konnten,
zeigt das Beispiel des in anderer Beziehung ganz tüchtigen Fromm i-
chen in Hildesheim, durch dessen Veranstaltung 1773 vierzehn Stücke
nach einander zur Aufführung gebracht Wurden: am 4 October cder Mi-
nister' von Gabler und eder Schatz' von Lessing ; am 5 October fTrau,
schau, wem?' von Brandes uud Mas arabische Pulver' von Holberg; am
6 October 'Ugolino' von Gerstenberg und fWolthaten gewinnen das Herz'
aus dem Russischen; am 7 October 'Ernst' und *Evander und Alcimna'
von Geszner; am 8 October Mer Schein betrügt' von Geszner und cArmut
und Tugend' von Weisze; am 11 October cClementine' von Gabler und
Mas Band' von Geliert; am 12 October endlich 'Emilia Galotli' von Les-
sing und *Waldcr' von Weisze. Dabei wurde ein gar nicht zu verant-
wortender Aufwand gemacht, — man hatte z. B. für einige Hundert
Thaler Goulissen angeschafft, — das eingenommene Geld aber teilweise
von Schülern unterschlagen.40)
Wie Goethe noch am Anfange dieses Jahrhunderts die Gymnasiasten
von Weimar für den Chorgesang der Opern und die Nebenrollen im
Schauspiel > zu groszem Verdrusse des Ephorus Herder, in Anspruch
nahm, das mag hier eben nur berührt werden.41)
Als eine Wirkung der Teilnahme, welche der so reich und glänzend
sich entwickelnden Litteratur zugewandt wurde, werden wir auch die
Hebung des Unterrichts in der deutschen Sprache anzusehen haben. Was
unter den unmittelbaren Anregungen Friedrich's d. Gr. zunächst am Joa-
chimsthaler Gymnasium in Berlin durch Meierotto ausgeführt wurde,
gehört vielleicht nicht völlig hierher; aber es wirkte! auch dies in der
bezeichneten Richtung mit. Friedrich blieb freilich bis zum Schlüsse
40) Fischer, Geschichte des Gymnasium Andreanum in Hildesheim
(1862. 8) S. 61 f.
^41) Heiland, lieber die dramatischen Aufführungen im Gymna-
sium zu Weimar (1858. 4) S. 18 f.
38*
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552 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwidmung unserer Litleratur
seines Lebens unbekannt mit dem, was rings um ihn in seinem Volke
reifte, und drückte die Bfisachtung des Vaterländischen noch spät In her-
ausfordernder Weise aus; aber er hatte doch ein lebendiges Gefühl für
das , was not that , und die Anregungen , die er gab , wurden dann von
Männern aufgenommen, welche in einem näheren Verhältnis zur Litleratur
standen.42) Es ist bekannt, in welchen Zusammenhang mit diesen Beslre-
bnngen die Arbeiten Adelung 's traten: seine im J. 1781 erschienene
deutsche Sprachlehre war zunächst von der Regierung Friedrich*« veran-
laszt und tzum Gebrauche in den königlich preuszischen Staaten9 be-
stimmt.43)
Schon hatte auch in Sachsen die Regierung auf diesen Gegenstand
ihre Aufmerksamkeit gelenkt. Nach der unter Em es ti 's Mitwirkung
entstandenen Schulordnung von 1773 sollte das Deutsche künftig allen
Classen mit gleicher Sorgfalt, Orduung und Genauigkeit, wie die frem-
den Sprachen, gelehrt werden, damit die Schüler ihre Muttersprache
regelmäszig und gut reden, sowie ohne Fehler schreiben lernten. Neben
den grammatischen Unterriebt sollte auch das Lesen deutscher Bücher
treten , welche in reiner und edler Schreibart abgefaszt wären , so dasz
zuerst gute, wolgeschriebene, andächtige Lieder, Fabeln und Erzählun-
gen, z. B. von Geliert, hernach auch andere nützliche und leichte Bücher
erklärt würden. Was die Schüler gelesen, das sollten sich die Lehrer
mündlich, zuweilen auch schriftlich wiedererzählen lassen. — Dasz die
Schulpraxis hinter diesen Vorschriften noch lange zurückblieb, haben wir
zum Teil oben schon gesehen. An einzelnen Schulen war man indes in
mancherlei Form vorausgeeilt. Dies gilt z.B. von der Einrichtung einer aus
Schülern der Prima sich bildenden deutschen Gesellschaft in Annaberg
durch den Rector Gottleber (1763 — 71), der selbst die Leitung über-
nahm. Zweck dabei war Uebung in der deutschen Dicht- und Redekunst,
die durch Vorlesung teils von eigenen Ausarbeitungen der Mitglieder,
teils von Uebersetzungen aus griechischen, lateinischen und französischen
Schriftstellern erreicht werden sollte. Die Arbeiten konnten Abhandlun-
gen, Briefe, Reden, Gedichte, Fabeln, Erzählungen, Gespräche, Ueber-
setzungen sein ; überall sollte dabei die Reinheit der Sprache auf das Ge-
naueste beobachtet werden. Als Muster galten die Werke von Geliert,
Cramer, J. A. Schlegel, Klopstock, Mosheim, auch die von Gronegk, Kleist,
Jerusalem.44)
Anderwärts war Förderung des deutschen Unterrichts mehr der
individuellen Neigung überlassen ; aber diese erscheint nun vielfach doch
42) Vgl. Th. He in si us, Die Germanologie auf deutschen Lehr-
stühlen (Berlin 1848. 8.) S. 7 ff. und Giesebrecht in Mützell's Zeit-
schrift für das Gymnasialwesen 1856 S. 114 ff., wozu ergänzend L ob e 11,
Die Entwicklung der deutschen Poesie I S. 327 ff. und Trendelen
burg, Friedrich d. Gr. und sein Staatsminister Freiherr von Zedlitz
(Berlin 1859. 8.) S. 16 ff.
43) H. v. Raumer a. a. O. III 2 S. 88 ff.
44) Spiesz S. 20. Vgl. über die sehr verständigen Anweisungen
für das Pädagogium der Brüdergemeinde in Nisky Gammert S. 17 f.
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während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. 553
durch die Entwicklung der Litteratur bestimmt. So lenkte der Rector
Baurmeister in Hildesheim (1768 — 72) durch seine "Gedanken von
Bildung der Jugend in den Schulen' die Aufmerksamkeit sehr nachdrück-
lich auch auf die Pflege der Muttersprache. fDie Muttersprache verdient
wie das Vaterland, eine vorzügliche Achtung vor den übrigen Sprachen.
Ein Lehrer musz die Jugend unterrichten , wie sie ihre Gedanken darin
deutlich, genau, nett und schön ausdrücken kann ; er musz ihr die besten
Schriftsteller an die Hand geben und sie gewöhnen, ihre Denkungsart und
ihren Ton nachzuahmen. Ich bitte , ich ermahne Euch , Ihr Lehrer der
Schulen, die Ihr die Verdienste der Griechen und Römer verehrt, ver-
gesset doch die Hochachtung gegen die deutschen Musen nicht.' Baur-
meister's Nachfolger Frömmichen erklärte 1775, obenan in Prima
müsse die deutsche Sprache stehen, und zwar Sprachlehre, Kritik und
Geschichte, Uebungen in Reden, Briefen und Erzählungen; es seien kate-
chetische Fragen und Antworten anzustellen, zur Bildung des Geschmackes
solle man deutsche Musterstücke vorlegen, die Dramen von Lessing, Stel-
len aus Klinker's Reisen , den Hofmeister von Lenz , Geliert's Briefe lesen
und erklären.45)
Solches Lesen ^deutscher Classiker' wurde noch vor dem Ende des
vorigen Jahrhunderts mehr und mehr als zweckmäszig erkannt. Als eine
sehr gewichtige Autorität trat dafür Herder ein in einer Schulrede *von
der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen' (So-
phron 17. Rede). Er empfiehlt darin vielfaches Lesen classischer Stücke
und Auswendiglernen derselben und wendet sich dann mit der Frage an
die Schüler: 'Wer unter Euch kennt Uz und Haller, Kleist und Klopstock,
Lessing und Winckelraann , wie die Italiener ihren Ariost und Tasso , die
Brüten ihren Milton und Shakspeare, die Franzosen so viele ihrer Schrift-
steller kennen und ehren?' — Ein besonderes Verdienst erwarb sich nach
dieser Seite hin der Rector Jördens in Lauban. Gleich nach dem An-
tritt seines Amtes (1796) schrieb derselbe zwei Programme zur Behand-
lung der Frage: f Sollen auch deutsche Schriftsteller auf Schulen gelesen
und erklärt werden?' Vier andere Programme des verdienten Mannes
gaben dann eAnzeige einiger neueren Hülfsmittel zur Erklärung deutscher
Dichter und Prosaisten in Schulen'.
Aber dies waren zunächst doch immer vereinzelte Bestrebungen oder
Anregungen ; im Ganzen blieb der deutsche Unterricht noch sehr mangel-
haft. Es fehlte darum auch von Seiten der Aufmerksameren an scharfen
Rügen nicht. Wir erwähnen in dieser Beziehung nur die tief einschnei-
denden Bemerkungen Rieht er 's 'über einige Ursachen der gewöhnlichen
Vernachlässigung unserer Muttersprache' in seiner Schrift: Philosophi-
sche Blicke auf Wissenschaften und Menschenleben (Halle 1789. 8) I 2
S. 129 ff. Und doch hatte man schon auch das Bedürfnis empfunden, in
historischer Betrachtung die neuesten Entwickelungen an das in früheren
Zeiten Geleistete anznknüpfen. Es dürfte aber den ersten Versuch, die
Geschichte der deutschen Litteratur in den Gymnasialunterricht einzu-
45) Fischer S. 57 f. u. 60.
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554 Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwickelung unserer Litteralur Usw.
fahren, Meierotto gemacht haben; entschiedener nahm dann Fr. Ge-
dike dieses Gegenstandes sich an, und merkwürdig genug ist, dasz er
auch schon Anlasz erhielt, gegen Uehertreibungen sich zu erklären.46)
Uebrigens konnte es geschehen , dasz man auf der einen Seite einen sehr
unvollkommenen Unterricht in der Grammatik gab und auf der andern
doch Proben aus Schilter's Thesaurus von Ulfilas mitteilte. 47) Allein erst
später, als unter dem Einflüsse der Romantiker auch die Poesie des Mit-
telalters Gegenstand lebhafterer Aufmerksamkeit geworden war und be-
wundernswürdige Forschungen Sprache und Litteratur des Mittelalters in
ihrer ganzen Fülle und Schönheit aufgeschlossen hatten, während zu-
gleich das Erleben ungeheurer Ereignisse ein stärkeres Nationalgefühl
hervorgerufen , schien es eine un ab weisliche Pflicht , die Geschichte der
deutschen Litteratur als einen vollberechtigten Lehr gegenständ für die
Gymnasien anzuerkennen.
Darauf müssen wir hier verzichten, genauer zu zeigen, dasz die-
jenigen, welche unsere Litteratur zu so erfreulicher Entwickelung brach-
ten , durch die Art , wie sie in ihren Werken ein tieferes Verständnis der
Alten und den Einflusz, den diese auf sie geübt, offenbarten, in ganz be-
sonderer Weise auch die Schulmänner zu lebendigerem Eingehen auf das
in den Meisterwerken der Alten Niedergelegte und zu geschmackvollerer
Behandlung des von demselben für die Schule Benutzbaren angeregt
haben. Dabei wird freilich sofort anzunehmen sein, dasz die mehr geist-
reiche, als gründliche Behandlung, welche Wieland seinen Lieblingen
unter den Alten angedeihen liesz, und die modernisierende Manier, in
welcher er die alte Welt überhaupt seinen Zeitgenossen darstellte, stren-
geren Schulmännern nicht sonderlich gefallen haben wird, die doch Vieles
von ihm lernen konnten und um des Guten willen, das er ihnen bot,
mancherlei kleine Sünden ihm verzeihen durften. Dies wenigstens ist
sicher, dasz Wieland in keinem Kreise so wenig für eine feinere und
freiere Auffassung des Altertums und seiner edelsten Ueberresle gewirkt
hat, als in dem der Schulmänner. Anders war es doch mit Lessing.
Wem seine poetischen Leistungen nicht Anerkennung abnötigten ,' dem
flöszte seine Klarheit und Schärfe in der Behandlung jedes von ihm er-
griffenen Gegenstandes, noch mehr vielleicht seine überall heimische und
auf dem Gebiete der antiken Kunst und Wissenschaft so sicher auftretende
Gelehrsamkeit Respect ein. Und was sollen wir von Goethe sagen? Seine
Iphigenia allein hat zu rechtem Verständnis der antiken Tragödie mehr
beigetragen, als ganze Ausgaben der groszen Tragiker thun konnten. Im
Allgemeinen ist unleugbar, dasz die Entwickelung unserer dramatischen
Poesie, welche durch ihn und Schiller herbeigeführt worden ist, sehr
Viele zu ausgedehnterem und eindringenderem Studium jener geführt und
mittelbar wenigstens auch die Einführung derselben in den Gymnasial-
unterricht entschieden hat. Aber wir sind hier auf ein Feld gekommen,
wo selbst in Andeutungen nichts abzuschließen ist. Es mag daher nur
46) Mützell in der Zeitschrift für das Gymnasialwesen I S. 36 f.
47) So in Gotha. Fr. Jacob 's Personalien S. 16,
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F. Bässler: Willfried. Episches Gedicht in neun Gesängen. 555
noch daran erinnert werden, dasz von besonderer Bedeutung für unsere
Schulen dasjenige geworden ist, was Vosz als Meister in der Ueber-
setzungskunst geleistet hat. Man wird nicht zu viel behaupten, wenn
man sagt, dasz die Einführung der antiken Versmasze in die deutsche
Litteralur , wie sie den bisherigen poetischen Schulübungen eine Ende
gemacht , auch die Schulmänner erst zu rechter Einsicht in die Kunstfor-
men der antiken Poesie , zu rechter Einsicht in diese Poesie selbst ge-
führt hat.
Bei dieser erfreulichen Thatsache angelangt, dürfen wir unsere Dar-
stellung, zu deren Fortführung und Erweiterung rechts und links noch
viel Stoff vorläge , mit einigem Recht abbrechen.
Zittau. H. Kämmet.
41.
Ferdinand Bässler, Wilfried. Episches Gedicht in neun
Gesängen. Berlin 1 859. Verlag der Königl. Geheimen Ober-
hofbuchdruckerei (R. Decker). Schillerformat. S. 13*2.
Das vorliegende Epos hat bereits in mehreren Zeitschriften die ihm
gebührende Anerkennung gefunden, doch da dieselben meist nur eine
kurze empfehlende Anzeige gebracht haben, glauben wir dasz es nicht
überflüssig ist , das Gedicht einer eingehenderen Analyse des Inhaltes der
Composition und der leitenden Idee zu unterziehen.
Dasz des Verfassers Vorbild Hermann und Dorothea war, ist bereits
bemerkt worden. Es führt hierauf nicht blosz die äuszere Einteilung in
neun Gesänge, sondern vielmehr der Umstand, dasz auf dem Hintergrunde
groszartiger geschichtlicher und nationaler Bewegungen sich die kleinen
Geschicke des Helden und der Hauptfiguren des Gedichts vollziehen. Doch
möchten wir hierbei zu Gunsten unseres Verfassers den Umstand hervor-
heben, dasz bei ihm Wol und Wehe der Helden seines Epos auf das In-
nigste mit der Entscheidung der groszen Zeitfrage verknüpft sind, dasz
davon, ob das deutsche Vaterland bei Leipzig frei wird oder nicht, auch des
Helden und der Seinigen persönliches Schicksal abhängt und somit unser
Interesse für das Ganze wie für die einzelnen besonders im Gedicht her-
vortretenden Persönlichkeiten von Anfang bis zu Ende in gleichem Masze
erregt und in Spannung gehalten wird. Diese Verknüpfung macht nicht
nur dem dichterischen Geschick , sondern noch weit mehr der Gesinnung
des Verfassers Ehre , dessen ganzes Palhos bei dem groszen Kampfe ist.
Wollte nun hierbei jemand dem Dichter Einseitigkeit und Beschränkt-
heit vorwerfen, weil sein Willfried der deutsche Held als ein Bild der
Mannhaftigkeit und Bravheit, die deutschen Feldherrn als edle Männer er-
scheinen , dagegen der französische Oberst Malcoeur und der verrätheri-
sche Mühlknappe Görge in häszlkher Bosheit sich darstellen; so ist da-
gegen zu sagen, dasz diese Auffassung die geschichtliche Wahrheit für
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556 F. Bässler: Willfried. Episches Gedicht in neun besangen.
sich hat. Denn waren nicht wirklich alle guten Mächte in diesem Kampfe
auf Seiten der Verbundelen , dagegen die Mächte der Bosheit, der Luge
und des Vcrraths auf der Seite der Feinde?
Doch gehen wir nunmehr zu der Betrachtung des Einzelnen über.
Der erste Gesang führt uns den Willfried, den Sohn eines alten würdigen
Müllers vor, wie er spät Abends in Verkleidung in das heimatliche, un-
weit Leipzig gelegene, damals von Franzosen besetzte Dorf sich schleicht
und vor dem elterlichen Hause Einlasz erbittet. Er kommt aus dem Heere
der Verbündeten , dem er angehört , von dem Feldherrn selbst insgeheim
gesendet , um zu erkunden , ob sich Blücher an der Parthe durchgeschla-
gen und den Bücken des Feindes bedrohe. Den Zweck dieser seiner Sen-
dung vertraut er im zweiten Gesänge den Eltern an, nachdem er sich
denselben kurz zuvor zu erkennen gegeben. Hocherfreut verkündet ihm
der Vater, wie er mit eigenen Augen das flammende Möckern und Blüchers
siegreiche Schaaren gesehen habe. Nachdem nun der Zweck seiner Wan-
derung erreicht, die Pflicht gegen das Vaterland erfüllt ist, gedenkt der
junge Krieger auch der Geliebten seines Herzens , der Tochter des Schul-
zen, Maria. Auf seine Fragen erwidert der Vater, oft komme die treff-
liche Jungfrau und wisse stets bald auf ihn das Gespräch zu lenken und
Nachricht über ihn zu erlangen. Er ist beruhigt und bereitet sich zum
Scheiden , tröstend die über die gefahrvolle Lage des Sohnes jammernde
Mutler, geleitet vom Segen des Vaters. Da tritt ein böswilliger Lauscher
ein, der Mühlknappe Görge, welcher Alles gehört hat und sie in Schrecken
setzt durch die Mitteilung, die ganze Sache an den im Orte lagernden
französischen Oberst Malcoeur verralhen zu wollen. Vergebens ermahnt
ihn der alte Müller in ernsten strafenden Worten , erinnert ihn , wie er
einst halbverhungert neben der Leiche seiner Mutter von ihm aufgefunden
und gerettet worden sei. Höhnisch erwidert der Knappe, nicht wisse er
es ihm Dank, ihn der Freiheit beraubt zu haben, reichlich sei der Müller
auszerdem durch seine Dienste bezahlt — doch gegen ein stattlich Gebot
sei er bereit, dem Sohne das Leben zu schenken. Die jammernde Mutter
bietet ihm Alles an, was im Besitze des Müllers sich findet, doch Görge
verlangt auszer der Teilung des Erbes noch besonders , dasz ihm Maria,
die Braut Willfried's , überlassen werde. Da reiszt dem jungen Krieger
die Geduld, zürnend hält er dem frechen Bösewicht das Terzerol vor,
läszt ihm vom Vater die Hände auf dem Bücken zusammenbinden und
nimmt ihn in schneller Flucht mit sich fort. Stumm wandern die Beiden
durch die Nacht dahin. Da auf einmal nahet sich eine französische Dra-
gonerpatrouille, Willfried sieht sich genötigt, rasch die Bande Görge's zu
lösen, um allein in eiligerer Flucht den nahen Wald erreichen zu können.
Doch noch früher holen ihn die Dragoner ein , ein Säbelhieb wird auf ihn
gefürt, er weicht rasch aus und schieszt den Verfolger vom Pferde. In
der Verwirrung, welche die üebrigen aufhält, entkommt WiUfried glück-
lich in das Dickicht. — So weit der Inhalt des dritten und vierten Ge-
sanges. Der fünfte schildert den weiteren Verlauf der Flucht , wie sie
durch verborgene Waldpfade fortgesetzt wird bis zu einem am Bande des
Waldes gelegenen Hügel , von welchem aus Willfried schon die preuszi-
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F. Bässler: Willfried. Episches Gedicht in neun Gesängen. 557
sehen Wachtfeuer flimmern sieht. Da auf einmal leuchtet auch von der
andern Seite ein rothlicher Schein auf, die Richtung ist unverkennbar
nach der Mühle des Vaters hin: das ist Görge's und der französischen
Feinde niedrige Rache ! Sie haben das väterliche Besitztum in Brand ge-
steckt — und hier steht nun Willfried ohnmächtig den Seinen zu helfen.
Auf das Tiefste bekümmert gelangt er in das preuszische Lager , er wird
zum Feldherrn geführt, den er unter seinen Generälen bei den Schlacht-
plänen findet (drei jüngere Offiziere lesen den Gesang von Chriemhield's
Leiden und Rache, was uns etwas unwahrscheinlich vorkommen will).
Er stattet seinen Bericht ab. Aber der dankbare gütige Fürst merkt,
dasz auf Willfried's Herz ein schwerer Kummer laste, und fragt teilneh-
mend nach der Ursache desselben. Willfried erzählt, wie der verräthe-
Mühlknappe die Rache der Franzosen auf seinen Vater gelenkt, der gewis
nun statt seiner, des entkommenen Spions, in ihren Händen sich befinde,
und wie er seine ganze Hoffnung, den Vater zu befreien, auf den morgen-
den Schlachtlag gesetzt habe. Leider aber sieht sich hier der Fürst ge-
nötigt, ihm auch diesen Halt zu nehmen , da der morgende Tag notwen-
diger Weise ein Rasttag sein müsse , damit die erschöpften Krieger zum
letzten entscheidenden Stosze wieder Kraft sammeln könnten. — Wir
verlassen den tief betrübt sein Lager aufsuchenden Willfried, um im sech-
sten Gesänge die Vorgänge in der Heimat zu vernehmen. Der junge Krie-
ger hatte das Richtige geahnt, wir finden die Mühle niedergebrannt, den
Vater Willfried's im Kerker, verurteilt zu Pulver und Blei wegen Ver-
raths an des Kaisers Sache. Vergebens hat der wackere Schulze den
Oberst Malcoeur bestürmt, dieser besteht herzlos auf dem gefällten Spru-
che. — Die Tochter des Schulzen, Maria geht in ihres Herzens Betrübnis
in das Gärtchen, um in der Einsamkeit Trost zu suchen. Da tritt der
tückische Görge ein , von niederer Begierde entflammt , verspricht er ihr
den Alten zu reiten durch eine Stelle der Wand , an der die Ziegel leicht
sich lösen lieszen, nur ihm sei die Stelle bekannt und er wolle das Wag-
stück unternehmen , falls Maria auf das Kreuz schwöre , sein Weib wer-
den zu wollen. Aber Maria weist ihn in stolzer Verachtung ab , je lei-
denschaftlicher er in sie dringt, um so fester bleibt sie, und als er zuletzt
in drohende Flüche ausbricht, flüchtet sie in ihr stilles Kämmerlein. Dort
sucht sie im brünstigen Gebet Ruhe und Trost, und als sie hier auf den
Knieen liegt, durchzuckt sie plötzlich wie aus höherer Eingebung der
Gedanke, sich selbst aufzumachen und im deutschen Lager dem gefange-
nen Greise Hülfe zu suchen. Soweit der siebente Gesang. — Der achte
führt uns in das preuszische Lager. Bei erbeutetem Weine lagert eine
Schaar munterer Krieger. Zu ihnen tritt ein alter brandenburgischer
Husar und erzählt, er habe mit seinen Kriegsgefahrten auf der Patrouille
einen seltenen Fang gethan. Im Dunkel der Nacht hätten sie plötzlich
einen Hülferuf gehört, man habe eine französische Schaar erblickt, sei
darauf losgestürmt — und als die Feinde verjagt sind, habe sich plötz-
lich zitternd und hülfeflehend ein Mägdlein gezeigt, wie er nie ein so
schönes gesehen. Sie habe verlangt den Fürsten zu sprechen und ihm
dem Graubart, den das Alter vor Thorheit schütze, sei der Auftrag ge-
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558 F. Bässler: Willfried. Episches Gedicht in neun Gesängen.
worden, die holde Beute in das Lager zu geleiten. — Wilfried, der an-
ter den Zuhörern sich befindet , ahnt gleich , wer wol die Wallerin sein
möge, doch ehe er weitere Entschlösse fassen kann, wird er zum Fürsten
entboten, der ihm das Geschehene erzählt und ihn beauftragt, mit zwölf
wackern Männern durch geschickten Handstreich den alten Willfried aus
französischen Händen zu befreien. Der Bote, fugte der gütige Fürst
hinzu, der jene Nachrichten gebracht, harre noch seiner. Willfried eilt
davon und hält bald seine Maria in den Armen.
Im Anfange des neunten Gesanges sehen wir uns in des alten Win-
fried* s Kerker versetzt. Ruhig schlummert er noch am Todesinorgeii, da
weckt ihn der teuflische Görge an der Spitze der Schergen mit höhni-
schen Worten zum letzten Gange, den er würdig und ehrfurchtgebietend
antritt. Vergebens fleht unterwegs der Schulze noch einmal den kalten
Malcoeur an. Hart weist ihn dieser zurück. Der alte Willfried aber er-
klärt , er sei bereit zu sterben und sterbe gern , da es ein Tod für das
Vaterland sei. — Und weiter geht der Zug sich dem Ziele nähernd. Da
ertönt auf einmal Schusz um Schusz. Dem Lärme sprengt Malcoeur mit
den Seinen entgegen. Ihn aber trifft aus sicherem Verstecke Willfried's,
des jungen Kriegers nie fehlende Kugel. Im Todeskampfe zerrt seine
Hand den Zügel des Pferdes , das wild aufbäumend sich überschlägt und
in seinem Falle den danebenstehenden Görge unter sich zermalmend be-
gräbt. — Rasch hintereinander feuern die Büchsen der preuszischen
Jäger unter den verwirrten Haufen, jede Kugel trifft ihren Mann, was
noch steht, wird in schnellem Bajonnetangriff vertrieben. — Und wie
hier so singen in selbiger Zeit ringsum die deutschen Schaaren . und der
helle Jubeilon der Freude unseres Willfried über die Rettung seines Vaters
geht über in den Hymnus der Freude und des Dankes für die Rettung des
gesamten deutschen Vaterlandes.
Der leichte Fortschritt und deutliche Verlauf der Handlung wird
nach der eben angegebenen Darlegung jedem Leser klar geworden sein.
Das Ganze ist voll Bewegung , Leben und Farbe und ist doch echt episch
gehalten , denn auch auf nebensächlichen Momenten ruht die dichterische
Schilderung in behaglicher Breite. So gleich im ersten Gesänge bei der
Beschreibung der Häuslichkeit des alten Müllers, die in einigen Punkten
an Vosz siebzigsten Geburtstag erinnert. Echt homerischen Geistes sind
die Schilderungen des vierten Gesanges S. 51 u. 53 vom Stier, der wider-
strebend zum Schiachten geführt wird, und vom flüchtigen Hirsch, auch
im fünften Gesänge (S. 72) sind die aufsteigenden Raketen wol im Geiste
von Odyss. 2, 147 ff. wie ein cfjjüia aufgefaszt, und ein echter Abkömm-
ling der Kampfesscenen der Ilias ist Gesang neun die Darstellung vom
Falle Malcoeur's und des durch das Rosz zerschmetterten Görge. — Der
Vers ist mit Leichtigkeit und der Freiheit behandelt, die sich schon Goethe
nahm und ohne die der epische Hexameter im Deutschen , wo wir kein
Quantitäts - sondern nur ein Betonungsgesetz haben , nicht zu denken ist.
Magdeburg. Dr. Siegfried.
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F. Bässler: Legenden und Balladen. 559
42.
Ferdinand Bässler, Legen^u und Balladen. Neue Ausgabe.
Mit 12 Holzschnitten. Berlin 1851* Verlag der Deckerschen
Geheimen Oberhofbuchdruckerei. Schillerformat. S. 144.
Ein Legendendichter hat manche Klippen zu vermeiden. Er soll in
seinem Liede einen volksmäszigen Ton anschlagen, ohne zu der Trivialität
des Leiermanns herabzusteigen, er soll die erhabenen Gestalten des christ-
lichen Altertums dem kindlichen Sinne des Volks nahe bringen, und doch
sollen jene von ihrer Grösze, ihrer Erhabenheit nichts einbüszen, endlich
soll sein Lied nicht eine blosze Erzählung enthalten , sondern es soll in
diese zugleich höhere Wahrheiten einkleiden, welche mit der Geschichte
dem Leser in das Herz gegeben werden.
Dem Verfasser der vorliegenden Legenden ist es gelungen, diesen
schwierigen und vielseitigen Anforderungen gerecht zu werden. Seine
Dichtungen haben etwas von jener schönen Simplicität der Form und
Herzlichkeit des Tones, welche uns in der herlichen Legende Goelhe's:
fals noch verkannt und sehr gering unser Herr auf Erden gieng', so an-
ziehen , und schlieszen sich in ihrer ganzen Art den geschichtlichen Stoff
aufzufassen und einzelnen Zügen desselben durch sinnige Deutung ein hö-
heres geistiges Gepräge zu verleihen am nächsten den Legenden Gustav
Schwab's , besonders der von den heiligen drei Königen an.
Die drei ersten Gedichte behandeln Stoffe aus der apokryphischen
Geschichte von der Kindheit des Heilandes und beruhen vorzugsweise auf
den Erzählungen des Evangelium Thomae. Die erste Legende erzählt,
wie die heilige Familie auf der Flucht nach Aegypten in der Wüste dem
Verschmachten nahe von zwei Dattelpalmen gespeist wird , welche ihre
hoch in den Kronen prangenden Früchte in demütigem Neigen dem gött-
lichen Kinde darbieten. Schön ist in diesem Gedichte der Gegensatz der
Herlichkeit des gelobten Landes und der schrecklichen Oede der Wüste
dargestellt. — Aus der zweiten Legende, welche uns das Jesuskind
vorführt, wie es auf dem Dache mit seinen Gespielen Federchen in die
Luft fliegen läszt und einen herabgestürzten kleinen Gefährten wieder
vom Tode erweckt, heben wir die sinnige Deutung der fliegenden Feder
auf die Menschenseele heraus, die von der Gewalt der Erde ebenfalls
hinabgezogen, durch des heiligen Geistes sanftes Wehen aber himmelan
geführt werde.
In der dritten Legende von dem Jesuskinde, das Vöglein aus Thon
bildet und solche dann fliegen läszt, ist die Wendung neu, dasz Letzteres
in dem Augenblicke geschieht , in welchem ein alter Pharisäer das ganze
Spiel werk, weil es Sabbatsarbeit sei, zertrümmern will. Dadurch nun,
dasz Gott selbst im entscheidenden Augenblicke den Vögeln Leben ver-
leiht, richtet sich der Vorwurf des thörichten Eiferers nunmehr gegen
diesen.
Das fünfte und sechste Gedicht bringen Scenen aus dem Leben des
Auferstandenen , di& ebenfalls der apokryphischen Geschichte von Christo
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560 F. Bässler: Legenden und Balladen.
angehören. Jenes erzählt , wie der Auferstandene der Dornenkrone wie-
der Wurzel zu schlagen und zu knospen gebietet. Diese aber sich ent-
setzend ob den noch blutigen von ihr eingedruckten Spuren auf des Hei-
landes Stirn blüht als weisze Rose auf.
Die sechste Legende ist 'vom Rah' und Zeisig'. Der schwarze Vogel
laszt ein verräterisches Krächzen ertönen , als der Heiland das Grab ver-
läszt , und wird zur Strafe dafür von dem Herrn zum Vogel des Hochge-
richts verdammt. Dem Zeisig, der dem Auferstandenen ein leises lieb-
liches Triumphlied entgegenbringt, spricht dieser zum Danke dafür
Sicherheit seines Nestes zu.
Die vierte und siebente Legende gehören der Heiligengeschichte an.
'Klein Benedict' geht zum Brunnen und wirft seinen Krug entzwei , aber
auf sein .Gebet setzen sich die Scherben wieder zusammen. Sinnig ist
hier die Deutung auf das zerbrochene Lebensglück , das Gott auf unsere
Bitte so oft wiederherstellt. Die Schilderung ist an manchen Stellen
von besonderer Lieblichkeit. So heiszt es, als das Unglück geschehen:
'ins hohe Riedgras warf er sich
Und weint' und schluchzte ängstiglich.
Und allen Blümlein rings umher
Vor Kummer ward das Köpfchen schwer,
Sie weinten um den schönen Krug
Den dort der böse Quell zerschlug ,
Doch spöttisch rann der böse Quell vorbei
Und rief: Klein Benedict! ei, ei
Wie gieng der schöne Krug entzwei?'
'St. Petri Tod' berichtet, wie St. Peter dem Märtyrertode entrinnen will.
Auf sein Gebet Öffnet sich wie ehemals die Kerkerpforle , er schleicht
durch Roms Straszen. Da erscheint ihm des Herrn leidende Gestalt und
mahnt ihn an seine Pflicht. Freiwillig kehrt er um 'und trug getrost am
andern Tag sein Kreuz dem lieben Meister nach'. Dieses Gedicht bat mit
groszer Kunst erhabene, ja ergreifende Züge wie die Schilderung der Lei-
densgestalt Christi vereinigt mit recht volksmäszigen neckischen, wie sie
z. B. in folgenden Versen hervortreten : 'der Mond barg schelmisch sein
Gesicht und sprach: Lauf! ich verrath' dich nicht!'
Unter den Balladen führt die 'Alpenreise der Pflanzen' in phantasie-
reicher Schilderung voll Glanz , Farbe und Bewegung den Gedanken aus,
wie die Pflanzenwelt nach der Schöpfung aus der Ebene in die bisher
kahlen Berge zieht. Wie ein gewaltiges Heer machen sich Bäume und
Sträucher auf; die Gebieter der Höhen, der Nebel, der Frost, die Stürme
und Wetter widersetzen sich den Eindringlingen. Vergebens ! Die hohe
knorrige Eiche trotzt allen Stürmen, mit ihren wuchtigen Armen führt
sie mächtige Streiche nach links und rechts und presst endlich die ge-
fesselte Windsbraut an ihre Brust. Die Wetter fliehen 'mit flatternden
Locken'. Die Bäume breiten sich zum dichten Wald auf den Höhen aus.
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F. Bässler: Legenden und Balladen. 561
— Doch hoher noch und weiter treibt der Wagemut die Före, die Fichte
und die Tanne. Mit *nadelscharfer Wehr' dringen sie in dichten Reihen
vor. Die Lawine bereitet sich mit jähem Sprunge unter sie zu schmettern,
doch der Alte der Alpenkrone hält sie zurück, es genügt, dasz er seinen
Eiseshauch sende. Die riesigen Tannen spaltet der Winter, nur weni-
gen gelingt es, kümmerlich am Boden sich krümmend ihr Dasein zu fri-
sten. — Und doch, was den Riesen nicht gelang, dem winzigen Völkchen
der Gräser, der Maszliebchen , der Primeln gelingt es, dem starren Win-
ter Raum abzudringen, denn auch ihn erfüllt mit Lust das holde Spiel der
Frühlingskinder und hoch oben pflanzt die Alpenrose csiegerglühend* das
Banner auf.
Die Ballade 'Suchen und Verfehlen' kann sich an Innigkeit der Em-
pfindung und Anmut der Form den besten Sachen Uhland's an die Seite
stellen. — An diesen Dichter erinnert auch die Ballade cam Lauscheberg',
verwandte Züge hat sie wenigstens mit Uhland's Harald. — Das 'Alp-
drücken' behandelt in äuszerst anmutiger zarter Weise die bekannte deut-
sche Sage, nach welcher der Alp eine schöne Fee ist, die sich Nachts
einschleicht und durch Verstopfen des Schlüssellochs gebannt werden
kann. — Ebenfalls der deutschen Sage entnommen ist die Ballade 'am
St. Brigittentag'. Derselbe ist zuerst Unglückstag, denn er trennt durch
trauriges Geschick Mutter und Kind, später aber nach 12 Jahren wird er
Freuden tag, denn er führt beide wieder zusammen.
Aus der Reformationsgeschichte sind zwei Stoffe vom Verfasset* be-
handelt. 'Magdalena Luther' erzählt den Traum der Katharina Luther,
welche die kranke Magdalena von zwei schönen Jünglingen zum Hoch-
zeitsreigen abgeholt sah, was jene auf Genesung, Mclanchthon aber auf
Heimführung zur himmlischen Hochzeit deutete. — 'Elisabeth von Bran-
denburg' die flüchtige Gattin Joachim's wird von Luther getröstet durch
die Weissagung, dasz aus ihrem Hause des Evangeliums festester Hort
erstehen werde. — Die Geschichte vom * Skieiäufer % der die Feinde ge-
zwungen über den Kiölengrat führt, das Vaterland aber dadurch rettet,
dasz er jene an einen Abgrund bringt, in welchen er sich zuerst stürzt,
ist bekannt, gewinnt aber hier durch die spannende Darstellung neues
Interesse. Das Gleiche gilt von der Ballade 'die Polen vor Rakel', welche
von Irrlichtern, die ihnen als gespenstisches Heer erscheinen, in die Mo-
räste gelockt werden und versinken.
Die letzte Baliade: Mas rettende Lied' ist im Geiste unserer mittel-
hochdeutschen Poesie geschaffen. Vielfache Wendungen erinnern an das
Nibelungenlied (wie *Wol mir ob dieser Sendung, vgl. so wol mich dirre
raaere, oder fnie mochten Waidgesellen so frohgemutet sein', oder *mit
Treuen sprach er so ' u. dg!.). Auch die Strophe ist abgesehen vorf dem
Schluszverse nach der Heldenstrophe gebildet. Die dämonische Macht des
Gesanges über den Sänger selbst und seiner mächtig strömenden Wogen
gewaltige Wirkung glaubt man beim Lesen dieses Liedes mit zu durch-
leben, das trotz der in ihm herschenden aufregenden Klänge zuletzt doch
wieder zur ruhigen, echt epischen Haltung zurückkehrt.
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562 F. Bässler: Hellenischer Heldensaal oder Geschichte der Griechen.
Wir glauben genug gelhan zu haben, um in dem Leser das Verlangen
zu erregen , statt dieser farblosen Umrisse die trefflichen Gedichte selbst
durchzulesen.
Magdeburg. Dr. Siegfried.
48.
Ferdinand B äs zier , Hellenischer Heldensaal oder Geschichte
der Griechen in Lebensbeschreibungen nach den Darstellun-
gen der Allen. 2. Auflage. Mit 32 in den Text gedruckten
Holzschnitten. Berlin 1862. Verlag der Königl. Geh. Ober-
hofbuchdruckerei (R. Decker), gr. 8. S. VIII. 359.
• Das vorliegende Werk, das jedem Lehrer der Geschichte auf höheren
Schulen bekannt sein musz, von keinem ohne Nutzen gebraucht sein wird,
bedarf keiner eigentlichen Empfehlung, da es sich bereits selbst einen
weitgezogenen Kreis seiner Wirksamkeit geschaffen hat. Wir beschrän-
ken uns daher beim Erscheinen dieser 2. Auflage, die sich von der ersten
materiell nur durch unerhebliche Zusätze und Veränderungen, äuszerlich
durch gröszeres Format und in den Text eingedruckte, fein ausgeführte
Holzschnitte unterscheidet, darauf, die hauptsächlichsten Vorzuge des Bu-
ches kurz zu bezeichnen. — Als den wichtigsten möchten wir das Ge-
schick hervorheben, mit dem diese für die Jugend berechnete biographi-
sche Geschichtserzählung auf die fast überall selbst redenden Quellen
zurückgeführt ist. Die Heroen des griechischen Volkes treten so vor den
jugendlichen Geist hin, wie sie von den unübertroffenen Historikern der
Alten selbst aufgefaszt und dargestellt wurden. Die Ereignisse werden
vorgeführt in der ergreifenden Einfachheit und Treue, mit der nur die
Alten das Geschehene zu schildern wüsten. Die Reden, welche in den
weltgeschichtlichen Momenten zündend einschlugen und jene gewaltigen
Wirkungen hervorbrachten , von denen die Geschichte berichtet , werden
meist in treuer und geschickter Uebersetzung nach den Quellen gegeben.
— Es werden auf diese Weise dem Schüler, indem ihm dem Anscheine
nach nur der geschichtliche Stoff geboten wird, unvermerkt zugleich be-
deutende Schätze aus der griechischen Litteratur zugeführt und ein Fer-
ment der Bildung wird in seine Seele gesenkt , das der Verfasser mit Ge-
schick aus den Alten herzuleiten weisz, indem er zugleich sich selbst
und seine grosze Mühe bei dieser Behandlung des Gegenstandes mit
Selbstverleugnung zurücktreten laszt. Diese nach Inhalt und Form, wir
möchten sagen classische antike Haltung des ganzen Werkes, welche
durch die hier und da passend eingefügten Anführungen aus der neueren
Litteratur keineswegs gestört wird , zeichnet dasselbe vor vielen andern
Büchern verwandten Inhaltes aus. ■— Dasz der Verfasser keine allgemeine
Schilderungen der Zeitalter, ihrer Zustände, Sitten u. dgl. gegeben hat,
ist jedenfalls zu billigen , denn nichts pflegt in den historischem Lehr-
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H. Rheinliard: Roma vetus. 563
büchern im höheren Grade unklar, einseitig und unvollständig zu sein als
derartige allgemein gehaltene Charakteristiken. — Ueber den Vorzug der
biographischen Geschichtserzählung für das jugendfiche Alter braucht
wol in jetziger Zeit kein Wort mehr verloren zu werden. So möge denn
das Buch seine Wanderung zum Wole der Schulen von Neuem antreten.
Je mehr der Lehrer aus ihm lernen wird, selbst zu schweigen und in
seiner Geschichtserzählung die Alten aus sich heraus reden zu lassen,
je besser wird es um den geschichtlichen Unterricht in den mittleren
Classen unserer höheren Schulen bestellt sein.
Magdeburg. Dr. Siegfried.
Roma vetus. Inusum scholarum edidit Hermannus Rhein-
Aarrf, gymn. Stuttgart professor. Stuttgart, Krais et Hoff-
mann; groszer Plan in 4 colorierten Blättern.
