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Full text of "Neue Schweizer Rundschau"

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WISSENUND 
LEBEN 


SCHWEIZERISCHE 
HALBMONATSSCHRIFT 


XII.  BAND 
1.  APRIL  1913  - 15.  SEPT.  1913 


Verlag  von  RASCHER  &  Ol,  Zürich 


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HA-ST  EINER 


INHALTSVERZEICHNIS 

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ÖALLY,  CH.    Le  Langage  et  la  Vie 590 

BARAGIOLA,  E.  N.    L'Eroica ,    766 

BAUR,  A.    Künstlertypen 128 

Die  internationale  Kunstausstellung  in  München    .....*    370 

Laiengedanken  über  eine  Gelehrtenbibel 441 

Der  Weg  zum  Akt 503 

Zürcher  Kunstnachrichten 575,  703 

La  Svizzera  farä  da  se 577 

Das  „unverdorbene"  Volk 75t 

BENZIGER,  C.  Ausstellungszentralen  für  Kunst  und  Kunstgewerbe     1,  100 
Wünsche  und  Richtlinien  für  das  Schweiz.  Bibliothekwesen    645,  711 

BLOCHER,  E.    Die  Zürcherbibel A.^    .    .    164 

V.  BODMAN,  E.    Gesang  vom  Berge r/f^    •    •    ^^ 

BOVET,  E.    Nach  der  Schlacht  .  ^  O-'-^v    -        -    -  J^   ^        •      65 
Au  Conseil  Fedßral     .    ...    f^  .io\  .    .    .    .  J^  .    .    .    257 

Discorso  tenuto  a  Lugano AV    .    .    .  h.!  ....    446 

Sully  Prudl^'omme .« av/ ^:  •    .IQ/^.    .    .   1    .    .    /Vh^'   •    •    672 


Vereinte  Kräfte  .    .'..'.    .    .    .    ^  Ji.    .    .   rT.    .^  .    .    .  705 

BOVET,  R.    L'etablissement  des  Germ^insj^Suisse    >*3  "^'    •    •  217 

ERNST,  P.    Die  Güte.    .^.i.    ^^^^^-^ -t-^/f  -    •    •  ^^9 

Die  Nächstenliebe  ""^^^^F^^^-v^ ("^  fi  13 -"-^  591 

FALKE,  K.    Reformationslied ...":....  666 

FENIGSTEIN,  B.    Vollständige  Gesamtausgaben 379 

FICK,  F.    Zur  Kritik  der  Rechtspflege  im  Kanton  Zürich 717 

FIERZ,  A.    Deutsche  Lyriker  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ....  636 

FRÄNKEL,  J.    Erich  Schmidt  und  die  schweizerischen  Dichter  .    .    .  309 

GLATT,  L.    „Gyges  und  sein  Ring" * 310 

GOLAY,  G.    Le  theätre  et  les  lettres 247 

Le  dernier  roman  de  M.  C.-F.  Ramuz 561 

ÖOUMAZ,  L.    L'institut  J.-J.  Rousseau  ä  Geneve 182 

ÖREYERZ,  TH.    Sprachenfrage  in  Österreich 87,  176,  237 

GRIMM,  H.  A.    Das  eine  und  das  andere  Ich ^  708 

GYGAX,  P.    Wilson  und  Poincare .  l2 

Kurze  Anzeigen 256 

Bei  Aristide  Briand 333 

Zur  Sparkassenfrage ,    .  4^ 

Die  südslawische  Frage  im  Habsburgerreiche     .......  5flS 

Krieg  und  Volkswirtschaft .  625 

Bebel .  6ery 

Jungtürkische  Wirtschaftspolitik 7Ä0 

HALPERIN,  J.    Zu  Carl  Meissnei':  Cäfl  Spitteler -    .    .  l24 

Salomon  D.  Steinberg:  Die  Bläue  Stunde leA 


Seite 

HARDUNQ,  V.    Hirtenfeuer 671 

HESSE,  H.    Chinesenfest  in  Singapore 193 

HERTZ,  H,    L'esprit  politique  chez  les  ecrivains  frangais  .    .    .     410,  475 

HUG,  O.    Parsifal 189 

HUNZIKER,  G.    Einst  in  Afrika 605,  657 

JELMOLl,  H.    Heimische  Lieder 573 

JHERING,  H.    Berliner  Premieren .  60 

Berliner  Frühjahrssaison    .....;..; 251 

Dilettanten,  Künstler  und  Radaubrüder  ,    ...    i    ....    .  570 

KAESLIN,  H.    Drei  Rheinlands-Oden 513 

KEEL,  C.  F.    Die  Einigungsvorschläge  zum  Fabrikgesetzentwurf    .    .  641 

KLINGER,  R.    Schmutz  und  Hygiene 754 

KORRODI,  E.    Anmerkungen  zu  Büchern 567 

Thomas  Mann 690 

LANG,  R.  J.    Die  Schuld  des  Gottlob  Schleicher 349 

Frühe,  zwischen  Tag  und  Nacht 358 

Arnold  Reitzenstein 762 

LIENERT,  M.    Der  Milchfälscher 15,  77 

MAIER,  H.  W.    Die  Ziele  der  ärztlichen  Seelenforschung   .    .    .     555,  596 

MARTIN,  W.    Haut  les  coeurs!  . 144 

MAURER,  A.    Der  schweizerische  Nationalphilosoph 224 

MAYR,  W.    Le  reveil  de  l'esprit  national  en  France 631 

MENSENDIECK,  O.    Parsifal .  743 

V.  MEYENBURG,  L.    Zwei  Gedichte ...  14 

MOESCHLIN,  F.    Der  Lederhändler 387 

MOLDEN,  B.    Österreich-Ungarn  in  der  Orientkrise .  150 

MORAX,  R.    Romain  Rolland 549 

MÜLLER,  F.    Das  Jubiläum 460 

Schmutz :  695 

OCZERET,  H.    Helene  von  Willemoes 737 

V.  ORELLI,  B.    Gedichte 338 

PERRET,  P.    Le  Salon  genevois 377 

PFISTER,  O.    Eltern  und  Kinder .  544 

PißRARD,  L.    L'art  en  Belgique 506 

Camille  Lemonnier 580 

PRECONI,  H.  G.    Der  Kongostaat  Leopolds  II 764 

RIKLIN,  F.    Betrachtungen  zur  christlichen  Passionsgeschichte  ...  26 

ROELLI,  H.    Lieder 390 

ROGER-CORNAZ,  F.    Les  incomparables .  339 

RÖSSEL,  V.    La  „Muse"  de  Flaubert 292 

Une  exhumation 728 

RYTZ,  W.    Wesen  und  Bedeutung  der  Naturdenkmäler 497 

SAX,  K.    Sprüche ,  207 

Die  heilige  Magdalene 515 

SCHEIDT,  C.  Vereinfachung  der  Staatsverwaltung      321,  391,  462,  531,  613 

SCHIBLI,  E.    Auf  einem  Heimweg .  71 

SCHMIEDEL,  P.    Die  Revision  der  Zürcherbibel     ........  281 


Seite 

SCHOLLENBERQER,  H.    Aus  Ilse  Frapans  Werdezeit 432 

SCHULER,  H.    Die  Folgen 129 

SIEBEL,  J.    Auf  Mutters  Arm 548 

SINGER,  S.    Die  Ursprünge  der  Poesie 419,  485 

STEIGER,  J.  Betrachtungen  zur  Annahme  des  Gotthardvertrags  134,  194,260 

Zur  eisenbahnpolitischen  Lage  im  Westen  und  Osten    .    .     449,  521 

STEINBERG,  S.  D.    Ein  Lied  zum  Wein 612 

STEFAN,  P.    Die  Feindschaft  gegen  Wagner 208,  270 

TROG,  H.    Schauspielabende 123,191,254,381,510 

Ein  italienischer  Novellenband 635 

Zur  Ökonomie  künstlerischer  Kräfte .    761 

VERHAEREN,  E.    Supreme  Apotheose 348 

WALTHER  VON  DER  VOGELWEIDE.    Irdisches  Glück 694 

ZIMMERMANN,  J.  P.    La   morale   laique  au  commencement  du  dix- 

huitieme  siöcle 47,  111 

ZOLLINGER,  M.    Viktor  Hehn 299,  359 

Das  Sonnenland 627 

Aus  Chamberlains  „Goethe" 319 

Kurze  Anzeigen 63,  384,  755 


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*  W.  FEUZ  . 
Korbflechter 


Aus  dem  Schweizer 
Jahrbuch  für  Kunst 
u.  Handwerk    m.  Q. 


AUSSTELLUNGSZENTRALEN  FÜR 
KUNST  UND  KUNSTGEWERBE 

Es  ist  heute  wohl  eine  anerkannte  Tatsache,  dass  Ausstel- 
lungen unstreitig  als  eines  der  vernünftigsten  und  wirksamsten 
Propagandamittel  angesehen  werden  müssen.  Sie  bilden  nicht  nur 
eine  wirksame  Anregung  und  Reklame  im  Konkurrenzkampfe, 
sie  sind  ebensosehr  berufen,  einen  mächtigen  Einfluss  auf  die 
Erziehung  und  Bildung  der  Allgemeinheit  auszuüben.  Praktische 
Zwecke  mit  idealen  zu  vereinen,  soll  die  Aufgabe  der  vorge- 
schlagenen Neugründung  sein.  Wir  wollen  also  keine  Wohltätig- 
keitsinstitution im  Sinne  einer  bloßen  ästhetischen  Bildungsanstalt 
schaffen,  wir  wollen  vielmehr  neue  Absatzgebiete  erschließen  und 
gleichzeitig  den  Geschmack  des  konsumierenden  Publikums  bilden. 
Die  Anregung  zur  künstlerischen  und  technischen  Verbesserung 
der  Erzeugnisse  glauben  wir  am  besten  durch  die  Ausstellung  ge- 
eigneter Vorbilder  und  des  Guten,  das  bereits  in  Kunst  und  Ge- 
werbe geschaffen  wurde,  geben  zu  können.  In  den  nachfolgenden 
Zeilen  möchten  wir  einige  Gesichtspunkte  als  für  unsere  Zwecke 
besonders  maßgebend  und  wegleitend  betonen. 

Eine  den  beiden  genannten  Zwecken  dienende  Ausstellung 
soll  nicht  vom  Spekulationsstandpunkte,  wohl  aber  vom  kauf- 
männischen Gesichtspunkte  aus  organisiert  werden.  Wir  müssen 
es  vermeiden,  schulmäßige  Pedanterie  und  Museumsbegriffe  un- 
serem Unternehmen,  das  praktische  Zwecke  verfolgt,  zu  Grunde 
zu  legen.  Eine  Ausstellung  in  unserem  Sinne  soll  dem  wirtschaft- 
lich Starken  wie  dem  wirtschaftlich  Schwachen  im  selben  Maße 

1 


nützen  und  helfen,  indem  sie  auf  der  einen  Seite  das  Beste  för- 
dert, auf  der  andern  eine  minderwertige  Produi<tion  durch  gute 
Vorlagen  hebt.  Eine  solche  Ausstellung  soll  aber  auch  dem 
Reichen  wie  dem  Wenigerbemittelten  Gelegenheit  geben,  seinem 
Geschmacke  Rechnung  zu  tragen,  den  Produzenten  durch  gute 
Erwerbungen  zu  eigenem  neuem  Schaffen  anspornen  und  alle  zu 
ständiger  Unterstützung  des  wirklich  Schönen  und  Guten  anregen. 

Jeder  Besucher  besitzt  in  einer  rationellen  Ausstellung  den 
sichern  Gradmesser  für  die  Entwicklung  und  Bedeutung  des  Aus- 
stellungsobjektes, die  Ausstellung  ist  das  beste  Fähigkeitszeugnis 
für  jeden  Interessenten,  in  unseren  rasch  lebenden  Zeiten,  wo 
dem  tiefen  Eindringen  in  die  Materie  nicht  mehr  die  bisher  ge- 
wohnte Muße  gestattet  ist,  kommt  es  darauf  an,  durch  Vor- 
führung der  Objekte  ein  langes  Studium  zu  ersetzen.  Durch  den 
Vergleich  werden  wir  am  besten  unsere  Ideen  bilden  und  selbst- 
verständlich auch  fördern.  Eine  wirtschaftliche  Hebung  der  Pro- 
duktion ist  die  nächste  Folge  und  damit  erreichen  wir  selbstver- 
ständlich auch  ein  erhöhtes  Absatzgebiet  für  wirklich  gute  Ware. 
Eine  sorgfältig  vorbereitete  Veranschaulichung  der  verschiedenen 
Erzeugnisse  im  Rahmen  ihrer  jeweiligen  Bestimmung  bietet  ein 
unerreicht  instruktives  Bild  der  Entwicklung,  der  Technik  und 
des  Fortschrittes  auf  den  betreffenden  Gebieten;  sie  bildet  für  den 
Besucher,  speziell  für  den  Gewerbetreibenden  die  beste  Gelegen- 
heit, sich  aus  eigener  Überzeugung  über  die  Qualität  und  die 
zweckentsprechende  Ausführung  der  Objekte  ein  klares  und  rich- 
tiges Urteil  zu  bilden. 

Dadurch,  dass  gerade  das  Beste  nur  noch  gut  genug  erscheint, 
überschreitet  eben  die  Produktion  in  ihrem  Wetteifer  ihre  nor- 
male Leistungsgrenze  — sie  strebt  der  möglichsten  Vollkommenheit 
entgegen. 

Hand  in  Hand  mit  der  steigenden  Leistungsfähigkeit  geht  aber 
immer  die  erhöhte  Nachfrage,  deren  Befriedigung  wieder  das 
wirtschaftliche  Emporblühen  und  Gedeihen  von  Gewerbe,  Indu- 
strie und  Handel  im  natürlichen  Gefolge  hat.  J.  M.  Cally  in  sei- 
nen Studien  über  das  Ausstellungswesen  betont  nicht  mit  Unrecht 
die  Selbständigkeit  der  Ausstellung.  Er  sagt: 

„Ein  hervorragendes  Moment  wirtschaftlichen  Wertes,  das  der 
Ausstellung  als  eigen  zugebilligt  werden  muss,   ist  auch  die  der 


Produktion  gebotene  Möglichkeit,  mit  dem  Konsum  in  direkten 
Kontakt  zu  treten,  sich  also  aus  den  bedrückenden  Fangarmen 
des  Zwischenhandels  mit  Erfolg  zu  befreien  und  solcher  Art  un- 
behindert einer  notwendigen  wirtschaftlichen  Konsolidierung  ent- 
gegen zu  schreiten. 

„Die  wichtigste  und  bedeutungsvollste  aus  ihr  resultierende 
Konsequenz  ist  die  Hebung  des  Selbstbewusstseins  der  Beteiligten, 
die  Stärkung  des  Vertrauens  in  ihre  Leistungsfähigkeit  und  die 
Aneiferung  derselben,  immer  weiter  vorwärts  zu  streben,  um  auf 
der  gewonnenen  festen  Basis  immer  mehr  und  mehr  das  Ziel 
allen  menschlichen  Ringens,  wirtschaftlichen  Wohlstand,  zu  er- 
reichen." 


Nach  der  Auffassung  der  maßgebenden  Kreise  wird  in  der 
Schweiz  infolge  partikularistischer  Bestrebungen  und  mangelhafter 
Organisation  die  große  Bedeutung  des  Kunstgewerbes  für  Handel 
und  Industrie  viel  zu  wenig  gewürdigt.  Auch  die  „hohe"  Kunst 
wird  nicht  im  verdienten  Maße  gewürdigt,  immerhin  haben  ein 
regeres  Kunstleben  und  die  energische  Arbeit  auf  den  Absatz  ihrer 
Produktion  bedachter  Künstler  hier  bereits  eine  intensivere  und 
erfolgreiche  Betätigung  geschaffen.  Wir  besitzen  jetzt  einen  na- 
tionalen Kunstsalon,  verschiedene  meist  regionale  künstlerische 
Veranstaltungen,  einige  bedeutende  geschäftliche  Unternehmun- 
gen, denen  allen  an  der  Hebung  der  künstlerischen  Arbeit  sehr 
gelegen  ist.  Wie  arm  steht  dagegen  das  Kunstgewerbe  da,  wie 
gering  sind  heute  nicht  seine  Beziehungen  zu  unseren  großen 
einheimischen  Industrien.  Von  einer  Vertretung  jenseits  der 
Grenzen  kann  überhaupt  nicht  gesprochen  werden.  Wie  gering 
sind  vor  allem  die  Mittel,  die  jährlich  dafür  ausgegeben  wurden 
und  wie  beschränkt  ist  nicht  ihre  Verwendung.  Den  Behörden 
darf  füglich  der  Vorwurf  gemacht  werden,  dass  sie  künstlerischen 
Bestrebungen,  welcher  Art  sie  auch  seien,  ob  geschäftlichen  oder 
idealen  Motiven  entsprungen,  eine  gewisse  Teilnahmslosigkeit  ent- 
gegenbringen. Es  mag  ein  Teil  falsch  verstandener  puritanisch- 
republikanischer Einfachheit  dahinter  stecken,  die  sich  in  der 
gegenwärtigen  Zeit  bei  dem  immer  mehr  sich  ausprägenden  Kunst- 
empfinden   aller    Volksschichten   nicht    ohne   Schaden   für   eine 


Nation  aufrechterhalten  lässt.  Der  Staat  fördert  zwar  durch  verschie- 
dene Subventionen  i<unstgewerbh'che  Lehranstahen,  denen  er  als 
Demonstrationsmaterial  noch  Gewerbemuseen  beifügt.  Der  Staat 
sucht  auch  Kunstgewerbetreibende  heranzubilden,  bedenkt  aber 
dabei  nicht,  dass  derjenige,  der  den  Produzenten  schafft,  auch 
selbst  als  Konsument  eintreten  soll  oder  doch  wenigstens  für 
Konsumenten  besorgt  sein  muss.  Nach  dieser  Seite  hin  soll  die 
vorgeschlagene  Zentrale  besonders  tätig  sein. 

In  ihren  Ausstellungen  will  die  Zentrale  vorerst  alles  Gute,  das 
bereits  in  derSchweiz  vom  Kunstgewerbe  und  verwandten  Industrie- 
gebieten geschaffen  worden  ist,  den  interessierten  Mitbürgern  zur 
Veranschaulichung  bringen.  Wir  legen  einstweilen  das  Hauptgewicht 
auf  die  Kunst  in  Gewerbe  und  Industrie,  die  sicherlich  ein  dank- 
bares Produzentenmaterial  aufweisen  werden,  sobald  sie  sich 
kräftig  und  wirkungsvoll  unterstützt  sehen.  Ob  die  Kunst  als 
solche  direkt  in  den  Rahmen  unserer  Ausstellungen  gehört,  lassen 
wir  dahingestellt;  für  den  Anfang  werden  wir  uns  wohl  ganz  be- 
sonders des  Kunstgewerbes  annehmen  müssen.  Ich  glaube  zwar, 
dass  solange  wir  die  vornehmen  Kunstwerke  vom  rein  dekorati- 
ven Standpunkte  aus  betrachten,  diese  unbedingt  auch  mit  ein- 
geschlossen werden  müssen.  Wenn  wir  also  zum  Beispiel  Bronze- 
arbeiten auszustellen  haben,  werden  wir  uns  nicht  mit  den  Pro- 
dukten der  Industrien,  einzelner  Handwerker  und  Gewerbeschüler 
begnügen,  wir  werden  sicheriich  auch  die  Kleinplastik  unserer 
Künstler  mit  ausstellen.  Umgekehrt  dürfen  wir  für  unsere  Aus- 
stellungen aber  auch  nicht  allgemein  die  absolute  l'art  pour  l'art- 
Theorie  gelten  lassen;  bei  vielen  kunstgewerblichen  Objekten  liegt 
die  Lösung  eben  in  einer  Vermittlung  zwischen  praktischen  und 
ästhetischen  Werten.  Immerhin  soll  der  Künstlerschaft  jeder 
Richtung  die  Aufnahme  gesichert  sein. 

Bisher  beschränkten  sich  unsere  Ausstellungen  meistens  auf 
einzelne  Städte  und  Zonen,  ein  Überblick  über  unsere  gesamte 
schweizerische  Leistungsfähigkeit  in  den  einzelnen  Gebieten  des 
Kunstgewerbes  und  der  verwandten  Industrie  war  so  gut  wie 
ausgeschlossen.  Wir  bekamen  wohl  auch  fremde  „Mustersamm- 
lungen" in  unseren  Gewerbemuseen  zu  sehen,  ein  gleichzeitiger 
Vergleich  an  Ort  und  Stelle  mit  den  einheimischen  Produkten 
konnte  nur  in  den  seltensten  Fällen  angestellt  werden.  Und  doch, 


wie  lehrreich  wäre  dieser  Vergleich  nicht  oft  ausgefallen.  Hätten 
wir  nicht  oft  den  inländischen  Erzeugnissen  den  Vorzug  gegeben, 
hätte  eine  solche  Einsicht  unser  einheimisches  Gewerbe  nicht  tat- 
kräftig unterstützt?  Es  fehlt  also  am  gegenseitigen  Sichkennen, 
an  der  häufigen  Gelegenheit  zum  Studium  unserer  guten  Pro- 
duktion, dafür  beschenkt  uns  das  Ausland  um  so  reichlicher  mit 
seiner  „besten"  Ware.  Wir  erinnern  nur  an  die  zahlreichen  An- 
denken, mit  denen  die  Schweiz  bei  Anlass  des  Kaiserbesuches 
beglückt  worden  ist,  von  den  kurrenten  Handelsobjekten  der 
Fremdenindustrie  wollen  wir  nicht  sprechen.  Der  Private  und 
zum  Teil  auch  der  Geschäftsmann  kennt  den  schweizerischen 
Markt  auf  unsern  Gebieten  sehr  wenig,  die  große  Zersplitterung 
bildet  zweifellos  das  Haupthindernis  an  diesem  Übelstande.  Die- 
jenigen, die  dazu  berufen  wären,  Abhilfe  zu  schaffen,  die  Gewerbe- 
museen und  kleinen  lokalen  Ausstellungen  erreichen  in  ihren 
kleinen,  oft  sehr  beengten  Grenzen  oft  einen  nur  scheinbaren 
Erfolg,  ja  man  geht  bei  diesen  Veranstaltungen  manchmal  aus 
kollegialen  Rücksichten  nicht  gern  in  das  Wirkungsfeld  des  Nach- 
barinstitutes, wiewohl  vielleicht  der  Nachbar  gerade  die  guten 
Objekte,  die  ihm  vorenthalten  wurden,  für  sein  Gewerbe  ganz 
besonders  nötig  gehabt  hätte.  Eine  weitere  nachteilige  Folge 
unserer  gegenwärtigen  Verhältnisse  besteht  darin,  dass  vielerorts 
die  Schulung  der  Ausstellungsleiter  wie  der  Käufer  fehlt,  das 
kaufkräftige  Publikum  wendet  sich  daher  lieber  an  das  Aus- 
land, wo  ihm  für  alle  seine  guten  und  schlechten  Wünsche 
volle  Befriedigung  gewährt  wird.  Der  Mangel  an  Aufträgen 
wirkt  auf  unsere  Produzenten  äußerst  verhängnisvoll,  nicht 
weil  wir  in  der  Schweiz  keine  Konsumenten  hätten,  nein,  weil 
für  unsere  kunstgewerblichen  Einkäufe  stets  noch  das  Ausland 
bevorzugt  wird.  Der  internationale  Konkurrenzkampf  zwingt  uns 
zur  Organisation,  wenn  wir  nicht  durch  ausländische  Massen- 
suggestion erdrückt  sein  wollen.  So  schwach  der  Einzelne  viel- 
leicht dasteht,  so  bestimmt  darf  das  vereinte  Gewerbe  auftreten, 
dank  seiner  vorzüglichen  Qualität  kann  es  jederzeit  den  Kampf 
aufnehmen.  Mit  der  Steigerung  der  Qualität  unserer  Erzeugnisse 
werden  wir  stets  verkaufskräftiger,  wir  mehren  unseren  nationalen 
Reichtum  nur  durch  ein  zielbewusstes,  organisiertes  Vorgehen. 
Wir  können  an  dieser  Stelle  die  für  unser  geschäftliches  und 


nationales  Leben  äußerst  lehrreiche  Schrift  von  Professor  Dr. 
P.  H.  Schmidt  „Die  schweizerischen  Industrien  im  internationalen 
Konkurrenzkampfe",  Zürich  1912,  nicht  genügend  zum  Studium 
empfehlen.  Die  darin  geäußerten  Bemängelungen  unserer  gegen- 
wärtigen Verhältnisse  lassen  sich  in  der  Großindustrie  wie  im 
Kleingewerbe  deutlich  fühlen.  Ihnen  auf  einem  Gebiete  abzuhelfen 
soll  die  Aufgabe  unserer  Neugründung  sein. 

Ein  wichtiger  Faktor,  der  für  die  Schweiz  ganz  besonders  in 
Betracht  fällt,  liegt  in  der  Erschließung  unserer  Ausstellungen  für 
einen  möglichst  ausgedehnten  Kreis  von  internen  wie  auswärti- 
gen Besuchern.  In  erster  Linie  sollen  unsere  Ausstellungen  frei- 
lich dem  internen  interkantonalen  Verkehr  dienen,  sie  sollen  es 
ermöglichen,  wirklich  Wertvolles  und  Gutes  an  verschiedenen 
Orten  der  Schweiz  einsehen  zu  können. 

Dann  aber  sollen  unsere  Produkte  auch  dem  Auslande  ge- 
zeigt werden;  die  meisten  unserer  Nachbarstaaten  beschicken 
unser  Land  mit  einer  Menge  von  größern  und  kleinen  Ausstel- 
lungen, von  denen  leider  nur  die  wenigsten  für  uns  von  prakti- 
schem Werte  sind.  In  den  meisten  Fällen  handelt  es  sich  um 
geschäftliche  Unternehmungen,  die  einzig  auf  den  Absatz  der 
fremden  Ware  bedacht  sind.  Tun  wir  das  selbe,  aber  bringen 
wir  unsere  Produkte  in  sorgfältigerer  Auswahl  und  geschickterer 
Kombination,  dann  dürfen  wir  sicherlich  in  vielen  Gebieten  den 
Vergleich  in  Ehren  bestehen,  ja  noch  mehr,  wir  dürfen  zweifellos 
auch  auf  Absatz  über  der  Grenze  rechnen. 

Unsere  Ausstellungen  sollen  durch  Vereinheitlichung  in  der 
Beschaffung  der  Objekte  und  durch  Verteilung  der  allgemeinen 
Transport-  und  Installationskosten  eine  um  so  größere  Abwechs- 
lungsmöglichkeit bieten.  Die  Vereinheitlichung,  bei  der  den  Wün- 
schen der  einzelnen  Ausstellungsübernehmer  nach  Möglichkeit 
Rechnung  getragen  würde,  hätte  den  unbedingten  Vorteil  eines 
systematischen  und  bewussten  Vorgehens.  Für  den  Verkauf 
würden  die  Absatzchancen  vergrößert,  das  Risiko  verkleinert. 

Es  wäre,  wir  hoffen  es  bestimmt,  wohl  auch  berechtigte 
Aussicht  vorhanden,  dass  fortab  auch  der  Staat  als  Abnehmer 
auftreten  würde.  Mit  den  Jahren  würde  seine  Wahl  wohl  auch 
kritischer,  er  würde  zweifellos  ähnlich  wie  andere  Länder  seine 
Schulen    und    öffentlichen    Gebäude    mit   bleibenden   Denkmalen 


schweizerischen  Gewerbefleißes  zieren  und  damit  die  schweren 
künstlerischen  Vergehen  so  mancher  sonst  verdienstvoller  Politiker 
wieder  gut  machen.  Unsere  Kinder  mögen  sich  dann  für  einen 
solchen  patriotischen  Akt  dankbar  zeigen. 

Der  Austausch  unserer  verschiedenen  kantonalen  Eigenheiten 
würde  unser  nationales  Bewusstsein  heben  und  eine  typisch 
schweizerische  Gestaltung  auf  den  verschiedensten  Gebieten  der 
Kunst,  des  Gewerbes  und  der  Industrie  stärken  und  kräftigen, 
ein  Umstand,  der  selbstverständlich  auch  dem  Ausland  gegenüber 
uns  kräftiger  und  zielbewusster  auftreten  ließe.  Für  die  fremden 
Besucher  einer  solchen  Ausstellung  schafft  die  Schweiz  damit  eine 
günstige  Gelegenheit,  durch  augenscheinliche  Vorführung  der  er- 
zielten Leistungen  diese  dem  Auslande  auch  rasch  und  gründlich 
bekannt  zu  machen,  auf  billige  und  bequeme  Art  neue  Beziehungen 
anzuknüpfen,  sie  unterstützt  damit  auch  handelspolitische  Bestre- 
bungen des  Staates  wirkungsvoll.  Umgekehrt  böte  sie  aber  auch 
der  Schweiz  Gelegenheit,  durch  Vermittlung  der  Zentrale  aus- 
ländische Musterarbeit  zum  vergleichenden  Studium  einzusehen. 
Damit  ließe  sich  gerade  in  denjenigen  Gebieten,  in  denen  die 
nachbarliche  Konkurrenz  uns  zurzeit  noch  überflügelt,  ein  neuer 
Ansporn  zum  energischen  Wettkampfe  erzielen.  Durch  eine  solche 
wirkungsvolle  Vermittlung  von  Ausstellungen  bietet  sich  ganz  be- 
sonders für  tüchtige  junge  Künstler,  kleinere,  strebsame  Firmen 
und  Gewerbetreibende  Gelegenheit,  oft  ungeahnt  schnell  in  den 
Vordergrund  zu  treten,  und  es  braucht  nicht  betont  zu  werden, 
dass  Ausstellungen  mit  Aufwand  geringster  Mittel  oft  große  prak- 
tische Erfolge  erzielen. 


Es  ist  selbstverständlich,  dass  eine  neu  ins  Leben  gerufene 
Ausstellungszentrale  unmöglich  von  Anfang  an  die  verschiedensten 
Gebiete  wirksam  bearbeiten  kann.  Ebenso  dürfte  es  in  der 
Schweiz  genügend  bekannt  sein,  dass  wir  vorderhand  bei  den  be- 
schränkten Ausstellungsräumen  uns  unmöglich  auf  größere  indu- 
strielle Turnusausstellungen  einlassen  könnten.  Diese  bedingen 
Raum-  und  Finanzverhältnisse,  die  einstweilen  nur  in  den  selten- 
sten Fällen  uns  zur  Verfügung  stehen.  Wir  sollten  von  beschei- 
denerem Standpunkte  ausgehen  und  einstweilen  unsere  volle  Kraft 


dem  Aufblühen  eines  immer  noch  ziemh"ch  darniederliegenden 
Kunstgewerbes  widmen.  Wir  sollten  unserer  Kunst,  die  vielfach 
im  Auslande  mehr  geachtet  dasteht  als  bei  uns,  eine  starke,  selb- 
ständige Position  schaffen.  An  Interesse  und  Fähigkeiten  fehlt 
es  in  unseren  Ländern  nicht.  Sicherlich  würde  es  der  französische 
oder  italienische  Schweizer  begrüßen,  wenn  deutschweizerischer 
Gewerbefleiß  ihnen  in  seinen  besten  Leistungen  vorgeführt  wird 
und  umgekehrt.  Das  Problem  der  Förderung  des  Exportes  nach 
dem  Ausland  wird  in  der  Schweiz  zur  Lebensfrage.  Warum  sollen 
wir  nicht  alle  Mittel  und  Wege  versuchen?  Stellt  sich  das  Unter- 
nehmen auf  einen  interkantonalen  geschäftlichen  Standpunkt,  dann 
gewinnt  das  Interesse  bedeutend.  Eifersüchtige  Reibereien  und  Kon- 
kurrenzneid werden  vermieden.  Ausstellungen,  die  in  Genf  Interesse 
erregten,  dürften  auch  in  St.  Gallen  gerne  gesehen  werden.  Statt 
dass  wie  bisher  jedes  städtische  Kunst-  und  Gewerbemuseum  auf 
eigene  Verantwortung  und  Kosten  seine  Ausstellungen  beschaffte, 
würde  fortab  eine  Vereinbarung  angebahnt,  bei  der  den  Wün- 
schen und  Zielen  der  einzelnen  Interessenten  nach  Möglichkeit 
Rechnung  getragen  werden  sollte.  Die  enorme  erzieherische 
Wirkung,  die  durch  eine  solche  Vorführung  auf  alle  Schichten 
der  Bevölkerung  ausgeübt  würde,  braucht  nicht  eigens  erörtert 
zu  werden.  Fachleute,  die  zur  Kritik  berufener  sind,  mögen 
die  erzieherische  und  volkswirtschaftliche  Notwendigkeit  eines 
solchen  Unternehmens  klarlegen,  sie  mögen  ihr  maßgebendes 
Urteil  in  ausführlicher  Weise  kundtun.  Eines  scheint  uns 
jedenfalls  klar:  dass  wir  auf  künstlerischem  Gebiete  in  der 
Schweiz  schlummernde  Kräfte  und  Talente  genügend  haben, 
um  mit  Erfolg  den  Kampf  mit  der  ausländischen  Konkurrenz 
aufzunehmen.  Was  uns  fehlt,  ist  die  Anregung  und  das  Selbst- 
bewusstsein,  Musterhaftes  leisten  zu  können.  Die  großen  Summen 
schweizerischen  Kapitals,  die  jedes  Jahr  nach  dem  Auslande  ge- 
tragen werden,  zum  Erwerb  von  sogenannten  „schönen  Gegen- 
ständen", könnten  größtenteils  dem  Lande  erhalten  bleiben,  wenn 
man  der  ganzen  Schweiz  Gelegenheit  gibt,  sich  kennen  zu  lernen, 
sich  zu  formen,  sich  in  nur  bester  Auswahl  zu  präsentieren.  Bis- 
her war  es  ein  Privilegium  einzelner  Städte,  gute  Ausstellungen 
zu  arrangieren,  sie  hüteten  ihre  Schätze  eifersüchtig  und  nur  un- 
gern sah  es  eine  Stadt,  wenn  dieselben  Objekte,  die  sie  für  sich 

8 


als  Ausstellungsmonopol  gewählt  hatte,  auch  anderswo  zur  Auf- 
stellung kamen.  Die  Besichtigungsgelegenheit  blieb  infolgedessen 
eine  sehr  beschränkte.  Dieser  engherzige  Kantönligeist  schadete 
der  guten  Sache  ganz  bedeutend ;  es  ist  höchste  Zeit,  bessere  und 
vermehrte  Gelegenheiten  zu  schaffen,  bei  denen  wirklich  Gutes 
und  Interessantes  allerorts  in  der  Schweiz  vorgeführt  werden  kann. 
Nur  so  können  wir  auf  einen  sichern  und  wirklich  großen  Erfolg 
nicht  nur  hoffen,  sondern  auch  bestimmt  rechnen. 

Wir  stehen  am  Vorabende  der  großen  Landesausstellung;  die 
Gelegenheit  ist  einzig  günstig,  bei  diesem  Anlasse  die  erste  Wahl 
zu  treffen,  die  erste  Sichtung  vorzunehmen.  Wir  dürfen  Mittel 
und  Mühen  nicht  sparen,  das  Bild  so  vollkommen  als  möglich 
auszugestalten;  dort  wo  das  heutige  Können  versagt,  werden  wir 
vielleicht  im  historischen  Material  des  Landes  einige  lehrreiche 
Techniken  finden,  oder  wir  ziehen  die  musterhaften  Leistungen 
des  Auslandes  zum  Vergleiche  heran.  Die  Ausschüsse  der  Landes- 
ausstellung werden  dem  Unternehmen  gewiss  gerne  zu  einem 
Gelingen  verhelfen,  wir  müssen  uns  nur  frühzeitig  an  sie  wenden. 

Die  kleine  Schweiz  kann  als  Konkurrenzgebiet  nur  dann  auf- 
treten, wenn  wir  uns  versyndikalisieren,  wenn  wir  als  geschlos- 
senes Ganzes  unsere  Leistungen  vorführen,  wenn  wir  unsern 
Miteidgenossen  und  dem  Ausland  zeigen,  was  wir  können  und 
vermögen.  Wagen  wir  einmal  den  Versuch  auf  einem  Gebiete, 
dessen  Vorteile  praktischer  und  idealer  Natur  sind,  reformatorisch 
aufzutreten,  dann  wird  der  Erfolg  uns  sicher  nicht  ausbleiben  und 
bald  auch  auf  andern  Gebieten  neue  Anregung  bringen.  Eine 
mächtige,  kapitalkräftige  Genossenschaft,  der  Deutsche  Werkbund, 
geht  uns  hier  führend  .voran;  seit  1907  sucht  er  alle  schaffenden 
und  helfenden  Kräfte  zu  einer  tätigen  Gemeinschaft  zu  vereinen. 
Er  will  alles  zusammenfassen,  Kunst  und  Kunstgewerbe,  Hand- 
werk und  Industrie,  Einzelstück  und  Massenware.  Sein  Programm, 
auf  unsere  schweizerischen  Verhältnisse  zugeschnitten,  dürfte  am 
ehesten  unserem  Anstreben  entsprechen.  Wir  brauchen  übrigens 
als  Ausstellungszentrale  uns  nicht  mit  dem  bloßen  Arrangement 
zu  begnügen.  Wenn  es  den  schweizerischen  Interessenten  daran 
liegt,  das  geschäftliche  Moment  noch  mehr  zu  pflegen,  so  bietet 
sich  hier  eine  äußerst  vorteilhafte  Gelegenheit,  mit  der  Zentrale 
neben  der  von  vornherein  zugesicherten  Verkaufsgelegenheit  auch 


eine  Auskunftei  zu  verbinden;  diese  hätte  nach  bestem  Wissen 
und  Gewissen  der  Öffentlichkeit  beizustehen.  Bisher  galt  in  den 
Geschmacksrichtungen  der  Durchschnittskaufmann  als  ein  not- 
wendiges Übel,  heute  kann  er  zum  Kulturträger  einer  Nation 
werden,  wenn  ihm  die  richtige  Hilfe  geboten  wird.  Was  Kunst 
und  Künstler  zum  Beispiel  für  die  technischen  Fabrikationen  be- 
deuten, lehrt  uns  Berlin,  das  in  wenigen  Jahren  dank  seiner  un- 
geheuren Tätigkeit  auf  diese  Weise  enorme  Fortschritte  gemacht  hat. 

♦  * 

♦ 

Wir  bringen  hier  selbstverständlich  nur  eine  sehr  summarische 
Aufzählung,  deren  Hauptzweck  die  allgemeine  Orientierung  ist. 

Baukunst,   vertreten  in  architektonischen   Planarbeiten,  Modellen 

und  Raumkunstdarbietungen. 
Plastik  sowohl  in  rein  künstlerischem  als  in  gewerblichem  Sinne. 
Malerei  in  gewerblichem  und  mehr  dekorativem  Sinne. 
Alle  angewandten  Künste  im  weitesten  Sinne  des  Wortes: 

Graphische  Kunst  einschließlich  der  Photographie,  Bücher- 
wesen, 

Edelmetallarbeiten, 

Arbeiten  in  unedlen  Metallen, 

Schmiedearbeiten, 

Keramik, 

Kunstarbeit  in  Glas  und  Glasindustrie, 

Textilarbeiten :  Handweberei,  Stickerei,  Seide,  Stoffdruck, 
Spitzen  usw. 

Buchbinderei  und  Lederarbeiten, 

Liebhaberkünste. 
Es  versteht  sich,  dass  größere,  schwer  transportable  und  noch 
schwerer  unterzubringende  Gegenstände,  wie  zum  Beispiel  Ein- 
richtungsausstattungen als  Selbstzweck  vorderhand  nicht  in  den 
Bereich  der  Ausstellungen  fallen,  es  sei  denn,  dass  solche  speziell 
gewünscht  und  für  den  Transport  passend  eingerichtet  werden 
können.  In  diesem  Falle  müssten  die  betreffenden  Aussteller  die 
Kosten  wohl  ganz  auf  sich  nehmen.  Diese  einschränkende  Be- 
stimmung hätte  jedenfalls  so  lange  in  Kraft  zu  bleiben,  bis  mehrere 
ausstellende  Städte  entsprechende  Lokalitäten  zur  Aufnahme  solch 
großer  Einrichtungen  besäßen. 

10 


Wir  verhehlen  uns  dabei  nicht,  dass  Raumkunstveranstaltungen 
große  Anziehungskraft  besitzen  und  sehr  anregend  wirken.  Künst- 
lerische und  kunstgewerbliche  Objekte  können  darin  wohl  Haupt- 
punkte sein,  bilden  aber  in  den  seltensten  Fällen  Selbstzweck. 
Sache  der  Leitung  wäre  es,  aus  den  aufgezählten  Objekten  ge- 
wisse Gruppen  auszuwählen  und  als  künstlerisch  gestimmte  Zu- 
sammenstellungen dem  Publikum  vorzuführen;  nennen  wir  zum 
Beispiel  die  Einrichtung  eines  Zimmers  für  einen  Sportsfreund, 
einen  Bücherfreund  usw. 

Damit  wäre  sicherlich  ein  genügend  weiter  Kreis  gezogen, 
der  für  eine  außerordentlich  reiche  Abwechslung  bürgte.  Oft  ließen 
sich  gewiss  auch  einige  Gebiete  vereinen,  während  umgekehrt 
dann  und  wann  vielleicht  die  Gegenstände  aus  mehreren  Gebieten 
sorgfältig  herausgewählt  werden  müssten,  bald  käme  nur  ein 
Künstler  in  Betracht,  bald  bestimmte  Gruppen.  Bald  eine  bunte 
Auswahl  aus  allen  Gauen.  Immer  darf  nur  das  Beste  vor  Augen 
geführt  werden.  Die  Ausstellung  sei  eher  klein  aber  sorgfältig  aus- 
gewählt. Wir  stellen  uns  einen  künstlerischen  Turnus  ungefähr  so 
vor,  dass  vielleicht  an  zwei  oder  drei  entgegengesetzten  Orten 
angefangen  würde.  Von  da  kämen  die  Objekte  an  die  nächst- 
gelegene Ausstellungsstelle  usw.,  bis  sie  zulezt,  nachdem  sie  überall 
eingesehen  worden  wären,  zur  Beschickung  nach  dem  Auslande 
bereit  gehalten  werden  könnten.  Natürlich  würde  die  Festsetzung 
der  Termine  und  Reihenfolge  so  frühzeitig  erfolgen,  dass  eine 
Betriebsstörung  von  vorneherein  ganz  ausgeschlossen  bliebe.  In 
der  Organisation  haben  wir  hiefür  die  notwendigen  Maßregeln 
vorgesehen,  dieselben,  die  es  uns  ermöglichen,  den  besondern 
Bedürfnissen  des  Ausstellunginteressenten  nachzukommen. 


Als  Ausstellungstermin  möchten  wir  einen  Monat,  womöglich 
mit  vier  Sonntagen,  vorschlagen,  dazu  kämen  zwei  Wochen  für 
Transport  und  Aufstellung;  bei  einiger  Routine  in  der  Zirkulation 
dürften  diese  Termine  vermutlich  genügen. 

In  der  Abteilung  Kunst  würde  man  zum  Beispiel  nachfolgen- 
den Turnus  einhalten  können.  Eine  Ausstellung  von  den  moder- 
nen schweizerischen  Porträtisten  würde  zuerst  in  Genf  aufgestellt 
werden,  von  da  ginge  sie  nach  Lausanne,  Freiburg,  Neuenburg, 

11 


Bern,  Solothurn,  Aarau,  Basel,  Zürich,  Frauenfeld,  Schaffhausen, 
Winterthur,  St.  Gallen,  Chur,  Luzern,  Lugano. 

Sechs  Wochen  später  würde  St.  Gallen  eine  weitere  Ausstel- 
lung der  modernen  Berner  Schule  erhalten,  die  ebenfalls  den 
selben  Weg  in  umgekehrter  Reihenfolge  ginge.  Auch  andere  größere 
und  kleinere  Ortschaften  sollten  nach  Wunsch  bedient  werden, 
sofern  sie  die  nötigen  Garantien  böten. 

Anschließend  daran  könnten  vielleicht  nachfolgende  Gruppen 
ihre  Wanderung  durch  die  Schweiz  antreten:  die  schweizerischen 
Graphiker  (die  Walze),  das  moderne  Kinderbildnis  (Kind  in  der 
Kunst),  Walliser  Künstler  und  das  Wallis,  schweizerische  Aquarel- 
listen, die  Tessiner  Maler,  Reklame-  und  Plakatkunst,  schweizeri- 
sche Independants  in  Paris,  moderne  schweizerische  Historien- 
malerei, Meyer-Basel  und  die  Bodenseelandschaft,  Buchillustration 
und  Illustrationsdruck,  das  Engadin  in  der  modernen  Kunst, 
Schweizer  in  München,  das  moderne  Schweizer  Gebirgsbild, 
Sportsbilder  aus  der  Schweiz. 

In  der  Abteilung  Kunstgewerbe  böte  sich  vielleicht  zu  nach- 
folgenden Darbietungen  Anlass:  Holzschnitzerei,  Uhren,  Spielzeug, 
Buchbinderarbeit,  Gold-  und  Silberhandwerk,  Keramik,  Arbeiten 
in  unedlen  Metallen  (Kleinplastik),  Spitzen  und  Stickerei,  Seide 
und  Stoffdruck,  Dekorationsarbeit  (Rahmen,  Tapeten,  Stoffe), 
Glasmalerei,  Reiseandenken,  Glasindustrie,  Hausindustrie,  Photo- 
graphie usw. 

Ob  es  möglich  sein  wird,  die  Kunstschöpfungen  unserer  Maler 
und  Bildhauer  in  unsern  Kreis  zu  ziehen,  haben  wir  bereits  ander- 
wärts in  Frage  gestellt.  Wir  möchten  immerhin  hier  an  einem 
praktischen  Beispiele  unsere  leitende  Idee  für  das  Miteinbeziehen 
der  schönen  Künste  klarlegen.  Uns  allen  liegt  es  sicherlich  daran, 
unser  Heim  mit  den  Bildnissen  unserer  Angehörigen  zu  schmücken, 
der  Vermögliche  wird  sich  daher  aus  diesem  Grunde  nach  einem 
Gemälde  umsehen,  der  weniger  Bemittelte  muss  sich  bereits  auf 
eine  farbige  Zeichnung  beschränken  und  der  in  beschränkten  Ver- 
hältnissen Lebende  wird  sich  wohl  mit  einer  Photographie  be- 
gnügen müssen.  An  wen  sollen  sich  die  drei  Besteller  wenden, 
wer  liefert  ihnen  für  ihr  gutes  Geld  das  beste  Bild?  Nehmen 
wir  an,  es  handle  sich  um  das  Bild  der  eigenen  Kinder.  Wie 
unendlich  viel  Gutes  kann  da  nicht  eine  sorgfältig  durchgearbeitete 

12 


Kinderbildnisausstellung  stiften!  Von  den  wertvollen  Gemälden 
unserer  besten  Kindermaler  bis  zu  den  Spezialitäten  gewisser 
Amateurphotographen  lässt  sich  eine  Reihe  von  Werken  ausstellen, 
bei  denen  ein  jeder  auf  seine  Rechnung  kommen  kann.  Fügen 
wir  dem  ganzen  noch  einige  der  hübschen  Kindersujets  bei,  wie 
sie  von  einigen  unserer  besten  Künstlern  ausgeführt  werden,  dann 
wird  sich  auch  noch  ein  weiterer  Kreis  dafür  interessieren.  Unsere 
Nascherei- Industrien  (Schokolade)  bedürfen  guter  Reklamen  für 
die  Kinder,  hier  finden  sie  zweifellos  eine  selten  gute  Auswahl, 
die  Spielzeugindustrie  wird  den  Stoff  für  neue  Bilderbücher  und 
und  Puppenspiele  sich  holen  kommen  —  kurz,  die  Möglichkeit, 
weite  Kreise  zu  interessieren,  bleibt  nicht  ausgeschlossen.  Findet 
eine  solche  Ausstellung  noch  so  früh  im  Herbst  statt,  dass  die 
Besteller  ihren  Weihnachtsbedarf  damit  eindecken  können,  dann 
müssen  wir  unbedingt  einer  derartigen  künstlerischen  Veranstaltung 
volle  Berechtigung  einräumen. 

Für  das  Gewerbe  kommt  noch  ein  weiterer  wichtiger  Faktor 
praktischer  Natur  hinzu.  Bekanntlich  wird  der  kaufmännisch  ver- 
anlagte Interessent  sich  stets  für  „neue  Ideen"  empfänglich  zeigen, 
besonders  wenn  er  durch  sie  auf  einfachere  und  billigere  Ver- 
fahren aufmerksam  gemacht  wird.  Ein  Beispiel  aus  der  Praxis 
mag  auch  hier  das  Gesagte  illustrieren.  Das  naturnarbige  Leder 
wird  gewöhnlich  künstlich  seiner  Narben  entledigt  (satiniert)  und 
nachher  wieder  mit  einer  „schönen"  Kunstnarbung  versehen,  als 
ob  das,  was  die  Natur  hervorbringt,  nicht  viel  schöner  wäre  als 
das,  was  der  Fabrikant  fertig  bringt.  Durch  die  Vorführung  einiger 
musterhafter  Lederarbeiten,  bei  denen  die  Naturnarbung  beibe- 
halten wurde,  käme  ein  findiger  Lederindustrieller  leicht  auf  den 
Gedanken,  sich  den  umständlichen  Prozess  zum  Teil  zu  ersparen, 
und  das  naturnarbige  Leder  als  „hochmodern"  zu  lancieren.  Für 
den  Kaufmann  bedeutet  ein  derartiges  Vorgehen  eine  wesentliche 
Ersparnis  und  das  Publikum  gewöhnt  sich  unvermerkt  an  das 
edlere  und  unverfälschte  Erzeugnis.  Wenn  wir  den  vollen  Erfolg 
auf  unserer  Seite  haben  wollen,  dann  müssen  wir  auch  die  prak- 
tischen kaufmännischen  Vorteile  im  Auge  behalten,  nur  das  in- 
tensive Studium  unserer  Waren  wird  unser  Auge  dafür  genügend 
schärfen. 

BERN  C.  BENZIGER 

(Schluss  folgt.) 

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ZWEI  GEDICHTE 

von  LEO  VON  MEYENBURQ 

HERBST 

Drei  Bäume  am  herbstlichen  Ufer  stehn, 

Violenblaue  Lüfte  weh'n : 

adoramus. 

Der  eine  zur  Linken  betet  andächtig, 

Sein  gelbes  Laub  erglänzet  prächtig ; 

oramus. 

Und  der  zur  Rechten  das  feine  Geäst 

Rotrosig  zur  Erde  schimmern  lässt : 

amamus. 

Der  Dritte  im  purpurroten  Ornat 

Die  Arme  zum  Himmel  erhobeu  hat 

Gloria  Deo  in  exceleis. 


TOTE  BLÄTTER 

Manch  tausend  tote  Blätter  säumen 
Die  stumme  Straße  und  es  stieren 
Viel  nackte  Äste  von  den  Bäumen 
Die  toten  Blätter  an  und  frieren. 

So  liegen  viele  tote  Träume 
Auf  meinen  Wegen  und  es  stiert 
Mein  wundes  Herz  in  leere  Räume, 
Und  meine  nackte  Seele  friert. 