Hr. Prof. Rheinliard, der schon durch seine, mit einem Vorwort
des Hrn. Prälaten v. Roth herausgegebenen griechischen und römischen
Kriegsaltertümer der studierenden Jugend die Bekanntschaft mit der rea-
len Seite des classischen Altertums durch Ermöglichung eigner Anschau-
ung erleichtert hat, hat sich durch diesen Plan von Rom ein neues Ver-
dienst um dieselbe erworben, indem er die Gelegenheit bot, die Schul-
ziramer mit einer Wandkarte zu schmücken, deren Betrachtung dem
strebsamen Schüler an sich von groszem Interesse sein musz und für so
manche Stelle eines römischen Schriftstellers, welche ohne Orientierung
in der Oertlichkeit nur halb oder gar nicht verstanden werden kann , das
beste Erklärungsmittel abgibt. Der Plan an sich kostet l%Thlr., auf Lein-
wand aufgezogen 3 Thlr. Auf demselben ist die Ausdehnung der Stadt, so
weit sie die Servianische Mauer umschlosz, so wie diejenige, welche sie
zur Zeit der Aufführung der Aurelianischen Mauer hatte, zu sehen, und,
was eigentlich über die auf dem Titel gestellte Aufgabe hinausgeht, auch
die Vergröszerung angegehen, welche die Stadt unter Urban VIII erfuhr.
Die 14 Districte (regiones) der Stadt sind durch verschiedene Farben kennt-
lich gemacht. Es ist dabei ein kleines Versehen vorgefallen, indem, we-
nigstens auf dem uns vorliegenden Exemplare, die Farbe der VII. Region
statt bis zur via Flaminia nur bis zu dem Rande des Blattes geht, welches
von der linken Seite her in dieselbe hineinreicht, das sich überhaupt nicht
ganz richtig anschlieszt, indem die Zeichnung nach oben etwas verkürzt
ist. Die einzelnen Regionen sind mit römischen Ziffern bezeichnet und
mit ihren Namen versehen. Der freie Raum an den vier Ecken ist zu Ab-
bildungen der bedeutendsten Reste von alten Gebäuden benützt, teils in
ihrer jetzigen Gestalt, wie die schiffähnliche Untermauerung der Tiber-
insel, das Theater des Marcellus, das forum Romanum, die moles Ha-
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564 U. Rheinhard: Roma velus.
driani (Engelsburg), das araphilheatrura Flavii (Colosseum) , der Bogen
des Sepltmius Severus, teils nach Möglichkeit restauriert, wie das Pan-
theon und der Titusbogen. Was die Gontroversen der römischen Topo-
graphen betrifft, ist er in mehreren Punkten, und wol mit Recht, der
Ansicht W. A. Becker's gefolgt, so in der Stelle, welche er dem Jupiler-
tempel auf dem Gapitol anweist, in der Ordnung der unter dem Capilol
gelegenen Tempel , ferner darin , dasz er keine navalia unter dem Aven-
tin annimmt, sondern nur oben, den pratis Quinctiis gegenüber; dagegen
weicht er darin von ihm ab , dasz er unter der porta Triumphalis nicht
einen Triumphbogen auf dem Marsfelde versteht, sondern, wie hier aus-
drücklich bemerkt ist, nach Bunsen, ein Thor am Ende der via triumpha
lis, etwas westlich von den navalia, und den pons sublicius nicht inner-
halb der Stadtmauer am forum Boarium, sondern nach der gewöhnlichen
Annahme auszerhalb der porta Trigemina angibt. In allen solchen Fällen
wäre namentlich für den Gymnasiallehrer, welchem die hier maszgeben-
den Untersuchungen wenig oder nicht bekannt sind, wünschenswert!!,
dasz eine kurze Erläuterung beigegeben wäre, welche über die Autori-
täten der aufgenommenen Angaben und, in zweifelhaften Fällen, über die
Gründe , aus welchen diesen der Vorzug gegeben wurde , belehrte.
Eine schätzbare Zugabe bestellt darin , dasz derselbe Plan des alten
Rom in kleinem Maszstabe gedruckt worden ist, welchen sich die Schü-
ler um 2% Sgr. anschaffen und zur Repetition dessen, was ihnen auf der
groszen Wandkarte gezeigt worden ist, benützen können. Da in dem
kleinen Raum nicht alle Namen Aufnahme fanden, sind, wo deren viele
zusammen kommen , blosze Zahlen beigeschrieben und diese mit den Re-
gionen an der Seite erklärt. Statt der Abbildungen , welche sich auf der
Wandkarte finden, ist hier blosz der capitolinische Hügel samt dem forum
Romanum und den östlich und nördlich anstoszenden Gebäuden in etwas
gröszerem Maszstabe beigegeben.
Dieser kleine Plan Gndet sich übrigens auch im
Atlas orbis antiqui. In usum scholarum edidit Herrn.
Rheinhard, gymn. Stuttg. prof.^
welcher eben in demselben Verlage erschienen ist, als letzte der 10 Kar-
len, welche in der Mitte zusammengeschlagen, in bequemen Lexikonfor-
mat zusammengebunden sind. Die übrigen Karten sind: 1) Orbis terra-
rum antiquis notus, mit einer kleinen Weltkarte nach Ptolemäus; 2) Ae-
gyptus et Palaestina mit kleinen Planen von Alexandrien und Jerusalem;
3) Imperia Persarum et Macedonum mit den vorderasiatischen Reichen in
kleinerem und der Gegend am Paropamisus und Indus in gröszerem
Maszstabe; 4) Asia minor, Syria et Armenia; 5) Graecia cum insulis, co-
loniis Asiaticis et Thracicis et Macedonia, mit den Umgebungen von Sparta.
Athen nebst der Stellung der Flotten in der Schlacht bei Salamis, Korinth
und Troja; 6) Hispania, Mauretania et Africa mit Bezeichnung der Be-
sitzungen der Karthager; 7) Gallia, Germania et Britannia; 8) Imperium
Romanum saec. IV p. Ch. n.; 9) Italia mit einer besondern Karte von La-
tium und den Umgebungen von Karthago und Syrakus. Der Druck, ins-
besondere der Namen, ist gut, die Colorierung weniger auf Schönheit be-
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Härtung: Themata zu deutschen Ausarbeitungen. 565
rechnet als zweckmäszig , so dasz die einzelnen Karten trotz des be-
schränkten Raumes ein anschauliches Bild der betreffenden Länder und
ihrer politischen Verhältnisse geben und die wichtigsten Wander- und
Kriegszüge , wie die der Israeliten aus Aegypten, des Xerxes, des jungern
Cyrus und des Xenophon, des Alexander, des Hannibal, bequem verfolgen
lassen.
Erlangen. L. f>. Jan.
45.
Themata zu deutschen Ausarbeitungen für reifere Gymnasial-
schüler, zugleich als Anleitungen zum Eindringen in den
Geist der besten deutschen Dichter von J. A. Härtung,
Gymnasialdirector. Leipzig 1862, Verlag von W. Engelmann.
1 fl. 39 xr. rh.
Der deutsche Unterricht an unseren Gymnasien ist in neuerer Zeit
sowol von Seite der Regierungen als der Fachmänner besonderer Auf-
merksamkeit gewürdigt worden. Was die Thätigkeit der letzleren be-
trifft, so erschienen sowol Anleitungen zum Stile als auch Aufgabensamm-
lungen in groszer Menge schnell auf einander , ein Zeichen , dasz nach
solchen Dingen groszes Verlangen ist, weil eben ein Bedürfnis besteht.
Es fühlt nemlich jeder, der mit dem deutschen Unterrichte zu thun hat,
wol, dasz derselbe noch immer bedeutender Vervollkommnung bedarf,
dasz eine gewisse Unsicherheit herscht und die verschiedensten Ansichten
sich kreuzen und oft schnurstracks sich widersprechen. Wie schwer ist
es daher für den Einzelnen, zumal wenn er wie in Bayern, nicht Fachleh-
rer der deutschen Sprache ist , sondern noch den lateinischen , griechi-
schen und Geschichtsunterricht zu behandeln hat, durch dieses Gewirr
sich durchzufinden und zu einem sicheren Urleile und zu einer festen und
zugleich richtigen Ueberzeugung zu gelangen! Wie leicht aber auch bil-
det er sich eine falsche Ansicht und verschlieszt dem nachkommenden
Besseren Aug und Ohr, zu starr am Alten festhaltend, ein laudator tem-
poris aeli! Inzwischen sind gerade in der jüngsten Zeit so erfreuliche
Producte im Gebiete des deutschen Unterrichts zu Tage getreten und hat
man über viele Hauptpunkte des stilistischen Unterrichts sich soweit ge-
einigt, dasz nur gedeihliche Fortschritte für die Schule daraus zu hoffen
sind.
Allgemein wird wol jetzt zugestanden, dasz der deutsche Unterricht,
speciell der deutsche Aufsatz, auf den wir uns hier beschränken wollen,
sich an die Leetüre der Schüler anschliesze und mit ihr in die engste Ver-
bindung trete, und dasz die Aufgaben aus dem Gesichtskreise der Schüler
genommen werden sollen. So werden also die antiken und modernen
Classiker, Geschichte und die Naturwissenschaften den passendsten Stoff
N. Jahrb. f. Phil. u. Pid. II. Abt. 1864. Qft. 11. 39
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566 Härtung: Themata zu deutschen Ausarbeitungen.
zu deutschen Aufsätzen liefern. Dasz aber hiemit ein groszer Ideenkreis
umschlossen werde, sieht jeder ein. Der Schüler bewegt sich zwar nur
zwischen Elternhaus und Schulstube und kommt nur seilen in andere
Umgebungen, aber dennoch bleibt er nicht auf diesen kleinen Baum, auf
die wenigen Erfahrungen, die er hier macht, beschränkt, sondern durch
den lebendigen Unterricht und die Leetüre wird sein Gedankenreich und
auch seine Erfahrung bedeutend erweitert und bereichert.
Wenden wir nun diese allgemeinen Bemerkungen zunächst auf das
obige Buch an , so werden wir finden , dasz der auch sonst rühmlich be-
kannte Hr. Verf. seine Themata aus dem Schülerkreise, wie er eben be-
zeichnet wurde, mit Ausnahme der Naturwissenschaften, genommen habe:
Leetüre der Classiker und Geschichte bilden die Hauptgrundlage. Wie
Firnhaber's Materialien zum Uebersetzen aus dem Deutschen ins Lateini-
sche auf den Grund vorausgegangener Leetüre lat. Prosaiker, ls Hefi:
die Reden des Cicero für Dejotarus und Milo ; 2s Heft : die Samniterki iege
nach der Darstellung des Livius , und SeyfFert's Uebungsbuch für Secunda
im Anhange sich auf die Classiker stützen , eine Methode, welche von be-
währten Autoritäten als vortrefflich und gediegen bezeichnet wurde und
die Bef. selbst mit groszem Nutzen bei seinen Schülern geübt hat und
übt, so sind auch bei Hrn. Härtung Leetüre und Stilübung in eine die
Kenntnis der Sprache und des Ausdruckes und Erfassung des Inhalts wahr-
haft fördernde innige Verbindung gebracht worden. Nach dem Grund-
sätze : f das Beste ist für die Schule gut genug', sind auch die grösteu
und besten Meister vorzüglich zu Aufgaben benutzt: Homer, Sophokles,
Euripides, Demosthenes, Horaz, Cicero, Livius, Tacitus, Nibelungenlied,
Shakespeare, Lessing, Goethe, Schüler, Unland. Doch sind auch Bürger,
Calderon , Heine , Platen , Rückert usw. nicht vergessen. Die gröste Aus-
heute haben natürlich Goethe, Schiller und Shakespeare gewährt, und
mit Recht hat der Hr. Verf. dem unübertrefflichen Britten soviel Raum
gewidmet, damit die Schüler ihn, der weder in der deutschen Litterattir*
geschieh te noch als deutsche Leetüre eine besondere Behandlung erfährt,
privatim lesen und so ihre Litteraturkenntnis und, was noch mehr werth
ist, ihre Herzens- und Verstandesbildung vervollständigen. Diese Art die
Schüler zur Thätigkeit zu nötigen und zur guten Leetüre anzueifern
erscheint mir als der heilsamste und zugleich anschuldigste Zwang.
Die Themata hat der Hr. Vf. unter folgende Gesichtspunkte verteilt
A. Aus der Dichter weit. Ganz natur- und sachgemäsz beginnt er
hier mit I. Erzählungen, geht dann über zu U. Charakterschilderungen,
an welche sich III. die Behandlung paralleler Charaktere und Zustände
anschlieszt. IV. Vergleichungen; diese stellt der Hr. Vf. als eigene Rubrik
dar; man könnte sie auch unter die Parallelen bringen. Doch daran liegt
wenig. V. Mythologie als Grundlage von Gedichten. Ueberblickt man diese
fünf Classen, so vermiszt man ungern die Rubrik: Beschreibungen, die
eine gute Vermittlung zwischen den Erzählungen und Charakterschilderungen
bilden würden ; sie sind schwieriger als die Erzählungen und leichter als
die Charakterschilderungen ; sie lehnen sich mehr an das Aeuszere an und
lehren ordentliche Beschäftigung des Auges; das Sehen und Beobachten
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Härtung: Themata zu deutschen Ausarbeitungen. 567
aber musz der Schüler erst recht lernen. Vgl. hierüber Bone in der
Vorrede zu seinem deutschen Lesebuche. — Für Schüler zu schwer und
unverständlich und daher für unpassend hält Ref. Nr. V. Die Mythologie
ist für den gereiften Mann eine gefährliche Klippe ; wie soll der Jüngling
über sie wegkommen? Wagt er sich aber dennoch an diese Themata,
vielmehr werden ihm solche zur Bearbeitung gegeben, so wird er zu der
Angabe noch einige Worte machen , welche aber im Grunde nichfs sind
als Umschreibung des im Buche Gegebenen ; er wird in Geschwätz und
Faselei verfallen. Dieses Uebel wünscht aber der Hr. Verf. ebenso wenig
als Ref. Vgl. die Vorr.
Es folgen B. Nachahmungen und Erfindungen. Die Gliede-
rung ist hier folgende. I. Nachahmungen , z. B. lat. Geschichtsreden , die
nicht genug zu lobenden Auszüge aus gröszeren Abhandlungen usw.
11. Poetische Erfindungen und Nachahmungen, z. B. Fabeln aus Sprüch-
wörtern , Veränderungen bekannter Fabeln usw. Man vgl. hierüber Les-
sing. Einen Anhang hiezu bilden metrische Aufgaben. Ref. hat zwar
irgendwo gelesen : 'Metrische Aufgaben wird kaum Jemand mehr empfeh-
len', aber dennoch hält er die deutschen wie die lateinischen (und hier
hat er den Philosophen Seh ellin g auf seiner Seite) für sehr nützlich
und anregend , wenn sie nur nicht gar zu prosaisch betrieben werden.
Daher haben denn auch Andere , z. B. Kehrein und Götzinger solche me-
trische Aufgaben angehängt. Vor Allem aber ist nicht zu vergessen Vie-
hoff. G. Aus der Societät; und zwar I. Beschäftigungen und Stände;
II. Zustande im geselligen Leben; HI. Gesellschaft und Staat; IV. Regierende
und Regierte. Sieht man blosz diese Ueber Schriften oder auch die nackten
Titel der Aufgaben, so könnte der Hr. Vf. leicht in den Verdacht kommen,
als wolle er die Jünglinge zu Politikern, zu demagogischen Schwätzern er-
ziehen. Was kann ein unreifer Verstand von der Staatsform u. dgl. verste-
hen? Ist es doch gerade ein Uebel unserer Zeit, dasz politische Unklarheit
in so vielen Köpfen herscht, diese aber doch Tonangeber und Stimmführer
sein und überall mitschwätzen wollen! — Nun, gar so schlimm steht
es denn mit den Aufgaben in diesem Kapitel nicht, dasz eine Gefahr für
den Staat zu befürchten wäre. Der Hr. Vf. weiset aber selbst S. VII, IX
u. X der Vorr. darauf hin , warum er solche Themata gegeben und wie
sie zu behandeln seien. Wie unschuldig ist auch das Thema: fDas Eleu-
sische Fest von Schiller', oder *Lob des Waldes', oder selbst Tac. Ann.
3, 26 : postquam — provenere dominationes , da die Aufsätze ja nur die
Darstellung des Schriftsteilers teils ergänzen , teils mit Hülfe anderer ge-
schichtlichen Thatsachen beleuchten sollen. Freilich musz der Lehrer
sich selbst zu beherschen wissen, um nicht ins Politisieren zu verfallen.
— Es folgt
D. Aus der Geschichte. I. Zustände und Entwickelungen oder
Ursachen und Wirkungen ; II. Geistige Entwiekelungen , besonders in Re-
ligion und Wissenschaft; III. Charaktere, Thaten und Schicksale; IV. Hi-
storische Parallelen. — Der Hr. Verf. sagt im Vorwort S. XV: * Unsere
Schüler sollen Mühe haben, den Stoff zu bewältigen, sowie jeder, der
etwas Gedachtes schreiben will, aber nicht Sklaven des Stoffes bleiben,
39*
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568 Härtung: Themata zu deutschen Ausarbeitungen.
was zur Verdummuug, nicht Geislesbildung führt Hinwiederum über
alltägliche Dinge die Schüler reden zu lassen, sowie jeder
reden kann, scheint mir der Würde der Sache nicht ange-
messen.' Ganz richtig; triviale Aufgaben, z. B. Beschreibung der Es-
sigbereitung, der Pflasterung, das Heramen der Wagen durch Hemmschuh
oder Kette, wie sie Götzinger in seiner sonst so vortrefflichen * Stil-
schule9 gibt, tragen zur Humanitätsbildung gewis recht wenig bei; aber
ebenso sehr zu vermeiden sind die * verstiegenen* (besser: die sich ver-
steigenden) Aufgaben , die in Regionen sich bewegen , welche über das
Verständnis des Schülers hinaustiegen und für welche die Schwingen
seiner Phantasie noch zu schwach sind (vgl. Hör. a. p. 229. 230 mit
Döderlein's Note). Wragl er sich trotzdem hinan, so wird eintreffen,
was der Hr. Verfasser S. XV sagt: fWenn aber solches oberflächliches
Reden gar auf höhere Gegenstände übergetragen wird, so hat es die
schlimme Folge , Schwätzer , Heuchler und Hohlköpfe zu bilden , welelie
mit Allem fertig zu sein glauben, weil sie über Alles ohne Einsicht und
Empßndung zu raisonnieren gewöhnt sind.' Was soll selbst ein tüchtiger
Primaner mit dem Thema machen: 'Gegenseitiges Verhalten des Papst-
tums und Kaisertums'? Wir Alle wissen, welch' erbitterter Streit in
neuester Zeit von den bedeutendsten Historikern und andern tüchtigen
Männern über dieses Verhältnis geführt wurde und wie dieser Streit noch
nicht entschieden ist. Wenn nun solche Männer eine ganze Lebenserfah-
rung und ein ganzes reiches Studium auf die Geschichte jener Zeit und
dieses Verhältnis anwenden können und doch das Thema nicht allbefrie-
digend zu lösen im Stande sind, sollen es dann Schüler können? So fin-
den sich noch mehrere derartige zu hoch gegriffene Aufgaben, z. B. Sha-
kespeares Protestantismus und Calderon's Katholicismus (wobei noch in
Frage kommt, ob denn das Thema überhaupt richtig gestellt ist; denn
über den Protestantismus Shakesp. herscht Differenz). Hiebei mag nach-
traglich erwähnt werden, dasz auch unter den früheren Kapiteln das eine
oder andere Thema zu hochgehend ist, z. B. die Natürlichkeit der Geister-
erscheinungen bei Shakespeare. Doch ist andrerseits nicht zu verkennen,
dasz, wie der Hr. Vf. die näheren Gesichtspunkte angegeben hat, sich dem
Thema auch von Seiten eines Schülers Manches abgewinnen läszt. Und
dieser gute Tact mag wieder von der Vortrefflichkeit des Buches Zeugnis
geben.
Endlich E. Ueber Handeln, Wissen und Glauben. I. Der
Mensch gegenüber der Natur; II. Der Mensch gegenüber den Menschen;
III. Ueber die Förderung unseres innern Menschen; IV. Zeitliches und
Ewiges ; V. Definitionen und Unterscheidungen. — Dieses Kapitel behan-
delt, wie man sieht, neben den philosophisch gehaltenen Aufgaben, wor-
über der Hr. Vf. ebenfalls in der Vorrede das Nähere angibt , vorzüglich
die sog. moralischen Themata. Gegen diese ist in neuerer Zeit ein groszer
Feldzug unternommen worden, indem man ihnen zum Vorwurf machte,
dasz die Schüler dabei nur zu leicht in den Predigerton, ins Moralisieren
verfallen und Heuchler werden. Mit Recht. Wie oft schreiben Schüler
die besten und schönsten Gedanken über die gute Benützung der Jugend-
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Härtung: Themata zu deutschen Ausarbeitungen. 569
zeit u. dgl. nieder, während gerade sie dieselbe am schlechtesten anwen-
den und sich über die Schulgesetze frech erheben! Darum sind auch
Themata einer bekannten Sammlung, wie: fDer grosze Werth und die
Wichtigkeit der Religion in den Jugendjahren ' oder c Werth der Arbeit-
samkeit' (diesen kennt der Schüler ohnehin), oder 'der Segen aus dem
Anschauen des Todes* usw. nach Meinung des Ref. im Schulunterrichte
durchaus ungeeignet. Wie kann man auch einem lebensvollen achtzehn-
jährigen Jünglinge zumuten, sich tief in die Anschauung des Todes zu ver-
senken? Aber es soll hiermit nicht behauptet werden, dasz die moralischen
Aufgaben gänzlich zu verwerfen seien. Stoffe aus der praktischen
Moral werden dann gewählt werden können, wenn sie so concret als
möglich, ich möchte sagen individuell behandelt werden; denn dann
wird das allgemeine Raisonnieren keinen Platz finden. So möchte Ref.
selbst das Thema: Werth und Nutzen der Classiker, nicht so hinstellen,
sondern in concreter Frageform: 'Was wiszt ihr über den Nutzen und
die Notwendigkeit der alten Classiker zu sagen?' Vgl. Nägelsbach, Gym-
nasialpädagogik, herausg. v. Autenrieth, S. 86.
Hr. Härtung nun hat hier zwar nicht alle Gefahr vermieden, aber doch
lassen sich die meisten Themata vermöge der Art, wie sie näher gezeich-
net sind, billigen. Auch Einl. S. XI spricht sich des Näheren darüber aus.
Dadurch dasz er vorzüglich Beispiele von Personen aus antiken und
modernen Schriftstellern anführt, wird die Sache anschaulich und kann
mehr concret gehalten werden. Und wie bei uns es einmal steht, lassen
sich solche Themata nicht durchweg entbehren. Aeltere und jüngere
Lehrer sind ihrer gewohnt, erstere durch die selbstgeübte Praxis, letz-
tere durch die an ihnen geübte Praxis ; von oben werden z. B. in Bayern
bei den Abiturientenprüfungen dergleichen Aufgaben gegeben; endlich
mag auch hier ein allmähliches Verschwinden der unpassenden erfolgen.
Die Themata sind originell oder doch wenigstens so selbständig be-
arbeitet, dasz sie auf Originalität Anspruch machen können; z. B. eventus
stultorum magister est (auch bei Herzog) ; dimidium facti qui bene coepit
habet; sapere aude (Bomhard); das Leben eine SchiflTahrt (Hopf); die
Gegenwart die Mutter der Zukunft (Veen) usw.
Die logische Durchführung der Themata ist im Allgemeinen lobens-
wert}]. Ansprechender möchte hie und da eine andere Form sein; so
sagt dem Ref. die Disposition über f Herraann's Charakter9 bei Kehre in
mehr zu. Dasz die Themata nicht so nackt hingestellt sind wie bei Rinne
groszen Teiles, ist nur zu billigen; denn sonst weisz oft der Schüler
nicht, was er damit anfangen soll. Jedoch sind dieselben auch nicht
haarscharf in alle möglichen Unterabteilungen zerlegt wie bei Herzog.
Mit Recht ist auch auf die Chrie gehörige Rücksicht genommen.
Man vergleiche, was der gelehrte Seyffert Schol. lat. II p. V u. VI sagt;
auszerdem Nägelsbach 1. 1. S. 89. Treffend äuszert sich unser Hr. Vf.
S. XIII: 'Ganz wie die Chrie kann auch eine jede Sentenz behandelt
werden ; nur musz man dabei die wesentlichen Teile von den unwesent-
lichen unterscheiden und auch wissen, dasz die Anordnung nicht immer
die nemliche sein müsse.'
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570 Harlung: Themata zu deutschen Ausarbeitungen.
Noch verdienen die Worte S. VI gewis Erwägung und Beherzigung,
daher sie hier eine Stelle finden mögen. 'Kein Unterricht taugt, in welchem
die Schäler nicht auf irgend eine Weise zur Selbständigkeit veranlaszt
werden, und die Beschäftigung mit deutschen Dichtwerken kann gar zu leicht
eine Wosze Unterhaltung werden, wenn der Lehrer nicht die Mittel findet,
sie zum Gegenstande ernsten Arbeitens zu machen. Wer von solchen
Arbeiten keinen Begriff hat, dem verdenken wir es nicht, wenn er die Lec-
tflre deutscher Dichtwerke nur dann und wann wie Zuckerbrod im Unter-
richte gönnen will ; und von dem nemlichen Standpunkte aus wird auch
die Vorlegung derartiger Themata, zu denen der Stoff erst mit Hülfe des
Lehrers mühsam gewonnen werden rousz, widerrathen werden. Von
demselben Standpunkte aus erwarten wir auch , dasz man uns mit den
bekannten Schlagwörtern : pectus facit disertum, und le style est Thomme,
entgegentrete. Man gebe, spricht man, den Schulern einen Stoff, bei dem
sie warm werden können, denn iin Affecte ist Jedermann beredt genug;
Bilder, Metaphern und aller mögliche Schmuck der Rede strömen dem
begeisterten Redner von selbst zu in wolgebildeten Sätzen und gelenkigen
Satz verschlingungen :
Da ist Jedem die Zunge gelöst, es sprechen die Greise,
Männer und Junglinge laut, voll hohen Sinns und Gefühles.
Mit andern Worten hiesze das: laszt nur eure Schuler recht viel unge-
waschenes Zeug über gewisse Gemeinplätze, wie Vaterlandsliebe, Tugend,
Freundschaft , ohne klare Begriffe zu Markte bringen und eignet euch Ge-
duld an, dasz ihr es anhören könnt ; übt sie nur recht fleiszig in leerer
Tugendschwätzerei, Affection und Schönthuerei mit den heiligsten Gefüh-
len ; fangt nur gleich mit dem pathetischen Stile an und laszt euere Zög-
linge nur gleich ohne weiteres auf den Pegasus steigen , der schon ge-
wohnt ist , sich von den Jungen reiten zu lassen.' Diesem Eifer gegen
leeres Geschwätz entsprechend ist es denn auch , dasz der Hr. Verf. vor
den langen, in der Regel nichtssagenden Einleitungen warnt und
es empfiehlt, sich gleich in medias res (Hör. a. p. 148) zu versetzen.
Sollen wir noch ein Gesamturteil über das Buch aussprechen, so
kann dasselbe nach der obigen Ausführung nur ein günstiges sein. Und
so empfehlen wir es denn allen Lehrern und selbstthätigen Schülern
um so mehr, als ein nicht zu hoher Preis und elegante Ausstattung diese
Empfehlung unterstützen.
A. G.
46.
Ein Wort über lateinische Anmerkungen in den Ausgaben
griechischer Prosaiker.
Da die Demosthenische Schullectüre zumeist auf die Philippischen,
vielfach bearbeiteten Reden beschränkt ist, so habe ich einen schon frü-
her gefaszten, längere Zeit beseitigten Plan wieder aufgenommen und
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Ein Wort über lat. Anmerkungen in den Ausgaben gricch. Prosaiker. 571
die Reden für die Megalopoliten (XVI) und für die Freiheit der
Rhodier (XV) und zwar in dieser von der Zeilfolge gebotenen und vom
Dresdner Codex, dessen Varianten am Schlüsse beigefugt sind, befolgten
Ordnung herausgegeben. Die Bearbeitung ist in lateinischer Sprache ab-
gefaszt und zwar aus folgenden Gründen. Nachdem eine Zeit lang die
Grenzen des Lateinischsprechens und -Schreibens in Gymnasien beengt
worden waren, hat man neuerdings dieselben wieder zu erweitern be-
gonnen: diesem Zwecke durften lateinische Anmerkungen in den Aus-
gaben griechischer Prosaiker — um jetzt nur diese ins Auge zu fassen —
förderlich sein: der Schuler wird dadurch an das lateinische Denken, wel-
ches für das Schreiben nicht entbehrt werden kann, gewöhnt. Wenn
nun die Erklärung, z. B. eines griechischen Redners und die Besprechung
über den Inhalt und die Bedeutung seines Vortrags von dem Lehrer in
lateinischer Sprache geführt wird, so müssen meines Erachtens auch die
Anmerkungen zu der Ausgabe, die man dem Schüler in die Hand gibt, in
dieser Sprache abgefaszt sein; dadurch wird derselbe in den Stand ge-
setzt, der lateinischen Erklärung zu folgen und erforderlichen Falles sich
selbst auszudrücken. Ein zweiter Grund ist die geistige Gymnastik: sie
ist bekanntlich ein Hauptzweck unserer Gelehrtenschulen, und es darf
kein Mittel unversucht bleiben , welches dazu führt , dieselbe zu fördern.
Für eines derselben gjlt auch die Notwendigkeit, in weiche der Lernende
versetzt wird, Gegenstände, welche sich für den Gebrauch der latein.
Sprache eignen, in dieser selbst behandeln zu lernen. Ich weisz recht
wol, was sich für die Anwendung unserer, mir überaus theueren Mutter-
sprache sagen läszt, ich weisz, was die Ausgaben der Haupt-Sauppeschen
Sammlung Treffliches geleistet haben und noch leisten ; indessen solange
die allen Glassiker noch den Mittelpunkt des Gymnasialunterrichts bilden,
wird man auch lateinischen Noten eine Stelle wenigstens unter dem Texte
griechischer Prosaiker aus den angegebenen Gründen gönnen und mein
Verfahren gerechtfertigt finden.
Schlieszlich sei noch erwähnt, dasz ich in der Textreceusion mög-
lichst dem bekannten C gefolgt bin und folglich in den meisten Stellen,
wenn auch nicht durchgängig der trefflichen Ausgabe meines verehrten
Freundes , Professor Voemel , Halle 1857. Ihm und dem hochverdienten
I. Bekker (1824. 1864), dem Begründer einer neuen Aera für den Text des
Redners, welchem die Zürcher Ausgabe (1839 — 43) undW. Dindorf (1825.
1855) selbständig und kritisch gefolgt sind, glaubte ich es schuldig zu
sein, die Abweichungen von ihren Ausgaben anzugeben, was in mög-
lichster Kürze unmittelbar unter dem Texte geschehen ist. So ist man
von allen neuen Leistungen zugleich in Kenntnis gesetzt. Zur geschicht-
lichen Erläuterung dienen auszer den Anmerkungen die vorausgeschick-
ten Prolegomena und der einigen Stellen beigefügte historische Commen-
tar. Bei der sprachlichen Erklärung habe ich Lehrende und Lernende
berücksichtigt, und für die ersteren die Verweisungeu auf die betreffende
Litteratur, für die letzteren die auf die gangbaren Grammatiken von Krü-
ger und Curtius bestimmt. In wiefern ich das richtige Masz getroffen
und mein Ziel immer im Auge behalten habe, mögen Andre nachsichtig
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572 Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen.
beurteilen und ihre Billigung oder Misbilligung des eingeschlagenen Ver-
fahrens gefälligst kund geben : ich wollte mich nur gegen den Vorwurf
der Inconsequenz möglichst verwahren.
Dasz die freundliche Aufnahme, welche die erste Frucht meiner De-
mosthenischen Studien 1817 und 1818 fand, mir auch im vorgerücktem
Alter zu Teil werde, und dasz die Leser sich für die Megalopoliten
und die Rhodier, für welche beide sich Demosthenes bei den Alheiiien-
sern verwendete, teilnehmend interessieren, ist der innige Wunsch des
Unterzeichneten.
Dresden. C. A. Rüdiger.
Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, statistische
Notizen, Anzeigen von Programmen.
Programme aus dem Königreiche Sachsen 1863.
Büdissin.] Abhandlung von Gymnasiallehrer Dr. Schubart: Zur
Geschichte des Gymnasiums in Büdissin. 1. Abteilung, Es ist unter alles
Umständen interessant, die Geschichte eines Gymnasiums von den ersten
Anfängen an, soweit es die oft lückenhafte Ueberlieferung gestattet,
bis auf die Gegenwart zu verfolgen; um ein Bedeutendes aber wird
dieses Interesse dann erhöht, wenn die betreffende Schule einer Stadt
und einem Landesteile angehört, die in den früheren Jahrhunderten
eine eigentümliche, fast in sich abgeschlossene - Entwicklung gehabt
haben. Es ist daher als ein sehr dankenswertes Unternehmen zu be-
grüszen, dasz der Verfasser es unternommen hat, die innere Geschichte
des Gymnasiums zu Büdissin von der Zeit an, wo die ersten Quellen
vorliegen, zu schildern; nicht minder aber ist der Fleisz und die Um-
sicht anzuerkennen, womit das zum Teil schwer zugängliche Material
benutzt und zu einer übersichtlichen, von Anfang bis zu Ende anzie-
henden Darstellung verarbeitet ist. Seine Quellen waren auszer den
Programmen, die jedoch aus der altern Zeit keineswegs vollständig er-
halten sind, besonders die Praxis lectionum und die Schulnachrichten
von Rector Theil (1641—1679), dann die leges scholasticue vom J. 1700,
welche in ihrer wesentlichen Anlage zurückgehen auf die alten Schal-
gesetze vom J. 1592. Diese sind abgefaszt vom Rector Nehrkorn,
der nach der kurzen Wirksamkeit von zwei Jahren von dem Rathe der
Stadt nach Gutachten der Frankfurter theologischen Facultät seines
Amtes entsetzt wurde, weil er fdas Gift des Crjptocalvinismus verbrei-
tet habe'. Diese Gesetze enthalten eine für ihre Zeit musterhafte
Schulordnung. Auffällig erscheint uns darin allerdings die Einrichtung
einer Art von Beamtenstand unter den Schülern selbst, um Controle
der verschiedensten Art auszuüben, eine Einrichtung, die in der kurz
darauf (1596) von Rector Gerlach vollzogenen Revision der Nehrkorn-
schen Gesetze noch weiter bis ins Ein zeigte ausgebildet ist. Vieles
davon war jedenfalls der Zeit entsprechend; und Aehnliches hat sich
ja in Schulen, die eine continuierliche Tradition aus früherer Zeit sich
bewahrt haben, bis auf den heutigen Tag erhalten; Anderes aber hat
gewis yon vornherein nur auf dem Papier gestanden und ist nie zur
lebendigen Ausführung gekommen. Es finden sich da Anordnungen,
die lebhaft an die neueste, ihrerzeit viel besprochene Bunzlauer Schul-
ordnung erinnern, und dem Verfasser derselben leicht den Ruhm der
Originalität rauben könnten; genug, das Alles musz in der Schulpraxis,
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Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen. 573
die einmal schlechterdings sich nichts Widernatürliches aufdringen
läszt, schon längst aufgehoben gewesen sein, ehe die neue Abfassung
der Schulgesetze vom Jahre 1700 es auch äuszerlich beseitigte. — • Die
größte Teilnahme wird jeder Leser den Abschnitten zollen, wo über
die Art und Einteilung des Unterrichts, über die schriftlichen und dis-
putatorischen Uebungen, über die alten Schulfeierlichkeiten die Rede
ist. Hier tritt, soviel behandelt auch der Gegenstand ist, immer noch
des Neuen und Wissenswerthen viel entgegen; wir sehen in den Haupt-
zügen das innere Leben der alten Gelehrtenschule vor uns mit ihren
Licht-, wie ihren Schattenseiten. Von den letzteren hier nur ein Wort,
weil wir dem Verf. in seinen Ansichten nicht durchaus beizustimmen
▼ermögen. So einseitig , sagt er , das Princip des damaligen Unterrichts
auch sein mochte , so erfolgreich sei es doch gewesen : die Schüler der
alten lateinischen Schule wüsten nicht sonderlich viel, aber sie
konnten wirklich etwas und waren in einem Fache gründlich und
tüchtig, wenn auch einseitig gebildet, usw. Aber, so fragen wir, was
ist es denn eigentlich, was die damaligen Schüler gründlich und tüch-
tig konnten? Etwa das Lateinsprechen und -schreiben? Das mag zuge-
geben werden, wenn man unter Latein den entsetzlich corrumpierten
und der classischen Latinität vollkommen fremdartigen Jargon versteht,
der damals als Gelehrtensprache verbreitet war. Dasz er damals tüch-
tig gelernt wurde, daran haben wir nichts auszusetzen, denn er war
in gewissem Sinne eine lebende Sprache und für die wissenschaftliche
Mitteilung unentbehrlich; allein dieses Sonst kann doch unmöglich als
Muster für unsere Zeit aufgestellt werden. Oder weiter, lernte man
damals die alten Schriftsteller, die gelesen wurden, verstehen? In der
Schule wenigstens und durch den Unterricht nicht, das gibt der Verf.
selbst zu. Endlich auch auf die formale Bildung in dialektischer Ge-
dankenentwickelung, die durch die vielfachen Disputierübungen erreicht
wurde, ist so viel nicht zu geben, und am allerwenigsten können wir
es für unsere Schule brauchen. Mit einem Worte, wünschen wir uns
den Geist, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im fol-
genden Jahrhundert die Gelehrtenschule beherschte, nicht zurück! Er
war doch nur ein Ableger des starren Formalismus und der geistigen
Erschlaffung, die leider jene Periode kennzeichnet. Endlich zum Schlusz
noeh ein äuszerer Beweis, oder vielmehr Hinweis zum Vergleich für
sonst und jetzt, womit wir speciell zu den Verhältnissen des Budissiner
Gymnasiums zurückkehren. Es ist rührend zu lesen, sowol mit wie
geringen Mitteln das Gymnasium sich in jenen Zeiten behelfen muste,
als auch wie es den Unterricht mühsam von den ersten Anfangsgründen
des Lesens an aufnehmen muste, und, was die notwendige Folge der
beschränkten Lehrkräfte war, wie verschiedenartige Elemente oft in
einer Classe zusammengepfercht sein mochten. Sollte da jetzt nichts
Besseres und Tüchtigeres geleistet werden, wo die meisten Gymnasien
unter der unmittelbaren Obhut der Staatsbehörde stehen, wo ansehn-
liche Fonds jährlich für dieselben verwendet und die tüchtigsten Lehr-
kräfte nach freiester Wahl herangezogen und verwendet werden? In
gleichem 8inne liesze sich noch einigen anderen Anspielungen auf die
Gegenwart, die der Verf. gelegentlich fast mit einer gewissen Bitter-
keit einstreut, entgegentreten; doch wir unterlassen das als nicht hier-
her gehörig.
Aus dem Jahresbericht. Am 4. Oct. 1862 wurde der G.- Lehrer,
Herrn. Trautzsch, als Diaconus nach Chemnitz berufen, und trat an
dessen Stelle der Candidat des Predigtamts, Dr. J. Fr. Wild. Der
wendische Unterricht wurde an Diaconus Mros übertragen.
Dresden.] Gymnasium zum h. Kreuz. De aliquot locis Gorgiae
Plalomci scr.M. Wohlrab. Die vorstehende Abhandlung zeichnet sich
zunächst dadurch vorteilhaft aus, dasz sie, ehe sie zur Behandlung
der einzelnen Stellen übergeht, eine allgemeinere Frage von Wichtig-
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574 Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen.
keit behandelt. Der Verf., der der Bonner Schule angehört und durch
sie die Grundsätze methodischer und besonnener Kritik sich angeeignet
hat, tritt mit Recht gegen die Behandlung weise auf, welche Hirschig,
einer der namhaftesten Vertreter der neuen holländischen Schule, am
Platonischen Text geübt hat. Es sei fern von uns Cobet's hervorragende
Verdienste im Gebiete der Texteskritik zu unterschätzen; im Gegenteil
wünschen wir, dasz das viele Treffliche, was er geschaffen, und die
Art, wie er es geschaffen, immer mehr zum Gemeingut auch der deut-
schen Philologen werden möge; allein das darf auch nicht verschwie-
gen werden, dasz bisher sein glänzender Name mehr als billig das
verdeckt und geschützt hat, was manche seiner Anhänger gesündigt
haben und noch sündigen. Hier ist eine durchgreifende Antikritik
dringend nötig; mit dem Ignorieren, wie bisher meist geschehen, ist es
nicht abgethan. Darum hat der Vf. der vorliegenden Scbulschrift ganz
wol daran gethan, die Differenzpunkte gegen Hirschig's Verfahren kurz
aufzustellen und seine Ausstellungen durch einige schlagende Beispiele
zu belegen. Gleich der erste Punkt, die von Hirschig mit groszer Vor-
liebe herbeigezogene ävdhrKr) logica sive diabetica betreffend, bringt Sa-
chen, die kaum glaublich sind. Obgleich hier schon Deuschle oppo-
niert hat, so können wir doch nicht unterlassen, das Widersinnige des
in Gorgias S. 460 C von Hirschig eingeschobenen dcl durch ein Beispiel
zu belegen. Jedermann wird zugeben, dasz der Satz: Ein ehrlicher
Mann achtet fremdes Eigentum, zugleich den weiteren Satz in sich ent-
hält: also wird er niemals stehlen. Allein Herrn Hirschig ist das nicht
genug; er würde bei dem ersten Satze noch ein immer verlangen,
weil sonst der ehrliche Mann doch manchmal noch stehlen könnte! —
Ebenso stimmen wir dem Vf. in Betreff der beiden andern gegen Hir-
schig aufgestellten Punkte im Princip bei , worauf wir des Nähern hier
nicht eingehen können. — Was die einzelnen vom Verf. behandelten
Stellen betrifft, so bemerken wir, dasz die Annahme eines umfäng-
licheren Glossems S. 460, die in sorgfältigster Weise durch äuszere
wie innere Gründe bekräftigt wird, viel Wahrscheinliches für sich hat;
ferner heben wir hervor, dasz die schwierige Stelle S. 473 C in einfach-
ster Weise durch Annahme einer disjunetiven Frage erklärt wird; end-
lich, dasz S. 485 E das vielfach misverstandene xal iicavöv durch Nach-
weisung einer sogenannten gtadatio ad minus über allen Zweifel ge-
rechtfertigt wird. Es sei hier zur Vergleichung die Stelle bei Demo-
sthenes 3, 27 angeführt, die erst durch Annahme einer solchen Grada-
tion ihre rechte Bedeutung erhält: vuvl bk iriöc Vjuiv imö xu»v xpt]CTWV
tüiv vöv t& TrpdtMaT' £%€i; äpd T€ öjaoudc xal irapairXr)c(u)c; — es ist
vorher die vergangene, schöne Zeit Athens geschildert worden , und die
Antwort auf die Frage , wie die jetzige Lage sei, lautet bitter, dasz es
nicht gleich, nicht einmal ähnlich stehe wie sonst. — Zurückzu-
weisen ist die S. 483 A vorgeschlagene Aenderung toüt3 für iräv. Ab-
gesehen von der Unwahrscheinlichkeit, wie das letztere aus dem erste-
ren verschrieben werden konnte, spricht entschieden dagegen das gleich
folgende öirep, wofür, wenn man einmal toOto liest, ein öti oder fjircp
stehen müste: von Natur ist dies, das Unrecht leiden, schimpflicher, weü
(oder insofern) es schlechter ist. Aber öirep schützt offenbar das hand-
schriftliche iräv, und dies wieder führt notwendig zur Auswerfung des
Glossems tö äbiX€ic8m, ohne dasz jedoch mit Dobree auch die Worte
vö|miu bk tö doixetv zu tilgen wären. Uebrigens bleibt der Gedanke
derselbe, nur dasz dem Leser zugemutet wird, zu dem* allgemeinen
Satze iräv crtcxiöv £ctiv öirep xal xdxiov gleich den besonderen (also
auch das Unrecht leiden' sich hinzuzudenken.
Aus den Schulnachrichten. Wegen Kränklichkeit wurde der
seit 1824 an der Schule thätige Conrector Dr. theol. u. phil. Böttcher
pensioniert, jedoch blieb er noch durch Erteilung des hebräischen Un-
terrichts für die Schule thätig. In das Ordinariat der Obersecunda trat
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Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , staust. Notizen. 575
Dr. Hultsch ein. Das Conrectorat erhielt Professor Heibig. Neu
angestellt wurden Dr. Hölbe und Cand. theol. Ehrt.
Dresden.] Vitzthumsches Gymnasium. Abhandlung über die
Reform des Religionsunterrichts auf den Gymnasien. Vom Oberlehrer M i -
chael. Beform des Religionsunterrichtes auf den Gymnasien ist ein
Titel, der viel besagt, der aber auch zugleich die »Schrift, die ihn
führt, einem höhern Maszstabe der Beurteilung unterwirft, als ihn
sonst Schulprogramme zu beanspruchen pflegen. Schon aus diesem
Grunde würden wir es uns versagen müssen, hier auf eine erschöpfende
Besprechung der genannten Abhandlung einzugehen. Dazu kommt, dasz
derselben schon in einer verwandten Zeitschrift (Zeitschr. für Gymna-
sialwesen 1863 S. 536) zwei ausführliche Recensionen von competente-
ren Richtern gewidmet worden sind. Auch der Unterzeichnete ist der
Meinung, dasz eine Durchführung der vorgeschlagenen Reform nicht
blosz aus inneren Gründen unthunlich, sondern schon deshalb unmög-
lich sei, weil sie, das ist wol sicher vorauszusetzen , gegen die Ueber-
zeugung der dabei Beteiligten verstoszen würde. Sicherlich werden
die meisten Religionslehrer vorziehen festzuhalten an dem Boden der
gesetzlichen Regulative, die bisjetzt den Religionsunterricht ordnen
und die mit gerechter Würdigung aller Verhältnisse so wol auf der einen
Seite die feste Norm vorschreiben, als auf der andern der Individuali-
tät des Lehrers die Freiheit lassen, ohne welche ein gedeihliches Wir-
ken unmöglich ist. Hiermit nähern wir uns zugleich wieder dem Ver-
fasser. Seine Schrift ist alles andere, nur nicht objectiv; allein wenn
irgend eine eigentümliche subjective Meinungsäuszerung, sobald sie nur
auf einem tüchtigen Fond beruht, berechtigt ist, so verdient die sei-
nige wolwollende Anerkennung. Es weht ein eigentümlich frischer,
fesselnder Hauch durch die Schrift vom Anfang bis zum Ende ; es sind,
was man anderwärts in langen Abhandlungen oft vergeblich sucht, Ge-
danken, lebendige Gedanken darin, die selbst für den, der sich zum
Widerspruch veranlasst sieht, fruchtbringend sein müssen; es ist end-
lich darin das Feuer der tiefinnersten Begeisterung für die erwählte
Sache, welches vor Allem zündend wirken musz in den Herzen der
hörenden Jugend. Mag also immerhin der von ihm vorgezeichnete Weg
nicht der allgemein maszgebende sein, noch je es werden können; von
dem Verfasser selbst ist er gewis mit Glück und gutem Erfolge einge-
schlagen worden, dafür gibt die ganze Schrift beredtes Zeugnis. —
Einige sachliche Bemerkungen fügen wir noch hinzu über den ersten
Teil des vom Vf. vorgezeichneten Cursus, fden Gang durch die heidni-
schen Religionen9. Hier fehlt es an der genügenden Beherschung des
Materials; würde der Vf. tiefer in dasselbe eindringen und zunächst
erkennen, wie fast unendlich weitläufig dasselbe ist, gewis, er würde
den Gang durch die heidnischen Religionen wenigstens nicht eher vor-
schlagen, als bis ein auf Quellenstudium beruhendes Compendium dem
Lehrer den Weg selbst möglich machte. Denn mit so kurzen Bemer-
kungen, wie z. B. dasz noch 100 Millionen Menschen dem Scham an en-
tume und Fetischismus angehören, ist es nicht abgethan. Oder, und
das ist noch viel auffälliger, gibt es für die indische Religion, oder
richtiger gesagt, Religionen, keine anderen Quellen als die vom Vf.
(S, 32 f.) angeführten? Wo bleiben die Vedas, die hier unbegreiflicher
Weise fehlen und erst später gelegentlich, aber irtümlich als Helden-
bücher angeführt werden? wo bleibt die umfängliche theologische Lit-
teratur der gelehrten Hindus, von deren Ausdehnung allerdings nur der
einen Begriff haben kann, der die indischen Studien eingehend gepflegt
hat? dann den Hitopadesa (nicht Hitopatesa!) als Quellenbuch für in-
dische Religion zu nennen, ist ebenso bedenklich, als wenn man etwa
Geliert'« Fabeln als christliches Religionsbuch anführen wollte. Uebri-
gens ist der Hitopadesa nur ein. dürftiger, verflachter Auszug aus dem
vortrefflichen Pantschatantra, welcher den ursprünglichen Geist der in-
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576 Berichte Ober gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen.
dischen Fabellitteratur viel besser zeigt; aber indische Religion würde
man auch hier vergeblich suchen. Und endlich, mit welchem Rechte
werden die durch und durch weltlichen Schauspiele, Sakuntala und Ur-
wasi, bestimmt für den glänzenden Hof eines prunkliebenden Fürsten,
als Religionsquellen angeführt? Aehnliches liesze sich noch Vieles aus
diesem Teile anführen.
Aus der Chronik des Gymnasiums. Professor Dr. K. A. Müller
starb am 16. Februar 1863 nach langjähriger, verdienstvoller Wirk-
samkeit.
Grimma.] Dissertatio de nonnullis figuris, quibus poetae Laiini utun-
iurt in exemplum adhibitis septem primis libris metamorphoseon. Scripsit
H. Loewe. Die altclassische Philologie gehört sicher zu den duld-
samsten Disciplinen, die man sich denken kann. Von jeher daran ge-
wöhnt, mit den verschiedenartigsten Bedürfnissen der Schulpraxis und
des elementaren Unterrichts sich verschwistert zu sehen, misgönnt sie
es keinem ihrer Jünger, wenn er ein noch so beschränktes Plätzchen
in der Wissenschaft zur Bebauung sich vornimmt, sie weisz selbst für
die kleinste Frucht, die da gezeitigt wird, zu danken, weil es doch
ein wenn auch noch so geringer Beitrag zum Ganzen und Groszen ist.
Doch gewisse Grenzen gibt es schlieszlich auch hier. Eine gar zu geist-
lose Compilation, eine allzu oberflächliche Untersuchung, die nirgends
scharf auf die Sache eingeht, ja kaum ihres Zweckes sich selbst be-
wust ist, rausz auch vor dem duldsamsten Forum zurückgewiesen wer-
den. Eine dissertatio de nonnullis ftguris, quibus poetae Latim utuntur
könnte ihrem Titel nach gewis viel Interessantes bieten; allein was
diese vorliegende dissertatio biete und welchem Zwecke sie diene, das
fragen wir erwartungsvoll jeden der sie gelesen hat, weil wir selbst
die Antwort nicht zu finden vermögen. Soll sie etwa dazu führen, um
in die geheimnisvolle Werkstätte einzudringen, wo der Genius des
Dichters schafft und bildet? Nach der Abhandlung kann man sich
diese Werkstätte kaum anders denken als wie einen Apothekerladen,
wo verschiedene Fächer mit den Aufschriften antithesis, apostrophe, as-
sonantia usw. beklebt sind und dann bald in den, bald in jenen Kasten
gegriffen wird, um die nötigen Ingredienzen herauszunehmen. Oder
soll aus der Dissertation für die Schullectüre des Ovid geschöpft wer-
den? Darüber spricht sich der Vf. selbst zweifelnd aus: quantum autem
ex his rebus impertiri debeat inferiorum ordinum discipuHs} ea quaestio est
artis didacticae, non huius loci. Wir maszen uns nicht an diese f didak-
tische9 Frage zu lösen; aber bedauern müsten wir aufrichtig die armen
Schüler, die in den Ovidstunden bei jedem fünften oder zehnten Verse
hören müsten: hier ist copia (?), hier ein constructum dtrö koivoö, ein
kujAov oder KÖ^a, hier negatio et afftrmatio coniunctae de eadem re, hier
peripkrasis, dort polyptotum usw. Endlich auch nicht einmal als Mate-
rialsammlung ist das Vorliegende zu brauchen, zunächst aus dem ein-
fachen Grunde, weil die Sammlung blosz bis zur Hälfte des achten
Buches (jedenfalls eine originelle Abteilung, es ist mathematisch genau
die Hälfte des Ganzen) sich erstreckt. Aber auch mit der Art, wie die
Kategorien aufgestellt und diesen die einzelnen Fälle subsumiert sind,
wird schwerlich jemand sich einverstanden erklären. Was ist unter
figura zu verstehen? Die Abhandlung selbst schweigt darüber; sie ci-
tiert nur in einer Anmerkung zur ersten Zeile die Definition Hermann's.
Aber eine nähere Untersuchung war hier doch unbedingt notwendig;
sie würde auch zu einem Hauptpunkte geführt haben, den der Vf. ganz
ignoriert, zur Unterscheidung der dichterischen und rhetorischen Figur.
Und dann die einzelnen Kategorien! Wir nehmen beispielsweise asso-
nantia et allilteratio. Was der Vf. darunter versteht, darüber bleiben
wir wieder im Ungewissen; er citiert nur in einer Anmerkung Diller,
Pontanus , Näke ; auszerdem hat natürlich Niemand weder in alter noch
in neuer Zeit darüber geschrieben! Controlieren wir nun die einzelnen
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen. 577
Beispiele, so lernen wir, dasz zur Assonanz und AUitteration gehört
Metam. 2, 476 prensis a fronte capillis, oder 536 niveis argentea pennis, oder
6, 148 ante suos Niobe thalamos (!). Wenn das noch Assonanz oder über-
haupt eine figura sein soll, so könnte eine hohe Preisaufgabe darauf
gesetzt werden, irgend einen Vers nicht blosz bei Ovid, sondern bei
irgend welchem lateinischen Dichter aufzufinden, in dem keine figura
vorkäme; ja es musz dann schon der schlichteste und anspruchloseste
aller Sätze, mensa est rotunda, für eine solche Figur gehalten werden.
— Dann die Kategorie der copia. Hierher gehören Ausdrücke wie:
glacies adstrieta pependitt vieta iacet pietas, iaculum fixum constitit! Mit
welchem Rechte? Hier müssen wir den Vf. selbst reden lassen: copiam
nunc voco plenum quoddam dicendi genus, quo veteres non raro multo quam
nos uberius et fusius res describunt, eoque vocabulo utor nostri potissimum
sermonis ratione habita(!), qui Uta brevius plerumque et exilius dieimus, Re-
tuli kuc illum usum, quo Ovidius eandem vel similem notionem saepius quam
nos fere solemus, sed vario semper modo repetit; inprimis autem illum,, quo
Homani verbo, quod iam per se rem non solum nominat, sed etiam describit
(graphicum possis dicere), constanti more partieipium vel adiectivum addunt
similis notionis, ex quo, si vernaculam linguain comparas, nascitur quaedam
dictionis dbundantia. Jedenfalls ein eigentümliches Princip den Sprach-
gebrauch eines lateinischen Dichters zu erklären! Aber es hat zu wich-
tigen Aufschlüssen geführt, das sehen wir bei der Behandlung der eU
lipsis. Beispiel dafür 5, 55: iaculo quamvis distantia misso figere doclus
ei*aty sed tendere doctior arcus. Wo ist hier eine Ellipse? Bei doctior
fehlt noch! Armer Ovid! du hast das in deiner Unschuld geschrieben;
aber was eigentlich dahinter steckt, hast du doch nicht gemerkt. Das
nauste dir nach fast 2000 Jahren ein Deutscher sagen , ein Nachkomme
jener schlimmen Barbaren, gegen die schon die Legionen deines Kai-
sers nichts ausrichten konnten. Du hast die deutschen Worte (er war
noch geschickter' ins Lateinische übersetzt mit Weglassung des noch
und damit die Figur einer etlipsis angewendet! Lies das Programm
eifrig durch, und du wirst noch Manches finden, wovon du nichts ge-
ahnt hast!
Aus der Chronik der Landesschule. Der 7. Professor Dr. Lipsius
übernahm das Conrectorat der Nicolaischule zu Leipzig. In seine Stelle
rückte Professor Dr. D i n t e r. Dr. Frohberger erhielt das Ordinariat
von Secunda. Für die 9. Oberlehrerstelle wurde angestellt Dr.E. G.K o eh.
Leipzig.] Nikolaigymnasium. Nobbit interpretatio carminum So-
phocleorum Oedipi regis lyricorum metrica. Der Vf. ist römischer gesinnt
als die Römer selbst. Die lateinischen Dichter haben mit richtigem
Tacte sich nicht daran gewagt, die schwierigen Metra der griechischen
Chorgesänge in ihre Sprache zu übertragen; sie wüsten nur zu gut,
dasz wenn auch Fusz für Fusz der Quantität nach wiedergegeben
würde, damit doch noch kein lateinisches Gedicht zu Stande käme.
Indessen wäre es ungerecht, diesen Maszstab an die interpretatio carmi-
num Sophocleorum anzulegen. Mit demselben Recht, wie man sich ab-
müht, Sophokleische Metra ins Deutsche genau zu übertragen, musz es
auch gestattet sein eine lateinische Uebersetzung zu versuchen. Auch
Cicero hat ja, obgleich er bekanntlich nichts weniger als Dichter war,
viel versificiert, besonders gern aus griechischen Originalen metrisch
übersetzt; er empfiehlt diese Uebung angelegentlich der Jugend, weil
er meint, dasz sie dazu beitrage, zum Schreiben einer guten Prosa zu
gelangen. Ob dieser Zweck immer erreicht wird, lassen wir dahinge-
stellt sein.
Aus dem f Jahresbericht des Studiencursus \ Nach der Berufung
des 1. Adjunct Dr. Gebauer zum Conrectorat in Zwickau erhielt Dr.
Hultgren die erste, Dr. Dohmke die zweite Adjunctur. Conrector
Dr. Forbiger legte sein Amt nieder, nachdem er seit 1824 am Gym-
nasium thätig gewesen war. An seine Stelle trat Prof. Dr. Lipsius,
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578 Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, Statist. Notizen.
Meiszkh.] General Dietrich von Miltitz, sein Leben und sein Wohn-
sitz. Nebst vier noch ungedruckten Briefen an ihn von NovaUs und einem
Facsimiie von dessen Handschrift. Von Prof. Dr. Peters. c£s gibt aus-
gezeichnete Menschen, deren schöpferische Th'ätigkeit sich nicht nach
augenscheinlichen Ergebnissen messen, nicht in einer Reihe glänzen-
der Einz elthat en aufzählen läszt, wol aber, wenn auch im Stillen, doch
nachweisbar, die grosze Summe weltgeschichtlicher Entwickelungen bil-
den hilft. Zu diesen gehörte General Dietrich Ton Miltitz'. Mit diesen
Worten leitet der Verf. die Lebensbeschreibung eines Mannes ein, der
das Ehrendenkmal, welches ihm durch diese Schrift gesetzt wird, in
vollem Masze verdient. Ein Edelmann im schönsten Sinne des Wortes,
frei von jedem Standesvorurteil, empfänglich und begeistert für die
groszen Ideen seiner Zeit, treu und aufopfernd fhätig nicht blosz in
seinem Stammsitz, nicht blosz für sein engeres Vaterland, sondern auch
im Kampfe für die Befreiung Deutschlands von fremdem Joch, so hat
sich Dietrich von Miltitz das Anrecht auf ein bleibendes, dankbares
Andenken erworben. Dasz dies geschehe, dazu hat der Verf. der Bio-
graphie in vortrefflicher Weise beigetragen. Mit Benutzung der Quel-
len, die ihm das Miltitzsche Familienarchiv bot, hat er ein treues, le-
bensfrisches Bild des Mannes entworfen. Fern davon sein eignes Urteil
unzeitig dem Leser aufzudrängen, läszt er die Thatsachen, die Briefe
und andere Documente für sich sprechen; wo er aber selbst das Wort
ergreift, da thut er es überall mit der vollständigsten Hingabe an den
Stoff, den er behandelt Nur an zwei Stellen wäre es vielleicht wün-
schenswerth gewesen , durch eigene Reflexion wichtige Wendepunkte in
Dietriches von Miltitz Leben in ein helleres Licht zu setzen. Einmal
tritt der kluge, wolberechnete Plan, mit dem die Mutter zum Glück
für ihren Sohn dessen Uebertritt in die Dienste des französischen Ja-
cobinismus verhinderte, nicht recht im Zusammenhang hervor; ferner
erscheint (S. 23) der Uebertritt Dietriches in prcuszische Dienste nicht
hinreichend motiviert. Nach dem, was vorher über die Wirksamkeit
desselben berichtet ist, kommt dieser Schritt dem Leser einigermaszen
unerwartet; und doch liesz sich die Begründung, worauf wir hier nicht
näher eingehen können, leicht genug geben. Die zusammenhängende
Charakteristik, die der Vf. am Schlusz der Biographie (S. 25 ff.) hin-
zufügt, scheint uns fast zu doctrinär oder, sollen wir sagen, schemati-
sierend gehalten. Der Excurs von S. 28 an kann nur mit Bücksicht
auf locale Verhältnisse entschuldigt werden. Dagegen sind die Bei-
gaben von Novalis Briefen und das Facsimiie von einem derselben
höchst dankenswerth.
Veränderungen im Lehrercollegium sind nicht eingetreten.
Plauen.] Commentatio de Iphigeniae Tauricae Euripideae prologo.
Scr. Dr. H. Leonhardt. Der Vf. äuszert sich zunächst darüber, dasz
er über den dichterischen Werth der Euripideischen Stücke im Allge-
meinen weder sprechen könne noch wolle, ebenso wenig auch über
eine Vergleichung der Goetheschen Iphigenie mit dem Drama des Eu-
ripides. Nach diesen Vorerinnerungen beschränkt er sein Thema anf
den Prolog der taurischen Iphigeneia. Nachdem er über denselben
Einiges im Allgemeinen bemerkt hat, was freilich, wenn die Saehe ein-
mal berührt war, nicht ausreicht, wendet er sich ad expHcanda protogi
verba. Nun folgt ein Mittelding zwischen kritischem und exegetischem
Commentar, in welchem Vers für Vers die verschiedenen Ansichten
der Herausgeber weitläufig besprochen, dazwischen auch Sachen er-
zählt werden, die, wie die Sage vom Pelops, lediglich in eine Schul-
ausgabe gehören. An den meisten Stellen trifft der Vf. seine Entschei-
dung dahin, dasz er der Meinung eines der bisherigen Herausgeber,
am häufigsten Klotz, beipflichtet. Wir haben hierüber keine Bemer-
kungen hinzuzufügen , da dieselben eben nicht dem Vf., sondern dessen
jedesmaligem Gewährsmann gelten würden. Eine eigene Vermutung
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Berichte über gelehrte Anstalten, Verordnungen, statist. Notizen.' 579
des Verf. erscheint zuerst S. 8, Euripides habe die Beschreibung des
Enripos (V. 6 f.): äyqrt bfvmc Sc 6dfjt' €öpttroc iruicvctfc aöpatc £Aiccujv
Kuav^av ä\a crp&pei vom Philosophen Anaxagoras entlehnt; dasselbe
konnte ihm freilich auch jeder Matrose sagen, der den Gurs durch den
Euripos kannte. Eine lange Besprechung folgt über V. 16 f., wo aller-
dings ein Verderbnis in den Handschriften vorliegt. Der Vf. schlägt,
anscheinend als eigene Vermutung vor: öetvfic b' dTrAoiac, irvcujutdriuv
od Tirfxdvwv; aber eben dies steht doch bereits in Ausgaben des
Stückes. So in der von Schöne, die auffallender Weise vom Vf. eben-
sowenig berücksichtigt wird als die KÖchlyschen Emendationes in Eu-
ripidis Iphigeniam Tauricam. (Die Köchlysche Ausgabe des Stückes
konnte nicht benutzt werden, weil sie erst nach Abfassung des Pro-
gramms erschienen ist) Uebrigens billigt der Unterzeichnete weder
die eben angeführte Lesart, noch irgend einen der bisher vorgeschla-
genen Verbesserungsversuche — die übrigens der Vf. keineswegs voll-
ständig aufzählt — vielmehr scheint nach den deutlichen Spuren der
Handschriften geschrieben werden zu müssen: &€ivfjc ö* änXoiac irv€U-
udxujv toO Tutxäveiv €tc Ijiirup' flXGe, sodasz toö TUYX^veiv Infinitiv
des Zweckes ist, was an einem andern Orte' näher begründet werden
soll. — So weit über Einzelheiten. Im Ganzen liegt es nicht in unse-
rer Absicht, etwa ein absprechendes Urteil über die Abhandlung zu
fällen; sie ist ohne Prätension und jedenfalls mit Fleisz geschrieben.
Fernere Studien auf dem erwählten Gebiete werden den Vf. ganz von
selbst zu weiteren Resultaten und zu einem selbständigeren Urteil
führen.
Aus dem Jahresbericht. An der mit dem Gymnasium verbunde-
nen Realschule wurde eine neue Oberlehrerstelle gegründet und an die-
selbe Dr. R. T. Ho ff mann berufen.
Zittau.] De nonnullis locis Hippolyti Euripideu "V*on Dr. Seidler.
Eine vortreffliche Abhandlung, die in gewandtem Stil und mit voll-
ständiger Beherschung des Stoffes geschrieben ist. Wir glauben die-
selbe mit Recht allen, die sich speciell mit Euripides beschäftigen,
empfehlen zu können, und überlassen es diesen die von dem Vf. vor-
geschlagenen Aenderungen einer näheren Prüfung zu unterziehen. Die
zu V. 3 versuchte Erklärung von irövxou xepfiövuiv t' 'ArXervTueOuv
wird schwerlich Billigung finden; vielmehr ist Matthiä Recht zu geben,
der, gestützt auf ähnliche Stellen, nachweist, dasz der Pontus, uem-
lich Euxeinos, und die Säulen des Herakles sprichwörtlich für die En-
den der Welt im Osten und Westen gegolten haben. Unter den Con-
jecturen weisen wir- besonders hin auf die Verbesserung V. 468 öokoC
für oöfjun, die durch die glückliche Zusammenstellung mit den Scholien,
wo die Spur des Verderbnisses noch deutlich aufzufinden war, über
jeden Zweifel erhoben ist.
Aus dem Jahresbericht. An Stelle des Cantor Scheibe, der
nach fast vierzigjähriger Wirksamkeit sein Amt niederlegte, trat Paul
Fischer, bisher Gesanglehrer am Gymnasium zu Zwickau. Dr. Jahn
erlag einem Brustleiden , und es trat nach Aufrückung der nächstfolgen-
den Lehrer, der bisherige Vicar Schiefer in die 16. Lehrstelle ein.
Zwickau.] Quatenus Vergüiusin epithetis imitatus sit Theoeritum, Vom
Conrector Dr. Gebauer. Die Abhandlung steht in engem Zusammen-
hange mit der bereits früher vom Vf. veröffentlichten Schrift: De poe-
tarum Graeeorum bucolicorum — carminibus in eclogis a Vergilio expressis
(Leipzig 1860). Dieselbe handelt im ersten Buche de imitatione universa,
im" zweiten (von S. 142 an) de singvlis eclogis ac versibus. Dieses zweite
Buch aber ist nach der Angabe des Titels nicht vollendet; es sollte
ein zweiter Teil die Nachahmung im Einzelnen weiter behandeln. Da-
von liegt nun in dem eben angeführten Programm ein wichtiger Ab-
schnitt vor, die Nachahmung in den Epithetis. Für Leser, die der
Sache weniger nahe stehen, gestatten wir uns eine kurze Bemerkung
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580 Berichte über gelehrte Anstalten , Verordnungen , Statist. Notizen.
vorauszuschicken. Im Allgemeinen', glauben wir, herscht ein Vorurteil
gegen eine Untersuchung, welche es sich zur Aufgabe macht, nachzu-
weisen, wie ein Dichter dem andern bis in das Einzelste nachgeahmt
habe. Das Wesen des dichterischen Schaffens scheint am allerwenig-
sten mit einer genauen, bisweilen selbst peniblen Nachahmung eines
vorliegenden Originals vereinigt werden zu können. Insbesondere, so
sagt man, musz der Dichterruhm Vergil's in dem Masze verringert wer-
den, als mehr und mehr die Nachahmung Theokrit's nachgewiesen wer-
de, die Absicht des Verf. also, der doch offenbar aus Hinneigung und
Vorliebe für Vergil die Arbeit unternommen habe, drohe in das Gegen-
teil, eine Herabsetzung des Dichters umzuschlagen. Allein selbst zu-
gegeben , dasz das richtig wäre, so würde es nicht gegen den Vf. spre-
chen. Denn die Wahrheit bis auf den Grund zu erforschen ist unter
allen Umständen die Aufgabe der Wissenschaft, die sich dabei nicht
an Nebenrücksichten binden darf. Ueberdies ist gerade für die buko-
lischen Gedichte VergiPs der Satz längst zugestanden, dasz sie durch-
aus eine Nachahmung der Theokritischen Idylle seien , und es kam nur
noch darauf an, diese Imitation bis ins Einzelste nachzuweisen. Frei-
lich hat dies seine groszen Schwierigkeiten; es ist nicht leicht die
Grenze zu finden, bis zu der man Nachahmung annehmen soll, nicht
leicht sich vor der Klippe zu hüten, auch die zufällige, unwillkürliche
Aehnlichkeit für eine absichtliche Nachbildung auszugeben. Dieser
Schwierigkeiten ist sich der Verf. in dem vorliegenden Programme wol
bewust; er geht — was nur zu billigen ist — im Verhältnis zu sei-
nem frühern Werke vorsichtig einen Schritt zurück, indem er eine
Menge von Epitheta, obwol sie ihre Analogien bei Theokrit haben,
nicht unter die Kategorien der imitatio rechnet (S. 9 ff.). Ferner weist
er mit richtigem Tacte, um ein vollständiges Bild der Vergilischen
Poesie zu geben t auch diejenigen Epitheta nach, die bei den griechi-
schen Bukolikern sich nicht finden, also selbständig von Vergil gebil-
det sind (S. 13 ff.), wobei zuletzt noch besonders auf die bei den Kö-
mern so beliebten geographischen Epitheta, die dem einfachen Stile
Theokrit's fremd sind, aufmerksam gemacht wird. Dies der negative
Teil der Abhandlung. Die Fälle, in denen Imitation angenommen
wird, werden im ersten Teile behandelt. Das Meiste ist hier ganz
schlagend und evident; gegen Einiges dagegen ist Bedenken zu erhe-
ben. Wenn z. B. Theokrit und Vergil die Milch weisz nennen, so
wäre dem letztern dabei schwerlich bewußte Nachahmung zuzuschrei-
ben; aber so steht die Sache nicht einmal; vielmehr sagt Theokrit
XeuKoTo YO^aKTOC, Vergil nivei (actis; das ist keine Nachahmung, son-
dern Ueberbietung, Steigerung des Theokritischen Ausdruckes. Das
Gleiche liesze sich noch von manchem andern Epitheton ausführen;
bei anderen wiederum dürfte es gerathener erscheinen, sie unter die
andere Kategorie, die der unbewusten oder zufälligen Uebereinstim-
mung zu setzen. Doch das ist Sache des subjectiven Ermessens; jeder
Einzelne wird hier nach seinem Gutdünken sich die Grenze ziehen
wollen , und kann es um so leichter thun , nachdem vom Vf. das Mate-
rial so sorgsam zusammengestellt ist. Denn, um dies noch zum Schlusz
hervorzuheben, das ist ein Hauptvorzug der Schrift, dasz sie in sich
die Gewähr der strengsten Gewissenhaftigkeit trägt, dasz der Steif in
der Weise erschöpfend ist, wie es bei jeder Untersuchung der Fall
sein musz , wenn nicht jeder folgende die ganze mühsame Arbeit noch
einmal von vorn anfangen soll.
Aus dem Jahresbericht. Dr. Michel schied aus dem Collegium,
um das Diaconat in Frankenberg anzutreten. Neu angestellt wurden
der Gymnasiallehrer Wendler und der Religionslehrer Lesch.
Dresden. Fr. Hnltsch.
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Miscelle. — Personalnotizen. 581
Miscelle.
Zur Verbesserung des Schillerschen Textes.
Fiesko — V Aufzug 8 Auftritt. — Bourgognino: cIn dieser schönen
herlichen Nacht , wo ganz Genua seine Freiheit feiert wie den Bund
der Liebe. Dies Schwert, noch roth vom Tyrann enblut , soll mein
Hochzeitsschmuck sein' usw. So in allen Ausgaben, die ich zu ver-
gleichen Gelegenheit hatte.
Der erste Satz musz ohne Zweifel geschrieben werden: fIn dieser
Nacht, wo ganz Genua seine Freiheit feiert, feiern wir den Bund
der Liebe' usw. j
Der Setzer und Corrector haben die Verdoppelung des Wortes
ffeiern' übersehen und dann fwie' statt cwir' durchschlüpfen lassen.
Heidelberg. Dr. Wilhelm Oncken.
Personalnotizen.
(Unter Mitbenutzung des f Centralblattes ' von Stiehl und der 'Zeit-
schrift für die österr. Gymnasien'.)
Ernennungen, Beförderungen, Versetzungen, Auszeichnungen.
Bader, ord. Lehrer an der königstädt. Realschule zu Berlin, zum
Oberlehrer befördert.
Bärwinkel, SchAC, als ord. Lehrer an der Realschule zu Erfurt an-
gestellt.
Bis singer, Studienlehrer am Gymnasium zu Erlangen, als 'Professor'
prädiciert.
Brüggemann, SchAC, als ord. Lehrer am Progymnasium zu Jülich
angestellt.
Carus, Dr. Karl Gust., königl. sächs. Geheimrath, erhielt aus Anlasz
seines 50jährigen Amtsjubiläums das Ritterkreuz des königl. sächs.
Albrechtsordens, den kais. russ. Stanislausorden II Classe mit dem
Stern, das kais. österr. Ritterkreuz des Leopoldordens, das königl.
hannöv. Ritterkreuz des Guelphenordens, und den herzogl. Sachsen-
Ernestin. Hausorden II Classe mit dem Stern.
Collin, SchAC, als wiss. Hülfslehrer am Friedrichscollegium zu Kö-
nigsberg angestellt.
Eggeling, Lehrer am Gymnasium zu Krotoschin, zum Oberlehrer
befördert.
Fedde, Lehrer am Gymnasium zu Krotoschin, als Collaborator am
Elisabeth- Gymnasium zu Breslau angestellt.
Fisch, Lehrer am Gymnasium zu Düren, als ord. Lehrer am Gymna-
sium zu Münstereifel angestellt.
Fürst, Dr. Jul., Professor an der Universität Leipzig, von dem f Freien
deutschen Hochstift' in Frankfurt a. M. zum Ehrenmitglied er-
nannt.
Glo*el, Dr. A., als Lehrer an der höheren Bürgerschule zu Gladbach
angestellt.
Gommer, SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Münstereifel
angestellt.
Heil ermann, Dr., bisher Director der Pro v. -Gewerbschule zu Coblenz,
zum Director der Realschule in Essen ernannt.
Hilgers, Dr. Jos., bisher Lehrer am Gymnasium zu Trier, zum Di-
rector der höheren Bürgerschule in Saarlouis ernannt.
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 11. 40
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582 , Personalnoüzen.
Ho ff mahn, ord. Lehrer an der Realschale zu Münster, zum Ober-
lehrer befördert.
Holle, Hülfslehrer am Gymnasium zu Minden, als ord. Lehrer am
Gymnasium zn Duisburg angestellt.
Huilemann, Dr., Lehrer am Gymnasium zu Landsberg a. d. W., als
Subrector am Gymnasium zu Ploen in Holstein angestellt.
Janiach, Dr., Gymnasiallehrer in Frankfurt a. d. O., zum Director
der Realschule in Landeshut ernannt.
Immhcb, provis. Lehrer an der Realschule zu Annaberg, zum Ober-
1 ehrer daselbst ernannt.
Kiel man n, Gandidat des Predigtamts, als ord. Lehrer am Progymna-
siiim zu Trarbach angestellt.
Vütt Kaltenborn, Dr. K., Professor an der Univ. Königsberg , zum
Ui.-i r'.iratl. hessischen Legationsrath und vortragenden Rath im Mi-
nisterium des Auswärtigen ernannt.
Kubier, ord. Lehrer am Gymnasium zu Neusz, zum Oberlehrer be-
fördert.
Le ebner, M., Professor am Gymn. zu Erlangen, erhielt die Lehrstelle
drr I Gymnasialclasse in Hof.
Lorberg, Dr., bisher an der Realschule in Barmen, zum Oberlehrer
nn i\vt Realschule zu Ruhrort befördert.
Lukv, bisher Lehrer am Gymnasium zu Inowraclaw, als ord. Lehrer
am Ofafmnasium zu Culm angestellt.
l$?njre, bisher Lehrer am Progymnasium in Andernach, als ord. Leh-
rer am Gymnasium zu Düsseldorf angestellt.
Mertons, Candidat des Predigtamts , als wiss. Hülfslehrer an der höh.
Bürgerschule zu Crossen angestellt.
Mellitus sei, Albert, herzogl. braunschweigischer Hofkapellmeister,
erhielt am 6 October aus Anlasz seines 80. Geburtstages von der
Universität Jena das Ehrendiplom eines Dr. phil. (Im Diplom heiszt
es: Universitatis Jenensis oHm alumno, melodiarum vere popula-
riuiji iuventori egregio sqq.)
Mil iijivrgki, SchAC., als ordentl. Lehrer am Gymnasium zu Tilsit
angestellt.
Mosüuthal, Dr. Hermann, in Wien, erhielt das Ritterkreuz II Cl.
<[es herzogl. Sachsen-Ernestinischen Hausordens.
Mörike, Eduard, in Stuttgart, erhielt das Ritterkreuz des königl. wür-
fe rnberg. Friedrichsordens.
Müller, Dr. Iwan, Lehrer am Gymnasium zu Erlangen, zum ordentl.
Professor der altclassischen Philologie an der Universität daselbst
«.mannt.
Naumann, Dr., bisher ord. Lehrer an der Realschule zu Barmen, zum
Überlehrer befördert.
NigIo, SchAÖ., als ord. Lehrer an der städtischen Gewerbeschule zu
Fiei lin angestellt.
P :i n 1 i , Dr., SöhAC, als Collaborator an der Friedrich-Wilhelms-(Real-)
Scli nie *zu Stettin angestellt.
P f b t i, Dr., Professor am Gymnasium zu Hof, in gleicher Eigenschaft
als Lehrer der I Classe an das Gymnasium zu Erlangen versetzt.
Piüttuer, SchAC, als ord. Lehrer an der höh. Bürgerschule zu Lan-
gensalza angestellt.
Fra®t, jirov. Lehrer an der Realschule zu Barmen, ebendas. als ord.
Lehrer angestellt.
Keiuckens, Lehrer am Progymnasium in Linz, als ord. Lehrer am
Gymnasium zu Trier angestellt.
Ei gl er, Friedrich, emer. Schulrath und Gymnasialinspector für Steier-
mark und Kärnthen, ist in den Adelstand des österr. Kaiserstaats
mit dem Ehrenwort eEdler von' erhoben.
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Personalnotizen. 583
Schirrmacher, Dr., ord. Lehrer an der Realschule auf der Burg zu
Königsberg, zum Oberlehrer befördert.
Schmieder, Dr., Oberlehrer aus Cleve, zum Oberlehrer an der Real-
schule in Barmen ernannt.
Schumann, Dr., bisher Oberlehrer an der Realschule zu Ruhrort, zum
ßector der höh. Bürgerschule in Solingen ernannt.
Schupf er, Dr. Franz, Privatdocent an der Universität Padua, zum
ao. Professor der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte (mit ita-
liän. Vortragssprache) an der Univ. Innsbruck ernannt.
Schwarz, Dr., ord. Lehrer an der höh. Bürgerschule zu Düren, zum
Oberlehrer ernannt.
Streck, prov. Lehrer an der Realschule zu Chemnitz, zum Oberlehrer
befördert.
Streit, Dr., Gymnasiallehrer zu Greifswald, als ord. Lehrer an der
Realschule zu Wittstock angestellt.
Szelinski, Dr., SchAC., als ord. Lehrer am Gymnasium zu Hohen-
stein angestellt.
Thele, Candidat des Predigtamts, als Lehrer an der höheren Bürger-
schule zu Mayen angestellt.
Wachsmuth, Dr. Wilh., ord. Professor der Geschichte an der Univ.
Leipzig, Senior der philos. Facultät daselbst, bei seinem Eintritt
in das hundertste Docenten-Semester zum königl. sächs. gehei-
men Hofrath ernannt.
Weber, ord. Lehrer an der Realschule zu Münster, zum Oberlehrer
befördert.
Wiel, Dr., SchAC, als ord. Lehrer am Progymnasium zu Linz angestellt.
Wildenhahn, prov. Lehrer an der Realschule zu Annaberg, zum
Oberlehrer befördert.
Zahn, Dr., bisher ord. Lehrer am Progymnasium zu Mors, als Ober-
lehrer an die Realschule zu Barmen versetzt.
Zimmermann, bisher erster Lehrer zu Schönau, zum Oberlehrer an
der Realschule zu Chemnitz befördert.
In Ruhestand versetzt i
Blümeling, Lehrer an der Realschule zu Cöln, am 1 Octbr.
Hopf, Oberlehrer am Gymnasium zu Hamm, unter Verleihung des
königl. preusz. rothen Adlerordens IV Cl. (am 1 Juli).
Kautz, Oberlehrer am Gymnasium zu Arnsberg, am 1 Octbr.
Richter, Dr. Friedr. Aug., Oberlehrer u. Professor am Gymnasium zu
Elbing, am 1 Octbr.
von Rücker, Dr. Friedr., Professor am Gymnasium zu Erlangen, un-
ter Bezeugung allerhöchster Anerkennung und Beibehaltung seiner
Function als Religionslehrer (am 9 Octbr.).
Scheele, Dr., Professor u. geistl.Inspector am Pädagogium U.L.Frauen
zu Magdeburg, am 1 Octbr.
Weckerle, Hülfslehrer am Gymnasium zu Rössel, am 1 Octbr.
Gestorben:
Beilhack, Dr. Joh. Georg, Professor u. Rector des Maximiliansgym-
nasiums zu München u. Kreisscholarch, f am 21 Octbr. im 63 Le-
bensjahre.
Deutzinger, Dr. Martin, Prediger und Professor an der Universität
München, starb im Septbr. zu Bad Pfäffers.
^erth, Dr., Professor am Pädagogium zu Putbus, t »m 27 Octbr.
<*orski, Constantin, Professor der Zoologie an der Univ. Warschau,
starb im Anfang Septbr.
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584 Erklärung. — Nachträgliche Berichligungsn.
Graul, Dr. Karl, Professor an der Universität Erlangen, starb nach
schweren Leiden am 10 Novbr. (Bereiste den Orient und besonder-
Ostindien in den Jahren 1849 — 53 nnd erwarb aich bedeutende Ver-
dienste am die tamulische Sprache und Litteratur).
Jacoby, H., Professor am Friedr.-Wilhelms-Gymnasium zu Posen.
Jasmin, Jacques, der berühmteste neuere Patoisdichter Frankreichs,
f am 7 October. 1798 in Agen (dem Geburtsorte Jos. Scaliger's)
geboren, ward er Haarschneider, 'weil Friseure und Poeten als Kopf-
arbeiter zusammengehören'. Sein bekanntestes Werk l'Abuglo de
Castel Cuille* erschien 1836.
Lindner, Friedr. Wilh., Dr. Theol. u. Phil., Professor der Katechetik
u. Pädagogik an der Univ. Leipzig, f am 2 Novbr. im fast vollen-
deten 85 Lebensjahre.
Osann, Dr. Eduard, Privatdocent in der phil. Fac. der Univ. Gieszen,
f im Septbr. zu Jena.
Schmidt, Dr. Karl, Seminardirector und Schulrath zu Gotha, starb
am 8 Novbr. (Eifriger pädagogischer Schriftsteller. 'Die Geschichte
der Pädagogik in weltgeschichtlicher Entwicklung'. 4 Bde.)
Speke, Capitän, der berühmte Nilforscher, f 38 Jahr alt, am 15 Septbr.
zu London.
Streber, Dr. Franz, Professor der christlichen Kunstgeschichte an der
Universität München, starb nach langem Leiden am 21 Novbr.
(Eine der ersten Auetori täten auf dem Gebiete der Numismatik.)
Struve, Fr. G. W., berühmter Astronom, geb. 1793 zu Altona, f am
23 Novbr. zu Petersburg. Er übernahm, nachdem er früher Dire-
ctor der Sternwarte zu Dorpat gewesen, im Jahre 1839 die Dire-
ction des groszartigen astronomischen Instituts zu Pulkowa nnd
leitete in dieser Stellung die ausgedehntesten astronomischen Un-
tersuchungen und geodätischen Messungen, bis 1858 ihn schwere
Krankheit nötigte, der anstrengenden Thätigkeit zu entsagen.
Wachler, Dr., Consistorial- und Schulrath zu Breslau.
Erklärung.
Die e Erwiderung' des Herrn Dronke im 10. Heft S. 531 habe ich
gelesen, finde es aber nicht nötig, auf seine Insinuationen ein Wort
zu entgegnen. ß.
Nachträgliche Berichtigungen.
S. 278 Z. 29 lies ' Generationen' für 'Generation'
S. 279 Z. 33 ist 'Euch' zu streichen.
S. 280 Z. 43 lies 'seines' st. 'eines'.
S. 281 Z. 18 fehlen nach 'Tacitus' die Worte: 'wie durch deutsche und
lateinische Ausarbeitungen'.
S. 282 Z. 25 lies 'um' statt 'nur'.
S. 286 Z. 45 lies 'Gegensätze' statt 'Gegenstände.
S. 287 Z. 41 lies 'Aber dennoch' statt 'Allerdings'.
S. 288 Z. 27 lies 'sittlichen' statt 'christlichen'.
S. 446 Z. 17 v. u. der Mittwoch statt: die M.
„ „ „ 12 v. u. den M. u. S. statt; die M. u. S.