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DER  MILCHFÄLSCHER 

ERZÄHLUNG  VON  MEINRAD  LIENERT 

Im  Halbdunkeln,  schwerlüftigen  Stall  kauerte  Stöffi,  der 
Brüüschmoosbauer,  auf  dem  Melkstuhl  unter  einer  Kuh  und  ließ 
das  ergibige  Doppelbrünnlein  in  den  Eimer  zischen.  Den  blond- 
lachten Krauskopf,  von  dem  die  Hirthemdkapuze  lässig  hing,  hatte 
er  an  das  weißgraue  Fell  Heiterspiegels  gedrückt.  Über  seine 
melkenden  Hände  und  in  die  aufquellende  Milch  huschte  immer 
wieder  der  Schein  der  am  zerbrochenen  Stallfensterchen  stehenden 
Laterne.  Die  Kuh  schnaubte  und  bärschtete,  das  Maul  halb  voll 
Heu,  mit  großen  Augen  nach  dem  Bauer,  als  wollte  sie  sagen: 
He  du,  ich  bin  auch  da!  Was  hast  denn  nur  heute,  dass  du 
mich  nie  kraulst  und  kein  Wort  mit  mir  redst,  wo  wir  uns  doch 
sonst  jeden  Morgen  so  manches  zu  sagen  haben.  Irgendwo  hinter 
dem  Stall  krähte  der  Hahn.  Muuh,  muuh!  brüllte  nun  auch  die 
Kuh.  Aber  der  Bauer  drückte  den  Kopf  tiefer  in  ihr  Fell  und 
tat  keinen  Wank.  Jetzt  ward  Heiterspiegel  aber  unruhig  und 
schlug  ihm  den  Schwanz  um  die  Kapuze. 

„He  da,  gib  Ruh,  Heiterspiegel,  alte  Närrin!  's  ist  mir  heut 
nicht  ums  Lumpereien  treiben." 

Jetzt  brüllte  auch  die  junge  rotbraune  Ziehkuh,  das  Rot- 
schöpfchen,  nebenan. 

„Ja,  ja,"  brummte  der  Bauer,  „ihr  habt  gut  brüllen,  steht 
allzeit  am  vollen  Barren  und  wisst  nicht,  wie  unsereins  schwitzen 
und  dämpfen  muss  bis  der  Heustock  zu  den  Gadenschwemmungen 
herausschaut  und  bis  der  Zins  beisammen  ist.  *s  ist  kein  Leben. 
Vier  lebendige  Buben  und  Eines  auf  dem  Weg!  Was  hat  denn 
unsereins  auf  der  Welt?  Vom  Morgen  früh  bis  abends  spät  sich 
abhunden  und  übelleiden  kann  man,  für  ein  bisschen  Milchkaffee- 
gewäsch, das  aussieht,  als  habe  man's  bei  Hochwasser  aus  dem 
Bach  geschöpft.  Und  alle  heiligen  Tage  ein  Pfündchen  Rindfleisch, 
hart  wie  Sohlleder,  aus  dem  Dorf.  Und  der  da  drüben,"  machte 
er  halblaut,  ingrimmig,  „der  alte  geizige  Hinterschweigsimmeler 
wattet  bis  an  die  Kniee  in  der  Niedel  und  seine  Speckkammer 
lacht  einem  um  Martinstag  herum  an,  wie  eine  Wittfrau  in  der 
letzten  Närrsche,  man  hört  sie  völlig  lachen.  Alles  gerät  ihm  in 
Haus  und  Stall.  Jede  Kuh  tut  ihm  gut  und  gerecht.  Es  täte  mich 

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keinen  Augenblick  wundern,  wenn  sein  Brunnentrog  und  sein 
Scheitbock  eines  Tags  auch  noch  zu  kalben  anfingen.  Sieben 
Haupt  Vieh  hat  er  am  Barren,  lauter  Prämienkühe.  Sieben  Jung- 
fern können  auf  dem  Kirchweg  nicht  hoffärtiger  aufziehen  als  sie 
auf  die  Sommerweide.  Und  ich,  was  hab'  ich  denn?  Zwei  weiß- 
lachte Schwänze  im  Stall,  die  immer  verwerfen.  So  muss  ich 
eben  das  Kalb  selber  machen.  O  Herrgottdonnerwetter,  unsereins 
hat's  doch  nicht  gut.  Jetz  steh'  einmal  still,  Alte!"  lärmte  er 
seine  Kuh  an.  „Oder  ich  hau'  dir  eins  ans  Bein,  dass  dir  die 
Hörner  Fürio  pfeifen." 

Die  Stalltüre  ging. 

„Guten  Morgen,  Stöffi!" 

Ein  noch  junges  Weib  stand,  einen  Kessel  in  der  Hand,  in 
der  offenen  Türe.  An  ihr  vorbei,  zu  Häupten  und  allüberall 
guckten  die  Sterne  aus  dem  dämmernden  Morgenhimmel  in  den 
düstern  Stall. 

Die  beiden  Kühe  begannen  aus  Leibeskräften  zu  brüllen. 

„Was  nimmst  mir  denn  nicht  einmal  den  guten  Morgen  ab, 
Stöffi?"  machte  die  Frau  und  kleinlaut  setzte  sie  bei:  „Ja,  hast 
aber  schon  recht,  wie  konnte  ich  mich  nur  so  verschlafen?  Ich 
hätte  dir  doch  beim  Melken  helfen  sollen,  dass  du  zeitig  mit  der 
Milch  ins  Dorf  magst.  Sei  mir  nicht  böse,  aber  weißt  du,  das 
Wupp  musste  noch  ab  gestern  Nacht;  ich  muss  es  heut  Mittag 
zum  Ferger  tragen.  Und  dann,"  sagte  sie  kaum  vernehmbar, 
„weißt  du,  seit  uns  die  Klosterfrauen  wieder  ein  Kleines  ins  Wieg- 
lein versprochen  haben,  mag  ich  halt  nicht  mehr  auf,  ich  kanns 
anstellen  wie  ich  will." 

„Red  nicht  so  einfältig,"  machte  er,  sich  bedächtig  erhebend. 
„Es  vergönnt  dir  den  Schlaf  niemand,  hast  ihn  bitter  nötig." 

„Ja,  es  mag  wohl  sein,  denn  gestern  bin  ich  am  Webstuhl 
heitern  Tags  eingenickt,  obwohl  die  Kinder  um  mich  herum 
lärmten.     Kann  ich  jezt  die  Milch  für  die  Kinder  haben?" 

„Herrgott,  Herrgott,"  schimpfte  er,  „immer  die  Milch,  die 
Milch.  Kannst  dir's  denn  nicht  anders  einrichten?  Bist  doch 
sonst  ein  hausliches  Weib.  Muss  denn  den  Fratzen  immer  der 
Milchkaffee  bereitstehen,  sobald  sie  ab  dem  Laubsack  mögen. 
Kann  man's  nicht  auch  mit  einer  gerösteten  Brotbrühe  oder  einem 
Kaffeewassergeschwemm  machen,  wie  andere  Leute.    Wenn  ein 

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Tröpflein  Schnaps  drein  kommt,  ist's  doch  ein  Herrentrank. 
Andere  tun  es  auch  und  sparen  die  Milch,  wie  sie  können,  jetzt 
wo  sie  so  schön  gilt.  Der  alte  Hinterschweigsimmeler  hat  es  mir 
gestern,  als  wir  zusammen  die  Morgenmilch  ins  Dorf  trugen, 
wieder  gesagt,  dass  ihm  jetzt  kein  Tropfen  Milch  mehr  ins  Pfänn- 
chen  komme.  Jetzt,  wo  sie  so  zu  gelten  anfange,  sei  es  eine 
Sünde,  sie  so  leichtlebig  im  Hause  zu  brauchen.  Sie  werde  immer 
begehrter  und  zuletzt  noch  so  gesucht,  dass  die  Dorffrauen  vor 
Ärger  die  Katzen  zu  melken  anfangen.  Da  heiße  es  das  köstliche 
Brünnlein  zusammenhalten.  So  redt  der  habliche  Hinterschweigler. 
Nur  wir,"  schier  grimmig  sagte  er's,  „wir  versauen  und  vertuen  die 
Milch  mit  unsern  Buben  als  ob  sie  Aufzuchtkälber  wären,  als  ob 
wir  das  Geld  am  Boden  auflesen  könnten." 

„Vater,"  sagte  schüchtern  das  Weiblein,  „du  weißt  wie  des 
alten  Simmelers  einziges  Büblein  aussieht.  Hängt  es  nicht  in 
seinen  Hosenträgern,  wie  eine  windverwehte  Windel  in  der  Erlen- 
staude? ich  kann  den  Simmeier  nicht  verstehen.  Er  ist  ja  ge- 
wiss der  frömmste  Mann  landauf,  landab.  Aber  dass  er  die  Milch 
an  seinem  Franzeli,  den  ihm  doch  der  Herrgott  in  seinem 
hohen  Alter  noch  gegeben  hat,  so  abspart,  kann  ich  doch  nicht 
begreifen." 

„Schweig  doch!"  machte  er  brummig  und  schleuderte  die 
Katze,  die  am  Milcheimer,  den  er  in  der  Hand  trug,  aufzustehen 
trachtete,  mit  einem  Fußtritt  zwischen  die  Kühe. 

„Aber  Stöffi,  wie  kannst  denn   dem  Tierlein   so   weh  tun?" 

„Bezapf  dich,  sag  ich!"  fuhr  er  auf.  „Es  wird  jetzt  da  nicht 
gepredigt.  Du  und  der  Pfarrer,  lasst  ihr  nur  das  Predigen  bleiben. 
Ich  seh's  immer  mehr  ein:  Das  Rechttun  ist  ja  doch  für  die 
Katz.  Die  ehrlichen  Leute  kommen  ja  doch  überall  und  alleweil 
zu  kurz.  Ich  hab's  nicht  nur  im  Viehhandel  erfahren.  Wer  Kritze 
im  Kopf  hat,  soll  sie  brauchen.  Mit  dem  Rosenkranz  zwischen 
den  Fingern  wird  das  Geschäft  nicht  gemacht,  hat  der  Holzhändler 
im  Gfellrain  am  Wirtstisch  gesagt.  Ich  hörte  ihm's  selber  zum 
Maul  herausgehen." 

„Stöffi,  Stöffi!  Und  diesem  schlechten  Menschen  redst  du 
so  etwas  nach?" 

„Warum  denn  nicht?  Geht's  ihm  denn  nicht,  wie  er's  haben 

17 


will?  Macht  er  nicht  alleweil  ein  Gesicht  wie  ein  Eiertätsch,  der 
frisch  aus  dem  Butterpfännchen  kommt?" 

„Du  hast  nicht  bis  in  sein  Herz  gesehen,  Stöffi." 

„Sei  doch  still,  du  Einfalt!  Wir  haben  jetzt  nicht  Christen- 
lehre." 

Rasch  stellte  er  sich  auf  die  Türschwelle,  also  dass  seine 
Frau  schier  erschrocken  ins  Freie  zurückprallte.  „Da,"  sagte  er 
laut  und  hielt  ihr  den  Eimer  entgegen,  dessen  überquellender 
Schaum  im  untergehenden  Vollmond  leuchtete,  „da  füll'  den  Kessel 
aus  dem  Eimer  und  tu'  die  Milch  über,  wenn  ihr  denn  durchaus 
die  Bäuche  von  kostbilliger  Milch  voll  haben  müsst.  Und  dann," 
er  hielt  die  Hand  an  den  Mund  und  neigte  sich  zu  ihrem  Ohr, 
„und  darnach,  wenn  du  die  Milch  in  die  Pfanne  übergetan  hast, 
gehst  du  zum  Brunnen,  füllst  den  Kessel  mit  Wasser  und  leerst 
ihn  in  die  Tanse.  Sie  steht  da  neben  der  Türe  im  Stall.  Hast 
mich  verstanden,  Seppetrutli?" 

Sie  staunte  Ihn  sprachlos  an. 

„Was  gaffst  mich  denn  so  an,  wie  eine  Kuh  ein  Tenntor? 
Andere  tuen  es  auch.  Man  muss  sich  selber  helfen,  sagt  der  Holz- 
händler am  Gfellrain,  denn  wenn  einer  zehn  Psalter  bete,  bekomme 
er  deswegen  doch  keine  Butter  aufs  Brot.  Wer  nach  Butter  ge- 
lüstig sei,  müsse  eben  schon  den  Rahm  ab  der  Milch   nehmen." 

„Stöffi,  Stöffi,  Mann!  Es  wird  doch  nicht  etwa  dein  Ernst 
sein?!" 

„Warum  denn  nicht,  du  dumme  Drucke?  Tu  doch  nicht  so 
einfältig.  Du  und  die  Kinder  sollen  ihre  Morgenmilch  haben. 
Ich  will  da  niemand  um  die  Gesundheit  bringen.  Und  gar  dich, 
wo  du  nun  ein  Kleines  erwartest.  Da,  füll'  den  Kessel!  Ob  wir 
dann  darnach  ein  Tröpflein  Wasser  in  die  Milch  nachschütten, 
das  bleibt  sich  gewiss  gleich.  So  ein  kleines,  nichtsiges  Kessel- 
chen voll  in  die  große  Tanse.  Uns  tut's  gut,  kein  Mensch  merkt's 
und  wir  haben  die  Milch  und  das  Milchgeld.  Geh',  Seppetrutli, 
mach  zu!  's  ist  Zeit,  ich  muss  mit  der  Milch  ins  Dorf." 

„Nein,  Stöffi,  das  tue  ich  nicht." 

„Was,"  fuhr  er  wütend  auf  und  sah  sie  schrecklich  an,  „du 
willst  mir  nicht  gehorchen?!" 

„Stöffi,  lieber  Stöffi,  tu's  nicht!"  bat  sie  jetzt,  sich  von  ihrem 
Schrecken  erholend,   „du  würdest  es  in   alle   Ewigkeit   bereuen. 

18 


Auf  den  Knieen  bitte  ich  dich,  tu's  nicht.  Wie  solltest  du  mit 
gefälschter  Milch  am  Friedhof,  am  Grabe  deines  braven  Vaters 
selig  vorbeigehen  können.  Ich  habe  schon  lange  bemerkt,  dass 
du  unzufriedener  geworden  bist,  seit  die  Milch  so  gilt,  und  wie  du 
an  etwas  herumsinnst,  das  nicht  ans  Licht  sollte.  Es  ist  mir  des- 
wegen schwer  genug  gewesen.  Tu's  nicht,  Lieber,  der  Tausend- 
gottswillen, tu's  nicht!" 

„*s  muss  sein,"  machte  er,  wild  in  den  Boden  stierend,  „wir 
wollens  uns  auch  nach  und  nach  ein  bisschen  besser  einrichten. 
Die  Reichen  lachen  die  armen  Leute  ja  doch  nur  aus.  Man  muss 
sich  nur  nicht  erwischen  lassen." 

„Und  wenn  sie  dich  doch  erwischen?  Ich  stürbe  vor  Kummer 
und  du  tätest  dich  hintersinnen  vor  Schande.  Ich  kenne  dich, 
Stöffi. " 

„Geh'  und  leer  jetzt  die  Milch  in  die  Pfanne  und  dann  machs 
am  Brunnen,  wie  ich  dir's  gesagt  habe,"  schnörrzte  er  sie  an, 
„ich  wills  schon  verantworten." 

„Welcher  böse  Geist  hat  dir  das  eingegeben.  Mann?  Nein, 
ich  tu's  nicht.  Du  würdest  mich  einmal  später  an  den  Zupfen 
am  Boden  herumschleifen,  dass  ich  schwach  genug  war,  dir 
nachzugeben." 

„Tust  du's  nicht,  so  tu'  ich's  selber.  Her  den  Kessel!"  herrschte 
er  sie  böse  an. 

Sie  fuhr  zurück,  den  Kessel  hinter  dem  Rücken  verbergend. 

„Muss  ich  dich  zuerst  am  Schopf  nehmen,"  sagte  er  keuchend, 
„bis  du  mir  den  Kessel  gibst,  du  unfolgsames  Weib!" 

„Nein,"  machte  sie  auf  einmal  totenbleich,  „nein,  du  sollst 
es  nicht  selber  tun.  Lass  mich  nur,  ich  will's  machen.  Möge 
der  Liebgott  jetzt  von  uns  wegsehen.    O,  weh,  weh!" 

Er  füllte  ihren  Kessel  aus  dem  Eimer  mit  schäumender 
Milch  an. 

Sie  machte  sich  hurtig,  mit  hängendem  Kopfe  davon  gegen 
das  nahe  Haus,  gefolgt  vom  miauenden  Kätzchen. 

Ein  Weilchen  staunte  er  ihr  mit  unheimlich  brennenden  Augen 
nach,  dann  trampte  er  in  den  Stall  zurück  und  begann  sich  für 
den  Gang  ins  Dorf  zu  rüsten,  nachdem  er  den  Kühen  noch  das 
Bett  ein  bisschen  gemacht  hatte. 

19 


Auf  einmal  fuhr  er  zusammen.    Ein   Rauschen  war  hinter 
seinem  Rücken.  Wie  er  sich,  schier  erschrocken,  umwandte,  stand 
seine  Frau  neben  der  Tanse  und  nahm  eben  den  leeren  Kessel' 
davon  weg. 

„Ja  so,  du  bist's  ja.    Ist's  also  in  Ordnung?" 

„Ich  tat's,  ob's  in  Ordnung  ist,  weiß  dein  Gewissen." 

„Frau,  sei  mir  nicht  böse.  Tu  nicht  so  närrisch,"  machte 
er,  sich  ihr  nähernd,  „das  ist  dir  morgen  schon  nichts  mehr  neues. 
Und  in  einigen  Tagen,  meinst  du,  das  sei  immer  so  gewesen  und 
des  Landes  Brauch." 

Er  suchte  sie  zu  umfangen. 

„Lass'  mich,"  sagte  sie  kurz.     „Die  Kinder  sind   wach   und 
müssen  zur  Schule.    Geh'  jetzt  und  wenn   du   am  Friedhof  vor-, 
beiläufst,  so  lass'  deine  Mutter  selig  von  mir  grüßen." 

Sie  huschte  aus  dem  Stall. 

„Meine  Mutter?" 

Eine  Weile  stierte  er  in  die  volle  schwere  Tanse.  Er  hob 
den  Fuß  und  es  sah  aus  als  wollte  er  sie  mit  einem  gewaltigen 
Tritt  umstoßen.  Aber  dann  pakte  er  sie  an  beiden  Trägern,  nahm 
sie  auf  den  Rücken  und  verließ  verdrossenen  Blickes  den  Stall. 

Als  er  schwerfällig  am  Haus  vorbeischuhnete,  sah  er  in  der' 
schwacherhellten  Küche  seine  Frau  am  Herd  sitzen,  das  jüngste 
Büblein   im  Schoß   und   das  zweitjüngste   am  Rock,   und  wie  im 
Traum  hörte  er  die  beiden  größern  Knaben  aus  dem  Fenster  der 
Stubenkammer  rufen:  „Vater,  trägst  du  die  Milch  ins  Dorf?" 

Ja,  wollte  er  sagen,  aber  er  brachte  es  nicht  heraus. 

Wie  er  in  den  Weidweg  kam,  ging  eben  der  Mond  unter 
hinter  den  schwarzen  Berghöhen  und  es  begann  über  den  dunklen 
Wäldern  zu  dämmern.  Aber  noch  glitzerten  die  Sterne  am  Himmel 
in  ungezählten  Heerscharen. 

„Es  wird  ein  schöner  Tag,"  redete  der  Bauer  in  sich  hinein. 
Da  hörte  er's  in  seiner  schweren  Tanse  schwappein.  Es  war  das 
erstemal,  dass  er's  hörte.  Es  bedünkte  ihn,  es  töne  schier  wie 
das  seltsame  Schwappein  des  Wildbaches,  wenn  er  bei  Hochwasser 
unheimlich  um  sein  Hausmäuerchen  spülte.  Einen  blitzgeschwinden 
Augenblick  wars  ihm  sogar,  als  schwapple  auch  in  seiner  Tanse 
ein  drohendes  Hochwasser.     Er  musste  laut  auflachen,  sah  sich 

20 


.aber  rasch  um,  denn  es  kam  ihm  vor,  hinter  dem  Dornenhag 
habe  auch  jemand  gelacht,  's  wird  doch  am  frühen  Morgen  nicht 
umgehen.  Und  doch,  lief  denn  dort  nicht  eine  schwarze  Gestalt 
der  Heci<e  nach?  Die  Haare  standen  ihm  auf.  Gottlob,  es  war 
nur  sein  eigener  Schatten.     Er  gewahrte  ihn  heute  zum  ersten- 

.  maje.    Und  jetzt  erinnerte  er  sich,  dass,  er  ihn  nur  einmal  noch, 

.,  riesengroß  wie  ein  Ungeheuer,  vor  sich  her  hatte  gehen  sehen, 

.als  er  im  Wirtshaus  über  seine  Frau  eine  leichtsinnige,  unfeine 
Redensart  getan  hatte.    Wollte   es  denn   heute  gar  nicht  tagen! 

.  Aber  nein,  's  wird  besser  sein,  wenn's  heute  nicht  gar  so  zeitig 
tagt.  Es  gehen  so  allerlei  Leute  den  Weg  ins  Dorf  und  ansehen 
müsste,  man  sie  doch.  Es  fiel  ihm  jetzt  ein,  wie  einem  die  Leute 
und  gar  die  jungen,  immer  geradewegs  in  die  Augen  schauen,  als 
ob  sie  durch  offene  Türen  in  die  Stube  hineinwundern  wollten. 
Er  würde  aber  heute  fest  vor  sich  hin  auf  den  Boden  blicken; 
die  Tanse  drückte  ihn  so  genug  nieder.  Irgendwo  im  Hag  regte 
sich  ein  Vogel.  Er  zuckte  zusammen.  Wenn  heute  hinter  dem 
Hag,  wie  auch  schon,  die  Milchschauleute  lauerten,  der  lange 
Amtsschreiber  und  der  dürre  Landjäger?!  Jetzt  konnte  er  noch 
zurück,  wenn  er  leise  tat.  Ein  Vaterunser  lang  hielt  er  an.  Dann 
schritt  er  langsam  wieder  fürbas  und  versuchte  ein  Liedchen  zu 
pfeifen,  ein  übermütiges  Tanzliedchen.  Aber  nach  den  ersten 
Tönen  brach  er  ab  und  schaute  misstrauisch  in  die  dunkle  Hecke, 
die  wie  eine  Riesenschlange  neben  ihm  her  sich  gegen  das 
Dorf  wand. 

Es  ward    immer    heller.     Im  Osten    stand    ein    grünweißer 

.  Streifen.     Er  versuchte  schneller  vorwärts  zu  kommen,   aber  fast 
wäre  er  ausgeglitscht;   da   es  Spätherbst  war,  hatte  der  schwere 
Nachttau  den  Weg  mit  einer  Eiskruste  überzogen. 
„Jesus!" 

Er  hatte  schon  den  Fuß  erhoben,  um  sich  rückwärts  zu  ver- 
ziehen. Dort  stand  ja  wahrhaftig  jemand  hinter  der  Hecke  am 
Rain,  etwas  ungeheuerlich  Langes.  Gewiss  war's  der  Amtsschreiber. 
Als  er  sich  jedoch  nochmals  mit  scheuen,  entsetzten  Augen  um- 
sah, hatte  sich  die  schwarze  Gesalt  in  das  Heiligenstöcklein  ver- 
wandelt, das  ja  zeitlebens  in  der  Schweig  am  Wege  stand.   Lang- 

-  aufatmend,  mit  unsichern  Schritten,  trampte  er  weiter.  Als  er 
jedoch  am  Heiligenstöcklein  vorbeischritt,  war  er  nicht  imstande, 

21 


unter  dem  Hirtenhemdenzipfel  lierauf  nach  dem  dorngekrönten 
Heiland  aufzuschauen.  Gleichwohl  sah  er  seine  traurigen  Augen 
so  deutlich  im  Weg  vor  sich,  dass  er  zur  Seite  in  die  Hecke 
blinzeln  musste.  Aber  auch  dort  schauten  die  Augen  aus  jeder 
Eisperle,  die  in  dem  düstern  Qedörne  blinkte.  Da  zog  er  die 
Kapuze  fester  über  die  Stirne  und  starrte  bedrückt  auf  seine  breiten 
Schuhe.  In  der  Matte  drüben  leuchtete  eine  Laterne  auf  und  ein 
helles  Aufjauchzen  erfüllte  Berg  und  Tal.  Sonst  hatte  er  dem 
Maitli,  das  dort  drüben  gegen  den  Stall  zum  Melken  schritt,  immer 
das  fröhliche  Echo  gespielt,  heute  verhielt  er  sich  mäuschenstill, 
ließ  sich  tiefer  in  die  Knie  fallen  und  machte  sich  also  klein, 
dass  er  hinter  der  Hecke  schier  verschwand.  Er  ärgerte  sich. 
Wie  konnte  denn  des  Kirchhöfern  Madleni  so  einen  Lärm  machen? 
Man  musste  sie  ja  bis  ins  Dorf  hinein  hören.  Wie  leicht  konnte 
da  dem  Amtsschreiber  der  Morgenschlaf  gestört  werden,  den  er, 
der  Brüüschmoosbauer,  heute  so  nötig  hatte.  Aber  freilich  des 
Kirchhöfern  Madleni  ging  eben  nicht  die  Brunnenröhre  melken. 
Ein  Weilchen  schritt  er  stumm  vor  sich  hin,  den  eigenen  schweren 
Schritt  verwünschend,  der  im  vereisten  Weg  knirrschte.  Jetzt  teilte 
sich  der  Weg.  Vor  ihm  lag,  mitten  in  den  Matten,  der  einsame 
Dorffriedhof.  Gespenstig  schimmerte  und  flimmerte  die  weiße 
Wand  der  Beinhauskapelle  Im  dämmernden  Morgen.  Sonst  war 
er  immer  schier  freudig  durchs  knarrende  Törlein  in  den  Friedhof 
eingetreten  und  hatte  im  Durchschreiten  für  die  Armenseelen 
Fünfe  und  den  heiligen  Glauben  gebetet.  Heute  blieb  er  zögernd 
vor  dem  Törlein  stehen.  Lass  mir  dann  deine  Mutter  selig  grüßen! 
geisterte  seines  Weibes  Wort  ihm  im  Kopf.  Er  ließ  die  Türfalle, 
die  er  schon  in  der  Hand  hielt,  wieder  los  und  tschampete  mit 
gesenkten  Augen  den  breitern  Weg  neben  dem  Friedhof  weiter. 
Zwar  versuchte  er  zu  beten,  aber  als  er  flüsterte:  „Trost  Gott 
die  christgläubigen  Armenseelen  im  Fegfeuer!"  fröstelte  es  ihn 
seltsam  und  die  Zunge  ward  ihm  also  schwer,  dass  er  verstummte. 
Er  tat  noch  einen  verstohlenen,  heuchlerischen  Blick  nach  dem 
hochragenden  Kreuze,  das  mitten  im  schweigsamen  Garten  des 
Todes  stand  und  wackelte  dann  schier  finstern  Angesichts  mit 
seiner  Tanse  weiter. 

Als  der  Friedhof  hinter  ihm  lag,  ward  ihm  leichter.  Die  un- 
heimliche Dornenhecke  hatte  aufgehört.    Es  heiterte  immer  mehr 

22 


um  die  östlichen  Berge  und  der  große,  immer  noch  leuchtende 
Morgenstern  vereinsamte  mehr  und  mehr. 

Mit  scheuen,  suchenden  Augen  sah  er  sich  um.  Zwei  Arbeiter- 
frauen, die  sich  ihm  schnellfüßig  nachgemacht  hatten,  gingen  jetzt 
an  ihm  vorbei,  ihre  verhärmten  Gesichter  sahen  ihn  flüchtig  an, 
als  sie  mit  halblautem  Gruß  an  ihm  vorbeieilten.  Und  wunder- 
lich: Auch  ihre  Krüge,  worin  sie  die  Morgenmilch  im  Dorf  holen 
wollten,  sahen  Ihn  mit  hohlen,  dunklen  Augen  an.  Nur  mit  einem 
Kopfnicken  erwiderte  er  den  Gruß  der  davonhastenden  Frauen. 
Schier  erstaunt  sah  ein  junges,  bleiches  Weib  nach  ihm  zurück. 
Was  wohl  der  junge  Bauer  heute  haben  mochte;  er,  der  sonst 
immer  ein  paar  herzliche  Worte  für  sie  hatte? 

Es  ward  immer  heller.  Etwas  wie  Freude  geisterte  in  seinen 
Augen,  als  er  den  nahen  Kirchenturm  aus  der  Dämmerung  auf- 
tauchen sah.  Nun  wollte  er  sich  sputen,  dass  er  vor  dem  völligen 
Tagesanbruch  in  die  Gremplerei  käme.  Die  Sonne  sollte  ihn  so 
nicht  ins  Dorf  einziehen  sehen.  Er  durfte  jetzt  getrost  hurtiger 
gehen,  die  Gefahr  einer  Entdeckung  schien  ihm  so  ziemlich  vor- 
über. Es  war  ja  wie  die  meisten  Tage.  Niemand  kümmerte  sich 
da  viel  um  die  Milch  der  Bauern.  Man  baute  im  Dorf  auf  ihre 
Ehrlichkeit  wie  auf  den  Felsen  Petri.  Man  hielt  ihre  ländlichen 
Tätschhäuschen  für  wahre  Tabernakel.  Da  durfte  er  ja  wohl 
ruhig  sein.  Und  sollte  es  doch  wieder  einmal  vorkommen,  dass 
die  Milchschau  irgendwo  am  Wege,  etwa  hinter  der  schlimmen 
Dornhecke,  lauerte,  so  würde  er's  sicherlich  beizeiten  merken 
und  sich  mit  Glimpf  davon  und  auf  Umwegen  ins  Dorf  machen 
können.  Er  taute  auf  und  begann  sich  seines  unternehmenden 
Mutes  fast  zu  freuen.  Es  lächerte  ihn  schon  ein  wenig  auf  den 
Stockzähnen,  wenn  er  des  Holzhändlers  am  Gfellrain  gedachte, 
der  allein  der  Gescheite  im  Land  zu  sein  glaubte.  Er  schnalzte 
mit  der  Zunge  und  ließ  die  Augen  munter  über  den  Weg  wan- 
dern. Nichts  war  weit  und  breit  zu  sehen ;  nur  ein  paar  Krähen 
zankten  sich  in  den  Matten.  Es  würde  heute  wie  die  künftigen 
Tage  immer  prächtig  und  glatt  ablaufen.  Die  böse  Dornhecke 
war  schon  lang  vorüber  und  dort  versank  nun  auch  der  Morgen- 
stern hinter  einem  unruhigen,  windgestrählten  Tannenkamm.  Und 
doch  trugen  ihn  seine  Beine  so  schneckenmäßig  vorwärts. 

„Bist  heut  langsam,  Stöffi,  langsam!" 

23 


Zusammenschreckend  wandte  sich  der  Bauer  um. 

Ja  so,"  machte  er,  tief  Atem  holend,  „ja  so/  du '  bist's, 
Simmeier."  ' 

„Ja,  wer  wollte  es  denn  sonst  sein,"  sagte  das  ältliche,  glatt- 
rasierte Männchen,  das  nun,  die  schwere  Tanse  auf  dem  Rücken, 
neben  ihm  hertrampte,  „du  wirst  etwa  nicht  erwartet  haben,  dass 
mir  der  Bundespräsident  heute  die  Tanse  ins  Dorf  trägt.  Bin 
heut  schon  zum  zweitenmal  über  Weg."  Der  Alte  wischte  mit 
dem  Ärmel  seines  Lismerkittels  den  vertrockneten  zahnlosen  Mund 
und  fügte  mit  gedämpfter  Stimme  bei:  „Hast's  auch  gehört,  Stöffi, 
da  sollen  sie  in  Kilchwegen  jenseits  des  Berges  einen  Bauern 
erwischt  haben,  der  schon  zum  drittenmal  Wasser  in  die-  Milch 
getan  hat.  Fünfhundert  bare  Franken  habe  er  schwitzen  müssen 
und  ins  Blatt  sei's  auch  noch  gekommen,  der  Sakerlot,  der 
Sakerlot!" 

Dem  Stöffi  war  es,  als  ob  man  ihm  den  Kopf  in  einen  Kübel 
voll  heißen  Wassers  drücke.  Er  konnte  kein  Wort  herausbringen, 
aber  seine  Augen  hasteten,  wie  die  schwärmenden  Bienen  im 
Rauch  über  Weg  und  Steg.  Jesus  Gott,  Jesus  Gott,  steh  mir  bei! 
stöhnte  seine  Seele. 

„Ist  ihm  beim  Eid  recht  geschehen,  dem  Hudelhund,  warum 
hat  er  sich  erwischen  lassen,"  sagte  der  Alte,  seine  tiefliegenden 
Äuglein  rundum  gehen  lassend.  „Heißt  das,  ich  will  bloß  sagen, 
so  weit  bringts  einer,  wenn  er  von  Gottes  Wegen  abkommt.  Wie 
kann  einer  denn  so  die  Milch  strecken  und  die  armen  Leute 
schädigen.  Aber  so  gehts,  wenn  die  Leute  bloß  das  Zeitliche  im 
Kopf  haben  und  nie  ans  Ewige  denken,  ohne  wenn  ihnen  grad 
der  Teufel  den  Kehraus  um  die  Bettstatt  tanzt.  Mein  Wort  ist: 
Gott  vor  Augen  und  jedem  seine  Sach." 

„Ich  mein,  das  Wetter  fällt  um,"  drückte  der  Stöffi  mühsaTn 
heraus,  „der  Rauch  über  dem  Dorf  ist  mir  zu  rotlacht  und  .zu 
schwer.'' 

„Freilich,  es  deckelt  die  Welt  bald  zu,"  stimmte  der  Alte  bei, 
„ich  merk'  den  Schnee  schon  im  linken  Wadenbein." 

Sie  waren  hart  auf  dem  Dorf.  Vor  ihnen  stand  der  „Große 
Herrgott",  ein  gewaltiges  Wegkreuz  auf  mannshohem  Sandstein- 
sockel. Gottlob,  gottlob,  nun  war  die  Gefahr  gewiss  überstanden, 
eine  Milchschau  nicht  mehr  zu  befürchten.    Da  kam  ja  auch  der 

24 


Tag  spiegelheiter  über  die  Dächer  des  Dorfes  heraufgezogen. 
Schon  wiederstrahlte  ein  Streifen  Morgenrot  im  vereisten  Weg. 
Nun  rief  eine  Glocke  zur  Frühmesse  und  ihre  Klänge  gingen  ihm 
heute  aufs  Herz  wie  Hammerschläge,  sie,  die  ihn  sonst  ange- 
heimelt hatten  wie  Stimmen  aus  einer  bessern  Welt.  Es  war  doch 
nicht  richtig  und  wenn  es  ihm  nun  heute  gelang  und  wenn  es 
ihm  noch  tausendmal  gelingen  würde,  es  war  doch  nicht  das 
Richtige,  was  er  da  tat.  Denn  obwohl  er  nun  die  gefälschte  Milch 
so  gut  wie  im  Gremplerladen  hatte,  vermochte  er  sich  darob 
doch  nicht  recht  zu  freuen.  Und  was  war  ihm  auf  dem  Weg 
alles  durch  den  Kopf  und  ans  verängstigte  Herz  gegangen.  Mit 
keinem  Wort  vermochte  er  dem  eifernden  Männchen  neben  ihm, 
.das  alles  Unheil  über  den  Milchfrevler  von  Kilchwegen  herab- 
wünschte, beizustimmen.  Hängenden  Kopfes  lauschte  er  dem 
•heiligen  Zorne,  der  auch  über  seine  Seele  ging  wie  ein  schweres 
Gewitter.  Und  heiß,  brennendheiß  stieg  der  einzige  Wunsch  mit 
einemmaie  in  seinem  Herzen  auf,  er  möchte  so  brav,  so  fromm 
und  gerechtfertigt  vor  Gott  und  den  Menschen  den  Weg  ins  Dorf 
tun  können,  wie  der  alte  Hinterschweigsimmeler. 
„Guten  Morgen  wohl!" 

Zum  Tode  erschrocken  fuhr  der  Stöffi  zusammen.  Es  war 
ihm,  der  Blitz  habe  neben  ihm  eingeschlagen  und  vor  seinen 
Augen  tanzte  und  surrte  ein  ganzer  Imb  von  Feuerfunken.  Seine 
•Kniee  bebten.  Hinter  dem  gewaltigen  Steinsockel  des  Wegkreuzes 
-hervor  waren  der  riesenmäßige  Amtsschreiber  und  der  Dorfland- 
■jäger  getreten. 

Da  glitschte  der  alte  Simmeier  plötzlich  aus  und  plumste  mit 

seiner  schweren  Tanse  mitten  in  den  vereisten  Weg  hinein,   also 

•dass  die  Milch  wie  ein  Strom  aus  der  Tanse  ging  und  Weg  und 

I  Rasen  weitum  bedeckte,  als  flösse  das  Land  von  eitel  Milch  und 

■Honig.   „Heiland,  Heiland!"  stöhnte  er,  sich  mühsam,  mit  lieber- 

:göttischem  Gesicht  erhebend,  „sakerlotabeinander,  muss  mir  jetzt 

•das  Ungeschick   gerade   passieren,   wo   die    Herren  Milchschauer 

über  Weg  sind.     Es  ist  doch  des  Gockels.    Was   müsst  ihr  nun 

denken,   ihr   Herren?    So    könnte   ja   einer   noch   in   eine   böse 

■•Meinung  kommen,  ihr  Herren." 

•       -  (Schluss  folgt) 

■     naa    ■ 

25 


BETRACHTUNGEN  ZUR  CHRIST- 
LICHEN PASSIONSQESCHICHTE 


Als  wir  in  einem  der  letzten  Sommer  einige  Ferientage  auf 
dem  Untersee  zubrachten,  fesselte  uns  beim  Besuch  der  alten 
Kirchen  auf  Reichenau  mit  ihren  reichen  Denkmalen  frühmittel- 
alterlicher religiöser  Mystik  und  Symbolik  ein  uraltes  romani- 
sches Vortragkreuz.  Schmerz  und  Todespein  des  Crucifixus,  der 
erschöpfte,  geschundene  Leib  und  das  unter  der  Dornenkrone 
blutende  Haupt  des  Erlösers  sind  in  so  elementarem  Realismus 
dargestellt,  dass  es  Grauen,  Erschütterung  und  Mitleid  erregen 
konnte.  Eine  merkwürdige  Sympathie  für  diesen  echten  Dulder 
stieg  in  uns  auf,  beinahe  als  wären  wir  darüber  strittig  geworden, 
wem  er  mehr  zu  sagen  habe  und  wer,  dank  alter  religiöser  Ver- 
ehrung und  besonderem  Verständnis,  den  größern  Anspruch  auf 
ihn  zu  erheben  habe.  Der  war  echt,  und  die  Zeit,  welche  ihn 
hervorgebracht  hat,  muss  ihn  wohl  furchtbar  ernst  genommen 
und  erlebt  haben.  Drüben  vom  Altar  aber  schaute  lächelnd  eine 
heitere,  rotbackige  Barockmadonna,  reich  und  weltlich  angetan, 
mit  dem  Bambino  auf  dem  Schöße,  auf  den  Gekreuzigten  und 
seine  sonderbaren  Andächtigen  herunter,  und  sprach  von  einer 
fröhlichem,  vielleicht  oberflächlichen  Auffassung  des  Mysteriums 
in  einer  Zeit,  die  diesem  Opfer  skeptisch  gegenüberzustehen 
schien. 

Diese  Episode  mag  sich  mir  gegenwärtig  darum  aufdrängen, 
weil  sie  in  die  Anfangszeit  einer  für  uns  neuen  Auffassung  der 
mythologischen  und  religiösen  Gedankenwelt  fällt,  die  für  uns 
von  großer  Tragweite  geworden  ist.  Der  fortwährende  hartnäckige 
Vergleich  mit  den  Ergebnissen  der  täglichen  psychoanalytischen 
Beobachtung  hat  zu  einem  neuen  lebendigen  und  praktisch  über- 
aus wertvollen  Verständnis  dieser  Gebilde  unseres  Denkens  ge- 
führt, und  schon  frühe  hat  Fr^ad  begonnen,  die  Brücken  von  der 
Psychoanalyse  zur  Völkerpsychologie  zu  schlagen.  Und  so  fühlen 
wir  uns  ;  berechtigt,  an  einem  Problem  wieder  mitzusprechen, 
das    sich    bisher    vorwiegend    andere    Fakultäten     vorbehalten 

26 


haben  *).  Ich  möchte  in  gedrängter  Kürze  einiges  darstellen,  was  wir 
vom  analytischen  Standpunkte  aus  zur  Passion  Christi  etwa  zu  sagen 
haben.  Dabei  möchte  ich  mich  gerne  vor  allen  möglichen  Miss- 
verständnissen schützen,  welche  mir  daraus  erblühen  könnten; 
aber  ich  unterlasse  dies,  weil  es  mich  unnötig  in  die  Breite  führen 
würde.  Ich  will  weder  Transzendentales  ergründen,  noch  die 
Religion  im  besondern  retten  oder  zerstören.  Vielleicht  ergibt  sich 
aus  unsern  Arbeiten  für  die  Psychotherapie  das  erfreuliche  Resultat, 
mit  dem  religiösen  Vorstellungsmaterial  wieder  etwas  anfangen  zu 
können,  und  für  die  Theologen,  auf  rationalistische  Auffassungen, 
wie  sie  populär  etwa  in  Frenssens  „Leben  des  Heilandes"  zu- 
sammengefasst  sind,  zu  verzichten  und  der  Orthodoxie  durch  eine 
Wiederaufnahme  und  ein  psychologisches  Verstehen  des  Mythi- 
schen gleichsam  mehr  Ehre  anzutun.  Ich  mache  mir  die  Sache 
leicht,  indem  ich  mich  nicht  um  die  Streitfrage  „Hat  Jesus  ge- 
lebt?" kümmere.  Wohl  aber  gehe  ich  mit  jenen  wichtigen  neuen 
Arbeiten  einig,  welche  vor  allem  die  reiche  mythologische  und 
kultische  Unterfütterung  der  Evangelien  und  des  christlichen 
Mysteriums  dartun  und  welche  in  dem  letzteren  eine  besondere 
Weiterentwicklung  auf  schon  vorhandener  Grundlage  erblicken. 
In  diesem  kurzen  Aufsatze  ist  es  mir  nicht  möglich,  überall  auf 
alle  Ursprünge  und  Vergleichsmaterialien  einzugehen;  ich  kann  sie 
nur  da  und  dort  beiziehen. 

Ich  versuche  kurz  einiges  über  den  Weg  zu  erzählen,  wie  wir 
in  der  Psychoanalyse  dazu  kamen,  das  Opfermotiv  und  damit 
auch  das  christliche  Opfermysterium,  die  Passion,  näher  ins  Auge 
zu  fassen.  Wer  täglich  das  zur  Analyse  des  sogennannten  Unbe- 
wussten  dienende  Material  an  Träumen,  Phantasien  und  Kunst- 
schöpfungen untersucht,  dem  drängen  sich  die  Parallelen  von 
Motiven,  wie  wir  sie  in  Sage,  Märchen,  Mythos  und  Religion 
wiederfinden,  ganz  besonders  auf.  Aus  diesen  Vergleichen  sind 
denn  auch  eine  Reihe  von  analytischen  Bearbeitungen  völker- 
psychologischer Gebilde  hervorgegangen. 


^)  Vgl.  die  Arbeit  von  C.G.y«/zg^  „Wandlungen  und  Symbole  der  Libido". 
Jahrbuch  für  psychoanalytische  und  psychopathologische  Forschungen.  IV.  Bd. 
erste  Hälfte,  Leipzig,  Deuticke,  1912.  Jung  hat  hier  dem  Opfer  ein  beson- 
deres Kapitel  gewidmet. 

27 


.Bei  der  Analyse  sogenannter  nervöser  Symptome,  vor. allem 
^nervöser"  Beschwerden  am  Körper,  fällt  uns  auf,  wie  der  „nervöse" 
-Ausdruck  des  Leidens  durch  etwas  zur  Darstellung  gebracht  wird, 
was  einmal  Lust  und  Seligkeit  war.  Als  dezentes  und  verständ- 
liches Beispiel  nenne  ich  unter  anderm  das  angenehme  „holde" 
Erröten,  das  den  lebhaften,  guten  Gefühlsrapport  gewöhnlich  be- 
gleitet, im  Gegensatz  zum  peinlichen,  qualvollen  Rotwerden  des 
ertappten  Sünders,  oder  das  vom  Durchschnittsmenschen  psycho- 
logisch nicht  mehr  verstandene  „nervöse"  Erröten,  das,  oft  mit 
großer  Angst  verbunden,  als  nervöses  Krankheitssymptom  ange- 
sehen wird;  es  ist  ebensogut  begründet  wie  das  noch  verstandene 
normale  Erröten,  nur  haben  sich  die  Ursachen  und  Zusammen- 
hänge der  oberflächlichen  Beobachtung  entzogen. 

Die  Ambivalenz  des  Empfindens  findet  ihren  Ausdruck  in  den 
religiösen  Bildern  und  Vorstellungen  wieder,  im  Himmel  ist  der 
strahlende  Glanz  ewigen  Lichtes,  das  ein  Sterblicher  nicht  aus- 
halten könnte,  in  der  Hölle  als  qualvolles  Äquivalent  das  ewige, 
sengende  Feuer,  ambivalente  Qualitäten,  die  übrigens  in  unserem 
großen  Tagesgestirn  vereinigt  sind,  das  ebenso  wohltätig  als  furcht- 
bar sein  kann.  Fra  Angelico  hat  diesen  Vorstellungen  dadurch 
Wirkung  gegeben,  dass  er  in  einem  jüngsten  Gericht  (Galleria  antica 
e  moderna,  Florenz)  das  Paradies  mit  Strahlen,  Licht,  Gold,  Farben, 
Formenreichtum  und  Rhythmus  ausstattete,  die  Hölle  aber  in  matten, 
toten  Farben  malte,  mit  dumpfem  Feuer  und  den  typischen  Mo- 
tiven der  Höllenqual.  Das  Dürre,  Öde,  Tote  gehört  durch  die 
ganze  Psychologie  durch  ebenso  zum  Quälenden,  wie  das  sengende, 
brennende  Feuer.  In  manchen  Sagen,  zum  Beispiel  in  einer  Reihe 
von  schweizerischen,  wird  darum  die  Hölle  oder  Unterwelt  in  die 
öden  Moore  verlegt  und  ebenso  gehört  die  tote,  brennende  Wüste 
zu  den  Höllenmotiven.  Bezeichnend  ist,  dass  die  Versuchung 
Christi  in  die  Wüste  verlegt  und  ebenso  der  israelitische  Sünden- 
bock in  die  Wüste  gejagt  wird    (3.  Mose  16). 

Interessant  ist  die  noch  leicht  verständliche,  primitive  Auf- 
fassung der  schweizerischen  „Giritzenmoos"-Sagen  i)  und  Riten, 
dass  diejenigen  Mädchen  in  die  Hölle  kommen,  welche  nicht  recht- 
zeitig geheiratet  haben,   und  daraus  erlöst  werden  müssen.     Der 


')  Vgl.  Schweiz.  Archiv  für  Volkskunde  von  Hoffmann-Krayer. 
28 


Vergleich  mit  dem  DanaVdenmotiv  ist  gewiss  gerechtfertigt.  Von' 
hier  aus  verstehen  wir  weiter  den  Sinn  der  Tantalusqualen  als 
Darstellung  ewig  unbefriedigter  Begierde.  Um  nun  auch  die  sym- 
bolische Gleichwertigkeit  von  Hunger-  und  Liebesbildern  in  der 
Darstellung  der  unerfüllten  Sehnsucht  anzudeuten,  verweise  ich 
auf  den  sprachlichen  Ausdruck  der  Bibelstelle:  „Wie  der  Hirsch 
schreit  nach  frischem  Wasser". 

Wir  begegnen  denn  auch  in  den  nervösen  Symptomen  massen- 
haft den  Darstellungen  der  Qual  unerlöster  Sehnsucht:  Heiß-' 
hunger,  nervöser  Durst,  stundenlanges,  ruheloses  Herumlaufen 
und  vieles  ähnliche.  Die  Analyse  solcher  Symptome  nach  Ent- 
stehungsweise und  Konfliktausdruck,  kurzum  die  Individualbedeu- 
tung  gibt  uns  durchaus  das  Recht,  diese  Ausdrucksweisen  mit 
den  mythologischen  gleich  zu  setzen. 

Eine  bekannte,  sehr  ursprüngliche  Empfindung  und  Darstel- 
lung von  Wonne  ist  das  Schweben.  Wir  kennen  es  reichlich  be- 
legt aus  den  Traumanalysen,  wie  auch  aus  allgemein  bekannten 
religiösen  und  dichterischen  Vorstellungen. 

Die  Lyrik  ist  überaus  reich  an  solchen  Bildern;  Wolken  und 
Vögel  sind  ständige  und  schöne  Ausdrucksymbole  sehnsüchtiger 
Gedanken;  sie  haben  jene  Eigenschaft  an  sich,  die  dem  Menschen 
Wonneempfindung  sind.  Ich  erinnere  mich  beispielsweise  an 
überaus  hübsche  Wolkensymbolik  in  den  Gedichten  Lermontows 
aus  einer  in  einem  psychoanalytischen  Kreise  gebotenen  Studie 
über  diesen  Dichter.  So  verstehen  wir  auch  die  Ausstattung  der' 
göttlichen  Wesen,  welche  uns  als  Engel  traditionell  bekannt  sind, 
mit  Flügeln,  und  die  reiche,  liebevoll  dekorative  Ausarbeitung 
dieser  Attribute  bei  den  Malern  der  Frührenaissance. 

Einer  Bedeutung  in  diesem  Sinne  unterlag  folgender  Traum 
eines  Patienten,  der  sich  von  Zeit  zu  Zeit  wiederholt  hatte:  Aus 
der  Ferne  schwillt  etwas  Kleines  rasch  an  und  stürzt  sich  lawinen- 
artig auf  den  Träumer.  Im  Moment  wo  er  von  der  Lawine  ein- 
gehüllt wird,  beginnt  ein  seliges,  unendliches  Schweben  darin. 
Wir  erkennen  im  Traum  die  Elemente  einer  gefährlich  schwellen- 
den libidinösen  Erregung  (im  allgemeinsten  Sinne),  die  sich,  statt' 
sich  in  höchste  Angst  zu  steigern,  in  Seligkeit  auflöst.  Die  Ein- 
fälle ergeben  in  erster  Linie  Erinnerungen  an  schöne  Bergtouren, 
die  das  Genießen  höchster  Freiheit  bedeuteten,  mit  Wünschen,  sich 

29 


von  den  weiten,  luftigen  Abgründen,  oder  von  dem  Flaum  weicher 
Nebelmeere  in  seligen  Gefühlen  aufnehmen,  sich  hineinfallen  zu 
lassen.  Die  letzteren  Vorstellungen  stehen  denen  vom  ewigen 
Geborgensein,  mütterlichen  Charakters,  außerordentlich  nahe. 
Das  höllische  Pendant  des  seligen  Schwebens  finden  wir  wieder 
in  den  Motiven  ruhelosen  Schwebens  und  Umhergetriebenwerdens 
(in  Dantes  Inferno,  im  irrlichtermotiv,  im  Ausdruck  „Hangen  und 
bangen  in  schwebender  Pein".  Was  unerledigt  ist,  nennen  wir  „in 
der  Schwebe"  oder  brauchen  das  Fremdwort  „pendent"  dafür, 
also  „hängend"  ^). 