„ 457 Z. 20 v. u. Jahre statt: Jahren.
„ 459 „ 10 v. u. nur noch statt: nur.
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Googk
Zweite Abteilung.
40. Das Verhältnis der Gymnasien zur Entwicklung unserer
Litteratur während der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts. Vom Director Prof. Kämmet in Zittau . . .
41. Anz. v. F. Bässler: Wilfried, episches -
Gedicht. Berlin 1859. Vom Gymna-
42. Anz. v. F, Bässler: Legenden u. Balla- siallehrer Dr.
den. Neue Ausgabe. Berlin 1857. J Siegfried zu
43. Anz. v. F, Bässler; Hellenischer Hei- Magdeburg
densaal. 2e Auflage. Berlin 1862.
44. Anz. v. H. fiheinhard: Roma vetus. Vom Studienrector
Prof. Dr. L. von Jan in Erlangen . . »
45. Anz. v. J. A. Härtung: Themata zu deutschen Ausarbei-
tungen. Leipzig 1862. Von G. in'A
46. Ein Wort über latein. Anmerkungen in den Ausgaben
griechischer Prosaiker, Vom Rectör emer. Dr« Rüdiger in
Dresden
Gymnasial-Programme aus dem KÖnigr. Sachsen. Vom Ober-
lehrer Dr. /'. Hultsch in Dresden
Budissin (572), Dresden (574 — 576), Grimma (576 — 577),
Leipzig (577—578), Meiszen (578), Plauen (578—579), Zittau
(579—580).
Miscelle. Zur Verbesserung des Schill ersehen Textes. Vom
Privatdocenten Dr. W. Oncken in Heidelberg ....
Personalnotizen
Erklärung. Von />. ♦
Nachträgliche Berichtigungen
Seite
533—555
555—563
564—565
565—570
571-572
572—580
581
581—584
584
584
Digitized by VjOOQlC
Leipzig,
Druck und Verlag von B. 6. Teobner.
1964.
Digitized by VjOOQIC
Zweite Abteilung:
ffir Gymnasialpädagogik und die übrigen Lehrfächer,
mit Ausschluss der classischen Philologie,
herausgegeben ym Professor Dr. Herrn ans Masin s.
47.
Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den
Schulen.
4) Die Leibesübungen. Eine Darstellung des Werdens und We-
sens der Turnkunst in ihrer pädagogischen und culturhisto-
rischen Bedeutung von Dr. Fr. M. Lange. Gotha, Besser
1863. 159 S. 8.
2) Ueber die Vereinigung der militärischen Instruction mit der
Volkserziehung und insbesondere über militärische Gymna-
stik. Vier Preisschriften herausgegeben von der schweizeri-
schen Militärgesellschaft Bern, Rieder. 1863. IV u. 108 S. 8.
3) Turnschule für die deutsche Jugend, als Anweisung für die
Turnlehrer in Württemberg bearbeitet von Dr. 0. H. Jäger,
vormals ao. Professor der praktischen Philosophie und Pä-
dagogik an der Hochschule Zürich, derzeit Lehrer an der
Turnschuh in Stuttgart Mit 2 Tafeln Zeichnungen. Leipzig,
E.Keil. 1864. XX u. 232 S. 8.
4) H. F. Dieter1 s Merkbüchlein für Turner. Herausgegeben
von Dr. E. Angerstein. 5. Auflage. Halle, Buchhandlung
des Waisenhauses. 1863. Taschenformat. XII u. 300 S.
5) Turn- Merkbüchlein für Schul- Turnanstalten. Zum Handge-
brauche für Turnlehrer, Vorturner und Turnschüler von
M. Kloss. Leipzig, Weber 1864 (5 Ngr.).
6) Anleitung zur Betreibung des Turnunterrichts in den Zürche-
rischen Volksschulen. Zürich 1863.
7) Neue Jahrbücher für die Turnkunst. Blätter für die Angele-
genheiten des deutschen Turnwesens , vornehmlich in seiner
Richtung auf Erziehung und Gesundheitspflege. Zugleich
Organ der deutschen Turnlehrerschaft IX. Band. In Ge-
N. Jahrb. f. Phil. «. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 12. D|l ed by QoC
586 Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schulen.
meinschaft mit Friedrich, Kawerau, Lion, Schild-
back, Waszmannsdor ff herausgegeben von M. Kloss.
Dresden, Schönfeld. 1863. 366 S. gr. 8 (2 Thlr.)
8) Die Freiübungen und ihre Anwendung im Turnunterricht Von
Dr. Maul, Lehrer am Realgymnasium in Basel Darmstadt
1863.
Die auf das Turnen bezügliche Litteratur der neueren Zeit dreht
sich immer noch häufig um die Frage : wie der Turnunterricht in nähere
Beziehung zur Waffenführung und zum Wehrwesen im Allgemeinen zu
setzen sei. Bei der 14n Versammlung deutscher Lehrer in Mannheim kam
diese Frage zur Discussion, wozu Professor Schröder den Anstosz gab
durch seinen Vortrag: 'Ueber den Mangel an aller wehrhaften Erziehung
der Jugend.' Die Verhandlungen über diesen Gegenstand waren nicht
unwichtig, besonders da hierbei das Capitel von den Jugendwehren
berührt wurde, worüber dann in der Pfingstwoche 1864 zu Bruchsal
noch specielle Berathungen auch unter Teilnahme yra hervorragenden
Pädagogen und Schulmännern Süddeutschlands ihre Fortsetzung erhielten.
Die Resultate dieser Berathungen über Jugendwehren sind wenig erheb-
lich gewesen, und es bleibt bemerkenswerth, wie namentlich von der
Schweiz aus, wo sich das Gadettenwesen am meisten auf günstigem Bo-
den entwickeln konnte, die gewichtigen Stimmen immer häufiger werden,
welche die Bedeutung des Gadettenwesens aus mehrfachen Gründen an-
zweifeln.
Bei uns hat sich namentlich im Süden Deutschlands das Bestrehen
kund gegeben , jene Schweizereinrichtung zu adoptieren ; die sogenannten
Jugendwehren zu Stuttgart und Frankfurt a. M. sind in dieser Beziehung
wol die hervorragendsten Erscheinungen , über deren Bedeutung die Er-
fahrungen abzuwarten sind.
Im Allgemeinen dürfte jene in neuerer Zeit mehr hervorgetretene
Neigung, dem Jugendturnen militärische Ziele zu stecken und eine mili-
tärische Form zu geben, zunächst nur ein Entwickelungsstadium
bezeichnen , wie es die Turnsache in mannigfacher Form hei ihrer Wei-
terentwickelung zu durchlaufen hat. Es hat Zeiten gegeben, wo man dem
Turnen vorwiegend ein nationales oder selbst politisches Colorit
zu gehen bemüht war; ein anderes Mal sah man es ausschlieszlich als
Diätetikum an; gegenwärtig haben es die Zeitströmungen wieder ein-
mal mit sich gebracht, dasz man bemüht ist, die Turnplätze mehr als
seither zu Vorschulen für den Krieg zumachen. Ueber die Art,
wie solches Ziel erreicht werden soll , ist man zur Zeit noch verschiede-
ner Meinung , was wir berühren werden , wenn es sich um Besprechung
vorstehender Schriften handelt. Im Allgemeinen bleibt Ref. bei der An-
sicht stehen, welche schon A. Spiesz aussprach, der in der Schweiz viel-
fache Gelegenheit hatte, das Gadettenwesen kennen zu lernen und sich
vom Standpunkte des Erziehers und Turnlehrers also aussprach: eNur
wenn in den Schulen der gesamten Jugend auch in der Gemein* und Ord-
nungsübung, wie sie das Turnen neben der bisher vorwaltenden Einzel-
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Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schulen. 587
Übung zu erzielen hat, geschult wird (denn der Leib der geordneten
Schaar bedarf ebensosehr der Uebung , wie der Leib des Einzelnen), kann
das Turnen mit Recht als Grund und Boden angesehen werden, auf wel-
chem die Ordnungsfertigkeit und damit die Kriegsfertigkeit des ganzen
Volkes wurzelt und wächst. Dann kann auch die allgemeine Jugendbil-
dungsanstalt, wie wir sie in den öffentlichen Schulen aller Art erkennen,
die eigentliche Vorschule werden für das stehende Heer und die Land-
wehr und bildet die nie versiegende Quelle der Wehrkraft des gesamten
Volkes. Nur möge man nicht den Schlusz ziehen, als wollten
wir die Schule zur Kriegsanstalt verkehren, das Kriegs-
wesen zu einer Schularbeit machen.9 Das Referat aber die vor-
stehenden Schriften wird uns Gelegenheit bieten, nochmals auf den Ge-
genstand zurückzukommen.
Beginnen wir sogleich mit der historisch -kritischen Arbeit des Dr.
Lange, so ist dieselbe der Aufmerksamkeit der gelehrten Schulmänner
ganz besonders zu empfehlen, weil hier etne ganz treffliche Uebersicht
der Entwickelung« des pädagogischen Turnwesens von seinen Anfängen
im Aitertume bis auf die neueste Zeit gegeben wird. Ein solches Werk
wird alle denen gute Dienste leisten , welche sich mit Gewissenhaftigkeit
in das rechte Verhältnis zum heutigen Erziehungswesen stellen wollen
und auf eine Vermittelung beider Gebiete hingewiesen sind.
Es war die Arbeit des Dr. Lange zunächst für Schmid?s fEncyclopädie
des Erziehungs- und Unterrichts wesens ' bestimmt -und liegt nun hier in
eigener Ausgabe mit vielfachen Veränderungen und Erweiterungen vor.
Weil der Verf. seine Aufgabe cals Turner, als Liebhaber historischer For-
schungen und«als Lehrer* mit der lebhaftesten Vorliebe ergreift, ist sie
ihm auch in allen einzelnen Teilen recht wol gelungen.
Dr. Lange hat seine geschichtsphilosophischen Untersuchungen in
10 Abschnitten dargelegt, welche für die geschichtliche Ent Wickelung
der Sache sehr bezeichnend sind : Begriff und Wesen der Leibesübungen
— die Gymnastik der Hellenen und der Römer — die Leibesübungen des
Mittelalters und ihre Ausläufer in der Gegenwart — Entstehungsgeschichte
des Turnwesens. Gutsmuths — Jahn und die deutsche Turnkunst —
Entwickelung des Schulturnens. Spiesz — Ausländische Sprossen. Ling.
Rothstein — Das Turnen der Mädchen — Das Turnen in der Volksschule
und die Bedeutung des Schulturnens für das Heerwesen — Die Litteratur
und Leibesübungen, die Hülfswissenschaften und die wichtigsten Pflege-
stätten der Gegenwart.
Während die ersten 3 Abschnitte für die Leser dieser Blätter meist
Bekanntes bieten durften, da es sich hier vornehmlich um die antike Gym-
nastik dreht, so bietet die Langesche Schrift von S. 50 ab Neues, da
nun die Entwickelung des modernen Turnwesens sehr eingehend verfolgt
wird. Von Guthsmuths an zu Ende des 18. Jahrhunderts datiert der
Verf. diese neuere Turngeschichte , deren Charakter damit bezeichnet
wird, dasz das Turnen:" 1) sich nun eng an die Erziehung anschlieszt, 2)
Gemeingut Aller zu werden strebt, und 3) nach systematischer und kunst-
mäsziger Vollendung trachtet.
Di§L*by Google
588 Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schulen.
Die Entwickelung dieser Momente weist unser Gewährsmann im
Speciellen nach, indem er die eigentumliche Wirksamkeit von Guts-
muths,Jahn und S p i e s z , offenbar die Hauptvertreter von Geschichts-
epochen des deutschen Turnens , ganz treffend schildert und dabei immer
die Stellung der Turnsache innerhalb der Geschichte der Pädagogik mit
groszer Umsicht und kritischem Auge verfolgt. Während nach Dr. L.
Gutsmuths (die allgemeine Teilnahme für den Aufbau der Leibesübungen
gewonnen hatte9, gab Jahn 'denselben in Deutschland eine ganz bestimmte
Richtung , mit der nach mancherlei Wandlungen noch heute die wesent-
lichsten Vorzüge und Fehler der mächtig herangewachsenen Sache zu
sammenhängen.' Während bei Gutsmuths ein Anknüpfen an die helleni-
sche Gymnastik bemerkbar ist, verliert sich dasselbe bei Jahn, der so viel
als möglich sachliche und sprachliche Anknüpfungspunkte an die Leibes-
übungen unserer deutschen Vorfahren hervorsuchte.
Die Bedeutung des mit Jahn auftretenden Gerätturnens, das nament-
lich in den Barren- und Reckübungen seinen Mittelpunkt findet, bringt
Dr. Lange sehr geschickt in Zusammenhang mit der industriellen Ent-
wickelung der Neuzeit, indem er nachweist, dasz die moderne Turnkunst
im Anschlüsse an praktische Zwecke viel mehr als die hellenische Gym-
nastik mannigfaltigere Motion entwickeln könne und deshalb eine reichere
Auswahl von Bewegungsformen bedürfe ohne doch das Princip der ver-
geistigenden und veredelnden Durchbildung des Leibes aufzugeben.
Sehr beachtenswerth ist eine sich daran schlieszende Kritik der
Reck- und Barrenübungen im Besonderen, welche vom physiologischen
und ästhetischen Standpunkte aus sowol dem Turnen der Vereine wie
der Schulen sehr ersprieszlich sein kann. Ist auch heutzutage in das Ge-
rätturnen schon ein gut Teil ratio mehr gekommen, als früher, so ist
doch noch nicht immer und nicht überall das Einfache, das Nützliche und
Schöne des Vorhersehende, sondern häufig genug dominiert noch das
Complicierte, das Unnütze und Häszliche. Dr. Lange's Hinweisungen und
Winke sind in dieser Beziehung so zutreffend , weil sie von der richtigen
Auffassung des Turnens als Kunst und Wissenschaft ausgehen.
Der 6. Abschnitt: c Entwickelung des Schulturnens9 verbreitet sich
ausführlich über die Bestrebungen von A. Spiesz in Beziehung auf die
Einordnung des Turnens in den Organismus der Schule, womit die Rich-
tung in Betracht gezogen wird , welche die Sache heutzutage im Allge-
meinen genommen hat. Dr. Lange legt mit Kennerblick die Stärken und
Schwächen des Spieszschen Turnsystems zu Tage und stellt den Refor-
mator des neueren Schulturnens dar als den Mann fder nicht nur ein
neues Turnsystem schaffen, sondern es auch mit Geist und Gemüt he-
ieben konnte.9
Nicht minder einverstanden ist Ref. mit den Urteilen Dr. Lange's im
7. Abschnitte, wo er auf Ling und Rothstein zu sprechen kommt und
z. B. S. 109 sagt: 'Das Lingsche Turnen ist für die ganze Entwickelung
der Sache der Leibesübungen von groszer Wichtigkeit geworden, nicht
etwa wegen des Lärms, den die mit ihm verbundene Heilgymnastik iu
Europa gemacht hat, noch weniger wegen des Anspruchs ausschliesz-
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Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schulen. 589
1 icher Wissenschaftlichkeit, welchen einseitige Anhänger Ling's in Deutsch-
land erhoben haben, wol aber wegen der sorgfältigen Erhaltung und ener-
gischen, wenn auch nicht eben glücklichen Fortbildung solcher Keime der
deutschen Ueberlieferung, welche durch Jahn's Persönlichkeit und die
Ungunst der Zeiten diesseits der Ostsee fast in Vergessenheit gerathen
waren. Das verfehlte Bestreben , Lingsches Turnen zur ausschlieszlichen
Geltung zu bringen, hat in Deutschland andrerseits auch zu einer Berüh-
rung der verschiedenen Richtungen geführt , welche sich nach Abklärung
des erbitterten Streites und Beseitigung der Bedrohung eines nationalen
Gutes höchst fruchtbar erweisen musz , ja die vielleicht notwendig war,
um das Turnen wieder in jene reine Bahn zu lenken , in welcher es be-
stimmt ist , gerade auf deutschem Boden zuerst ein bleibender Bestandteil
der Nationalerziehung zu werden.5
In dem 9. Abschnitte, wo von der Bedeutung des Schulturnens für
das Heerwesen die Rede ist, trifft der Vf. unseres Erachtens das Rechte,
indem er von dem Gesichtspunkte ausgeht, fdasz in der Erziehung immer
die Erziehung die Hauptsache bleiben musz, dasz aber auch bis zu
einem gewissen Grade von dem ohnehin niemals rein darzustellenden ab-
stracten Ideale zu Gunsten der concreten Aufgaben des staatlichen Lebens
abgewichen werden darf. Unsere Aufgabe wird um so glücklicher gelöst
sein, je mehr es gelingt, gerade in der Vorbereitung auf den Kriegs-
dienst ein allgemein pädagogisches Element und innerhalb der rein er-
zieherischen Thätigkeit ein dem Wehrsystem dienendes herauszufinden
und diese beiden Elemente zu einem neuen , einheitlichen Lebenskeim für
den Turnunterricht der männlichen Jugend zu verschmelzen. Wir ver-
werfen demnach jenen einseitigen Ausgang vom Bedürfnis derVaterlands-
vertheidigung , der sich in einem allgemeinen, vollständig organisierten
und vom Turnunterrichte getrennten Cadettenwesen ausspricht.' Dr.
Lange spricht sich mehrfach anerkennend über das schweizerische Cadet-
tenwesen aus und bezeichnet es nur als verwerflich, 'dasz ein solches
Cadettenwesen sich von den eigentlichen Erziehungszwecken völlig ab-
sondert'. Von diesem Gesichtspunkte aus wendet sich Dr. Lange einge-
hend demjenigen Teile des Spieszschen Turnens zu, welcher offenbar den
jungen Turner für die Vorkommnisse bei dem heutigen Heerdienste zweck-
mäszig vorbereitet und dennoch sich immer innerhalb des Kreises einer
pädagogischen Turnkunst hält. Im Anschlüsse an die theoretische Be-
handlung dieser Frage gibt Dr. Lange noch den Abrisz eines Stufenganges
für den Turnbetrieb der öffentlichen Schule, wobei die innere Beziehung
des Turnens zum Exercieren durch eine ganz praktische Verteilung na-
mentlich der turnerischen Frei- und Ordnungsübungen auf 4 Altersstufen
festgehalten wird. Dr. Lange trifft in diesem Abschnitt den Nagel auf
den Kopf, indem er darlegt, welche Modifikationen und Erweiterungen
der Turnunterricht erhalten kann, um in einer durchgreifenderen Weise,
ohne ein eigentliches Cadettenwesen, auf die Wehrtüchtigkeit vorzube-
reiten. Nach des Ref. Ansicht ist damit der allein richtige Weg bezeich-
net worden, der in dieser Beziehung von den Schulturnanstalten Deutsch-
lands einzuschlagen sein wird, zum Teil auch schon eingeschlagen ist.
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590 Neues vom Turnen und von der Gesundheilspflege in
Der 10. und letzte Abschnitt des Langeschen Werkes ist eine recht
willkommene Beigabe für Orientierung auf dem Gebiete der Litteratur
des Turnens wie der Hauptrichtungen der verschiedenen Turnschulen.
Wir sind aberzeugt, dasz nicht blosz Fachleute, sondern auch Ge-
lehrte und Schulmänner die Langesche Schrift mit besonderer Befriedigung
lesen werden, und können sie gerade für diese Kreise als wichtig und in-
structiv empfehlen.
Nr. 2 unseres Schriftenverzeichnisses enthält vier Preisschriften,
welche das Centralcomite der schweizerischen Militärgesellschaft in Lu-
gano veröffentlicht, nachdem sie zur Concurrenz die Preisfragen ausge-
schrieben hatte: l) In welcher Weise und in welchen Richtun-
gen kann die militärische Instruction mit der Volkserzie-
hung vereinigt werden? 2) Worin soll die Aufgabe der
militärischen Gymnastik bestehen und in welcher Art kann
die bürgerliche Gymnastik mit ihr in Einklang gebracht
werden?
Das Preisgericht hat den 1. Preis dem eidgen. Stabsmajor Stooker
in Luzern, den 2. dem Hauptmann Lemp in Bern, den 3. dem Turnlehrer
Nippeler in Zürich und den 4. dem Advocaten Gaduft in Chur zuer-
kannt, und in dieser Reihenfolge werden auch die Preisschriften geboten,
welche nicht nur ein specifisch militärisches , sondern ein hohes allge-
meines, insbesondere pädagogisches Interesse darbieten und deswegen
zur Kenntnis der schweizerischen Erziehungsbehörden gebracht wurden.
Beziehen sich diese Arbeiten auch zunächst auf schweizerische Ver-
hältnisse , so haben die angeregten Fragen doch auch für uns allgemeine
Bedeutung , da sie das Erziehungs- und Unterrichtswesen so nahe berüh-
ren und mancherlei wichtige Erfahrungen zu Tage fördern.
Für unser Referat und den darin geltend gemachten Grundsatz bleibt
es wichtig, dasz gerade die schweizerischen Militärs sich im Allgemeinen
keineswegs zu Gunsten des Gadettenwesens aussprechen, sondern in der
rationellen turnerischen Ausbildung der Jugend ein unerläszliches Mittel
zur militärischen Vorbildung erblicken. Wo es sich um die Zugrunde-
legung eines Turnsystems handelt, sprechen sich die Preisschriftstücke
durchweg für die Spieszsche Turnmethode aus; z. B. Major Stooker S. 43.
€Eine dem Zwecke entsprechende Turnmethode scheint mir aber die für
unsere Schüler von Hrn. Nippeler bearbeitete Spieszche zu sein (Turnin-
spector Nippeler zu Bern ist ein Schüler von Spiesz und unter den
schweizerischen Turnlehrern ein Hauptvertreter der Spieszschen Rich-
tung) , welche sich bereits in dem Ganton Zürich einer Einführung in den
Volksschulunterricht erfreut und gewis die glänzendsten Erfolge haben
wird. Bei dieser Methode wirkt der Lehrer nicht nur physisch, sondern
direct intellectuell , und wie bei dem Turnen der alten Spartaner auch
moralisch ; es turnt eben Geist und Körper/
Die Forderungen, welche zu Gunsten des Turnunterrichtes in Betreff
der Lectionspläne gemacht werden, sind ziemlich weitgehend, aber doch
erreichbar. Wir wünschten, dasz diese Preisschriften von solchen Gym-
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Neues vom Turnen und von der Gesundheilspflege in den Schulen. 591
nasialdirectoren eingesehen würden , weiche auszer sich gerathen , wenn
sie einmal von 12 wöchentlichen Lateinstunden einer Unterclasse eine
oder zwei zu Gunsten des Turnens opfern sollen. In den Masznahmen
der schweizerischen Erziehungsbehörden macht sich ein gesunder prakti-
scher Sinn bemerkbar, der immerhin auch für deutsche Verhältnisse Be-
deutung hat. In diesem Sinne sei auch auf das unter 6) aufgeführte
SchriFtchen hingewiesen, das von dem Director des Zürcherischen Er-
ziehungswesens Dr. Suter redigiert und dafür bestimmt ist, den für die
Durchführung der Turnfrage zunächst in Betracht kommenden Schul -
behörden die erförderlichen Winke und praktischen Fingerzeige zu
Als hierher gehörige Gegenstände werden behandelt: Umfang der
Schulturnübungen — Verteilung des Turnunterrichtsstoffes auf die ein-
zelnen Schulabteilungen — die Zeit , welche den Leibesübungen einzu-
räumen ist — Turarämne — Schulbehördliche Masznahmen für Beauf-
sichtigung und Leitung der Schulturnanstalten. Für Schulräthe und
Schulinspectoren werden hier alle die Einzelnheiten geboten und mit
Motiven versehen, welche für gedeihliche Leitung des Turnens von Be-
deutung sind.
Die Turnschule des Professor Dr. J äger (Nr. 3) steht im Gegensatze
zu dem von uns als stichhaltig bezeichneten Princip, welches die rein
menschliche Ausbildung der Jugend beim Turnen festhält und dabei den-
noch realen Zwecken Rechnung trägt, wie das namentlich von Spiesz und
Lange hinsichtlich des Turnens als Propädeutik für den Wehrdienst theo-
retisch und praktisch nachgewiesen wurde. Prof. Jäger will Nichts wis-
sen von der allgemeinen Bedeutung des Turnens, wie man sie seither in
Zusammenhang brachte mit Gesundheit, Frische, Rüstigkeit, Kraft, Ge-
wandtheit, Behendigkeit, Mut, Ausdauer, Besonnenheit, Selbstbeherschung,
Geistesfreiheit, harmonischer Ausbildung u. dgl. Er verlangt vielmehr,
dasz ier ideale Zweck des Turnens bei Seite gestellt werde und dafür
der reale dominiere. Er setzt das Wesen der deutschen Turnkunst darein,
'dasz inihrdasNützlichkeitsprihcip herscht, es sich handelt um die
Wehrhaftmachung des Volkes für den Kampf um das Vaterland
gegen äuszere Gewalt, und sie selbst somit, dem Ernste des praktischen
Lebens dienstbar, als Mittel zu gelten habe für diesen bestimmten Zweck.'
Indein Professor Jäger ganz entschieden nur die Wehrtendenzen
des Turnens zur Geltung bringen will und das Jugendturnen nur auf
das allgemeine , 'männerwürdige* Ziel der Waffenführung und Wehrtüch-
tigkeit bezieht, löst er davon alle die in der Sache selbst liegenden Trieb-
federn und Hülfsmittel los , wie sie von den Pflegern des Turnens von
Gutsmuths bis auf unsere Tage mit so glücklichen Erfolgen zur Geltung
gebracht wurden. Wir wTollen die Gründe nicht wiederholen, welche
dagegen sprechen, das Jugendturnen also dem Nützlichkeitsprincip zu
opfern, wie es Prof. Jäger thut, sondern nur seinen Plan verfolgen, wie
er sich die Ausgestaltung des Turnunterrichtes in seiner steten Beziehung
zur Waffenführung denkt und angelegen sein läszt.
Seinem Grundsatze gemäsz gibt Prof. Jäger den Turnübungen , na-
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592 Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schulen.
mentlich den Frei- und Ordnungsübungen gleich von vornherein die Form
von militärischen Exercitien, die als Ordnungsschule 'durch die Beziehung
auf den ihrer harrenden Ernst des Lebens, die Zucht des Mannes im Heere
und überhaupt die Manneszucht als solche ausmachen.' Diese militärische
Form wird namentlich in der Bevorzugung von fechtartigen Bewegungen
festgehalten, denen sich selbst ein Surrogat der Waffe zugesellt. Prof.
Jäger hält es nemlich für verkehrt, wenn die Turnschüler mit leeren
Händen die Freiübungen vornehmen sollen , ähnlich , wie schon Jahn von
den leeren Lufthieben Pestalozzis Nichts wissen wollte. Demgemäsz be-
lastet Prof. Jäger die Turnschüler mit Stab - und Guszeisen , wovon die
Hanteln schon längst bekannt sind, während eine Erfindung Jäger's als
neu und eigentümlich auftritt, — ein Eisenstab, um die Freiübungen
ean die waffenartige Führung eines Handgerätes' zu knüpfen. Hat die
Turnkunst die Stabübungen schon längst gekannt, so wird der Jägersche
3 Fusz lange, runde, glatte, an seinen Enden flach abgerundete und ge-
stählte walzeiserne Stab , der für 4 Altersstufen nach einem Gewicht von
3—7 Pfd. in Gebrauch kommt, hier zum ersten Male eingeführt und auf
eine eigentümliche Weise motiviert. Die Turnschüler sollen sich nemlich
dieses Eisenstabes als eines Wurf- und Belastungsgeräthes als einstweili-
gen Ersatzes des Schieszgewehres bedienen. Da der Stab die Form eines
Flintenlaufs hat , so sollen sich die Knaben gleich von vornherein, an die
Vorstellung gewöhnen, als hätten sie ein Gewehr selbst in der Hand;
denn der Eisenstab könnte ja später hohlgebohrt und mit Feuerschaft
versehen werden. Haben die Schüler sich mit dieser Idee befreundet, so
sollen sie eine lange Reihe von Stabschwüngen und Stabführungen
durchüben, deren Ausführung der Vf. sämtlich an 16 Zeiten knüpft. Warum
der Vf. von diesen Vorder-, Hinter-, Unterum- und Ueberumschwüngen
so und so viel, und nicht mehr oder nicht weniger gibt, ist nicht gesagt;
Prof. Jäger hat diese Stabübungen herausgeklügelt, und die Turnjugend
soll sie in Kppf , Hand und Fusz bekommen , nachdem sie * vom Lehrer
Takt für Takt musterhaft vorgemacht, erklärt und befehligt worden.'
Abgesehen davon , dasz die Turnschüler schwerlich das in den Eisenstab
legen, was Professor Jäger mit seiuer geschraubten Deduction hineinlegt,
erhalten diese Stabführungen einen hohen Grad von Monotonie, womit
zugleich der Grundsatz einer mannigfaltigen Entwickelung des Uebungs-
stoffes ausgeschlossen ist, welcher z. B. von Spiesz bei der Behandlung
der Freiübungen mit soviel Glück und Geschick zur Geltung gebracht
worden. Die Gesetze der Freiheit und Kunst, von welchen sich Spiesz
leiten liesz, werden hier aufgehoben, um das militärische Öommando mit
Ruck und Zuck in gleichmäszigem Tempo einzuführen.
Von den ersten Freiübungen an sollen die Turnschüler jenen Eisen-
stab als steten Begleiter mit sich führen, eine Forderung , die weder dem
Wesen der Jugend, noch dem Zwecke der Leibesübung entspricht. Auszer
den Stabschwüngen bietet die Turnschule noch eine reiche Auswahl von
Hantelübungen, welche Prof. Jäger nach Faustschwüngen, Stoszen, Ruck-
stöszen, Ruckstreckstöszen, Würfen, Schlägen, Hieben usw. geordnet hat.
Wie an Ort, so werden die Eisenstab- und Hantelübungen alsdann auch
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Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schulen, 593
von Ort mit Tritten und Schritten, Gängen und Sprüngen behandelt, so
dasz 180 Seiten der Turnschule damit ausgefüllt sind.
Diese Behandlung der Frei- und Ordnungsübungen nur mit Rück-
sicht auf taktische Zwecke steht der Spieszschen Methode stricte entgegen.
Während Spiesz gerade hier die ganze Fülle seiner Erfindungskraft ent-
wickelte und dem Turnlehrer einen Standpunkt anwies, auf welchem er
sich selbständig und eigentümlich entwickeln kann, werden hier bei Jäger
alle naturgemäszen Anregungs-, Belebungs- und Ordnungsmittel , welche
in der Sache selbst liegen, unbenutzt gelassen und eine willkürliche Aus-
wahl von Uebungen nach dem starren Commando eingeführt. Es mag
diese Behandlung der turnerischen Frei- und Ordnungsübungen für den
ersten Anblick recht verständig aussehen , schwerlich aber wird sie das
Interesse der Turnjugend dauernd in Anspruch nehmen.
Da Prof. Jäger ganz neue Uebungen aufstellt, so führte er auch neue
Namen dafür ein, wovon einige, z. B. Seitschaltschwung , Oberschlauf-
schwung, Vorderbogenschlaufschwung, Hinterrückstreckstosz usw. ziem-
lich barbarisch klingen und an die schwedische Schule erinnern , welche
z. B. von einer Ruhschenkelgegenwendknickstehenden Stellung, von einer
Linksstreckrechtsklafterrechtsseitfallrechtshalbstehenden Stellung u. dgl.
sprach.
Ref. sieht zunächst in dieser Umgestaltung der turnerischen Frei-
und Ordnungsübungen Nichts weiter, als einen Versuch, die turnerischen
Bildungsmittel den Wehrtendenzen unterzuordnen, welches Bestreben un-
vermeidlich zur Einseitigkeit führen musz , welche denn auch der Jäger-
schen Arbeit nach ihrem ersten Teile ilicht abzusprechen ist, welcher
die Vorübung bietet, während im zweiten Teile die Haupt Übungen
folgen, unter denen der Vf. Lauf, Sprung, Weitwurf, Zielwurf,
und Ringen versteht.
In diesen Hauptübungen begegnen wir einer Modernisierung des
altgriechischen Pentathlons, wobei an Stelle des Diskos Vollkugeln von
5 — 10 Pfd., und statt des Speeres Eisenstäbe nach erwähnten Maszen zur
Verwendung kommen.
Bekanntlich hat Prof. Jäger sich sehr eingehend mit der altgriechi-
schen Gymnastik beschäftigt und davon in seinem Werke : 'Die Gymnastik
der Hellenen. Esslingen 1850' Zeugnis abgelegt. Hier folgen nun die
praktischen Consequenzen seiner Studien. Der Versuch, das Pentathlon
zu erneuern, ist jedenfalls interessant. Freilich steht damit eine vollstän-
dige Umgestaltung der Turnräume und Unterrichtsmittel im Zusammen-
hange und das von Prof. Jäger construierte Turnhaus ist nach ganz an-
deren Forderungen hergestellt, als die seither bekannten; namentlich
sind Lauf- und Wurfbahnen darin angebracht, welche viel Raum er-
fordern.
Die Idee, das Pentathlon wieder einzuführen, hat jedenfalls viel An-
sprechendes ; Prof. Jäger hat die Einzelnheiten desselben ziemlich genau
beschrieben. Nur ist die praktische Lösung der Frage die Hauptsache :
ob das Pentathlon eine dem Griechentum blosz äuszerlich entlehnte Pflanze
ist, oder ob es nach der Jägerschen Reform eine eindringende Kraft be-
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594 Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schalen.
sitzt, welche als das Resultat einer organischen Herausbildung
aus den vorhandenen Anlagen der modernen Turnkunst unter den heuti-
gen Culturverhältnissen erscheint. Uns will es scheinen , als If ge diese
organische Entwicklung der- Jägerschen Arbeit nicht vor. Auch bleibt
es eine wichtige Frage : wie sich die Einführung des Pentathlons bei den
heutigen Schulturnanstalten ermöglichen lasse. Während hier ein Massen-
und Gemeinturnen vorwiegend sein musz , am die turnerische Ausbildung
unserer Jugend in der Gesamtheit zu fördern, ist bei den 5 Uebungen des
Pentathlons die Einzelübung vorhersehend und durch die Turnräume
auch bedingt. Es bleibt also nicht klar: wie die Gesamtheit der Ju-
gend von diesen Uebungen ausgiebigen Vorteil für ihre Leibesübung zie-
hen kann.
Prof. Jäger hat mit seinen Bestrebungen und in specie mit seiner
Turnschule bereits viel Widerspruch in turnerischen Kreisen erfahren,
weil er von der seitherigen Ent Wickelung des Schulturnens abweicht.
Ob er mit dieser Abweichung epochemachend für die Gestaltung des
Schulturnens sein wird, dürfte namentlich von den praktischen Erfolgen
mit abhängen, welche die Jägersche Turnschule erzielt. Bis jetzt fehlen
diese gänzlich. Ein dritter noch zu erwartender Teil der Tumschule
wird dieselbe erst zum Abschlüsse bringen , so dasz wir auf das Werk
nochmals zurückkommen müssen.
Zur Zeit ist die Jägersche Turnschule eine der hervorragendsten
Erscheinungen auf dem Gebiete der Turnlitteratur. Bedauerlich ist es,
dasz die Turnschule dem Verständnis der Turnlehrer wenig zugänglich
ist, da die Beschreibung der Uebungen durch Wort und Bild zu wenig
unterstützt wird. Nur wer Gelegenheit hatte , den Demonstrationen Jä-
ger's selbst beizuwohnen , wird so viel gewonnen haben, um die ziemlich
aphoristisch aufgeführten Uebungen zu begreifen. Es dürfte dartun die
Turnschule zunächst in Württemberg ihr Publicum finden, wo der Verf.
in seiner Stellung als Oberleiter des Turnwesens Gelegenheit hat, die
Turnlehrer mit seinem System bekannt zu machen.
Von den zahlreichen Merkbüchlein für Turner ist das Dietersche
wol das am häufigsten verbreitete und namentlich auch bei den Gymna-
sialturnlehrem wol bekannt und beliebt. Es bietet im Anschlüsse an die
Eiselenschen Turntafeln eine gute Uebersicht aller Turnübungen nach den
bekannten 4 Stufen und hat sich als brauchbar erwiesen , was aus dem
Umstand hervorgeht, dasz es bereits in 5. Auflage vorliegt. Die 4. u. 5.
Auflage hat der Berliner Turndirector Dr. Angerstein besorgt, welcher
bemüht war, das Büchlein mit dem jetzigen Entwickelungsstandpunkte
des Turnens in Einklang zu bringen. Es geschah das namentlich durch
eine Erweiterung der Frei- und Ordnungsübungen, durch Beifügung einer
geschichtlichen Skizze und durch Umänderungen und Zusätze bei den
einzelnen Abschnitten, so dasz das Buch viel stärker geworden ist, als
früher. Im Einzelnen hätte hie und da eine mehr systematische Reihen-
folge der Turnübungen festgehalten werden können; z. B. bei den Barren-
übungen , wo gleich als 4. Uebung der Knickstütz auftritt Nach dem
bekannten Streite über das Barrenturnen, welches bekanntlich von der
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Neues vom Turnen und von der Gesundheitspflege in den Schulen. 595
sogenannten rationellen Gymnastik verworfen wurde , hätte man voraus-
setzen können, dasz Dr. Angerstein solche Misgriffe vermeiden werde.
Denn der Knickstütz musz durch eine lange Reihe von Uebungen im
Streckstütz erst vorbereitet sein, wenn er durch die damit zusammen-
hängende starke Erregung der Brustmuskulatur und der Brustorgane auf
den Organismus nicht nachteilig wirken soll. Wird der Anfänger im
Turnen, welcher sogleich an diese Uehung geht, nicht immer Blut
speien oder andere Nachteile davon tragen, so ist es doch princi-
p i e 1 1 festzuhalten , solche stark angreifende Uebungen wie den Knick-
stOtz am Barren erst auf den höheren Stufen auftreten zu lassen. Im
Allgemeinen ist die Anordnung des Dieterschen Merkbüchleins namentlich
den Turnvereinen Erwachsener wie etwa den Turnschülern der oberen
Classen höherer Schulen zu empfehlen.
Mehr auf die Bedürfnisse der Schulturnanstalten nimmt das Turn-
Merkbüchlein unter Nr. 5) Rücksicht. Es ist für den Zweck berechnet,
die hei den Schulturnanstalten gebräuchlichen Turnübungen ihrer zweck-
mässigen Reihenfolge nach im Besonderen zu bezeichnen und so Turnleh-
rern, Vorturnern und Turnschülern selbst zur Richtschnur beim Einhalten
einer notwendigen Stufenfolge zu dienen. Während das Dietersche Merk-
büchlein sich namentlich an Jahn -Eiselen anschlieszt, hat das Klosssche
die Reformen des Schulturnens durch Spiesz vorzugsweise berücksichtigt.
Die Jahrbücher für die Turnkunst (Nr. 8) liegen in ihrem
9. Jahrgange mit 6 Heften vor und fahren fort, dem Bedürfnisse der Turn-
lehrer und der Schulen dadurch zu entsprechen , dasz sie einen Sprech-
saal erhalten für die gesamten Angelegenheiten des Turnwesens , zu wel-
chem Zwecke hier Abhandlungen , eingehende Besprechungen aller hier-
hergehörigen Schriften und vielerlei Nachrichten geboten werden. Unter
den Abhandlungen des vorliegenden Jahrganges seien hervorgehoben : das
System der Stabübungen, von Dr. Münchenberg, über das Verhältnis
des Turnens zur Heilgymnastik, von Dr. Schildbach, Sonderung und
Zusammenhang des Schul- und Vereins turnens, von Hesse, der wissen-
schaftliche und officielle Abschlusz der Barrenfrage in Preuszen , Bemer-
kungen über die seitliche Verkrümmung des Rückgrates, von Dr. Berend,
die Turnsprache, von Dr. Waszmaünsdorff, Zusammenstellung von
Uebungsgruppen einfacher Frei-, Ordnungs- und Gerätübungen, von
Kluge, Verhandlungen der 3. deutschen Turnlehrerversammlung usw.
Einige und dreiszig Recensionen von Turnschriften und zahlreiche Nach-
richten bilden den übrigen Stoff der Jahrbücher, die sich neuerdings auch
in die Bibliotheken der Gymnasien Eingang verschafft haben , z. B. in
Bayern von der Regierung den Gymnasialbibliotbeken zur Anschauung
anempfohlen wurden.
Bei der Berücksichtigung der Freiübungen beim Schulturnen,
welche mit Recht allgemeiner geworden ist, erwähnen wir hier dies
Werk von Maul (Nr. 8), als ganz besonders beachtenswerth von Seiten
der Gymnasialturnlehrer. Spiesz, der eigentliche Erfinder und Lehrer
der Freiübungen, welche cfrei von Geräthen, in Zuständen, welche die
Thätigkeit zulassen, den Leib des Turners frei machen sollen', war
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596 Geographische Repetitionen.
Meister in der richtigen Behandlung dieser Turnart, und die Stellung
derselben zum Ganzen der Turnkunst ist von ihm in seinen Schriften hiß-
reichend bezeichnet worden. Trotzdem herschte häufig genug ein Mb-
Verständnis in Betreff dieser Freiübungen , da die Turnlehrer nicht selten
alle nur denkbaren Bewegungsmöglichkeiten zu erschöpfen sieb bemüh-
ten und damit die Sache offenbar zur Carricatur verzerrten. Auf diese
Abwege gerieth man beim Turnen, wenn man sich nächst dem allgemei-
nen pädagogischen Princip nicht auch durch das ästhetische lei-
ten liesz, wie dazu Spiesz selbst ein treffliches Beispiel gab. Spiesz wurdet
mit seinen Freiübungen lange mis verstanden , da man nach seinem be-
kannten Werke alle einzelnen Uebungen durchturnen liesz und so
Turnschüler entsetzlich langweilte. Erst nach und nach brach sich das
Richtige Bahn und das Werk von Maul hat das Verdienst , einmal Allel
gründlich erörtert zu haben, was sich auf Begriff und Werth 9 auf Au
Ordnung und Auswahl der Freiübungen, auf die Unterrichtsstufen dersel<
ben u. dgl. bezieht. Vor Allem kommt es darauf an, beim Turnen in de«
Freiübungen die richtige Auswahl mit Rücksicht auf die Entwicklung*
stufe und Natur der Turnschüler zu treffen, so dasz in dieser Beziehung
die Turn seh ick igk ei t der Freiübungen ermittelt wird, für deren Auf-
stellung nach Theorie und Praxis das Maulsche Werk von groszer Bedeu-
tung ist.
Im Allgemeinen ist das Turnen gegenwärtig nach mancherlei Käm-
pfen und erledigten Streitfragen auf dem ruhigen Wege der Weiterent-
wickelung angekommen, und es läszt sich für die Folgezeit erwarten, dasz
es innerlich und äuszerlich weitere Fortschritte auf den verschiedenen
Erziehungsgebieten mache.
Dresden. Moritz Kloss.
48.
Geographische Repetitioneh.
Skandinavien.
Das preuszische Reglement bestimmt, dasz in den beiden oberen
Glassen der Gymnasien 3 Stunden wöchentlich für Geschichte und Geo-
graphie angesetzt werden. Da in den unteren und mittleren Glassen das
Gesamtgebiet der Geographie ein oder zweimal selbständig behandelt ist,
so soll in den oberen das Erlernte nur repetiert und durch enge Verbin-
dung mit der Geschichte erweitert werden. Zu dem Zwecke läszt der
Unterzeichnete in jeden Ferien eine Karte zeichnen und repetiert dann
nach Vorschrift das dargestellte Land. Wie sich in der Praxis der Prima
eine solche Repetition gestaltet, erlaubt sich der Unterzeichnete in den
folgenden Abhandlungen darzulegen. Er kann versichern, dasz die Dar-
stellung der Praxis entnommen ist, und kann sich dabei auf alle diejeni-
Digitized by VjOOQlC
Geographische Repetitionen. 597
gen beziehen, welche ihm die Ehre erwiesen haben seinen Stunden bei-
zuwohnen.
Man versteht unter Skandinavien gewöhnlich nur die Königreiche
Norwegen und Schweden — und in dem Sinne nehmen wir es hier —
oder man rechnet auch wol noch Dänemark hinzu, dann pflegt man frei-
lich meist vom Skandinavischen Norden zu sprechen. Der Name Skandi-
navien ist schwer zu erklären ; vielleicht — und das ist H. Leo's Meinung
hängt das Wort mit skedan, scheiden oder mit skindan, schinden zu-
sammen. Skandinavien hiesze demnach entweder Scheide oder Räuber-
land. Dasz Jutland scedeland genannt wurde, wissen wir aus dem Beo-
wulfsliede; die Uebertragung auf Skandinavien aber ist wenn auch nicht
unmöglich, doch nicht gerade wahrscheinlich, da wol Jütland leicht als
Scheideland der beiden Meere erscheinen, bei Skandinavien aber seiner
gröszeren Breite wegen diese Vorstellung nicht so bald entstehen konnte.
Die Bedeutung c Räuberland9 bezieht sich natürlich auf die Züge der Wi-
kinger. Die Halbinsel wird vom 60. und 70. Parallelkreise durchschnitten,
liegt also in der nordlichen gemäszigten und kalten Zone. Selbstverständ-
lich geht der nördliche Polarkreis hindurch. Am 21. Juni haben die Be-
wohner dieses Kreises 24 Stunden Tag, am 21. December dauert die Nacht
dann ebenso lange. Die Zeit des Mitsommertages, die Zeit der hellen
Nächte ist für die Bewohner jener Gegenden eine Zeit der Wonne. Wie
schön hat Jean Paul die Leiden und Freuden eines Landpastors in jenen
Wochen geschildert! Dann eilen die Fremden, besonders die reiselustigen
Engländer nach Hammerfest, um den seltsamen Anblick zu genieszen, wie
die Sonne nicht vom Horizonte ver^hwindet.
Leicht erklärlich ist es, dasz die Nordländer diesen Tag dem hellen,
schönen , freudigen Baidur weihten , von dem ein Licht ausgieng durch
Himmel und Erde; begreiflich ist es, dasz seine Gemahlin Nanna, die
Blüte war und dasz ihr hei seinem Tode das Herz brach. An die Stelle
des Baidur hat die christliche Kirche den Apostel Johannes gesetzt , den
sanften und milden Jünger, dessen Hauptpredigt die war: Liebet euch
unter einander, meine Kindlein! Da Baldur's Leiche verbrannt worden
ist , so zündet das Volk heute noch am Johannistage Feuer an. Dieser
Gebrauch ehrt also eigentlich den Baidur, nicht den Apostel Johannes.
Der Mitsommertag gilt auch heute noch für einen Glückstag Und die Kin-
der, welche an ihm das Licht der Welt erblicken, sollen mit besonderen
Gaben gesegnet sein. — Von diesen hellen Nächten hatten schon die Al-
ten Kunde und manche Züge in der Apollo- und Hyperboräersage bezeu-
gen das.
Von den Meridianen, welche das Land durchschneiden, merken wir
nur den 30sten, weil er durch viele wichtige Punkte Europas geht. So
berührt er Rom , Venedig, die Dreiherrenspitze, das Fichtelgebirge, Leip-
zig, Kopenhagen und Gothenburg.
Die Grösze der Halbinsel beträgt über 14,000 Quadratmeilen, wovon
6000 auf Norwegen , 8000 auf Schweden kommen. Jedes der beiden Kö-
nigreiche ist also gröszer als Preuszen , doch mit ihm an Einwohnerzahl
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598 Geographische Repetitionen.
nicht zu vergleichen, denn Norwegen hat höchstens 2,000,000 und Schwe-
den 4,000,000 Einwohner.
Im Norden wird Skandinavien vom nördlichen Eismeer begrenzt, in
welchem die Reihe der Klippeninseln, der Loffoden, liegt. Im Westen
wird das Land vom atlantischen Oceane und von der Nordsee bespült.
Das Meer hier an der Westseite ist ein stürmisch bewegtes Meer.
Deshalb hat die nordische Mythologie den Ocean , welcher die Erde
umschlingt, als eine Schlange dargestellt, als ein böses, den Göttern
feindliches Wesen, als eine Tochter Loris, des Götterriegels und der An-
gurboda, der Angstverkündigerin. Odin hat diese Schlange um Midgard,
die Erde gefugt und sie bleibt da, bis der letzte Kampf der Götter und
Riesen beginnt, der letzte Kampf des Geistes mit der Materie. Dann er-
hebt sie sich in ihrer schouszlichea Ungestalt zu furchtbarem Streite.
Greulich ersohien den Normännern das Meer in seiner Aufregung , wie
folgende Erzählung der Edda beweist. Thor fuhr einst, so lautet die-
selbe, mit einem Riesen auf die hohe See, um die Schlange zu angeln
und dann zu tödten. Sie bisz auf den Köder und der Gott begann sie
aus dem Meere herauszuziehen. Das grimme Haupt erhob sieh aus der
Flut, war aber so entsetzlich anzuschauen, dasz der Riese den Anblick
nicht ertragen konnte, den Strick der Angel durchschnitt und so die
Schlange wieder in die Tiefe zurücksinken machte. Wenn man diese
Vorstellungen der nordischen Mythologie beachtet, dann wird man ver-
stehen , wie gerade an der Norwegischen Küste die Sage von der See-
schlange und von dem Kraken entstehen und sich bis auf unsere Zeil
erhalten konnte. Die Schilderung von diesem Ungetüm, welches 60 Fusi
lang sich aus dem Meere erheben, seine wallende Mähne schüttelnd auf
den Feind losschieszen soll, gleicht doch auffallend jenem Bilde aus der
Edda. Welche Seethiere zu dieser Darstellung mit Veranlassung gegeben
haben , das ist trotz aller Vermutungen noch eine Streitfrage. Der Krake
ist einfacher zu erklären. Er soll ein Ungetüm sein, welches sich wie
eine Insel aus dem Meere erhebt. Schiffer landeten auf ihm, zündeten
Feuer an und sahen dann zu ihrem Schrecken das Unthier in die Tiefe
versinken. Einmal soll ein solcher Krake in einen Fjord gekommen und
dort gestrandet sein. Verfaulend verpestete er die Luft so , dasz die An-
wohner fortziehen musten. Nun zum Bilde dieser Meerriesen hat wol der
Walfisch gedient. Merkwürdig aber ist es, dasz an die Existeaz dieser
Wunderthiere viele Norweger glauben. — Der Walfiseh zeigt sich oft an
diesen Küsten und ist zu Zeiten ein getreuer Gehülfe des Normanns.
Wenn nemlich die dichtgeschaarten Züge der Häringe ihren Weg längs
der Küste ziehen, dann begleiten die Walfische sie, um sich an ihnen zu
sättigen. Sie drängen den kleinen Fisch an die Küste und erleichtern dem
Normann den Fang. Seit dem lt. Jh. haben die Häringszuge die Ostsee
verlassen und die Anwohner der Nordsee durch ihr massenhaftes Erschei-
nen beglückt. Der Normann beschäftigt sich eifrig mit dem Fange dieser
Fische, versteht es aber nicht, sie so gut zuzubereiten wie die Engländer
und Holländer. Ebenso verhält es sich mit dem Stockfisch. Die Orte, von
wo aus dieser Fischhandel schwunghaft betriehen wird, sind Dronthejm,
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Geographische Repeütionen. 599
Bergen und Gothenburg. — An die Westkäste Skandinaviens spülen die
Ausläufer des Golfstroms, wodurch bei den Loffoden der gefährliche
Strudel 7 der Malstrom, entsteht. Diese warmen Gewässer ermäszigieu
die Temperatur der Küste und bewirken , dasz dieselbe, da sie auszerdem
durch die Gebirgswand vor den kalten Ostwinden geschützt wird, ein
verhältnismässig müdes Klima hat. Die kältesten Winde sind hier die
Ostwinde, was durch die Lage Skandinaviens und durch die bekannte
Theorie von der Polarströmung der Luft hinreichend erklärt wird.
Deshalb zieht auch Thor, wenn er die Eis- und Frostriesen bekäm-
pfen will, aus seinem Lieblingslande, aus Norwegen ostwärts.
Im Süden wird Norwegen vom Skager Rack begrenzt. Es ist eine
bekannte, in unserer Zeit vielfach besprochene Hypothese , dasz früher
das Skager Rack durch den Wenern- und Wettersee mit der Ostsee und
diese durch den Ladoga- und Onegasee mit dem weiszen Meere verbunden
gewesen sei. Jetzt liegt derWenernsee 300 Fusz über dem Meere. Diese
ThaUache vernichtet jedoch nicht die eben angeführte Hypothese. Wir
wissen nemlich, dasz Skandinavien sich hebt, und zwar erkennen wir das
an den Flutmarken , die deutlich sichtbar eine über der andern an den
Küsten sich aller Orten zeigen. Man hat wol früher behauptet , dasz das
Meer abgenommen habe und so jene Marken entstanden seien, doch ist
diese Ansicht längst widerlegt. La andern Gegenden der Erde ist ein pe-
riodisches Heben und Senken der Landmassen beobachtet worden , so
correspondieren Italien und die Hämushalbinsel. Wie Skandinavien sich
gehoben, hat sich Grönland gesenkt, als ob auch diese beiden Regionen
auf einander Bezug hätten. Ebenso zeigen Schweden und Pommern ein
ähnliches Verhältnis. Wie das zu erklären ist, musz ich den Physikern
überlassen ; nur eine Deutung dieser Erscheinung für Skandinavien will
ich kurz berühren, nach welcher die Hebung der Halbinsel aus dem Meere
durch die allmähliche Ausdehnung der Granitmassen selbst dargestellt
wird. Aus dem Skager Rack führt nach Süden das Kattegat, das gefähr-
liche Katzenloch, und aus ihm leitet die enge Verbindung der drei bekann-
ten Straszen in die Ostsee. Wenn die Ostsee einstmals ein groszes Süsz-
wasserbecken gewesen ist, worauf doch viele Erscheinungen hinweisen,
dann erklärt sich ihr geringer Salzgehalt aus diesen schmalen Verbindun-
gen ebenso leicht, wie der fast nicht zu bemerkende Unterschied des
Wasserstandes bei Ebbe und Flut. Skandinaviens Westküste ist den Ein-
flüssen des Oceans ausgesetzt, die Ostküste denen eines Binnenmeeres,
der Ostsee. Diese verbindet Pommern, Preuszen und Südschweden aufs
innigste. Es hat dieser Umstand stets die groszen Monarchen des Nordens,
wie Gustav Adolf und Peter den Groszen , auf den Gedanken gebracht,
ein mächtiges Ostseereich zu gründen. Im Anfange des Mittelalters haben
die Dänen versucht, eine solche Macht in der Ostsee zu erwerben. In den
Odermündungen herschten sie von der Jomsburg aus, vielleicht haben sie
Danzig gegründet, bis nach Ruszland sind sie vorgedrungen, denn Reval
ist von ihnen erbaut. Noch heute gehört ihnen der Burgunderholm
(Bornholm). Dann hat der Hansabund dort so geherscht, wie die Kartha-
ger vor dem zweiten punischen Kriege in Spanien. Die gebildeten, rei-
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600 Geographische Repetitionen.
chen Kaufleute standen unter einander in einer festen Gemeinschaft und
überragten weit in ihrer bürgerlichen Klugheit und Humanität die kleinen
Junker und die rohen Bauern jener Kästenlande. Zum Hansabunde ge-
hörte einst die Insel Gottland, deren Hauptstadt Wisby eine bedeutende
Handelsstadt war. Noch heute zeigt sie Spuren ihrer einstigen Grösze;
sie hat wie Nürnberg und Danzig eine Fülle des Altertümlichen bewahrt.
Während aber jene Städte in neuer Regsamkeit erblühen , liegt sie todt
da wie eine versunkene Stadt. Dem Hansabunde entrisz Schweden die
Herschaft; der Schweden Macht brachen die Russen, ohne dasz sie jedoch
den Principal in der Ostsee erlangt hätten.
Die Ostsee ist ein gefährliches Meer, wie die meisten Binnenmeere.
Die Winde wechseln unberechenbar, die Wellen sind zwar nicht so hoch
wie im Ocean , aber die kurzen Wellen sind namentlich nach dem Auf-
hören eines Sturmes sehr gefährlich.
Die eigentliche Ostsee gefriert nur selten in gröszerer Ausdehnung;
viel häufiger, fast alljährlich der bottnische Meerbusen, welchen die
Alands-Inseln von der Ostsee trennen. Sie bilden eine Brücke von Finn-
land nach Schweden , wie die Adamsbrücke zwischen Ceylon und Vorder-
indien. Durch die Quarken , eine andere Inselreihe , wird der Meerbusen
in zwei Teile gesondert. Die Russen benutzten diese natürliche Brücke
im Winter des Jahres 1809 und giengen mit einer Armee über das Eis
von dem finnischen Städtchen Wasa herüber nach dem schwedischen Umea.
Dasz die Ostsee, das Gürtel- oder baltische Meer , seine Hauptausdehnung
von Norden nach Süden hat, merken besonders die deutschen Gestade.
hn Mai nemlich pflegen erst die Eismassen in den nördlichen Gegenden
zu schmelzen und musz dann das daraus entstehende kalte Wasser der
Ausgleichung wegen nach Süden hinströmen. So lange bis die Tempe-
ratur der Wassermassen sich ausgeglichen hat, bewirken die kälteren
Strömungen eine Erniederigung der Lufttemperatur und erklärt sich
daraus das Phänomen der sogenannten kalten Tage des Mais.
Die West- und Ostküste Skandinaviens ist zerrissen; voll von Buch-
ten, Vorgebirgen und kleinen Inseln. An der Ostküste ist das alles zier-
licher und feiner ausgearbeitet, für Seeraub und Schmuggelbandel wie
geschaffen. Um dieses Gewirre von Landbrocken, diese Skären, zuhe-
herschen, hat man in Schweden eine eigentümliche KüstenflotUle, die
Skärenflotte, gebildet, deren kleine Schiffe mit nicht tiefgehendem Kiele
wol geeignet sind, in alle Engen und Winkel dieses Strandes einzu-
dringen.
Die Hauptsenkung Skandinaviens geht von Westen nach Osten; das
Land ist eine Granitplatte , welche steil zur Nordsee und in Terrassen
zur Ostsee abfällt.
Der Streit, ob der Granit geschichtet oder nur massig vorkomme,
ist bis jetzt noch nicht entschieden, doch gewinnen, wie es scheint, die
Neptunisten den Vulkanisten in dieser Frage immer mehr Terrain ab.
So viel steht für Skandinavien fest, dasz der Granit in groszen
Platten liegt, bei denen nur fraglich ist, ob sie dem Feuer oder dem
Wasser ihre Bildung verdanken. Der Granit der Alpen verwittert starker,
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Geographische Repetitionen. 601
als der Skandinaviens ; man hat diese Thatsache dadurch zu erklären ver-
sucht , dasz man — die Schichtung des Granites voraussetzend — in den
Alpen die Schichten senkrecht neben einander stehend, in Skandinavien
wagerecht auf einander liegend fand. Im ersteren Falle dringt alle Feuch-
tigkeit leichter ein und befördert den Process der Verwitterung. — Man
hat, wie schon oben erwähnt, ein groszes europäisches Binnenmeer an-
genommen , welches die sarmatische und deutsche Tiefebene bedeckt ha-
ben soll. Eisschollen haben von Skandinavien und von den Karpathen her
die Geschiebe über dasselbe hingeführt. Diese Massen sind dann als erra-
tische Blöcke nach dem Zergehen der Eisschollen liegen geblieben ; noch
in der Lausitz findet man Geschiebe von Skandinavischem Granit , dort
stoszen sie zusammen mit denen, welche von den Karpathen hergekom-
men sind.
Diese Plattenform des Gebirges findet sich am schärfsten ausgeprägi
im Süden Skandinaviens, in den sogenannten Fjelds. Das Gebirgsland
zerfallt nemlich in drei wol zu unterscheidende Teile : 1) in die Fjelds,
welche vom Gap Lindesnaes bis zum Drontheim Fjord und Sneehättan rei-
chen; 2) in die Kjölen, von dort bis zum Sulitelma , bis zum nördlichen
Polarkreise und 3) in die Lappländischen Plateaus, die vom Sulitelma
bis zum Warangerfjord , Enarasee , und bis zum Tornea und Muonioflusz
sich erstrecken.
Diese südlichen Fjelds erhalten durch die Lagerung der Granitplat-
ten etwas sehr Einförmiges. Unendlich weite, 3 — 4000 Fusz hohe Flächen,
auf denen das Ansteigen, die Erhebung so allmählich vor sich gehet, dasz
es kaum zu merken ist. Dann ausgedehnte Gletscher, Jökuls, wie weisze
Leichentücher ohne Abwechslung hingespreitet. Auf den Fjelds liegen
die Wasserscheiden oft als sumpfige Wiesen, nicht wie in den Alpen als
Wände und Passhöhen. In diese Platten sind enge, steile Thäler einge-
rissen, wie wenn die Wände nur ein wenig von einander gerückt wären.
Auf den Fjelds findet sich nur dürftige Vegetation, Birken und Nadelholz,
und an den höheren Stellen schon im August oft entsetzliche Kälte. Dort
oben erstarrte in diesem Monate Carl dem XII im Oststurm ein ganzes
Heer. Was Wunder , dasz sich hier herauf die Geächteten flüchten. So
wollte Gustav Wasa, als er vergebens zu den Thalkerlen in Mora geredet,
hier eine Zuflucht mit einem Dänen suchen, der friedlos wegen Mordes
in den Wald geflüchtet war. — - Von den steilen Bergwänden herab stürzt
sich das Wasser in prächtigen Fällen ; nirgend sieht man sie so schön und
so zahlreich als hier. Ueber diese Fjelds ragen die hohen Berge heraus :
die Tindes, Nadeln oder Hättan, Haube genannt werden, denn der Granit
bildet oft spitze Gipfel : Hörner, Aiguilles, Piks oder hauben- und buckei-
förmige Höhen wie der Monte Rosa, welcher durch Verwitterung die
Form einer aufgeblätterten Rose erhalten hat. Nach Westen hin zum
Meere fällt das Gebirge steil ab, nach Osten in Terrassen in die Tief-
ebene bis zu den vier groszen südschwedischen Seen, zum Wener-, Wel-
ter-, Mälar- und Hielmarsee. Dieser südliche Teil des Gebirges ist nun
wieder in eine Reihe Plateaus zerteilt , welche durch tief eingeschnittene
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 12. 42
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602 Geographische Repetitionen.
Meerbusen Fjords und durch Flusse von einander getrennt werden. Die
Fjords sind nichts Anderes, als mit Wasser ausgefüllte Alpenihäler. Wie
Gebirgsthäler überhaupt nicht schnurgerade nach einer Himmelsgegend
hin streichen, sondern aus mehreren Abteilungen bestehend bei jedem
neuen Thalabschnitte eine Biegung machen, so auch die Fjords, welche
sich in der Art viele Meilen weit ins Land hineinziehen. Diese Fjords
hat nun die Poesie mit ihrem Zauberlichte erhellt, und es mag wol
herlich sein zwischen den steilen Felswänden dahinzusegeln an dem
schmalen, grauen Küstenstreifen oder an den kleinen Inseln, den Holmen,
vorbei ; wie mag der Fremde staunen , wenn sein Steuermann gerade los-
segelt auf eine Felswand, welche die Scene zu schlteszen scheint, und
wenn dann eine kühne Wendung um eine scharfe Felskante das Schiff in ein
anderes Wasserbecken führt. Dazu rauschen von den Felsen Wasserfälle,
denn die kleinen Flüsse der Westseite stürzen vielfach in dieser Weise
von den Plateaus ins Meer. Der berümteste Fjord ist der Hardanger
Fjord, in welchem Harald Harfagr (Schönhaar) die kleinen norwegischen
Jarle besiegte und durch diesen Sieg König von Norwegen wurde. Die-
jenigen Edlen aber , welche sich dem neuen Herscher und dem von ihm
begünstigten Ghristentume nicht fügen mochten, suchten eine andere
Heimat und fanden sie teils in Island, teils in der Normandie. — Die ein-
zelnen Fjelds , wie das Hardanger, Dovre, Sagnefjeld werden ferner durch
die groszen Flüsse von einander getrennt, welche ost- und süd ostwärts
über die dorthin sich senkenden Terrassen abflieszen. Wir merken vor
allen als noch zu Norwegen gehörenden Strom den Glommen mit seinem
groszen Nebenflusse Lougen. Das Thal des Lougen heiszt Guldbrandslhal.
In ihm wohnt der echte norwegische Bauer , der edle Bonde werth , der
Odalsbauer; ein Nachkomme oft von den alten Königen sitzt er auf seinem
Gute, seinem Odal, Uodal oder Adal, in Wahrheit ein Uodalrich, Adels-
reich. Diese Südfjelds enthalten Alles , was in Norwegen von Bedeutung
ist. Da liegt im Süden die jetzige Hauptstadt Christiania, da Friedrichs-
hall, vor dem im J. 1718 Carl XII erschossen wurde. Es ist bekannt, dasz
man diese Thal dem schwedischen Adel zugeschrieben hat. Zwar hat man
in neuester Zeit durch eine Untersuchung am Leichnam des Königs be-
weisen wollen , dasz der Schusz von der Seite des Feindes her gefallen
sein müste, indessen ist dadurch kein sicheres Resultat erzielt worden
und die Sache bleibt nach wie vor unaufgeklärt. An der Westküste fin-
den wir Bergen, wo die Hansa ihr berühmtes Gomptoir hatte, und weiter
nördlich Drontheim. Von Bergwerken merken wir Röraas, nicht weit von
den Quellen des Glommen etwas südöstlich von Drontheim. — Wahrlich!
ein hartes Leben führt auch in diesem mildesten Teile seines Landes der
Normann. Der Acker trägt nicht viel Getreide, nicht so viel, dasz der
Bewohner nicht von auszen her Zufuhr gebrauchte; jedes Körnlein Salz
musz ihm gebracht werden. Dem Meere musz er auch die Nahrung unter
harten Kämpfen abgewinnen. Kein Wunder also , dasz oft sein Leib un-
terliegt, dasz der schreckliche Aussatz ganze Familien auf Kind und Kin-
deskinder heimsucht ; kein Wunder, dasz oft seine Religiosität eine düstere
Färbung annimmt, dasz in dem einsam liegenden Bauerngehöft in seltsam
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Geographische Repetitionen. 603
mystischer Weise Gott verehrt wird. Anders ist doch schon Alles in dem
Vorlande, in Südschweden.
Dies erstreckt sich so weit nach Süden, dasz nur ein Teil bis zu
den schon oben genannten groszen Seen von den Terrassen der Fjelds
erfüllt wird , das Land aber südwärts von diesen Wasserbecken erhebt
sich zu einem eigenen, etwa 700 Fusz hohen Plateau, Smaland genannt.
Diese Hügellandschaft senkt sich von Norden nach Süden so, dasz die
kleineren Flüsse von ihr nach allen Seiten in's Meer strömen. In diese
Gegenden sind die germanischen Stämme eingewandert und allmählich
von Süden nach Norden gegen die mongolischen Ureinwohner vorgedrun-
gen. Noch heute gebrauchte Ortsnamen bekunden , dasz Finnen einst in
diesen Gegenden lebten. Wie die Assyrier ihre groszen Eroberungszuge
alle der Semiramis, wie die Tyrier ihre Handelsfahrten dem Melkarth und
die Griechen dem Hercules zugeschrieben haben , so die Skandinavier die
Golonisation des Landes dem Äsen Heimdallur, dem vielkundigen Rigr.
Am Meere entlang auf grünem Pfade wanderte der As , wie die Edda im
Bigsmal singt, und von ihm und durch ihn entsproszten die 3 Stände:
die Jarle, die Carle und die Thräle. Blondhaarig und blauäugig, wie Ta-
citus die Deutschen schildert , so stellt das Lied den Jarl dar , dessen Au-
gen wie Schlangen lauerten, Hunde hetzen lernt er, und Hengste reiten
und den Sund durchschwimmen; aber der Gott unterrichtet diesen seinen
liebsten Sohn auch in den Runen: Zeit- und Zukunftsrunen lernt er, er
lernt die See stillen und der Winde Brausen dämpfen und erregen. Ger-
manisch ist auch der Carl , der freie Bauer, dessen Hauptgott Thor ist,
der Kerl der Kerle, wie ihn die Edda nennt und ihn deswegen auch in
seinem Korbe Hering und Habermus tragen läszt. Die Thräle aber, die
Tagelöhner, sind nicht rein germanisch; dunkel ist ihre Haut, fratzig ihr
Antlitz, kurz, die ganze Schilderung der Edda läszt in ihnen Mongolen
erkennen. Eins ist aber wol zu merken , dasz es — soweit wir Kunde
haben — in Schweden nie leibeigene Leute gegeben hat und dasz ein
gewaltiger Unwillen unter den Bauern entstand, als die Königin Christine
einmal von wanbördigen Leuten redete. — In diesem Südteile Schwedens
vom Cap Falsterbo bis zum Dal Elf hin lieszen sich zwei deutsche Stämme
nieder: die Gothen und die Sueonen. Ihre Grenze liegt zwischen den
vier Seen. Es wird nemlich der Mälar- und Hiclmarsee von dem Wener-
und Wettersee durch ein bergiges Waldland getrennt. In alten Zeiten
war die Gegend mit Wald bedeckt ; sieben Tagereisen entlang erstreckte
sich die Grenzwaldung, welche Tiweden und Colmärden hiesz. Zwischen
Pommern, Polen und der Mark lagen auch solche Wildnisse. Wie dort
durch sie der heilige Ansgarius pilgerte, so durchzog die pommerschen
Grenzwälder der Bischof Otto von Bamberg.
Diese beiden Stämme haben wol in den ältesten Zeiten bittere Feh-
den unter einander geführt, wie sich das in den Kämpfen der Äsen und
Vanen widerspiegelt. Als dann die beiden Völker sich aussöhnten , ver-
schmolzen auch die beiden Götterkreise zu einem. — Bekanntlich hat
Norwegen so lange zu Dänemark gehört, dasz die gebildeten Einwohner
das dänische Idiom als Schrift- und Umgangssprache gebrauchen und erst
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604 Geographische Repelitionen.
in neuester Zeit begonnen haben , durch Verfeinerung ihrer Volksdialecle
und durch Belebung des Altnordischen ein eigenes Hochnordisch zu schaf-
fen. Nicht ganz so lange wie Norwegen, nur bis ins 17e Jahrhundert hin-
ein haben die Dänen die südwestlichsten Provinzen von Schweden , neu-
lich Hailand, Schonen und Blekingen, besessen. Selbst die grosze Handels-
stadt Götaborg war lange dänisch. Hier im Süden, in Gothlaod, finden
wir neben einander einen mächtigen Adel und reiche Bauern, hier schon
frühe wolhabende Städte, welche sich zur Hansa hielten. Wenn man die
Hügellandschaften hier durchwandert, so trifft man stattliche Edelhöfe.
reiche, wol dotierte Pfarreien und grosze Bauerndörfer. Freilich wird
dies freundliche Bild dadurch umdüstert, dasz das Laster des Trunkes, die
sogenannte Branntweinpest, an dem Marke des Landes zehrt. An der
Küste merken wir die Festung Malmoe, die in neuester Zeit durch der.
Vertrag von 1852 so verhängnisvoll geworden ist, dann den berühmteD
Ueberfahrtsort Ystadt und an der Südostküste Galmar am gleichnamigen
Sunde. — Das Bild zweier gewaltiger Persönlichkeiten zaubert der Name
jener Stadt hervor ; erstens das der Margarethe , der Semiramis des Nor-
dens, wie Voltaire sie nennt, und dann das Carls X, der hier so lange seine
Residenz hatte, als seine launische Base Christine regierte. — Die Skan-
dinavischen Seen sind entweder Quellseen und liegen dann selbstredend
meist auf den Höhen oder sie sind Fluszseen und erstrecken sich dann
wie der lago maggiore, Corner- und Garda-, wie der Boden- und Genfer*
see aus den höheren Gebirgsgegenden in die Vorberge hinein.
Die vier groszen südschwedischen Seen aber liegen in der Tiefebene,
in der Einsenkung zwischen den Fjelds und dem Smalands Plateau. Der
Wenersee ist ein ausgesprochener Fluszsee, denn es strömt in ihn die
Clara Elf hinein und die Göta Elf bildet seinen Abflusz zum Meere. Da
der See, wie oben schon bemerkt worden, 300 Fusz über dem Meere
liegt , so erklärt es sich leicht, dasz der Abflusz des Wenern, der Götaelf,
den groszen Wasserfall Trollhättan (die Riesenhaube) bildet. Um diesen
Fall herum ist ein Canal geführt, so dasz man von Götaborg in den
Wenern, aus diesem durch den Götakanal in den Wettersee, von da durcL
denselben Canal in die Motalaelf und so in die Ostsee gelangt. Ein Herr
v. Platen hat diesen Canal gebaut, der dadurch sehr merkwürdig ist, dasz
er über eine Erhebung von 300 Fusz führt. Der Canal du midi übersteigl
nur 150 Fusz. — Nördlich von den beiden genannten Seen liegt bis zum
Dal Elf hin das Land der Sueonen , das eigentliche Suealand. Hier ist
durchweg der eigentlich classische Boden nordischer Geschichte. Wer
kennt nicht das blaue Regiment Südermannland, welches der Oberst
Gustav Wrangel führte? Es trägt seinen Namen von der Landschaft zwi-
schen den 4 Seen. Auf dem Eise des Mälarsees, auf der Flucht nach
Stockholm starb im Jahre 1519 der edle Steu Sture, der Reichsverweser
von Schweden, und bald darauf feierte Christian II dort sein berühmtes
Blutbad. Stockholm, das nordische Venedig, liegt am Ausflusz des Mälar-
sees. Wie Madrid Hauptstadt von Spanien wurde , als Castilien und Ara-
gonien zu einem Reiche verschmolzen waren , so wurde Stockholm erst
im 12. Jh. gegründet, als ein gröszeres Reich sich hier gebildet hatte.
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Geographische Repetitionen. 605
Was für gewaltige , fast möchte man sagen , herserkermäszige Zuge ha-
ben die öffentlichen Gebäude, die groszen Plätze dem Wanderer zu be-
richten ! Schau hin ! siehst du auf dem Markte das Blutgerüst und auf
ihm den Henker in voller Arbeit? Mit Seufzen und Stöhnen bejammert
die Menge das Blutbad! Siehst du wol unter dem Volke die beiden ern-
sten Männer? Betend, tröstend gehen sie umher; ja, das sind die Peders-
söhne Olav und Lorenz , welche Luther's Lehre aus Wittenberg nach
Schweden gebracht haben. Siehst du jene stolzen, schönen Herren? das
ist der Hörn, der Fersen, das ist ein Brahe, ein Stenbock, ein Ribbeek,
ein Ankarström, und das? Ja, wer kann sie Alle aufzählen, die stolzen
Gesellen , welche in kühnem Frevelmute die Hand gegen die Krone und
das Leben ihres Herrn und Königs erhoben haben. Sie haben es den
Wasas nie vergeben und vergessen können , dasz sie aus ihrer Mitte em-
porgestiegen die Herscher sein sollten. Und jetzt! nun jetzt beherscht
sie der Enkel eines Advokaten. Lasz die trüben Bilder! fahren wir lieber
hinaus auf den Mälarsee, besuchen wir eine jener unzähligen Inseln des
Stockholmer Thiergartens und zwar jene, auf welcher an den Anakreon
des Nordens, an Otto Bellmann, sein Denkmal erinnert. Welch heiteres
Leben herscht da! Zu lustig fast; aber bedenken wir, dasz Stockholms
und Münchens Sittlichkeit übel berüchtigt sind. — Gesättigt von dem
nordischen Venedig wenden wir uns zu der alt heiligen Hauptstadt Up-
sala. Nicht steht der alte Odhinstempel mehr da, aber die ganze Stadt ist
jetzt ein Tempel; ein Tempel der Wissenschaft. Linne und Berzelius ha-
ben sie weltberühmt gemacht.
Im nördlichen Teile des alten Suealandes herscht in den Bergen ein
lebendiges Treiben; vor Allem in dem groszen Bergwerke von Falun.
Nun sind wir am Dal Elf, am Thalflusz, im Lande Dalarne, wo die riesi-
gen Thalkerle wohnen. Am Flusse liegen schöne Wiesen, anf den Bergen
streckt sich der Fichtenwald hin ; weit, schaurig still, denn es fehlen fast
alle Singvögel. Kleine Hütten liegen hier und da verstreut. Aus ihnen
treten colossale Gestalten , wahrhaft nordische Hünen. In dunkelm Ge-
wände, einen Lederschurz vorgebunden, die Axt auf der Schulter oder
den Spitzhammer in der Faust, so schreitet der Thalkerl in den Wald
oder fährt in den Schacht. Mächtiger Nacken, harte, feste Züge, ein
Doppelkinn verkünden die Thatkraft dieser Leute, aber ihre Züge sind
nur in der Jugend recht frisch , bald werden sie welk ! Die Not des Le-
bens , die schlechte Nahrung zerstören schnell den Schmelz der Jugend.
Wenn nemlich die Ernte nicht recht geräth, und das ist oft der Fall, so
backt der Thalkerl zerriebenes Fichtenmark zwischen sein Knakebrod;
davon wird er wol satt, aber nicht froh. Zu diesen Leuten flüchtete,
wie bekannt, der geächtete Gustav Wasa. Denken wir ihn uns vor diesen
Leuten stehend in seiner ganzen Lieblichkeit, in der ihn sein Biograph
schildert. Seine Grösze , sagt derselbe , war von mittelmäsziger Mannes-
länge, etwas über 3 Ellen. Er hatte einen runden Kopf, blondes Haar;
schönen, groszen, langen Bart, scharfe Augen, kleine gerade Nase, wol-
gebildeten Mund, rothe Lippen, blühende Wangen, einen rothbraunen
Leib, so wolgestaltet, dasz nicht ein Fleck sich an ihm fand, eine Nadel-
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606 Geographische Repetitionen.
spitze darauf zu setzen ; schöne Hände, starke Arme? vollen Körper, Bein*
und Füsze ; mit einem Worte, er war so wolgestall und ebenmäszig, wie
einen solchen ein kunstreicher Maler aufs beste hätte malen mögen. Ist's
nicht der eddische Jarl in aller Herlichkeit? Darum folgten ihm die Thal-
kerle und besiegten bald die Dänen an der Brunnbäks Fähre des Dal Elf.
wovon ein altes, schönes Lied singt:
Schneerypen and Föhrenhüpfer im Baum
Der Thalpfeil trifft gar gut.
Christiern, dem blutigen Schinder, wol kaum
Wird's werden besser zu Mut.
Sie trieben den Juten in Brunn eb äks Elb,
Das Wasser umsprudelt ihn rings:
Kur that's ihnen weh, dasz dem Christiern selb
Nicht auch geschah gleicherdings.
So flüchten die Juten nun alle, gar laut
Anstimmend solch kläglichen Sang:
Da trinke der Teufel das Porschbier, gebraut
Bei des Dalkerls Ambos und Zang.
Vom Drontheimer Fjord bis zum Sulitelma erstreckt sich der zweite Teil
des Gebirges, die Kjölen, silva carbonaria, genannt. Nach Norden zu
nimmt die Kammhöhe des Gebirges ab , wenn auch noch in diesem zwei-
ten Teile die einzelnen Bergspitzen bis über 7000 Fusz emporragen. Die
Plateaus der Kjölen sind schmaler und auf ihnen zeigen sich vielfach
Rücken und Kämme. Nördlich vom Sulitelma werden die Plateaus niedri-
ger und breiter; die Schneegrenze steigt immer tiefer und an einigen
Stellen reichen die Gletscher bis ans Meer. Nach Osten zu fällt das Ge-
birge in Terrassen ab. Auch hier findet sich überall wie im Süden Eisen,
nur kann es aus Holzmangel an vielen Stellen nicht bearbeitet werden.
Von den Gebirgen strömt eine Fülle Wassers herunter; es sammelt sich
teils in groszen Seebecken, teils bildet es Sümpfe; das Uebrige führen
die Flüsse, die Elfs, ins Meer. An der Ostseite , in der schwedischen Hü-
gelebene wohnen im Norrlande teils Schweden, teils ausgewanderte Fin-
nen. Letztere sind wol zu unterscheiden von den Lappen , welche den
Norden beider Reiche, namentlich aber von Norwegen bewohnen. Sie
leben meist alle entweder als Nomaden von Rennthierzucht oder als An-
wohner der See vom Fischfange. Die nomadischen Lappländer ziehen im
Sommer nach Norden , im Winter nach Süden in die Nähe ihrer Kirche.
Christen sind sie wol jetzt alle ; aber trotz der Reiseprediger hören sie
oft nur das Evangelium verkünden in den Wochen, da sie in der Nähe der
Kirche ihre Heerden hüten. Die Rennthierlappen werden oft durch den
Handel mit Rennthierfleisch recht wolhabend, bleiben aber immer bei den
Ihren und in ihrer Beschäftigung.
Brechen wir hier ab und blicken noch einmal zurück auf jene nor-
dischen Lande, so müssen wir doch gestehen , dasz namentlich Norwegen
ein sehr glückliches und verständig eingerichtetes Land ist. Alle Einwoh-
ner haben eine Religion, alle sind in politischer Beziehung eines Standes;
Bildung und Reichtum allein bringen die Unterschiede hervor.
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Fr. Palm: Fr. Kraner. Eine Auswahl aus seinen Schnlreden. 607
Und auch Schweden bietet viel Vorzüge vor anderen Staaten. Das
Leben ist hier bunter, mannigfaltiger, als in Norwegen; der Adel ist noch
immer reich, er ist vertreten in einer Adelskammer; die Geistlichkeit ist'
aristokratisch gegliedert unter einem Erzbischof und 11 Bischöfen; Bür-
ger und Bauer und Geistliche sind in dem Reichstage gesondert vertreten,
so dasz derselbe aus 4 Abteilungen besteht. Beide Länder haben nur ein
kleines, stehendes Heer; die Hauptmasse wird in Kriegszeiten aus der In-
delta (eingeteilten) Miliz genommen, die von Carl XI in passendster Weise
eingerichtet ist. Kurz, man darf wol behaupten, dasz der Staat hier den
Unterthanen in seinem Kampfe mit der Natur aufs beste unterstützt.
Berlin. Ä. Foss.
Ü9.
Friedrich Kr an er. Eine Auswahl aus seinen Schulreden
nebst Nachrichten über sein Leben und Wirken herausge-
geben von Friedrich Palm. Mit Porträt Leipzig 1864.
Verlag von Bernhard Tauchnitz.
Als im Januar vorigen Jahres der Rector der Thomasschule zu Leip-
zig , Friedrich Kraner , plötzlich starb , wurde unter seinen ehemaligen
Meiszner Schülern der Gedanke angeregt, dem Frühvollendeten ein Denk-
mal zu setzen. Dieser Wunsch ist, wenn auch in anderer Weise, in Er-
füllung gegangen. Es wrar kaum ein Jahr nach Kraner's Tode verflossen,
als das vorgenannte Buch erschien , das beste Denkmal, was dem Geschie-
denen gesetzt werden konnte. Dasselbe zerfällt, wie schon der Titel be-
sagt, in zwei Teile, die Lebensnachrichten und die Reden. Wäre es auch
selbst für den Fernerstehenden möglich gewesen , sich lediglich nach den
letzleren ein Bild von Kraner's Persönlichkeit zu entwerfen , da sich der-
selbe, um mit Palm S. 103 zu reden, in ihnen am treuesten und wahrsten
selbst gezeichnet hat, so werden es doch Alle dem Herausgeber Dank
wisssen, dasz er die Mühe nicht gescheut hat, ezu zeigen, wie Kraner
das geworden , als was er sich in seinen Reden darstellt ', und zu diesem
Zwecke die ausführlichen Lebensnachrichten zusammenzustellen. Sie um-
fassen 103 Seiten und zerfallen in fünf Abschnitte. Der erste handelt von
Kraner's Elternhaus, Schul- und Universitätszeit (1812 — 1835), der zweite
von seiner Wirksamkeit in Annaberg (1835 — 1838); der dritte von der
in Meiszen (1838 — 1857), der vierte schildert ihn als Director in Zwickau
(1857 — 1862), der fünfte als Rector in Leipzig (1862—63). Der Heraus-
geber, seit der Universitätszeit mit Kraner auf das Innigste befreundet,
hat bei der Abfassung der Lebensbeschreibung , wie er selbst S. 17 sagt,
hauptsächlich den Briefwechsel benutzt, in welchem er seit 1835 mit seinem
Freunde ununterbrochen gestanden hat, und, da er dies mit groszer Ge-
wandheit gethan, dem Leser den Genusz bereitet, Kraner selbst reden zu
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608 Fr. Palm: Fr. Kraner. Eine Auswahl aus seinen Schulreden.
hören und gewissermaszen mit ihm wieder in persönliche Berührung zu
treten. Unterstützt wurde er dabei in anerkennenswerter Weise durch
die Mitteilungen, welche ihm andere Freunde des Verstorbenen machten;
ich erwähne namentlich G. Meutzner in Plauen, dem wir die Schilderung
des Elternhauses und der ersten Studienjahre zu danken haben. Auch die
früheren Collegen Kraner's (für Meiszen besonders Professor Milberg, ftr
Zwickau Prof. Schmidt) haben reichlich beigesteuert, und ebenso baten
ehemalige Schüler aus ihrer Erinnerung eine Charakteristik von ihrem
geliebten Lehrer zu geben versucht. So ist es denn dem Verf. gelungen,
ein vollständig treues Bild seines Freundes zu geben , und man empfingt
bei dem Lesen des Buches den vollen ungetrübten Eindruck von dessen
ganzer, liebenswürdiger Persönlichkeit , wie ihn eben die Biographie ver-
mitteln soll. Das Büchlein ist den Freunden und Schülern Kraner's ge-
widmet. Ich , der ich zu den letzteren gehöre , aber mich auch zu den
ersteren rechnen darf, glaube daher im Sinne Aller zu handeln, wenn ich
hier dem Herausgeber den aufrichtigsten Dank für den Genusz ausspreche,
welchen er durch dasselbe Allen bereitet hat und bereiten wird , welche
dem Verstorbenen in der einen oder anderen Beziehung nahe gestanden
haben. Erfüllt sonach das Buch vollständig seinen nächsten Zweck, so
erhält es für den Schulmann noch einen besondern Werth dadurch, dasz
es zugleich eine Geschichte des sächsischen Gymnasialwesens während
der letzten dreiszig Jahre enthält ; ich erinnere beispielsweise an das, was
S. 17 IT. über die Verwandlung der lateinischen Schulen und Gymnasien
und ihren Uebergang an den Staat , S. 55 ff. über die Entstehung des Re-
gulativs für die Gelehrtenschulen uud die Beformbestrebungen , S. 68 ff.