Für  die  zwiespältige  Seelenverfassung  ist  es  bezeichnend,  dass 
wir,  uneinig  mit  der  Triebrichtung,  ruhelos  getrieben  werden.  Wir 
empfinden  dies  als  zwanghafte  Qual.  Nach  unserer  Andeutung 
über  den  ursprünglichen  Sinn  der  Höllenmotive,  die  ja  als  Höllen- 
strafen  bezeichnet  werden,  dürfen  wir  bereits  erwarten,  dass  die 
Strafen,  welche  die  menschliche  Phantasie  zur  Rache  für  die  Ge- 
setzesübertretung erfunden  hat,  in  erster  Linie  aus  der  symboli- 
schen Darstellung  und  Aktivierung  seelischer  Qual  hervorgehen, 
und  es  würde  nicht  gar  schwer  fallen,  dies  historisch  nachzu- 
weisen :  für  das  Hängen,  Kreuzigen,  Köpfen,  Rädern,  Pfählen, 
Kastrieren,  Blenden,  Geißeln,  Rösten,  Spießen  bis  zur  einfachen 
Freiheitsberaubung,  dem  Gefangenhalten,  und  zur  Buße. 

Es  sind  nicht  nur  unsere  Patienten,  welche  uns  diese  Motive 
der  Qual  in  den  sinnvollsten  und  wunderbarsten  Darstellungen 
bieten;  ebenso  reiches  Material  liefern  Mythen  und  Kulte. 

Die  als  sexuelle  Perversion  gebrandmarkten  sadistischen 
Motive  erhalten  damit  eine  neue  Beleuchtung,  welche  sie  uns 
vergtändlicher  macht:  In  erster  Linie  handelt  es  sich  um  Bilder 
und  Empfindungen  eigener  Seelenqual,  in  zweiter  Linie  um  ihre 
motorische  Entladung.  Nur  in  einer  Spezialform  sind  sie  pervers: 
wenn  sie  in  eigentümlicher  Gefühlsambivalenz  lustvoll  betätigt 
und  die  vorherrschende  Triebäußerung  werden. 

Es  schadet  nichts,  wenn  wir  einmal  die  Darstellungen  der 
Qual  rehabilitieren :  Durch  die  altern  Betrachtungsweisen  wurden 
wir  verleitet,  sie  mit  Widerwillen  abzutun  und  die  Nase  darüber 
zu  rümpfen,  oder  als  psychiatrisch-klinische  Sexualabnormität  an- 


*)  C.  G.  Jung  hat  verschiedentlich  über  das  Hängemotiv  gesprochen. 
30 


zusehen.  Damit  sind  wir  ihnen  nicht  gerecht  geworden,  weder 
ihrer  Bedeutung  in  den  alten  Strafgebräuchen,  noch  in  ihrer  kulti- 
schen Erscheinung. 

Denn  es  hatte  einen  tiefen  Sinn,  dass  bei  der  Kulturentwicic- 
lung,  die  zahlreiche  Einschränkungen  mit  sich  brachte,  die  Em- 
pfindungen, die  die  kulturelle  Einschränkung  in  der  Psyche  aus- 
löste, die  Qualbilder  des  Verzichts,  in  einer  motorischen  Entladung 
an  dem  zu  vollziehen,  der  die  Schranke  durchbrach.  Auch  wenn 
wir  humanere  Anschauungen  erworben  haben,  werden  wir  diesem 
Racheprinzip  gerechter,  wenn  wir  es  aus  seiner  Entwicklung  ver- 
stehen lernen.  Dann  ist  es  uns  auch  eher  möglich,  bei  unsern 
Reformen  des  Strafrechts  die  sinngemäßen  modernen  Ersatzaus- 
wege zu  entdecken. 

Noch  besseres  Verständnis  können  wir  den  religiösen  An- 
wendungen der  Qualmotive  entgegenbringen.  In  der  Religion 
steckt  sowohl  Katharsis,  also  Entladung  des  Qualmotivs  (Rache) 
als  vorbildliche  rituelle  Darstellung  dessen,  was  im  Denken  ge- 
schieht oder  geschehen  soll,  respektive  sich  vorbereitet. 

Deutlich  sehen  wir  dies  zum  Beispiel  in  den  rituellen  Opfer- 
vorschriften des  Alten  Testaments  (3.  Buch  Mose).  Dort  wird  die 
Rache,  die  Qual  nicht  am  Sünder  vollzogen,  sondern  dieser  selbst 
rächt  sich  am  Symbol,  am  Tiere.  Eine  kleine  Geschichte,  die  ich 
einem  kürzlich  erschienen  Feuilleton  des  „Zeitgeist"  entnehme^), 
gibt  den  Sinn  dieses  Verhältnisses  recht  hübsch  wieder. 

Das  Söhnlein  eines  Indianers  ist  am  Sterben.  Ängstlich  be- 
obachtet der  Vater,  wie  ein  Augurium,  die  sorglich  gepflegten 
Haustauben:  Sie  fliegen  fort  und  der  Kleine  stirbt.  Im  namen- 
losen Schmerz  findet  der  Vater  einen  Ausweg:  mit  der  Axt  zer- 
stört er  den  Taubenschlag,  aus  dem  zwei  hilflose  junge  Täubchen 
fallen.  Vor  den  Augen  des  um  die  Brut  geängstigten  zurück- 
kehrenden Taubenpaares  zerquetscht  er  die  Jungen  mit  roher 
Hand.  Nach  dieser  Entladung  ist  er  erlöst,  kann  sich  ins  Schick- 
sal fügen. 

Wir  erkennen  in  den  Haustauben,  ihrem  Kult  und  ihrer  Rolle 
alte  Totemtiere,   also   göttliche   Wesen.     Wenn    ein   sogenannter 

^)  Die  Tauben.  Erzählung  aus  der  Wildnis  von  Coelho  Netto.  Aus 
dem  Brasil-Portugiesischen  von  Martin  Brusot. 

31 


„Köpfjäger"  in  der  gleichen  Lage  zur  Entladung  der  Qual  und 
Angst,  in  die  sich  die  Liebe  zum  Sohne  plötzlich  verkehrt,  einen» 
andern,  dem  verstorbenen  ähnlichen  Knaben  töten  würde,  so  wird 
hier  die  Entspannung,  einer  gesitteteren  Stufe  entsprechend,  an  den 
göttlichen  Wesen  vollzogen.  Die  Qual  verlangt  zu  ihrer  Erlösung 
einen  Ausweg.  Was  innerhalb  des  Göttlichen,  Religiösen  geschieht; 
ist  aber  sowohl  primitive  Entladung  in  kultischer  Einschränkung, 
als  auch  projiziertes  Denksymbol.  Ins  Göttliche  projizieren  wir 
die  eigenen  Wünsche  und  Tendenzen,  besonders  jene,  welche  wir 
als  treibende  in  uns  wahrnehmen,  ohne  sie  als  unsere  eigenen 
anzuerkennen.  Gott  rächt,  was  der  Mensch  selbst  zu  rächen 
aufgegeben  hat.  Aber  der  Mensch  rächt  sich  auch  an  der  Gott- 
heit, und  indem  er  dies  tut,  ist  er  bereits  auf  dem  Wege  hoher' 
Kultur:  Er  erlöst  sich,  indem  er  die  in  die  Gottheit  (hier  die 
Tauben)  projizierten  Wünsche  tötet,  opfert.  So  findet  er  allmählich 
den  einzigen  Weg,  der  erlösend  wirkt:  Was  uns  geschieht,  ist 
qualvoll;  erst  wenn  wir  es  nachträglich  durch  die  eigene  Tat 
sanktionieren,  sind  wir  erlöst.  Für  jene  Strebungen  in  uns,  auf 
die  wir  kulturell  Verzicht  leisten  müssen,  gibt  es  nur  eine  erlösende 
Erledigung:  Die  Nachahmung  dieses  Wilden  durch  den  aktiven 
Verzicht,  wobei  die  motorische  Aktion  sich  allmählich  über  den, 
Weg  des  religiösen  Ritus  in  eine  psychische  Anstrengung  und 
Leistung  des  Denkens  umwandelt. 

Durch  diese  Aktivierung  der  unerlösten  Qual  wird  das  Opfer 
ein  Ersatz  für  die  Aktivierung  der  Lust. 

Die  Psychologie  des  Individuums  zeigt  uns  Schritt  für  Schritt, 
dass  in  jeder  Leistung,  in  jedem  Fortschritt  das  Opferprinzip  ent- 
halten ist,  sobald  wir  aus  dem  rein  infantilen  Lustprinzip  heraus- 
treten und  uns  an  die  Realität  anpassen. 

Das  verleiht  nun  den  sadistischen  Tendenzen  in  uns  neue 
Bedeutung  und  verschiedene  kulturelle  Bewertungen:  Sie  enthalten 
eine  Neigung  zur  Umwandlung.  Die  primitive  Form  ist  das  Quälen 
anderer,  die  uns  jetzt  verwerflich  erscheint;  eine  kulturell  bedeut- 
samere Anwendung  ist  das  Strafen,  in  den  religiösen  und  rituellen 
Formen  aber  kommen  wir  erst  zu  einer  höheren  Entwicklung^ 
empor:  zum  aktiven  Opfern. 

Wir  sind,  gemäß  der  historischen  Entwicklung  des  Dramas, 
berechtigt,  auch  Schauspiel  und  Tragödie  zu  den  religiösen  Aktionen- 

32 


zu  zählen,  im  Dienste  icultureller  Tendenzen.  Ihr  Wert  besteht, 
ähnlich  dem  des  religiösen  Opferritus,  an  dem  die  Gläubigen 
teilnehmen,  in  einer  Handlung,  an  der  wir  uns  mitdenkend  zu 
erlösen  suchen.  So  wird  uns  der  Sinn  der  Tragödie,  zum  Bei- 
spiel des  Ödipus,  vergleichend  -  psychologisch  verständlich:  Der 
Verzicht  auf  eine  regressive  Tendenz  wird  dadurch  geleistet,  dass 
sie  zwar  ausgeführt  wird,  aber  qualvoll  ist  und  tragisch  endet. 
Sie  muss  untergehen  (Motiv  des  Sonnenuntergangs  in  der  Blen- 
dung), muss  sterben. 

Unsere  Analysen  sind  nun  voller  Qual-  und  Opferbilder.  Sie 
unterscheiden  sich  in  einem  wesentlichen  Punkte,  wobei  sich  das 
Opfer  von  der  bloßen  Vorstellung  der  unerlösten  Qual  immer 
durch  eine  Komponente  von  Aktivität  und  Handeln  unterscheidet. 

Und  von  all  den  Opfermotiven  ist  uns  gerade  eines  geläufig: 
das  Motiv  des  Verzichtens  auf  alte,  sehnsüchtig  begehrte  Ten- 
denzen, in  Form  des  aktiven  Erhöhungs-  und  Hängemotivs. 

Wenn  wir  gelernt  haben  in  der  antiken  Zoologie,  die  vor- 
wiegend Mythologie  ist,  unsere  psychischen  Geschehnisse  wieder 
zu  erkennen,  so  verstehen  wir  auch  die  Geschichte  vom  Fuchs 
und  den  hochhängenden  Trauben ;  nur  dass  er  den  Verzicht  nicht 
anerkennt,  sondern  beschimpft;  und  dieser  Fuchs  gehört  nicht  zu 
den  Erlösten  und  Befreiten. 

Wir  lernen  nun  auch  jene  archaisch-religiösen  Verirrungen 
verstehen,  die  uns  aus  der  Nähe  bekannt  sind:  Den  historischen 
Mord  von  Wildenspuch  im  Zürcher  Weinland,  wo  ein  Mädchen 
(also  direkt  das  Objekt  der  verbotenen  Wünsche  statt  eines  alten 
Symbols  von  phallischem  oder  tierischem  Charakter)  an  einer  Scheune 
erhöht  und  gekreuzigt  wurde,  und  jenes  Ereignis  pathologisch- 
religiöser Degeneration,  das  vor  einigen  Jahren  im  Kanton  Aar- 
gau spielte,  wo  ein  Kalb  als  Teufel  (Personifizierung  verbotener 
Tendenzen)  gemartert  wurde,  ich  kenne  auch  Fälle  von  Kinder- 
misshandlung, welche  einen  solchen  Ursprung  haben,  und  wie- 
viel Tierquälerei  mag  daher  kommen! 

Solchen  archaisch- regressiven  Tendenzen  sind  aber  gerade 
jene  Traumbilder  gegenüberzustellen,  welche  in  vorwärtsgerichteter, 
programmatischer  Form  den  intellektuellen  Verzicht  auf  das  Un- 
zweckmäßige darstellen,  in  Bildern,  die  den  schönsten  religiösen 
Gleichnissen  nie  nachstehen. 

33 


Auf  zwei  Vorläufer  des  christlichen  Passionsmotivs  möchte 
ich  nun  kurz  eingehen:  Einmal  auf  das  Motiv  des  geopferten 
Königs  („Le  roi  supplicie"  in  5.  Reinach:  Cultes,  Mythes,  Religions; 
vergleiche  auch  M.  Robertson:  Die  Evangelienmythen,  und  M.  Frazer: 
The  golden  Bough).  Durch  eine  Menge  von  Ländern  geht  und 
ging  die  Sitte,  zu  bestimmter  Zeit  die  Schranken  von  Gesetz  und 
Moral  aufzuheben,  wovon  die  römischen  Saturnalien  und  deren 
chistlicher  Abkömmling,  der  Fasching,  Beispiele  sind.  Vielerorts 
waren  diese  Festlichkeiten,  die  sich  uns  bereits  als  Reste  pri- 
mitiver religiös-kathartischer  Riten  dokumentieren,  von  uns  bar- 
barisch anmutenden  Sitten  begleitet,  von  denen  wir  bei  uns  harm- 
lose und  heitere  Relikte  und  Analogien  kennen  (den  Gebrauch 
in  England,  dass  einmal  im  Jahre  die  Diener  die  Herren  spielen 
dürfen ;  ferner  die  rituelle  Verbrennung  eines  aufgehängten  Simu- 
lacrums,  zum  Beispiel  des  Böggs  am  Zürcher  Sechseläuten);  ein 
Sklave,  also  ein  auf  niederer  Stufe  stehender  Mensch,  oder  ein 
Verbrecher  wurde  zum  Beispiel  durchs  Los  als  König  erklärt, 
oder  hatte  den  Gott  des  goldenen  Zeitalters  (ohne  Kultur- 
schranken) darzustellen.  Er  hatte  das  Recht,  von  seiner  könig- 
lichen Macht  Gebrauch  oder  Missbrauch  zu  machen  und  Exzesse 
zu  begehen.  Schließlich  hatte  er  sich  aber  selbst  zu  töten  (in  der 
römischen  Provinz  am  Altar  des  Saturnus).  Wir  haben  zahlreiche 
Kunde  von  ähnlichen  Gebräuchen  archaischer  Religionsübung  und 
von  deren  Überresten,  die  ich  nicht  einzeln  anführen  will,  die 
aber  alle  ein  ähnliches  Motiv  enthalten:  ein  Menschenopfer  unter 
der  Form,  dass  das  Opfer,  allmählich  immer  ein  Verbrecher, 
an  dem  betreffenden  Feste  ausgelassen  sein  durfte,  mit  könig- 
lichen Insignien  angetan  und  umgeben  wurde,  häufig  einen  Gott 
darstellte,  und  am  Schluss  seiner  Ehren  entkleidet,  oft  gegeißelt, 
und  dann  getötet  wurde:  zum  Beispiel  gehängt  oder  gekreuzigt. 
(Sacaea  in  Babylon).  Oder:  die  Rolle  ist  auf  zwei  Personen  ver- 
teilt: der  eine  Darsteller  entgeht  dem  Schicksal  und  kommt  zu 
königlichen  Ehren,  der  andere  wird  geopfert  (Esthermotiv). 
Während  die  Historiker  sich  bemühen,  diese  Geschichten  zu  ver- 
gleichen, und  ihre  Einzelheiten  mit  der  biblischen  Passionsgeschichte 
in  Einklang  zu  bringen,  und  namentlich  das  Datum,  vorwiegend 
die  Frühjahrstag-  und  Nachtgleiche,  mit  Recht  bedeutungsvoll 
finden,  begegnen  wir  durchaus  den  gleichen  Motiven  in  den  Traum- 

34 


materialien:  Ein  Symbol,  mit  Sonnen-  und  Königsqualität  (my- 
thologisch und  antik  gesprochen  ein  Gott)  wird  grausam  ge- 
schunden und  gequält  und  stirbt  oder  wird  getötet,  und  auf- 
gehängt. Solche  Bilder  erscheinen  im  Laufe  der  Analyse  dort, 
wo  eine  wesentliche  Umwandlung  im  Anzug  ist.  Aber  auch  das 
andere  Motiv  ist  da :  das  der  Wiedergeburt,  der  wiederaufsteigenden 
Sonne,  des  neuen  Königs.  Und  wir  werden  lebhaft  an  die  ganz 
elementare  Fassung  des  Libidoproblems  erinnert,  wie  sie  das 
Motiv  des  „Golden  bough"  von  Frazer  enthält:  der  priesterliche 
Hüter  des  heiligen  Baums  tötete  den,  der  den  Zweig  abreißen 
wollte.  Wem  das  aber  gelang,  der  hatte  das  Recht,  den  bis- 
herigen Priester  zu  töten  und  selbst  Priester  zu  sein. 

Das  genaue  Studium  all  dieser  Bilder,  verglichen  mit  dem 
lebendigen  Material  der  psychoanalytischen  Behandlung,  ergibt  eine 
kulturelle,  moderne  Formulierung:  Die  alte,  rückwärtsgerichtete 
gefährliche  Sehnsucht  ist  zu  opfern;  in  neuer,  wiedergeborner 
Gestalt  ist  sie  anzuwenden,  und  die  Gefahr  nicht  zu  scheuen. 

Die  Individualanalyse  erleichtert  uns  die  Deutung  insofern, 
als  das  Einfallsmaterial  uns  den  deutlichen  Hinweis  gibt,  was  zu 
opfern  und  was  zu  wagen  sei.  In  diesem  Zusammenhang  wird 
auch  verständlich,  dass  das  Symbol  des  Aufzugebenden  inzestuöser 
Färbung  ist;  was  im  Mysterium  geschieht,  enthält  ja  bereits  den 
Verzicht  auf  das  gleiche  Tun  in  der  realen  Kultur,  und  enthält 
einen  Hinweis,  dass  das  Gleiche  nur  in  höherer  und  sublimirter 
Form  auszuüben  sei,  nämlich  im  Denken^). 

Der  zweite  Vergleich  gilt  dem  Mithraskult,  einer  Religion, 
die  in  der  Antike  als  Vorläuferin  und  Nebenbuhlerin  des  Christen- 
tums große  Bedeutung  besaß.  Dort  wurde,  mit  archaischen 
Ritualien,  Mithras,  ein  Sonnengott,  verehrt,  dessen  Geschichte, 
wie  die  des  Heilands,  die  typischen  Heldenmotive  aufweist:  wunder- 
bare Geburt,  Weisheit,  Überwindung  des  Alten  (Versuchung)  und 
so  fort.  Wirksam  aber  ist  vor  allem  das  Opfermotiv,  das  als 
Altarbild  eine  ähnliche  Verbreitung  hatte  wie  heute  das  Kruzifix: 
der  Gott  opfert  schmerzvoll  sein  animalisches  Ebenbild,  den 
Sonnenstier,  also  sich  selber  (wir  dürfen  gleichzeitig  sagen:  sein 
Tierisches,  in  dem  Sinn  des  Sprachgebrauchs).    Wer  dem  Opfer 

^)  Ausführliche   Untersuchungen    darüber    siehe    bei    Jung,   „Wand- 
lungen und  Symbole  der  Libido". 

35 


beiwohnt,  gläubig  ist,  wird  dadurch  wiedergeboren,  ist  ein  Un- 
sterbh'cher. 

Betrachten  wir  die  reh'giösen  und  kultischen  Vorkommnisse 
als  lebendige,  treibende  Gebilde  im  Dienst  der  kulturellen  An- 
passung und  der  Entwicklung  des  Denkens  und  der  Einsicht  (über 
deren  Endzwecke  wage  ich  nichts  zu  sagen),  so  dürfen  wir  uns 
wohl  ein  Urteil  erlauben,  in  welcher  Fassung  eines  ursprünglich 
gleichlautenden  Motivs  der  größere  kulturelle  Wert  zu  suchen  sei. 
Zwar  deckt  sich  die  praktische  Moral  keineswegs  mit  der  Diffe- 
renzierung des  Glaubens.  /?ß//zacÄ  legt  Wert  darauf ,  dass  die  mithra- 
istische  Moral  des  Julianus  Apostata  der  christlichen  durchaus  eben- 
bürtig gewesen  sei;  Gottfried  Keller  behandelt  einen  ähnlichen 
Gedanken  im  „Verlorenen  Lachen"  (Ursula  und  Agathchen).  Gleich- 
wohl bedeutet  das  christliche  Passionsmotiv  inhaltlich  einen  Fort- 
schritt über  das  des  Mithras^),  ebensosehr,  wie  der  christliche 
Abendmahlskult  die  barbarischen  Stieropfer  überragt.  Zwar  ist 
Milhras  ein  Mittler,  ähnlich  wie  Christus,  also  eine  Vermensch- 
lichung des  Symbols.  Aber  er  bleibt  uns  trotzdem  ferner,  astro- 
logischer, und  erreicht  bei  weitem  nicht  die  unmittelbar  mensch- 
liche Gestaltung,  die  uns  ein  volles  Einfühlen  erlaubt.  Das 
Wesentliche  aber  ist,  dass  der  christliche  Gottmensch  sich  selbst 
opfert;  in  diesem  Sinne  reicht  das  Opfermotiv  an  Wert  weit  über 
das  des  mithraistischen  Stieropfers  hinaus:  Hier  erst  wird  das  Gött- 
liche auch  ganz  menschlich,  und  der  Gottmensch  opfert  sich 
selbst  und  vollständig.  Diese  Andeutungen  über  den  psychologi- 
schen Sinn  des  Opfermotivs  veranlassen  uns,  einigen  besondern 
Zügen  der  Passionsgeschichte  noch  genauer  nachzugehen.  Das 
reichhaltige  Material  vorchristlicher  analoger  Kultmotive  mit  ihren 
beständigen  Verdichtungen,  Entlehnungen  und  Verschmelzungen 
berechtigt  ganz  besonders  und  stützt  die  Art,  diese  Probleme 
psychoanalytisch  in  ihren  fortwährend  neuen  Fassungen  zu  unter- 
suchen. 

Der  Heiland  ist  ein  niedriger  Gott  und  verkörpert  ein  Motiv, 
dem  wir  in  der  Mythologie,  im  Märchen  und  Traum  überaus 
häufig  begegnen.  Aus  dem  Unscheinbaren,  Niedrigen,  Gemeinen, 
Verachteten  geht  ein  Held  hervor.    Alles  Neue  und  Wertvolle  steigt 

>)  Vgl.  auch  die  archaischen  Einzelheiten  in  A.  Dieterich,  „Eine  Mi- 
thrasliturgie". 

36 


aus  der  Tiefe  des  Trieblebens  herauf;  damit  es  wertvoll  werde, 
bedarf  es  der  Umwandlung,  des  Opfers,  der  Wiedergeburt.  Die 
Kulte,  sofern  sie  als  ursprünglich  primitiv-kathartische  Entladung 
in  Betracht  kommen,  beweisen  diesen  Gedanken  durch  ihre  Ge- 
schichte und  durch  ihre  Rückfälle  ins  Primitive.  Die  Bedeutung 
dieser  Tatsache  für  unsere  eigene  Psychologie  kann  der  am  besten 
beurteilen,  dem  sich  diese  Bilder  in  täglich  neuer  Variation  und 
Gleichheit  am  Traummaterial  der  Analysanden  offenbaren.  Wir 
verstehen,  nicht  bloss  aus  praktischen,  sondern  auch  aus  psycho- 
logisch-historischen Gründen,  warum  so  häufig  Verbrecher  als 
Opferobjekte  dienten;  und  warum  sich  auf  der  andern  Seite 
wieder  die  Priester  opfern  oder  kastrieren  mussten,  versteht  sich 
nur  aus  den  ursprünglich  intimsten  Beziehungen  der  Gegensätze 
von  verbrecherisch  und  heilig.  Im  zitierten  Motiv  vom,,  goldenen 
Zweig"  ist  noch  der  der  Verbrecher,  dem  der  Raub  nicht  gelingt; 
der,  dem  er  gelingt,  tötet  den  Priester  und  tritt  an  dessen  Stelle,  ist 
also  ein  Held  geworden. 

Vom  Lustprinzip,  das  heißt  vom  Innern  Entwicklungsprinzip 
aus  beginnt  die  Schuld  und  die  Angst  erst  da,  wo  es  sich  der 
Realanpassung  gegenüber  nicht  mehr  durchsetzen  kann.  Auch  bei 
uns  umleuchtet  den  Verbrecher  noch  häufiger  als  es  einem  oft 
lieb  wäre  die  Heldengloriole.  Der  Priester  ist  aber  bereits  der 
Repräsentant  eines  kulturellen  Niveaus,  wo  nur  noch  Gott  tun 
darf,  was  der  Mensch  bereits  aufgegeben  hat.  Und  darum  muss 
in  diesem  Kulturstadium  der  Priester  zugleich  rein  sein  und  zu- 
gleich den  Verzicht  auf  das  Unreine  oder  Primitivere  rituell  dar- 
stellen. Diesen  Gedanken  enthält  auch  die  christliche  Passion. 
Die  Schuld  der  Menscheit,  das  heißt  äquivalent  die  Größe  ihrer 
Kulturaufgabe,  ist  so  enorm,  dass  nur  ein  Gott,  der  zugleich  auch 
Mensch  ist,  die  Erlösung  bringen  kann.  Im  Gottmenschentum 
wird  etwas  ganz  Wesentliches  seiner  Verwirklichung  nahe  gebracht: 
das  ganze  Problem  wird  wieder  in  den  Menschen  gelegt,  es  wird 
seine  eigene  Angelegenheit;  in  dieser  Beziehung  ist  das  Christen- 
tum weiter  gekommen,  als  der  Mithraskult.  Was  wir  in  der  Psy- 
choanalyse erstreben:  ein  Verständnis  für  die  mythologisch-sym- 
bolische Ausdrucksweise  der  Tendenzen  unseres  Unbewussten 
(darum  die  Traumanalyse),  findet  ein  Analogon  in  der  Entwick- 
lung der  religiösen  Kulte.  Freilich  hat  diese  Entwicklung  seit  den 

37 


Evangelien  noch  weitere  große  Fortschritte  gemacht.  Die  kräftigen 
Choräle  der  Bach'schen  Passionen  zeigen,  was  an  Verinnerh'chung 
und  Symboiauflösung  aus  dem  Evangeh'entext  geworden  ist. 

Dem  Motiv  des  unschuldig,  aber  wie  ein  Verbrecher  geopfer- 
ten Gottes,  das  auch  im  Selbtsopfer  des  Priesters  enthalten  ist, 
kommt  in  der  Psychoanalyse  praktische  Bedeutung  zu.  Solange 
keine  Schranken  der  Not  oder  Kultur  oder  fortschreitender  Lebens- 
aufgabe den  Weg  unserer  primären  triebhaften  Entfaltung  stören, 
sind  wir  unschuldig.  Wir  dürfen  das  Schuldgefühl  nicht  in  erster 
Linie  moralisch  auffassen,  wie  es  noch  die  Psychiatrie  in  der 
ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  tat  und  wie  es 
noch  die  allgemeine  Auffassung  überhaupt  ist,  sondern  als  ganz 
primäre  Reaktion  auf  ein  Hemmnis  der  libidinösen  Entfaltung, 
eine  psychische  Stauung,  viel  allgemeiner  und  in  der  Neurosen- 
pathologie viel  elementarer,  als  es  durch  die  Einschränkung  mo- 
derner Moralgebote  geschieht.  Wir  sprechen  von  den  unschuldigen 
Kindern,  die  uns  ja  nicht  an  Moral  überragen.  Schuldig  werden 
wir  mit  zunehmender  Schwierigkeit  der  Anpassung  an  das  Leben, 
sofern  wir  da  in  Rückstand  geraten. 

In  der  Analyse  sehen  wir  an  dieser  Stelle  die  Schuldgefühle 
anschwellen  und  alte  Erinnerungen  von  ähnlichen  Hemmnissen 
neubeleben  und  überschwemmen. 

Nehmen  wir  den  einfachen,  aber  häufigen  Fall,  jemand  schei- 
tere an  einer  der  gewöhnlichsten  Klippen:  von  der  Pubertät  an 
zögere  er,  den  neuen  Aufgaben  des  Lebens  gerecht  zu  werden; 
von  da  an  wird  er  schuldig.  Seine  Phantasien  bezeichnen  nun 
das  ganze  bisherige  kindliche  Entwicklungsstadium  als  unschuldig, 
die  kommende  Aufgabe  als  Begehen  einer  Schuld;  oder  das 
Schuldgefühl  besetzt  die  gegenwärtigen  elementaren  Triebäuße- 
rungen. An  dieser  Stelle  ist  ein  Opfer  des  reinen  Lustprinzips 
nötig:  Wir  müssen  vorwärtsschreiten,  und  um  zu  leben,  auf 
Leben  verzichten:  gerade  zum  Beispiel  die  Kinder,  die  wir  haben, 
mahnen  uns,  dass  wir  mit  unserm  Fortschritt  im  Leben  auch 
unser  Grab  schaufeln   und  bereits  unsere  Erben  geboren  haben. 

Die  fortschreitende  Einsicht  macht  uns  schuldig,  wenn  wir 
im  Handeln  nicht  nachkommen.  In  „Niels  Lyhne"  s^nc\\\.  Jacob sen 
von  einer  Sünde,  die  nie  vergeben  werde,  jene  gegen  den  heiligen 
Geist.    Als    solche    bezeichnet   er   das    Unvermögen,  seine  neu- 

38 


gewonnen  Einsichten  und  Anschauungen  festzuhalten  oder  in  die 
Tat  umzusetzen,  weil  sie  zu  hart  sind,  oder  weil  wir  uns  von 
liebgewonnenen  kindlichen  Anschauungen  und  Sentimentalitäten 
nicht  zu  trennen  vermögen. 

Das  Widerspiel  des  unschuldigen  Opfers  bildet  in  der  Passion 
das  jüdische  Volk,  welches  das  Opfer  verlangt;  in  den  Analysen, 
die  ja  nach  dem  bisher  Angedeuteten  einer  Passion  sehr  ähnlich 
sehen,  ist  uns  diese  drängende  Masse  in  allerhand  Gestaltung 
wohlbekannt.  Im  Widerstreit  innerer  Tendenzen  drängt  eine  zur 
Durchsetzung  der  treibenden  Kraft,  die  vom  Standpunkt  des  Nicht- 
wagens  —  oder  des  Nichtopfernwollens  —  schuldhaft  ist. 

Dieser  ambivalente  Charakter  des  Volks  in  der  Passion  zeigt 
sich  darin,  dass  es,  gemäß  historischer  Entwicklung  des  kultischen 
Gebrauchs,  eigentlich  die  Opfernden  darstellt.  Diese  Rolle  des 
jüdischen  Volks  in  der  Passion  erhellt  aus  einer  kulturhistorischen 
Tatsache  wohl  nur  zu  deutlich:  sie  ist  ihm  schlecht  bekommen. 
Die  Christen  scheinen  den  Juden  die  Rolle,  welche  sie  in  der 
Passionsgeschichte  als  Opferende  spielen,  furchtbar  übel  ge- 
nommen zu  haben.  Den  durch  die  „Juden"  dargestellten  (nicht 
unbedingt  selbst  realisierten)  Zwang  zu  weitern  kulturellen  Ver- 
zichten mussten  sie  im  Lauf  der  Geschichte  oft  blutig  büßen ;  an 
allem  Unglück  waren  ja  immer  die  Juden  schuld.  Der  Tugend- 
hafte ist  gewöhnlich  recht  intolerant. 

Die  mythologischen  Untersuchungen  der  Passionsgeschichte 
betonen  deren  dramatischen  Charakter,  was  unserer  analystischen 
Auffassung  sehr  entgegenkommt.  Die  Rolle,  die  das  böse,  zugleich 
aber  opfernde  Volk  spielt,  die  Tendenz,  die  es  darzustellen  hat, 
leuchtet  aus  Otto  Julius  Bierbaum's  Samalio  Pardulus  hervor. 
Das  war  ein  Maler  in  der  italienischen  Renaissance,  einsam  auf 
einer  unheimlichen  Burg  hausend ;  er  war  ein  Ketzer,  behauptete, 
Gott  habe  die  Welt  erschaffen,  weil  ihm  die  Einsamkeit  unerträg- 
lich geworden  sei;  durch  die  Erschaffung  sei  er  aber  selbst 
sterblich  geworden  (analytisch  gesprochen :  die  Isolierung  nötigt 
den  Menschen,  nämlich  den  Maler,  seine  Phantasien  in  Hand- 
lungen umzusetzen,  mit  der  Umwelt  in  Kontakt  zu  kommen.  Alle 
Handlung  ist  aber  ein  Opfer  von  Millionen  unverbindlichen 
Phantasiemöglichkeiten  und  Größenideen,  und  wo  wir  mit  der 
Wirklichkeit  in  Beziehung  treten,  anerkennen  wir  gleichzeitig  unsere 

39 


Sterblichkeit).  Mit  Entsetzen  nennt  der  Chronist  seine  Bilder: 
eines  stellt  den  eigenen  Schwester- Incest  dar.  Auf  einem  andern 
aber  malt  er  sich  als  Gekreuzigten  mit  der  Dornenkrone;  aber 
statt  der  Züge  des  göttlichen  Erlösers  malt  er  seine  eigene  tierische 
Physiognomie,  und  in  einer  Weise,  die  dem  Chronisten  als  blas- 
phemisch  erscheint,  malt  er  auch  seine  Entblößung.  Wir  werden 
uns  weniger  entrüsten;  denn  diese  Darstellung  ist  zwar  archai- 
scher, aber  für  den  Eingeweihten  von  monumentalem  Eindruck : 
das  Animalische  (wie  bei  Mithras)  im  speziellen  Sinne,  die  re- 
gressiv-inzestuöse Tendenz,  und  allgemeiner  die  altertümlichere  und 
primitivere  Triebtendenz  ist  gequält  und  muss  geopfert  werden. 
Indem  er  dem  Gekreuzigten  die  eigenen  hässlichen  Züge  leiht, 
stempelt  er  auch  das  Opferproblem  zum  eigenen. 

M.  John  Robertson  (die  Evangelienmythen)  setzt  das  Motiv 
vom  Leiden  am  Ölberg  in  Parallele  zur  Verklärung.  Für  den 
Analytiker  ist  dies  sehr  annehmbar  und  einleuchtend,  dank  der 
Umwandlung  von  Seligkeit  in  Qual  durch  den  Widerstand  vor 
der  Umwandlung.  Die  Verklärungsszene  ist  mit  Sonnenmytho- 
logie reichlich  untermalt;  und  wie  die  als  Sonnen-  und  dadurch 
Libidosymbol  dokumentierte  Krone  höchste  Kraft  darstellt,  die 
Dornenkrone  aber  eine,  wie  früher  schon  angedeutet,  mythen- 
und  kultgeschichtlich  wohlfundamentierte  Spottkrone  oder  Qualen- 
krone des  Opferkönigs  ist,  die  auch  antiken  Mythenhelden  (zum 
Beispiel  Herakles)  nach  Überwindung  einer  Schwierigkeit  zukommt, 
also  wird  Seligkeit  zur  Qual  im  Angesicht  eines  schwer  zu  leisten- 
den Fortschritts  oder  Opfers.  Nicht  umsonst  sind  diese  typi- 
schen Motive  der  Passion  auch  „Geheimnisse"  des  schmerzhaften 
Rosenkranzes  geworden.  „Geheimnis",  Mysterium  ist  ja  immer 
ein  Symbol. 

Der  Verrat  des  Judas  und  die  nächtliche  Gefangennahme 
bringt  Robertson  in  Beziehung  zur  Sprache  der  Sonnenkulte, 
deren  Spuren  oder  lebendige  Analogien  wir  in  der  Ausdrucks- 
weise unseres  Unbewussten  immer  wieder  finden.  Der  göttliche 
Held  wurde  dort  den  Häschern  (den  Figuren,  welche  unsern 
eigenen  psychologischen  Widerstand  darstellen)  den  finstern 
Mächten,  sagen:  „Dies  ist  eure  Stunde  und  die  Macht  der  Finster- 
nis". Ähnhich  stellen  Mythos  und  Märchen  den  (nur  als  psycho- 
logisches  Symbol   richtig  zu  verstehenden)   Helden  in  Schwierig- 

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keit  und  Zweifel  dar.  Interessant  sind  jene  Gebräuche,  welche 
in  der  Nacht  vom  Gründonnerstag  auf  Charfreitag  „den  Lärm 
der  jüdischen  Rotte  nachahmen".  Dieser  Ritus  erinnert  uns  all- 
zusehr an  alle  jene  Lärmgebräuche,  um  die  dunklen  Dämonen 
zu  verjagen  und  der  Sonne  oder  dem  Sonnengott  zum  Siege 
zu  verhelfen  (Sylvester,  Fastnacht,  Johannisglocken  in  Rom, 
kulthistorische  Bedeutung  der  Glocken  im  Allgemeinen  und  den 
„Ratschen"  in  den  katholischen  Kirchen  in  der  Charwoche  im 
speziellen). 

Psychologisch  ist  also  Judas  eine  Art  Antichrist,  der  Held  der 
Verneinung,  der  zugrunde  geht.  In  gar  vielen  Heldenmotiven  (und 
Träumen)  tritt  uns  dies  Motiv  entgegen:  Der  sonst  unverletz- 
liche Held  ist  irgendwo  verwundbar,  und  durch  eine  uns  nicht  wohl 
bewusste  eigene  verräterische  Gegentendenz  stellen  wir  unserm 
eigenen  guten  Stern  eine  Falle.  Judas  ist  denn  auch  der,  der  nie 
erlöst  werden  kann,  das  Gegenmotiv  zum  Helden,  der  sich 
selbst  erlöst. 

Auch  Petrus  ergibt  sich  als  figürliche  Abspaltung  im  ganzen 
Motive,  als  Personifizierung  gewisser  Tendenzen.  Robertson  gibt 
äußerst  interessante  Analogien,  speziell  zu  Janus  bifrons  und 
Mithras,  als  Unterlagen  zum  mythologischen  Petrus.  Janus  bifrons 
ist  der  vorwärts  und  rückwärtsblickende  Zeit-  und  Sonnengott. 
Er  ist,  wie  Mithras  und  Petrus,  Türöffner  und  Schlüsselinhaber. 
Diese  Rolle,  psychologisch  verstanden,  kann  aber  auch  den 
Zweifel  ausdrücken  oder  im  Gefolge  haben.  Unser  seelischer 
Konflikt  spaltet  unsere  Tendenzen  in  vorwärts-  und  rückwärts- 
blickende Sehnsucht.  Die  Vermutung  Robertsons,  dass  „bifrons" 
bei  Janus  „zweifelnd"  bei  Petrus  wird,  ist  aus  der  analytischen 
Erfahrung  heraus  durchaus  zu  unterstützen;  Petrus  ist  also  eine 
personifizierte  Abspaltung  des  (Sonnen-)  Helden  zur  Darstellung 
des  ambivalenten  Zweifels. 

Lange  bevor  ich  mich  um  dieses  Thema  besonders  kümmerte, 
gab  mir  ein  Patient  folgendes  monumentales  Traumbild: 

Eine  aufrechtstehende  Gestalt,  ihn  und  seine  Wünsche  dar- 
stellend, ist  flankiert  von  zwei  kauernden  Personen,  Christus  und 
Petrus,  und  zwar  ist  die  Anordnung  so,  dass  die  Gruppe,  ein 
Gleichnis  seines  seelischen  Zustandes,  das  völlig  archaische  Bild 
eines  Phallus  mit  zwei  Testikeln  ergibt.  Ich  hoffe  vom  Ernst  und 

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der  Bildung  meiner  Leser,  dass  sie  an  diesem  Beispiel  nicht  An- 
stoß nehmen;  denn  die  alten  Kulte  wussten,  welche  großen  Ge- 
danken sie  in  das  phallische  Symbol  kleideten.  Die  Einfälle  zu 
Christus  und  Petrus  lauten:  ich  war  getröstet  und  reingewaschen 
im  Gedanken,  dass  selbst  Christus  auch  Angst  vor  seinem  Werk 
hatte  wie  ich,  und  dass  Petrus  ihn  verleugnete.  Der  Patient  stellt 
also  dar,  dass  er  zwar  den  Wunsch  hat,  etwas  zu  erreichen,  dass 
er  aber  Angst  vor  den  Konsequenzen  und  der  Verpflichtung  des 
Lebens  hat.  Denn  in  den  Testikeln  liegt  die  zeugende  Kraft, 
gleichzeitig  aber  auch  die  Konsequenz  derselben;  diese  Logik 
ergibt  sich   schon  aus   der  reinen  Sexualübersetzung  des  Bildes. 

Wie  nun  Christus  und  Petrus  in  diesem  Traum  Abspaltungen 
der  psychischen  Persönlichkeit  des  Träumers  selbst  sind,  so  ist 
Petrus  in  der  Passion  der  mythologisch  leicht  verständliche  Dar- 
steller des  Zweifels.  Als  Figur  ist  er  eine  Abspaltung  des  (Sonnen)- 
Helden  selbst,  und  hat  als  Symbol  den  Hahn,  den  die  Sonne 
vorauskündenden  Vogel.  In  den  Alpsagen  ist  es  darum  so 
wichtig,  bis  zum  erlösenden  Krähen  des  Hahns,  bis  zum  Tages- 
anbruch, auszuharren.  Dann  ist  man  vom  Alp  befreit. 

Wenn  in  der  mythisch  unterlegten  Sprache  des  Traums  eine 
Veränderung  angezeigt  wird,  so  hat  sie  häufig  eine  der  bekannten 
Formen,  denen  das  Gleichnis  der  Sonne,  des  Sonnenhelden  oder 
Gottes  zugrunde  liegt.  Die  Hauptfigur,  der  ein  Sonnensuffix: 
frisch  angezündetes  Licht  (Aladins  Wunderlampe  in  „Tausend  und 
einer  Nacht"  und  verschiedenen  Märchen),  rotes  Haar,  Flügel, 
Krone,  Rad  und  dergleichen  nicht  fehlt,  ist  von  einer  Zahl  Be- 
gleiter umgeben,  aktive  Tendenzen  verschiedenen  Charakters, 
personifizierte  Attribute  der  Hauptfigur  darstellend.  Kaiser  mit 
Hofchargen,  das  Motiv  der  Engel  oder  der  hilfreichen  Heinzel- 
männchen, alle  diese  mit  der  erwachenden  Libido  verbundenen 
und  sie  unterstützenden  Einzelstrebungen  kommen  in  immer  neuen 
Variationen  vor.  So  stellen  sich  die  Apostel  zum  Heiland,  und 
der  mythische  Petrus  ist  also  selbst  ein  Held,  Abspaltung  des 
Heilandes,  erster  der  Apostel. 

Der  durch  Petrus  dargestellte  Zweifel  findet  nochmals  Wieder- 
holungen: im  schwankenden  Pilatus,  der  zur  Korrektur  die  ri- 
tuelle Handwaschung  vollzieht.  Und  zweitens  in  der  Szene  von 
Barrabas.     Im   Brauch   des  freigelassenen  Verbrechers  einerseits, 

42 


des  geopferten  Saturnalienkönigs  anderseits  haben  wir  die  beiden 
Komponenten  des  Problems,  das  ich  bereits  angedeutet  habe 
(vergleiche  die  Geschichte  der  Esther).  Das  niedere  Volk  will 
den  Verbrecher  freilassen;  die  kulturell  höhere  gegensätzliche 
Notwendigkeit  ist  das  Opfer  des  unschuldigen  Gottes. 

Die  Figur  Simons  von  Kyrene  ist  auch  eine  der  Mythologie 
entnommene  Heldengestalt,  die  hier  als  Nebenfigur  des  gött- 
lichen Helden,  als  seine  Abspaltung,  sein  Attribut  erscheint.  Die 
mythologischen  und  psychoanalitischen  Parallelen  ergeben  für 
das  Kreuztragen  nicht  allein  den  gewöhnlichen  Sinn  der  Re- 
signation, sondern  die  Notwendigkeit,  gleich  Herakles  und  Simson, 
gleich  der  untergehenden  Sonne,  das  uns  Beklemmende,  Belastende, 
die  Qual  der  rückwärtsblickenden  Sehnsucht,  zur  Stätte  des  Unter- 
gangs zu  bringen,  zum  Opfer. 

Das  mythische  Kreuz  enhält  eine  so  gewaltige  Verdichtung 
von  symbolischer  und  historischer  Bedeutung,  dass  ich  mir  nur 
Andeutungen  gestatten  darf.  Es  ist  ein  uraltes,  fast  universelles 
Lebens-  und  Triebsymbol,  und  in  C.  G.  Jungs  „Wandlungen  und 
Symbole  der  Libido"  in  seinen  Bedeutungen,  besonders  als  Opfer- 
kreuz, untersucht  worden.  Ein  Kapitel  im  zitierten  Buche  von 
John  M.  Robertson  weist  uns  auf  eine  Menge  historisch-symbo- 
lischer Beziehungen  hin,  vor  allem  auf  die  Bedeutung  als  Lebens- 
baum, aber  auch  als  astronomisches  Bild.  Das  psychologische 
Ergebnis  ist  das  Opfer  des  tierischen  Symbols  (Lamm,  Widder) 
oder  des  Gottes,  der  die  primitiven  Triebtendenzen  darzustellen 
hat;  die  symbolischen  Beziehungen  ergeben  vor  allem  die  mütter- 
lichen Attribute  und  Bedeutungen  des  Kreuzes  (Kulte,  wo  der 
Lebensbaum  =  Kreuz  =  heldenaufnehmende  und  heldengebärende 
Mutter  ist).  Man  vergleiche  Ixion,  der  zur  Strafe,  die  Himmels- 
königin begehrt  zu  haben,  auf  ein  feuriges  Rad  gebunden  wird, 
das  im  Hades  ewig  rollt  (Höllenmotiv,  Opfer  oder  ewig  uner- 
füllte, rückwärtsgewendete  Sehnsucht). 

Danach  haben  wir  im  Kreuzestode  des  Heilandes  das  Opfer, 
den  Verzicht  auf  das  Tierische  und  auf  alle  jene  rückwärts  ge- 
richteten Tendenzen  zu  suchen,  welche  im  Muttersymbole  zur 
Darstellung  gelangen.  Und  wie  uns  das  Ixionmotiv  zeigt,  ist  der 
Kreuzestod  nur  erlösend  als  aktiver,  befreiender,  tätiger  Verzicht. 
Die  Erbsünde  ist  das  im  Inzestmotive  und  seiner  Symbolik  dar- 

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gestellte  rückwärts  gerichtete  Prinzip.  Und  wenn  die  Strafe  der 
Erbsünde  die  Arbeit  ist,  zeigt  sich  darin  auch  der  Grund  der 
Erbsünde:  die  Scheu  vor  intentioneller  Leistung  und  Kulturarbeit. 

So  baut  sich  auf  weiter  und  tiefer  Basis,  die  bis  zu  den 
Fruchtbarkeitszaubern  hinuntersteigt,  das  christliche  Erlösungs- 
mysterium auf;  eine  ganze  Menschheit  hat  daran  gearbeitet.  Seine 
Fortsetzung  muss  notwendig  die  sonnengleiche  Auferstehung  in 
all  ihrem  Glänze  sein,  nachdem  nochmals  in  besonderer  Form 
die  sonnengleiche  Nachtwanderung  in  die  Hölle  dargestellt  wird, 
in  der  die  gleichgesinnten  Tendenzen,  die  Gerechten  befreit 
werden.  Die  Muttersymbolik  der  Erde,  des  Grabes  (das  noch 
unberührt  war!)  und  der  Unterwelt  will  ich  nur  andeuten.  Die 
Auferstehung  ist  auch  eine  Wiedergeburt,  der  Tod  das  Versinken 
in  die  Arme,  den  Schoß  der  Mutter. 

Aus  der  psychoanalytischen  Praxis  sind  uns  jene  Bilder,  welche 
die  seelische  Umwandlung  als  ein  Wiedereingehen  in  die  Mutter, 
um  aus  ihr  wiedergeboren  zu  werden,  als  Sterben  der  alten  Ten- 
denzen, um  nach  längeren  unterirdischen  Kämpfen  und  Abenteuern 
und  unter  Auffindung  hilfreicher  Kräfte  zur  Wiedergeburt  aufzu- 
erstehen, wohl  bekannt.  Das  Wiedergeborene  symbolisiert  die  zu 
neuer  Anwendung  nach  einem  Opfer  bereite  seelische  Kraft.  Der 
Auferstandene  ist  ein  geistiges  Prinzip.  Und  um  das  ewige  Bild 
der  wiedererstehenden  Sonne  ranken  sich  die  immer  wertvollem 
Motive  seelischer  Umwandlung.  In  diesem  Geiste  erwachen  uns 
die  Bilder  vom  wiedergefundenen  Osiris  und  von  der  Szene  am 
Grabe  des  Auferstandenen  zu  neuer,  innerer  Bedeutung. 

Und  dieser  Sinn  der  Wiedererneuerung  des  Lichtes  spiegelt 
in  jenem  florentinischen  Charsamstagsbrauch  wieder,  wo  das 
rituelle  Feuerschlagen  an  einem  Stein  vollzogen  wird,  der  vom 
heiligen  Grabe  stammen  soll.  Wenn  es  eine  Wiedergeburt  gibt, 
so  wird  ihre  Symbolik  der  der  Geburt  ähnlich  sein  (Höhle  in 
Bethlehem,  Felsengeburt  des  Mithras). 

Wir  haben  es  bei  der  Auferstehungssymbolik  mit  einer  neuen 
Variation  des  Motivs  der  untergehenden  und  wiederaufstehenden 
Sonne  zu  tun,  wie  in  den  Motiven  von  Petrus  und  Barrabas. 
Diesmal  aber  in  einer  vollendeteren  Form:  nicht  in  der  primitiven 
des  freigelassenen   Barrabas,  sondern  jener,  welche  das   Opfer, 

44 


die  innere  Umwandlung  und  die  Auferstehung,  das  Leben  in  neuer 
Form,  die  Vergeistigung  darstellt. 

Es  wäre  verlockend,  alle  jene  Erneuerungsritualien  zu  studieren, 
welche  vor  allem  die  katholische  Kirche  in  dieser  Zeit  der  Helden- 
opfer und  Heldenwiedergeburt  verwendet:  Die  Erneuerung  des 
Lichtes  am  Charsamstag,  die  Symbolik  der  Osterkerze,  das  Kerzen- 
löschen  bei  der  Mette,  die  Weihe  des  Taufwassers,  die  vorwiegend 
in  diese  Zeit  der  Sonnenwiedergeburt  fallende  Einweihung  neuer 
Priester,  die  Verpflichtung  zur  Osterbeichte,  die  Entfernung  des 
Allerheiligsten  am  Charfreitag  und  dessen  Überführung  in  eine 
verborgene  Kapelle:  alles  wäre  ganz  besonderer  Beachtung  wert. 