über die Abiturientenexamina, S. 78 ff. über das Gymnasium zu Zwickau
gesagt ist. Lieszen sich nun auch Andeutungen hierüber bei der Lebens-
beschreibung eines Schulmanns, der an allem, was die Gymnasien betraf,
den regsten Anteil nahm, nicht umgehen, so verdient es doch auch aner-
kannt zu werden, dasz der Herausgeber sich nicht auf das Notwendige
beschränkt, sondern sich über viele Punkte ausführlicher verbreitet und
seine Studien auf diesem Gebiete in das Buch hineingearbeitet hat. Zu
bedauern ist nur , dasz der Verfasser die Beformbestrebungen , die bei
vielen Verirrungen doch auch vieles Gute gehabt haben, nicht so ein-
gehend behandelt hat, als es im Interesse der Sache wünschenswert}] und
gerade ihm, der an denselben einen so hervorragenden Anteil genommen
hat , möglich gewesen wäre. Das Buch wird in dieser Hinsicht für Stu-
dierende der Philologie und angehende Lehrer eben so anregend als bil-
dend sein und ersetzt wenigstens für die Zeit seit 1835 den Hangel einer
sächsischen Schulgeschichte, die sich freilich leichter wünschen als
schreiben läszt. Aber auch abgesehen von diesem speciellen Nutzen kön-
nen alle, welche die Lebensnachrichten lesen, daraus lernen, wie auf-
richtiges Gottvertrauen und redliches Streben im Stande sind, alle äusze-
ren Schwierigkeiten zu überwinden und ein sicheres Lebensglück zu be-
gründen, und mancher, der sich in ähnlicher Lage befindet, wie Kraner
in seiner Jugend, wird sich durch sein Beispiel gehoben und gestärkt
fühlen.
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Fr. Palm : Fr. Kraner. Eine Auswahl aus seinen Schulreden. 609
Auf die Lebensnachrichten folgen neun Schulreden. Die erste (Wie
feiert die Schule den Geburtstag des Königs zu wahrhaft sittlicher Erhe-
bung ihrer Zöglinge?) ist von Kraner noch in Meiszen am Geburtstag des
Königs , die folgenden sechs sind von ihm als Director in Zwickau , die
letzten zwei in lateinischer Sprache in Leipzig gehalten. Die erste Stelle
nehmen darunter jedenfalls die beiden Antrittsreden ein , von denen die
erste über das Wesen der Gymnasialbildung, die zweite de disciplinae
severitate handelt, und von denen namentlich die letztere in einer kräf-
tigen und körnigen Sprache eine Fülle pädagogischer Wahrheiten enthält,
die gerade in unserer Zeit nicht genug beherzigt werden können. Da-
gegen zeigen die Reden , welche von Kraner in Zwickau bei Entlassung
der Abiturienten gehalten wurden (es sind deren fünf), welche hohe Auf-
fassung er von dem wissenschaftlichen Berufe hatte und welche Forde-
rungen er demgemäsz an studierende Jünglinge stellen zu müssen glaubte.
Die letzte Rede endlich ist bei der in der Thomasschule üblichen Sylvester-
feier gehalten. Als Anhang sind noch eine Rede bei der Säcularfeier von
Scliiller's Geburtstag in Zwickau und ein humoristischer Vortrag bei dem
Stiftungsfest, der naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis in Meiszen
beigegeben. Ersieht der Leser aus der erstem , welch tiefes und inniges
Verständnis Kraner für Poesie besasz und wie er auch auf dem Gebiete
der schönen Wissenschaften zu Hause war, so wird er durch den zweiten
eine Seite seines Wesens kennen lernen , die in den Schulreden natürlich
nicht hervortreten konnte, aber im persönlichen Verkehr mit ihm oft ge-
nug sich geltend machte und ihm auch als Erzieher manche Erfolge ver-
schaffte.
Zum Schlusz kann ich nicht unerwähnt lassen, dasz der Verleger
das Buch nicht nur mit bekannter Liberalität ausgestattet, sondern sich
auch durch die Zugabe von Kraner's gelungener Lithographie alle Freunde
desselben zu besonderem Danke verpflichtet hat
Budissin. Carl Schubart
Anm. Ich benutze diese Gelegenheit, um, soweit als meine Er-
innerung zurückreicht, d. h. bis zum Jahre 1843, eine Zusammenstel-
lung der in Sachsen gedruckten Schulreden zu geben. Nicht berück-
sichtigt habe ich dabei alle Vorträge religiösen Inhalts, Grabreden
und solche , welche an kirchlichen Gedenktagen in Gymnasien gehalten
worden sind; eben so habe ich die sogenannten Sylvesterreden Stall-
baum's, welche derselbe fast jährlich durch den Druck veröffentlicht
hat, nicht besonders aufgeführt. Sollte ich bei dieser Uebersicht eine
oder die andere Beda übersehen haben , so bitte ich dafür um Ent-
schuldigung.
Durch Programme sind folgende Reden veröffentlicht worden:
Tres orationes scholasticae (von dem Geh. Kirchen- u. Schulr. Schulze,
Weichert und Wunder). Grimma 1843.
Stallbaum: Das Griechische und Lateinische in unseren Gymnasien
und seine wissenschaftliche Bedeutung für die Gegenwart. Leip-
zig 1846.
Hoffmann: Quid istud sit, quod nunc vulgo postulatur, gymnasiorum
institutionem ad temporum rationes accommodare. Budissin 1847.
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610 Conrad Schwenck.
Dr. Meissner, Geh. Kirchen- und Schulrath: Rede bei der Einführung
des Rector Palm und dessen Antrittsrede. Plauen 1851.
— « — Rede bei der Einführung des Director Rieck und dessen Antritts-
rede. Zwickau 1861.
Palm : Rede bei dem Antritt des Rectorats in Budissin und Begrüszungs-
rede des Conrector Jahne. Budissin 1862.
Scheibe: oratio de commodis quibusdam pubücae et communis educa-
tionis. Dresden 1862.
Eckstein: Antrittsrede. Leipzig 1864.
Besonders erschienen sind :
Baumgarten-Crusius: Rede bei der 800jährigen Jubelfeier der k. Lan-
desschule eu Meiszen. 1843.
Wunder: Schulrede am Stiftungsfeste der k. Landesschule Grimma.
1845.
Dr. A. Schäfer: Jugenderziehung und Volksbildung. Dresden 1845.
Wunder: Jubelrede bei dem 300jährigen Stiftungsfest der k. Landes-
schule Grimma 1850 (über die heilsame Wirkung der wesentlichen
Eigentümlichkeiten der Landesschulen auf die Bildung und Erzie-
hung der Jugend) bei Lorenz, Bericht usw. Beilagen S. 59 ff..
Dr. Gilbert, Geh. Kirchen- und Schulrath: Die Aufgabe unserer Ge-
lehrtenschulen in der Gegenwart. Leipzig 1857.
Kämmel: Wodurch kann das Haus die Thätigkeit der Schule unter-
stützen? Zittau 1860.
Dr. Gilbert, Geh. Kirchen- und Schulrath und Prof. Dr. Dietsch: Zwei
Schulreden. Leipzig 1861.
Lipsius: Schulreden bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten. Mit
der Lebensbeschreibung des Verfassers. Leipzig 1862.
Die durch Verordnung vom 30 Oct. 1851 angeordnete Feier des könig-
lichen Geburtstages hat ebenfalls Veranlassung gegeben, die bei. dieser
Gelegenheit gehaltenen Festreden zu publicieren. Durch die Programme
haben dies gethan: Prölss, Freiberg 1858. Brause, Freiberg- 1859.
Hultgren (über Dante's Charakter), Leipzig 1861 (Nicolaischule) ; durch
die Jahrbücher : Dietsch (die Grundlagen der Gymnasialbildung), Bd. 72
S. 1 ff. Hultsch (die staatsmännische Wirksamkeit des Demosthenes\
Jahrg. 1863, 2. Abt. 4. Heft S. 149 ff. Wohlrab (was verstand Plato un-
ter den Worten: glücklich der Staat, in welchem die Könige Philoso-
phen sind?), Jahrg. 1864, 2. Abt. 8. Heft S. 411 ff. Besonders gedruckt
sind die Festreden von: Wagner (über königlichen Sinn), Dresden 1853.
Hempel , Leipzig 1854. Flathe (die Mark Meiszen), Leipzig 1857. Ge-
bauer (die Bedeutung des Lateinischen und Griechischen für das Gym-
nasium der Gegenwart), Leipzig 1860.
50.
Conrad Schwenck
war der Sohn des Johann Schwenck , eines Schuhmachers in Lieh an der
Wetter, einem Städtchen im Groszherzogtum Hessen. Er war geboren
am 21 October 1793. Die frühe sich entwickelnden reichen Geistesgaben
des Knaben und dessen eigner Wunsch bestimmten die Eltern, ihn durch
Privatlehrer für das Pädagogium (Gymnasium) in Gieszen vorbereiten zu
lassen, in dessen Prima er als fünfzehnjähriger Jüngling eintrat. Hier
war es, wo er den von seinem zweijährigen Aufenthalte zu Rom in seine
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Conrad Schwenck. 611
Stelle am Pädagogium zurückkehrenden F. G. Welcker im Namen der
Classe mit einer kurzen Anrede begrüszte. Lehrer und Schüler machten
bei dieser Gelegenheit einen gleich günstigen Eindruck auf einander , so
dasz Welcker darüber an einen Freund ungefähr so sich äuszert: fder
junge Schwenck sah mich dabei mit Augen an, die mich ahnen lieszen,
dasz er mir für das ganze Leben angehören .werde.' Und in der That
hatte sich Welcker in diesem ersten Eindruck nicht getäuscht, es be-
währte sich derselbe durch stets zunehmendes, niemals unterbroche-
nes Vertrauen, durch eine innige Freundschaft und durch eine ganz
besondere Zuneigung des anfänglichen Schülers zu den Studien und
Ansichten seines ursprünglichen Lehrers bei vollkommener Selbständig-
keit und Freiheit des Geistes. Ein ähnliches Verhältnis zwischen Schüler
und Lehrer möchte sich nicht allzuoft finden. — In dieser Prima be-
freundete Schwenck sich namentlich mit August Follenius, genannt Adolf
Folien, mit dem jetzigen Professor Diez in Bonn und mit dem jetzt als
Baumeister in Frankfurt lebenden Rumpf. In einem Schulprogramm April
1810 liesz Prof. Welcker die metrische Uebersetzung eines Homerischen
Hymnus von dem 17jährigen Schwenck abdrucken.
Im Frühjahr 1810 bezog er die Universität zu Gieszen als Studiosus
der Theologie , ohne jedoch theologische Vorlesungen zu besuchen. Als
1812 das philologische Seminar errichtet wurde, trat er sofort mit Folle-
nius, Diez, Thudichum, dem jetzigen Oberstudienrath in Darmstadt, u. A.
m. in dasselbe ein. Die Lehrer waren Pfannkuche, Rumpf und Welcker.
BeiPfannkuche hörte er z. B. lateinische Grammatik, bei Rumpf Horazi-
sche Oden, bei Welcker unter anderem Pindar, griechische Dramen und
privatissime mit Folien und Diez Platon's Symposium. Welcker war für
die Genannten die Hauptperson ; sie hiengen mit wahrer Liebe an dem
edlen Manne, der bei seiner schon damals ausgebildeten Humanität das
Unfertige der Jugend zu tragen , zu lenken und den guten Kern zu ent-
decken wüste. Welcker's anregende Kraft wirkte begeisternd auf Schwenck
und alle Studierende , die mit ihm in nähere Beziehung kamen, und ohne
dessen freundliche und wahrhaft aufopfernde Leitung und Unterstützung
wäre damals das Studium der Humaniora in Gieszen eine Unmöglichkeit
gewesen. Schwenck stand vor seinen Studiengenossen diesem trefflichen
Manne am nächsten , der sogar etwas später mit ihm einen lateinischen
Briefwechsel führte, als er in seinem nahen Geburtsort studierend ver-
weilte. Schwenck's Collegienbesuch war nicht immer regelmäszig, zu
Hause aber studierte er sehr fleiszig, mehr dem Griechischen als dem
Lateinischen sich widmend. Daneben war er der deutschen Litteratur in
hohem Grade zugeneigt und interessierte sich besonders für Lessing,
Goethe und Jean Paul. Unter den Aelteren schätzte er Opitz und mehr
noch Flemming. Schon damals beschäftigte ihn deutsche Etymologie,
wobei ihm der alte Frisch behülflich war. Auch las er zu diesem Zwecke
fleiszig das Heldenbuch. Ueberdies liebte er Italiänisch zu lesen, z. B.
Pastor Fido, Petrarca, und auch hier war es Welcker's Vielseitigkeit,
welche diese Neigung in ihm geweckt hatte. Entzückt von A. W. Schle-
gel's Blumensträuszen entwarf er mit Diez den Plan, eine ähnliche Samm-
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612 Coarad Seh weit ck.
lung unter dem Titel 'Dichtungen aus dem Süden* herauszugeben, w
er Ueherselzungen aus der griechischen Anthologie lieferte; allein tht
Unternehmen scheiterte an der Schwierigkeil einen Verleger zu finden.
— Ein burschikoser Student war Schwenck nicht , doch interessierte er
sich für Studentensachen, gehörte einer Landsmannschaft an und hat sich
mehrmals geschlagen.
Nach seinem Abgänge von der Universität lebte Schwenck vom April
bis November 1813 als Hauslehrer in dem benachbarten Müntzenberg,
von wo er sich in seinen Geburtsort Lieh zurückbegab. Aus dieser Zeit
stammt seine mit Follenius zusammen unternommene Uebersetzung der
Homerischen Hymnen (Homerische Hymnen metrisch übersetzt von Aug.
Follenius und Konrad Schwenck 4. Gieszen 1814 Heyer's Verlag) , welche
er 1825 in 8. bei Brönner in Frankfurt a/M. verbessert, umgearbeitet und
mit Anmerkungen herausgab.
1815 liesz sich Schwenck zu einer Lehrstelle am Pädagogium zu
Gieszen examinieren , sah sich aber in seiner Hoffnung die Stelle zu er-
halten getäuscht, indem, wie man sagt, eine kleinliche Cabale ihn zu be-
seitigen wüste. Diese Zurücksetzung, dieser unverdiente Schlag seines
Schicksals wirkte auf den sehr originellen , aus Phantasie , tiefem Gefühl,
aus Witz , Humor und Satire , zugleich aber aus einer zur Hypochondrie
geneigten Empfindsamkeit zusammengesetzten Charakter sehr nachteilig
und störend.
Im September 1815 begab er sich nach Utrecht , um daselbst eine
Hofmeisterstelle anzutreten , die er mit strenger Gewissenhaftigkeit ver-
waltete. Mit mehreren der dortigen Professoren, welche ihn hoch schätz-
ten , war er befreundet. Seine Stimmung aber war damals oft sehr trüb
und hypochondrisch , eine Nachwirkung der kurz zuvor in Gieszen ge-
machten Erfahrung. Gegen Ende des Sommers 1818 gab er [diese Stelle
auf und kehrte nach Lieh zurück. Auf Grund seiner Schriften erwarb er
sich jetzt in Gieszen den philosophischen Doctortitel. Schon zu Ende
October desselben Jahres erhielt er von dem Vater seiner holländischen
Zöglinge eine dringende Einladung, unter sehr annehmlichen Bedingungen
in sein altes Verhältnis wieder einzutreten. Er entschlosz sich dazu ohne
langes Bedenken, gewis mit Rücksicht auf einenjüngeren Bruder, den er
freigebig unterstützte. Am 6 November 1818 trat er mit seinem Freunde
Diez , mit welchem er wie mit Welcker bis zu seinem Ende in freund-
schaftlichem und litterarischem Verkehr gestanden hat, eine Fuszreise
nach Heidelberg an , wobei ihm viel darauf ankam , den von ihm hochge-
schätzten alten Vosz kennen zu lernen , was ihm auch gelang ; aber er
scheint weder mit dem Vater noch dem Sohne Heinrich in näheren Ver-
kehr getreten zu sein.
Am 27 Januar 1819 reiste er zur Wiederübernahme seiner früheren
Stelle nach Utrecht ab und verwaltete sie wiederum mit derselben Ge-
wissenhaftigkeit. Im Jahre 1821 begab er sich mit seinem älteren Zög-
ling nach Bonn, um daselbst dessen Universitätsstudien zu leiten. Hier
halte man in ihm die Hoffnung erregt, dasz er eine Stelle am Gymnasium
erhalten würde , aber diese Hoffnung und Aussicht auf eine angemessene
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L L*4fc..
Conrad Schwenck. 613
Wirksamkeit scheiterte durch Ereignisse, welche wir gleich berühren
wollen. Auch hätte es leicht geschehen können, dasz Schwenck ein
Mitglied der Bonner Universität geworden wäre, denn der dermalige Cu-
rator, Graf von Laubach, erklärte sich bereit, ihn zum Extraordinarius
vorzuschlagen , was aber Schwenck ablehnte.
Im Spätsommer 1822 löste sich sein pädagogisches Verhältnis, als
sein Zögling nach Utrecht zurüokkehrte.
In dieser Zeit machte sich die in Folge der Garlsbader Beschlüsse in
der Centraluntersuchungscommission in Mainz (1819) verwirklichte poli-
tische Reaction auch in Bonn geltend, und man inquirierte hier gegen die
Professoren Arndt und beide Welcker. Weil die vertraute Verbindung
Schwenck's mit dem älteren Welcker bekannt war, so wurde der in Hol
land wie vorher in Deutschland allem demagogischen Treiben absolu
fremd gebliebene Schwenck vorgeladen , um über eine lächerliche Klei-
nigkeit Auskunft zu erteilen. Ueberrascht durch die Frechheit, dasz auf
solche Art der Schein eines Grundes zu untersuchen auf seinen Lehrer
und Freund geworfen werden sollte, mag er seine Antwort nicht mit
dem Respect bemessen haben, welchen in solcher Stellang auch die nied-
rigsten Werkzeuge fordern zu können glauben : kurz , Schwenck erhielt
Befehl die Stadt Bonn binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.
Im Juni 1825 liesz sich Schwenck in Frankfurt nieder , wo er sich
zunächst auszer seinen ausgedehnten Studien mit Privatunterricht be-
schäftigte. Bald hatte man hier die Bedeutung des Mannes erkannt und
man benützte die erste Gelegenheit ihn dauernd an Frankfurt zu fesseln.
Als nemlich der mit Schwenck befreundete Professor der Geschichte am
Gymnasium, Dr. Ed. Hufnagel, nach einer Krankheit, während welcher
Schwenck die Stelle des Freundes versehen halte, gestorben war, wurde
dieselbe am 12 April 1825 Schwenck übertragen. In dem Schulprogramme
berichtete er über sein Leben Folgendes:
Conradi Schwenckii Vita.
Natus sum Lichae die XXI Oct. 1793. patre Joanne, sutore, matre
Elisabetha. Puer quindecim annorum Gymnasio Gissensi traditus biennium
in schola illa, tunc triennium in Universitate litterarum, quae in eadem
urbe exstat, perduravi. Postea in Hollandiam profectus, instituendae lu-
ven tu ü per septem annos operam dedi. Historiarum Professor Francofurti
factus sum Senatus decreto de die XII April. 1825.
Schwenck's Name hatte schon damals in der Gelehrtenwelt einen so
guten Klang, dasz der damalige Director des Gymnasiums, Vömel, diese
Ernennung in demselben Programm mit folgenden Worten mitteilte: 'An
die erledigte Stelle wurde Hr. Dr. Schwenck ernannt, welcher als Mensch,
Gelehrter und Schulmann im In- und Auslande auf das Vorteilhafteste
und Entschiedenste zu allgemein anerkannt ist, als dasz ich zu seiner
vorstehenden Lebensbeschreibung etwas zuzusetzen hätte.9 Nachdem er
diese Stelle 2% Jahr zur vollsten Zufriedenheit seiner Behörde bekleidet
hatte, erwirkte er sich einen Urlaub zu einer Reise nach Italien. Diese
trat er im November 1827 an mit seinem Jugendfreunde, dem jetzigen
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614 Conrad Schwenck.
Baumeister Rumpf in Frankfurt a. M. und dehnte sie aus bis nach Neapel
und Umgegend. Wirkte diese Reise schon an und für sich vorteilhaft auf
Geist und Körper Schwenk's ein, so hatte er in Rom noch die besondere
Freude mit August von Platen bekannt zu werden , mit welchem er viel
verkehrte. Für den leider zu frühe (5 Decbr. 1835) verstorben«! Dichter
hegte er immer die gröste Verehrung und schätzte ihn ungemein hoch.
Im Herbst 1829 wurde Seh. eine seiner Richtung und seinen Studien
angemessenere und angenehmere Stellung zu Teil, indem er an die Stelle
des als Director und Professor an die Gelehrtenschule nach Bremen be-
rufenen Prorectors und Prof. Dr. Ernst Wilh. Weber zum Prorector und
ordentlichen Glassenlehrer ernannt wurde. Jetzt hatte er noch mehr Ge-
legenheit die reichen Schätze seines Geistes und Wissens für die Schüler
der drei obersten Classen nutzbar zu machen. Auch war er jetzt peeo-
niär weit besser gestellt , so dasz er daran denken konnte , sich seinen
eignen Herd zu gründen. 1831 vermählte er sich mit Fräulein Louise
Therese von Stracka, mit welcher er eine äuszerst glückliche, durch
seinen Tod allzufrüh unterbrochene Ehe führte.
Am 27 Novbr. 1838 wurde er zu der Stelle des emeritierten Con-
rectors und Professors Daniel Schaeffer befördert, und am 21 April 1&4
fand 'unser berühmter Gonrector', wie sich Rector Vömel im Frankfurter
Programm der Wahrheit gemäsz ausdrückt , die verdiente Auszeichnung
und Anerkennung, zum correspondierenden Mitglied des Instituto Archeo-
logico in Rom ernannt zu werden. Am 8 März 1853 wurde er mit Bei-
behaltung seines Titels , Ranges und ganzen Gebaltes unter Anerkennung
seiner langjährigen Leistungen in den Ruhestand versetzt.
Die letzten Jahre seines Lebens brachte er abwechselnd in Frankfurt
a. M., abwechselnd in Bisenz in Mähren bei seiner dort an Hrn. Karelier
verheiratheten Tochter zu. Ungeahndet von Allen raffte ihn nach einer
kurzen aber schmerzhaften Krankheit der Tod am 14 Febr. 1864 im 71c
Jahre seines Lebens hinweg. Einen Trost hatte er in seiner Scheide-
stunde, dasz er seine ganze Familie um sich versammelt sah, denn seine
ältere Tochler war mehrere Wochen vorher zum Besuche nach Frankfurt
gekommen , und ihr Gemahl traf noch frühe genug ein , um die letzten
Tage bei seinem geliebten Schwiegervater zuzubringen. Schwenck hin-
terläszt auszer der trauernden Gemahlin und der verheiratheten Tochter
einen Sohn Fritz, welcher Dr. med. und praktischer Arzt in Frankfurt
ist, und eine jüngere Tochter Auguste. fBei seiner Bestattung, welche
am 17 Febr. unter Beteiligung vieler Freunde, so wie des Lehrercollegiums
des Gymnasiums stattfand, gab Prof. Eberz, nach der trefflichen Gedächt-
nisrede des Hrn. Consislorialrath Dr. Kirchner, durch die lebendige Schil-
derung der ausgezeichneten Persönlichkeit und der groszen Verdienste
des Verstorbenen den dankbaren Empfindungen seiner zahlreichen Schü-
ler warmen Ausdruck.9 (Progr. Fft. 1864.)
Schwenck war ein edler Mann von seltner Herzensgute , welche die
ihm näher Stehenden leicht erkannten, welche aber den Ferneren durch
seinen sprudelnden Witz und Humor und seine nicht selten beiszende
Satire oft entgieng. Er war ein treuer Freund, ein trefflicher Familien-
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Conrad Schwenck. 615
vater und ein ungemein anregender Lehrer, welcher die reichen Gaben
seines Geistes und Wissens seinen Schülern widmete. Ein so gründlicher
und hervorragender Philologe er war, und sa sehr er immer, selbst noch
bis zu seinen letzten Tagen, auf dem Gebiete seiner Wissenschaft rüstig
fortarbeitete und forschte , so übertrug er doch diese specielle Richtung
nicht in seinen Unterricht. Er bedachte alle seine Schüler gleichmäszig,
und gleichmäszig waren alle für seinen Unterricht begeistert, welchem
gelehrten Berufe sie sich auch widmen wollten. Ihm war das Gymnasium
nicht eine blosze Vorbereitungsschule für künftige Philologen. Als Ge-
lehrter hat er sich bewährt durch einen weiten Kreis von schriftstelleri-
schen Arbeiten , unter denen mehrere von seltener und epochemachender
Vortrefflichkeit sich befinden. Ein besonderes Talent hatte er für Etymo-
logie, Mythologie, für ästhetische Beurteilung und für metrische Ueber-
setzungen, in welchen er seine poetische Begabung deutlich bekundete.
So geachtet und geschätzt auch bei Vielen der litterarische Name Seh wenck's
ist, so ist doch, wie sich einer seiner Freunde in einem Briefe an den
Berichterstatter ausdrückt, nicht zu bezweiflen, 'dasz er im Ganzen weit
höher stehen würde, wenn er zu den Schulhäuptern und ihrer Aristokra-
tie im Verhältnis gestanden hätte.5 Man könnte besser sagen : wenn er
sich in Verhältnis zu ihnen hätte setzen können. Denn 'Schwenck war'
wie sich ein anderer seiner Freunde ausdrückt 'schon sehr frühe zur
Selbständigkeit bis zur äuszersten Grenze augelangt. Das Gefühl seiner
Ueberlegenheit war ihm oft hinderlich auf seinem Wege. Es hinderte ihn
auch, gewissermaszen zünftig zu werden , denn dazu darf man nicht vor-
zugsweise seine eignen Wege gehen/
Von Schwenck's Schriften erwähnen wir auszer der oben genannten
Uebersetzung der homerischen Hymnen:
Aeschyli Septem contra Thebas cum scholiis notisque edidit C. Schwenck.
Traiecti ad Rhenum (Lps. Weigel) 1818.
— Choephori ibid. (prostant Ups. apud F. Fleischer) 1819.
" — Eumenides. Bonnae apud Marcus 1821.
Etymologisches Wörterbuch der lat. Sprache mit Vergleichung der grie-
chischen und deutschen. Frankfurt a. M. 1827. Brönner.
Beitrag zur Wortforschung der latein. Sprache. Frankfurt a. M. 1833.
Sauerländer.
Zweiter Beitrag zur Wortforschung der lat. Sprache, ibid. 1835.
Etymologisch-mythologische Andeutungen mit einem Anhang von F. G.
Welcker. Bonn 1823.
Mythologische Skizzen. Frankfurt a. M. 1836. Sauerländer.
Die Mythologie der Asiatischen Völker , derAegypter, Griechen, Römer,
Germanen und Slaven, herausgeg. von Conrad Schwenck. Frank-
furt a. M. Sauerländer 1843 u. ff. 1. Bd. Griechen, 2. Römer, 3.
Aegypter, 4. Semiten, 5. Perser, 6. Germanen, 7. (mit General-
register) Slaven.
Die Sinnbilder der alten Völker. Erklärt von C. S. Frankfurt a. M.
Sauerländer 1851.
Kallimachus Hymnen übersetzt von C. Schwenck. Nebst Anhang, We -
ber 1821.
— Werke. Hymnen und Epigramme übersetzt von C. Schwenck. Stutt-
gart 1833. Metzlersche Buchhandlung.
Das zehnte Buch der Odyssee metrisch übersetzt. Bonn 1822. Weber.
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616 Supfle: Aufgaben zu lat Stilübungen.
Das fünfte Buch der Odyssee. Frankfurt a. M. 1826, Bronner.
Das siebente Buch der Odyssee. Programm Gymnas. Francf. 1834.
Ostern.
Das zweite Buch der Odyssee. Progr. Gymn. Francf. 1835. Herbst.
Das eilfte Buch der Odyssee. Progr. Gymn. Francf. 1841. Ostern.
Metrische Uebersetzung des Catullus (Anhang: das sechste Bach der
Odyssee). Frankfurt a. M. 1829, Sanerländer.
Die sieben Tragödien des Sophokles. Erklärungen. Frankfurt a. M.
1846. (üeher die Antigone auch Progr. Fft. Ostern 1842. Philok-
tetes Herbst 1844).
Goethe' 8 Werke. Erklärungen. Frankfurt a. M. 1845, Sanerländer.
Schillers Werke. Erklärungen. Frankf. a. M. 1861, SauerL
Litterarische Charakteristiken und Kritiken. Frankf. a.. M. 1847, Sauerl.
(Sammlung von Aufsätzen, welche in den Jahren 1823—45 in ver-
schiedenen Zeitschriften erschienen waren.)
Wörterbuch der deutschen Sprache in Beziehung auf Abstammung und
Begriffsbildung. Frankf. a. M. 1834, Sauerl.
Zweite Ausgabe 1836; dritte vielfach verbesserte und vermehrte Aus-
gabe 1838; vierte Ausgabe 1856.
Auszer den angegebenen Schriften hat Schwenck zahlreiche gröszere
und kleinere Aufsätze in das rheinische Museum, in den Philologus, in
die Zeitschrift für die Altertums wissenschft, in Jahns Jahrbücher u. a.
Zeitschriften geliefert.
Ein sehr interessanter Aufsatz über Cicero ist gedruckt in der
3n Ausgabe des Staatslexicons, 3r Teil S. 566 — 572.
Frankfurt a. M. Anton Eben.
51.
Aufgaben zu lateinischen Stilübungen von Karl Süpfle^ gros*-
herzoglich Badischem Hofralh. Erster Teil: Aufgaben für
untere und mittlere Classen. (Mit besonderer Berücksichti-
gung von Krebs' Anleitung zum Lateinschreiben undZumpts,
Schulto's und Feldbausch' s latein. Grammatiken und mit An-
merkungenversehen.) 13. Auflage. Karlsruhe 1862. Groos.
XVI u. 303 S.
Nach dem Vorwort zu dieser neuen Ausgabe hat der Hr. Verf. mit
derselben keine wesentliche Veränderung vorgenommen 9 ' mit Ausnahme
der wahrgenommenen Druckfehler und einiger Redactions Verbesserungen.7
— Auch enthält das Vorwort einzelne Nachverbesserungen, die der Verf.
vor dem Gebrauche des Buches zu berücksichtigen bittet. Zunächst mö-
gen diese hier ihre Stelle finden, vor einer Besprechung des Anderweiti-
gen. — In Nr. 19 Argus. In der Anm. 1 Fabeldichter, fabularum scriptor
und fabulator werden a. a. 0. emendiert durch fabularum auctor als ci-
ceronisch; da auch 98, 1 bereits dieser Ausdruck gebraucht worden ist
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Süpfle: Aufgaben zu lat. Stilübungen. 617
Allerdings bezeichnet Tabulator ausschlieszlich einen Fabeldichter nur bei
Gellius , während bei fabularum scriptor weniger Austosz zu nehmen ist.
— Nr. 46 , 1 Scythes , -ae für Scytha. (Vgl. cometes und sophistes Nr.
114, 1.) Cicero namentlich zieht diese Form vor. — Nr. 102. * Dadurch
(geschah es') nachzutragen ea re. Wäre aber nicht : quo facto (quo factum
est, ut) genauer? — Nr. 180, 14 auszer immemor wird oblitus für obli-
viscens empfohlen. Das Participium praesentis würde aber hier recht das
Momentane schildern , um anzuzeigen, dasz die Tochter selbst bei diesem
Anblicke gegen ihren entleibten Vater solche Abscheulichkeit verüben
konnte. — Nr. 195 Anm. 'Fürst von Benevent. ' Beneventinus. Hier musz
man freilich dergleichen Endungen proleptisch auffassen. — Nr. 216 fso-
wol durch die Jahre, als durch die Erfahrung belehrt9; für Jahre: aetas.
In der That können wir in Ausdrücken wie : in den besten Jahren stehen,
Jahr, nur durch aetas übersetzen: aetate florere, oder esse integrä aetate;
so selbst Nepos Miltiad. I 1 (quum) eäque esset aetate, da er in den Jah-
ren stand, wo in allen diesen Fällen aetas eine begrenzte Lebenszeit be-
zeichnet. — S. 137 Anm. Z. 4 (über die unbestimmte Person Man) für:
quae optamus , credimus wird jetzt : Caesar de b. gall. 2 , 27 citiert und
empfohlen: quae volumus, credimus libenter, was aber keinen wesentlich
veränderten Ausdruck gewährt. Ebd. nach finge noch beizusetzen: fac, man
setze den Fall (Z. 7 v. u.). — Nr. 314 * festhaltend an ' retinens mit dem
Genitiv (wobei die Grammatik wegen des hier notwendigen Genitivs und
nicht des Accusativs zu eitleren wäre, bei Z. § 438, der auch retinens
mit aufführt.) — Nr. 355 am Schlüsse, enoch in derselben Nacht ' ist die
Note nachzutragen: ea ipsa nox. Nemlich um das volle und gerade Masz
zu bezeichnen. (Hiebei wäre zu citieren : Z. § 695.) — Nr. 397 Z. 2. *Und
sah , wie Jedermann' — ist für f wie* Acc. c. Inf. zu bemerken. Die Stelle
lautet: rund sah, wie Jedermann an der Dämpfung des Feuers arbeitete.'
Nicht leicht dürfte ein einigermaszen eingeübter Schüler hier die erwähnte
Construction, abgesehen von der Emendation , verfehlen und vielmehr an
das verbum sentiendi denken. — Die Uebersetzungsaufgaben werden übri-
gens, ihres auserlesenen und interessanten Inhalts wegen, gewis ferner-
hin im Gebrauch verbleiben; zumal sie nicht leicht in andern, ähnlichen
Büchern , in solchem bündigem Zusammenhang auf die syntaktischen Re-
geln Bezug nehmen. Besonders findet man in der ersten Abteilung eine
annehmliche Mannigfaltigkeit an ausgewählten mythologisch historischen
und litterarischen Aufgaben. Doch wären hier auch einige grammatische
Citate nicht ganz überflüssig gewesen, z. B. Nr. 10 die Sonne, die Len-
kerin,— Beherscherin, oder die Frage: Warum nicht durch das Femi-
ninum zu übersetzen? — Nr. 12 (Tantalus) pflegte was er gehört hatte,
zu verrathen. Anm. 3 Conjunctiv. warum? Vgl. Z. § 569. — Nr. 18 An-
denken an diese Begebenheit, res, objeetiver Genitiv, wobei eine der
namhaften Grammatiken zu citieren wäre. — Die zweite Abteilung nimmt
in den Citaten meistens auf Krebs Rücksicht, aber auch zugleich auf
Zumpt, Schulz und Feldbausch. Die aus der römischen Geschichte ent-
nommenen Aufgaben sind dem wesentlichen Inhalt nach zwar viel früher
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. Hft. 12. 43
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618 Niemeyer: Deutsche Grammatik.
von Döring aufgenommen worden, aber die Sprache in uuserm Lehrbache
ist moderner, gewählter, und die Stellen sind nicht zu wörtlich und der
Reihe nach aus den Ciassikern entlehnt. Auch die Abwechslung der hi-
storischen Aufgaben mit moralischen, philosophischen, mit Briefen usw.
ist gut zur Vermeidung des einseitigen Stoffes: eben so der Uebergang
von der römischen zur griechischen Geschichte und umgekehrt. Die vom
Verfasser zum Teil erweiterten grammatischen Erläuterungen sind beson-
ders zu beachten: so über das bereits oben besprochene unbestimmte
Pronomen Man S. 137. Allerdings ist hier die lateinische Sprache reich-
licher in ihren Ausdrücken, als die deutsche. — Von den Zeilen der Ver-
ben (S. 141). Hier ist auch die Gelegenheit gegeben, den Infin. historicus
anzuwenden. Einige Hinweisungen auf die Syntaxis ornata wären von-
nöten gewesen; so z. B. S. 149 bei Grede mihi usw. auf Zumpt usw. jj
101 f. — S. 152 Consecutio temporum. S. 153 heiszt es: Auszer dem
Praesens kann im Briefstil auch das Perfectum stehen. Nach Z. $ 503
musz es heiszen : Imperfectum und Perfectum, je nachdem die dermalige
Dauer, oder das Ende der Handlung ausgedrückt werden soU. — Dritte
Abteilung. Freie Aufgaben für die Vorgerückten. Hier wären Hinwei-
sungen auf eine der Grammatik sich anschliessende rhetorische Schrift
mit Bezugnahme auf Synonymen, wie etwa auf die lateinische Stilistik
von Berger nicht unersprieszlich. Die Aufgaben, enthallend Alexanders
des Groszen Leben und Cicero's, sind interessant. Die Anmerkungen sind
rein classisch, zumal die Latinität, da wo Stellen aus späteren Autoren
entnommen sind, in eine classischere umgewandelt worden ist, wie die-
ses auch vom Verf. im zweiten Teil der Aufgaben für obere Classen ge-
schehen ist , bei der aus späteren Autoren entnommenen Beispielen. —
Vielleicht könnte das Register, das nur ein Index ist, in ein kleines Wör-
terbuch umgestaltet werden, wie dieses z. B. in der 'Praktischen Anlei-
tung zum Uebersetzen aus dem Deutschen ins Lateinische9 von Dr. August
der Fall ist. Jedenfalls hat das Uebungsbucb auch durch die neuen Ver-
besserungen gewonnen.
Mühlhausen in Thüringen. Dr. Mühlberg.
Deutsche Schulgrammatik. Ein Leitfaden für höhere Schu
len von Dr. E. Niemeyer, Rector der Neust Realschule tn
' Dresden. IL Teil: Deutsche Wortbildung und Syntax.
Dresden, Verlag von L. EU ermann. 7% Ngr.
Mit diesem zweiten Teile der deutschen Grammatik ist das ganze
Werkchen, dessen dritter Teil, 'die Satzlehre', zuerst erschien, glücklich
vollendet und damit ein Ueberblick über das Ganze ermöglicht, der seinem
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, Niemeyer: Deutsche Grammatik. 619
sachlichen Gehalte nach in diesem Teile durch ein vollständiges Inhalts-
verzeichnis über alle drei Werkchen erleichtert wird. Auch der vorlie-
gende Teil , basierend auf durchaus historisch wissenschaftlicher Auffas-
sung des Hochdeutschen unserer Tage behält doch überall nur das prak-
tische Bedürfnis der Schule im Auge und gibt eine gediegene Grundlage,
welche dem Lehrer eine treffliche methodisch geordnete Stütze gewährt,
ihm in zweifelhaften Fällen einen sicheren Anhalt darbietet, und auf wel-
cher der angeregte Schüler erfolgreich weiter bauen kann. Wie schon
in einer Recension des I. und III. Teils in diesen Blättern bemerkt , ver-
langt auch dieser Teil einen e denkenden ' Lehrer von tüchtiger Vertraut-
heit mit seinem Stoffe und hingebender Liebe zu ihm, da auch hier häu-
fige Bemerkungen, nur für den Lehrer bestimmt, vorkommen, die zum
Nachdenken wie zum Weiterstudieren auffordern (ein gutes Lehrbuch
für Schüler wird aber immer bei aller methodisch geforderten Auswahl
und Besonderheit dem Lehrer, dem es Ernst mit seiner Sache ist, eine
breitere Grundlage seines Wirkens abgeben). — Dieser zweite Teil zer-
fällt gleich dem erstem in zwei Abschnitte , wie der Titel sagt in *Wort-
bildungslehre' und e Syntax', und mit pädagogischer Sorgfalt ist überall
das praktische Bedürfnis der Schülerwelt höherer Anstalten ins Auge ge-
faszt und ^prunkende Gelehrsamkeit' fern gehalten. In der Wortbildungs-
lehre ist 'der überreiche Stoff auf eine übersichtliche Auswahl Grund legen-
der Behandlung zurückgeführt und alle gewagte Deutung' ausgeschlossen ;
im Groszen und Ganzen ist das 'grammatische Originalwerk J. Grimm's nach
dem Vorgange Kehrein's bei der Wortbildungslehre wie bei der Syntax zu
Grunde gelegt, aber natürlich überall mit dem ausgesprochenen Grundsatze
praktischer Beschränkung.' So beschränkt sich z.B. bei den consonantischen
Ableitungen in der äuszeren Wortbildung der Hr. Vf. *wegen der Undeut-
lichkeit der meisten Bildungstriebe auf eine Auswahl derjenigen Formeln,
deren Bedeutung mehr gefühlt werden kann und die deshalb die Möglich-
keit fortgesetzter Wortschöpfung an die Hand geben.' — Die Syntax be-
handelt * den Gebrauch der Wortarten im Satze', und wird dadurch von
der eigentlichen Satzlehre, die den III. Teil der ganzen Grammatik bildet,
gesondert; denn letztere behandelt den Begriff und die Arten der Sätze
und ihrer Verbindung vom einfachen Satze bis zur Periode. Die Satzlehre
zerlegt sich naturgemäsz in zwei Hauptabschnitte, von denen der eine
das *Verbum im Satze (Genus, Modus usw.)% der zweite *das Nomen im
Satze (Nominalellipsen, Genus usw., Rectionslehre, Absolute Casus usw.)'
enthält. Auch hier überall Klarheit und Durchsichtigkeit der Anordnung,
und neben aller praktischen Knappheit des Schulbedarfs doch Vollstän-
digkeit für den Schulbedarf und in den mannigfaltigen Anmerkungen
reichlicheres Material und zahlreiche Winke für den Lehrer. Wir heben
auch hier nur ein Capitel heraus, wie es uns gerade unter die Hand
kommt, das Capitel von den Pronomen. Neben dem jetzigen Gebrauche
des Plurals für den Singular in der Anrede, der majestätischen Plural-
form, der Titel usw. werden auch kurz interessante Mitteilungen über
die Anredeform früherer Zeiten gegeben (§ 10); also auch hier /die Ge-
schichte der Sprache in angemessener Weise mit angezogen. — Entspre-
4%*tizedbyG00<;
620 Paldamus : Deutsches Lesebuch.
chend dem Zwecke des Buches, das für f höhere Lehranstalten' bestimmt
ist , sind bisweilen Mindeutungen auf die lateinische Grammatik mit ein-
gemischt ; so heiszt es bei dem possessiven Genitiv, den Grimm mit unter
den prädicativen faszt , dasz die 'lateinische Grammatik den Genitiv
des Besitzes von dem der Beschaffenheit unterscheidet' (§ 15). Wer da
weisz, wie das Studium anderer Sprachen und namentlich der lateinischen,
die klarere Auffassung der Muttersprache und ihrer grammatischen For-
men erleichtert, wird nicht gegen solche Hindeutungen sein. — Wie ent-
fernt der Verfasser von dem oft unbequemen Streben mancher neuerer
Grammatiker ist, alte erprobte Regeln oder praktische Handgriffe zwar
anzuerkennen , aber doch in einer neuen , nur anderen Form wiederzu-
geben und damit dem Lehrer in kleinen Dingen oft unnötige Schwierig-
keiten oder mindestens Unbequemlichkeit zu bereiten, spricht unter an-
derem auch daraus, dasz er bei der Präpositionenrection die alten prak-
tischen Versregeln Heise' s als willkommene Zugabe gibt, also nicht, m
wir dies häufig (besonders bei neuen lateinischen Schulgrammatikern
finden , sich neue Verschen zu machen abmüht. — Nach alledem können
wir wol dem praktischen, nun vollständigen Werkchen denselben Wunsch
einer wolverdienten Aufnahme aussprechen , den wir schon für den I. u.