Wenn  ich  von  Kreuzestod  und  Auferstehung  spreche,  so  ist 
auch  des  Abendmahls  zu  gedenken ;  eine  Analyse  des  Abendmahl- 
motives  wäre  ein  Kapitel  für  sich.  Nur  auf  den  Zusammenhang 
möchte  ich  aufmerksam  machen:  in  den  alten  Totemriten  wurde 
das  heilige  Tier  zu  besondern  Zeiten  geopfert  und  dann  zur  Er- 
langung seiner  Kraft  gegessen.  Das  ist  eines  der  primitiven  Vor- 
bilder des  höchstentwickelten  Kults. 

Wir  aber  versuchen,  uns  den  schlummernden  und  symboli- 
schen Gehalt  des  Mysteriums  zu  eigen  und  bewusst  zu  machen, 
um  den  Weg  der  Menschheit  und  unsere  eigenen  Wege  zu  ver- 
stehen. Denn  wir  dürfen  uns  weder  mit  einer  bloß  kontempla- 
tiven Nachfolge  Christi  zufrieden  geben,  noch  den  Standpunkt  des 
bloßen  Genügens  aufrecht  erhalten,  dass  er  es  getan  habe  (das 
„ängstliche  Vergnügen").  Wir  haben  die  Vermenschiichung  des 
Problems  ganz  in  uns  selbst  zu  legen,  und  dann  ist  die  Passion 
für  uns  nicht  mehr  bloß  rührend  und  mit  einigen  schwindsüchtigen 
Ostergedanken  verbunden.  Sie  ist  unser  blutig-ernstes  Aktual- 
problem,  dessen  Bedeutung  in  hundertfältigem  Echo  aus  den 
Analysen  unserer  Patienten  widerhallt.  Wie  viele  blutige  Heka- 
tomben, wie  viel  Beklagen  und  Betrauern  des  Liebsten,  das  ster- 
ben muss,  um  neu  zu  erstehen,  wird  uns  da  erzählt. 

Aber  auch  der  asketische  Standpunkt  der  Nachfolge  Christi 
ist  offenbar  für  uns  nicht  der  Weg.  Wir  wissen  nicht,  warum  und 
ob  gewaltige  asketische  Epochen  nötig  sind;  offenbar  haben  sie 
ihren  guten  Sinn :  uns  ist  nötig,  unsere  individuelle  und  moderne 
Entfaltung  so  zu  gestalten,  dass  wir  unsere  innern  Gesetze  kennen 

45 


lernen    und    vom    schädlichen    innern    Zwiespalt    bewahrt    und 
befreit  werden. 

Es  gibt  eine  ganze  Gruppe  falscher  Verehrer  der  Passion: 
sie  nehmen  den  Heiland  zum  Vorbild  des  Verzichts  auf  ihre  Ent- 
faltung. Sie  sind  auch  gequält  gleich  Tantalus  und  Ixion,  aber 
ohne  Verdienste  und  ohne  Erlösung;  denn  sie  erfüllen  ihr  Gesetz 
nicht,  das  sie  nicht  verzichten,  sondern  handeln  und  leben  hieße ; 
wir  haben  gesehen,  dass  leben  und  opfern  untrennbar  sind. 

Diese  falschen  Verehrer  diskreditieren  natürlich  das  Mysterium 
und  machen  ihm  Feinde.  Ebensosehr  ist  es  auch  in  seinen  besten 
Prinzipien  und  Äußerungen  verkannt  worden.  Man  spielte  die 
heitere  Antike  dagegen  aus  und  machte  aus  ihr  ein  Paradies.  Die 
antike  Kultgeschichte  zeigt  uns  aber,  dass  sie  kaum  freundlicher, 
heiterer  war  als  das  christliche  Prinzip. 

Wenn  wir  uns  mit  geschärftem  Auge  in  der  Literatur  umsehen, 
erstaunen  wir  über  die  Häufigkeit  des  bewusst  und  unbewusst 
dargestellten  Opfer-  und  Auferstehungsmotivs.  Ich  erlaube  mir, 
auf  eine  Novelle  Jakob  Schaffners  hinzuweisen:  „Die  Hündin", 
aus  der  Sammlung  „Die  goldene  Fratze"  (Berlin,  S.  Fischer,  1912). 
Die  herbe,  fast  abstoßende  Grausamkeit  des  Opfers,  nach  all  den 
Peripetien  des  Zweifels  und  falscher  Befreiungsversuche,  erfährt 
hier  eine  so  klare  und  unerbittliche,  aber  für  den,  der  in  die 
Tiefe  des  Verständnisses  einzudringen  vermag,  so  erlösende  Dar- 
stellung, wie  sie  mir  nur  bekannt  sind  aus  den  großen  künstlerischen 
Schöpfungen,  aus  den  ergreifenden  religiösen  und  rituellen  Dar- 
stellungen und  nicht  zuletzt  aus  den  Traumschöpfungen  jener 
Individualhelden,  deren  siegreichem  Kampf  wir  in  der  stillen  thera- 
peutisch-analytischen Arbeit  beiwohnen. 

Was  wollen  wir  uns  im  Angesicht  dieses  lebendigen  Anschau- 
ungsunterrichts aus  der  Menschheitsgeschichte  und  den  Schick- 
salen jener,  die  uns  ihr  Leiden  anvertrauen,  noch  weiter  anfechten 
lassen  von  jener  blassen  Gelehrsamkeit,  welche  „das  mit  der 
Symbolik"  immer  noch  nicht  haben  und  verstehen  will  und 
das  lebendige  Leben  wie  Blinde  und  Taube  an  sich  vorbeirau- 
schen lässt. 

KÜSNACHT  FRANZ  RIKLIN 

D  D  D 


46 


LA  MORALE  LAIQUE  AU  COM- 
MENCEMENT  DU  XVII|e  SIEGLE 

MADAME  DE  LAMBERT 

En  1711  entrait  ä  rAcademie,  malgre  Topposition  de  Boi- 
leau,  le  vieux  marquis  de  St-Aulaire,  auteur  d'un  madrigal.  Cette 
victoire  des  modernes  etait  due  au  salon  de  la  marquise  de  Lam- 
bert. Celle-ci  dispensait  la  renommee  ä  ses  amis;  eile  se  char- 
geait  de  consacrer  les  reputations  naissantes,  et  son  hötel  de  la 
rue  Colbert  fut  pendant  quarante  ans  l'antichambre  de  l'Academie 
iranqaise.  Mais  s'ils  lui  devaient  une  promesse  de  gloire,  eile 
devait  beaucoup  aussi  ä  ses  familiers.  La  conversation  distin- 
guait  cette  maison.  On  y  lisait,  les  mardis  et  les  mercredis, 
l'apres-midi  et  le  soir,  les  ouvrages  parus  et  les  ouvrages  prets  ä 
paraitre;  on  les  discutait  avec  finesse  et  courtoisie.  Au  cours 
de  ces  entretiens  serieux  quoique  galants,  Madame  de  Lambert 
ornait  son  esprit  et  affinait  sa  sensibilite.  De  plus  eile  avait,  des 
sa  jeunesse,  lu  beaucoup  dans  la  solitude  et  si  Ton  peut  repro- 
cher  quelque  chose  ä  ceux  qui  ont  parle  d'elle,  c'est  d'avoir  ou- 
blie  trop  souvent  qu'elle  a  eu  des  contemporains  et  qui  ont 
ecrit  ^). 

On  n'a  pas  avec  assez  de  precision  marque  leur  place  aux 
ouvrages  de  M^^^  de  Lambert  dans  le  courant  d'idees  oü  ils  bai- 
gnent.  La  timidite  de  la  forme  a  fait  prendre  le  change:  la 
marquise  avait  des  bienseances  ä  garder,  la  mattresse  de  maison 
des  susceptibilites  ä  menager.  Elle  etait  pour  Lamotte  et  les  mo- 
dernes, mais  eile  recevait  aussi  N[^^  Dacier.  Elle  accueillait  Fon- 
tenelle  et  le  P.  Ruffier,  M.  de  Sacy  et  le  marquis  de  Lassay,  des 
disciples  de  Descartes  et  des  disciples  de  Locke,  des  croyants  et 
des  libertins.  Le  cercle  avait  pour  patron  Fenelon,  alors  exile 
de  Paris,  egalement  venere  par  des  chretiens  et  par  des  philo- 
sophes,  et  dont  la  tete  dejä  s'aureolait  de  legendes. 

On  publia  tardivement  les  Avis  d'une  mere  ä  son  ßls  et  ä 
sa  fille  (1726)  et,  en  les  donnant  au  public  malgre  eile,  on  fit  ä 
la  marquise  une  violence  agreable ;   car  si  eile  craignait  le  bruit, 

^)  AconsultersurMme de  Lambert:  Ste-Beuve:  Lundis  T.  IV.  — Ch.  Gi- 
raud:  Journal  des  Savants  1880.  —  De  Lescure,  Preface  de  son  edition  des 
Oeuvres  morales  de  Mme  de  Lambert.  Bibl.  des  dames  1880. 

47 


eile  aimait  la  gloire.  Ces  ouvrages  etaient  ecrits  en  1702  et  repre- 
sentent  tres  fidelement  le  mouvement  d'idees  et  les  tendances 
qui  caracterisent  cette  epoque  de  transition  qu'est  le  debut  du 
XVI 11^  siede. 

Dans  les  vingt-cinq  dernieres  annees  du  XVI I^,  la  religion 
des  honnetes  gens  de  France  glissait  insensiblement  vers  le  deisme. 
Sous  rinfluence  du  rationalisme  cartesien,  sous  l'influence  aussi 
de  la  Philosophie  epicurienne  modernisee  par  Gassendi,  puis  par 
Bernier,  on  voyait  diminuer  l'autorite  des  dogmes  et  des  princi- 
pes  de  la  morale  chretienne.  On  cherchait  quelque  chose  qui  put 
la  remplacer  et  ainsi  se  constitua  peu  ä  peu  une  morale  des 
honnetes  gens,  qui  ne  reconnaissait  qu'ä  la  conscience  le  droit 
de  juger  les  actions.  On  exaltait  la  raison  et  dejä  la  nature  (Fe- 
nelon  lui-meme  ne  s'en  defiait  plus).  On  rehabilitait  les  instincts, 
les  passions,  les  plaisirs;  on  professait  un  eclectisme  qui  s'adap- 
tait  ä  chaque  individu,  et  oü  il  entrait  un  peu  de  toutes  les  phi- 
losophies  anciennes;  on  prenait  position  entre  „la  vertu  rigide 
et  le  sale  interet"  (St-Evremond)  et  les  predicateurs  ne  cessaient 
d'anathematiser  „ces  sages  du  monde,  qui  ne  savent  s'ils  sont 
chretiens  ou  non,  et  qui  s'imaginent  avoir  rempli  tous  les  devoirs 
de  la  religion  quand  ils  vivent  en  gens  d'honneur  sans  tromper 
personne,  pendant  qu'ils  se  trompent  eux-memes  en  donnant  tout 
ä  leurs  passions  et  ä  leurs  plaisirs"  (Bossuet:  Maximes  et  re- 
flexions  sur  la  Comedie).  C'est  en  vain  qu'ils  tonnaient.  Le  tour- 
ment  de  la  saintete  ne  possedait  plus  les  hommes,  et  Ton  sen- 
tait  toujours  plus  vivement  l'impossibilite  de  realiser,  dans  les 
societes  modernes,  l'ideal  de  la  charite  chretienne. 

Cette  morale  des  honnetes  gens  est  l'origine  de  la  morale 
naturelle  des  philosophes.  D'abord  purement  mondaine  et  indi- 
viduelle, eile  est  professee  par  des  personnes  qui  cherchent  pour 
eux-memes  un  art  de  se  conduire;  mais  eile  ne  tarde  guere  ä 
s'eiargir  en  morale  sociale  et  dejä  avant  Montesquieu  on  sub- 
ordonnait  ä   la  prosperite  de  TEtat  le  bien-etre  des  particuliers. 

C'est  peu  .ä  peu,  et  sans  secousse,  qu'on  abandonne  le 
christianisme;  longtemps  l'habitude  et  peut-etre  aussi  un  peu  de 
crainte  firent  garder  un  peu  de  religion;  une  casuistique  inge- 
nieuse  rassurait  les  consciences  timides,  s'efforcjant  de  concilier 
les  maximes  du  monde  et  Celles  de  la  religion.  —  M'"^  de  Lambert 

48 


a  connu  sans  doute  bien  des  indecisions:  eile  se  contredit  parfois, 
eile  se  corrige,  et  sa  pens^e  sinueuse,  toujours  exprim^e  discr^te- 
ment,  laisse  quelquefois  le  lecteur  incertain.  II  semble  que  cette 
pensee  ait  peine  ä  prendre  conscience  d'elle-meme  et  redoute, 
pour  ainsi  dire,  de  se  decouvrir  tout  entiere. 

La  morale  de  M'"^  de  Lambert  n'est  pas  inspirde  du  christia- 
nisme;  lamarquise  n'etaitpaschretienne;  mais  (est-ce  prudence  ou 
modestie?)  eile  se  conformait  ä  la  religion  etablie:  „Les  moeurs 
du  souverain  dominent;  elles  ordonnent  ce  qu'il  fait  et  defendent 
ee  qu'il  ne  fait  pas".  Des  esprits  plus  hardis,  Bayle,  le  marquis 
de  Lassay  conseillaient  aussi  de  se  soumettre  ä  la  religion  domi- 
nante, et  il  faut  avouer  que,  quelques  annees  apres  la  Revocation, 
de  semblables  conseils  ne  manquaient  pas  de  sagesse.  Mais  pour 
se  conformer  aux  pratiques  exterieures  du  culte,  pour  assis- 
ter ä  la  messe  et  faire  ses  Päques,  la  conscience  n'en  restait  pas 
moins  libre.  M"^«  de  Lambert  avait  sa  religion  ä  eile,  religion 
d'aristocrate :  „Au-dessus  de  tous  vos  devoirs  est  le  culte  que 
vous  devez  ä  VEtre  supreme  .  .  .  Les  ämes  elevees  ont  pour 
Dieu  des  sentiments  et  un  culte  ä  part  qui  ne  ressemble  point 
ä  celui  du  peuple:  tout  part  du  coeur  et  va  ä  Dieu**.  C'est  dejä 
le  vague  sentiment  d'adoration  de  Rousseau. 

De  cette  religion  decoule  une  morale  dont  voici  le  principe: 
„Je  ne  vous  demande  point,  dit  M"^^  de  Lambert  ä  sa  fille,  une 
piete  remplie  de  faiblesse  et  de  superstition ;  je  demande  seule- 
ment  que  l'amour  de  l'ordre  soumette  ä  Dieu  vos  lumieres  et 
vos  sentiments,  que  le  meme  amour  de  l'ordre  se  repande  sur 
votre  conduite;  il  vous  donnera  la  justice  et  la  justice  assure 
toutes  les  vertus".  Ouvrez  le  Tratte  de  morale  de  Malebranche; 
vous  n'y  trouverez  pas  autre  chose:  La  raison  universelle,  bien 
commun  ä  tous  les  mortels  et  qui  se  confond  avec  Tintelligence 
divine  (M^"^  de  Lambert  ne  retiendra  pas  cette  identification),  la 
raison  nous  porte  ä  aimer  l'ordre  immuable  (Malebranche  separe 
nettement  de  cet  ordre  immuable  celui  de  la  nature;  mais  plus 
tard  on  oubliera  de  faire  cette  distinction  et  l'ordre  sera  de  se 
conformer  aux  loix  de  notre  nature)  —  aimer  l'ordre,  dit  Male- 
branche, s'est  s'aimer  en  Dieu.  II  y  a  donc  un  amour-propre 
regle  qui  n'est  point  oppose  ä  notre  perfection.  Cest  l'intelligence, 
plus   que   la  foi   qui   doit   nous   conduire,   et  la  gräce  ne  nous 

49 


donne  proprement  qu'une  intelligence  superieure.  Avec  Male- 
branche, la  morale  tend  ä  s'affranchir  de  la  theologie  pour  ne 
dependre  plus  que  de  quelques  principes  ratlonnels.  Madame 
de  Lambert  a  avance  dans  cette  meme  direction  et  sa  morale  est 
presque  completement  laique. 

D'apres  eile,  le  dereglement,  contraire  ä  l'ordre  et  ä  la  rai- 
son, doit  etre  l'ennemi  de  notre  bonheur;  „11  faut,  dit-elle,  etre 
persuadee  que  la  perfection  et  le  bonheur  se  tiennent,  que  vous 
ne  serez  heureuse  que  par  la  vertu  et  presque  Jamals  malheu- 
reuse  que  par  le  dereglement".  Voilä  une  de  ces  pensees  stoV- 
ciennes,  que  S^^  Beuve  dejä  remarquait  dans  les  Avis.  Mais  si 
nous  y  prenons  bien  garde,  nous  nous  apercevrons  que  M"^^  de 
Lambert  n'est  pas  si  stoicienne  qu'elle  le  parait  d'abord.  La  vertu 
qu'elle  preche,  n'est  pas  cette  vertu  abstraite,  ce  souverain  bien 
quasi  chimerique  des  stoiciens;  sa  vertu  consiste  en  des  avan- 
tages  plus  solides,  plus  tangibles,  dont  notre  egoVsme  natural 
s'accommode  facilement.  Elle  n'est  pas  inaccessible  aux  ämes 
qui  ne  sont  pas  foncierement  bonnes,  ä  ceux  qui  ne  sont  pas 
des  sages,  au  sens  stoVcien  du  mot:  „11  n'y  a  qu'ä  avoir  de  bons 
yeux  et  connaitre  ses  veritables  interets  pour  corriger  un  mau- 
vais  penchant".  Ainsi  la  vertu  (quand  eile  n'est  pas  une  tendance 
innee  au  bien  formel),  c'est  la  connaissance  de  ce  qui  nous 
est  utile. 

Ainsi  la  morale  peut  etre  fondee  sur  l'amour-propre.  Sans 
parier  de  Malebranche,  d'autres  penseurs  l'avaient  tente  avant 
eile.  La  Rochefoucauld,  non  sans  quelque  amertume,  avait  mon- 
tre  que  toutes  nos  plus  belles  actions  se  reduisent  ä  un  calcu! 
de  notre  egoVsme.  La  reciproque  de  cette  proposition  est  vraie. 
L'amour-propre  est  capable  de  conseiller  des  actes  genereux. 
Nicole,  tout  janseniste  qu'il  etait,  reconnaissait  que  l'amour-pro- 
pre eclaire  peut  avoir  d'aussi  bons  effets  que  la  charite  ^)  et  qu'il  est 
tres  capable  de  conserver  les  societes  humaines.  Et  qu'importe 
au  fond  qu'il  ne  nous  donne  que  des  fantömes  de  vertus,  puisque, 
pratiquement,  ces  fausses  vertus  sont  aussi  utiles  que  les  verita- 
bles; c'est  ce  que  durent  penser  un  grand  nombre  de  lecteurs 
de  Nicole. 

*)  Voir  Nicole :  Essais  de  Morale :  Sur  la  ressemblance  qu'il  y  a  de 
l'amour-propre  et  de  la  Charit^. 

50 


Ainsi  la  morale  et  l'education  bien  comprise,  ne  tetidront' 
pas  ä  detruire  la  nature,  ä  faire  mourir  le  vieil  homme;  mais 
seulement  ä  la  conduire  et  ä  la  perfectionner.  „Suivre  et  aider 
la  nature"  disait  Fenelon.  Ainsi  l'amour  de  soi,  le  sentiment  le 
plus  fort  et  le  plus  tenace  de  tout  ce  qui  vit,  s'il  est  regle  par 
la  raison  et  par  la  justice,  n'est  point  vicieux.  L'egoYsme  le 
plus  eclaire  et  le  plus  raffine  se  limite  lui-meme  et  nous 
donne  toutes  les  vertus  de  societe:  „Si  vous  voulez  etre  heureux 
tout  seul,  vous  ne  le  serez  jamais;  tout  vous  contestera  votre 
bonheur;  si  vous  voulez  que  tout  le  monde  le  soit  avec  vous, 
tout  vous  aidera." 

Les  vices  eux-memes  (et  ceci  est  tres  nettement  antichretien), 
les  vices  ne  sont  pas  mauvais  en  soi:  „il  n'y  en  a  point  qui  ne 
tienne  ä  quelque  vertu  ou  ne  les  favorise".  Fontenelle,  au  cours 
de  ses  Dialogues  des  Morts,  comme  Remond  de  St-Mard,  dans 
ses  Dialogues  des  Dieux,  avaient  montre  que  ni  ce  qu'on  appelle 
bien,  ni  ce  qu'on  appelle  mal  n'est  si  bon,  ni  si  mauvais  qu'on 
croit;  tout  est  relatif;  verite  en-decja  des  Pyrenees,  erreur  au-delä. 
Sous  une  forme  tres  attenuee,  ces  ecrivains  ont  reproduit  la 
these  de  Mandeville :  que  les  passions  et  les  vices  sont  ä  la  base 
des  societes  humaines. 

Madame  de  Lambert  n'est  pas  idealiste;  eile  n'inspire  pas 
l'amour  du  sacrifice.  C'est  qu'elle  ne  croyait  guere  aux  sanc- 
tions  d'outre-tombe ;  mais  eile  etait  attentive  ä  meriter  l'appro- 
bation  des  juges  d'ici-bas:  la  conscience  et  le  monde;  de  lä 
le  caractere  pratique  et  positif  de  sa  morale.  Elle  definit  la 
conscience:  „le  sentiment  Interieur  d'un  honneur  delicat  qui  ne 
se  pardonne  rien  pour  le  monde."  La  conscience  s'instruit  et 
s'eduque  au  contact  du  monde.  Nous  pouvons  naitre  avec  une 
pente  naturelle  ä  la  vertu ;  nous  ne  saurions  naitre  avec  la  con- 
naissance  precise  de  nos  devoirs.  La  nature  nous  donne  la  forme 
de  notre  conscience;  c'est  la  societe  qui  nous  en  fournit  la  ma- 
tiere.  Au  cours  de  nos  experiences  successives,  une  Harmonie 
s'etablit  peu  ä  peu  entre  la  voix  de  notre  conscience  et  celle  de 
l'opinion.  Ainsi  la  morale  est  une  science  experimentale ;  eile  est 
relative  aux  societes  pour  lesquelles  eile  est  faite.  La  fameuse 
loi   de   l'influence   des   climats    sur    les   moeurs   etait   dans   l'air. 

51 


Madame  de  Lambert  n'avait  garde  de  la  formuler;  mais  Locke 
(que  peut-etre  eile  connaissait  par  le  P.  Buffier)  en  avait  pos^  les 
premisses^).  Bayle,  Denys  Vairasse  d'AIlais  {Histoire  des  Sera- 
ramhes  1677)  le  marquis  de  Lassay  {Relation  de  Vlle  des  Fili- 
ciens)  I'avaient  obscurement  pressentie  avant  que  Montesquieu  la 
formulät  avec  la  lucidit^  qui  distingue  son  genie. 

Les  vertus  de  societe  sont  les  premieres  vertus,  puisque 
notre  bonheur  est  lie  ä  celui  de  nos  semblables.  Elles  peuvent 
fort  bien  remplacer  les  vertus  chretiennes.  La  modestie  a  les 
memes  effets  que  l'humilite  et  l'humanit^  que  la  Charit^.  Ce  sont 
les  devoirs  de  l'honnete  homme  vers  1700  que  M'"*  de  Lambert 
enseigne  ä  ses  enfants.  Montesquieu,  qui  s'est  souvenu  de  son 
amie^),  les  ramene  tous  ä  l'honneur,  principe  de  la  monarchie 
(il  aurait  du  dire  de  la  monarchie  fran^aise  moderne):  „Le  monde, 
dit-il,  est  irecole  de  ce  qu'on  appelle  l'honneur,  ce  maitre  uni- 
versel  qui  doit  partout  nous  conduire.  C'est  lä  que  Ton  voit  et 
que  Ton  entend  dire  trois  choses,  qu'il  laut  dans  les  vertus  une 
certaine  noblesse,  dans  les  moeurs  une  certaine  franchise  et  dans 
les  manieres  une  certaine  politesse."  Ce  sont  les  trois  vertus  que 
M""*  de  Lambert  recommande  ä  son  fils.  Verite  et  justice  sont 
pour  eile  des  vertus  cardinales;  et  la  verite  n'est,  ä  le  bien  pren- 
dre,  qu'une  forme  de  la  justice.  Elle  estimait  infiniment  la  poli- 
tesse, cette  qualite  liante  des  ämes  sociables  et  delicates;  eile  se 
demande  si  la  politesse  ne  tient  pas  du  vice  plus  que  de  la  vertu. 
Mais  qu'importe  au  fond,  puisque  ses  effets  sont  bons:  „eile  est 
une  preparation  ä  la  charite,  une  imitation  meme  de  l'humilite." 
Elle  est  devenue  n^cessaire  avec  la  civilisation ;  eile  supplee  ä  la 
vertu  qui  regne  moins  que  dans  les  temps  grossiers;  et  Ton  n'a 
point  perdu  au  change.  La  politesse  n'est  pas  necessairement 
opposee  ä  la  franchise:  „eile  est  l'art  de  concilier  avec  agrement 
ce  qu'on  doit  ä  autrui  et  ce  qu'on  se  doit  ä  soi-meme."  Ma- 
dame de  Lambert  regrettait  qu'on  n'eüt  point  conserve  la  tra- 
dition  de  cette  politesse  exquise  qui  ornait  les  salons  de  1650  et 
eile  voulut  que  le  sien  restät  toujours  une  ecole  de  courtoisie  et 


*)  L' Essai  sur  VEntendement  futtraduiten  fran^ais  par  Coste  des  1700. 
2)  II  lui  doit  son  fauteuil  academique;  et  quelques  chapitres  des  IVe  et 
V«  livres  de  V Esprit  des  Lois. 

52 


de  fine  galaiiterie.  Elle  n'y  tolerait  point  le  jeu,  qui  s^vissait 
alors  dans  toutes  les  grandes  maisons^).  Elle  savait  que  toutes 
les  conversations  ingenieuses  et  fines  s'eteignent  en  presence  des 
des  et  des  cartes,  et  qu'on  y  oublie  jusqu'aux  regles  les  plus 
elementaires  de  la  decence.  Madame  de  Lambert  etait  un  peu 
precieuse;  mais  c'etait  la  plus  exquise  des  precieuses  et  aussi  la 
plus  intelligente. 

„La  politesse  est  une  envie  de  plaire".  Une  femme  ne  de- 
vait  point,  comme  Fenelon,  condamner  chez  les  femmes  „le  desir 
effrene  de  plaire".  Elles  sont  naturellement  destinees  ä  plaire; 
la  societe  leur  demande  des  charmes  et  presque  toujours  les 
qualites  agreables  leur  sont  necessaires  pour  faire  valoir  les  soli- 
des: „11  faut  donc  que  les  femmes  aient  un  merite  aimable  et 
qu'elles  joignent  les  gräces  aux  vertus."  M'"^  de  Lambert  excuse 
un  peu  de  coquetterie  (ce  qui  ne  devait  point  plaire  ä  Fenelon, 
quoiqu'il  füt  tout  seduction  et  coquetterie,  et  devait  scandaliser 
des  chretiens  plus  severes).  Et  eile  donne  aux  femmes  quelques 
conseils  dignes  de  son  ami  Marivaux:  „II  faut  connaitre  le  coeur 
humain  quand  on  veut  plaire.  Les  hommes  sont  bien  plus  tou- 
ches  du  nouveau  que  de  l'excellent;  mais  cette  fleur  de  nou- 
veaute  dure  peu  et  ce  qui  plaisait  comme  nouveau  deplait  bien- 
töt  comme  commun.  Pour  occuper  ce  goüt  pour  la  nouveaute, 
il  faut  avoir  en  soi  bien  des  ressources  et  des  sortes  de  me- 
rite. il  ne  faut  pas  se  fixer  aux  seuls  agrements;  il  faut  presen- 
ter  ä  l'esprit  une  variete  de  goüts  et  de  merites  pour  soutenir 
les  sentiments  et  pour  faire  jouir  dans  le  meme  objet  de  tous 
les  plaisirs  de  l'inconstance." 

Quant  aux  hommes,  il  faut  qu'ils  plaisent  ä  leurs  superieurs. 
„II  faut  faire  sa  cour  aux  ministres,  mais  il  la  faut  faire  avec 
dignite".  La  politesse  que  recommandait  et  que  pratiquait  M""^  de 
Lambert  n'est  que  la  forme  la  plus  raffinee  de  la  noblesse  de 
sentiments. 

La  vraie  grandeur  consiste  ä  se  conformer  exactement  aux  devoirs 
et  aux  exigences  de  son  rang:  „II  faut  avec  les  superieurs  savoir 
plaire  Sans  bassesse,  montrer  de  l'estime  et  de  l'amitie  ä  ses  egaux, 
ne  point  faire  sentir  le  poids  de  sa  superiorite  ä  ses  inferieurs; 

^)  Le  Joueur  de  Regnard  est  de  1696.  Voir  St-Simon,  Madame  de 
Sövigne,  etc. 

53 


conserver  de  la  dignite  avec  soi-m§me".  Tels  sont,  resumes  en 
deux  mots,  les  devoirs  de  Societe  qu'enseigne  Malebranche  dans 
son  traite  de  morale.  Ils  decoulent  tous  de  l'amour  de  l'ordre  et 
de  la  justice. 

Et  Tamour  de  la  justice  conduit  assez  naturellement  ä  Tamour 
de  Thumanit^.  M""^  de  Lambert  vivait  dans  un  milieu  de  pen- 
seurs  genereux,  dont  quelques-uns  songeaient  ä  apporter  dans 
l'ordre  social  des  reformes  ä  la  fois  chimeriques  et  timi- 
des.  Le  salon  connaissait  les  ecrits  les  plus  subversifs  de  Fe- 
nelon,  comme  VExamen  de  la  conscience  d'un  roL  C'est  chez 
eile  que  Montesquieu  put  lire  des  reflexions  de  Fenelon  sur  le 
projet  de  monarchie  universelle  reve  par  Louis  XIV;  ce  prelat, 
comme  d'ailleurs  le  marquis  de  Lassay,  songeaient  dejä  ä  une 
Sorte  d'equilibre  europeen.  Je  soup^onne  fort  les  Habitues  des 
mardis  de  n'avoir  pas  craint  de  discuter,  avec  une  reserve  prudente 
qui  n'excluait  pas  certaines  audaces,  le  Systeme  politique  et  eco- 
nomique  de  la  France;  on  rencontrait  ä  l'hotel  Mazarin  presque 
tous  ceux  de  l'Entresol,  l'abbe  Mary,  d'Argenson,  le  marquis  de 
Lassay,  l'abbe  de  St-Pierre,  l'abbe  de  Braguelonne  et,  selon  d'Ar- 
genson, W^^  de  Lambert  eut  avec  l'abbe  Mary  une  celebre  tra- 
casserie  qui  contribua  ä  häter  la  dissolution  du  club. 

M""«  de  Lambert  a  respire  le  souffle  d'humanite  qui  alors 
courait  sur  la  France.  Elle  a,  comme  les  meilleurs  coeurs  d'entre 
ses  contemporains,  comme  La  Bruyere,  comme  Fenelon,  comme 
Massillon  et  cent  autres,  de  ces  accents  genereux  qui  etonnent 
et  qui  charment.  „Songez,  dit-elle  ä  sa  fille,  que  le  christianisme 
et  l'humanite  egalent  tout."  Cela,  c'est  du  Fenelon;  mais  eile 
avait  plus  de  foi  dans  l'humanite  que  dans  le  christianisme;  cette 
marquise  croyait  ä  l'egalite  naturelle.  Elle  aurait  voulu  une  aristo- 
cratie  fondee  sur  le  merite:  „Dans  un  empire  oü  la  raison  serait 
la  maitresse,  tout  serait  egal  et  Ton  ne  donnerait  de  distinction 
qu'ä  la  vertu."  Elle  appelle  peuple,  „tout  ce  qui  pense  basse- 
ment  et  communement"  et  eile  ajoute:   „la  cour  en  est  remplie." 

Elle  dit  ä  son  f ils:  „Les  premieres  lois  auxquelles  vous  devez 
obeir,  sont  Celles  de  l'humanite."  Elle  exalte  la  liberalite;  eile  est 
severe  pour  les  avares.  Puisque  la  vertu  consiste  ä  assurer  son 
bonheur  en  faisant  celui^d'autrui,  l'avarice  est  foncierement  im- 
morale; c'est  peut-etre  le  seul  vice  irreductible,   puisque  l'avare 

54 


ne   jouit    de   rien    et    qu'il    prive    les   autres    d'une   jouissance 
legitime  ^). 

Fidele  aux  enseignements  de  Fenelon,  M"^^  de  Lambert  con- 
damnait  )e  luxe  et  par  lä,  eile  retardait  sur  son  siede;  on  com- 
men(;ait  ä  le  rehabiiiter:  i'Angiais  Mandevilie,  le  marquis  de  Lassay, 
l'abbe  de  St-Pierre  et  bien  d'autres  avaient  montre  que  les  grands 
Etats  vivent  du  luxe  des  particuliers  et  des  vices  memes  que  le 
luxe  favorise,  et  Baudot  de  Juilly,  en  faisant  l'eloge  des  plaisirs 
delicats,  se  moquait  finement  de  ceux  qui  condamnent  toute  es- 
pece  de  luxe.  Quant  ä  M"'«  de  Lambert,  eile  pensait  qu'on  ne 
peut  faire  du  superflu  qu'un  seul  bon  usage,  la  bienfaisance. 
La  generosite  est  un  devoir  de  justice:  „Quand  vous  faites  du 
bien,  vous  ne  faites  que  payer  une  dette." 

Mais  la  generosite  est  aussi  une  source  d'emotions  delicieuses: 
„Le  plaisir  le  plus  touchant  pour  les  honnetes  gens,  c'est  de  faire 
du  bien  et  de  soulager  les  miserables."  Non  seulement  la  raison, 
mais  la  sensibilit^  trouvent  leur  compte  dans  la  bienfaisance;  nous 
sommes  loin  des  principes  de  la  charite  chretienne  (comparer  par 
exemple  Bossuet:  sur  l' eminente  dignite  des  pauvres  dans  l'EgUse). 

A  la  fin  du  dix-huitieme  siecle  on  commence  ä  reconnaitre 
les  droits  du  coeur;  des  chretiens  comme  Pascal  et  Massillon  lui 
attribuaient  beaucoup  et  l'orthodoxe  Bossuet  lui-meme  glorifiait 
le  grand  Conde  d'avoir  eu  le  cceur  sensible  ä  l'endroit  de  ses 
amis:  „Loin  de  nous,  s'ecrie-t-il,  les  heros  sans  humanite'^).  Ils 
pourront  bien  forcer  les  respects  et  ravir  l'admiration,  mais  ils 
n'auront  pas  les  ccEurs."  C'est  la  sensibilite  qui  rendra  Fenelon 
si  sympathique  au  dix-huitieme  siecle,  ä  Rousseau,  ä  Chateau- 
briand. Je  n'ai  pas  besoin  de  rappeler  les  noms  de  La  Bruyere 
et  de  l'abbe  de  St-Pierre  qui  furent  de  vrais  hommes  sensibles. 
Nous  ne  sommes  pas  loin  du  temps  oü  Ton  applaudira  aux 
comedies  larmoyantes  de  Nivelle  de  la  Chaussee  et  ou  l'on  n'aura 
plus  honte  de  pleurer  au  spectacle. 

La  sensibilite,  pour  les  contemporains  de  M'"^  de  Lambert, 
est  la  qualite  des  ämes  delicates  et  ralsonnables  qui  les  porte  ä 

')  Tel  n'etait  pas  l'avis  de  Remond  de  St-Mard  (Dialogue  des  Dieux): 
l'avarice  n'est  point  mauvaise  parce  que  l'avare  est  heureux  par  son  or, 
et  que  tot  ou  tard  la  societe  en  profite.  Cette  idee  vient  de  Mandevilie. 

*)  C'est-ä-dire,  les  heros  qui  en  meme  temps  ne  sont  pas  des  hommes. 

55 


se  laisser  emouvoir  par  les  objets  qu'elles  ont  juge  attendrissantSi 
Les  sentiments  ne  prenaient  pas  sur  la  raison,  et  la  raison  (du 
moins  iis  le  pensaient)  favorisait  la  sensibilite.  Le  coeur  et  l'es- 
prit  voisinent  et  conspirent.  On  aimait  ä  raffiner  sur  les  senti- 
ments, ä  s'y  attarder  par  une  longue  et  complaisante  attention, 
ä  en  epuiser  les  delices  goutte  ä  goutte,  ä  les  intensifier  enfin  par 
mille  reflexions  ingenieuses  et  amollissantes.  Dejä  les  heros  de 
Racine  raisonnent  leurs  sentiments,  et  la  passion  chez  eux  laisse 
ä  l'esprit  toute  sa  lucidite. 

M"^^  de  Lambert  etait  une  femme  sensible.  Elle  pensait  que 
la  sensibilite  est  bonne,  parce  qu'elle  contribue  ä  rapprocher  et 
ä  unir  les  hommes;  eile  est  l'äme  de  la  societe:  „Ce  sont  les 
qualites  du  cceur  qui  entrent  dans  le  commerce;  l'esprit  ne  lie 
point  aux  autres  et  vous  voyez  souvent  des  personnes  fort  ha'is- 
sables  avec  beaucoup  d'esprit."  Les  vertus  de  societe  sont  en  danger 
Sans  la  sensibilite :  „Vous  ne  pouvez  avoir  ni  humanite,  ni  generosite 
sans  sensibilite;  la  sensibilite  secourt  l'esprit  et  sert  la  vertu." 

C'est  la  nature  qui  en  a  doue  les  coeurs:  „Le  premier  mou- 
vement  du  coeur  a  ete  de  s'unir  ä  un  autre  coeur."  Mais  l'edu- 
cation  doit  venir  en  aide  ä  la  nature.  11  faut  que  notre  sensi- 
bilite native  soit  enrichie,  epuree,  perfectionnee  par  la  culture; 
il  faut  que  la  note  primitive  developpe  toutes  ses  harmoniques. 
„Je  vous  exhorterai  bien  plus  ä  travailler  sur  votre  coeur  qu'ä 
perfectionner  votre  esprit,  dit-elle  ä  son  fils:  ce  doit  etre  lä  l'etude 
de  toute  la  vie.  La  vraie  grandeur  de  l' komme  est  dans  Le  coeur; 
11  faut  l'elever  pour  aspirer  ä  de  grandes  choses,  et  meme  oser 
s'en  croire  digne."  La  vraie  grandeur  de  l'homme  est  dans  le 
coeur:  c'est  dejä  et  peut-etre  avec  plus  d'ampleur  le  mot  fameux 
de  Vauvenargues:  „Les  grandes  pensees  viennent  du  coeur." 

En  s'eprenant  de  la  sensibilite,  le  XVI 11^  siecle  devait  reha- 
biliter  les  passions.  Le  XVll^  siecle  classique  s'en  etait  defie  et 
le  passionne  Racine,  dans  le  temps  qu'il  apprenait  au  public 
quelles  sont  les  delices  de  la  passion,  lui  montrait  aussi  quels 
en  sont  les  desastres.  Les  jansenistes  croyaient  la  raison  impuis- 
sante  ä  les  dompter  et  que  la  gräce  seule  peut  nous  en  delivrer. 

Vers  1700  reapparait  une  conception  antique,  platonicienne, 
d'une  raison  gouvernant  les  passions.  (Tout  le  monde  a  lu  dans 
le  Phedre  la  splendide  allegorie  du  char  traine  par  deux  coursiers, 

56 


qui  representent  Tun  les  passions  basses,  l'autre  les  passions  su- 
perieures;  ceiui  qui  conduit  ce  char  c'est  Nous,  la  raison).  Bien 
que  Piaton  eüt  au  commencement  du  XVlIi«  siecle  quelques  admi- 
rateurs  passionnes,  comme  les  deux  Remond,  on  n'oserait  affir^ 
mer  que  leurs  idees  sur  les  passions  remontassent  ä  Piaton;  mais 
ils  se  plaisaient  ä  s'autoriser  de  la  doctrine  de  ce  grand  homme, 
dont  l'influence  se  borne,  comme  celle  de  tous  les  antiques,  ä 
augmenter  la  force  et  ä  preciser  la  direction  d'un  courant  dejä 
etabli.  Et  ce  courant  d'idees  me  parait  remonter  aux  premiers 
epicuriens  du  XVlle  siecle,  ä  Bernier,  ä  St-Evremond,  ä  Ninon  de 
Lenclos,  qui  dejä  pensaient  que  la  raison  ne  condamne  point  les 
passions,  puisqu'elles  sont  l'oeuvre  de  la  nature. 

L'effet  de  la  raison  reglant  les  passions,  c'est,  tout  en  dimi- 
nuant  les  dangers  qu'elles  peuvent  faire  courir  ä  l'individu,  de 
les  rendre  utiles  ä  la  societe.  „Nous  avons,  dit  Remond  de  St- 
Mard,  une  raison  pour  moderer  les  passions  et  les  rendre  utiles 
ä  la  Societe."  C'etait  aussi  l'opinion  de  Remond  dit  le  Grec,  son 
frere,  auteur  de  ce  delicieux  pastiche  de  dialogues  de  Piaton  qui 
s'appelle  Agathon  ou  de  la  Volupte;  c'etait  l'opinion  de  Fonte- 
nelle,  celle  de  M'"^  Lambert,  du  marquis  de  Lassay;  et  c'etait 
aussi  celle  de  Montesquieu  qui  l'emprunta  ä  ses  devanciers.  L'ef- 
fort  de  l'educateur  et  du  legislateur  doit  tendre  ä  tirer  parti,  pour 
le  bien  public,  des  passions  en  apparence  les  plus  dangereuses: 
„Les  preceptes  de  Lycurgue  et  de  Socrate  sur  l'amour  pour  les 
gar(;ons  nous  fönt  voir  le  penchant  determine  des  Qrecs  pour 
ce  vice,  puisque  les  legislateurs  songeaient  ä  faire  usage  de  ce 
penchant,  en  le  reglant,  ä  peu  pres  comme  M*"^  de  Lambert  et 
les  moraux  d'aujourd'hui  ont  pense  ä  faire  usage  de  l'amour 
pour  les  femmes  et  de  l'amour  des  femmes  pour  les  hommes  en 
purifiant  cet  amour  et  en  le  reglant"  ^). 

L'ambition,  la  plus  noble  des  passions,  est  aussi  la  moins 
dangereuse,  la  plus  capable  de  rendre  un  homme  utile  ä  la  So- 
ciete. Les  chretiens  l'avaient  condamnee  et  ce  n'est  pas  une 
le^on  d'ambition  que  Bossuet  donne  ä  son  siecle  dans  ses  orai- 
sonis  funebres.  Mais  dejä  l'ambitieux  Fenelon  indiquait  ä  son 
eleve  le  chemin  de  la  gloire;   il  faisait  ses  reserves  pourtant  sur 

^)  Ce  curieux  passage  est  tire  des  Pensees  'et  Fragments  publies  ä 
Bordeaux  en  1899  par  les  soins  des  descendants  de  Montesquieu. 

57 


les  dispositions  dans  lesquelles  il  faut  jouir  de  la  renommee  et 
il  aurait  voulu  que  Tambition  se  conciliät  avec  l'humilite  chretienne. 
Madame  de  Lambert  revait  pour  son  fils  une  gloire  illimitee  ä 
laquelle  eile  souffrait  de  ne  pouvoir  atteindre.  Grisee  par  la  lecture 
de  Plutarque  et  des  autres  historiens  anciens,  eile  avait  un  im- 
mense besoin  de  grandeur;  c'^tait  une  äme  cornelienne;  et  eile 
disait  ä  safilleavec  amertume:  „La  renommee  ne  se  Charge  poInt 
de  nous".  Nous  verrons  plus  loin  ce  qu'elle  pensait  du  röle  de 
la  femme  et  nous  verrons  qu'elle  reclamait  pour  eile  les  memes 
droits  que  pour  l'homme;  mais  eile  le  faisait  dans  un  ouvrage 
qu'elle  esperait  qu'on  ne  publierait  pas^). 

Elle  parle  ä  son  fils  sur  un  tout  autre  ton  qu'ä  sa  fille: 
„Vous  ne  pouvez  aspirer  ä  rien  de  plus  digne  et  de  plus  con- 
venable  que  la  gloire  .  .  .  Ceux  qui  sont  soutenus  par  l'ambi- 
tion  marchent  ä  pas  de  geants  dans  le  chemin  de  la  gloire." 
L'humilite  ne  convient  pas  ä  un  jeune  homme:  „Tout  homme 
qui  n'aspire  pas  ä  se  faire  un  grand  nom  n'executera  Jamals  de 
grandes  choses."  Et  eile  cite  une  anecdote  des  Dits  memorables 
des  Lacedemoniens:  „On  disait  ä  Agesilas  que  le  roi  de  Perse 
etait  le  grand  roi.  Pourquoi  sera-t-il  plus  grand  que  moi,  repon- 
dit-il,  tant  que  j'aurai  une  epee  ä  mon  cote?"  Elle  conclut:  „11  y 
a  un  merite  superieur  qui   sent  que  rien  ne  lui  est  impossible." 

Tout  cela  est  inconciliable  avec  la  doctrine  chretienne,  et  ce 
süperbe  quo  non  ascendam  erige  en  principe  de  conduite  ne 
laissa  pas  d'etonner  et  d'inquieter  Fenelon.  II  ecrivait  ä  M.  de 
Sacy,  l'ami  de  M"^^  de  Lambert  et  le  sien :  „Je  ne  serais  peut-etre 
pas  tout  ä  fait  d'accord  avec  eile  sur  toute  l'ambition  qu'elle  de- 
mande  de  son  fils."  Madame  de  Lambert  repondit  aussitot:  „J'ai 
la  hardiesse  de  croire  que  je  penserais  comme  vous  sur  l'am- 
bition; mais  les  moeurs  des  jeunes  gens  d'ä  present  nous  met- 
tent  dans  la  necessite  de  leur  conseiller,  non  pas  ce  qui  est  le 
meilleur,  mais  ce  qui  ojjre  le  moins  d'inconve'nients  et  ils  nous 
forcent  ä  croire  qu'il  vaut  mieux  occuper  leur  coeur  et  leur  cou- 
rage  d'ambitions  et  d'honneurs  que  de  hasarder  que  la  debauche 
s'en  empare."  Ainsi  l'ambition  est  bonne,  parce  qu'elle  est  utile, 
opportune.  Point  de  morale  idealiste,  une  morale  pratique  adap- 

<  ^)  Voir  l'appendice:  Lettre  inedite  de  Madame  de  Lambert  au  Presi- 
dent Bouhier. 

58 


Ue  aux  cjrconstances.  Tel  est  ie  fond  de  la  pensee  de  M"'^  de 
Lambert  et  des  moraux  dont  parle  Montesquieu. 

Les  Avis  d'une  mere  ä  son  fils  furent  publies  d'abord  sous 
le  titre:  Reflexions  sur  la  vraie  gloire;  il  leur  convient  parfaite- 
ment.  Les  R^f Urions  sur  les  femmes  pourraient  s'appeler:  „/?/- 
flexions  sur  le  veritable  amour." 

L'amour  est  plus  dangereux  que  l'ambition,  et  voici  pour- 
quoi:  „Quand  il  est  violent,  il  surprend  la  raison,  jette  le  trou- 
ble  dans  Tarne  et  dans  les  sens  et  finalement  ternit  la  reputation." 
II  peut  etre  immoral  puisqu'il  peut  etre  deraisonnable.  II  y  a 
des  moyens  d'en  guerir:  Les  remedia  amoris  que  M"^^  de  Lam- 
bert conseille  ä  sa  fille  sont  les  reflexions.  Defions-nous  de 
l'imagination,  qui  (et  ceci  est  encore  du  Malebranche)  est  con- 
traire  ä  la  perfection  et  au  bonheur:  „Sachons  reconnaitre  que 
la  plupart  des  biens  que  l'amour  promet  sont  purement  illusoi- 
res  et  imaginaires  et  que  les  maux  qu'il  apporte  sont  tres  reels." 

Dans  les  Reflexions  sur  les  femmes,  M"^^  de  Lambert  ne 
conseille  plus  de  chercher  ä  etouffer  l'amour.  Elle  etait  dans  son 
röle  quand  eile  conseillait  ä  sa  fille  de  ne  point  etre  trop  indul- 
gente  pour  cette  passion.  Elle  devait  parier  autrement  au  vieil 
abbe  de  Choisy,  galant  incorrigible,  qui  venalt  de  dedier  ä  la 
marquise  la  peu  edifiante  Histoire  de  la  comtesse  des  Barres. 
Sans  doute  eile  dut  sourire  finement  au  recit  des  debauches  du 
jeune  abbe  costume  en  femme.  Mais  en  lui  envoyant  sa  propre 
confession  et  son  apologie,  eile  lui  faisait  comme  une  discrete 
reprimande.  C'est  bien,  malgre  les  protestations  de  l'auteur^),  une 
confession  que  ces  Riflexions  sur  les  femmes.  Sa  longue  et 
constante  tendresse  pour  Saint  Aulaire  n'etait  sans  doute  un  secret 
pour  personne.  D'Argenson  en  parle  ä  mots  couverts.  Le  Pre- 
sident Henault  assure  qu'un  mariage  tardif  et  clandestin  unit  les 
deux  amants.  Cela  n'est  pas  impossible.  Les  mariages  secrets 
etaient  ä  la  mode  et  leur  frequence  caracterise  bien  cette  epoque 
de  piete  decadente,  oü  les  consciences  cherchaient  leur  repos 
dans  les  detours  d'une  casuistique  subtile  et  oü  Ton  fuyait  moins 
le  vice  que  le  scandale. 

*)  Voir  Lettres  de  Madame  de  Lambert  ä  M.  de  Saint  Hyacinthe. 
PARIS  J.  p.  ZIMMERMANN 

(A  suivre) 

59 


BERLINER  PREMifeREN 

Die  Angriffe  auf  die  berliner  Theaterverhältnisse  mehren  sich,  weil  die 
geschäftlichen  Krisen  nicht  aufhören  wollen.  Wenn  man  darum  das  Gründer- 
wesen ungesund  nennen  muss,  so  darf  man  die  künstlerische  Situation  nur 
als  ungewöhnlich  gesund  bezeichnen.  Was  geht  in  Berlin  zugrunde?  Kitsch- 
und Peripherietheater.  Das  berliner  Theaterleben  reorganisiert  sich  von 
selbst.  Das  Überflüssige,  Faule,  Schlechte  wird  abgestoßen,  das  Wertvolle, 
Kräftige,  Gute  erhält  sich.  Das  vielgeschmähte  berliner  Publikum  hat  in 
Wirklichkeit  eine  Witterung  für  das  Echte,  Organische.  Und  es  ist  für  das 
Resultat  beinah  gleichgültig,  ob  sich  dies  Gefühl  aus  Sensations-,  Bildungs- 
oder inneren  Bedürfnisinstinkten  nährt. 

Reinhardt  hat  jetzt  mit  einer  seiner  schmucklosesten,  herbsten,  ver- 
schwiegensten Regieschöpfungen  einen  Erfolg  gehabt,  wie  ihn  in  andern 
Städten  höchstens  dieMonstre-lnszenierung  seines  „Ödipus"  erzielen  konnte. 
Und  dabei  ist  Tolstois  „Lebender  Leichnam"  schon  als  Dichtung  ein  schweres, 
langsames,  sich  verwahrendes  Werk.  Es  ist  in  der  primitiven  Kraft  seiner 
neben  einander  gesetzten  Bilder  eine  Legende  des  Alltags.  Fedor  Protassow, 
der  schwache  Mensch,  sinkt  und  im  Sinken  wird  er  reiner  und  heiliger. 
Sein  weiches  Empfinden,  sein  rauschvolles  Vergessenheitssuchen  treibt  ihn 
aus  der  bürgerlichen  Ehrbarkeit  seines  Heimes,  von  der  Frau,  die  er  liebt, 
zu  den  Zigeunern,  wo  er  träumen  kann  und  die  Musik  hat,  die  ihm  zu 
Hause  fehlt.  Tief  verletzt  von  den  Lügen  des  Lebens,  die  sich  als  Solidität, 
als  Pflicht,  als  Menschenliebe,  als  Gesetz,  als  Obrigkeit  verkleiden,  flieht 
er  in  einen  Zustand  der  Betäubung,  der  die  Gegensätze  verwischt  und  ihn 
vor  der  Zigeunerin  Mascha  wie  vor  einem  Rätsel  willenlos  verzaubert  stehn 
lässt.  Rein  bleibt  er  vor  ihr,  die  die  Dunkeläugigkeit  seiner  Traumwelten 
hat  und  den  praktischen  Wirklichkeitssinn,  dem  er  in  seiner  Familie  ent- 
flohen ist.  Aber  die  Wirklichkeit  tritt  auch  von  dorther  an  ihn  heran  und 
verlangt  Einlösung  eines  Versprechens.  Er  soll  Lisa,  seine  Frau,  freigeben. 
Wieder  zieht  er  sich  zusammen.  Er  ist  unfähig,  die  Unwahrheiten  des 
rechtlichen  Scheidungsweges  mitzumachen.  Das  Leben  wird  nicht  aufhören, 
ihn  mit  diesen  Lügen  zu  verfolgen.  Er  will  sich  selbst  opfern,  damit  die 
andern  glücklich  werden.  Und  er,  der  im  Kleinen  nicht  lügen  konnte,  lügt 
im  Großen.  Er  hat  nicht  die  Kraft  zum  Tode;  er  täuscht  seinen  Selbst- 
mord vor.  Aber  es  ist,  als  ob  nun  in  seinem  zweiten  Leben  ihn  von  innen 
eine  Kraft  durchleuchtete,  die  ihm  den  Schimmer  eines  Märtyrers  gibt.  Er 
dämmert  hin  in  Spelunken  und  Kaschemmen.  Und  diese  Passivität  —  ein 
wundervoller  Zug  von  Tolstoi! — verleiht  ihm  einen  Heiligenschein,  als  ob 
er  den  Schmutz  der  Welt  bekämpft  und  nicht  geflohn  hätte.  Doch  die 
Dummheit  der  Wirklichkeit  duldet  kein  verschwiegenes,  kein  träumendes 
Märtyrertum.  Sie  will  die  Tatsache,  den  Schlusspunkt,  nicht  das  Verglei- 
tende, unmerklich  sich  Auflösende.  Fedja  wird  vor  den  Richter  geschleppt, 
und,  aus  seinen  Phantasien  aufgewühlt,  tut  er  seine  erste  und  letzte  Tat: 
er  erschießt  sich. 

In  diesem  Drama  sind  die  tiefsten  Gegensätze,  die  kompliziertesten 
Verwicklungen  mit  biblischer  Einfalt  gestaltet.  Ohne  dass  es  ausgesprochen 
wird,  erschließt  sich  eine  Welt  des  Scheines  und  der  Wahrheit.  Die  Men- 
schen, die  abgeschlossen,  klar,  eindeutig  durch  ihre  Taten  sprechen,  sind 
die  zweideutigen  Menschen  des  Scheines.    Die  mit  ihren  Einbildungen  und 

60 


Phantasien  reden,  sind  die  Menschen  der  Wahrheit.  Viktor  Karenin  hat 
zehn  Jahre  selbstlos  auf  Lisa,  Fedjas  Frau,  gewartet,  und  der  Altruismus 
der  Handlung  ist  der  beschränkteste  Egoismus  des  Gefühls.  Fedja,  der 
die  Tat  nicht  tun  kann,  ist  innerlich  der  Opferwilligste.  Drei  Frauen  sind 
um  ihn.  Lisa  will  von  ihm  los  und  liebt  ihn  dennoch:  in  einer  Szene  bricht 
es  elementar  hervor;  Mascha  hängt  an  ihm  mit  einer  rätselhaften,  reinen 
Unreinheit;  aber  am  tiefsten  empfindet  ihn  seine  Schwägerin  Sascha.  Aus 
ihren  stummen  Gebärden  und  halb  unterdrückten  Geständnissen  spricht 
seine  Reinheit.  In  ihre  Seele  ist  ein  Abglanz  seiner  Keuschheit  geworfen. 
Und  wie  diese  Liebe  sich  szenisch  nur  in  den  schlichtesten  Andeutungen 
äußert,  so  haben  auch  andere  Auftritte  ihre  Eindringlichkeit  von  der  sym- 
bolischen Kraft  des  nur  halb  Ausgesprochenen  oder  Pantomimischen.  Lisa 
und  Karenin  sprechen  von  ihrer  Vergangenheit.  „Alles  ist  aus  meinem 
Herzen  verschwunden  außer  dir,"  sagt  Lisa,  aber  ihr  und  Fedjas  Kind  sitzt 
auf  ihrem  Schöße.  Fedja  und  Lisa  reden  im  ganzen  Drama  nur  zwei  Worte 
miteinander.  Als  er  sich  erschossen  hat,  fragt  sie:  „Was  hast  du  getan, 
Fedja?"  und  „Man  wird  dich  retten."  Vorher  kamen  sie  beim  Unter- 
suchungsrichter zusammen.  Aber  „Lisa  geht  an  Fedja  vorüber,  der  sich 
tief  verneigt." 

Wenn  Reinhardt  diesen  wundervollen  Szenenschluss  dadurch  zerstörte^ 
dass  er  die  vom  Untersuchungsrichter  angeordnete  Festnahme  Fedjas  eben- 
falls sichtbar  vorführte,  so  war  er  sonst  in  seinen  pantomimischen  Ergän- 
zungen ein  fast  seherischer  Nachschöpfer.  Stellungen,  Blicke,  Kontrastie- 
rungen legten  heimliche  Beziehungen  bloß.  Die  Umgebung  wurde  in  die 
Handlung  hineingezogen.  Über  dem  Wirtshaustisch,  an  dem  Fedja  sich 
erschießen  will,  hängt  ein  Spiegel.  In  ihn  stiert  er  hinein,  als  er  den  Re- 
volver ansetzt.  Vom  eigenen  Schreckensausdruck  gelähmt,  lässt  er  ihn 
sinken.  Und  als  ironisierendes  Gegenspiel  muss  ein  Trunkenbold  in  der- 
selben Szene  vor  demselben  Spiegel  bei  pessimistischen  Reden  sich  Haar 
und  Bart  eitel  ordnen  und  mit  spielerischer  Koketterie  den  Revolver  an  die 
Schläfe  setzen.  Moissi  verschwendete  an  das  äußerliche  Verkommen  und 
innerliche  Steigen  des  Fedja  einen  von  innen  quellenden  Reichtum  zartester 
und  stärkster  Nuancen.  Lucie  Höflich  als  Lisa  erschütterte  durch  herbe 
Verhaltenheit  und  elementaren  Ausbruch.  Und  Winterstein  hatte  in  seinem 
eindringlichen  Karenin  den  Egoismus  der  Anständigkeit.  Auch  die  episodi- 
schen Rollen  waren  zum  Teil  vortrefflich  besetzt.  Nur  für  manche  Lebe- 
leute und  Zigeuner  hätte  Reinhardt  früher,  als  das  Ensemble  noch  mehr 
auf  einen  erhöhten  Realismus  eingestellt  war,  charakteristischere  Vertreter 
gehabt,  und  Rosa  Bertens  wirkte  zu  sehr  als  Schauspielerin,  um  für  eine 
schwatzende  Dame  des  Adels  die  nötige  Mischung  aus  Innerlichkeit  und 
Äußerlichkeit  aufzubringen. 

Nach  dem  Taumel  seiner  Gastspielfahrten,  auf  denen  er  den  selbst- 
verständlichen Drang  nach  autokratischer  Regiekunst,  nach  hemmungsloser 
Entfesselung  seiner  Kräfte  ausgelebt  hat,  widmet  sich  Reinhardt  jetzt  auch 
wieder  den  Kammerspielen.  Das  amüsante  aber  belanglose  Lustspiel  des 
Franzosen  Etienne  Rey  „Schöne  Frauen",  in  dem  Bassermann  faszinierte, 
wurde  abgelöst  durch  Carl  Sternheims  Komödie  „Bürger  Schippel".  Von 
unten  und  oben  wird  in  das  Gehege  des  Bürgertums  eingebrochen.  Der 
Proletarier  und  der  Fürst  begehren  seinen  gesicherten  Besitz,  konzentriert 
in  der  fetten  Schwester  des  fetten  Bürgers  Hicketier.    Der  Fürst  hat  sie 

61 


besessen,  als  der  Proletarier  sie  noch  verlangt.  Aber  bürgerliche  Ehrbegriffe 
kommen  schnell.  Schippel  erfährt,  dass  sie  nicht  mehr  unverletzt  ist  und 
verschmäht  sie.  Thekla  Hicketier  war  ihm  ja  auch  nur  —  trotz  einer 
andern  kitschigen  Motivierung  Sternheims  —  rundliches  Unterpfand  für 
massig-solides  Bürgertum.  Sein  Drang  zu  ihm  ist  an  sich  schon  geschlecht- 
lich. Er  muss  es  fassen,  er  muss  es  greifen,  er  muss  es  körperlich  be- 
rühren. So  verzehrt  er  sich  in  einer  fast  genialen  Szene  danach,  den  feisten 
Goldschmied  einmal  auf  den  Bauch  zu  klopfen.  Er  tut  es  und  in  der  Nacht 
will  er  ihn  noch  einmal  ans  Fenster  haben.  Er  muss  sein  breites  Haus 
bepochen,  betasten.  Leider  sind  solche  Einfälle  ohne  Folgen.  Der  Schluss, 
dass  Schippel  nach  einem  widerwillig  bestandenen  Duell  in  die  bürgerliche 
Gemeinschaft  aufgenommen  wird,  berührt  zwar  das  Thema,  aber  er  wächst 
nicht  aus  ihm  heraus.  Er  wirkt  vielmehr  wie  die  aufgesetzte  Verulkung 
einer  Sitte  —  die  dabei  noch  nicht  einmal  ausschließlich  bürgerlich  ist!  — 
als  wie  eine  grausam  höhnische  Notwendigkeit.  Diese  Szene  lebte  von 
Reinhardt,  der  sie  mit  einer  köstlich  parodistischen  Feierlichkeit  spielen 
ließ,  aber  nicht  von  Sternheim.  Trotzdem  Sternheim  seinen  kühlen,  ätzenden, 
verzerrenden  Verstand  wie  in  der  „Kassette"  dämonisch  aufreizen  kann, 
bleibt  er  in  der  Tiefe  steril.  Es  gelingt  ihm  nicht,  innere  Verbindungen 
festzumachen.  Er  trennt  nur.  Er  zerschneidet  und  deckt  auf.  Das  Gerüst 
ist  brüchig  und  dünn,  aber  auch  der  innere  Fond.  An  Literaturspielereien 
stelzt  er  sich  weiter.  Manche  Lebenssituation  kann  er  nur  durch  Literatur- 
plakate der  Lächerlichkeit  preisgeben.  Und  die  spitze  Knappheit  seines 
oft  nur  Hauptworte  hinwerfenden  Telegrammstils  nähert  sich  wieder  der 
Gespreiztheit.  Man  hat  das  Gefühl,  wenn  er  vollständiger  schriebe,  würde 
er  banal  werden.  Trotzdem  bedeutet  Sternheim  die  Höhe  des  heutigen 
Lustspiels,  und  sein  ^Bürger  Schippel"  ist  in  der  von  Reinhardt  grotesk 
hingespritzten  Aufführung,  die  schauspielerisch  vor  allem  Viktor  Arnold 
unterstützt,  ein  einziges  Vergnügen. 

Den  andern  Neuaufführungen  waren  keine  dauernden  Erfolge  beschie- 
den. Heinrich  Manns  „Große  Liebe",  die  hohe  Leidenschaften  an  den 
Banalitäten,  Feigheiten  und  Rücksichten  des  alltäglichen  Lebens  klein  und 
erbärmlich  werden  lässt,  bleibt  im  Zwielicht,  empfängt  erst  Bedeutung  durch 
die  von  Oscar  Sauer  fast  mystisch  gespielte  Szene  eines  uralten  Lebemannes, 
der  noch  aufwühlende  Leidenschaften  gekannt  hat,  und  wurde  vom  Lessing- 
theater bald  abgesetzt.  Hartlebens  „Erziehung  zur  Ehe",  die  mit  Gang- 
hofers  geschickter,  wirksamer,  aber  oberflächlicher  und  überdeutlicher 
Dorfkomödie  „Tod  und  Leben"  vom  selben  Theater  aufgenommen  wurde, 
mag  sich  eine  Zeitlang  behaupten.  Dagegen  musste  der  „Kampf  ums  Rosen- 
rote", das  unsagbar  alberne  Jugendwerk  des  durch  „Tantris"  und  „Gudrun" 
doch  schon  genügend  belasteten  Ernst  Hardt  vom  Deutschen  Schauspielhaus 
schleunigst  wieder  begraben  werden.  Lange  wird  sich  im  königlichen  Schau- 
spielhaus auch  nicht  „Ariadne  auf  Naxos"  behaupten.  Strauß  als  Musiker 
und  noch  weniger  Hofmannsthal  als  Textdichter,  der,  im  Zerbinetta-Teil,  mit 
goethischen  Versen  spielend,  die  Ariadne-Handlung  durch  flachen  Tiefsinn 
verdorben  hat,  haben  mit  der  Stilmischung  aus  Komödie,  ernster  und  heiterer 
Oper  Glück  gehabt.  Und  im  Theater  in  der  Königgrätzerstraße  war 
„Macbeth"  ein  Misserfolg,  weil  die  Regie  aus  Mangel  an  Innern  und  äußern 
Mitteln  die  reiche  Tragödie  auf  die  armselige  Reliefbühne  des  Münchener 
Künstlertheaters  übertrug,  weil  Wegener  als  Macbeth  ohne  Reinhardts  Regie 

62 


bis  auf  zwei  Szenen  matt  und  leer  blieb  und  die  Triesch  als  Lady  hysteri-( 
sches  Theater  machte. 

Ein  erfreuliches  Kapitel  bildet  die  Entwicklung  des  „Neuen  Volks- 
theaters".  Es  vergreift  sich  zwar  in  der  Wah!  seiner  Novitäten,  hat  bis  auf 
wenige  Ausnahmen  als  Schauspieler  nur  handfeste  Routiniers,  ist  aber  in 
seinem  Repertoir  trotzdem  sicher  und  übersichtlich  und  in  seinen  Auf- 
führungen tüchtig,  sorgfältig  und  solide.  Es  bekommt  unter  Beihilfe  der 
Stadt  Berlin  ein  neues  großes  Haus,  das,  sicher  fundiert,  von  einem  ersten 
Architekten  gebaut,  zum  erstenmal  das  Ideal  eines  Volkskunsthauses  ver- 
wirklichen will.  Es  hat  jetzt  schon  die  arg  daniederliegenden  Schillertheater 
überholt  und  wird  geschäftlich  bessere  Zeiten  heraufführen. 

BERLIN  HERBERT  JHERINQ       ' 

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KURZE  ANZEIGEN 

In  dieser  Rubrik  werden  unter  Verantwortung  der  Redaktion  kurze  Notizen  über  Bücher, 
Zeitschriften-  und  Zeitungsartikel  erscheinen,  die  eine  spätere  einlässliche  Besprechung  nicht 
ausschließen.    Wir  bitten  unsere  Leser,  daran  nach  Lust  mitzuarbeiten.  D.  R. 

Es  darf  als  erfreuliches  Zeichen  ausgesprochen  werden,  dass  ein  so 
strenger,  sachlicher  Roman  wie  Friedrich  Huchs  „Enzio"  schon  in  sechs- 
tausend Exemplaren  verbreitet  ist.  Er  stellt  den  Kampf  und  Untergang  eines 
jungen  Musikers,  dar,  der  als  Sohn  eines  typischen  Kappelmeisters  dem 
Epigonentum  verfallen  zu  sein  glaubt ;  in  Wahrheit  geht  er  daran  zu  gründe, 
dass  er  sich  als  Mensch  nicht  zu  zügeln  weiß.  Empfindung  und  Geist  halten 
sich  in  diesem  Werk  aufs  schönste  die  Wage:  neben  Frauengestalten,  die 
im  Goldglanze  reifer  Poesie  stehen,  fesseln  den  Leser  Gespräche  über 
Musik  die  zum  Tiefsten  und  Einsichtigsten  gehören,  was  über  diese  Kunst 
jemals  gesagt  worden  ist. 


Im  Verlag  von  Schulthess  und  Cie.  in  Zürich  hat  Dr.  G.  A.  Frey, 
Redaktor  in  Glarus,  ein  Staatsbürgerliches  Lexikon  herausgegeben:  ist  der 
Name  vielleicht  auch  für  dieses  kleine  Wörterbuch  zu  hoch  gegriffen,  so 
ist  dem  schweizer  Zeitungsleser  immerhin  ein  bedeutender  Dienst  damit  ge- 
leistet. Nach  Schlagwörtern  geordnet  findet  man  da  das  Wesentlichste  über 
kantonales  und  eidgenössisches  Staatsrecht,  über  Gesetzgebung,  Wehr- 
ordnung und  ähnliches,  alles  in  knapper  und  rühmlich  klarer  Fassung.  Es 
liegt  in  der  Art  eines  solchen  Buches,  dass  sich  die  Lücken  erst  beim  Ge- 
brauch zeigen  und  dass  erst  künftige  Auflagen  jene  Vollkommenheit  auf- 
weisen können,  die  für  die  Brauchbarkeit  auch  eines  kleinen  solchen  Werkes 
fast  unerlässlich  ist.  Mir  ist  bei  ein  paar  Stichproben  Folgendes  auf- 
gefallen : 

Die  eidgenössische  Kunstkommission  ist  nicht  unter  diesem  Schlagwort 
sondern  nur  beim  Departement  des  Innern  genannt;  über  ihre  Zusammen- 
setzung, ihre  Rechte  und  Pflichten  erfährt  man  nichts.  Anderseits  würde 
man  in  einem  solchen  Buch  eine  Erläuterung  des  Begriffes  Kunstgewerbe 
nicht  suchen.  Über  die  Gottfried  Keller-Stiftung  möchte  man  gerne  etwas 
mehr  wissen,  unter  anderem  die  Gründung.  Wenn  man  liest,  dass  die  Dra- 

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goner-  und  Guidenschawdronen  der  Landwehr  ohne  Pferde,  ohne  Fuhrwerke 
und  Trainmannschaften  sind,  möchte  man  doch  gern  über  ihre  Kriegsver- 
wendung erfahren.  Der  Naturschutz  ist  in  dem  Buche  genannt,  der  weit 
einflussreichere  Heimatschutz  nicht.  Und  wie  schade,  dass  man  nicht  er- 
fährt, welcher  Staatsmann  zuerst  den  prächtigen  Ausspruch  tat:  „Dei  Pro- 
videntia et  confusione  hominum  Helvetia  regitur." 

aaa 

Der  Jahresbericht  der  Sektion  Zürich  des  Schweizerischen  Automobilclubs  enthält 
stets  einen  temperamentvoll  geschriebenen  Aufsatz,  der  sich  namentlich  mit  den  kleinen 
Verfassungsbrüchen  und  PoIizeiwillkQrlichkeiten  befasst,  die  ja  gegen  eine  Minderheit  in 
der  Schweiz  manchem  durchaus  berechtigt  erscheinen.  Dieses  Jahr  befasst  er  sich  überdies 
mit  dem  idealen  Bestreben  vieler  Zürcher  Politiker,  wohlhabenden  Leuten  den  Aufenthalt 
im  Land  unmöglich  zu  machen: 

Die  eidgenössische  Regelung  des  Automobilverkehrs  ist  im  letzen  Jahre 
bis  zu  einer  Vorlage  an  die  Räte  gediehen.  Sie  liegt  zurzeit  vor  dem  Stände- 
rat. Ob  angesichts  der  oben  gekennzeichneten  Kantönlipolitik  überhaupt 
diese  Frage  noch  mehr  als  akademisches  Interesse  verdient,  erscheint  uns 
fraglich.  Der  Bundesrat  hätte  mit  einer  solchen  Vorlage  in  weitblickender 
Weise  schon  vor  Jahren  vor  die  Räte  kommen  sollen.  Heute,  wo  die  Kan- 
tone in  Form  von  hohen  Bußen  und  den  direkt  verfassungswidrigen 
Straßengebühren  (Brünig,  Simplon,  Qotthard  etc.).  Blut  geleckt  haben,  er- 
scheint ein  auch  nur  bescheidener  Versuch,  Ordnung  in  das  Chaos  von 
Vorschriften  zu  bringen,  fast  aussichtslos. 

Zum  Schlüsse  unseres  Berichtes  möchten  wir  nicht  verfehlen,  unsem 
Mitgliedern  noch  eine  Erwägung  zur  Reflexion  und  gelegentlichen  Ver- 
wendung zu  unterbreiten:  Gar  oft  und  immer  wieder  wird  von  den  Gegnern 
in  Diskussion  und  Presse  mit  dem  Gedanken  an  eine  Initiative  für  ein 
Totalverbot  geliebäugelt.  Alle  möglichen  Polizeimaßregeln  werden  aus  an- 
geblicher Furcht  vor  einer  solchen  eventuell  möglichen  Initiative  empfohlen. 
Wir  wollen  nun  einmal,  rein  theoretisch,  annehmen,  ein  solches  Totalverbot 
oder  ähnliche,  ihm  gleichkommende  Maßregeln  wären  durch  Abstimmung 
Gesetz  geworden.  Die  direkte  Folge  wäre  natürlich,  dass  diejenigen  Leute, 
die  das  Automobil  als  im  modernen  Erwerbsleben  unentbehrliches  Verkehrs- 
mittel gebrauchen,  sich  beeilen  würden,  den  Staub  des  Kantons  Zürich  von 
ihren  Füßen  zu  schütteln.  Hiebei  darf  wohl  mit  einiger  Sicherheit  behauptet 
werden,  dass  sich  unter  diesen  Leuten  zumeist  diejenigen  befinden,  die  dem 
Staat  in  Form  von  Steuern  die  Mittel  zu  seiner  Existenz  und  zur  Erhaltung 
unserer  vielen  Beamten  und  Beämtlein  liefern,  mit  anderen  Worten,  einige 
„Siebenstellige",  wie  sie  einmal  in  einem  Hetzartikel  zur  Zeit  der  Automobil- 
hetze genannt  worden  sind. 

Wenn  wir  aber  hören,  dass  von  den  zirka  60,000  Steuerpflichtigen  der 
Stadt  Zürich  es  273  Einzelpersonen  sind,  die,  wie  sich  dies  durch  das 
Steuerregister  kontrollieren  läßt,  dank  einem  Vermögen  von  je  500  Mille 
und  mehr,  34%  der  Gesamtvermögenssteuer  der  Stadt  Zürich  aufbringen 
und  wenn  wir  uns  diese  273  „Stützen  des  Staates"  als  verärgerte  Automobil- 
halter vorstellen,  so  gewinnt  die  ganze  Automobilfrage  ein  neues  und  viel- 
leicht für  manche  Kreise  unerwartetes  Gesicht. 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

64 


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MAX  BURI 


HANDORQELSPIELER 


Aus  dem  Schweizer 
Jahrbuch  für  Kunst 
u.  Handwerk   m.  G. 


NACH  DER  SCHLACHT 

Der  Gotthardvertrag,  über  den  wir  in  der  Schweiz  drei  Jahre 
lang  gestritten  haben,  ist  von  den  Räten  angenommen  worden; 
am  4.  April  vom  Nationalrat  mit  108  Ja  gegen  77  Nein,  und 
am  9.  April  vom  Ständerat  mit  33  Ja  gegen  9  Nein.  —  Um  die 
Wiederholung  eines  solchen  Fehlers  zu  verunmöglichen,  will  man 
nun  auf  dem  Wege  der  Initiative  das  Volk  selbst  über  Staats- 
verträge von  längerer  Dauer  entscheiden  lassen. 

Diese  scheinbar  logische  Erweiterung  des  demokratischen 
Prinzipes  in  unserer  Verfassung  müssen  wir  entschieden  be- 
kämpfen. Sie  ist  in  mancher  Beziehung  gefährlich,  wie  im  nächsten 
Hefte  dieser  Zeitschrift  im  Einzelnen  nachgewiesen  werden  soll; 
sie  ist  aber  auch  ganz  nutzlos,  denn  das  Übel,  an  dem  wir  viel- 
leicht zugrunde  gehen,  sitzt  nicht  in  dem  einen  oder  andern 
Staatsvertrag,  sondern  in  unserem  politischen  Leben  überhaupt 
Es  gilt  nicht,  neue  Rechte  zu  erobern;  es  gilt,  von  den  vorhan- 
denen Rechten  einen  besseren  Gebrauch  zu  machen. 

Gewiss,  der  Gotthardvertrag  ist  und  bleibt  ein  schwerer 
Fehler,  den  seine  Anhänger  höchstens  als  eine  unvermeidliche 
Folge  früherer  Fehler  erklären  konnten.  Trotz  einzelner  Reden, 
die  einen  gewollten  Optimismus  zur  Schau  trugen,  hat  niemand 
mit  Freude  Ja  gestimmt ;  viele  taten  es  nur  aus  Furcht  vor  einer 
anbestimmten  Zukunft.  Die  Bundesräte  Forrer,  Motta  und  Schult- 
hess  haben  ihre  Sache  so  gut  vertreten,  wie  man  sie  nur  vertreten 

65 


konnte;  kräftig,  ehrlich,  ja  versöhnhch  und  ritterh'ch;  wie  voraus- 
zusehen war,  haben  sie  sachh'ch  den  Sieg  errungen ;  moralisch  je- 
doch bleibt  Nationalrat  Alfred  Frey  der  Sieger . . .  Jene  Abendstunde 
vom  2.  April  werde  ich  nie  vergessen.  Der  Kampf  dauerte  seit  einer 
Woche  und  ging  nun  dem  Ende  zu;  alle  Argumente,  für  und 
wieder,  waren  schon  drei  und  vier  mal  gebraucht  worden;  der 
Rat  war  müde,  jede  einzelne  Stimme  gesichert.  Da  erhob  sich, 
gegen  6  Uhr  abends,  Herr  de  Meuron,  und  wirkte  belebend;  zu 
Anfang  seiner  Rede  waren  noch  von  110  Räten  38  mit  Zeitungen 
und  Briefen  beschäftigt;  nach  einer  Viertelstunde  waren  alle  auf- 
merksam und  gruppierten  sich  um  den  Redner,  der  die  Haltung 
der  Welschschweizer  und  die  Volksbewegung  energisch  verteidigte. 
Nun  war  rechte  Stimmung  da,  und  schon  die  ersten  Worte  des 
Herrn  Alfred  Frey  steigerten  das  Interesse  bis  zur  Ergriffenheit. 
Kein  Laut  und  keine  Gebärde  im  ganzen  Saale;  alle  Augen  auf  den 
Redner  gerichtet;  alle  Herzen  bebend.  Die  Stimme  ist  fest  und 
klar,  trotz  der  Innern  Bewegung;  die  Worte  sachlich,  korrekt, 
und  doch  scharf  wie  eine  Klinge.  Zuerst  kommen  Zahlen,  Tat- 
sachen, Rechtsbegriffe,  Vergleiche  aus  der  reichsten  Erfahrung; 
dann  von  Stufe  zu  Stufe,  bis  über  unsere  Grenzen  und  den  heu- 
tigen Tag  hinaus,  die  politisch- moralische  Bedeutung  des  Vertrages. 
„Und  wenn  eines  Tages  Frankreich  die  gleiche  Begünstigung  ver- 
langt, und  wir  sie  abschlagen,  wird  es  fragen :  Wieviel  hat  es  denn 
Deutschland  und  Italien  gekostet"?^)  Da  sehen  alle  mit  Schaudern 
in  den  Abgrund,  zu  dem  uns  eine  Kette  von  Irrtümern  geführt 
hat  .  .  ,  Das  soll  nicht  wieder  vorkommen ;  mitten  aus  der  Angst 
erstehen  auch  die  Einsicht  und  der  feste  Wille,  künftig  die  Freiheit 
des  Vaterlandes  besser  zu  wahren.  Und  bei  diesem  stillen  Gelübde 
fühlt  jeder  neben  der  Traurigkeit  die  Erhabenheit  der  Stunde. 

Diese  Schlacht  ist  verloren;  wir  wollen  die  Lehre  daraus 
ziehen,  auf  dass  wir  die  nächste  gewinnen.  Da  hilft  keine  stür- 
mische Initiative;  da  hilft  nur  stille  Einkehr.  Tiefe  Trauer  diktiert 
mir  diese  Worte,   doch  eine  Trauer  ohne  Groll  und  Bitterkeit. 

Man  konnte  ja  in   guten  Treuen  verschiedener  Ansicht  sein, 

1)  Ich  zitiere  die  Worte  aus  dem  Gedächtnis. 
66 


je  nach  dem  Standpunkt,  den  man  einnahm.  Streng  juristisch, 
gingen  die  besten  Köpfe  auseinander;  ökonomisch  wiegen  sich 
vielleicht  Vorteile  und  Nachteile  auf;  sicher  ist  nur  der  politische 
Verlust,  und  eben  das  politische  Moment  scheint  man  bei  den 
Verhandlungen  des  Jahres  1909  ganz  aus  den  Augen  verloren  zu 
haben.  Da  hat  die  Volksbewegung  eingesetzt  (wenn  sie  auch  ge- 
legentlich mit  anderen  Argumenten  kämpfte);  es  war  aber  zu  spät. 
.  '  Zu  spät  ...  für  diesen  Fall.  Doch  sind  wir  um  eine  Er- 
fahrung reicher;  ja,  um  viele  Erfahrungen,  wenn  wir  die  Ereig- 
nisse der  letzten  Wochen  von  einer  höheren  Warte  aus  betrachten. 
Ich  beklage  nicht  nur  die  Annahme  des  Gotthardvertrages,  son- 
dern auch  viele  Begleiterscheinungen,  die  uns  klar  beweisen,  dass 
wir  politisch  noch  viel  zu  lernen  haben. 

Was  sollen  bei  uns  zum  Beispiel  unsaubere  Verdächtigungen? 
Herr  Calonder  ändert  seinen  Standpunkt,  er  geht  vom  Nein  zum 
Ja:  man  hat  ihn  mit  dem  Splügen  bestochen;  —  Herr  Alfred 
Frey  kommt  vom  Ja  zum  Nein:  er  handelt  aus  kleinlicher  Rache. 
Und  so  weiter.  Gewiss,  auf  beiden  Seiten  hat  es  Leute  gegeben, 
die  aus  irgend  einem  Interesse  so  oder  anders  gestimmt  haben; 
der  eine  wollte  dem  Bundesrate  gefallen  und  der  andere  den 
Wählern;  lassen  wir  diese  Lauen  beiseite.  Mit  welchem  Rechte 
besudelt  man  die  innere  Wandlung  eines  Mannes,  der  seit  Jahren 
seine  Ehrlichkeit  bewiesen  hat?  Was  man  kürzlich  in  Bern 
munkeln  hörte  und  in  den  Zeitungen  las,  das  war  tief  beschämend, 
einerlei,  sei  es  die  Verleumdung  oder  erwiesene  Korruption. 

Und  was  bedeutet  die  andere  Taktik,  den  Gegensatz  zwischen 
Welschschweizern  und  Deutschschweizern  künstlich  zu  verschärfen? 
Auf  beiden  Seiten  geschah's;  besonders  aber  auf  Seite  der  Ver- 
tragsfreunde, und  bis  in  den  Nationalrat  hinein!  Das  beruht  wohl 
zum  Teil  auf  Verkennung  der  psychologischen  Verhältnisse,  bleibt 
aber  als  Gesamterscheinung  ein  ruchloses  Vorgehen.  In  der  stände- 
rätlichen  Kommission  wurde  bereits  hervorgehoben,  dass  die  ganze 
Bewegung  nicht  von  der  Welschschweiz,  sondern  von  Zürich  aus- 
ging, und  zwar  von  Wissen  und  Leben.  Das  stimmt.  Ächte 
Deutschschweizer  machten   mich  zu  Anfang  des  Jahres  1910  auf 

67 


die  Gefahren  des  Vertrages  aufmerksam;  ich  beschloss,  die  Disr 
kussion  zu  eröffnen ;  so  entstanden  a!I  die  Artii<el,  die  ich  in  einer 
Fußnote,  in  chronologischer  Reihenfolge  aufzähle^).  Es  ist  mir 
eine  Pflicht,  an  dieser  Stelle  Herrn  Dr.  Steiger  und  Herrn  Bundes- 
richter Rössel  den  herzlichsten  Dank  auszusprechen.  Die  Ver- 
bindung ihrer  Namen  beweist  an  sich  allein,  dass  die  Bewegung 
eine  schweizerische  gewesen  ist.  Beide  haben  Großes  geleistet;  sie 
haben  die  Spezialfrage  zu  einem  vaterländischen,  moralischen 
Problem  erweitert;  in  der  Spezialfrage  sind  wir  besiegt;  das 
Problem  bleibt  um  so  dringender.  Wir  sind  alle  stolz  darauf, 
dass  unsere  junge  Zeitschrift  das  Problem  zuerst  gefasst  und  am 
meisten  vertieft  hat,  ohne  Rücksicht  auf  Regionen  und  auf  Parteien. 
Was  bedeutet  endlich  die  Verachtung  vieler  Politiker  für  die 
freie  .Meinungsäußerung  des  Volkes  und  die  höhnischen  Berichte 
gewisser  Zeitungen  über  die  „Landsgemeinden"?  Gewiss,  es 
wurden  da  öfters  die  Argumente  etwas  knapp  zusammengerafft; 
man  wandte  sich  mehr  an  das  Gefühl  als  an  den  Verstand.  Ging  man 
etwa  beim  Beutezug,  beim  Rückkauf  der  Eisenbahnen  anders  vor? 
Könnten  die  Herren  Gesetzgeber  alles  verantworten,  was  sie  einer 
größeren  Wählerversammlung  predigen?  Und  doch  sind  diese 
ihre  Wähler  lauter  kluge  Köpfe  .  .  .  Sehen  wir  doch  ab  vom 
besondern  Zweck  dieser  Landsgemeinden:  da  strömen  die  Bürger 
zusammen,  aus  allen  Parteien,  aus  allen  Regionen,  ohne  den 
leisesten  Wink  von  oben,  um  das  Vaterland  vor  einer  Gefahr  zu 
schützen;  es  findet  keine  Ausschreitung  statt;  die  Männer  sind 
lauter  Ernst  und  Begeisterung;  mit  entblößtem  Kopf  singen  sie 
„Rufst  du,  mein  Vaterland  .  .  ."     Wer  da  höhnen  mag,   ist  für- 


^)  Baur:  Der  Gotthardvertrag  (1.  April  1910.  Bd.  VI,  Seite  1).  Steiger: 
Der  Gotthardvertrag  (Vi,  65,132,216);  Zur  Entwicklung  der  Gotthardf rage 
(VII,  217).  Schuler:  Fiktionen  (VII,  321).  Bovet:  Le  respect  de  l'autorite' 
(Vil,  424).  Steiger:  Die  Bewegung  gegen  den  Gotthardvertrag  (VII,  441). 
Rössel:  Une  mauvaise  affaire  (VII,  513).  Baur:  Verantwortung  (VII,  585). 
Rössel:  Re'ponse  ä  quelques-uns  (VII,  662).  Boller:  Zur  Reduktion  der 
Bergzuschläge  (VII,  760).  Von  der  besseren  Lösung  (VIII,  617).  Steiger: 
Der  Gotthardvertrag  (XI,  10) ;  Schlusswort  zum  Gotthardvertrag  (XI,  724). 
Büscher:  Zum  Gotthardvertrag  (XI,  682,  711). 

68 


wahr  ein  armer  Tropf.  —  Dieser  berechtigte  und  schöne  Aus- 
druck der  Überzeugung  des  Volkes  darf  aber  nicht  in  Zwang  und 
in  Drohungen  ausarten,  wie  es  leider  stellenweise  geschehen  ist. 
Auf  diese  demagogische  Entartung  komme  ich  ein  andermal  in 
anderem  Zusammenhang  zurück.  ;{ 

Heute  will  ich  bloß  zwei  Schlüsse  ziehen,  die  sich  aus  der 
Annahme  des  Qotthardvertrages  und  aus  den  Begleiterscheinungen 
ergeben. 

Der  eine  Schluss  ist  rein  praktischer  Art.  Die  Notwendigkeit 
einer  gründlichen  Reorganisation  der  Bundesverwaltung  und  ganz 
besonders  des  politischen  Departementes  ist  dringend.  Ge- 
wisse Dinge  dürfen  nicht  wieder  vorkommen.  Wir  brauchen 
Stetigkeit  und  klare  Verantwortlichkeit  in  der  Leitung  der  aus- 
wärtigen Politik;  wir  haben  eben  die  Zeche  des  jetzigen  Systems 
bezahlt;  sie  ist  zu  teuer. 

Und  der  andere  Schluss  betrifft  unsere  ganze  Auffassung  der 
t^olitik.  Hier  muss  in  den  Begriffen,  in  den  Geistern  selbst  ein 
Wandel  vorgehen.  Die  Realpolitik  hat  überall  ihre  großen  Ge- 
fahren; einer  kleinen  Republik  bringt  sie  vollends  den  Tod. 
Man  blättere  bloß  in  der  Geschichte  .  .  .  Ein  einflussreicher 
Journalist,  der  den  Behörden  sehr  nahe  steht,  erzählte  mir  ein- 
mal, ganz  gelassen,  merkwürdige  Dinge;  ich  fragte:  „Sind  denn 
bei  einer  Wahl  in  den  Bundesrat  die  Eisenbahngeschäfte  so  maß- 
gebend?" Er  antwortete  lächelnd  und  nicht  ohne  Ironie  für  meine 
Naivität:  „Jawohl;  unsere  Politik  ist  Eisenbahnpolitik".  —  Herr 
Bundesrat  Forrer  hat  eine  lehrreiche  Geschichte  erzählt:  der  Ver- 
waltungsrat der  Bahn  Aigle-Sepey  (der  wahrscheinlich  aus  Geg- 
nern des  Gotthardvertrages  besteht)  hat  die  elektrische  Installation 
der  Bahn  der  Berliner  A.  E.  G.  anvertraut  .  .  .  Tausend  ähnliche 
Beispiele  ließen  sich  aus  der  jüngsten  Zeit  anführen.  Hat  nicht 
Herr  Krafft  in  Lausanne  den  Satz  ausgesprochen :  „Queferions- 
nous,  en  Suisse,  sans  les  etrangers?"  Und  hat  nicht  Herr  Na- 
tionalrat Emery  (ein  Gegner  des  Gotthardvertrages!)  ihm  zu- 
gestimmt? Wo  jeder  einzelne  Bürger  bloß  dem  „Geschäft"  nach- 
geht, soll  man  sich  da  wundern,  wenn  das  Parlament  Politik  und 

69 


Geschäft  verwechselt?  Wo  sind  unsere  Grundsätze  und  die  Opfer, 
die  wir  den  Grundsätzen  bringen?  Es  wird  mit  Zahlen,  mit  Ta- 
bellen, mit  Rendite  operiert.  Welchen  Sinn  hat  aber  die  politische 
Freiheit  des  Landes,  wenn  jeder  einzelne  seine  moralische  Frei- 
heit aufgegeben  hat? 

Mit  schwerem  Unrecht  haben  die  Gegner  des  Vertrages  so- 
zusagen das  Monopol  der  Vaterlandsliebe  für  sich  beansprucht. 
Die  Liebe  zum  Vaterlande  ist  bei  unseren  Bundesräten  und  bei 
den  Jasagern  ebenso  groß,  ebenso  glühend  wie  bei  den  andern. 
Bei  den  meisten  im  Lande  jedoch  hat  diese  Liebe  das  höchste 
Ziel  aus  den  Augen  verloren;  sie  wagt  es  nicht  mehr,  ein  wirk- 
lich politisches  Ideal  offen  zu  bekennen ;  sie  ist  rein  in  materiellen 
Fragen  und  in  Geschäften  befangen,  die  gewiss  zum  Leben  ge- 
hören wie  das  tägliche  Brot,  die  aber  die  Existenz  des  Staates 
gefährden,  sobald  der  Staat  nur  noch  den  Geschäften  zu  dienen 
hat.  —  Was  bleibt  vom  täglichen  Brot,  wenn  der  Mensch  durch 
keinen  Glauben  gehoben  wird  und  sein  inneres  Leben  nicht  be- 
reichert? Und  was  bleibt  von  den  schönsten  Geschäften,  was 
von  der  fürsorglichsten  Sozialgesetzgebung,  wenn  die  Republik 
ihrer  Kulturaufgabe  nicht  mehr  genügt?  —  Und  wozu  endlich 
die  Volksrechte  noch  vermehren,  wenn  das  Volk  selbst  im  Lebens- 
genuss,  im  Egoismus  entartet?  Wenn  ein  Volk,  das  doch  so  viele 
Rechte  hat,  keine  Staatsmänner  und  keine  Führer  erzeugt,  son- 
dern nur  noch  Realpolitiker,  will  man  ihm  da  selbst  die  Führung 
anvertrauen  ? 

Seit  einigen  Jahren  leben  wir  von  Selbsttäuschungen  und 
verbergen  die  Wunden  unter  allerlei  Pflästerchen.  Unsere  Parteien 
führen  nur  noch  ein  künstliches  Leben?  Da  erfindet  man  den 
Proporz,  der  den  Parteizwang  erhöht.  —  Das  Wahlrecht  ist  zu  einer 
bloßen  Geste  der  Bestätigung  heruntergesunken?  Da  erfindet  man 
kompliziertere  Rechte.  —  Dem  eigenen  Lande  und  dem  Auslande 
gegenüber  hat  der  Bundesrat  nicht  genug  Autorität?  Da  schwächt 
man  ihn  noch  durch  Initiativen  des  Zornes  und  des  Misstrauens. 
—  Das  ist  unsere  Logik. 

70 


Unser  Volk  hat  bereits  viele  Mittel,  um  seinen  Willen  zu  be- 
kunden; warum  braucht  es  sie  nicht  zur  richtigen  Stunde?  Ge- 
wiss, bei  uns  entscheidet  das  Volk  selbst  über  sein  Schicksal ; 
sein  Wille  soll  über  alles  siegen;  weiß  aber  unser  Volk,  was  es 
will,  wenn  seine  besten  Söhne  es  nicht  wissen? 

Hierin  liegt  das  ganze  Problem,  und  hier  müssen  wir  mit 
aller  Energie  einsetzen,  furchtlos,  und  trotz  allem  hoffnungsvoll. 
Die  geplante  Initiative  ist  ein  Akt  des  Zornes;  sie  ist  unklug. 
Einkehr  tut  uns  not;  sollte  die  Annahme  des  Gotthardvertrages 
uns  zu  dieser  Einkehr  führen,  so  hätte  sich  das  alte  Wort  wieder 
bewahrheitet:  Unglück  ist  immer  zu  etwas  gut. 

An  ein  trauriges  Ende  glaube  ich  trotz  alledem  nicht.  Seit 
sechshundert  Jahren  haben  wir  schon  manchen  Fehler  begangen 
und  gebüßt;  wir  haben  uns  immer  wieder  aufgerichtet,  wie  wir 
uns  jetzt  aufrichten  wollen;  tief  in  der  Seele  haben  wir  noch 
Kräfte  genug,  um  unsere  Zukunft  würdig  zu  gestalten.  Der  Genfer, 
der  von  jeher  mit  reformfreudiger  Hoffnung  erfüllt  war,  führt  im 
Schilde  das  Wort:  Post  tenebras  lux. 

ZÜRICH  E.  BOVET 

DOD 


AUF  EINEM  HEIMWEG 

Die  Wolken  ziehen  ruhig  und  gelassen 

Im  Gold  der  Abendsonne  —  und  verblassen. 

Ein  schriller  Vogelschrei 

Tönt  fernher  übers  Feld.    Die  Wälder  dunkeln. 

Im  blauen  Raum  beginnt  ein  Stern  zu  funkeln. 

Vorbei  ist  nun  der  Tag. 

Still  kommt  die  Nacht  und  breitet  über  Wegen 

Und  Wald  und  Feld  die  Hände  wie  zum  Segen . . . 

I:MIL  SCHIBLf 
DD  □ 


71 


WILSON  UND  POINCARE 

I 

i 

Der  Historiker  und  Nationalökonom,  der  vor  wenigen  Wochen 
von  dem  obersten  Staatsamt  der  Union  Besitz  ergriff,  hat  der 
Welt  schon  durch  seine  Inaugurationsrede  gezeigt,  dass  er  aus 
anderem  Holz  geschnitzt  ist  als  die  politischen  Routiniers  und 
Dutzendkapazitäten,  die  sich  so  gewöhnlich  an  die  Staatskrippe 
drängen.  Mit  dem  obersten  Grundsatz  der  Utilität,  der  die  ameri- 
kanische Politik  und  das  ganze  Staatswesen  beherrscht,  will  Wilson 
brechen.  Was  er  in  seiner  Rede  so  schlicht  und  ergreifend  aus- 
gesprochen hat,  von  dem  haben  bisher  wenige  Amerikaschilderer 
uns  erzählt.  Der  lapidare  Satz  „Wir  haben  bisher  den  Menschen- 
wert nicht  hoch  genug  angeschlagen"  gibt  der  Kundgebung  des 
Präsidenten  eine  Bedeutung,  die  weit  über  den  Tag  hinausreicht. 
Der  preußische  Regierungsrat  Kolb'hat  vor  einigen  Jahren  in  einem 
epochemachenden  Buche  Als  Arbeiter  in  Amerika  die  Dessous 
des  amerikanischen  Wirtschaftslebens  gelüftet;  weltfremd  stand  er 
vorher  der  Anschauungsweise  einer  ganzen  Menschenklasse  ge- 
genüber und  das  Ergebnis  seines  praktischen  Versuches  lautete:  „Ich 
habe  viele  Postulate  unserer  Arbeiterwelt  als  absolut  diskutabel 
erkannt."  Seitdem  brachten  uns  vornehmlich  zwei  amerikanische 
Schriftsteller,  Robert  Hunter  und  Upton  Sinclair,  das  Verständnis 
für  die  Verheerungen  nahe,  welche  das  fast  schrankenlose  Spiel 
der  wirtschaftlichen  Kräfte  in  der  großen  Schwesterrepublik  an- 
richtet, für  die  Schädigungen  an  den  Menschen,  die  im  natio- 
nalen Produktionsprozesse  stehen,  und  für  die  breiten  Konsu- 
mentenmassen. Was  Wilson  in  seiner  Rede  vorbrachte,  ist  eine 
Unterstützung  der  furchtbaren  Anklagen,  die  an  den  amerikanischen 
Großindustrialismus  und  Großkapitalismus  gerichtet  sind,  in  dem 
Versuch,  den  Kampf  gegen  solche  Zustände  aufzunehmen,  ist  Wilson 
dem  liberalen  englischen  Finanzminister  Lloyd  George  gleichzu- 
stellen; dem  Temperamente  nach  dürfte  er  ein  noch  kühler  abwä- 
gender, mit  praktischen  Möglichkeiten  noch  besser  rechnender  Staats- 
mann sein.  Die  Frage  muss  zunächst  gestellt  werden:  woher  ist 
diese  mit  aller  Macht  einsetzende  Gegenbewegung  herzuleiten?  hat 
der  glänzende  Aufstieg  der  Vereinigten  Staaten  nicht  allen  Volks- 
schichten ökonomische  Vorteile  gebracht?  haben  nicht  alle  relativ 
an  der  Reichtumsentwicklung  teilgenommen? 

72 


Robert  Hunter  zeigte  uns  die  Kehrseite  dieser  glänzenden 
Entwicklung.  Zwei  Schriften,  Armut  und  Das  Elend  der  neuen 
Welt  lassen  uns  erkennen,  dass  neben  dieser  glänzenden  Welt 
eine  ärmliche  ist,  von  der  man  nicht  spricht.  Im  Vorwort  zum 
zweiten  Buch  schreibt  er:  „Es  hat  ein  Ziel:  es  soll  nämlich  die  Dring- 
lichkeit d^r  Anwendung  gewisser  gesellschaftlicher,  sozialpolitischer 
Maßnahmen  zur  Abwehr  des  Verkommens  solcher  Bevölkerungs- 
schichten, die  am  Rande  der  Armut  leben,  geschildert  werden.  Ich 
kann  nicht  begreifen,  warum  längst  und  allgemein  bekannte  Ursachen 
der  Verelendung  in  einem  menschlich  fühlenden,  christlichen  Volke 
geduldet  werden".  Hunter  greift  das  Problem  von  allen  Seiten 
an;  aus  der  Fülle  seiner  Feststellungen  nur  das  eine:  in  Amerika 
gibt  es  wahrscheinlich  auch  in  einigermaßen  günstigen  Jahren 
nicht  weniger  als  zehn  Millionen  Arme;  als  arm  bezeichnet  er 
die  unterernährten,  schlecht  gekleideten  und  armselig  wohnenden 
Menschen.  Gegen  vier  Millionen  von  ihnen  sind  „Paupers",  das 
heißt  sie  hängen  von  öffentlichen  Unterstützungen  ab.  Über  zwei 
Millionen  Arbeiter  sind  vier  bis  sechs  Monate  im  Jahr  arbeitslos. 
Beinahe  die  Hälfte  der  Familien  in  Nordamerika  ist  besitzlos; 
mehr  als  1,7  Mill.  kleine  Kinder  müssen  erwerbstätig  sein,  während 
sie  noch  die  Schule  besuchen  sollten.  Über  fünf  Millionen  Frauen 
sind  gezwungen,  industriell  zu  arbeiten,  weil  der  Lohn  des  Mannes 
nicht  ausreicht.  Das  sind  die  feststehenden  Angaben  Hunters. 
Wahrscheinlich,  schreibt  er,  werden  nicht  weniger  als  eine  Million 
Arbeiter  jährlich  in  ihrem  Berufe  verletzt  oder  getötet  und  über 
zehn  Millionen  der  heute  lebenden  Personen  werden,  wenn  das 
heutige  Verhältnis  bestehen  bleibt,  nach  allen  Regeln  der  Wahr- 
scheinlichkeit an  Tuberkulose  sterben. 

Amerika  kennt,  obwohl  der  Kapitalismus  in  dem  „Lande 
der  unbegrenzten  Möglichkeiten"  eine  nie  erträumte  Entwicklung 
genommen  hat,  keine  eigentliche  sozialistische  Partei,  die  bestim- 
menden Einfluss  erlangt  hätte.  Das  gleiche  ist  bisher  noch  von 
England  zu  sagen.  Auch  von  nicht  sozialdemokratischen  Theo- 
retikern wird  zugestanden,  dass  die  industrielle  Expansion  der 
Union  mit  ihren  Riesengebilden,  den  Trusts,  ein  Entwicklungssta- 
dium zeige,  das  in  manchen  Punkten  die  Theorien  des  Marxis- 
mus bestätigt.    Es  muss  aber  unterschieden  werden  zwischen  der 

73 


Verbreitung  sozialistischer  Ideen  und  der  Parteibildung  mit  so- 
zialistischen Gesichtspunkten. 