III. Teil hatten; es ist unsere aufrichtige Ueberzeugung, dasz es gute
Dienste leisten und nicht blosz den Unterricht im Deutschen an und für
sich heben, sondern auch Lust und Liebe dazu in der Schülerwelt zu er-
wecken im Stande sein wird.
Dresden. E. Petwtdt.
Dr. F. C. Paldamus , Director der höheren Bürgerschule tu
Frankfurt am Main: Deutsches Lesebuch. Mittlere Stufe.
Zweiter Cursus. Mit einer Uebersicht der Satzlehre. Mainz
1862, Verlag von C. G. Kunze. XXIV u. 302 S. 8.
Die früheren Teile dieses Lehrbuchs, von denen der Verf. im Vor-
wort spricht , sind uns nicht bekannt geworden. Es erschienen im letz-
ten Decennium so viele deutsche Lesebücher, dasz uns allmählich eine
Scheu anwandeln musz, noch mehr Lesebücher kennen zu lernen, da wir
deren wirklich schon manche recht gute haben. Das vorliegende, also
die mittlere Stufe und deren zweiter Cursus , scheint für die Tertia der
höheren Lehranstalten bestimmt zu sein. Es soll c dem geschichtlichen.
erdkundlichen, naturgeschichtlichen Unterricht ergänzend und erweiternd
zu Hülfe kommen. Das nationale Element tritt dabei, der im Ganzen be-
folgten historischen Anordnung gemäsz, in diesem Teile entschieden in
den Vordergrund.* Der Vf. setzt voraus, dasz auf der betreffenden Sto/e
eine zusammenfassende, strengere Behandlung des grammatischen fc*
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I
Paldamus: Deutsches Lesebuch. 621
biets nötig werde, und dasz für die Satzlehre kaum eine andere Stelle
sich finden werde als diese Stufe. Deshalb läszt der Verfasser zur Unter-
stützung des Unterrichts 'eine thunlichst kurz und präcis gefaszte Ueber-
sicht der Satzlehre' als Einleitung folgen, die *dem Schüler als Anhalts-
punkt dienen möge.' Dieselbe umfaszt etwa 14 Seiten, und haben wir
nichts dagegen einzuwenden, wenn der Schuler diese 'Uebersicht* sich
oft und wieder ansieht , wenn dieselbe nur nicht memoriert werden soll ;
dies wäre unseres Erachtens ein Misbrauch der Muttersprache. Aus dem
Inhalt der vorgelegten Satzlehre, die man im Ganzen als solche nur billi-
gen kann, heben wir nur eins hervor , was uns , obgleich es immer wie-
ler so gelehrt wird, immer wieder anstöszig ist. Wir meinen dies: 'der
\ccusativ ist der Casus des transitiven Objects, der bei der Umwandlung
des activen Satzes in den passiven zum Nominativ (Subject) wird.' Schon
durch den folgenden Satz: f neben dem Passivum ist das Subject selbst
der von der Thätigkeit ergriffene Gegenstand ' wird unser Widerspruch
gegen die hergebrachte Behandlung der Passivsätze begründet oder doch
unterstützt. Es kann nur zur gröszeren Klarheit in den Anschauungen
des Schülers dienen, wenn man sich endlich entschlieszt, das Object Ob-
ject sein zu lassen, mag der Satz activisch oder passivisch sein. Man sage
dem Schüler nur immer: das Object steht im Passivsatze im No-
minativ. Ohnedies ist es ja selbstverständlich, dasz jeder Passivsatz,
von dem der Anfänger etwas sieht oder hört, in den Activsatz, den ent-
sprechenden, der denselben Gedanken ausdrückt, verwandelt wer-
den musz , sei es auch nur zur Uehung. Von einem Passivsatze wird er
nicht eher etwas gewahr, als nachdem er von dem Object oder demjeni-
gen Gegenstande des Satzes gehört hat , der auf die Frage : wen oder
was? steht. Wenn dies Letztere aber geschehen und durch Uebung ihm
geläufig geworden ist, dann wird es gut sein ihm beizubringen, dasz das
Object im Passivsatze auf die Frage: wer oder was?, also im Nominativ
steht. Denn er weisz ja schon , dasz das Object der Gegenstand der Thä-
tigkeit des Verbums ist, und dies Verhältnis ändert sich durchaus nicht,
mag der Satz Activ- oder Passivsatz sein.
Was die Auswahl der Lesestücke betrifft, so möchten wir wünschen,
dasz in diesem vorliegenden Lesebuche, wie überhaupt in unseren deut-
schen Lesebüchern, nicht blosz die Namen der Schriftsteller, sondern auch
die betreffenden Werke , aus denen die Stücke entnommen sind , hinzuge-
fügt wären. Das ist einer der Vorzüge neben anderen , den das deutsche
Lesebuch von Th. Colshorn und K. Gödeke hat, dasz es seine Quellen
?enau angibt. Nicht nur für den Lehrer allein ist dies wünschenswerth.
Votwendig aber wird es geradezu, wenn die Herausgeber von Lesebüchern
rieh nicht beschränken , sondern auch aus solchen Schriftstellern Stücke
entnehmen, die nicht allgemein bekannt sind. Wir wollen nur einige
Beispiele aus dem vorliegenden Gursus anführen: 'Scipio's und HannibaPs
Ausgang' von L. Stacke. 'Die Schlacht bei Cannae' von demselben. 'Auf
ien Gipfeln der Berge' von K. Fresenius. cDie Ebbe und die Flut' von
?• E. Heger. 'Die Baumwolle* von A. Berlhelt. 'Von den schädlichen
Heuschrecken ' von E. L. Taschenberg usw. Der Vf. scheint eine beson-
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622 Frickc: Dekiamatorik.
dere Vorliebe für Onno Klopp zu haben, der nicht überall in deutschen
Landen sonderlich populär ist. Unter den etwa 60 Prosastücken sind
sieben allein von diesem eigentümlichen Historiker. Doch das ist Ge-
schmacksache. Uns sagt die Auswahl der poetischen Stücke in dem Buche
mehr zu, als die der prosaischen. J. von Müller fehlt ganz; doch erklärt
sich dies vielleicht dadurch, dasz das Buch die deutsche Geschichte nur
bis zu Rudolf vou Habsburg im Auge hat. ' Die Baumwolle' von A. 6er-
thelt hätte der Vf., wenn dieser Gursus jetzt erscheinen sollte, wol lieber
weggelassen. Denn wir haben keinen sonderlichen Grund mehr, die
Engländer zu preisen , wenn es sich darum handelt, f das Erstarken natio-
nalen und patriotischen Sinnes bei der deutschen Jugend zu fördern'!
Lennep. Th. Hansen.
54.
Dr. Wilhelm Fricke: Declamatorik. Praktischer Teil oder:
Sammlung deutscher, französischer und englischer Deck-
mationsstücke. Zur Unterstützung des Geschichtsunterrklis
historisch geordnet. Erste Abteilung: Deutsche Declama-
tionsstücke. Zweite Abteilung: Französische und englische
Declamationsstücke. Mainz 1862, Verlag von C. 6. Kunze.
XXIV u. 264 S., VIu. HOS. 8.
In der Vorrede weist der Verf. auf den theoretischen Teil seiier
Declamatorik zurück, der uns nicht bekannt ist, auf den hier also nicht
zurückgegangen werden kann. Uebrigens wiederholt der Verf., wie er
sagt , die bez. Stellen in diesem seinem Vorwort zum praktischen Teil.
Der Zweck ist, den Geschichtsunterricht zu unterstützen, damit dieser
mehr Haltung und Leben gewinne. In so weit hat also dieses Werk den-
selben Zweck, wie F. K. KeiTs 'Deutsches Vaterlandsbuch% K. Wag-
n e r's * Poetische Geschichte der Deutschen ' u. a. m. Es unterscheidet
sich von diesen Werken dadurch, dasz es den ausgesprochenen Haupt-
zweck durch den Titel mitbringt, zur richtigen Declamation anzulei-
ten. Deshalb schickt der Verf. einen eigenen kurzen Aufsatz *über die
Vorbereitung zur Declamation9 voraus. Da man in Schulen 'niemals Ge-
dichte oder Reden vortragen lassen sollte, bevor sie nicht nach alles
Richtungen hin besprochen sind,1 so gibt der Vf. ein Schema für die
Erklärung , das so sorgfältig ausgeführt ist in Abteilungen und Unterab-
teilungen usw., dasz wir es hier ganz mitteilen müsten. Es zerfällt zu-
nächst in die litterarische und die deklamatorische Erklärung. Erläutert
wird es sofort durch ein Beispiel, wozu der Vf. 'Kassandra' von Schiller
wählt. Die ganze 'Erklärung', wie sie sich an diesem Beispiele uns ver-
körpert, wird nur für die oberste Glasse einer höheren Schule zum Teil
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Fricke: Deklamatorik. 623
begreiflich und verständlich sein, in einer höheren Töchterschule ist sie
schwerlich brauchbar, da sie gar zu logisch gespalten und dadurch für
die weibliche Jugend ungenieszbar ist. In der haarspaltenden Schärfe,
mit welcher die Richtung und Haltung der Hand, ja des Daumens, bei-
spielsweise für die einzelnen Verse der ersten Strophe von fKassandra'
bestimmt wird, vermag höchstens ein Schauspieler dem Verf. zu folgen.
Unsere Kinder werden wir mit derartigen Kleinmeistereien wie bisher
verschonen ; wir brauchen für wichtigere Dinge die Zeit, Besonders wenn
wir den edlen Zweck verfolgen , den Geschichtsunterricht zu schmücken
und zu beleben. Die unsägliche Sorgfalt des Vf.s ist anzuerkennen.
Die Sammlung der Gedichte selbst ist nach Jahrhunderten und Völ-
kern geordnet. Der Vf. hat auch die Geschichte der orientalischen Völker
durch Gedichte illustrieren wollen. Wenn aber, wie er selbst zugibt,
*das Feld der Geschichte bekanntlich zu grosz geworden ist, um den
Schüler in zwei wöchentlichen Stunden auf demselben heimisch zu ma-
chen9, wenn die Gestalten der Geschichte c meist überschnell vor seinen
Blicken vorüberziehen und ebenso wenig Haltung und Leben gewinnen,
wie eine von dem Dampfwagen aus gesehene Landschaft', nun dann wird
man auch mehr und mehr dahin kommen, die ganze orientalische Ge-
schichte — wenn doch Israel im Religionsunterricht bedacht werden
musz — mit möglichster Kürze abzumachen; sie aber durch Gedichte zu
schmücken, kann uns vollends schwerlich einfallen. Ob Mycerin des
Gheops Sohn gewesen und wann er gelebt usw., ist wirklich selbst für
den Primaner höchst gleichgültig, und H. Lingg's Gedicht über denselben
kann er entbehren.
Nach dem Grundsatz : cFür die Jugend ist das Beste eben gut genug5
wird man in allen derartigen Sammlungen sehr wählerisch verfahren
müssen. Von den anerkannt classischen Gedichten unserer Nation wird
man so viele heranziehen wie zur Sache gehören, von anderen so wenige
wie möglich hineinmischen. Für die griechische Sage und Geschichte
können wir Tiedge's c Herakles ' und Dreves' c Alexanders letzter Wille 9
entbehren. Das mehr als 8 Seiten lange Gedicht *Die Zerstörung von Her-
kulanum und Pompeji * vom Verf. selbst , das wie ein Bruchstück oder
Stück aus einem Drama erscheint, wollen wir nicht verwerfen; es ist
überhaupt ein eigen Ding, mit Verfassern derartiger Sammelwerke zu
rechten, wenn sie ihre eigenen poetischen oder prosaischen Producte
vorführen. Der in der Prosa sehr gewandte H. Masius hat in dieser Be-
ziehung eine gerade entgegengesetzte zu grosze Scheu in seinem Lese-
buche bewiesen. Von den sieben Gedichten des Verf.s sind zwei für den
vorliegenden Zweck recht passend , ' die Parade von Rossbach ' und f Kai-
ser Joseph und der Postverwalter'. Im vorliegenden Buche finden sich
auch einige Gedichte ohne Angabe der Dichter , was wir für Schulen um
so eher an dieser Stelle misbilligen dürfen, da der Vf. ausdrücklich for-
dert, dasz der Lehrer 'am Schlüsse jedes Vortrags consequentnach
Namen und Geburtsjahr des Verfassers frage!' Wir sind weit
entfernt, dieser Forderung beizustimmen, wenn man sich nicht auf ganz
classische Gedichte beschränkt. Denn was in aller Welt soll es dem Schü-
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624 Fricke: Deklainatorik.
ler nützen, allerlei Namen nebst Geburtsjahren sich einzuprägen, wie sie
unser Buch uns vorführt, z. B. Rese, Hutterus, Dreves, v. Lepel, Da-
maschka, Parucker, Haltaus, Eberwein, Aulenbach, Schramm, Wiehert,
Rappard, Fischer, Nooris, Oebeke, Wilhelmi, Sternberg, Henriette Otten-
heimer — ?
Wenn wir diejenigen Nummern bezeichnen sollen, welche wir weg-
gelassen wünschten, so wären es z. B. folgende, auszer den die orienta-
lische Geschichte angehenden : ^Herakles' von Tiedge, f Alexanders letzter
Wille ' von Dreves , f Gelimer * von ?, f die Kreuzzüge ' von Wilhelmi %
'0 Richard usw.* von Gretry, 'Manfred's Tod' von?', c Friedrich der
Gebissene' von Schramm, cTimur' von Lingg, eAlhambra' von Lingg,
^Luther's Vorgang' von Schramm, 'Karl der Fünfte* von Aulenbach, *Max
und Dürer' von Fischer, * Friedrich d. Gr. bei Rosabach' von Sternberg,
c General York' von Wiehert, 'Napoleon im Kifihäuser' von Reinecke,
f Abdul Meschid's Reformen ' von Fricke u. a. m. Einige von diesen sind
nicht wahre Gedichte , weil entweder der Stoff nicht würdig genug oder
die Form nicht einfach und klar und edel genug, oder die Verschmelzung
von Stoff und Form nicht ausreichend ist; andere sind zu kurz für die
Declamation in einer Oberclasse , für die sonst das Buch allein passt ; an-
dere sind zu phrasenhaft und langweilig , noch andere illustrieren eine
Partie der Geschichte , die auszerhalb der Schule liegt usw. Dies hier im
einzelnen nachzuweisen ist unthunlich ; wir wären dazu bereit , wenn es
sein müste. Der Vf. hat 'Ziethen' von Fontane aufgenommen, wer v. Sal-
let's gleichnamiges Gedicht kennt, besinnt sich nicht lange, welches er
wähle, wenn wir auch das Gedicht des hie und da bevorzugten Fontane
nicht tadeln wollen. Der Vf. hat 'die Leiche zu St. Just' von Anast. Grün.
So sehr wir diesen in seiner Art anerkennen, musz doch Platen mit sei-
nem verwandten Gedicht den Vorzug in unserer Nation behalten, also
auch in unserer Schule.
Auf die zweite Abteilung, die Sammlung französischer und engli-
scher Declamationsstücke, näher einzugehen , überlassen wir lieber Fach-
lehrern der betr. Sprachen. Wir möchten nur wünschen, dasz z. B. zu
den aus dem Deutschen in das Englische übersetzten Gedichten, wie eTail-
lefer* u. a., hinzugefügt wäre, von wem die Uebersetzung, ob z. B. von
Longfellow; denn dieser versteht es vorzüglich; hat er doch in seiner
Uebersetzung des dänischen Nationalliedes rKong Christian stod ved höien
Mast' das Original unbedingt übertroffen!
Schlieszlich erlauben wir uns , auf unsere Anzeigen von Dr. Roderich
Benedk: fder mündliche Vortrag* und von Th. Colshorn : 'der Declamator'
in der Zeitschr. f. Gymn. Wesen Jahrgang 1861 S. 254 ff. u. 1862 S. 184 ff.
zu verweisen, um uns nicht zu wiederholen. Unsere Ansichten über Vor-
trag und Declamation usw. sind noch heute im wesentlichen dieselben.
Lenncp. TA. Hansen.
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Googk
J. Leunis: Synopsis der drei Naturreiche. 625
55.
loh. Leunis: Synopsis der drei Naturreiche. Ein Handbuch
für höhere Lehranstalten und für Alle, welche sich mit Na-
turgeschichte beschäftigen und sich zugleich auf die zweck-
mäszigste Weise das Selbstbestimmen der Naturkörper er-
leichtern wollen. Mit vorzüglicher Berücksichtigung aller
nützlichen und schädlichen Naturkörper, besonders Deutsch-
lands, sowie der wichtigsten vorweltlichen Pflanzen und
Thiere. Zweite, gänzlich umgearbeitete, mit mehreren tau-
send Holzschnitten und mit der etymologischen Erklärung
sämtlicher Namen versehene Auflage. Zweiter Teil. Bo-
tanik. Erste Hälfte. Bogen! — 25. Mit 557 Holzschnitten.
Hannover 1864. Hahnsche Hofbuchhandlung. (2 Thlr.)
Die neue Auflage eines tüchtigen botanischen Handbuches , welches
seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1847 Vielen und darunter' gewis
auch manchem Lehrer dankenswerthe Dienste geleistet hat, darf in päda-
gogischen Kreisen einer freundlichen Aufnahme gewis sein. Für den
Besitzer der 1860 erschienenen 2. Auflage der zoologischen Synopsis des-
selben Vf. bedarf es zur Kennzeichnung des vorliegenden Werkes nur
der Angabe, dasz es gleich jener mit zahlreichen, instructiven Holz-
schnitten versehen und derart bereichert und vervollständigt ist , dasz es
seinen Vorgänger ebenso an Umfang überbieten wird, wie die 1014 Seiten
starke 2. Auflage der Zoologie die nur 476 Seiten zählende erste über-
trifft. Während nemlich die 1. Auflage der Botanik mit Ausschlusz des
Registers 530 Seiten umfaszt , ist diese erste Abteilung der neuen Aus-
gabe (welche blosz die dort 140 Seiten füllende Einleitung und Naturge-
schichte der ersten Pflanzenordnung enthält), schon 400 Seiten stark, die
ganze Synopsis wird also ihre Vorgängerin wenigstens um das Doppelte
überbieten. Und dabei ist durch Knappheit der Darstellung, sowie durch
typographische Maszregeln für Raumersparnis thunlichst gesorgt.
Um aber auch Lesern, welche von diesem Werke noch keine Kennt-
nis gewonnen, den Werth desselben schätzen zu lassen, werden folgende
Andeutungen genügen. Das Buch entspricht vollkommen der etwas brei-
ten Ankündigung des Titels, es gibt eine erstaunliche Fülle von Material
in gedrängter, übersichtlicher Form. Der Vf. hat durch diese Arbeit eine
neue Probe seines bewundernswerthen Fleiszes und seiner Geschicklich-
keit gegeben. Seine umfassende Belesenheit, seine schone Gabe, durch
zweckmäszige Anordnung ein massenhaftes Material leicht überschaubar
zu machen und das Thatsächliche klar und knapp zu berichten, sowie
seine besondere Kunst, durch Tabellen, dichotomische Diagnosen und
typographische Hülfsmittel das Zurechtfinden zu erleichtern — verdienen
volle Anerkennung, und man sagt nicht zu viel, wenn man diese Synopsis
ein auf diesem Felde der Litteratur hervorragendes Werk nennt. Als
besondere Vorzüge sind hervorzuheben die etymologischen Erklärungen
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626 J. Leunis: Synopsis der drei Naturreiche.
aller Kunslausdrücke und Pflanzennamen and die stete Rücksicht auf die
Technologie und auf die Wechselbeziehungen des Pflanzen- undThier-
reiches. Es sind in der That für alle irgend bedeutenden deutschen Pflan-
zen die Thiere tabellarisch aufgeführt, welche als Kostgänger, Förderer
oder Feinde derselben von Wichtigkeit werden können. Die zahlreichen
Illustrationen, welche nur da auftreten, wo es der Veranschaulichung
wirklich bedarf, sind — mit wenigen Ausnahmen, z. B. die Abbildung
der Ficaria S. 323 — nach guten Zeichnungen gemacht und schlicht,
aber treu und verständlich ausgeführt. Der Druck ist — was bei den
vielen Fremdwörtern und Zahlen und den verschiedenen Schriftformen
grosze Sorgfalt erfordert haben mag — so correct, dasz dem Referenten
nur wenige Druckfehler aufgestoszen sind (z. B. S. 139 fehlt Darwin's
Name bei dem von Bronn übersetzten Werke; S. 268 Necklase statt
Necklace).
Unter den einzelnen Abschnitten des allgemeinen Teiles, der von
S. 1 — 268 reicht, zeichnen sich durch Stoffreichtum und Uebersichtlich-
keit besonders aus; die Phytochemie (von S. 148—163), die Lehre von
den Misbildungen und Krankheiten von S. 163 — 177, die Pflanzengeogra-
phie (von S. 177 — 212) und die Lehre von der Nutzanwendung der Ge-
wächse (von S. 234 — 268), welche auch die modischen Umversalhumbug-
mittel vorführt. Gröszere Ausführlichkeit wäre dagegen für die mikros-
kopische Anatomie wünschenswert)); nirgends ist das Verfahren beschrie-
ben, nach dem die Forscher den feinen Bau und die Entwicklungsge-
schichte zu ergründen suchen, so dasz der Laie kein anschauliches
Verständnis über den Zusammenbau der Elementarorgane und namentlich
über die Entwickelung der zusammengesetzteren Formen aus der Urform
gewinnt; bei der Darstellung der Bestandteile des Holzkörpers hätten
wol die besonders durch Hartig und Sanio neuerdings unterschiedene»
Modifikationen der Elementarorgane Anführung verdient. Lieber hätte
man die von S. 212 — 214 reichende Darstellung der Geogonie vermiszt,
welche die für die Vegetationsgeschichte bedeutsame Eiszeit nicht er-
• wähnt und doch erst im dritten Bande ausführlicher gegeben werden
kann. — Die specielle Botanik gibt von S. 269—364 einen trefflichen
analytischen Schlüssel über die deutschen Pnanerogamengattungen nach
dem Linneschen System, welcher durch eingestreute Abbildungen die
Diagnose der schwierigsten Familien, namentlich der Gräser, Doldenpflan-
zen, Kreuz- und Vereinsblumen wesentlich erleichtert. Von S. 365—
400 wird die besondere Naturgeschichte der Ordnung der Hülsenpflanzen
abgehandelt. Die wichtigsten Gattungen und Arten derselben und auch
die ausländischen, werden kurz charakterisiert und über die Benutzung
und Geschichte viele interessante Notizen beigebracht.
Schlieszlich erlaubt sich der Ref. dem Vf., der sich durch diese
mühevolle Arbeit aufs Neue um die Verbreitung der Scientia amabilis
verdient gemacht hat, einige Stellen anzudeuten, welche bei einer neuen
Auflage, die bei einem so brauchbaren Werke nicht lange ausbleiben
wird, einer Vervollständigung oder Berichtigung zu bedürfen scheinen.
S. 1. Der Unterschied der Pflanzen von den Thieren, dasz letztere bei
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F. Schubert: Lehrbuch der Mineralogie für Schulen. 627
ihrer Geburt schon ihrer ganzen Anlage nach vorhanden seien, scheint
auf die sprossenbildenden Thiere, z. B. Bandwürmer nicht zu passen. —
S. 47 wären einige Erläuterungen über die häufigen Drehungen der
Baumstämme wünschenswerth. — S. 136. Neben Goethe hätte C. F. Wolf
als Begründer der Lehre von der Metamorphose Erwähnung verdient. —
S* 137 Z. 4 v. u. sollte es statt Genusz *Anbau' heiszen. — S. 142.
tUnsere ersten Frühlingsblumen sind weisz und gelb.' Hepatica und Ve-
ronica! — S. 151 wäre zu bemerken, dasz Thonerde als regelmäszige.
Aschenbestandteil in Lycopodium complanatum gefunden wird. — S. 155
' Kork bestehe aus Gellulose.' Dies gilt nur von den jungen Kork-
zellen, die alten sind chemisch wesentlich verschieden. — S. 169. Dasz
die Ueberwallung zuweilen stattfinde, wo weder die Wurzeln verwachsen
sind noch der Stumpf Blätter trägt, zeigen untrügliche Beobachtungen.
— S. 169. *PiIze sind nicht Ursache der Kartoffelkrankheit. ' Sollte hier
nicht die durch de Bary bestätigte Entdeckung Speerschneider's angeführt
werden , dasz die Knolle durch Einimpfung der Sporen des Blattpilzes in
wenigen Tagen erkrankt? Der beweisende Versuch, der äuszerst leicht
anzustellen ist, wurde von Ref. wiederholt mit Erfolg gemacht. — S. 177.
Amelanchier wächst nicht blosz auf Kalk, sondern auch auf Thonschiefer,
z. B. im Schwarzathale Thüringens. — S. 212. fDie Kugel ist die Form,
wo alle Teile in gröstmöglicher Nähe sein können.' (?) — S. 367. Die
Thatsache, dasz bei vielen neuholländischen Akazien die Blätter senkrecht
stehen, hätte wol eine Stelle verdient. — S. 369. Bei Algarobia glandu-
losa scheint der Anführung werth , dasz ihre Hülsen in Texas als Vieh-
futter dienen ; dagegen fiele besser aus die für Lehranstalten bedenkliche
Notiz über die Kraft, welche die Wilden der Acacia virginalis zuschreiben.
Ref. schlieszt seine Anzeige* mit dem Wunsche, dasz die zweite
Hälfte dieses trefflichen Werkes, die nach Angabe der Verlagsbuchhand-
lung unter der Presse ist, bald erscheinen möge.
Sigismund.
56
Dr. F. Schubert: Lehrbuch der Mineralogie für Schulen, mit
kurzem Ueberblick der Petrographie und Geognosie und mi-
neralogischem Wörterbuch. Mit 20 Holzschnitten. Erlangen
1863. Verlag von F. Enke. 109 S. 8.
Nach achtzehnjähriger Lehrpraxis entschlosz sich der Vf. (wie die
Vorrede angibt) zur Bearbeitung eines Leitfadens , der das enthalten soll,
was dem Schüler bei der beschränkten Zahl von Stunden, welche auf
Mineralogie verwendet werden kann, mitzuteilen sei. Die zeitliche Um-
grenzung des Cursus ist leider nicht angegeben, so dasz dahin gestellt
bleiben musz, ob die Stoffauswahl ganz zu rechtfertigen sei, ob nicht die
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628 F. Schubert: Lehrbuch der Mineralogie für Schulen.
Pelrographie und Geognosie, welche für den jungen Dilettanten fast
wichtiger ist als die Kenntnis seltener fremder Mineralien, mit vier
Seiten zu kurz komme. Vorausgesetzt wird die Kenntnis der Chemie,
namentlich Uebung im Gebrauche des Löthrohrs. Da der Anhang eines
mineralogischen Wörterbuches , das die Namen und chemischen Formeln
aller bekannteren Fossilien enthält, 40 Seiten (von S. 69 — 109), also fast
die Hälfte des Raumes einnimmt, so war knappe Fassung nötig, um die
Minerale kennen zu lehren, c welche bis jetzt ein technisches oder land-
wirtschaftliches Interesse gewonnen haben9, zumal auszer diesen einige,
nicht in diese Ciasse gehörige (z. B. Leucit, Tremolith) angegeben wer-
den werden. Die von S. 1 — 10 reichende Einleitung, welche 17 krystal-
lographische Abbildungen enthält, gibt die Erklärung der wichtigsten
physikalischen Kennzeichen. Manche dieser Definitionen bedürfen der
weiteren Erklärung des Lehrers, einige scheinen an Unbestimmtheit oder
Unklarheit zu leiden. So wird auf S. 1 gesagt: bei den Krystallen stimme
der innere Bau mit der äuszeren Begrenzung überein, was bekanntlich nur
in Bezug auf die Kernform gibt. — S. 7. * Angeflogen heiszen so dünne
Ueberzüge eines Minerals auf einem anderen , dasz man häufig (!) keine
Dicke mehr unterscheiden kann.' Ganz unerwähnt sind die Gesetze der
Hemiedrie. — Die specielle Oryktognosie (S. 11—62) gibt die fallernot-
wendigsten ' Kennzeichen der oben erwähnten Auswahl von Mineralien
nebst Andeutung der wichtigsten Fundorte und der Benutzung. Eine
Eigentümlichkeit und ein Hauptverdienst dieses 'Lehrbuches* liegt in den
diagnostischen Andeutungen. Bei jedem Minerale sind nemlich die damit
zu verwechselnden genannt. Wird nun der Schüler stets angehalten, die
unterscheidenden Merkmale dieser dem oberflächlichen Beschauer ähnlich
erscheinenden Naturkörper aufzusuchen, so gewinnt er nicht nur eine
sichere Kenntnis der Mineralien, er übt auch seinen Scharfsinn für andere
Naturstudien in der förderlichsten Art. Solche kurze Verweisungen auf
die zu vergleichenden Mineralien sollten in der That in keinem Elementar-
buche der Mineralogie fehlen. Die Systematik folgt dem chemischen Ein-
teilungsgrunde. Etymologische Erklärungen sind nur für einzelne Namen
gegeben und zwar fehlen sie für manche schwerverständliche (z. B. für
Apalit), während sie für manche vorhanden sind, bei denen es kaum not-
thut (z. B. Cölestin). — Die Pelrographie und Geognosie gibt die wich-
tigsten Kennzeichen der Verbindung der Gemengteile und der Lagerung
der Gebirgsarten und auf S. 65 — 67 eine tabellarische Uebersicht des
petrographischen Systems. Der Ueberblick des orographischen Systems
(S. 67 — 68) enthält blosz die Namen der Formationen. — Das Buch ist
hübsch ausgestattet, der Druck übersichtlich eingerichtet. Druckfehler
finden sich einzelne in den Namen der Mineralien; durch einen solchen ist
wol auch der Satz auf S. 3 entstellt ('Krystallsystem ist der Inbegriff
aller Formen, denen dieselben Axenverhältnisse zu Grunde liegen und
sich nach dem Gesetze der Symmetrie mit einander combinieren lassen9).
Sigismund.
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H. Wagner: Entdeckungsreisen. 629
H. Wagner: 1) Entdeckungsreisen in Feld und Flur. Mit JOO
in den Text gedruckten Abbildungen , sowie mehreren Bunt-
und Tonbildern. 2) Entdeckungsreisen in Wald und auf der
Haide. Mit 130 Abbildungen, zwei Buntdruck-, drei Ton-
bildern und einer Extrabeilage von getrockneten Moosen.
Leipzig, Verlag von Otto Spamer.
Der Vf., der sein schönes Talent, die Kinder unterhaltend zu be-
lehren, schon in zwei ähnlichen illustrierten Schriften bewährt hat, in
denen er die Wohnstube und Haus und Hof im Bezug auf die darin ent-
haltenen Naturdinge und technologischen Merkwürdigkeiten bespricht,
schildert hier kleine Ausflüge, die er mit Kindern ins Freie anstellt, und
knüpft an diese in gefalliger Weise naturgeschichtliche Belehrungen über
die dabei beobachteten Vorkommnisse und verwandte Erscheinungen
fremder Landschaften an. Mehrere der darin enthaltenen Naturbildchen
in Worten sind Muster liebevoller Kleinmalerei ; manche der in reicher
Fülle beigegenen Illustrationen , namentlich einzelne der gröszeren Vig-
netten sind von wahrem künstlerischen Werthe. Der Ton des Erzählers
ist ansprechend kindlich , ohne ins Kindische zu verfallen , so dasz auch
zehn- bis zwölfjährige Zöglinge höherer Schulen , die das Glück haben,
naturgeschichtlichen Unterricht zu genieszen und mit ihrem Lehrer ähn-
liche Entdeckungsreisen in der Wirklichkeit zu machen, diese Schriften
gern und mit Nutzen lesen. Die erzählten Thatsachen beweisen, dasz der
Vf. die heimatlichen Naturerscheinungen durch eigne Beobachtung näher
kennt und durch den Umgang mit Kindern weisz, was diese besonders
anzieht. Der Berücksichtigung bei folgenden Auflagen dürfte Folgendes
zu empfehlen sein. Auf S. 133 II sollte neben dem Grünspecht auch der
oft mit diesem verwechselte Grauspecht erwähnt sein. — S. 138 wird
die Spechtmeise ziemlich *eine Hand lang' genannt; besser wäre wol,
um die Jugend früh an genaue Maszbestimmung zu gewöhnen , die An-
gabe der Länge in Zollen. — S. 147 wird erzählt , dasz calle gelehrten
Leute die Blindschleichen zu den Eidechsen zählen', ohne für diese das
Kind befremdende Meinung einen Grund anzuführen. — Ist das Trom-
meln des Spechtes, das man doch während der ganzen Brütezeit hört,
wirklich das Hochzeitslied, womit das Weibchen angelockt wird? —
S. 134 wird erzählt, dasz eine kleine Kaulquappe eine winzige Schnecke
verschluckt habe ; verhält sich wirklich die Larve des Frosches in dieser
Hinsicht wie die der Tritonen? — Die versprochene Fortsetzung dieser
Entdeckungsreisen werden Kinder und Kinderfreunde freudig begrüszen.
Sigismund.
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630 ^ Ackermann: The Christian element in Plato etc.
The Christian element in Plato and ihe Piatonic phüosopky, m-
folded an set forth by C. Ackermann. Translated from
the German by S. Ralph Asbury, B. A. With an introductory
note by W. G. T. Schedd, D. Edinburgh: T. Clark 1861.
Schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche war man
vielfach bemüht, Plato's religiöse Ansichten mit der Lehre des Christen-
tums in Vergleichung zu ziehen , und gieng man dabei oft auch von thö-
richten Voraussetzungen aus, nach denen man meinte, dasz Plato seine
religiösen Ideen auf seinen Reisen durch Bekanntschaft mit den Juden
und Büchern des A. T. gewonnen habe , sodasz ihn Clemens Alex, nach
Numenius als töv Municfiv dtriKKovia oder töv i£ ^ßpatuiv qpiXö-
coqpov bezeichnete, so blieb doch bei bedeutenden Vätern der Kirche
dem griechischen Philosophen hohe Verehrung erhalten und in Folge
davon das Streben , eine Vergleichung zwischen dem Evangelium und den
Lehren der platonischen Philosophie anzustellen. Ein Augustinus konnte
in seinen Bekenntnissen erklären: esi primo sanctis tuis literis (h. e.
evangelio) informatus essem , et in earum familiaritate obdulcuisses mihi,
et postea in illa volumina (sc. Piatonis) incidissem , forlasse aut abripuis-
sent me a solidamento pietatis : aut , si in affectu, quem salubrem imbi-
beram, perstitissem , putarem etiam ex Ulis libris eum concipi posse, si
eos solos quisquam didicisset'; in der späteren Zeit, in welcher ein Teil
der Scholastiker den Plato hochhielt , wurde ein Bernhard von . Clairvaui
bei dem Papste angeklagt 'quod multum sudaret, quomodo Platonem fa-
ceret Christianum' ; in der Zeit des Wiederauflebens der griechischen Li-
teratur in Italien schrieb Bessarion Nie. gegen Gorgias Trapez, sein Buch
in calumniatorem Piatonis. Zur Zeit der Reformation forderte besonders
Erasmus in der cohortatio ad Christianae philosophiae Studium zur Lee-
türe des Plato auf und erklärte freimütig, dasz die platonische Philoso-
phie in vielen Sätzen mit der christlichen Lehre übereinstimme; in der
späteren Zeit gab es neben römischen Theologen auch protestantische,
wie der Engländer Cudworth, welche auf die Aehnlichkeit der beiden
Lehren aufmerksam machten, andere, wie vorzüglich Wucherer und
Winckler, welche in Vorurteil befangen gegen die griechische Philoso-
phie auf den Gegensatz zwischen Piatonismus und Christentum hinwiesen.
Im 19. Jahrhundert hat Stäudlin, um von anderen zu schweigen, in dem
Programm 'de philosophiae Platonicae cum doctr. religionis Jud. et Christ,
sqq. Gott. 1819' Plato's religiöse Ansichten mit den christlichen vergli-
chen, die Georgia Augusta zwei Preisschriften veranlaszt, von Grotefend
'commentat., in qua doctrina Piatonis ethica cum Christ, comparatur, Gott.
1820', von Mehlisz ecomparat. Piatonis doctr. de vero Reipublicae exemplo
cum Christ, de regno divino doctr., Gott. 1844P. Beide Abhandlungen be-
handeln die verschiedenen Beziehungen, die in Christi und Plato's Lehre
gefunden werden können, der erstere mit gewisser Anerkennung Plato's,
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Ackermann: The Christian element in Plato etc. 631
die sich auch in seinen letzten Worten kund gibt (p. 76 : * quodsi Plato-
nem divinum esse concesserimus, Christum Deum confiteamur necesse est.9)
Mehlisz, ohwol er zugibt p. 116: evere magnae sunt cogitationes et Evan-
gelio valde propinquae, in quibus versatur philosophia Piatonis', fügt
doch in einem seiner Schluszsätze hinzu: eDeerat Piatoni, quod omnibus
veteribus , vere omnipotentis absque interno illo , quod in nobis est , dis-
sidio redimentis nos Dei conscientia: hac ipsa destituti omnes fere altioris
ingenii veteres in tristem illam desperationem inciderunt, quae, penitus
si spectamus, Platonem quoque cepit et ad miseram illam fati opinionem
prope adduxit.'
Auszer diesen Gelehrten haben in der Neuzeit demselben Gegenstand
vorzugsweise Beachtung gewidmet: L. Ackermann, das Christliche in
Plato und in der platonischen Philosophie, Hamburg 1835 (recens. von
Ritter und Nitzsch in Theol. Slud. und Kritik. Jhg. 1836, H. 2, S. 461 f.
486 f.) und der Tübinger Theolog Baur, das Christliche des Piatonismus
oder Sokrates und Christus, Tübingen 1837. Indem dieser gleich Acker-
mann eine unverkennbare , in manchen Punkten überraschende Verwandt-
schaft zwischen Piatonismus und Christentum anerkennt (S. 6), die Mo-
mente dann bespricht, welche Ritter und Nitzsch gegen die Ausführung
Ackermann's geltend gemacht haben, stellt sich seiner Ansicht nach als
wesentlicher Mangel der Ackermannschen Untersuchung dar (S. 17) , dasz
ihr bei allem Schönen und Trefflichen, was sie enthalte, und bei der war-
men Liebe, mit der sie ihren Gegenstand behandle, doch der Begriff der
zu lösenden Aufgabe nicht vollkommen klar geworden sei, weil alle soge-
nannten spekulativen Fragen ausgeschlossen würden. Als eigene Ansicht
ergibt sich Baur (S. 153), dasz alles Göttliche der platonischen Ideenwelt
für das menschliche Bewustsein noch immer ein jenseitiges bleibe , es sei
aus dem Gebiete der Philosophie noch nicht in das der Religion und des
Glaubens herabgestiegen , aus der Vielheit der Ideen müsse erst der Eine
göttliche Logos zum Bewustsein kommen, und der Logos hinwiederum
müsse erst Fleisch werden, wenn die Einheit des Göttlichen und Mensch-
lichen nicht mehr blosz eine geahnete und ersehnte, sondern eine wahr-
haft offenbare und faktisch gewisse sein solle.
Ich kann dem nicht durchaus beistimmen: Ackermann hat nicht alle
speeulative Fragen aus dem Kreise seiner Untersuchung ausgeschlossen
und verbreitet sich mit groszer Ausführlichkeit über manche Gegenstände
der Speculation. Sind auch die Erklärer des Plato, ein Hermann, Suse-
mihl, Steinhart, Bonitz, Stallbaum, Sauppe u. a., die Philosophen, die
sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftigen, in ihren Unter-
suchungen vorwärts gegangen, und haben sie dunkle Sätze platonischer
Philosophie besser beleuchtet, immerhin bleibt Ackermann's Verdienst un-
bestritten : bei inniger Liebe für das lautere Christentum hat er es ver-
standen , Begeisterung für Plato zu erwecken , und meisterlich sind so
manche Partien seines Buches dargestellt. Dazu die schwungvolle Spra-
che, die seine Schrift auszeichnet, die an einzelnen Stellen sich fast zu
poetischer Schilderung erhebt, die reiche Litteratur, die er seinem Buche
mitgibt!
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632 Ackermann: The Christian element in Plato etc.
Es kann aber meine Absicht nicht sein , die Ackermannsche Schrift
einer neuen Würdigung zu unterziehen, nur das Eine sei hier erwähnt,
dasz die Anerkennung, die sie gefunden hat, sich auch in der oben an-
gezeigten englischen Uebersetzung von Asbury ausspricht Die Ueber-
setzung erschien in demselben Verlag zu Edinburgh durch welchen auch
die Uebersetzung einer Reihe von theologischen und philosophischen
Werjten der deutschen Litteratur veröffentlicht worden ist; ein Vorwort
des Prof. Schedd hebt die Verdienste Ackermann's rühmend hervor. r He
shows', sagt er darin von demselben , cthat at the very utmost Platonism
could awake aspirations, and create a hunger and thirst. Itcould not
satisfy the immortal longing ; it could not supply the bread and water of
life. The reader will find, for example, in the fifth chapter of the second
Part of the work, an exceedingly accurate and striking account of huma-
nity as it is by sin , and of the utter imposibility of iU regeneration by
philo sophy.' Der Uebersetzung selbst ist von Schedd reichliches Lob ge-
spendet , und sie verdient dieses im Ganzen mit Recht. Einzelne Irtümer
kommen vor. So ist p. 3 der Ackermannschen Schrift * einzuschalten '
durch noting übersetzt, p. 5 'lang wirksam gewesen' durch long exis-
ting, p. 25 c Göttern und Menschen angenehm' durch looked up by the-
wise, p. 131 'widerhaarig' durch previous, 'Gute' durch for God, p. 162
'Stadium' durch study, p. 170 'Haus-, Hof-, Feld- und Stallwirthschaft'
durch family and the forum, p. 168 'schwunghaft' durch changeful, an
anderen Stellen sind Zusätze aus Plato gemacht, wie p. 33 nach emit sich
selbst befreundet' and so nourish them; aber solche Versehen abgerech-
net ist die Uebersetzung wolgelungen, auch der blühende Stil Ackermann's
gut nachgeahmt. Zu beklagen bleibt, dasz die zahlreichen, in den An-
merkungen beigegebenen Zusätze des Verfassers in der Uebersetzung
meistens fehlen, und doch bilden sie einen nicht unwesentlichen Teil des
Ackermannschen Buches , die nicht nur einen Beleg geben für die grosie
Belesenheit des Verfassers , sondern auch wirklich zur Erläuterung und
Vervollständigung des Dargestellten beitragen. Diese durfte daher Asbury
nicht weglassen , eher wol Ackermann's Citate aus deutschen Dichtern.