Die  Trades-Unions  bringen  wie  in  England  eine  Oberschicht 
qualifizierter  Arbeiter  in  gehobene  Lebenslage,  während  die 
Hunderttausende  jener  Arbeitskräfte,  die  keinen  Einfluss  auf  das 
Lohnniveau  durch  die  Tatsache  der  Organisation  haben  (un- 
organisierte, ungelernte  Arbeiter,  Frauen  und  Kinder),  zum  Teil 
unter  sehr  gedrückten  Verhältnissen  leben.  Es  kann  jedenfalls 
nur  für  die  gutgelohnten,  zum  Teile  geradezu  brillant  gelohnten 
Arbeiter  gelten,  was  Grünberg  zur  Erklärung  für  das  Nichtbe- 
stehen einer  starken  sozialdemokratischen  Partei  anführt:  die 
günstige  ökonomische  Lage  und  die  Möglichkeit  der  Erringung 
wirtschaftlicher  Selbständigkeit  auf  freiem  Boden.  Wohl  hat  die 
amerikanische  Arbeiterbewegung  den  Rahmen  gewerkschaftlicher 
und  sozial-reformatorischer  Bestrebungen  nicht  überschritten;  aber 
ihren  Einfluss  hat  sie  bei  Wahlen  im  Sinne  der  sozialistischen 
Weltauffassung  ganz  gehörig  in  die  Wagschale  geworfen.  Bei  der 
Präsidentenwahl  des  Jahres  1900  kamen  auf  den  sozialistischen 
Kandidaten  87  814  Stimmen,  im  Jahre  1904:  392  857  und 
1908:  424  483. 

Sombart  hat  uns  nach  seiner  Studienreise  in  Amerika  darüber 
aufgeklärt,  warum  der  Sozialismus  in  den  Vereinigten  Staaten 
keine  besonderen  Fortschritte  machem  konnte.  Die  Tatsache,  da$s 
der  amerikanische  Kapitalismus  sich  in  einem  Lande  mit  un- 
absehbaren Flächen  von  Terra  libera  entwickelt  hat,  ist  in  ihrer 
Bedeutung  für  die  Gestaltung  der  proletarischen  Psyche  keines- 
wegs erschöpft  mit  der  Feststellung  der  Zahl  von  Ansiedlern,  die 
im  Laufe  der  Jahre  sich  dem  kapitalistischen  Dienstverhältnis 
durch  die  Flucht  nun  wirklich  entzogen  haben.  Vielmehr  ist  in 
Rücksicht  zu  ziehen,  dass  das  bloße  Bewusstsein,  jederzeit  freier 
Bauer  werden  zu  können,  dem  amerikanischen  Arbeiter  ein  Gefühl 
der  Sicherheit  und  Ruhe  geben  musste,  das  dem  europäischen 
Arbeiter  fremd  ist.  Man  erträgt  jede  Zwangslage  leichter,  wenn 
man  wenigstens  in  dem  Wahne  lebt,  sich  ihr  im  äußersten  Not- 
fall entziehen  zu  können.  Dass  dadurch  aber  die  Stellung  des 
Proletariates  zu  den  Problemen  der  zukünftigen  Gestaltung  des 
Wirtschaftslebens  ganz  und  gar  eigenartig  werden  musste,  liegt 
auf    der    Hand.     Die    Möglichkeit,    zwischen    Kapitalismus    und 

74 


Nichtkapitalismus  optieren  zu  können,  verwandelt  jede  auf- 
keimende Gegnerschaft  gegen  dieses  Wirtschaftssystem  aus  einer 
aktiven  in  eine  passive  und  bricht  jeder  antikapitalistischen  Agi- 
tation die  Spitze  ab.  Noch  eine  andere  feine  Beobachtung  hat 
Sombart  gemacht:  der  Sinn  für  das  messbar  Große  im  Zusam- 
menhang mit  den  radikal-demokratischen  Grundsätzen  der  Ver- 
fassung hat  sich  beim  Amerikaner  zu  einer  blinden  Verehrung 
der  Majoritäten  ausgebildet:  diese,  so  meint  er,  ist  auf  dem 
rechten  Wege,  sonst  wäre  sie  ja  nicht  die  Majorität.  Bryce  be- 
zeichnet diese  Auffassung  als  „fatalism  of  the  multitude." 

Wird  es  nun  so  bleiben?  Die  Meinungen  über  den  Erfolg 
des  Sozialismus  in  der  Union  sind  geteilt.  Eine  wahrhaft  demo- 
kratische Volkspolitik,  wie  sie  Wilson  inaugurieren  will,  ist  mög- 
licherweise imstande,  auf  Jahre  hinaus  die  sozialistischen  Richtun- 
gen auf  eine  radikale  republikanische  Politik  festzulegen.  Die 
Zukunft  muss  lehren,  wie  weit  solche  Hoffnungen  gerechtfertigt 
sind.  Sombart  sah  im  Jahre  1906  die  Verhältnisse  bedeutend 
trüber  an,  als  man  sie  heute  anzusehen  berechtigt  ist.  Alle  Momente, 
meinte  er,  die  bis  heute  die  Entwicklung  des  Sozialismus  in  den 
Vereinigten  Staaten  aufgehalten  haben,  sind  im  Begriffe  zu  ver- 
schwinden oder  in  Ihr  Gegenteil  verkehrt  zu  werden,  so  dass  in- 
folgedessen der  Sozialismus  in  der  Union  im  nächsten  Menschen- 
alter aller  Voraussicht  nach  zu  vollster  Blüte  gelangen  werde.. 
Andere  Schriftsteller  beurteilen  den  Verlauf  der  Dinge  wesentlich 
verschieden  und  stellen  der  amerikanischen  Sozialdemokratie  keine 
günstige  Prognose.  Der  Anschluss  an  die  vorgeschrittensten 
Gruppen  der  demokratischen  Partei  wird  von  manchen  Politikern 
der  äußersten  Linken  als  die  einzig  richtige  Taktik  einer  Partei 
bezeichnet,  die  noch  zu  schwach  ist,  auf  eigenen  Füßen  stehen 
zu  können.  Die  amerikanische  Arbeiterbewegung  zeigt  übrigens 
in  den  letzten  Jahren  eine  bemerkenswerte  Tendenz  zur  Einheit; 
dies,  und  nicht  allein  die  Trustausschreitungen,  dürfte  bei  Sombart 
eine  so  pessimistische  Auffassung  der  Zukunft  hervorgerufen  haben. 

Sei  dem  wie  ihm  wolle.  Der  Name  Wilson  bedeutet  ein 
Appell  an  alle  Gutgesinnten,  die  im  Namen  der  Kultur  wirken 
wollen.  Unter  so  günstigen  Auspizien  hat  in  den  letzten  Jahren 
selten  ein  Erneuerer  begonnen. 


75 


Die  Wahl  Poincares  bedeutet  so  gut  wie  diejenige  Wilsons 
eine  Absage  an  das  banale  politische  Strebertum  und  eine  Wert- 
schätzung der  Qualität,  die  in  den  letzten  Jahren  leider  nicht  immer 
ausschlaggebend  war.  in  diesem  Lichte  besehen  kommt  beiden 
Wahlen  symptomatische  Bedeutung  zu.  Sie  eröffnen  die  berech- 
tigte Hoffnung,  dass  auch  in  den  Demokratien  wieder  mehr  die 
besseren  Talente  und  die  höheren  Gesichtspunkte  über  eine  lang- 
weilige Mittelmäßigkeit  emporwachsen  und  feiner  gebildete  Köpfe 
Lust  an  der  Politik  gewinnen.  Die  Persönlichkeit  Wilsons  zeigt 
vor  allem,  dass  die  Sache  des  Volkes  dabei  nichts  zu  verlieren 
hat.  Beide  Präsidenten,  die  Aufgaben,  vor  die  sie  gestellt  sind, 
das  Milieu,  in  dem  sie  nun  wirken,  sind  so  verschieden,  dass  ein 
Vergleich  der  beiden  Individualitäten  nicht  angängig  ist.  Beide 
werden  sich  den  harten  Notwendigkeiten  des  politischen  Lebens 
in  manchen  Fragen  unterwerfen  und  auf  dieses  und  jenes  in  der 
Studierstube  so  schön  zurechtgelegte  ideal  verzichten  müssen. 
Politik  ist  und  bleibt  nun  einmal  die  Kunst  des  Erreichbaren.  Aber 
schon  das  Bewusstsein,  dass  Männer  von  überragenden  geistigen 
Qualitäten  an  der  Spitze  des  Staates  stehen,  gewährt  ein  Gefühl 
der  Sicherheit  und  der  Beruhigung.  Wilson  hat  bei  seiner  Tarif- 
reform schon  jetzt  eine  nicht  ganz  ungefährliche  Opposition  zu 
spüren  bekommen;  Poincare  seinerseits  die  Macht  des  Radikalis- 
mus. Seine  Rede  in  Montpellier  wird  mit  Recht  als  eine  An- 
näherung an  seine  republikanischen  Gegner  gedeutet,  nachdem 
ihm  das  Votum  des  Senats  zum  Bewusstsein  gebracht  hat,  dass  sich 
in  Frankreich  gegen  den  Radikalismus  nicht  regieren  lasse.  Der 
Ideenrichtung  nach  unterscheidet  sich  Poincare  wesentlich  von 
Wilson;  er  ist  der  Mann  der  gemäßigten  liberalen  Schule,  einem 
besonnenen  Fortschritte  zugetan,  aber  auf  keine  bestimmte  wirt- 
schaftspolitische Richtung  festgelegt.  Seine  Reden  verraten  eine 
imponierende  Bildung,  weise  Mäßigung  und  kluges  Einschätzen 
der  praktischen  Möglichkeiten.  Überaus  bezeichnend  ist  für  ihn, 
dass  er  in  dem  glänzenden  Nachruf  auf  Waldeck-Rousseau 
(Questions  et  ßgures  politiques,  Paris  1907,  Bibliotheque  Char- 
pentier,  Eugene  Fasquelle)  diesen  hervorragenden  Staatsmann  der 
dritten  Republik  nur  als  Rhetoriker  so  absolut  voll  gelten  lässt 
und  sonst  gegenüber  seinem  Parteigänger  in  der  „Union  republi- 
caine"  Vorbehalte   macht,   die   sich   nur  gegen   die  Sozialgesetz- 

76 


gebung  Waldeck  -  Rousseaus  richten  können.  Zur  vollen  Wert- 
schätzung der  Persönlichkeit  Poincares  kann  auch  sein  Buch 
„Idees  contemporaines"  beitragen,  worin  sich  auch  eine  Anzahl 
Reden  finanzwissenschaftlichen  Charakters  finden,  die  als  Glanz- 
leistungen anzusprechen  sind.  (Le  courage  fiscal,  La  sincerite 
budgetaire  usw.) 

Die  Auffassung  des  Regierungsmannes  Poincare  ist  wesentlich 
verschieden  von  derjenigen  des  „Erneuerers"  Wilson.  Zum  Be- 
lege dafür  möge  ein  Satz  aus  einer  Rede  (Gouvernement  et  col- 
lectivisme)  angeführt  werden:  „Un  parti  qui  detient  le  pouvoir 
ne  peut  pas  se  conduire  comme  un  parti  d'opposition  et  de 
combat.  Des  qu'il  gouverne,  il  represente  la  France  entiere  et 
c'est  pour  la  France  entiere  qu'il  gouverne." 

ZÜRICH  PAUL  GYGAX 

DDO 

DER  MILCHFÄLSCHER 

ERZÄHLUNG  VON  MEINRAD  LIENERT 
(Schluss.) 

„Ja,  ja,  das  könnte  er,"  sagte  mit  verdrossenem,  sauersüßem 
Lächeln  der  Amtsschreiber  und  entnahm  der  vollen  Tanse  Stöffis, 
der  totenbleich  dastand,  ruhig  eine  Milchprobe. 

„Jesus,  Jesus,  Herr  Amtsschreiber,"  machte  der  Alte  mit  be- 
elendrischem  Gesicht,  „Ihr  werdet  doch,  in  Gottes  und  aller  Heiligen 
Namen,  nichts  Böses  von  mir  denken !  Zehn  lauter  lötige  Napo- 
leone  wollte  ich  in  den  Opferstock  legen,  die  beste  Kuh  gäbe  ich 
drum,  wäre  mir  das  heillose  Ungeschick  mit  der  Milchtanse  nicht 
gerade  jetzt,  wo  die  Milchschauherren  vor  mir  stehen,  begegnet. 
Unsereinem  muss  es  doch  immer  den  gefehlten  Weg  gehen,  so 
tut  es.  Aber  da  könnt  ihr  jetzt  machen,  ihr  Herren,  wenn  der 
Weg  alles  ein  Gletscher  ist!  Da  liegt  einer  bald  auf  der  Schatten- 
seite, besonders  wenn  einer  ein  alter  Mann  ist  und  nicht  mehr 
gehörig  federt,  wie  unsereins.  Nein,  zu  dumm  ist  mir  jetzt  das 
ergangen.  Eine  Heiligenscheibe  wollte  ich  in  die  Rothwyler  Kirche 
stiften,  hätte  ich  die  heillose  Tanse  noch  voll  am  Buckel.  Aber 
was  will  man  jetzt  da  machen,  draußen  ist  die  Milch." 

„Freilich,  freilich,  da  kann  man  nichts  mehr  machen,"  sagte 
mit  seltsamem  Blick  und  ziemlich  missvergnügt  der  Amtsschreiber» 

77 


„Doch,  Herr  Amtsschreiber,"  sagte  jetzt  der  Landjäger,  der 
^unbeachtet  von  den  andern  sich  zur  Tanse  an  den  Boden  ge- 
macht hatte,  „es  ist  noch  ein  Rest  Milch  in  der  Tanse  gewesen, 
seht,  es  langte  gerade  für  eine  knappe  Probe." 

Er  wies  das  kleine  volle  Probegefäß  vor. 

„Sakerlot,  sakerlot!"  machte  mit  großen  Augen  der  alte 
Simmeier  und  sonst  nichts  mehr. 

„So,"  sagte  der  Amtsschreiber  mit  schwer  zu  verbergendem 
Schmunzeln,  „das  hätten  wir  jetzt  abgetan.  Es  war'  dann  recht, 
wenn  ihr  von  der  Gremplerei  weg  aufs  Amt  kämet,  dass  man 
euch  das  Ergebnis  der  Proben  gleich  zu  wissen  tun  kann.  Jetzt 
behüt  Gott  beieinander!  Das  nächstemal  müsst  ihr  halt  Eisen 
aufschlagen  lassen,  Simmeier,  dann  habt  ihr  bessern  Bestand. 
's  ist  doch  jammerschade  um  die  schöne  Milch.    Adie  wohl!" 

„'s  Donners,  Herr  Amtsschreiber,  ihr  werdet  doch  nicht  etwa 
meinen,  mit  meiner  Milch  sei's  nicht  in  Ordnung?"  rief  ihm  das 
graue  Männchen  nach. 

„Behüt  mich  Gott  und  Vater!"  rief  der  Beamtete  zurück, 
„wer  wollte  so  etwas  von  Euch  denken.  Ihr  seid  doch  landauf, 
landab  als  ein  Mann  bekannt,  an  dem  man  Rosenkränze  segnen 
könnte." 

„'s  Donners,  's  Donners,"  brummte  der  alte  Simmeier,  wie 
gebannt  am  Wegkreuz  stehen  bleibend  und  den  Milchschauern 
nachsehend,  „der  verfluchte  Landjäger!" 

Eine  geraume  Weile  blieb  er  so  vor  dem  Kreuze  stehen, 
dann  nahm  er  die  Tanse  brummend  auf  den  Buckel  und  schuh- 
nete,  ohne  sich  auch  nur  mit  einem  Blick  nach  seinem  Weg- 
gefährten umzusehen,  ins  Dorf  hinunter. 

Stöffi,  der  Brüüschmoosbauer,  aber  ging  schweren  Herzens 
den  Weg  nach  der  Gremplerei  im  Mitteldorf.  Es  war  ihm,  der 
jüngste  Tag  sei  im  Anzug.  Keinen  Augenblick  hätte  es  ihn  ge- 
wundert, wenn  die  Sterne  vom  Himmel  und  die  Berge  übers  Tal 
gefallen  wären.  Er  hätte  sich  ja  sowieso  am  liebsten  in  die  Erde 
verkrochen.  Heute  war  er  vom  rechten  Wege  abgewichen,  trotz 
den  flehentlichen  Warnungen  seines  guten  Geistes,  seiner  Frau, 
und  heute  ereilte  ihn  auch  schon  das  Gericht.  Das  Gericht?  Es 
war  ihm,  als  stünde  er  im  Hemd  vor  der  ganzen  Maienlands- 
gemeinde.  Ja,  das  Gericht  wird  ihn  abstrafen  und  als  ein  Milch- 

78 


falscher  wird  er  bald  im  Blatte  stehen.  Jedes  arme  Kind  wird 
ihn  i<ünftig  mit  großen  anklagenden  Augen  ansehen:  Also  du  bist's; 
der  mir  das  bisschen  Milch  verdirbt,  der  mir  keine  roten  Wänglein 
gönnen  mag!  Und  bald  werden  ihm  vielleicht  die  Dorfbuben 
hinter  allen  Hecken  hervor  nachrufen:  Miichfälscher,  Milchfälscher! 
Und  die  schmalen  Wangen  der  Arbeiterfrauen  werden  gegen  ihn 
zeugen  in  alle  Ewigkeit.  Seiner  Lebtag  wird  die  Schmach  nicht 
von  ihm  genommen  werden,  und  wenn  der  Jordan  über  ihn  hin- 
wegginge. Seinen  Kindern  wird  man's  noch  vorhalten,  was  ihr 
Vater  für  einer  gewesen  sei.  Und  wie  sollte  er  künftig  seinen 
Bekannten  zu  Dorf  und  Land,  die  so  viel  von  ihm  hielten,  noch 
in  die  Augen  sehen  können.  Er  würde  nun  künftig  tun  und  lassen 
können,  was  er  wollte,  und  wenn  er  mit  seiner  Rechtschaffenheit 
Berge  versetzen  könnte,  es  wird  halt  immer  hinterrücks  von  ihm 
heißen:  Stöffi,  der  Milchfälscher.  Wie  würde  man  ihm  künftig  übers 
Maul  fahren,  sollte  er's  wagen,  im  Wirtshaus  oder  gar  an  einer 
Gemeindeversammlung  ein  Wort  mitzureden.  Heute  hatte  er  sich 
Ketten  um  die  Hände,  ein  Schloss  an  den  Mund  und  eine  Dornen- 
krone aufs  Haupt  gelegt.  „Wie  wird  der  gute  Mann  mich  wohl 
morgen  ansehen,"  murmelte  er  jetzt  in  sich  hinein,  als  freundlich 
grüßend  ein  Dorfratsherr  an  ihm  vorbeischritt.  Wie  sollte  er  je- 
mals wieder  vor  die  Qremplerin  treten  dürfen,  die  ihm  traute  wie 
ihrem  Schutzpatron  und  die  sich  ganz  gewiss  morgen  von  ihm 
seit  langem  betrogen  glaubte.  Ach,  bald  war  er  ein  anderer.  Und 
wenn  man  ihn  über  und  über  vergoldete,  wie  den  heiligen  Joseph 
in  der  Weidwegkapelle,  die  Leute  würden  durch  alle  Vergoldung 
hindurch  doch  immer  nur  den  heutigen  Flecken  auf  seiner  Seele 
sehen.  Bald  musste  es  auskommen;  dann  war  er  so  gut  wie  tot. 
Während  er  jetzt  so  dahinwackelte,  wusste  man  auf  dem  Rathause 
wohl  schon,  was  er  für  einer  war.  Und  er  musste  nun  von  der 
Gremplerei  weg  gleich  hingehen.  Die  Scham  würde  ihn  doch 
wohl  umbringen.  Ja,  der  alte  Simmeier  hatte  es  gut.  Der  durfte 
getrosten  Herzens  hingehen,  so  ein  anerkannter  Ausbund  von 
Frömmigkeit.  Der  Neid  schielte  aus  seinen  Augen.  „Wäre  ich 
doch  statt  seiner  aufs  Eis  gefallen  und  hätte  die  Milch  verschüttet!" 
redete  er  in  sich  hinein.  Aber  der  Teufel  hatte  ihm  den  Possen 
gespielt,  dass  er  dem  andern,  dem  Zehnmalgerechten,  das  Bein 
vorhielt,  statt  ihm.    Hätte  er  doch  die  Freveitat  nie  getan !  Gerne 

79 


wollte  er  arm  sein  wie  der  völlig  ausgenüsselte  Hiob  auf  dem 
Misthaufen  und  zufrieden  wie  ein  wiederkäuendes  Schaf  am  Sonnen- 
rain, könnte  er  die  kleine  Milchprobe  zurücknehmen. 

Ein  Bübiein  lief  mit  klirrendem  Milchkessel  neben  ihm  nach 
der  Gremplerei,  um  Milch  zu  holen.  „Ich  komme  grad  mit  Euch," 
redete  es  ihn  an,  „dann  kriege  ich  die  Milch  noch  kuhwarm. 
Wisst,"  fügte  es  bei,  „der  Doktor  hat  gesagt,  wenn  meine  Mutter 
die  Milch  kuhwarm  zu  trinken  bekäme,  würde  sie  eher  wieder 
gesund,  wisst,  weil  sie  halt  die  Lungenauszehrung  hat."  Der 
Bauer  antwortete  nicht,  aber  in  seinen  Augen  stand  geschrieben: 
O  Bübiein,  wenn  du  wüsstest,  was  für  einer  neben  dir  läuft!  Der 
Räuber,  der  deiner  Mutter  die  Gesundheit  stehlen  wollte. 

Jetzt  trat  er  in  den  Gremplerladen.  Freundlich,  wie  immer, 
nahm  ihm  die  Gremplerin  die  Milch  ab  und  steckte  ihm  dann  in 
seine  offene  Tanse  einen  gewaltigen  Birnenweggen.  „Für  Eure 
Kinder,"  sagte  sie.  „Es  ist  jetzt  eben  die  Zeit,  in  der  die  Sankt 
Niklause  laufen  und  da  sollen  Eure  Kleinen  nicht  leer  ausgehen." 
Denn,  setzte  sie  bei,  sie  sei  recht  wohl  zufrieden  mit  ihm,  seine 
Milch  habe  immer  eine  so  schöne  Niedel.  Er  versuchte  keinen 
Widerstand  gegen  das  Geschenk,  war  er  ja  doch  das  letztemal  hier. 
Zu  ihrer  Verwunderung  dankte  er  kaum.  Mit  kurzem  Gruß  ging 
er  davon  und  jetzt  schritt  er  nach  dem  Rathause  im  Oberdorf. 

Als  er  sich  dem  Rathause  näherte,  wurden  seine  Schritte 
immer  kleiner  und  zuletzt  schlich  er  den  Häusern  nach,  wie  der 
Schatten  eines  kranken  Mannes.  Obwohl  er  jetzt  die  leere  Tanse 
am  Rücken  trug,  war  ihm  doch,  als  trüge  er,  wie  der  heilige 
Christoffel,  Gott  und  Welt  auf  dem  Rücken.  „Jesus,  Jesus,  was 
habe  ich  gemacht!"  stöhnte  er  halblaut,  „ich  wollt',  ich  lag' 
klaftertief  unterm  Boden ;  ich  kann  doch  meiner  Lebtag  nie  mehr 
eine  ungesorgte  Stunde  haben.  Es  ist  mir  jetzt  grad,  als  müsste 
ich  da  durch  die  Rathaustüre  in  einen  Kamin  hineinkriechen,  aus 
dem  ich  in  alle  Ewigkeit  nicht  mehr  herauskäme.  Jesus,  Jesus! 
Alle  meine  Lebenstage  sollten  mich  nicht  mehr  drücken  als  ein 
Taubenfederchen,  könnte  ich  den  heutigen  Morgen  ab  dem  Buckel 
bringen.    Gottsnamen  denn!" 

Gruchsend  ging  er  die  Rathaustreppe  hinauf,  die  Beine  nach- 
ziehend, als  hingen  Webstuhlsteine  dran.  Vor  dem  Bezirksamt 
aber  brachte  er's  nicht  mehr  weiter.    Er  ließ  sich,  die  Tanse  vor 

80 


sich  hinstellend,  aufschnaufend  wie  ein  alter  Mann,  auf  eine 
Bank  nieder. 

Jetzt  ging  die  Türe  der  Amtsstube.  Der  Landjäger,  der  die 
Milchschau  mitgemacht  hatte,  trat  heraus  und  schritt,  ihn  kaum 
beachtend,  vorbei  und  die  Stiege  hinunter. 

„Wie  mich  der  schon  verachtet!"  stöhnte  er. 

Aber  nun  hob  er  schier  erstaunt  den  Kopf.  Es  war  ihm,  in 
der  Amtsstube  lärme  die  Stimme  des  Hinterschweigsimmeler.  Und 
jetzt,  die  Türe  ging  wieder  auf  —  stand  wahrhaftig  der  alte  Simmeier, 
die  Fuchspelzkappe  in  der  Hand,  auf  der  Schwelle  und  hinter  ihm 
tauchte  der  Bezirksammann  auf. 

„Gewiss,  auf  Ehr  und  Seligkeit,"  machte  überlaut  krähend 
der  Alte,  „ich  will  nicht  mehr  lebend  da  zur  Ratsstube  heraus- 
kommen, wenn's  nicht  heilig  so  ist,  wie  ich's  sage.  Beim  Eid 
habe  ich  die  Milch  nicht  gefälscht." 

„Gewiss  habt  Ihr  sie  gefälscht,  Simmeier,"  sagte  der  Bezirks- 
ammann. „Ich  hab's  Euch  nun  genug  gesagt  und  Ihr  werdet's 
aber  auch  noch  schriftlich  und  gedruckt  bekommen,  wie  Ihr's 
verdient.  Denn  seht.  Euch  haben  wir  schon  lange  nicht  getraut. 
Ihr  seid  bisher  nur  immer  schlauer  gewesen  als  wir  alle  mitein- 
ander. Aber  heut  hat  der  Fuchs  das  Bein  im  Eisen.  Ein  nötiges 
Hühnerbäuerlein  täte  mich  dauern,  Ihr  nicht.  Denn  obwohl  Ihr 
eine  Suppe  vermögt,  die  man  mit  der  Gabel  essen  kann,  habt  Ihr 
doch  die  Milchsuppe  der  armen  Leute  verwässert,  wie  noch  keiner 
seit  ich  die  Milch  beschaue.  Ihr  müsst  die  Tanse  geradezu  unter 
die  Brunnenröhre  gestellt  haben." 

„Ja,  beim  Donner,"  machte  jetzt  der  Alte  plötzlich,  schier 
strahlenden  Augs,  „dasmal  habt  Ihr's  prezis  getroffen.  Jetzt  fällt 
mir's  auf  einmal  ein,  wie's  mit  meiner  Milch  gegangen  sein  muss. 
Hört  jetzt  nur,  ich  will's  Euch  erzählen.  Es  ist  so  heilig  wahr, 
als  ich  da  vor  Euch  stehe.  Nämlich,  wie  ich  heut  morgen  die 
Tanse  an  den  Brunnentrog  lehnte  und  mir  noch  schnell  den 
warmen  Lismerkittel  anziehen  ging,  kam  auf  einmal  der  Bergwind 
über  die  Weid.  Es  begann  um  Haus  und  Gaden  zu  ziehen  und 
zu  pfeifen  wie  nicht  gescheit.  Und  wie  ich  nun  aus  dem  Hause 
über  das  Stiegenbrücklein  hinunterkomme,  sehe  ich  gerade  noch, 
wie  der  scharfe  Luftzug  das  heraussprudelnde  Wasser  von  der 
Brunnenröhre  ab  bis  über  den  Trog  hinaus  gegen  die  Milchtanse 

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treibt.  Wie  ich  das  Ungeschick  wahrnehme,  mache  ich  mich,  was 
gibst  was  hast,  zum  Brunnen  und  nehme  die  Tanse  auf.  Da  wäre 
es  nun  am  End  aller  End  wohl  möglich,  dass  ein  Güssiein  oder 
zwei  von  dem  heillosen  Brunnenwasser  in  die  Milchtanse  geweht 
worden  ist." 

„Ja,  das  ist's  auch,"  sagte,  ein  Auflachen  verbeißend,  der 
Ammann.  „Aber  der  Bergwind,  der  das  Brunnenwasser  in  die 
Milchtanse  trieb,  hat  dasmal  eine  Fuchspelzkappe  aufgehabt." 

„Beim  Eid  nicht,  bei  allen  Heiligen  nicht,"  machte  der  Alte. 
„Wie  könnt  Ihr  von  mir  so  etwas  denken.  Ich  will  im  Hemd 
durchs  Fegfeuer  watten,  wenn  auch  nur  ein  Faden  an  allem  wahr 
ist.  Ich  lasse  mich  durch  den  krüppelten  Wald  jagen  und  vier- 
teilen, wenn  .  .  ." 

„Geht  jetzt,  Simmeier,  geht  jetzt!" 

„Heiliger  sankt  Wendel,  so  hört  mich  doch  der  Tausendgotts- 
willen recht  an!  Wie  sollte  denn  ein  Mann,  wie  ich,  dazukommen, 
die  Brunnenröhre  für  ein  Milchzeichen  anzusehen!  Wartet,  wartet, 
Herr  Bezirksammann,  jetzt  fällt's  mir  endlich  ein,  wie's  gegangen 
ist.  Dass  mir  das  nicht  früher  in  den  Sinn  kam.  Aber  's  ist  keii 
Wunder,  dass  einem  alles  aus  dem  Kopf  geht,  wenn  man  einem 
grundbraven  Mann  auf  einmal  so  was  vorhält.  Wisst  Ihr  wie's 
gegangen  ist,  dass  das  Wasser  in  die  Milch  kam?" 

„Ja,  ja,  ich  weiß  es  und  Ihr  auch." 

„Nein,  Ihr  wisst  es  nicht,"  redete  jetzt  eifrig  und  mit  einem 
Gesicht,  als  wollte  er  die  Offenbarung  Johannis  übertrumpfen, 
der  Alte,  „und  Ihr  könnt's  nicht  wissen,  denn  Ihr  habt  nicht  zu- 
gesehen. Aber  hört  nur,  ich  will  es  Euch  erzählen,  wie's  ge- 
gangen ist.  Nämlich,  wie  ich  so  kuheseldumm  beim  Wegkreuz 
droben  ausglitschte  und  die  schwere  Tanse  so  hart  auf  den  ver- 
eisten Weg  aufschlug,  muss  ein  Stück  Eis  in  die  Tanse  gesprun- 
gen sein  und  das  hat  dann  die  Milch  so  unchristlich  verwässert." 

Der  Bezirksammann  und  der  unsichtbare  Amtsschreiber  lachten 
auf,  dass  alle  Rathausgänge  Echo  gaben.  Dann  aber  schob  der 
Ammann  den  Alten  wortlos  aus  der  Türe  und  führte  ihn  zur 
Stiege.  „So,"  sagte  er  nun  ruhig,  aber  kurzgebunden,  „bis  hie- 
her  hab'  ich  Euch  das  Geleite  geben.  Nun  schaut,  dass  Ihr  den 
Weg  so  rasch  als  möglich  selber  findet,  sonst  soll  Euch  der  Land- 
jäger heimbegleiten." 

82 


Da  machte  sich  der  alte  Hinterschweigsimmeler  kopfschüttelnd 
davon,  vor  sich  die  Stiege  hinunterbrummend:  „Eine  ungläubige 
Welt,  eine  ungläubige  Welt!" 

So,    hatte   der  Stöffi    gedacht,    als  er  den   Bezirksammann • 
wieder  zurückkommen  sah,  nun  komme  ich  auch  ins  Gericht  und 
die  letzten  Dinge  werden  ärger  sein,  denn  die  ersten.     Es  wurde 
ihm  dunkel  vor  den  Augen. 

„Ihr  seid  doch  der  Brüüschmoosbauer,  was?" 

„Ja,  der  war*  ich." 

„Euere  Milch  ist  in  Ordnung.  Macht's  nur  Euer  Lebenstag 
nie  diesem  alten  Schlauchinger  nach.  Denn  einmal  kommt  der 
Jäger  doch  hinter  den  Fuchsen.    Adie  wohl!" 

Die  Türe  der  Amtsstube  ging,  ziemlich  geräuschvoll,  hinter' 
dem  Ammann  zu. 

Da  kauerte  nun  der  Stöffi  mit  weit  aufgerissenen  Augen  und 
glotzte  die  Türe  an.  Ein  Weilchen  wusste  er  gar  nicht,  wo  er 
war.  Aber  dann  wollte  ihn  bedünken,  ein  drohender  Abgrund 
sei  vor  ihm  mit  einemmale  zugegangen.  Endlich  löste  sich  sein 
ungeheures  Staunen  und  halblaut  kam  es  über  seine  Lippen: 
„Euere  Milch  ist  in  Ordnung.  Hat  er's  nicht  so  gesagt?  Oder," 
er  schielte  nach  seinem  zerschließenen  Hirtenhemd,  „bin  ich  denn 
nicht  der  Brüüschmoosbauer.  —  Heiland!"  fuhr  er  aber  bolzgrad 
auf.  „Er  hat's  gesagt,  also  muss  es  so  sein.  Herrgott  im  Himmel, 
heilige  Maria  Mutter  Gottes,  es  ist  ein  Wunder  geschehen.  Das 
Wasser  muss  sich  in  der  Tanse  in  Milch  verwandelt  haben.  Hei- 
land, Heiland!" 

in  der  Amtsstube  gingen  Schritte. 

Jetzt  packte  er  blitzgeschwind  die  Tanse,  hing  sie  lässig  an 
die  Schulter,  und  dann  ging  er  mit  wahren  Riesenschritten  die 
Stiege  hinunter,  den  Gruß  des  Landjägers,  der  wieder  heraufkam, 
schier  überfreundiich  erwiedernd.  Auf  dem  Dorfplatz  grüßte  er 
rechts  und  links  mit  gewaltiger  Hochachtung  ein  paar  zankende 
Marktweiber,  für  die  er  sonst  kaum  ein  Kopfnicken  hatte.  Dar- 
nach machte  er  sich  so  schnell  als  tunlich  zum  Dorfe  hinaus. 

Als  er  auf  dem  Heimweg  an  den  Friedhof  kam,  ging  er  nicht 
mehr  daran  vorbei.  Lange,  lange  stand  er  am  Grabe  seines 
Vaters.    Gott  weiß,  was  er  ihm  aus  tiefstem  Herzen  gelobte. 

83 


Aber  auf  dem  langen  Heimweg  überkamen  ihn  auf 
einmal  wieder  Zweifel.  Hatte  ihn  am  Ende  der  Bezirksammann 
doch  für  den  Unrechten  angesehen?  Oder  hatte  der  Amtsschreiber 
die  Probe  nur  flüchtig  gemacht,  um  sie  nachher  nochmals  ernst- 
hafter und  genauer  vorzunehmen?  Es  musste  ihm  doch  noch 
auskommen ;  es  konnte  ja  gar  nicht  anders  sein.  Hatte  er's  nicht 
selber  gehört,  wie  seine  Frau  den  vollen  Kessel  in  die  Tanse  leerte? 
Sie  würden  ihm  auf  dem  Amt  sicherlich  und  zwar  bald  auf  seine 
Schliche  kommen,  das  Elend  und  der  Jammer  kamen  gewiss  noch 
hintennach.  Dann  aber  würde  ihm's  an's  Leben  gehen.  Er 
hatte  jetzt  heraus,  was  es  heißt,  am  Schandpfahl  zu  stehen. 

Wie  näher  er  seinem  Häuschen  kam,  desto  unheimlicher,, 
desto  banger  wurde  ihm.  Gewiss  kroch  die  Schmach  schon  hinter 
ihm  drein.  An  ein  Wunder  konnte  er  nicht  glauben.  Der  Herr- 
gott würde  wohl  kaum  eines  tun,  um  einem  Milchfälscher  aus 
der  Klemme  zu  helfen.  Und  doch,  war  denn  nicht  auch  mit  dem 
alten  Simmeier  ein  Wunder  geschehen?  War  der  nicht  aus  einem 
Halbheiligen,  für  den  er  und  das  ganze  Tal  ihn  hielten,  auf  ein- 
mal ein  armer  Sünder  geworden?  Unter  peinigenden  Zweifeln 
und  grübelndem  Sinnen  kam  er  gegen  sein  Haus.  Sein  Gang 
hatte  sich  wieder  verlangsamt.  Ihm  graute  vor  den  Augen  seines 
Weibes.  Denn  vor  ihr  war  er  sowieso  ein  Frevler,  auch  wenn 
die  verwässerte  Milch  die  Probe  bestanden  hätte.  Er  blieb  einen 
Augenblick  stehen,  sich  umsehend,  ob  nicht  etwa  der  Landjäger 
schon  den  Weidweg  heraufsteige.  Aber  die  Weid  war  still  und 
feiertäglich.  Nur  aus  einigen  fernen  Hütten  und  auch  aus  dem 
Kamin  seines  Schindeldaches  stieg  ein  blaues  Räuchlein. 

Jetzt  bog  er  um  das  geweißelte  Hausmäuerchen.  Vom  Brunnen 
kam  eben  aufrecht  und  stattlich  seine  Frau,  einen  Zuber  auf  ihrem 
heiterfärbigen  Haar  tragend. 

„Bist  du  zurück,"  sagte  sie,  „geh  schnell  hinauf.  Lieber.  Du 
hast  vergessen,  das  Morgenessen  zu  nehmen.  Es  ist  das  erste- 
mal, dass  dir  das  vorkommt,  seit  wir  uns  haben.  Aber  du  hattest 
ja  heute  an  andere  Dinge  zu  denken." 

Sie  sah  ihn  ernst  an. 

Er  aber  stand  mit  scheuem  Blick  vor  ihr  und  suchte  den 
Boden. 

84 


„Seppetrutli,"  machte  er  bedrückt,  halblaut,  „ich  will  dir's 
grad  sagen,  ich  könnte  es  vor  dir  doch  nicht  eine  halbe  Stunde 
verbergen,  du  durchschaust  mich  ja  wie  eine  Scheibe.  Siehst  du, 
Gott  hat  mich  rasch  gefunden.  Die  Milchschauer  haben  mich 
gestellt,  mich  und  den  alten  Hinterschweigsimmeler." 

„Und  nun?" 

„Ja,"  machte  er,  mit  großen,  schier  erschrockenen  Augen  auf- 
sehend, „und  du  erschrickst  nicht  zu  Tode,  du  stirbst  nicht  auf 
der  Stelle?!" 

„Nein,  Stöffi,  jetzt  nicht.    Was  ist  gescheh'n,  red'!" 

„Seppetrutli,  Seppetrutli,  so  hör'  doch  I  Ich  weiß  nicht,  wie's 
gekommen  ist,  aber  es  muss  ein  Wunder  geschehen  sein.  Denke 
dir:  Meine  Milch  haben  sie  recht  erfunden,  aber  dem  alten  Simmeier 
seine  erklärten  sie  auf  dem  Amt  für  gefälscht." 

„Des  Simmelers  Milch,  des  Hinterschweigsimmelers?!"  schrie 
die  Frau  auf.  „Jesus,  Jesus,  so  ein  frommlachter  Mann,  der 
eifrigste  Kirchenläufer  weit  und  breit  ein  Milchfälscher!  Wird  nicht 
sein,  du  heiliger  Gott!  Wem  soll  man  denn  da  noch  trauen 
dürfen;  der  alte  Simmeier,  der  schon  graue  Haare  hat." 

„Ja,  ja,  aber  Frau,  der  Tausendgottswillen,  was  redst  du  nur 
alleweil  vom  Simmeier  und  nicht  von  mir?  Findest  du's  nicht 
wunderlich,  dass  meine  Milch  recht  gewesen  sein  soll,  wo  du 
doch  selbst  einen  ganzen  Kessel  voll  Wasser  hineingeleert  hast? 
O,  es  ist  noch  nicht  vorüber,  Frau.  O  Frau,  sie  sind  ge- 
wiss noch  drauf  gekommen  und  holen  mich  bald,"  machte  er 
kummerschwer. 

„Sei  ruhig.  Lieber,"  redete  sie  jetzt  ernst,  „Gott  hat  es  gut 
mit  uns  gemeint.  Er  hat  dir  ans  Herz  geredet  durch  des  alten 
Simmelers  Unglück,  denn  schau,  der  alte  Simmeier  war  doch  kein 
wahrhaft  frommer  Mann,  sondern  ein  Heuchler.  Das  Wasser 
aber,  nein,  nein  Schatz,  das  habe  ich  dir  nicht  in  die  Tanse  ge- 
schüttet. Ich  trug  einfach  den  vollen  Milchkessel,  statt  Ihn  ins 
Pfännchen  zu  leeren,  wieder  leise,  leise,  wie  am  Beinhaus  um 
Mitternacht,  am  Brunnen  vorbei  in  den  Stall  und  als  du  gerade 
der  großen  Kuh  das  Bett  machtest,  schüttete  ich  flink  die  Milch 
in  die  Tanse  hinein." 

„Frau  !" 

85 


Da  hatte  er  sie  schon  um  den  Leib  und  klirrend  fuhr  der 
Kessel  zu  Boden  und  triefend  über  und  über,  wie  eine  Bergweid 
im  Donnerwetter,  umhalsten  und  küssten  sie  sich. 

Er  umhalste  sie  immer  wieder  und  konnte  sie  nicht  losgeben. 

Ein  Hüsteln  war  drüben  im  Weidweg. 

Sie  fuhren  auseinander. 

„Meinetwegen  könnt  ihr  euch  fressen,"  sagte  eine  Stimme, 
die  den  beiden  jetzt  so  merkwürdig,  so  ganz  anders  als  sonst 
vorkam. 

Der  alte  Simmeier  lief,  die  Tanse  lose  am  Rücken,  die  Hecke 
entlang,  mit  falschen  Äuglein  hinüberblinzend.  Er  sah  aus  wie 
einer,  dem  der  gerechte  Gott  auf  dem  Weg  unversehens  begegnete. 
Heute  zum  erstenmale  gewahrten  sie  seine  verwetzte  Fuchspdz- 
kappe.  Es  war  ihnen,  es  seien  in  ihrem  Pelz  auch  noch  irgend- 
wo zwei  listige,  fuchsfarbene  Augen  verborgen.  Sie  ließen  ihn 
stumm  vorüberziehen. 

„He,  ihr,"  rief  er  zurück,  als  er  ein  Stück  vom  Hause  weg 
war,  „ihr  braucht  mir  nicht  so  großartig  nachzugaffen  und  eucta 
auf  die  Braven  herauszuspielen.  Euer  Großvater  ist  auch  einmal 
wegen  Holzfrevel  gebüßt  worden.  Er  zwar  hat  die  Buße  ver- 
dient, ich  aber  nicht.  Wenn  es  eine  Gerechtigkeit  auf  der  Welt 
gäbe  und  nicht  immer  die  Schlechten  Obenausschwingen  würden, 
so  wäre  mir's  heute  nicht  so  ergangen  und  ein  anderer  wäre  der 
Milchfälscher,  denn,"  rief  er  kreischend,  beide  Hände  am  Mund, 
herüber:  „Ich  hab's  jetzt  heraus  und  meine  Kühe  sollen  künftig- 
hin lauter  rote  Milch  geben,  wenn's  nicht  heilig  wahr  ist,  dass 
der  Schelmenamtsschreiber  die  Milchproben  verwechselt  hat." 

Dann  zog  er  die  Fuchspelzkappe  über  den  Kopf  und  ver- 
schwand ziemlich  rasch  im  staudenbestandenen  Hohlweg. 

Der  Brüüschmoosbauer  bückte  sich  und  strekte  die  Hand 
aus,  als  wollte  er  einen  Stein  aufheben,  aber  sein  Weib  haschte 
sie,  zog  ihn  an  ihr  hochklopfend  Herz  und  sagte,  ihm  ernst  m 
die  Augen  sehend:  „Wie,  Stöffi,  du  bist's,  der  dem  Milchfälscher 
einen  Stein  nachwerfen  will?" 

Da  nahm  er  ihre  Hand  und  ruhigen  Schrittes  machten  sie 
sich  in  ihr  Tätschhäuschen. 

aan 

86 


SPRACHENFRAGE  IN  OSTERREICH 

Als  im  Spätherbst  1909  der  österreichische  Kaiser  der  Schweiz 
die  Ehre  erwies,  auf  seiner  Bodenseefart  einen  kurzen  Aufenthalt 
im  Hafen  von  Rorschach  zu  machen,  um  sich  daselbst  von  den 
schweizerischen  Behörden  begrüßen  zu  lassen,  fiel  es  auf,  dass 
ihn  Bundespräsident  Comtesse  in  französischer  Sprache  begrüßte. 
Einige  Blätter  hielten  sich  dann  auch  darüber  auf;  doch  beruhigte 
man  sich  bald  mit  der  Auskunft,  dass  ja  in  der  Schweiz  Französisch 
und  Deutsch  völlig  gleichberechtigt  seien  und  dass  Herr  Comtesse 
ganz  gesetzlich  gehandelt  habe,  als  er  in  seiner  Muttersprache 
den  fremden  Monarchen  begrüßte. 

Etwas  mehr  Staub  wirbelte  die  tessinische  Sprachenangelegen- 
heit gegen  Ende  des  nun  abgelaufenen  Jahres  auf.  Die  Tessiner 
sind  neuerdings  der  Ansicht,  dass  ihre  Sprache,  die  gesetzlich  als 
Landesprache  ja  der  deutschen  und  französischen  gleichgestellt 
ist,  im  Verkehr  mit  den  eidgenössischen  Behörden  zu  wenig  zu 
ihrem  Rechte  komme.  Sie  beklagten  sich  besonders  darüber,  dass 
die  Verwaltung  der  Qotthardbahn  die  Deutschen  über  Gebühr 
bevorzuge,  indem  sie  für  deren  Kinder  im  Tessin  deutsche 
Schulen  errichtet  habe  und  bei  der  Besetzung  von  Stellen  die 
Deutsch-Schweizer  auf  Kosten  der  Tessiner  einen  zu  großen  An- 
teil bekämen.  Ein  fast  vulkanischer  Ausbruch  dieser  Stimmungen 
erfolgte  im  Tessiner  Großen  Rat,  fand  aber  nicht  einen  geeigneten 
Boden,  um  sich  weiter  auszubreiten;  im  Gegenteil  wurde  ihm 
von  der  Mehrheit  des  Rates  stürmisch  Einhalt  geboten  und 
die  tessinische  Regierung  wies  in  einer  würdigen  Antwort  die 
bitteren  Vorwürfe  zurück,  die  die  Eidgenossen  jenseits  der  Berge 
hätten  treffen  sollen,  im  Nationalrat  gab  dann  in  schöner,  tempe- 
ramentvoller, aber  doch  gemäßigter  Rede  Manzoni  noch  einmal 
jenen  Stimmungen,  die  die  Tessiner  gegenwärtig  bewegen,  Aus- 
druck ;  doch  fühlte  man  seinen  Worten  deutlich  an,  dass  er  als 
Eidgenosse  diese  Sache  zur  Sprache  bringen  wollte,  und  damit 
war  dem  Kampfe  der  Stachel  genommen. 

Wer  diese  „Sprachenkämpfe"  in  der  Schweiz,  wenn  man  sie 
schon  so  nennen  will,  in  den  Tagesblättern  verfolgte,  wurde  un- 
willkürlich an  die  entsprechenden  Streitigkeiten  in  unserem  großen 
östlichen  Nachbarreiche  erinnert.  Gerade  in  der  Tessiner  Angele- 

87 


genheit  wurde  auch  von  Schweizer  Blättern  betont,  dass  wir  in 
unserem  Vaterlande  i^eine  Nationah'tätenkämpfe  nach  Art  der 
österreichischen  wollen.  Denn  seit  mehr  als  einem  halben  Jahr- 
hundert —  im  wesentlichen  seit  1848  —  wird  die  große  Monarchie 
in  fast  allen  ihren  Teilen  von  diesem  Kampf  der  Nationen  ge- 
schüttelt und  bis  ins  Innerste  durchwühlt,  und  es  ist  heute  noch 
nicht  abzusehen,  ob  und  wie  und  wann  dem  Streit  ein  Ende  ge- 
macht werden  kann.  Kein  Jahr  vergeht,  ohne  dass  die  Zeitungen 
aus  verschiedenen  Teilen  der  Monarchie  von  schlimmen  Unruhen 
melden,  und  fast  immer  ist  es  der  Sprachenstreit,  der  Studenten  und 
Beamte,  Volksvertreter  und  Zeitungsschreiber  in  leidenschaftlichem 
Streit  an  einander  geraten  lässt.  Nur  einige  Beispiele  hiervon  aus 
den  letzten  Jahren: 

1.  In  Prag  haben  die  deutschen  Studenten  die  Gewohnheit, 
am  Sonntag  in  ihren  Farben  (es  sind  die  alten  Burschenschafter- 
farben schwarz-rot-gold,  in  Österreich  das  Sinnbild  der  deutschen 
Gesinnung)  auf  der  breiten  Straße,  „der  Graben"  genannt,  auf 
und  ab  zu  bummeln.  Darin  sieht  die  in  der  Mehrheit  tschechische 
Bevölkerung  der  Stadt  eine  unerhörte  Herausforderung  und  sucht 
die  Deutschen  mit  allen  Mitteln  daran  zu  hindern,  zuletzt  in  den 
Dezembertagen  1908,  gerade  als  das  60jährige  Jubiläum  der 
Regierung  Kaiser  Franz  Josefs  in  der  ganzen  Monarchie  festlich 
begangen  werden  sollte.  Die  Deutschen  wurden  mit  Steinwürfen 
und  Gebrüll  verfolgt  und  die  Unruhen  wurden  so  gefährlich,  dass 
am  2.  Dezember,  gerade  am  Jubiläumstag,  über  die  Hauptstadt 
Böhmens  das  Standrecht,  so  viel  wie  der  Belagerungszustand,  ver- 
hängt werden  musste.  Diese  letzten  Kämpfe  sind  nur  eine  sound- 
sovielte Wiederholung  der  selben  Vorgänge ;  besonders  heftig  war 
der  Kampf  1897  in  Prag;  seither  haben  sich  die  Deutschen  so 
viel  als  möglich  aus  der  tschechischen  Hochburg  zurückgezogen; 
nur  Professoren  und  Studenten,  die  an  die  Hochschule  gebunden 
sind,  und  Geschäftsleute  halten   auf  dem  verlorenen  Posten  aus. 

2.  Bekannt  und  berüchtigt  sind  auch  die  immer  wieder- 
kehrenden Unruhen  in  Innsbruck.  Die  aus  dem  italienisch 
sprechenden  Südtirol  herkommenden  Studenten  empfinden  es  als 
eine  Schmach,  an  der  deutschen  Landesuniversität  Innsbruck 
deutsche  Vorlesungen  hören  zu  müssen  und  geben  sich  auch 
damit  nicht  zufrieden,  dass  die   Regierung  dort  besondere  Kurse 

88 


in  italienischer  Unterrichtssprache  für  sie  einrichten  will.  Sie 
wünschen  eine  eigene  Universität  auf  italienischem  Gebiet,  am  lieb- 
sten in  Triest,  wo  sie  ganz  unter  sich  sind.  Bis  dahin  sind  sie  Irre- 
dentisten, das  ist  die  noch  Unerlösten,  deshalb  gefährlich,  weil 
sie  nach  ihren  Stammesgenossen  im  Westen  schauen  und  an 
Vereinigung  mit  Italien  denken.  Die  Vorgänge  in  Innsbruck 
fanden  im  November  1908  eine  blutige  Wiederholung  in  Wien, 
wo  italienische  und  deutsche  Studenten  Umzüge  veranstalteten. 
Von  den  einen  wurde  das  Garibaldilied,  von  den  andern  die 
Wacht  am  Rhein  gesungen,  also  beides  ausländische  Lieder;  drei- 
unddreißig Studenten  erhielten  in  dem  darauffolgenden  Hand- 
gemenge mit  Revolverschüssen  und  Stockhieben  Verletzungen,  und 
die  Universität  musste,  damit  weiteres  Unglück  verhütet  wurde, 
geschlossen  werden. 

3.  Ähnliche  Forderungen  wie  in  Innsbruck  von  den  Italienern 
werden  an  der  galizischen  Universität  Lemberg  von  den  ruthe- 
nischen  Studenten  erhoben  und  haben  seit  Jahren  immer  wieder 
zu  blutigen  Zusammenstößen  geführt.  Am  11.  April  1908  wurde 
der  galizische  Statthalter  Graf  Potocki  von  einem  ruthenischen 
Studenten  erschossen,  nicht  weil  er  ein  besonders  harter  Bedrücker 
der  Ruthenen  gewesen  wäre,  sondern  als  Vertreter  der  pol- 
nischen Mehrheit  des  Landes  (V?  =-  57  7o),  die  den  Ruthenen, 
einem  den  Russen  verwandten  Stamm  (V?  =  43  7o).  im  Landtag 
nicht  die  entsprechende  Vertretung  (21  anstatt  65  Vertreter)  und 
an  der  Universität  nicht  ihre  eigene  Unterrichtssprache  durch 
Errichtung  von  ruthenischen  Lehrstühlen  gewähren  wollen. 

4.  Wie  weit  auch  das  staatliche  Leben,  die  Verhandlungen 
der  Volksvertretung  von  den  Kämpfen  um  die  Sprache  beherrscht 
ist,  geht  daraus  hervor,  dass  1908  im  böhmischen  Landtag 
von  5  Aktuariaten  nicht  ein  einziges  an  die  Deutschen  vergeben 
wurde,  die  doch  37  7»  der  Bevölkerung  des  Landes  ausmachen, 
und  dass  von  540  böhmischen  Landesbeamten  nicht  weniger  als 
515  tschechischer  Nationalität  sind. 

Alle  diese  Beispiele,  die  hier  nur  aus  einer  Unmenge  von 
Tatsachen  herausgegriffen  sind  und  bloß  die  letzten  Jahre  betreffen, 
zeigen  zur  Genüge,  dass  in  Österreich  der  Kampf  um  die  Sprache 
und  Nationalität  die  Gemüter  in  einem  Grade  erregt  und  erfüllt, 
von  dem  wir  in  unserem  Vaterland  glücklicherweise  weit  entfernt 

89 


sind,  ja  kaum  eine  Ahnung  haben,  soweit  sie  sich  auf  unsere 
Landessprachen  beziehen. 

Und  doch  haben  auch  wir  in  der  Schweiz  eine  Sprachen- 
und  Nationahtätenfrage,  und  es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  da 
und  dort  zwischen  Welsch  und  Deutsch  eine  gewisse  Spannung, 
eine  „Animosität"  zu  Tage  tritt,  die  gar  nicht  so  leicht  zu  über- 
winden ist.  Auch  bei  uns  ist  die  Sprachgrenze  nicht  unverrück- 
bar, und  wer  nahe  an  ihr  wohnt,  zum  Beispiel  in  Bern  oder 
Freiburg,  der  erfährt  es  deutlich,  dass  es  sich  auch  hier  um  das 
Vorrücken  oder  Zurückweichen  einer  der  beiden  Sprachen  und 
Nationalitäten  handelt.  Man  merkt  dies  schon  an  der  veränderten 
Schreibung  der  Ortsnamen  wie  Bienne-Biel,  Tavannes-Dachsfelden, 
Del^mont-Delsberg  und  vieler  andern.  Neuenburg,  Waadt  und  Genf 
werden  anderseits  von  der  deutschen  Schweiz  geradezu  über- 
flutet, nicht  nur  durch  die  Töchter  und  Söhne  aus  guten  Häusern,  die 
im  Welschland  den  feinen  Schliff  an  sich  erfahren  sollen  (das 
hätte  so  viel  nicht  zu  bedeuten,  da  die  Spuren  gewöhnlich  nicht 
sehr  tief  gehen !),  sondern  vorwiegend  durch  dienende  Menschen : 
Knechte,  Mägde,  Handwerker,  so  dass  man  in  Lausanne  oder 
Neuenburg  auf  den  Straßen  schon  bald  so  viel  Schweizerdeutsch 
als  Französisch  zu  hören  bekommt.  Anderseits  gibt  es  in  Bern 
so  viele  französisch  sprechende  Beamte,  dass  das  welsche  Kultur- 
element in  der  Bundesstadt  einen  starken  Einschlag  bildet,  be- 
sonders im  geistigen  Leben  (Theater,  literarischer  Geschmack). 
Aber  trotz  diesem  Hin-  und  Herwogen  der  Welschen  und  Deut- 
schen herrscht  kein  eigentlicher  Kampf;  man  kennt  und  versteht 
sich  doch  ziemlich  gut  hüben  und  drüben;  wir  fühlen  uns  einig 
als  Schweizer  durch  die  Geschichte,  die  uns  zu  einem  Staats- 
wesen zusammengeschmiedet  hat,  und  es  ist  kaum  zuviel  gesagt, 
wenn  ich  die  Behauptung  ausspreche:  der  deutsche  Schweizer 
steht  und  fühlt  sich  im  allgemeinen  dem  welschen  Schweizer 
näher  als  dem  Reichsdeutschen  oder  dem  Deutsch-Österreicher, 
und  der  welsche  Schweizer  möchte  nicht  Franzose  werden,  wenn 
er  vor  die  Wahl  gestellt  würde,  ob  er  seine  Schweizerische 
Eigenart  aufgeben  solle.  Er  nennt  sich  mit  Stolz:  „Suisse  ro- 
mand",  nicht  „fran^ais". 

Warum  nun,  so  fragen  uns  die  Österreicher,  wenn  man  auf 
ihren  Nationalitäten-  und  Sprachenstreit  zu  reden  kommt,  vertragen 

90 


wir  uns  so  leidlich,  obschon  doch  die  Gegensätze  und  Reibungs- 
-flächen  nicht  fehlen,  mit  unsern  romanischen  Mitbürgern?  Doch 
wohl  deshalb,  weil  wir  gegenseitig  auf  dem  Fuße  völliger  Gleich- 
berechtigung stehen:  alle  drei  Landessprachen:  deutsch,  die  Sprache 
der  großen  Mehrheit  (70  Vo),  französisch,  die  einer  großen  Minder- 
heit (22  7o).  italienisch,  die  eines  kleinen  Bruchteils  (6,7"/«)  sind 
im  Bundesstaat  anerkannt,  finden  Verwendung  und  niemand  denkt 
daran,  eine  von  ihnen  in  ihrem  Gebrauch  und  ihrer  Geltung  zu 
schmälern,  so  weit  sich  diese  auf  das  öffentliche  Leben  bezieht. 
Die  Anwendung  des  Italienischen  bleibt  natürlich  etwas  beschränkt, 
entsprechend  dem  geringen  Prozentsatz  der  Bevölkerung,  von  dem 
es  gesprochen  wird.  Das  Rätoromanische,  die  Muttersprache  von 
nur  1,27».  hat  im  eidgenössischen  Verkehr  keine  öffentliche 
Geltung,  wohl  aber  innerhalb  des  Kantons  Graubünden;  dort 
werden  bei  der  Herstellung  der  Primarschullesebücher  sogar  die 
abweichenden  romanischen  Mundarten  durch  besondere  Ausgaben 
berücksichtigt,  so  dass  es  fünf  Ausgaben  der  Fibel  gibt:  eine 
deutsche,  eine  Italienische  und  drei  romanische. 

So  steht  unser  mehrsprachiges  Zusammenleben  im  wesent- 
lichen auf  dem  Grundsatz  der  Gerechtigkeit.  Jedem  wird  das 
Seine,  und  sollte  sich  einer  einmal  verkürzt  glauben,  so  wehrt  er 
sich  für  sein  gutes  Recht,  aber  im  Vertrauen,  dass  ihm  im  Grunde 
niemand  dasselbe  bestreitet,  da  alle  Bürger  des  selben  Rechts- 
staates und  Glieder  eines  demokratischen  Bundes  sind,  der  die 
Einzelnen  im  Lauf  der  Jahrhunderte  einander  näher  gebracht  hat, 
als  es  die  Bande  der  Sprache  allein  vermögen. 

Warum  geht  es  nun  den  Österreichern  ganz  anders?  Warum 
geht  bei  ihnen  der  Stammesverband  vor  dem  staatlichen  ?  Warum 
ist  ihnen  der  sprachliche  Zusammenhang  der  einzig  wertvolle? 
Warum  streben  die  Nationalitäten  mit  aller  Macht  in  Hass  und 
Leidenschaft  auseinander,  so  dass  der  große  Kaiserstaat  immer 
wieder  aus  den  Fugen  zu  gehen  droht?  Diese  Fragen  stehen 
zur  Beantwortung;  sie  bilden  das  große  Problem,  die  Frage  für 
das  heutige  Österreich  (etwa  so  wie  die  soziale  Frage  für  die 
ganze  heutige  Kulturmenschheit  die  Hauptfrage  geworden  ist). 
Versuchen  wir  im  folgenden  die  Verhältnisse  möglichst  klarzu- 
stellen, dann  werden  wir  auch  die  uns  so  fremd  anmutenden 
Kämpfe  besser  verstehen  und  würdigen  können. 

91 


Die  österreichisch-ungarische  Monarchie  ist  zunächst  wie  die 
Schweiz  im  Laufe  der  Jahrhunderte  aus  ganz  verschiedenen  Be- 
standteilen aneinandergefügt  worden,  die  sich  das  Haus  der  Habs- 
burger allmähhch  erworben  und  unter  seiner  Herrschaft  von  Wien 
aus  zu  einem  Staatswesen  vereinigt  hat.  Aber  während  unsere 
Eidgenossenschaft  ein  Bund  von  i<leinen  Nachbarrepubhken  auf 
engem  Räume  blieb,  der  erst  neuerdings  ein  einheitlicheres  Ge- 
präge als  Bundesstaat  angenommen  hat,  verließen  die  einst  schwei- 
zerischen Grafen  ihren  heimatlichen  Boden  und  fügten  Reich  an 
Reich  in  den  weiten  Donauebenen,  brachten  die  ganzen  Ostalpen 
und  nach  Norden  die  Sudetenländer  Böhmen,  Mähren  und  Schle- 
sien unter  ihr  Szepter;  nicht  einmal  die  Nordkarpathen  geboten 
ihnen  Halt,  denn  jenseits  davon  dehnt  sich  das  weite  galizische 
Tiefland,  der  Anteil  Österreichs  am  ehemaligen  Polen,  aus.  Auf 
dieser  ungeheuren  und  vielgestaltigen  Fläche  von  625  000  Quadrat- 
kilometern, auf  der  mehr  als  fünfzehnmal  die  Schweiz  Platz  hätte, 
lebt  und  bewegt  sich  eine  Bevölkerung  von  über  47  Millionen, 
die  ihresgleichen  sucht  in  der  Verschiedenheit  ihrer  Abstammung 
und  Sprache.  Es  ist  eine  wahre  Musterkarte  von  Nationalitäten, 
gegenüber  deren  Buntheit  unsere  Sprachenverschiedenheiten  nicht 
viel  zu  sagen  haben. 

In  Ungarn  sind  bekanntlich  die  den  Finnen  und  Türken  ver- 
wandten Magyaren  das  Herrenvolk;  sie  haben  es  verstanden,  der 
östlichen  Reichshälfte  ihre  Sprache  aufzuzwingen;  nur  die  Deut- 
schen in  Siebenbürgen,  die  sogenannten  „Sachsen",  die  im  Mittel- 
alter aus  Lothringen  eingewandert  sind  und  sich  in  den  Ost- 
karpathen  durch  die  Jahrhunderte  hindurch  behauptet  haben,  ge- 
nießen noch  einige  Sonderrechte  inbezug  auf  ihre  Sprache  in 
Kirche  und  Schulwesen,  die  sie  aus  eigenen  Mitteln  erhalten ;  die 
übrigen  deutschen  Kolonisten,  die  in  ganz  Ungarn  zahlreich  ver- 
streut leben,  besonders  in  den  Ebenen,  müssen  sich  in  das  selbe 
Los  wie  die  andern  «/cA/magyarischen  Nationen  in  Ungarn  finden, 
deren  Sprache  im  öffentlichen  Verkehr  der  magyarischen  hat 
weichen  müssen.     Es  sind  dies: 

im  Norden  von  Ungarn  die  Slowaken, 
im  Osten  (Siebenbürgen)  die  Rumänen  (etwa  3  Millionen), 
im  Süden  der  Drau  die  Slovenen,   Kroaten,  die  nächsten 
Verwandten  der  Serben. 

92 


In  Ungarn  mit  seinen  etwa  20  Millionen  Einwohnern  herrscht 
also  ziemlich  einheitlich  die  Sprache  der  8  Millionen  Magyaren; 
die  Kämpfe  haben  in  dieser  Reichshälfte  fast  aufgehört,  weil  der 
starke  Wille  zur  Macht,  den  die  Magyaren  zeigen,  Sondergelüste 
kaum  mehr  aufkommen  lässt. 

Ganz  anders  stehen  die  Dinge  in  der  westlichen  Hälfte  der 
Monarchie,  im  sogenannten  cisleithanischen  Österreich.  Die  Ver- 
teilung der  Nationen  ist  hier  nicht  so  bunt,  wie  wenn  man  die 
ganze  Monarchie  ins  Auge  fasst,  aber  noch  bunt  genug,  und  hier 
ist  der  eigentliche  Kampfplatz,  auf  dem  der  Sprachen-  und  Rassen- 
kampf ausgefochten  wird.  Österreich  ist  ja  ein  altes  Kolonialland, 
von  den  deutschen  Ansiedlern  um  1100  von  Bayern  aus  langsam 
aber  stetig  in  Besitz  genommen  und  für  deutsche  Kirche,  Sprache 
und  Gesittung  gewonnen,  aögewonnen  den  Slaven,  denen  der 
ganze  Osten  Europas  heute  noch  gehört,  und  die  ursprünglich 
auch  den  ganzen  Osten  des  heute  von  Deutschen  bewohnten 
Landes  besetzt  hielten.  Die  Eroberung  des  Donaugebietes  bis 
über  Wien  hinaus  für  das  deutsche  Reich  durch  den  bayrischen 
Stamm  machte  die  Ostmark,  dann  das  Herzogtum  Österreich  zu 
einem  blühenden  Grenzstaat,  in  dem  die  deutsche  Arbeit  und 
Sangeslust  wie  kaum  irgendwo  in  deutschen  Landen  sich  entwickel- 
ten :  sind  doch  die  österreichischen  Bauern  als  die  wohlhabendsten 
bekannt  gewesen  und  stammen  doch  die  größten  mittelhoch- 
deutschen Dichtungen,  wie  die  des  Nibelungen-  und  des  Gudrun- 
liedes, auch  Walter  von  der  Vogelweide,  aus  dieser  Gegend.  Die 
südlichen  Alpengegenden  aber,  wie  Kärnten  und  Krain,  gehörten 
zwar  zur  deutschen  Herrschaft  und  blieben  den  Habsburgern  bis 
heute  Untertan,  wurden  aber  den  Slaven  nicht  völlig  entwunden; 
selbst  der  Süden  der  Steiermark  ist  noch  vorwiegend  von  Slaven 
besetzt.  Böhmen  und  die  anderen  Sudetenländer,  Mähren  und 
Schlesien,  die  1278  in  den  Interessenkreis  von  Österreich  traten, 
aber  erst  1526  in  dessen  Besitz  gelangten,  blieben  dagegen  im 
wesentlichen  unter  slavischem  Einfluss.  In  Böhmen  und  Schlesien 
fand  unter  dem  Schutze  der  slavischen  Fürsten  eine  starke  deutsche 
Einwanderung  statt,  die  aber  zunächst  nicht  die  Oberhand  bekam. 
Fast  gar  nicht  berührt  vom  deutschen  Geist  ist  endlich  Galizien, 
die  große  polnische  Erwerbung  der  Habsburger  (seit  1772)  mit 
78500  Quadratkilometern,  fast  doppelt  so  groß  wie  die  Schweiz 

93 


und  mit  mehr  als  doppelt  so  starker  Bevölkerung  (7,3  Millionen), 
Durch  diese  großen  nichtdeutsbhen  oder  nicht  reindeutschen  Er- 
werbungen der  Habsburger,  zu  denen  1526  noch  Ungarn  kommt, 
von  dem  wir  hier  absehen  können,  ist  das  heutige  Österreich  zu 
einem  Staate  geworden,  in  dem  die  Slaven  den  Deutschen  gegen- 
über  die  Mehrzahl  haben.  Die  Verteilung  der  Nationen  ist  fol- 
gende : 

Zahl      D..«,-„f-.    Parlaments-  \u«t,„«rf 

Millionen  P'o^ente     Vertreter  Wohnort 

Deutsche  9  36  233  =  46% 

[Tschechen  6  23  108  Böhmen,  Mähren,  Schlesien 

IS^MIl  j  f*o'^"  ^  ^^           ^^  Galizien  und  Schlesien 

Slaven  I  R^^henen  3  13           33  Ost-Galizien 

( Südslaven  2  8           37  Süd-Steiermark,  Karten,  Krai« 

Italiener  0,73  3           19  Süd-Tirol,  Küstenländer 

Rumänen  0,23  1             5  Bukowina 

Zu  diesen  Zahlen  und  Namen  ist  folgendes  beizufügen:  Die 
Deutschen  haben  fast  ganz  die  alten  Kernlande  an  der  Donau  im 
Besitz;  Ober-  und  Nieder-Österreich,  auch  Tirol,  so  weit  die  Be- 
völkerung nicht  italienisch  ist.  In  den  Städten,  besonders  in  Wien, 
hat  freilich  in  den  letzten  Jahrzehnten  das  tschecho-slavische  Ele- 
ment unter  der  arbeitenden  Bevölkerung  so  stark  zugenommen, 
dass  in  den  Schulen  bereits  darauf  Rücksicht  genommen  werden 
muss.  Die  Südslaven  sind  in  Krain  und  den  Küstenländern  vor- 
wiegend vertreten,  in  Kärnten  und  Steiermark  dringen  sie  vom 
Süden  her  immer  weiter  vor.  Auch  die  steirische  Hauptstadt  Graz 
hat  schon  ihre  Nationalitätenkämpfe  gehabt,  von  denen  zum  Bei- 
spiel in  Roseggers  Erzählungen  ein  Echo  zu  hören  ist. 

Die  Slaven  in  Galizien  sind,  wie  wir  bereits  wissen,  unter 
einander  in  erbittertem  Hausstreit,  indem  die  Polen  sich  als  das 
Herrenvolk  betrachten  und  den  in  starker  Minderheit  vorhandenen 
Ruthenen  (einem  mit  den  Russen  näher  verwandten  Stamm)  nicht 
die  Gleichberechtigung  gönnen.  Diese  Slavenstämme  kommen 
also  den  Deutschen  gegenüber  in  Österreich  nicht  in  erster  Linie 
in  Betracht,  auch  stehen  die  Polen  vielfach  mit  den  Tschechen 
nicht  auf  bestem  Fuße.  (Vgl.  dazu  die  ganz  andere  Stellung  der 
drei  Millionen  Polen  im  Osten  des  deutschen  Reiches!) 

So  bleibt  den  Deutschen  gegenüber  noch  der  große  Block 
der  sechs  Millionen  Tschechen  in  Mähren,  Böhmen  und  Schlesien, 

94 


die  sich  in  bewusstem  Gegensatz  zu  dem  deutsciien  Volkei 
befinden.  ^^ 

Fasst  man  diese  Völker  ins  Auge,  so  wird  man  sich  davon; 
überzeugen,  dass  es  nicht  leicht  ist,  sie  alle  unter  einen  Hut  zu; 
bringen.  Wenn  es  sich  um  die  Gesamtregierung  von  Österreich 
handelt,  so  wie  in  der  Schweiz  um  Bundesangelegenheiten,  geht 
es  nicht  woh!  an,  außer  der  deutschen  und  italienischen  auch  noch 
mindestens  vier  slavischen  Sprachen  als  öffentlichen  Landessprachen 
die  Gleichberechtigung  einzuräumen ;  man  denke  nur  an  das  Kom-' 
mando  im  Heer  oder  an  das  Sprachengewirr,  das  im  Parlament 
entstehen  würde.  Hier  hat  das  Deutsche  als  die  älteste  von  den 
m  Österreich  in  Betracht  kommenden  Kultursprachen  entschieden 
den  Vorzug  als  öffentliche,  von  den  Staatsbehörden  anzuwendende 
Verkehrssprache,  und  auch  in  der  Volksvertretung,  dem  Abge- 
ordnetenhaus und  dem  Herrenhaus  des  österreichischen  Reichs- 
rats ergibt  es  sich  wie  von  selbst,  dass  zur  allgemeinen  Ver- 
ständigung das  Deutsche  gewählt  wird.  Kommt  es  doch  sogar 
vor,  dass  man  auf  panslavischen  Versammlungen  zum  Deutschen 
als  Nothelfer  greifen  musste,  weil  sich  die  verschiedenen  slavi- 
schen Stämme  nicht  verstanden.  Das  Deutsche  ist  eben  in  der 
Österreich-ungarischen  Monarchie  im  Lauf  der  Jahrhunderte  die 
internationale  Verkehrs-  und  Kultursprache  geworden;  man  kommt 
überall  durch  damit,  etwa  wie  mit  dem  Französischen  unter  ge- 
bildeten Europäern  und  im  diplomatischen  Verkehr, 

Jeder  Slave,  der  im  öffentlichen  Leben  des  Gesamtreiches 
eine  Rolle  spielen  will,  wird  sich  also  das  Deutsche  aneignen. 
Dies  fällt  den  Slaven  im  allgemeinen  durchaus  nicht  schwer,  da 
ihre  eigene  Sprache  komplizierter  ist  als  die  unsrige  und  ihnen 
eine  besondere  Sprachbegabung  eigen  ist.  Sie  beherrschen  das 
Deutsche  oft  in  erstaunlichem  Grade,  ähnlich  wie  die  Juden,  die 
sich  in  Österreich  und  anderswo  so  leicht  der  deutschen  Sprache 
und  Kultur  anpassen. 

So  gilt  das  Deutsche  als  Staatssprache  in  all  den  Angelegen- 
heiten, die  ganz  Österreich  angehen:  die  Postwertzeichen  tragen 
deutsche  Aufschriften,  im  Heer  wird  selbst  noch  in  Ungarn  nur 
deutsches  Kommando  gehört,  während  freilich  der  dienstliche 
Verkehr  innerhalb  kleinerer  Verbände  und  der  Unterricht  der 
Soldaten  vielfach  in  der  Landessprache  vor  sich  geht.  Die  kaiser- 

95 


liehen  Handschreiben  und  Diplome,  das  heißt  die  persönlichen 
Willensäußerungen  des  Monarchen,  werden  in  Österreich  deutsch 
abgefasst  und  der  alte  Kaiser  hält  darauf,  dass  es  wenigstens  in 
der  Armee  bei  diesen  Gepflogenheiten  bleibt. 

So  weit  wäre  nun  alles  klar  und  einfach  geregelt  und  es 
scheint  kein  Angriffspunkt  für  einen  Kampf  vorhanden  zu  sein. 
Aber  die  Slaven  denken  und  empfinden  über  die  gegenwärtig 
noch  geltenden  Bestimmungen  ganz  anders.  Für  sie  ist  das 
Deutsche  nicht  die  Vermittlungssprache,  die  man  sich  aus  rein 
praktischen  Gründen  gefallen  lassen  kann,  so  wie  man  etwa  im 
Handel  das  Esperanto  mit  Vorteil  gebraucht  —  für  sie  ist  das 
Deutsche  die  Sprache  des  Herrenvolkes,  dessen  Bevormundung 
sie  sich  nach  Jahrhunderten  stummer  Duldung  zu  entziehen  be- 
gonnen haben.  Schon  fangen  die  tschechischen  Soldaten  beim 
Verlesen  an,  anstatt  mit  „Hier"  mit  dem  tschchischen  Worte  „Zde" 
zu  antworten,  was  vorläufig  noch  eine  Disziplinarstrafe  mit  sich 
bringt,  deshalb  aber  gerade  als  eine  Heldentat  betrachtet  wird. 

Hier,  an  einer  scheinbar  recht  unbedeutenden  Erscheinung, 
zeigt  sich  uns  in  ursprünglicher  Stärke  die  geistige  Macht,  welche 
diese  Kämpfe  ins  Leben  gerufen  hat,  das  Nationalgefühl.  Es 
offenbart  sich  am  deutlichsten  in  dem  Gebrauch  der  Sprache, 
denn  diese  ist  mit  dem  Leben  einer  Volksgemeinschaft,  mit  deren 
tiefstem  Fühlen  und  Denken  so  unauflöslich  verknüpft,  dass  sie 
nie  und  nimmer  als  rein  praktisches  Verkehrsmittel  angesehen 
werden  kann,  sondern  als  Ausdruck  des  inneren  Lebens  eines 
Volkes,  dessen  köstlichstes  Eigentum  sie  ist.  Das  wissen  wir  Deutsche 
von  unserer  Sprache;  sie  ist  unsere  Angelegenheit,  an  deren  Aus- 
gestaltung wir  durch  den  täglichen  Gebrauch  selber  mitarbeiten 
dürfen,  wie  Uhland  uns  so  schön  zugerufen  hat: 

So  schaffe  du  inwendig 
Tatkräftig  und  lebendig, 
Gesamtes  Volk,  an  ihr! 
Ja,  gib  ihr  du  die  Reinheit, 
Die  Klarheit  und  die  Feinheit, 
Die  aus  dem  Herzen  stammt! 
Gib  ihr  den  Schwung,  die  Stärke, 
Die  Glut,  an  der  man  merke, 
Dass  sie  vom  Geiste  stammt. 


96 


Dieser  Sinn  für  die  Unveräußerlichkeit  und  Kostbarkeit  der 
eigenen  Sprache,  durch  welchen  sich  vornehmlich  das  National- 
gefühl kund  gibt,  ist  nun  im  neunzehnten  Jahrhundert  in  Europa 
bei  einer  Reihe  von  Völkern  mit  niegeahnter  Stärke  erwacht. 
Während  man  im  achtzehnten  Jahrhundert  die  Nationalität  als 
eine  enge  Schranke  des  Menschentums  ansah,  als  eine  Schranke, 
die  ein  reifer  Mensch  zu  überwinden  habe,  um  zum  Weltbürger 
zu  werden  (vgl.  unsere  Klassiker  Goethe  und  Schiller),  wurde 
zuerst  den  durch  Napoleon  unter  die  Füße  getretenen  Völkern 
bewusst,  was  sie  an  ihrer  Nationalität  hatten ;  Spanier  und  Deutsche 
erhoben  sich  und  schüttelten  das  Joch  des  fremden  korsischen 
Weltbürgers  oder  Weltherrschers  von  sich.  Die  erste  Hälfte  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  sah  die  Freiheitskämpfe  der  Griechen 
und  der  Polen,  diese  leider  erfolglos,  aber  das  übrige  Europa  sah 
sie  nicht  nur,  es  erlebte  sie  mit.  Denn  besonders  durch  die 
deutsche  Romantik  war  der  Sinn  für  die  Schönheit  des  Volkstums, 
für  die  Eigenart  in  Sitte  und  Sprache  unter  den  Gebildeten  er- 
wacht; die  weltbürgerlichen  Anschauungen  der  Klassiker  traten 
zurück  vor  der  Freude  am  einheimischen  Volkstum,  das  man  nun 
mit  Begeisterung,  Eifer  und  Innigkeit  pflegte  und  bis  in  die  sagen- 
umwobene Vergangenheit  zu  erforschen  begann.  Deutschland 
war  der  eigentliche  Herd  dieses  neuerwachten  geistigen  Lebens, 
aber  das  Feuer  wurde  auch  in  andere  Nationen  hinübergetragen 
und  die  deutschen  Forscher  waren  nicht  die  letzten,  selbst  fremdem 
Volkstum  mit  der  gleichen  Liebe  nachzuforschen.  So  erwachte 
das  Nationalgefühl  und  zwar  mit  der  Richtung  auf  politische  Be- 
freiung und  Einigung  zunächst  in  Italien,  wo  es  in  den  sechziger 
Jahren  zur  glücklichen  Gestaltung  eines  einheitlichen  Königreiches 
führte ;  so  erwachte  es  (nicht  zum  wenigsten  befruchtet  durch 
deutschen  Forscherfleiß  und  Eifer)  auch  unter  den  Slaven  Öster- 
reichs in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren,  und  die  Deutschen 
waren  die  ersten,  die  sich  darüber  freuten  und  ihnen  recht  gaben. 
Besonders  in  Böhmen  wurde  eifrig  nach  den  Herrlichkeiten  ver- 
gangener Zeiten  geforscht:  Deutsche  und  Tschechen  erbauten  sich 
an  der  stolzen  Geschichte  ihres  gemeinsamen  Königreiches,  man 
lebte  und  schwelgte  im  Mittelalter,  in  der  Zeit,  wo  Karl  Kaiser  IV. 
als  König  von  Böhmen  Deutsche  und  Tschechen  väterlich  regiert, 
wo   er   Prag   zur   glänzenden    Kaiserstadt   gemacht   hatte;    dann 

97 


wurden  die  hussitischen  Erinnerungen  neu  belebt;  selbst  deutsche 
Dichter  wie  Lenau  und  Alfred  Meißner  verherrlichten  den  tschechi- 
schen Nationalhelden  Ziska,  den  einäugigen  Hussitenführer.  Nicht 
zu  vergessen  ist  auch  die  eindringliche  Geschichtsforschung,  mit 
der  damals  besonders  der  Prager  Professor  Palacky  einsetzte. 

Allein  es  blieb  hier  nicht  bei  der  friedlichen  Begeisterung  für 
den  Glanz  der  Vergangenheit  Böhmens;  denn  bald  fühlten  sich  die 
zu  eigenem  Nationalbewusstsein  erwachten  Tschechen  im  Gegen- 
satz zu  den  Deutschen,  die  sie  in  Böhmen  neben  sich,  in  Ge- 
samtösterreich über  sich  hatten.  Hier  ist  der  eigentliche  Ursprung 
des  Sprachenkampfes  in  Böhmen  und  Österreich;  er  hat  zum 
erstenmal  in  der  Revolution  von  1848  deutliche  Gestalt  ange- 
nommen und  seither  durch  ganz  verschiedene  Epochen  hindurch 
eher  zu-  als  abgenommen.  Wir  wenden  uns  im  folgenden  aus- 
schließlich den  Verhältnissen  in  Böhmen  zu;  denn  hier,  nicht  nur 
in  der  Verfassung  des  Gesamtstaates  liegt  der  Ursprung  des 
Sprachenkampfes  für  Österreich.  Der  nationale  Kampf  der  Un- 
garn ist  zwar  älter  und  auch  von  größter  Bedeutung;  aber  er 
ist  eine  Angelegenheit  für  sich  und  in  der  Hauptsache  bereits 
entschieden,  so  dass  wir  hier  auf  seine  Darstellung  verzichten. 


Warum  wurden  die  Tschechen,  sobald  sie  sich  als  eigene 
Nation  zu  fühlen  begannen,  den  Deutschen  feind?  Ist  es  nicht 
möglich,  das  eigene  Volkstum  zu  pflegen,  ohne  das  des  Nachbars 
als  feindlich  zu  betrachten  oder  anzugreifen,  ja  es  verdrängen  zu 
wollen?  Musste  es  notwendig  zu  einem  Kampf  der  beiden  Nationen 
kommen,  wie  er  heute  herrscht,  und  wenn  er  einmal  begonnen 
hatte,  worauf  zielten  die  beiden  Nationen  und  wie  wäre  der  Kampf 
schließlich  beizulegen?  Dies  sind  einige  Fragen,  die  wir  im  fol- 
genden zu  beantworten  suchen.  Zunächst  wird  es  sich  lohnen, 
dass  wir  uns  den  Kampfplatz  und  die  beiden  Kämpfer,  besonders 
den  unserm  Volkstum  fremden,  etwas  näher  ansehen  und  sie 
aneinander  messen. 

Schon  dem  Sekundarschüler  prägt  sich  die  äußere  Gestalt 
Böhmens  als  Viereck  ein,  das  auf  drei  Seiten  von  deutschem 
Reichsgebiet  umgeben  ist  und  durch  die  Ketten  des  Böhmer- 
Waldes,   der   Erzgebirges  und   der  Sudeten  deutlich  von  diesem 

98 


geschieden  wird.  Nach  Südosten  ist  das  Viereck  nur  durch 
niedrige  Bergzüge  von  Mähren  abgegrenzt,  das  denn  auch  in  der 
Geschichte  oft  mit  Böhmen  zusammengenannt  wird  und  ebenfalls 
in  der  Mehrzahl  von  Tschechen  bewohnt  wird.  Böhmen  hat 
einen  Flächeninhalt  von  52  000  Quadratkilometern,  ist  also  um 
ein  Viertel  größer  als  die  Schweiz;  dabei  ist  es  aber  mit  6,3  Mil- 
lionen Einwohner  bedeutend  dichter  bevölkert  als  unser  Vaterland 
(122  :  82  auf  1  Quadratkilometer).  Diese  Tatsache  lässt  darauf 
schließen,  dass  Böhmen  ein  an  Arbeitsgelegenheit  besonders  reiches 
Land  sein  muss,  und  in  der  Tat,  neben  Spanien  gibt  es  wohl 
kein  Land  in  Europa,  das  so  reich  an  Bodenschätzen  und  andern 
Rohmaterialien  ist;  dabei  wird  es  aber  in  ganz  anderem  Maße 
ausgebeutet  als  das  vielfach  brachliegende  Spanien.  Böhmen 
besitzt  vor  allem  ungeheure  Lager  von  Braunkohlen,  die  sich  süd- 
lich vom  Erzgebirge  viele  Stunden  weit  in  dicken  Schichten  aus- 
breiten ;  im  Innern  findet  sich  auch  Steinkohle,  und  wie  dies  oft 
vorkommt,  gibt  es  in  dessen  Nähe  Eisenerze ,  welche  besonders  bei 
Kladno  und  Prag  gewonnen  werden.  Im  Erzgebirge  war  in 
früheren  Jahrhunderten  die  Ausbeute  an  edleren  Metallen  wie 
Silber,  Kupfer,  Zinn,  Zink  viel  bedeutender;  doch  bestehen  heute 
noch  eine  Anzahl  Erzgruben  und  in  den  letzten  Jahren  hat  die 
Grabung  nach  metallartigen  Stoffen,  aus  denen  Radium  gewon- 
nen wird,  dieser  Gegend  wieder  eine  neue  Wichtigkeit  verschafft. 
Die  Randgebirge,  aber  auch  das  Hügelland  im  Innern  sind  so- 
dann reich  an  Waldbestand;  der  Holzhandel  wird  durch  das 
prächtig  regelmäßige  System  von  Wasseradern  und  eine  von  den 
Waldbesitzern  im  Großen  betriebene  Flößerei,  sowie  durch  den 
Bedarf  an  gutem  Holz  für  den  Schiffbau  sehr  begünstigt.  In  dem 
mehr  flachen  Lande  im  Innern  wird  die  Landwirtschaft  mit  Erfolg 
betrieben:  Getreide-  und  besonders  Rübenbau  bringen  auf  dem 
fruchtbaren   und   leicht  zu   bebauenden   Boden   schöne    Erträge. 

FRAUENFELD  TH.  GREYERZ 

(Schluss  folgt) 


QDD 


99 


AUSSTELLUNQSZENTRALEN  FÜR 
KUNST  UND  KUNSTGEWERBE 

(Schluss) 

Anlehnend  an  schweizerische  Künstlerausstellungen  müsste  man 
wohl  auch  ab  und  zu  mit  der  Schweiz  verwandte  Künstler  des 
Auslandes  zeigen,  dort,  wo  die  eigene  Produktion  nicht  erheblich 
genug  wäre,  würde  man  musterhafte  Vorbilder  aus  schweizerischen 
Gewerben  der  Vergangenheit  oder  gegenwärtige  Industrieerzeug- 
nisse des  Auslandes  beifügen.  Auch  sonst  müssten  zwischen- 
hinein  die  tüchtigsten  Erzeugnisse  des  Auslandes  zur  Anschauung 
gelangen.  Eine  gute  Auswahl  an  bedeutenden  ausländischen  Mustern 
ließe  sich  durch  einen  regelmäßigen  Besuch  auswärtiger  Kunst- 
und  Gewerbeausstellungen  leicht  treffen;  sie  ist  unbedingt  not- 
wendig, wenn  wir  die  Konkurrenz  mit  Erfolg  aufnehmen  wollen. 

Die  Kunst  der  Meisterschaft  für  die  Zentrale  läge  also  mehr 
in  der  Auswahl  der  Objekte  als  im  Arrangement;  doch  soll  auch 
das  letztere  nicht  vernachlässigt  werden,  einfach  und  gediegen 
bleibe  auch  hier  das  Prinzip. 

Diese  Ausgleichspolitik  hat  jedenfalls  mehr  Vorzüge  als  Nach- 
teile. Tritt  sie  regelmäßig  und  rasch  ein,  dann  erspart  sie  viele 
Zeit  und  teure  Reisen  und  den  speziellen  Wünschen  Einzelner  wie 
ganzer  Gruppen  kann  dabei  nach  Möglichkeit  immer  entgegen- 
gekommen werden.  Übersichtliche  Musterzusammenstellungen, 
die  für  den  Einzelnen  zu  teuer  wären,  kann  sich  so  die  Mehrzahl 
bequem  und  leicht  beschaffen. 

Bei  Ausstellungen  von  Objekten  schweizerischer  Herkunft 
sollte  in  erster  Linie  auf  eine  erhöhte  Absatzmöglichkeit  abgestellt 
werden,  bei  Ausstellungen  von  auswärtigen  Produkten  handelt  es 
sich  in  erster  Linie  um  instruktive  Vorführung  bester  Qualität. 

Es  ist  natürlich  äußerst  schwierig,  in  aller  Kürze  die  Richt- 
linien des  Unternehmens  nach  allen  Seiten  auch  nur  annähernd 
klar  zu  legen,  gewisse  Details  müssten  noch  eingehender  bear- 
beitet werden,  andere  würde  erst  die  Erfahrung  und  Praxis  regeln. 
Immerhin  darf  betont  werden,  dass  diese  Darlegung  auf  jahre- 
langen Beobachtungen  beruht,  dass  sie  die  Resultate  eines  eifrigen 

100 


Studiums  bedeutet  und  als  solche  auch  Anerkennung  beanspruchen 
möchte.  Der  außenstehende,  nicht  direkt  beteiligte  Interessent 
kann  sich  oft  einen  bessern  Einblick  in  die  wirklichen  Bedürfnisse 
des  Landes  schaffen,  als  der  Administrator  einer  bestimmten 
kunstgewerblichen  Anstalt  oder  Schule,  für  deren  ausschließliche 
Zwecke  er  immer  ganz  einzutreten  hat.  Noch  besser  ist  das 
Verhältnis  gegenüber  dem  Ausstellungsspekulanten,  dessen  einziges 
Trachten  nach  einem  möglichst  großen  persönlichen  finanziellen 
Erfolge  geht  und  bei  dem  die  Qualität  Nebensache  bleibt.  Auch 
wir  wollen  einen  vollen  finanziellen  Erfolg  mit  aller  Energie  er- 
reichen, aber  dieser  darf  nicht  Endzweck  sein,  er  bleibt  uns  das 
wichtigste  Mittel  zum  Zweck. 

Ein  nicht  zu  unterschätzender  Vorteil  ist  es,  dass  gerade  die 
Gebiete,  die  wir  für  unsere  Ausstellung  beanspruchen  möchten, 
zu  den  ausstellungsfreudigsten  zählen,  die  Künstler,  das  Kunst- 
handwerk, die  Kleingewerbe  und  die  gesamte  gewerbliche  Industrie 
kennen  den  Erfolg  und  die  Wohltaten  derartiger  Unternehmen, 
sie  vor  allem  werden,  wenn  es  nötig  sein  sollte,  auch  gewiss 
materielle  Opfer  bringen  können.  Die  Großindustrie  wird  sich 
wohl  auch  beteiligen,  aber  für  sie  ist  die  Ausstellung  weniger  eine 
neue  Erwerbsgelegenheit,  sie  stellt  meist  nur  aus,  um  ihren  Platz 
zu  behaupten.  Aus  diesem  Grunde  würden  wir  auch  nie  zögern, 
tüchtige  Arbeiten  von  unbekannten  Kleinkünstlern  und  Kunstge- 
werbeschülern aufzunehmen.  Ihre  Arbeiten  würden  neben  den- 
jenigen der  Fabriken  und  des  Gewerbes  gewiss  zu  mancher  An- 
regung Anlass  bieten,  neue  Kräfte  kämen  rascher  zur  verdienten 
Anerkennung.  Nötigenfalls  kämen  auch  als  Ergänzung  dann  und 
wann  typische  Formen  und  Spezialitäten  unseres  Landes  aus 
früheren  Perioden  zur  Aufstellung,  um  so  die  historische  Ent- 
wicklung dem  Besucher  klar  vor  Augen  zu  legen.  Auf  ähnliche  Weise 
vielleicht  auch  ließe  sich  Wettbewerbausstellungen  einrichten; 
diese  von  bestimmten  Auftraggebern  ausgehenden  Ausstellungen 
kämen  für  unsere  Zwecke  nur  insofern  in  Betracht,  als  sie  wirk- 
lich durch  hervorragende  Qualität  sich  auszeichnen  würden. 


Ob  man  eine  solche  Ausstellungszentralisation  offiziell  oder 
privat  ins  Werk  setzen  soll,  kann  verschieden  beantwortet  werden. 


101 


Vorerst  müssen  wir  bei  unsern  schweizerischen  Verhältnissen  be- 
tonen, dass  eine  endgültige  Organisation  weder  ausschließlich 
offiziellen  noch  ausschließlich  privaten  Charakter  tragen  kann. 

Über  die  Organisationsfrage  müssten  in  erster  Linie  die  Ver- 
treter der  Gewerbemuseen,  der  Gewerbevereine,  gewisser  indu- 
strieller Kreise,  der  künstlerischen  Vereinigungen  sich  aussprechen 
und  zu  einer  ersten  orientierenden  Beratung  eingeladen  werden. 
Eine  Vorbesprechung  unter  diesen  maßgebenden  Persönlichkeiten 
würde  gleich  von  Anbeginn  wesentlich  zur  Klärung  der  Situation 
beitragen.  Wir  dürfen  es  an  dieser  Stelle  nicht  unterlassen,  zu 
betonen,  dass  die  beteiligten  Kreise  bereits  in  großer  Mehrheit 
sich  der  Idee  sehr  sympathisch  gegenüberstellen.  Es  bedarf  nur 
noch  eines  energischen  Vorstoßes,  um  das  Werk  ins  Leben  zu 
rufen.  Kommt  dann  bei  der  beratenden  Zusammenkunft  ein 
positives  Resultat  in  Form  einer  Resolution  zustande,  dann  mag 
eine  spätere  konstituierende  Versammlung  sich  mit  den  organi- 
satorischen Arbeiten  und  Wahlen  beschäftigen,  um  dem  Unter- 
nehmen gleich  von  Anbeginn  ein  möglichst  festes  Gefüge  zu  geben. 
Dieser  ersten  Generalversammlung  müsste  jedenfalls  noch  eine 
weitere  gemeinsame  Aussprache  mit  sämtlichen  Interessenten  vor- 
ausgehen, sie  würde  die  allgemeinen  Richtlinien  für  die  grund- 
legende Arbeit  festsetzen  und  die  Gründungsschwierigkeiten  er- 
heblich abklären. 

Ähnlich  wie  wir  in  Zürich  eine  Ausstellungszentrale  für 
schweizerisches  Ausstellungswesen  im  Ausland  besitzen,  ähnlich 
würde  nach  unserem  Erachten  eine  solche  parallele  Institution 
mit  Sitz  in  Bern,  Zürich  oder  Genf  errichtet  werden  müssen.  Wir 
glauben,  dass  eine  zentral  gelegene  Stadt  der  Schweiz,  wie 
Bern  es  ist,  den  persönlichen  Verkehr  vielfach  erleichtern  würde, 
während  Zürich  und  Genf  als  industrielle  Zentren  für  Anregungen 
geschäftlicher  Natur  Vorteile  in  sich  schlössen.  Zürich  würde 
überdies  Anlass  zu  regem  Kontakt  mit  dem  Schwesterinstitute 
bieten.  Der  persönliche  Verkehr  dürfte  um  so  intensiver  werden, 
je  beschränkter  das  Personal  des  Bureaus  wäre.  Zu  Anfang 
sollte  überhaupt  nicht  mit  einem  zu  großen  Apparat  eingesetzt 
werden;  ein  gesundes,  normales  Wachstum  und  Erstarken  erhält 
auch  hier  vor  einer  gezüchteten  Pilzproduktion  den  Vorzug.  Nach 
unserem  Erachten  erscheint  es  wünschenswert,  mit  der  Protektion 

102 


des  Bundes  zu  arbeiten,  doch  nur  unter  der  Bedingung,  dass 
er  seine  Subventionen,  ähnlich  wie  es  auch  von  den  kanto- 
nalen Anstalten  zu  erwarten  wäre,  beisteuern  würde  ohne  eine  leitende 
Rolle  einzunehmen.  Die  Verantwortung  fällt  auf  den  leitenden 
Ausschuss,  dessen  Mitglieder  sind  die  Arrangeure  des  Unternehmens, 
fehlen  diese,  dann  kann  und  soll  von  kompetenter  Seite,  also 
vom  Bund,  den  kantonalen  Interessenten  und  sonstigen  Stimm- 
berechtigten eingeschritten  werden.  Sobald  ein  künstlerisches  und 
gewerbliches  Unternehmen  offiziellen  Charakter  erhält,  tritt  nur  zu 
rasch  der  Bureaukratismus  und  die  politische  Günstlingskonstel- 
lation ein,  womit  selbstverständlich  das  Unternehmen  gleich  von 
Anfang  dem  Untergang  geweiht  wird.  Die  Organisation  soll  viel- 
mehr ein  Föderativverband  bleiben  mit  einer  wechselnden,  in  den 
verschiedenen  Spezialitäten  fachmännischen  Exekutive.  Sie  steht 
unter  dem  Protektorate  des  Bundes,  der  Kantone  und  gewisser 
Vereine  und  Gesellschaften.  Politische  und  kommerzielle  Rück- 
sichten gegenüber  dem  einzelnen  Aussteller  müssen  von  Anfang, 
sofern  sie  dem  Unternehmen  schädlich  erkannt  werden,  fern  ge- 
halten werden.  Dabei  bleibt  der  praktische  Vorteil  für  den  Aus- 
steller doch  leitender  Grundsatz  für  die  Arrangeure,  nur  behalten 
sich  diese  die  definitive  Entscheidung  vor.  Künstlerisches  Ver- 
ständnis auf  den  verschiedensten  Gebieten,  praktische  Gewandt- 
heit, strengste  Unparteilichkeit  und  ausgesprochener  Weitblick  sind 
die  Grundbedingungen  für  das  Gelingen  des  Ganzen.  Es  kann 
dabei  vielleicht  vorkommen,  dass  ab  und  zu  das  Ausstellungs- 
begehren eines  Interessenten,  als  der  Allgemeinheit  zu  wenig 
förderlich,  abgeschlagen  werden  muss.  Findet  der  Entscheid  des 
Ausschusses  keinen  Beifall  bei  der  Öffentlichkeit,  dann  soll  die 
Generalversammlung  die  endgültige  Anordnung  treffen;  verlangt 
sie  trotzdem  die  Ausstellung  der  abgewiesenen  Objekte,  so  scheint 
es  mir  billig,  dem  Wunsche  der  Allgemeinheit  nachzukommen. 
Übrigens  wird  dieser  Fall  selten  eintreten,  da  die  Auswahl  von 
einer  mehrköpfigen,  zum  Teil  fachmännischen  Kommission  ge- 
troffen wird;  sie  ist  es,  welche  in  Verbindung  mit  Vorständen 
und  Direktoren  in  den  Werkstätten,  Schulen,  Ateliers,  Fabriken 
und  Geschäften  die  definitive  Auswahl  trifft.  Die  Willkür  bleibt 
damit  von  selbst  ausgeschaltet  und  dort,  wo  auswärtige  Objekte 
zur  Aufstellung  gelangen,   regelt  sich   ebenfalls  schon   durch  den 

103 


Zweck  von  Mustervorführung  die  Qualität  der  Gegenstände ;  diese 
sollen  uns  dann  eben  neue,  in  der  Schweiz  noch  weniger  gepflegte 
Gebiete  erschließen. 


Einleitend  sei  hier  bemerkt,  dass  der  nachfolgende  Organi- 
sationsvorschlag vor  allem  die  spätere  positive  Organisationsarbeit 
erleichtern  helfen  will.  An  der  Hand  einer  durchgearbeiteten  Auf- 
stellung wird  es  der  Kritik  viel  leichter  gemacht,  praktisch  einzu- 
setzen und  das  Nützliche  herauszuwählen.  Erst  nach  der  Er- 
kenntnis gemachter  Fehler  wird  es  möglich  sein,  ein  neues,  muster- 
gültiges Gefüge  zu  schaffen. 

Die  Ausstellungszentrale  bildet  den  vollziehenden  Ausschuss 
einer  freien  Vereinigung  von  künstlerischen  und  gewerblichen 
Ausstellungsinteressenten.  Sie  steht  unter  dem  Protektorate  der 
hohen  Bundesbehörden,  der  kantonalen  Kunst-  und  Gewerbe- 
museen, der  schweizerischen  und  kantonalen  Künstler-  und  Ge- 
werbevereinigungen, der  Verkehrsvereine,  der  Industrievereine,  der 
historischen  Vereine,  des  Heimatschutzes  usw. 

Durch  die  Subvention  des  genannten  Unternehmens  erhält 
jede  der  genannten  Institutionen  das  Recht  zu  einer  Stimme  an 
einer  jährlich  im  Februar  abzuhaltenden  Generalversammlung. 
Diese  nimmt  jeweils  den  Jahresbericht  und  die  Rechnungsablage 
in  Empfang,  sie  setzt  das  Budget  und  die  Grundzüge  des  Pro- 
grammes  für  das  kommende  Jahr  fest.  Außerordentliche  General- 
versammlungen werden  auf  Wunsch  einer  noch  zu  bestimmenden 
Anzahl  von  Stimmberechtigten  einberufen. 