Eigene Anmerkungen bringt der Uebersetzer nur ausnahmsweise; so
p. 256 und noch einmal, wo er zur Erklärung des platonischen Eros eine
hübsche Stelle aus Milt. Par. Lost anzieht. Den Schlusz der Uebersetzung
bildet die Aufzählung einer Reihe von namentlich deutschen Werken,
welche sich mit Plato beschäftigen; dadurch glaubt der Uebersetzer, wie-
wol irrig , der wörtlichen Uebersetzung der Anmerkungen Ackermanns
enthoben zu sein.
Eisenach. 6r. Schwanitz.
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Ed. Putsche : Erinnerungen an Schiller, Goethe, Gesncr, Geliert usw. 633
59.
Erinnerungen an Schüler, Goethe, Gesner, Geliert, Anna Amalia,
Carl August, Friedrich August I und Friedrich August II
von Sachsen. Zum Behuf e deutsch - lateinischer lieber -
Setzungsübungen nach neulateinischen Classikem ausge-
arbeitet und mit grammatisch-stilistischen Winken, Wörtern
und Redensarten versehen von Dr. Carl Eduard Put-
sche, Professor am gros&herzogl. Gymnasium in Weimar.
Jena, Hauke 1864.
Herr Putsche, der bekannte Verfasser einer weit verbreiteten latei-
nischen Schulgrammatik, hat sich durch Herausgabe des vorstehenden
Buchs ein neues Verdienst um die Schule erworben. Was ihn veranlaszt
hat, die nicht unbedeutende Anzahl solcher Bücher) welche Materialien
oder Aufgaben zum Uebersetzen aus dem Deutschen in das Lateinische
für obere Gymnasialclassen enthalten , durch das seinige zu vermehren,
darüber erklärt er sich in der Vorrede. Er spricht nemiich seine Erfah-
rung aus , dasz den Schülern der Uebergang vom Uebersetzen altclassi-
scher Stoffe zur Uebertragung selbst leichterer Stücke aus deutschen
Classikem in das Lateinische und die Aufgabe freier Arbeiten in echt
lateinischer Sprache (soweit man natürlich dies von Schülern verlangen
kann) zu fertigen, schwer zu werden pflegen. Daher wählte er Stoffe"*
aus neulateinischen Classikem in einer deutschen Uebersetzung, die in
der Form weder zu sehr von dem Original abwiche, noch dasselbe auf
Kosten des deutschen Ausdruckes mit allzu groszer Treue wiedergäbe.
Die Wahl solchen Stoffes empfiehlt sich aber dadurch, dasz darin Vieles
vorkommt, was unserer modernen Anschauungsweise, den Verhältnissen
unseres modernen staatlichen und bürgerlichen Lebens entspricht, wofür
der Schüler bei den römischen Classikem nach angemessenem Ausdrucke
vergebens sich umsehen würde. Man wird dem Verf. beistimmen, wenn
er die Beobachtung geltend macht, dasz junge Leute, seien es Primaner
oder Studierende, die zu irgend einem Zwecke ein sogenanntes curricu-
lum vitae anfertigen wollen , oft in Verlegenheit sind , wie sie Modernes
in lateinischer Sprache ausdrücken sollen. Dabei hat aber der Verf. seinen
aus neulateinischen Ciassikern entlehnten Stoff weder, wie schon gesagt,
wörtlich übersetzt, noch vollständig aufgenommen, sondern frei bearbei-
tet. Zur Unterstützung ferner und Anleitung der Schüler hat sich der
Verf. viel weniger auf Citate aus der .Grammatik eingelassen, die bekannt-
lich der Schüler in der Regel, wenn er nicht ausdrücklich vom Lehrer
zum Gegenteil genötigt wird , unbeachtet läszt , soudern vielmehr in den
Anmerkungen eine reiche Anzahl von Wörtern und Redensarten darge-
boten, die nicht immer aus den Originalen entlehnt, sondern auch aus dem
Schatze der eigenen Belesenheit geschöpft sind. Und in der That findet
man in diesen Anmerkungen treffliche Winke, sei es in Bezug auf lateini-
schen Ausdruck im Einzelnen , oder in Bezug auf Satzbau. Dem etwaigen
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1864. EU. 12. 44
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634 Ed. Putsche: Erinnerungen an Schiller, Goethe, Gesner, Geliert usw.
Vorwurf, dasz er hierin des Guten zuviel gethan habe , tritt er mit der
Absicht entgegen , dasz dadurch der Gebrauch eines deutsch-lateinischen
Wörterbuches entbehrlich gemacht werde. Und dieser Grund ist aller-
dings ein gewichtiger, wenn man erwägt, wie die Mehrzahl der Schüler
sich gar zu gern und gar zu oft auf ein solches Wörterbuch verläszt und
wie selbst die besseren und reiferen ohne weiteres Nachdenken und ohne
Unterscheidung das erste beste, was ihnen jenes Hfilfsmittel bietet, auf
Treue und Glauben hinnehmen. In diesen Anmerkungen dagegen finden
sie nur Brauchbares und zwar in einer Form , die sie nötigt das eigene
Nachdenken anzuwenden und selhstthätig zu sein. Aus diesem Grunde
verdient das Buch auch solchen Primanern in die Hände gegeben zu wer-
den , die privatim lateinische Stilübungen vornehmen wollen. Aber auch
dem Lehrer der Prima ist durch dasselbe ein sehr zweckmäsziges Mittel
zu Extemporalien an die Hand gegeben; Ref. bekennt es gern, dasz es
ihm in dieser Beziehung schon sehr gute Dienste geleistet hat.
Was endlich den Stoff anlangt, so gibt schon der Titel hierüber
Auskunft. Es sind die bekannten panegyristischen Biographieen und
Schilderungen der genannten Personen aus der Feder eiues Ernesti, Eich-
städt, Gottfried Hermann. Das oratorisch-pathetische Gepräge, welches
sie tragen, konnte freilich trotzdem, dasz der Verf. meint, sie zum Teil
ihres oratorischen Gewandes entkleidet zu haben, nicht verwischt werden,
doch ist dies ja nicht zu verwundern, da es in dem Charakter der lateini-
schen Sprache liegt Vielleicht aber steht bei der getroffenen Wahl des
Stoffes, wie z. B. auch bei den bekannten ähnlichen Bächern von Zumpt
und Forbiger zu befürchten , dasz der Schüler sich die Originale zu ver-
schaffen weisz und gebraucht , wenn auch Herr Putsche hier und da im
Texte Veränderungen vorgenommen hat. Es bedarf also hier der Wach-
samkeit des Lehrers. Eine andere Gefahr für den erweiterten Gebrauch
des Buches liegt darin, dasz obwol Schiller, Goethe, Geliert (weniger
natürlich Gesner), Männer sind, die für die gesamte deutsche Gymnasial-
jugend von hohem Interesse sein müssen, doch Anna Amalia, Carl August,
die beiden Könige von Sachsen Persönlichkeiten sind, die vorzugsweise
für Schüler königlich und groszherzoglich sächsischer Gymnasien anzie-
hend sind. Diese Beschränkung des Gebrauches scheint aber der Verf. nach
seiner Aeuszerung in der Vorrede S. XI erkannt zu haben und wird dem-
nach die Folgen als Opfer der Anhänglichkeit an seine Heimat und die
Universitäten Jena und Leipzig, an denen die Männer, aus deren Schriften
er seinen Stoff schöpfte , einst lehrten , denen er selbst * als Lernender
und Lehrender' einst angehörte, zu erwarten haben. So sei denn das
Buch den werthen Amtsgenossen an den königlich sächsischen Gymnasien
bestens empfohlen t
Eisenach. K. H. FunkkaeneL
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feuert
Wörter der deutschen Schriftsprache usw. 635
60.
Wörter der deutschen Schriftsprache, welche niederd. cht
für hochd. ft tragen.
Schon in der älteren niederdeutschen und niederländischen mundart
zeigt sich die Verwandlung von ft in ckt, z. b. achter (after, auch engl,),
hackt (haft), heckt (heft), gekeckt (geheftet, fest; im Sachsenspiegel),
brülöcht (mhd. hrütlouft, hochzeit), kracht (kraft), luckt (luft), sachte
(sanft, engl, soft), stickten (stiften), suchten (mhd. siuften, seufzen),
grackt (graft, graben; vgl. haft v. haben), schockt (schaft). In der jetzi-
gen Holland, und niederd. spräche hat sich dies Verhältnis fortgesetzt;
während jedoch einige plattdeutsche Wörter nicht leicht anders als mit
jenem laute versehen gehraucht zu werden pflegen, z. b. achter (nicht
eigentlich * nach % sondern c hinter'), lückten (vom boden heben; vgl.
hochd. lüften und engl, lift), haben formen wie lucht, stickt in manchen
gegenden Niederdeutschlands vyenigstens den Wechsel mit den hochdeut-
schen luft, stift sich gefallen lassen müssen; vgl. stiefelsckeften, wofür
in Holstein überall sckeckten gesagt wird.
Am deutlichsten offenbart das adv. sacht oder sachte den unhoch-
deutschen Ursprung, weil sanft und engl, soft danebenstehn. Ueber den
ausfall des n vergl. Grimm gramm. II 211. Schlucht steht für sckluft,
mhd. sluft (von sliefen; vgl. schlüpfen); schluft findet sich bei dichtem
daneben (Schlegel, Tieck, Unland, Wackernagel). Wie zu der lat. form
nepos im hochd. nefTe stimmt, so entspricht mhd. niftel, abgesehen von
der deminution (altfries. nift), dem lat. neptis (frz. niece, früher niepce);
aber der nhd. spräche gilt nur nickte. In dem ausdruck 'die anker lich-
ten' ist das verb weder insofern niederdeutsch, dasz es dem engl, lighten
(hochd. gleichsam leichten) entspräche , noch hat es mit dem subst. licht
zu thun ; sondern lichten steht jenem schon oben als niederd. für hochd.
lüften angeführten und mit engl, lift verglichenen tüchten zur seite.
Dasz beschwichtigen von schweigen stamme, mag bei naheliegendem
vergleiche von bezichtigen u. zeihen und wegen durchaus bequemer Ver-
einigung der begriffe anzunehmen leicht fallen ; gleichwol ist der Ursprung
ein ganz anderer. Für mhd. steiften (stillen ; vgl. ensweben, einschläfern
NibeL 7376) setzt die niederländische mundart zwichten, swichten; hier-
aus leitet sich das jetzige durch die vorsilbe be- und ableitendes -ig-
erweiterte wort beschwichtigen. Auf die mittelniederd. subst. gerückte
und ruckte, denen die mhd. formen geruofte, gerüefte, ruoft (: ruof,
ruf = louft: louf, lauf) gegenüberstehn, gründen sich gerückt, ruchtbar
und berüchtigt, welches letztere mit verrufen daher auch etymologisch
zu vergleichen ist. Dasz das adj. echt*) mit dem subst. ehe, welches in
*) Unleidlich ist die schreibang cächt% welche sich nicht einmal
auf einen umlaut stützen kann.
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636 Personalnotizen.
alter zeit (and. ewa, mhd. e) gesetz bedeutet hat, zusammenhange, ist
richtig, keinesweges aber, dasz das ch des einen Wortes aus demA des
andern , dem ja ursprünglich vielmehr w innewohnt, entstanden sei. Wie
im altfries. sich wirklich die form eft findet, welche als eine zusammen-
gezogene dem mhd. ihaft *) entspricht, so liegt unserem echt eine nie-
derd. form ehacht zu gründe. Dasz auch sichten unter die Wörter zu
rechnen sei, welche niederd. cht trageu, ist unwahrscheinlich, obgleich
hochd. sieben und namentlich engl, sift zu dieser annähme einladen;
sichten scheint vielmehr von seihen abgeleitet, wie verzichten von ver-
zeihen.
Mülheim a. d. Ruhr. K. G. Andreren.
*) legitimus; vgl. das plurale gabst, ehehaften, gesetzliche hinder-
nisse, in der Juristensprache.
Personalnotizen
die Gymnasien in Schleswig-Holstein betreffend.
Es wird einer Rechtfertigung nicht bedürfen, wenn wir im Folgen-
den, getrennt von der Programmbesprechung und den Personalnotizen,
einen Ueberblick über die jetzige Besetzung der Gymnasien in
den Herzogtümern geben.
Im Herzogtum Schleswig ist den 21 Februar 1864 dem Gymnasial-
director a. D., Dr. theol. et philol. Friedr. Lübker ein Constitutorinm
zur Visitation der höheren Bildungsanstalten in Flensburg, Schleswig
und Hadersleben erteilt und dasselbe den 9 März auf Husum ausge-
dehnt.
An der Domschule in Schleswig stehen jetzt folgende Lehrer: als
Rector Dr. H. Keck, bisher Subrector in Ploen; als Conrector Dr.
Aug. Mommsen, bisher Lehrer in Parchim; als Subrector Cand. theol.
Beckmann, bisher 5r Lehrer in Meldorf; als Collaborator Dr. Vol-
quardsen, bisher Privatdocent in Kiel; als 5r Lehrer Dr. F. Hörn,
bisher 8r Lehrer in Ploen; als 6r Lehrer Grünfeld, früher 7r; als
7r Dr. Sach, früher Hülfslehrer hier; als 8r Hinrichsen, früher In-
stitutslehrer; als 9r Johannsen, als lOr cand. theol. F. Wallichs.
An der Flensburger Gelehrten- und Realschule stehen jetzt folgende
Lehrer: Gymnasialdirector Dr. theol. et phil. F. Lübker als Rector,
als Conrector Schumacher, als Subrector Dr. Dittmann (beide ge-
blieben); als Collaborator Dr. A. Wallichs, bisher 4r Adjunct in
Rendsburg; gleichfalls als 5r Lehrer Dr. A. Christensen; als 6r ist
der Adjunct Schnack geblieben; als 7r Dr. phil. C. Heimreich;
als 8r der Schulamtscandidat O. Wohl er; als Hülfslehrer fungieren
Dr. Dethlefsen, bekannt durch seine Arbeiten für den Plinius; die
Schulamtscandidaten Diedrichsen, H. Hansen und einige Semi-
naristen.
An der Haderslebener Gelehrtenschule steht als Rector Prof. Dr.
Jessen, bisher Rector in Glückstadt, als Conrector Dr. Chr. Jessen,
bisher Privatdocent in Kiel; als Subrector der bisherige Institutsvor-
steher in Marne, Petersen; als Collaborator der bisherige 3e Colla-
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Personalnotizen. 637
borator in Rendsburg, H. Volbehr; als 2r Collaborator und 5r Leh-
rer Dr. H. Behrns, bisher in Wetzlar; als 6r Lehrer der bisherige
Institutslehrer in Neumünster, Dr. Hartz; als 7r Lehrer Dr, L. 8 le-
rn onsen aus Husby und als Hülfslehrer die Candidaten J. Braun-
eis er und C. A. Volquardsen, als Lehrer der Vorbereitungssehnta
der bisherige Lehrer der Bürgerschule P, Möller. Den 18 Juli ist die
deutsehe Unterrichtssprache gesetzlich wieder eingeführt.
An der Husumer St. Aegidienschule stehen jetzt als Rector der Hoi>
rath Ehr. W. Gidionsen, bisher in Oldenburg Erzieher des Prinzen
Elimar; der Conrector fehlt, weil eine Prima noch nicht eröffnet ist:
als Subrector Dr. L. Matthiesen, bisher Lehrer in Jever; als Coltab.
Dr. P. D. Ch. Hennings, bisher 2r Adjunct in Rendsburg; als 5r
Lehrer Dr. E. Petersen, bisher Privatdocent in Erlangen; als Or ist
Lehrer Kühlbrandt, bisher 3r Lehrer an der höheren Bürgerschule,
wozu die Dänen das Gymnasium reduciert hatten, geblieben; als 7r,
nachdem der Hülfslehrer cand. theol. Weiland aus Oldenswurth zum
Pfarrverweser in Bedstedt ernannt ist, der cand. theol. KlinckerT bis-
her an der Realschule in Ohrdrup; und als Hülfslehrer fungieren der
Lehrer Vierth aus Busenwurth und der Cand. Wiggers aus Floen.
Im Herzogtum Holstein ist der Gymnasialdirector Prof. Dr- Horu
in Kiel zum Inspector der höheren Schulanstalten bestellt; der Sub-
rector Dr. Müller in Kiel den 7 October gestorben, bekannt durch
seine Arbeiten für den Cäsar; als lOr Lehrer der cand. theol. O. Lahr
aus Heide angestellt.
Am Rendsburger Realgymnasium ist der te Adjunct Chr. Hausen
den 24 August gestorben, der bisherige 4e Collab. cand. theol, J. M.
M ichler zum 3n und der bisherige 3e Adjunct Dr. E. J. H. Bobs tedt
zum 4n Collaborator, der Lehrer J. Ferchen in Kiel zum 4n Adjunc-
ten ernannt; als Hülfslehrer fungieren seit Ostern Dr. Schul th es s
und die Candidaten Baurmeister und Mannhardt.
Am Altonaer Christianeum ist Dr. O. Jasper vor längerer Zeit an
die Stelle des gestorbenen 7n Lehrers Wiese gesetzt, und als 9r Leh-
rer der Seminarist Berghof wieder angestellt.
An der Glückstädter Gelehrtenschule ist den 23 Nov. der bisherige
Subrector Dr. E. G. C. Volbehr zum Rector ernannt, als 8r Lehrer
ist schon voriges Jahr an Stelle des zum 5n aufgerückten Dr. thor
Straten der Dr. Berblinger ernannt.
An der Ploener Gelehrtenschule ist als Subrector den 1 ßept, Dr.
Hudemann, bisher Oberlehrer in Landsberg a. d. W.; als 5r Lehrer
Dr. Bahnsen, bisher 6r; als 6r Lehrer H. H. Kuphaldt, biaher 7r;
als 7r Dr. H. C. Matthiesen, bisher Hülfslehrer daselbst, ernannt.
An der Meldorfer Gelehrtenschule ist der 8e Lehrer J. F. Paul-
sen zum Postmeister ernannt, als Hülfslehrer dagegen der Candidat
E. HC seier wieder angestellt.
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638 Personalnotizen. (
Personalnotizen.
^Unter Mitbenutzung des 'Centralblattes' von Stiehl und der f Zeit-
schrift für die österr. Gymnasien'.)
Ernennaagea, Beförderungen, Versetnnngen , Ansneiekmnngen.
Bernhardi, bisher Lehrer an der Louisenstädt. Realschule \
zu Berlin, jetst am Louisenstädt. Gymnasium daselbst, J als ord.
Bode, bisher Adjunct am Pädagogium zu Putbas, jetzt amf Lehrer
Gymnasium zu Greifswald, / ange-
B recher, Dr., SchAC. am Friedrichsgymnasium und deri stellt,
damit verbundenen Realschule zu Berlin /
Busch, Dr. O., Oberlehrer an der Landesschule zu Meiazen, zum
'Professor' ernannt.
Eberhardt, Dr., SchAC, als ord. Lehrer am Wilhelmsgymnasium zu
Berlin angestellt.
Frey er, Dr., bisher ord. Lehrer am Gymnasium zu Schweidnitz, in
gleicher Eigenschaft am Gymnasium zu Frankfurt a. d. O. an-
gestellt.
Fürst, Dr., Professor an der Universität Leipzig, erhielt das Ritter-
kreuz des königl. preusz. Kronenordens IV Cl.
Gauss, bisher ord. Lehrer am Gymnasium zu Borg, in gleicher Eigen-
schaft an das Gymnasium zu Landsberg a. d. W. versetzt.
Hultsch, Dr. 0., Oberlehrer an der Kreuzschule zu Dresden, zum
f Professor' ernannt.
Jahns, Dr., SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Inowraclaw
angestellt.
Jung, Dr., am Gymnasium zu Neisse zum ord. Lehrer ernannt.
Korn, Dr., SchAC., am Gymnasium zu Wesel, ) als ordentliche
Kössler, Collaborator am Gymnasium zu Sagan J Lehrer angestellt.
Krause, Dr., SchAC, als Collaborator am Gymnasium zu Neisse an-
gestellt.
Kühner, bisher ord. Lehrer am Gymnasium zu Landsberg a. d» W.,
in gleicher Eigenschaft am Gymnasium zu Spandau angestellt.
Laves, Dr., SchAC, als ord. Lehrer am Gymnasium zu Lyck an-
gestellt.
Märkel, Ör„ bisher Prorector am Gymnasium zu Königsberg i. d. N.,
als Oberlehrer an der mit dem Friedrichsgymnasium verbundenen
Realschule zu Berlin angestellt.
Möbius, Dr. Theod., bisher ao. Professor an der Univ. Leipzig, zum
ord. Professor der nordischen Sprachen an der Univ. Kiel ernannt.
Nake, Dr., bisher an der Königsstädt. Realschule'
zu Berlin, jetzt am Louisenstädt. Gymnasium
daselbst,
Nesemann, Dr., SchAC, am Gymnasium zu Lissa,
Noss, Dr., bisher am Gymnasium zu Pyritz, jetzt
am Gymnasium zu Schweidnitz,
Paul, SchAC., am Wilhelmsgymnasium zu Berlin J
Perthes, Dr., SchAC, am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin
als Adjunct angestellt.
Praetorius, Dr., SchAC, am Gymnasium zu Braunsberg als ord.
Lehrer angestellt.
Ribbeck, Dr., bisher Lehrer am Kölnischen Real-
gymnasium zu Berlin, jetzt am Louisenstädt.
Gymnasium daselbst,
Ritt eher, bisher Lehrer an der höh. Töchterschule
zu Bromberg, jetzt am Gymnasium zu Lands-
berg a. d. W.,
Sehultz, Franz} SchAC, am Gymnasium zu Konitz
als ord. Lehrer an-
gestellt.
als ord. Lehrer an-
gestellt.
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Personalnotizen. 639
Stawitzky, Dr., als Collaborator am Gymnasium zu Neisse angestellt.
Stimpel, Anton, zum k. k. Schulrath in der Statthalterei Innsbruck
ernannt.
Szelinski Dr., SchAC., am Gymnasium zu Lyck,| { ord. Lehrer an.
Urban, SchAC, am Gymnasium zu Bneg, \ t 11t
Wutke, Collaborator am Gymnasium zu Neisse ) geaieui.
In Rvaestand versetzt:
Kayser, Dr., Director der Realschule zu Landeshut.
Anderweitig ausgeschieden:
Natorp, Dr., Lehrer am Gymnasium zu Dortmund,
Uhlemann, Oberlehrer an der Realschule zu Lippstadt.
Gestorben s
G He mann, Professor Wilh., Conrector am Gymnasium zu Salzwedel,
starb nach mehr als 50jähriger Lehrthätigkeit in den letzten Tagen
des December. (Bekannt als gründlicher Orientalist.)
Hirzel, Dr. Heinr., aus Leipzig, starb noch nicht 25 Jahre alt, am
28 Decbr. zu Rom. (fDe Euripidis in componendis diverbiis arte.»
Bonn 1862.)
Junghans, Dr. Wilh., ord. Professor der Geschichte in Kiel, starb
am 27 Januar 1865 im 31n Lebensjahre.
Konnard, Dr. C, ord. Professor an der Universität Bonn, starb in der
Nacht vom 11/12 Januar 1865.
Ulimann, Dr. theol. Karl, Prälat u. Director des evang. Oberkirchen-
raths zu Karlsruhe, starb am 12 Januar 1865. (Als Exeget, Dog-
matiker und Kirchenhistoriker von hervorragender Bedeutung.)
Viererdt, Dr. Karl Friedr., geh. Hofrath, früher Director des Lyceums
in Karlsruhe, starb am 19 Decbr.
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Inhaltsverzeichnis.
Ackermann: the Christian Clement in Plato and the Piatonic philosophy.
Translated from the German by S. Ralph Asbury, B. A. With an
introductory note by W. G. T. Schedd, D. (Sohwanitz) S. 630 f.
Albanesische Sprachfrage. (Kind) S. 118 f.
Amor and Psyche. (Stadelmann) S. 202 ff.
Anleitung zur Betreibung des Turnunterrichts in den Zürcherischen
Volksschulen. (Kloss) S. 685 ff.
Anmerkungen, lateinische, in den Ausgaben griech. Prosaiker. (Rü-
diger) S. 671 f.
Bässler: Wilfried, episches Gedicht. *
Hellenischer Heldensaal. 2e Aufl. } (Siegfried) S. 565 ff.
Legenden und Balladen. Neue Ausg. '
Berichtigungen. S. 380. 381. 684.
Bomhard: zur Erinnerung an denselben. (Thomas) S. 318.
Brandes: die neugriech« Sprache und die Verwandtschaft der griech.
Sprache mit der deutschen. (Kind) S. 117 f.
Deutsche Litteratur und deutsche Gymnasien während der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts. (Kämmel) S. 633 f.
Dieter: Merkbüchlein für Turner. Herausgegeben von Dr. Angerstein.
6e Aufl. (Kloss) S. 685 f.
Döderlein. Eine biographische Charakteristik. S. 320 f.
, den Manen desselben. (Stadelmann) S. 325.
Elspergers Amtsjubiläum. (G. Fr.) S. 319.
, Festgrusz an denselben. (Stadelmann) S. 326.
Erklärung. GM S. 684.
Erlebtes und Bewährtes aus dem Gebiete der Erziehung. S. 333 f.
Erwiderung. (Dronke) S. 631 f.
Frieke: Declamatorik. Sammlung deutscher, französischer und engli-
scher Declamationsstücke. (Hansen) S. 622 f.
Geographische Repetitionen. Skandinavien. (Foss) S. 696 f.
Geschichtsvortrag in der Prima eines Gymnasiums. (Muther) S. 277 f.
Goethes elegische Dichtungen in ihrem Rechte. (Düntzer) S. 180 f.
Griechenland, litterarische und culturhistorische Mitteilungen. (Kind)
S. 427 f. 476 f. 627 f.
Gymnasialreform. (Roth) S. 1 f.
Hager: hebräisches Vocabularium für Primaner und Secundaner.
(Buddeberg) S. 375 f.
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Inhaltsverzeichnis. 641
Hortung: Themata zu deutschen Ausarbeitungen. (G. in A.) S. 565 f.
Hebräische Poesie, Form derselben* (Ley) S. 246 f.
Herbst: historisches Hülfsbuch für die oberen Classen von Gymnasien
und Realschulen. (Jäger) S. 422 f.
Hiecke: gesammelte Aufsätze zur deutschen Litteratur. (Eckstein)
S. 33 f.
Hitzig: die Psalmen übersetzt und ausgelegt. \flu[ \ a um*
Hupfeld: die Psalmen übersetzt und ausgelegt. ] ^ezger; ö. iö± t.
Horaz: die sechs Römeroden desselben. (Goebel) S. 128 f.
Jacobs: m memoriam Fr. J. (Stadelmann) S. 528.
Jäger: Turnschule für die deutsche Jugend. (Kloss) S. 585 f.
-ieren, die deutsche Verbalendung. (Andresen) S. 373 f.
Klaiber: Evangelische Volksbibliothek, Erster Band. (Mezger) 8. 510 f.
Kloss: Turn-Merkbüchlein für Schulturnanstalten.) /jn * fl -ÖR ~
.• Neue Jahrbücher für die Turnkunst. J 1*iobs; ö. 585 t.
Kohlrausch: Erinnerungen aus meinem Leben. (Kämmel) S. 25 f.
König: Vocabulaire systematique anglais-francais. (R. in P.) S. 74 f.
Lange: die Leibesübungen. Eine Darstellung des Werdens und Wesens
der Turnkunst. (Kloss) S. 585 f.
Leunis: Synopsis der drei Naturreiche. Zweiter Teil: Botanik. (Sigis-
mund) S. 625 f.
Lothholz: das Verhältnis Wolfs und W. Humboldts, (-ck in S.) S. 120.
(Masius): die gesamten Naturwissenschaften. Zweite Aufl. (Sigismund)
S. 36 f.
Mathematik, was ist für den Anfänger Schweres an derselben? (Büchner)
S. 66 f.
Maul: die Freiübungen und ihre Anwendung im Turnunterricht (Kloss)
S. 585 f.
Middendorf und Grüter: latein. Schulgrammatik \
für untere Gymnasialclassen. ( «,,,« « Q„- -
~: lat. Schulgrammatik für mittlere! (rtxlM) ö- 611 '•
und obere Gymnasial classen. *
Migault: Versuch einer englischen Schulgrammatik. «Erste Abteilung.
(R. in P.) S. 503 f.
Neander, Michael : aus dem Jugendleben desselben. (Latendorf) S. 169 f.
Nibelungenstrophe, ihre prosodische und metrische Messung. (Olawsky)
S. 258 f. S. 361 f. S. 381 f. S. 461 f.
Niederdeutsches cht und hochdeutsches ft. (Andresen) S. 635 f.
Niemeyer: deutsche Schulgrammatik. Ein Leitfaden für höhere Schulen.
Zweiter Teil. (Petzoldt) S. 618 f.
Nobbe, Amtsjubiläum. (Herausgeber) S. 529.
Noctes scholasticae. S. 233 f. S. 481 f.
Paldamus: deutsches Lesebuch. Mittlere Stufe. Zweiter Cursus. (Hansen)
S. 620 f.
Palm: Friedrich Kraner. Eine Auswahl aus seinen Schulreden nebst
Nachrichten über sein Leben und Wirken. (Schubart) S. 607 f.
Parchim, Jubiläum des Gymnasiums daselbst. (Herausgeber) S. 530.
Personalnotizen. (Herausgeber) S. 56. S. 229 f. S. 329 f. S. 378 f. S. 477 f.
S. 581 f. 638 f.
Personalnotizen, die jetzige Besetzung der Gymnasien in Schleswig-
Holstein betreffend. (Hennings) S. 636 f.
Peucker: kurze Grammatik der neugriechischen Sprache. (Kind) S. 327.
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642 Inhaltsverzeichnis.
Philologenversammlung au Meiszen, Bericht. (Vogel) S. 44 f. S. 81 f.
Pisano: la practica geometriae. (-h in -n) S. 304 f.
Plaio, über dessen Aassprach: Glücklich der Staat, in welchem die Könige
Philosophen sind. Eine Feftrede. (Wohlrab) 8. 411 f.
Plöiz: lateinische Vorschule. Erster Gnrsus. (Dzialas) S. 513 f.
Programmbesprechungen. (Ostermann) S. 160 f. S. 213 f. S. 313 f.
(Hultsch) S. 572 f.
Putsche: Erinnerungen an Schiller, Goethe, Gessner, Geliert usw. Zum
Behufe deutsch -lateinischer Uebersetzungsübungen. (Funkhaenel)
S. 633 f.
Raschke: proben und grundsäze der deutschen Schreibung aus fünf Jahr-
hunderten. (Lange) S. 79 f.
Religionsunterricht auf den Gymnasien. (Verf. der noctes scholasticae]
S. 57 f.
"**"*•■ Ä Ä-antiqui] (*■ '-) 8- ■« *
Rödiger: Wilhelm Gesenius' hebräische Grammatik, lr Teil. 19e Aufl.
(Mühlberg) S. 309 f.
Schäfer , Dr. Karl, Professor in Erlangen, Nekrolog. S. 228 f.
Schülers Fiesco , eine Textverbesserung zu demselben. (Oncken) S. 581.
Schilling: die verschiedenen Grundansichten über das Wesen des Geistes.
(Fritzscbe) S. 344 f.
Scholl: Grundrisz der Naturlehre. 6e Aufl. (2 = Sigismund) S. 328 f.
Schubert: Lehrbuch der Mineralogie für Schulen. (Sigismund) S. 627 f.
Schulreden. (Von Lübker, Muther, Sigismund, Wohlrab, Schone) S. 18.
S. 277. S. 398. S. 411. S. 429.
Schulwesen, das evangelische höhere in seinem Entwicklungsgänge.
Schulrede. (Lübker) S. 18 f.
, Expose* über einige Fragen desselben und der Gesetzgebung.
(Herausgeber) S. 115 f.
Schwende, Conrad. Ein Lebensbild. (Eberz) S. 610 f.
Shakespeare, als Schulschriftsteller. Eine Schulrede. (Sigismund)
S. 398 f.
r, zum Gedächtnis desselben. Eine Schulrede. (Schöne)
S. 429 f.
Skandinavien, s.» geographische Repetitionen.
Stundenpläne. Vortrag für die Versammlung rheinischer Schulmänner.
(Hansen) S. 443 f.
Süpfle: Aufgaben zu lateinischen Stilübungen, lr Teil für untere und
mittlere Classen. 13e Aufl. (Mühlberg) S. 616 f.
Turnen und Gesundheitspflege in den Schulen. (Kloss) S. 585 f.
Vereinigung der militärischen Instruction mit der Volkserziehung und
insbesondere über militärische Gymnastik. Vier Preisschriften.
(Kloss) S. 585 f.
Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu Meiszen, s.
Philologenversammlung.
rheinischer Gymnasial- und Realschullehrer zu Düsseldorf.
(R. H. in W.) S. 619 f.
von Gymnasial- und Realschullehrern zu Oschersleben.
S. 466 f.
von Gymnasial- und Realschullehrern zu Seehausen. (D.
in S.) S. 472 f.
mittelrheinischer Gymnasiallehrer zu Weinheim. (K. B.)
S. 469 f.
Versetzungen, über dieselben. (Kruse) S. 121 f.
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Naroensverzeichnis. 643
Veicker: das Schulwesen der Jesuiten. (Kämmel) S. 142 f. •
Welantfa Schülerjahre betreffend. Miscelle. (Niemeyer) S. 474. • >,
Zeichenunterricht, über denselben auf Gymnasien und den einschlägig h
gen Lehrplan vom 2 Octbr. 1863. (Gennerich) S. 290 f. 8. 363 f. 4!
Zeitungsanzeigen und höhere Schulen, (fi) S. 300 f. |i
-!
Namensverzeichnis
der an diesem Bande beteiligten Mitarbeiter.
indresen, Dr., Oberlehrer an der Realschule zu Mülheim an der Ruhr.
K. B.
Buddeberg , Dr., Oberlehrer am Gymnasium zu Essen.
Büchner , Dr., Professor in Hildburghausen.
?* in S.
D. in 8.
Dronke, Dr. A., Director der Provinzialgewerbeschule in Coblenz.
Düntzer, Dr., Professor u. Bibliothekar in Köln.
DzüUas, Dr., Gymnasiallehrer in Breslau.
Eberz, Dr., Professor in Frankfurt am Main.
Eckstein, Dr., Gymnasialdirector u. Professor in Leipzig.
Foss, Dr., Professor in Berlin.
Fr., <?., in A.
Fritzsche, Dr. Herrn., Professor in Leipzig.
Funkhaenel, Dr., Hofrath und Gymnasialdirector in Eisenach.
G. in A.
Gennerich , Zeichenlehrer u. Geschiohtsmaler in Berlin.
Goebel, Dr., Gymnasialdirector in Konitz.
-A in -n.
H. in W.
Hansen, Dr., Director der Realschule zu Mülheim an der Ruhr.
Hennings, Dr., Collaborator an der St. Aegidienschule zu Husum.
Hultsch, Dr., Professor am Gymnasium zum h. Kreuz in Dresden.
von Jan, Dr., Professor u. Studienrector in Erlangen.
Jaeger, Dr. O., Rector des Progymnasiums zu Mors.
Kaemmel, Dr., Professor u. Gymnasialdirector in Zittau.
Kind, Dr., Justizrath in Leipzig.
Kloss, Dr., Director der Turnlehrerbildungsanstalt in Dresden.
Kruse, Dr., Oberlehrer an der Realschule in Stralsund.
Lange, Dr. G., in Berlin.
Latendorfy Dr., Gymnasiallehrer in Schwerin.
Ley, Dr., Gymnasiallehrer in Saarbrücken.
Lübker, Dr. th., Director in Flensburg.
Masiust Dr., Professor in Leipzig.
Mezger , Dr. L., Professor in Schönthal.
Muther, Oberlehrer am Gymnasium zu Coburg.
Mühlberg, Dr., Conrector em. zu Mühlhausen.
Niemeyer, Dr., Rector der neustädt. Realschule in Dresden.
Qlamsky, Professor am Gymnasium zu Lissa.
pncken, Dr., Privatdocent in Heidelberg.
wtermann, Dr., Oberlehrer am Gymnasium zu Fulda.
fttzoldt, Dr., Oberlehrer an der neustädt. Realschule zu Dresden.
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644
Ortsverzeichnis.
Pfuhl, Dr., Professor am Vitzthumschen Gymnasium zu Dresden.
Ä., Dr. in P.
Roth, Dr. th., Professor u. Prälat in Tübingen.
Rüdiger, Dr., Rector em. zu Dresden.
Schone, Dr., Oberlehrer am Gymnasium cum h. Kreuz in Dresden.
Schubart, Dr., Gymnasiallehrer in Budissin.
SckmanitZj Dr., Professor in Eisenach.
Siegfried, Dr., Gymnasiallehrer in Magdeburg.
Sigismund, Dr. Berthold, Professor am Gymnasium zu ßudolstadt. f
Stadelmann, Dr., Studienlehrer in Memmingen.
Vogel, Dr., Gymnasiallehrer in Zwickau.
Wohbrah, Dr., Oberlehrer am Gymnasium zum h. Kreuz in Dresden.
Der Verfasser der rNoctes scholasticae'.
Der Verfasser von f Erlebtes und Bewährtes aus dem Gebiete der fr
Ziehung9.
Ortsverzeichnis
der in diesem Bande besprochenen Programme.
Aachen 221.
Arnsberg 215.
Bedburg 224.
Bielefeld 216.
Bonn 224.
Braunsberg 160.
Brilon 215.
Budissin 672.
Burgsteinfurt 216.
Cleve 226.
Coblenz 226.
Coesfeld 216.
Culm 160.
Danzig 160.
Deutsch-Crone 161.
Dortmund 216.
Dresden 574.
Duisburg 225.
Düren 226.
Düsseldorf 226.
Elberfeld 226.
Elbing 162.
Emmerich 227.
Essen 227.
Grimma 576.
Gumbinnen 162.
Gütersloh 217.
Hamm 217.
Herford 217.
Hohenstein 162.
Insterburg 162.
Kempen 227.
Konitz 164.
Köln 313.
Königsberg 163.
Kreuznach 315.
Landshut 150.
Leipzig 577.
Lyck 165.
Marienwerder 165.
Meiszen 578.
Memel 166.
Metten 151.
Minden 218.
München 151.
Münnerstadt 154.
Münster 218.
Münstereifel 315.
Neuburg 155.
Neusz 315.
Neustadt i. W. 167.
Nürnberg 155.
Paderborn 219.
Passau 156.
Plauen 578.
Rastenburg 167.
Hecklinghansen 219.
Begensburg 157.
Saarbrücken 315.
Schweinfurt 157.
Soest 219.
Speier 158.
Straubing 159.
Thorn 167.
Tilsit 168.
Trier 316.
Warendorf 219.
Wesel 316.
Wetzlar 816.
Würzburg 159.
Zittau 579.
Zweibrücken 160.
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Zweite Abteilung.
Seite
47«, Neues vom Turnen und der Gesundheitspflege in den
Schulen. Vom Director Dr. M. Kloss in Dresden . . . 586—596,
48. Geographische Kepetitionen. I. Skandinavien. Vom Prof.
Dr. R. Foss in Berlin • 596—607
49. Friedrich Kraner. Eine Auswahl aus seinen Schulreden
nebst Nachrichten über sein Leben und Wirken von
Friedrick Palm. Angez. vom Oberlehrer Dr. Schubart in
Budissin 607—610
50. Conrad Schwende. Vom Prof. Dr. A. Eberz in Frankfurt
am Main 610—616
51. Süpfle: Aufgaben zu lateinischen Stilübungen. Erster Teil.
13e Aufl. (Karlsruhe 1862.) Angez. vom Conrector Dr.
Mühlberg in Mühlhausen 616—618
* 52. Niemeyer: Deutsche Schulgrammatik. Ein Leitfaden für
höhere Schulen. II. Teil. (Dresden). Angez. vom Ober-
lehrer Dr. Petzoldt in Dresden 618—620
53. Paldamus: Deutsches Lesebuch. Mittlere Stufe. 2r Cur-
sus. (Mainz 1862.) Angez. vom Director Dr. Hansen in
Lennep 620—622
54. Fricke: Declamatorik. Sammlung deutscher, französischer
und englischer Declamationsstücke. Zur Unterstützung
des Geschichtsunterrichts. (Mainz 1862). Angez. von
Demselben 622—624
55. Leunis: Synopsis der drei Naturreiche. Ein Handbuch
für höhere Lehranstalten. II. Teil: Botanik. Erste
Hälfte (Hannover 1864.) Angez. vom Prof. Dr. Sigis-
mund in Rudolstadt 625—527
56. Schubert: Lehrbuch der Mineralogie für Schulen. (Er-
langen.) Angez. von Demselben 627 — 628
57. Wagner: Entdeckungsreisen in Feld und Flur.
: Entdeckungsreisen im Wald und auf der Haide.
(Leipzig, Spamer.) Angez. von Demselben 629
58. Ackermann: The Christian Element in Plato. Translated
froin the German by S. Ralph Asbury. (Edinburgh 1861.)
Angez. vom Prof. Schwanitz in Eisenach 630—632
59. Putsche: Erinnerungen an Schiller, Goethe, Gesner, Gel-
iert, Anna Amalia, Carl August, Friedrich August I und
Friedrich August II von Sachsen. Zum Behufe deutsch-
lateinischer Uebersetzungsübungen, nach neulateinischen
Classikern ausgearbeitet. (Jena, Mauke 1864.) Angez.
vom Hofrath Prof. Dir. Dr. Funkhaenel in Eisenach . . 633—634
60. Andresen: wörter der deutschen Schriftsprache, welche
niederd. cht für hochd. ft tragen 635—636
Die jetzige Besetzung der Gymnasien in Schleswig-Hol-
stein 636—637
Personalnotizen 638—639
Inhaltsverzeichnis des ganzen Bandes 640—643
Namensverzeichnis der an demselben beteiligten Mitarbeiter 643—644
Ortsverzeichnis der in demselben besprochenen Programme 644
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Leipzig,
Druck und VerUg von B. G. Tenbner.
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3 2044 019 220 177
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