Für  die  erste  Periode  ließe  sich  auch  die  Frage  aufwerfen, 
ob  nicht  die  oberste  Leitung  dem  Vorstande  eines  Verbandes  der 
schweizerischen  Gewerbemuseen  anvertraut  werden  könnte.  Es 
würde  ein  derartiges  Vorgehen  gewiss  manche  technische  Schwierig- 
keiten sehr  erleichtern  und  den  Verkehr  für  den  Ausstellungs- 
betrieb nur  angenehm  fördern. 

Der  leitende  Ausschuss  besteht  aus  vier  von  der  konsti- 
tuierenden Generalversammlung  gewählten  Vorstandsmitgliedern 
und  dem  von  der  nämlichen  Versammlung  gewählten  ständigen 
Sekretär.  Von  den  vier  Vorstandsmitgliedern  sollen  zwei  auf  die 
romanische,  zwei  auf  die  deutsche  Schweiz  entfallen,  der  Vorsitz 

104 


im  Ausschusse  wechselt  mit  jedem  Jahre.  Die  Wahlen  werden 
jährlich  bestätigt.  Als  erste  Aufgabe  des  Ausschusses  wird  die 
Ausarbeitung  des  Programmes,  die  Wahl  der  Objekte  und  die 
endgültige  Regelung  des  Turnus  in  Betracht  fallen,  er  entscheidet 
ebenfalls  in  ausstellungstechnischen  Fragen  und  besitzt  die  volle 
Vertretung  nach  außen.  Der  Ausschuss  tritt  nach  Bedürfnis  zu- 
sammen und  zwar,  wenn  kein  Augenschein  notwendig,  am  Sitze 
des  Sekretariates.  Sind  Besichtigungen  mit  der  Zusammenkunft 
notwendig,  begibt  sich  der  Vorstand  selbstverständlich  an  der  be- 
treffenden Ort  zur  gemeinsamen  Besprechung. 

Dem  leitenden  Ausschusse  stehen  zur  Begutachtung  und 
Festsetzung  der  Ausstellungsobjekte  Vertrauensmänner  zur  Seite. 
Diese  werden  vom  Vorstande  nach  Bedürfnis  von  Fall  zu  Fall 
gewählt,  es  sollen  jeweils  fachtüchtige  Leute  sein,  deren  maß- 
gebendes Urteil  für  den  Ausschuss  orientierend  und  wegleitend 
sein  kann.  Das  absolute  Mehr  des  Ausschusses  wird  für  die 
Anlage  der  Ausstellung  und  für  die  Aufstellungsberechtigung  not- 
wendig sein.  Es  soll  damit  nur  qualitativ  Gutes  dem  Publikum 
vorgeführt  werden  können,  eine  Beschränkung  in  der  Auswahl 
bleibt  von  vorneherein  schon  räumlich  geboten.  Sämtliche  Objekte 
werden  womöglich  allerorts  in  gleicher  Zahl  und  Qualität  vorgeführt. 

Der  Sekretär  hat  die  gesamte  Exekutive  in  der  Hand,  bei 
ihm  liegt  der  Verkehr  mit  den  Ausstellungsbeschickenden,  mit  den 
Ausstellungsinstituten  und  mit  den  Besuchern.  Er  führt  die  vor- 
bereitenden Geschäfte  und  leitet  nach  Möglichkeit  die  erste  Aus- 
wahl für  die  Ausstellung  ein.  Der  Sekretär  ist  der  einzige  stän- 
dige Vertreter  des  Ausschusses  und  bezieht  als  solcher  einen  fixen 
Anstellungsgehalt.  Es  bleibt  dem  Sekretär  untersagt,  andere  ge- 
schäftliche Verpflichtungen  zu  übernehmen,  seine  Arbeit  steht 
ausschließlich  im  Dienste  der  Ausstellungszentrale. 

Der  Sekretär  erhält  nach  Bedürfnis  Hilfskräfte,  denen  die 
laufenden  Korrespondenzen  und  eventuelle  technische  Hilfeleistun- 
gen angewiesen  würden.  Dieses  Personal  bleibt  dem  Sekretariat 
unterstellt  und  steht  ebenfalls  in  einem  festen  Anstellungsver- 
hältnisse. 

An  Bureaulokalitäten  dürfte  für  den  Anfang  eine  kleinere 
Installation  vollends  genügen.    Die  Hauptsache  bleibt,  dass  die 

105 


Lokale  bequem  erreichbar  und  womöglich  in  der  Nähe  von  Aus- 
stellungslokalitäten sich  befänden. 

Als  Ausstellungslokale  der  verschiedenen  Städte  kämen  in 
erster  Linie  wohl  die  permanent  für  solche  Zwecke  zur  Verfügung 
stehenden  Räume  der  Gewerbemuseen  in  Betracht.  Auf  besondern 
Wunsch  könnten  auch  Städte  und  Ortschaften  ohne  eigene  Aus- 
stellungsräume bedient  werden;  in  diesem  Falle  müsste  für  sie 
eine  besondere  Anordnung  getroffen  werden,  wie  auch  die  Über- 
nahme der  Kosten  von  Fall  zu  Fall  geregelt  werden  müsste. 

Als  die  gegebenen  Ausstellungsorte  nennen  wir  vor  allem 
sämtliche  größeren  Städte  und  Industriezentren,  vielleicht  auch 
einzelne  Kurorte,  von  denen  wir  eine  den  Ausstellungen  ent- 
sprechende Garantie  voraussetzen  dürfen.  Man  dürfte  aber  auch 
die  Frage,  kleinere  Orte  mit  einzubeziehen,  nicht  außer  acht  lassen. 
Sie  sind  für  derartige  Veranstaltungen  oft  dankbarer  als  die  über- 
sättigten Städte,  ihre  Kaufkraft  ist  bei  der  in  der  Schweiz  herr- 
schenden Dezentralisation  von  Handel  und  Gewerbe  nicht  zu 
unterschätzen. 

Nach  den  guten  Erfahrungen,  die  die  eidgenössische  Kunst- 
kommission mit  ihrem  neuen  Ausstellungszelt  gemacht  hat,  dürfte 
die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  wir  nicht  ein  derartiges  Zelt 
auch  in  den  Dienst  des  Kunstgewerbes  setzen  könnten.  Es  wäre 
ja  nicht  nötig,  dass  das  neue  Zelt  in  den  Dimensionen  des  Turnus- 
zeltes gehalten  wäre,  im  Gegenteil,  des  leichteren  und  häufigeren 
Transportes  halber  wäre  eine  wesentlich  reduzierte  Fläche  sogar 
wünschenswert.  Denn  es  scheint  uns  nicht  von  Vorteil,  das  gesamte 
Kunstgewerbe  auf  einmal  in  einem  solchen  Zelte  zu  vereinigen, 
die  Auswahl  würde  darunter  bedeutend  leiden  und  wir  bekämen 
im  besten  Falle  eine  „Gewerbeschau",  bei  der  eben  auch  das 
Minderwertige  auf  Aufnahme  rechnen  dürfte.  Eine  wesentliche 
Schwierigkeit  für  das  Kunstgewerbezelt  böte  der  Schrank  und 
Fachausbau.  Während  wir  in  den  meisten  bisherigen  Ausstellungs- 
räumen diese  Objekte  zur  Verfügung  haben,  müsste  hier  beim 
Zelt  eine  sehr  umständliche  Einbaute  vorgenommen  werden, 
die  für  den  jeweiligen  Gebrauch  immer  wieder  neue  Abänderungen 
zu  gewärtigen  hätte. 

Als  Ausstellungszeit  glauben  wir  vier  Wochen  in  Aussicht  neh- 
men zu  dürfen  und  zwar  so,  dass  vier  Sonntage  in  den  Zeitraum  fallen ; 

106 


weitere  vierzehn  Tage  dienten  für  den  Abtransport  und  die  Neu- 
aufstellung. Eine  prompte  Ausführung  wird  zwar  nur  dann  mög- 
lich sein,  wenn  genügende  Hilfskräfte,  eine  praktische  Transport- 
ausrüstung und  die  nötige  Routine  da  sein  werden,  Dinge,  die 
jedenfalls  erst  durch  die  Praxis  ihre  endgültige  Regelung  er- 
halten würden. 

Die  Wahl  der  Objekte  erfolgt  durch  den  leitenden  Ausschuss 
in  seiner  Gesamtheit  oder  durch  eine  Abordnung  von  einzelnen 
Mitgliedern,  der  Sekretär  soll  als  vollziehende  Instanz  stets  bei- 
wohnen. Für  gewöhnlich  wird  sich  diese  Jury  wohl  aus  einem 
oder  zwei  Vorstandsmitgliedern,  einem  Vertrauensmann  und  dem 
Sekretär  zusammensetzen.  Die  mit  der  Auswahl  betrauten  Mit- 
glieder haben  sich  an  die  strengste  Beobachtung  des  Grundsatzes: 
„Von  Allem  nur  das  Beste"  zu  halten ;  es  kann  also  nicht  auf 
die  direkte  Unterstützung  von  weniger  Fähigen  gerechnet  werden; 
diese  Aufgabe  liegt  mehr  im  Bereiche  der  schweizerischen  Turnus- 
ausstellungen und  der  Gewerbeschauen,  bei  denen  die  Zulass- 
grenze viel  weiter  gezogen  wird.  Wenn  auch  die  Beschaffung  der 
Ausstellungsobjekte  ganz  in  den  Händen  der  Zentrale  liegt,  so 
bleibt  damit  doch  die  Möglichkeit  einer  weitgehenden  Berück- 
sichtigung der  Wünsche  einzelner  Ausstellungsinteressenten  offen. 
Ein  von  der  Zentrale  frühzeitig  entworfenes  Programm  wird  hier- 
für an  sämtliche  Interessenten  verschickt  werden.  Nach  dem 
Eintreffen  der  verschiedenen  Rückäußerungen  und  Begutachtungen 
wird  der  Ausschuss  eine  Neuredaktion  des  Programmes  unter 
Berücksichtigung  der  geäußerten  Wünsche  aufstellen  und  diese 
sodann  der  Generalversammlung  zur  endgültigen  Annahme  empfeh- 
len. Ein  letzter  Entscheid  dürfte  also  bei  der  Generalversamm- 
lung liegen,  spätere  Änderungen  müssten  infolge  von  Komplikationen 
im  Turnus  und  dergleichen  auf  das  entschiedenste  verhindert  werden. 

Selbstverständlich  bedingt  das  mühevolle  Aufsuchen  des  Ma- 
terials öfters  Reisen  und  persönlichen  Verkehr  mit  den  Ausstel- 
lungsinteressenten. Der  Erfolg  des  Unternehmens  liegt  hier  viel- 
fach in  persönlichen  Momenten,  und  diese  setzen  eine  möglichst  un- 
beschränkte Aktionsfreiheit  voraus.  Die  nötigen  Kredite  für  Reisen 
sollten  infolgedessen  von  der  Generalversammlung  pauschal  fest- 
gesetzt werden  und  der  Ausschuss  jederzeit  berechtigt  sein,  den 
direkten  Verkehr   mit   den  Teilnehmern   an   Ausstellungen   anzu- 

107 


bahnen.  Übrigens  dürfte  erst  nachdem  genügend  wertvolles 
Material  vorliegt,  die  definitive  Festsetzung  der  Ausstellung  ange- 
kündigt werden.  Liefert  die  Schweiz  ab  und  zu  einmal  nicht 
genug  Material,  dann  erst  erwächst  der  Zentrale  die  Pflicht, 
durch  beste  ausländische  Erzeugnisse  die  Lücken  zu  ergänzen 
und  so  dem  Inlande  Gelegenheit  zu  schaffen,  in  Zukunft  das  be- 
treffende Gebiet  selbst  mehr  zu  bearbeiten.  Der  Bereitschaftstermin 
soll  mit  aller  Energie  so  vorbereitet  werden,  dass  Neuausstellungen 
an  ihren  Ausgangsort  mindestens  drei  Wochen  vor  Eröffnung  der 
Veranstaltung  eintreffen.  Diese  vorsichtige  Maßregel  gilt  beson- 
ders für  ausländische  Ausstellungen,  bei  denen  eventuelle  Ergän- 
zungen mehr  Zeit  beanspruchen  würden.  Für  Reisen  nach  dem 
Auslande  genügte  zur  Ersparung  von  Kosten  die  abwechslungs- 
weise Beschickung  eines  Ausschussmitgliedes  mit  dem  Sekretär; 
Fachleute  an  Ort  und  Stelle  könnten  dann  nötigenfalls  die  Ver- 
trauensmänner ersetzen. 

Für  den  Transport  wird  es  angezeigt  sein,  gleich  von  Anfang 
sich  mit  einer  ordentlichen  Anzahl  zweckmäßiger  Transportmittel 
zu  versehen,  ganz  besonders  soll  das  Verpackungswesen  für  ge- 
werbliche Ausstellungen  studiert  werden.  Während  des  Trans- 
portes haften  die  jeweiligen  Spediteure  für  den  Schaden,  später 
nach  Bezug  der  Ausstellungslokale  die  jeweiligen  Ausstellungs- 
anstalten. Die  Versicherung  ist  obligatorisch  und  kann  von  sämt- 
lichen Ausstellungsinteressenten  gemeinsam  geregelt  werden.  Die 
Bundesbehörden  sind  für  zollfreie  Einfuhr  ausländischer  Ausstel- 
lungsgüter anzugehen,  umgekehrt  ist  auch  Gegenrecht  für  nicht 
verkaufte  Gegenstände  und  Rücksendungen  anzustreben.  In  der 
Schweiz  wird  um  ermäßigte  Frachtansätze  eingelangt  werden 
müssen.  Die  Termine  in  der  Spedition  werden  von  der  Zentrale 
festgesetzt;  sie  sollen  von  den  Parizipanten  an  der  Ausstellung 
peinlich  genau  eingehalten  werden.  Die  Transportkosten  fallen 
proportional  den  Ausstellungsinstituten  zur  Last,  ebenso  haften 
diese  für  die  pünktliche  instruktionsgemäße  Aufstellung.  Die 
Erstaufstellung  wird  jeweils  von  einem  Mitgliede  des  Ausschusses 
geleitet.  Über  die  Anstellung  eines  speziellen  Ausstellungstech- 
nikers wird  die  Zukunft  entscheiden. 

Um  dem  Verkauf  möglichst  große  Chancen  zu  bieten,  er- 
halten die  verkautfen  Objekte  keine  Etiketten ;  der  Aussteller  wird 

108 


umgehend  von  den  Verkäufen  benachrichtigt,  so  dass  dort,  wo 
es  sich  um  Wiederholungen  handelt,  der  Käufer  durch  Zustellung 
durch  den  Aussteller  raschestens  in  den  Besitz  des  Gegenstandes 
gelangt.  Für  den  Verkauf  vereinzelter  Gegenstände,  die  nur  in 
einem  Exemplare  erhältlich  sind,  soll  womöglich  Ersatz  geschaffen 
werden;  dort,  wo  solches  nicht  möglich  und  eine  Wiederholung 
ausgeschlossen  ist,  bleibt  der  Entscheid  des  Ausschusses  maßgebend. 
Die  Preise  liegen  beim  Aufsichtspersonal  auf,  im  Verkaufsfalle 
erhält  die  Zentrale  25  7»  des  Kaufbetrages.  Es  ist  dies  die  einzige 
Besteuerung  der  Aussteller  zu  Gunsten  des  Unternehmens,  der 
Betrag  ist  sofort  bei  der  Abgabe  des  Objektes  in  bar  zahlbar. 

Die  Reklame  wird  in  erster  Linie  durch  Artikel  in  der  Presse 
besorgt  werden,  wobei  aber  sogenannte  Waschzettel  nach  Möglich- 
keit zu  vermeiden  sind.  Dem  Unternehmen  nahestehende  Kritiker 
würden  in  jeder  Stadt  jeweils  von  der  Zentrale  orientiert  werden; 
sie  besorgen  die  Mitteilungen  an  das  Publikum  und  beziehen  dafür 
unter  Umständen  eine  entsprechende  Vergütung.  Ein  weiteres 
Abkommen  mit  einer  Depeschenagentur  würde  die  Bekannt- 
machung in  der  ländlichen  Tagespresse  besorgen.  In  gleicher 
Weise  würde  ferner  durch  regelmäßige  Korrespondenzen  in  der 
großen  ausländischen  Presse  für  die  nötige  Bekanntmachung  im 
Ausland  gesorgt.  Neben  den  Zeitungen  sollten  illustrierte  Artikel 
über  ganze  Gruppen  in  weitverbreiteten  Zeitschriften  veröffentlicht 
werden.  Die  Propaganda  steht  unter  der  Anschauung,  dass  eine 
eifrige  Reklame  durch  die  Presse  dem  Erfolge  besser  dient  als 
zahlreiche  kostspielige  Annoncen.  Aus  dem  selben  Grunde  sind 
wir  auch  der  Ansicht,  dass  zwei  wirklich  wertvolle  und  zweck- 
entsprechende Plakate  pro  Jahr,  eines  für  Kunst,  das  andere  für 

Gewerbe,  genügen. 

*  ♦ 

» 

Über  die  Art  und  Weise  der  Finanzierung  müsste  eine  spe- 
zielle Kommission  zur  Prüfung  der  Frage  eingesetzt  werden.  Wir 
müssen  uns  immerhin  klar  werden,  dass  das  Unternehmen  über 
bedeutende  Mittel  verfügen  wird,  wenn  es  wirklich  praktischen 
Nutzen  nach  allen  Richtungen  bringen  soll.  Die  Auslagen  zer- 
fallen in  zwei  getrennte  Posten,  solche  des  Verwaltungsrates  und 
solche  des  eigentlichen  Ausstellungsbetriebes. }]^  Das  Budget  der 

109 


administrativen  Abteilung  wird  sich  im  Laufe  der  ersten  Jahre 
wohl  kaum  stark  verändern,  der  Personalbestand  dürfte  sich  in 
der  ersten  Zeit  nicht  bedeutend  vermehren  und  die  Bureauaus- 
lagen blieben  sich  auch  ziemlich  gleich.  Anders  verhält  es  sich 
mit  der  Ausstellungsarbeit;  für  Transporte,  Einrichtung,  Reklame 
usw.  könnte  man  unmöglich  eine  stabile  Summe  festsetzen;  die 
Kosten  werden  sich  hier  von  Fall  zu  Fall  ergeben  und  proportional 
von  den  Interessenten  getragen  werden  müssen.  Vielleicht  ließe 
sich  auch  ein  erster  Versuch  machen.  Das  eine  oder  andere 
bestimmte  schweizerische  Gewerbe  würde  von  sämtlichen  Ge- 
werbemuseen zur  Ausstellung  eingeladen  und  im  gemeinsamen 
Einverständnisse  als  Turnus  in  der  ganzen  Schweiz  vorgezeigt. 
Diese  einmaligen  Ausgaben,  die  durch  das  schweizerische  Gewerbe 
und  seine  Institute  zu  tragen  wären,  würden  sicherlich  den  besten 
Anhaltspunkt  für  die  zukünftigen  Berechnungen  geben,  wie  sich 
auch  gleichzeitig  eine  Kontrolle  über  den  eventuellen  Erfolg  unseres 
Unternehmens  anstellen  ließe.  Im  übrigen  liegt  es  nicht  im 
Rahmen  unserer  Studie,  die  Mittel  und  Wege  in  der  Geldbeschaf- 
fungsfrage des  weitern  zu  erörtern.  Es  muss  allerdings  betont 
werden,  dass  eine  private  Finanzierung  den  Vorteil  größerer  Un- 
abhängigkeit böte.  Ein  eingehendes  Studium  der  englischen  und 
deutschen  Ausstellungsunternehmen,  die  meist  nur  mit  staatlicher 
Suvention  arbeiten,  dürfte  uns  hier  manchen  wertvollen  Auf- 
schluss  geben. 

Zum  Schlüsse  erlauben  wir  uns  noch,  an  sämtliche  Interes- 
senten die  höfliche  Bitte  zu  richten,  ihre  Vorschläge,  Bedenken 
und  sonstigen  Bemerkungen  dem  Verfasser  dieser  Zeilen  zukommen 
lassen  zu  wollen.  Wir  sind  gerne  bereit,  bei  erster  Gelegenheit 
die  geäußerten  Anregungen  vorzubringen,  und  es  soll  uns  freuen, 
wenn  die  Öffentlichkeit  dem  geplanten  Unternehmen  durch  ein 
reges  Interesse  seine  Sympathie  bekundet.  Nur  durch  eine  sorg- 
fältige Organisation  und  kritische  Wahl  in  der  Produktion  werden 
unsere  heute  noch  vielfach  darniederliegenden  Künste  und  Gewerbe 
neu  erstarken  und  sich  im  In-  und  Auslande  nicht  nur  die  be- 
rechtigte Anerkennung,  sondern  auch  den  verdienten  Absatz  schaffen. 

BERN  C.  BENZIGER 

DD  D 

110 


LA  MORALE  LAIQUE  AU  COM- 
MENCEMENT  DU  XYlll^  SlECLE 

MADAME  DE  LAMBERT 

(Fin) 

„L'amour,  dit  M*"^  de  Lambert,  dans  ses  Reflexions  sur  les 
femmes,  est  le  premier  plaisir,  la  plus  douce  et  la  plus  flatteuse 
des  illusions;  puisque  ce  sentiment  est  si  necessaire  au  bonheur 
des  humains,  il  ne  faut  pas  le  bannir  de  la  societe ;  il  faut  seule- 
ment  apprendre  ä  le  conduire  et  ä  le  perfectionner".  Ce  n'est 
point  chose  facile  que  de  moderer  les  passions:  „ce  sont  des 
cordes  delicates  qui  ont  besoin  de  la  main  d'un  grand  maitre 
pour  etre  touchees". 

Pour  que  l'amour  concoure  ä  notre  bonheur,  il  faut  qu'il 
ne  soit  pas  oppose  ä  notre  gloire;  la  honte  et  le  deshonneur  sont 
des  sentiments  douloureux:  „Notre  amour  ne  saurait  etre  heu- 
reux  qu'il  ne  soit  regle  ...  11  y  a,  dans  cette  sorte  d'amour, 
des  plaisirs  sans  douleur  et  une  espece  d'immensite  de  bonheur 
qui  aneantit  la  douleur  et  la  fait  disparaitre". 

Cette  immensite  de  bonheur,  Remond  le  Grec  l'appelait  la 
volupte,  qu'il  distinguait  soigneusement  de  la  debauche  et  des 
plaisirs,  tout  comme  M'"^  de  Lambert.  Elle  s'est,  comme  lui,  sou- 
venue  de  Piaton :  „Les  anciens  ne  croyaient  pas  que  le  plaisir 
düt  etre  le  premier  objet  de  l'amour". 

Comme  l'ambition,  l'amour  est  „entrepreneur  de  grandes 
choses".  C'est  encore  une  transposition  d'un  passage  du  Banquet, 
que  l'exemple  qu'elle  cite  de  ces  amants  „qui  ont  demande  ä 
combattre  devant  leurs  maitresses  et  qui  ont  fait  des  choses  in- 
croyables."  Ainsi  l'amour  concilie,  dans  une  plenitude  de  jouissance, 
l'amour  des  plaisirs  et  l'amour  de  la  gloire:  „il  prepare,  il  epure 
les  plaisirs  pour  les  faire  recevoir  aux  ämes  fieres  et  il  leur  donne 
pour  objet  la  delicatesse  de  sentiments." 

Le  marquis  de  Lassay  {Relation  de  l'ile  des  Feliciens)  de- 
clarait  que  les  hommes  ont  tort  d'attacher  leur  honneur  ä  la 
chastete  des  femmes.  Comme  on  voit,  l'apologie  de  l'amour  libre, 
presentee  rationnellement,  est  une  assez  vieille  chose  en  France. 
Le   marquis  de   Lassay  ^tait   dans  son  röle  et  M'"^  de  Lambert 

111 


6talt  dans  le  sien  en  faisant  l'eloge  de  la  pudeur,  qui  est,  chez 
les  femmes,  un  sentiment  naturel  et  raisonnable;  M"^^  de  Lambert 
sait  le  prix  de  cette  pudeur  coquette  qui  rend  les  femmes  plus 
desirables  par  l'obstacle  qu'elle  oppose  aux  desirs:  „Elle  sert 
leurs  veritables  intdrets;  eile  augmente  la  beaut^,  eile  en  est  la 
fleur,  eile  sert  d'excuse  ä  la  laideur,  eile  est  le  charme  des  yeux, 
l'attrait  des  coeurs,  la  caution  des  vertus,  l'union  et  la  paix  des 
familles." 

II  ne  s'agit  point  ici  de  la  chastete,  vertu  chretienne.  L'amour 
se  propose  un  terme;  il  faut  y  arriver;  la  pudeur  le  recule  en 
prolongeant  la  duree  des  plaisirs:  „ce  qui  s'appelle  terme  de 
l'amour  est  peu  de  chose;  pour  un  coeur  tendre,  il  y  a  une  am- 
bition  plus  elevee  ä  avoir:  c'est  de  porter  nos  sentiments,  et 
ceux  de  la  personne  aimee  au  dernier  degre  de  delicatesse  et 
de  les  rendre  toujours  plus  tendres,  plus  vifs  et  plus  occupants." 
Tout  cela  est  de  l'eprouve,  du  vecu;  S^^-Aulaire,  et  peut-etre  aussi 
M.  de  Sacy,  lui  inspira  cette  tendresse  constante  et  assez  plato- 
nique  dont  parle  d'Argenson. 

M"^^  de  Lambert  est  surprise  qu'on  ne  raffine  pas  davantage 
sur  l'amour;  des  analyses  fouillees  et  aigues  de  sentiments,  eile 
en  trouvait  pourtant  beaucoup  dans  les  romans  de  ses  contem- 
poraines  (par  exemple  de  M"^^  de  Villedieu),  romans  dont  la  Prin- 
cesse  de  Cleves  est  le  modele.  Elle  regrettait  pourtant  ceux  de  la 
generation  precedente,  la  Clelie,  le  Grand  Cyrus  „si  pleins  d'es- 
prit  et  si  epures" ;  eile  regrettait  aussi  la  vieille  galanterie,  qui 
pourtant  n'etait  pas  morte:  chagrins  et  regrets  de  femme  qui  se 
sent  vieillir!  On  n'avait  point  vers  1700  oublie  „l'art  delicat  de 
l'amour".  Et  le  portrait  qu'elle  trace  de  l'homme  galant  ressemble 
bien  plus,  ä  mon  avis,  ä  un  roue  de  la  Regence  qu'ä  Voiture  ou 
ä  Montausier:  „Les  hommes  ont  fait  de  la  galanterie  un  art  de 
plaire  et  ceux  qui  s'y  sont  exerces  et  qui  y  ont  acquis  une 
grande  habitude  ont  des  regles  certaines  quand  ils  s'adressent  ä 
des  caracteres  faibles".  A  l'Hotel  de  Rambouillet,  on  n'avait 
guere  de  commerce  qu'avec  l'esprit;  vers  1700,  l'amour  de  coeur 
a  remplace,  dans  la  litterature,  l'amour  de  tete.  II  y  a  plus  de 
vraie  tendresse  dans  Chaulieu  que  dans  Voiture,  et  surtout  dans  la 
Prlncesse  de  Cleves  que  dans  Clelie.  Racine  avait  eveille  des  passions 
et  des  tendresses  infinies  qui  sommeillaient  au   fond  des  coeurs. 

112 


Le  XVIII*  siede  a  eu  Tamour  de  Tamitid;  on  raffinait  sur 
ce  sentiment  comme  on  raffinait  sur  Tamour,  et  l'amitie  etait, 
pour  les  honnetes  gens,  le  sujet  de  miile  r^flexions  attendrissan- 
tes.  Le  Tratte  de  l'amiüd  de  M""*  de  Lambert  plut  ä  Voltaire;  il 
devait  iui  plaire,  comme  il  devait  plaire  ä  tous  les  hommes  du 
XVIIH  siede. 

Madame  de  Lambert  fait  une  place  ä  part  ä  un  sentiment 
plus  tendre  et  plus  attachant  que  l'amitie  ordinaire.  II  est  gene- 
ralement  la  recompense  de  l'amour  vertueux  et  n'existe  guere 
qu'entre  personnes  de  sexe  different;  eile  eprouva  sans  doute 
ce  sentiment  pour  M.  de  Sacy  et  pour  le  vieux  St-Aulaire;  et 
sans  doute  aussi  La  Rochefoucauld  et  M"'*  de  Lafayette  connurent 
cette  amitie  amoureuse. 

Madame  de  Lambert  n'a  pas  sur  l'amitie  beaucoup  d'idees 
originales.  Elle  cite  avec  delices  les  anciens  et  les  modernes  qui 
en  ont  parle:  Ciceron,  Seneque,  Montaigne,  La  Bruyere.  Les  re- 
flexions  d'autrui  aident  ä  donner  un  sens  et  une  portee  generale 
ä  ses  propres  experiences.  Presque  rien  n'est  d'elle  dans  ce  petit 
traite,  rien,  si  ce  n'est  ce  fremissement,  cette  emotion,  cette  ten- 
dresse  qui  anime  chaque  page  et  par  laquelle  M^"*  de  Lambert 
illumine  d'une  nuance  personnelle  la  pourpre  etrangere. 

„En  amitie,  comme  en  amour,  il  faudrait  menager  ses  goüts, 
dit-elle;  c'est  une  economie  permise.  II  arrive  souvent  que  le 
goüt  s'use,  que  cette  pointe  de  sentiment  s'emousse  par  l'habi- 
tude.  L'illusion  disparait  et  vous  etes  reduit  ä  soutenir  l'amitie 
par  raison,  qualite  qui  est  tres  seche". 

La  moderation  eternise  les  plaisirs  et  fait  que  rien  d'amer 
ne  coule  de  la  fontaine  des  voiuptes.  Cest  lä  l'idee  centrale  de 
la  Philosophie  des  plaisirs  de  W^^  de  Lambert  et  aussi  de  Fon- 
tenelle,  ce  jouisseur  prudent  et  calculateur. 

Le  bonheur  est  la  recompense  de  la  vertu.  Qu'ils  l'aient  cher- 
che  en  Dieu,  ou  dans  la  vertu,  ou  dans  les  plaisirs,  ou  dans  la 
tranquillitd  de  l'äme,  tous  les  moralistes,  tous  les  fondateurs  de 
religion  l'ont  promis  ä  leurs  disciples.  Vers  la  fin  du  XVI I^  siede, 
on  fait  dans  les  morales  antiques  un  choix;  toutes  se  compene- 
trent,  s'adoucissent,  se  corrigent  reciproquement.  C'est  ainsi  qu'on 
voit  des  disciples  d'Epicure  pleins  de  foi  dans  la  Providence  et 
des  disciples  deZenon  ne  mepriser  ni  la  douleur,  ni  les  plaisirs. 

113 


Presque  tous  (et  M"^^  de  Lambert  est  du  nombre)  reconnais- 
saient  qu'il  y  a  des  plaisirs  legitimes,  qui  concourent  ä  nous  rendre 
heureux.  Dejä  Malebranche  et  Bayle  avaient  soutenu  contre  Ar- 
nault,  au  cours  d'une  ardente  polemique,  que  tous  les  plaisirs 
etant  spirituels,  on  peut  n'etre  point  coupable  ä  les  goüter.  Bau- 
dot de  Juilly  (Dialogues  de  Patru  et  d'Ablancourt  sur  les  Plai- 
sirs 1701)  se  moquait  des  predicateurs  austeres  qui  interdisent 
egalement  les  voluptes  innocentes  et  les  debauches  grossieres;  il 
montrait  qu'il  y  a  des  plaisirs  essentiellement  bons  et  recomman- 
dables  et,  pour  les  autres,  il  est  un  art  delicat  d'en  jouir  sans  se 
perdre:  la  delicatesse  est  la  pierre  de  touche  des  plaisirs.  Ainsi 
pensait  Remond  le  Grec:  „La  volupte  est  l'art  d'user  des  plaisirs 
avec  delicatesse  et  de  les  goüter  avec  sentiment."  Et  il  ajoute 
(ceci  est  tout  ä  fait  dans  l'idee  de  Malebranche  et  de  Bayle): 
„L'homme,  qui  participe  de  l'essence  divine  seul  sait  goüter  les 
plaisirs  par  l'esprit  et  avec  reflexion;  c'est  ce  goüt  de  l'esprit, 
c'est  cette  reflexion  qui  distingue  la  volupte  de  la  debauche." 

Madame  de  Lambert  doit  quelques  idees  sur  les  plaisirs  ä 
St-Evremont,  cet  ami  de  toutes  les  jouissances  delicates;  eile  en 
doit  aussi  aux  Remond,  que  pourtant  eile  n'aimait  guere.  Mais 
c'est  le  Traite  du  Bonheur  surtout  (de  Fontenelle),  qui  semble 
l'avoir  inspiree.  (Car  je  ne  doute  point  que  la  redaction  n'en  soit 
anterieure  ä  celle  des  quelques  pages  que  la  marquise  a  con- 
sacrees  aux  plaisirs;  les  idees  s'y  lient  plus  naturellement  et  la 
marquise  semble  avoir  emprunte  ä  son  ami  au  hasard  de  ses 
Souvenirs  et  de  l'inspiration  du  moment.  On  devait  souvent,  aux 
mardis,  discuter  sur  le  bonheur,  et  l'opuscule  de  Fontenelle, 
comme  les  reflexions  de  M'^^  de  Lambert,  ne  sont  au  fond  que 
deux  comptes-rendus  sous  une  forme  exquise  des  conversations 
auxquelles  tout  le  salon  prenait  part.) 

Pour  M'"^  de  Lambert  (et  pour  Fontenelle)  ..la  vraie  felicite 
est  dans  la  paix  de  l'äme,  dans  la  raison,  dans  l'accomplissement 
de  nos  devoirs".  On  le  voit,  la  note  stoVcienne  domine;  mais 
c'est  un  stoicisme  rajeuni,  tempere  par  des  emprunts  ä  la  morale 
d'Epicure  et  ä  celle  de  Malebranche. 

La  premiere  conditlon  pour  etre  heureux  c'est  d'ecarter,  ou 
de  diminuer  autant  qu'il  est  en  nous,  la  douleur;  car,  en  depit 
de  Zenon,  la  douleur  est  un  mal;  mais  ce  n'est  pas  toujours  un 

114 


si  grand  mal  qu'on  pense.  L'imagination  en  augmente,  la  reflexion 
en  diminue  la  violence:  „Examinez  ce  qui  fait  votre  peine,  ecar- 
tez  tout  le  faux  qui  l'entoure  et  tous  les  ajoutes  de  l'imagination 
et  vous  verrez  que  souvent  ce  n'est  rien  et  qu'il  y  a  bien  ä  ra- 
battre."  11  faut  donc  apprendre  ä  regier  son  imagination  et  la 
rendre  soumise  ä  la  raison  et  ä  la  verite.  Voilä  du  Malebranche. 
11  faut  se  defier  de  l'esperance,  ne  point  attendre  trop  des  hom- 
mes  et  du  destin:  „Dans  les  choses  que  vous  craignez,  mettez 
tout  au  pis.  Attendez  avec  fermete  le  malheur  qui  peut  vous  ar- 
river;  envisagez-le  ä  face  decouverte:  voyez-le  dans  toutes  les 
circonstances  les  plus  terribles  et  ne  vous  laissez  pas  accabler." 
(On  trouvera  peut-etre,  et  non  sans  raison,  que  la  folle  du  logis, 
ä  peine  chassee,  rentre  et  qu'on  est  bien  aise  de  jouir  de  ses 
Services.  Mais  ce  sont  de  petites  inconsequences  qui  ne  doivent 
point  trop  nous  surprendre,  si  vraiment  inconsequence  il  y  a.) 

Madame  de  Lambert  pense,  comme  Malebranche,  que  tout 
plaisir  est  un  bien.  Les  plaisirs  sont  des  parcelles  de  bonheur; 
ils  ne  sont  point  difficiles  ä  trouver.  „Tout  est  presque  plaisir 
pour  un  esprit  sain",  et  comme  Montaigne,  eile  croit  que  „notre 
äme  a  bien  plus  de  quoi  jouir  que  de  quoi  connaitre". 

Mais  il  faut  que  les  plaisirs  soient  nos  serviteurs  et  non 
pas  nos  maitres:  „La  premiere  disposition  pour  goiiter  les  plai- 
sirs est  de  savoir  s'en  passer" ;  c'est  lä  une  remarque  tres  fine  de 
quelqu'un  qui  a  vecu.  M"^^  de  Lambert  a  observe  ce  paradoxe 
de  notre  sensibilite,  par  lequel  nous  desirons  toujours  plus  ar- 
demment  un  objet  dont  nous  jouissons  toujours  moins.  „L'habi- 
tude  aux  plaisirs  les  fait  disparaitre.  Avant  de  les  avoir  goütes, 
vous  pouviez  vous  en  passer;  au  lieu  que  la  possession  vous  a 
rendu  necessaire  ce  qui  etait  superflu."  Ainsi  la  volupte,  d'accord 
avec  la  vertu,  nous  conseille  la  temperance. 

II  faut  savoir  calculer  le  prix  des  plaisirs  et  la  jouissance 
qu'ils  nous  procurent,  et  choisir  les  moins  coüteux.  C'est  lä  une 
idee  qui  ne  saurait  etre  que  de  Fontenelle;  eile  porte  la  marque 
de  sa  personnalite.  Les  plaisirs  simples  sont  d'un  excellent  usage 
et  on  ne  les  paie  pas  trop  eher,  ils  donnent  une  joie  douce  et 
egale  (l'ataraxie  des  Epicuriens). 

Madame  de  Lambert  qui  faisait  „une  tres  noble  depense", 
professa    toujours    le    goüt   de    la    simplicite.    Elle    sentait,   au 

115 


au  milieu  de  cette  vie  un  peu  artificielle  et  compliquee  qu'elle 
menait,  le  besoin  d'une  detente,  d'un  repos.  Elle  aimait  la  retraite, 
la  lecture,  la  meditation.  Elle  ne  redoutait  pas  la  solitude.  Une 
condition  indispensable  au  bonheur  (ici  M""^  de  Lambert  et  Fon- 
tenelle  reviennent  au  stoicisme)  c'est  d'etre  bien  avec  soi-meme: 
„Qu'on  est  heureux  de  savoir  vivre  avec  soi-meme,  de  se  re- 
trouver  avec  plaisir,  de  se  quitter  avec  regret".  La  retraite  spiri- 
tuelle, teile  que  la  pratiquait  Seneque,  est  un  tonique  de  la  mo- 
ralite,  pourvu  que  ce  goüt  de  la  retraite  ne  fasse  point  prendre 
en  degoüt  les  plaisirs  et  les  devoirs  de  la  vie  de  societe. 

Le  bonheur  (comme  la  perfection)  qu'ambitionnent  Fonte- 
nelle  et  M""^  de  Lambert,  est,  on  le  voit,  assez  mediocre;  il  re- 
sulte  d'un  calcul  et  de  reflexions  constantes  et  attentives:  „la 
sagesse  a  toujours  les  jetons  ä  la  main."  Ces  moralistes  sont 
plus  preoccupes  de  fuir  ce  qui  peut  faire  souffrir,  que  de  pour- 
suivre  ce  qui  peut  faire  jouir  et  de  se  preter  de  bonne  gräce  aux 
plaisirs  vifs  et  spontanes  de  l'imagination  et  des  sens.  Male- 
branche avait  enseigne  ä  se  defier  de  l'un  et  de  l'autre.  La  rai- 
son seule  (c'est-ä-dire  la  sagesse)  peut  nous  donner  la  v^rite,  la 
perfection  et  le  bonheur. 

Madame  de  Lambert  aimait  les  plaisirs  de  l'esprit;  et  eile 
serait  volontiers  de  l'avis  de  Remond  le  Grec,  que  „la  verite  est 
la  volupte  de  l'entendement."  „Ilnefaut  point,  dit-elle,  eteindre  le 
sentiment  de  curiosite",  mais  seulement  le  conduire  et  lui  donner 
un  bon  objet.  Personne,  sauf  peut-etre  les  jansenistes  les  plus 
severes,  comme  Arnauld,  ne  condamnait  chez  les  hommes 
l'amour  du  savoir;  mais  on  le  trouvait  generalement  dangereux 
chez  les  femmes.  A  la  fin  du  XVli^  siecle,  elles  commencent  ä 
s'insurger  contre   un    prejuge   qui  les  condamnait  ä  l'ignorance. 

Les  gens  du  monde  s'interessaient  aux  sciences  et  couraient 
en  foule  aux  Conferences  de  savants  ä  la  mode,  Regis,  Lemery,  Va- 
rignon.  Les  femmes  suivaient  le  mouvement;  les  lunettes  et  les 
cornues  leur  devinrent  objets  familiers;  elles  ne  reculaient  pas  devant 
une  table  de  dissection,  et  dans  les  salons,  les  galants  propos 
alternaient  avec  des  conversations  serieuses  sur  les  mondes  et 
les  tourbillons,  les  infiniment  petits  et  les  esprits  animaux.  Ma- 
demoiselle  de  Launay  ne  dissimulait  point  son  amour  pour  les 

116 


Sciences ;  eile  vivait  dans  une  cour  oü  Ton  discutait  gravement  sur 
ia  valeur  des  syst&mes  de  Descartes  et  de  Newton,  quand  on  ne 
debattait  pas  une  question  delicate  de  sentiment,  (Voir  Lamotte, 
Correspondance  avec  la  duchesse  du  Maine).  -^ 

II  entrait  plus  de  frivolite  et  de  vanite  que  de  v^ritable  amour 
du  savoir  dans  ce  goüt  des  femmes  pour  les  sciences;  mais  quel- 
ques hommes  penserent,  et  peut-etre  avec  raison,  que  cette  fri- 
volite tenait  moins  ä  leur  complexion  naturelle  qu'ä  l'education 
qu'elles  avaient  re?ue  et]  qui,  n'occupant  leur  esprit  que  de  ba- 
gatelles,  les  avait  maintenues  dans  une  profonde  ignorance  et 
une  grande  inexperience  des  choses  de  l'esprit. 

La  question  de  l'education  des  femmes  se  posa  ä  cette  epo- 
que.  Moliere  ne  leur  accordait  que  le  droit  d'avoir  des  clartes 
de  tout,  ce  qu'elles  ne  jugerent  pas  süffisant.  Le  plan  d'etudes  de 
l'abbe  Fleury  et  celui  de  Fenelon  nous  paraissent  encore  assez 
pauvres.  Tous  deux  ne  visent  qu'ä  former  des  maitresses  de 
maison  intelligentes;  aucun  ne  permet  aux  filles  les  speculations 
desinteressees. 

II  y  eut  ä  cette  epoque  un  champion  ardent  et  intelligent 
du  feminisme,  Poulain  de  la  Barre;  il  publia  de  1673  ä  1675 
trois  ouvrages  qui  eurent  un  assez  grand  retentissement.  II  posa 
les  bases  rationnelles  des  revendications  feministes:  „Les  femmes 
ayant  des  facultes  egales  ä  celles  des  hommes  doivent  avoir  les 
memes  droits"  ^). 

Les  idees  feministes  vers  1700,  tout  comme  en  esthetique 
Celles  des  modernes,  derivent  du  cartesianisme.  Le  salon  de  Ma- 
dame de  Lambert  etait  un  foyer  de  Tun  et  de  l'autre  mouvement. 
Fontenelle  avait  ecrit  pour  les  dames  ses  Entretiens,  quoiqu'il 
füt  peut-etre  un  peu  sceptique  sur  la  capacite  pretendue  des  cer- 
veaux  föminins.  Lamotte  n'etait  peut-etre  pas  aussi  feministe  que 
le  souhaitaient  ses  amies,  M""^  de  Lambert  et  Louise  Benedicte 
de  Bouillon,  duchesse  du  Maine.  II  avait  sur  le  coeur  les  injures 
de  la  trop  savante  M'"«  Dacier.  On  la  meprisait  un  peu  dans 
ce  salon;  mais  on  l'enviait  secretement,  et  ce  n'est  pas  sans 
regrets  que  les  femmes  du  monde,  obeissant  aux  convenances 
et  aux  prejuges  de  leur  rang,  dissimulaient  leur  goüt  de  l'etude. 

*)  Voir  Ascoli:  Histoire  des  idees  feministes  en  France  du  XV I^  siede 
d  la  Revolution.  Revue  de  Synthese  historique  1906. 

117 


Marivaux,  le  fougueux  partisan  des  modernes,  l'etait  aussi  des 
femmes  savantes,  et  le  P.  Buffier,  l'auteur  de  V/iomere  en  arbi- 
trage,  declarait  hautement  dans  son  Examen  des  prejuges  vul- 
gaires  que  les  femmes  sont  capables  de  toutes  les  sciences.  Tous 
deux  etaient  des  habitues  des  mardis. 

Madame  de  Lambert  avait,  plus  que  personne,  le  respect  des 
bienseances  et  de  l'opinion ;  eile  redoutait  extremement  le  ridicule 
qui  s'attache  aux  pedantes,  et  souffrait  de  ne  pouvoir  s'instruire 
en  toute  liberte.  Dans  les  Reßexions  sur  les  Femmes  qu'elle  ap- 
pelle  ses  „debauches  d'esprit",  eile  s'est  soulage  le  coeur.  Avec 
un  peu  de  naVvete,  eile  accuse  les  Femmes  savantes  de  Moliere 
d'etre  la  cause  de  tous  les  desordres  des  femmes  de  son  temps: 
„II  est  dangereux,  dit-elle,  de  repandre  du  ridicule  sur  ce  qui  est 
bon";  or  les  lettres  et  les  sciences  sont  bonnes:  „les  muses  ont 
toujours  ete  l'asile  des  moeurs;  le  dereglement  et  les  vices  sont 
les  suites  ordinaires  de  l'ignorance  des  femmes;  elles  ont  mis  la 
debauche  ä  la  place  du  savoir  (en  realite  on  n'avait  jamais  vu 
plus  de  bas  bleus);  le  ridicule  qu'on  leur  a  tant  reproche,  elles 
l'ont  change  en  indecence". 

On  le  voit,  M'"^  de  Lambert  a  une  haute  idee  du  röle  de 
la  femme.  11  faut  qu'elle  s'occupe  de  choses  serieuses;  les  baga- 
telles  la  perdent  et  le  desoeuvrement.  Le  programme  d'etude 
qu'elle  a  trace  ä  l'usage  de  sa  fille  est,  malgre  des  timidites, 
con(;u  dans  un  esprit  beaucoup  plus  large  que  celui  de  Fene- 
lon.  Les  femmes  superieures  feront  toutes  les  etudes  que  fönt 
les  gar^ons.  On  n'opposera  aucun  obstacle  ä  leur  curiosite  na- 
turelle. „Toutes  defenses  blessent  la  liberte  et  augmentent  le  de- 
sir."  On  leur  permettra  un  peu  de  Philosophie,  surtout  de  la 
nouvelle,  celle  de  Descartes  et  de  Malebranche;  „eile  vous  met 
de  la  precision  dans  l'esprit,  demele  vos  idees  et  vous  apprend 
ä  penser  juste".  Plutöt  que  l'italien  ou  l'espagnol  (dont  le  goüt 
commengait  ä  passer),  elles  etudieront  le  latin,  non  pas  seule- 
ment  (comme  disait  Fenelon)  parce  que  c'est  la  langue  de  l'Eglise, 
mais  surtout  parce  que  c'est  la  langue  de  la  science:  „Elle  vous 
met  en  societe  avec  ce  qu'il  y  a  de  meilleur  dans  tous  les 
siecles".  Elle  ne  defend  absolument  ni  les  romans,  ni  la  poesie, 
ni  les  Sciences  extraordinaires ;  eile  voudrait  faire  de  sa  fille  une 
jemme  cultivee,  au  sens  tout  ä  fait  moderne,  actuel  du  terme, 

118 


une  femme  ä  qui  rien  de  ce  qui  est  humain  n'est  etranger.  Fe- 
nelon  n'accordait  ä  la  femme  que  des  connaissances  pratiques. 
M""^  de  Lambert  permet  et  recommande  les  etudes  et  les  reflexions 
purement  theoriques  et  desinteressees,  quand  elles  ne  serviraient 
qu'ä  sauver  une  femme  de  l'ignorance:  car  l'ignorance  est  im- 
morale et  opposee  au  bonheur. 

Le  bonheur  est  difficile  ä  tenir  captif  dans  la  vieillesse;  et 
)a  part  de  ce  qui  en  depend  de  nous,  devient  de  jour  en  jour 
plus  petite:  „Les  peines  doublent  et  les  plaisirs  diminuent"  et 
comme  disait  Montaigne,  aux  passions  ardentes  succedent  les  pas- 
sions  frileuses:  „Les  femmes  ont  plus  ä  perdre  que  les  hommes 
dans  cet  äge  et  il  y  en  a  bien  peu  dont  le  merite  dure  plus  que 
la  beaute." 

Je  ne  trouve  point,  chez  M*"^  de  Lambert,  cette  resignation 
stoi'que  qui  fait  accepter,  sans  chagrin,  les  maux  inevitables :  on 
sent  une  indefinissable  melancolie  palpiter  et  frissonner  jusque 
dans  les  preceptes  robustes  qu'elle  se  repetait  pour  s'encourager. 
11  y  a  quelque  chose  de  douloureux,  quelque  chose  de  pathe- 
tique  dans  son  appel  aux  dernieres  voluptes,  dans  sa  saisie  des 
dernieres  jouissances.  „Derobons,  ecrivait-elle  ä  l'abbe  de  Choisy, 
le  confident  de  ses  debauches  d'esprit,  derobons  ces  derniers  ins- 
tants  ä  la  fatalite  qui  nous  poursuit."  Elle  ne  renonce  pas  ä  cette 
amitie  tendre  ou  ä  cet  amour  platonique  dont  nous  avons  parle, 
et  eile  se  platt  ä  citer  le  mot  de  St-Evremond,  qui  dans  ses  jeu- 
nes  annees  vivait  pour  aimer  et  dans  ses  vieux  jours  aimait 
pour  vivre. 

Les  avantages  de  la  vieillesse  sont  presque  tous  negatifs. 
Plus  de  passions,  par  consequent  plus  d'esclavage.  Les  voluptes 
passives  dedommagent  de  la  perte  des  voluptes  actives.  —  Et 
les  devoirs  de  la  vieillesse  sont  negatifs  aussi.  Eviter  l'humeur 
chagrine  (si  on  peut),  fuir  le  monde  qu'on  ne  saurait  plus  orner; 
l'opinion  est  plus  severe  pour  les  vieux  que  pour  les  jeunes;  il 
faut  que  leur  conscience  aussi  se  fasse  plus  delicate  et  plus  exi- 
gente.  La  resignation  aussi  est  un  devoir  des  vieillards;  c'est 
aussi  un  remede.  „Sustine  et  abstine",  teile  doit  etre  leur  devise. 

La  religion  est  une  consolatrice,  et  un  sentiment  decent  dans 
les  femmes. 

119 


On  se  consolera  enfin  en  songeant  que  tout  ce  qu'on  a 
perdu  est  peu  de  chose  aupres  de  la  vertu,  si  eile  nous  reste, 
de  la  liberte  et  de  la  raison.  C'est  sur  un  passage  oü  la  pensee 
stoVcienne  s'allie  ä  un  sentiment  de  piete  que  se  termine  le  de- 
licat  et  assez  complexe  traite  De  la  Vieillesse:  „Les  choses  sont 
en  repos  lorsqu'elles  sont  ä  leur  place;  la  place  du  coeur  de 
rhomme  est  dans  le  coeur  de  Dieu ;  lorsque  nous  sommes  dans 
sa  main  et  que  notre  volonte  est  soumise  ä  la  sienne,  nos  in- 
quietudes  cessent,  la  soumission  et  l'ordre  nous  donnent  la  paix 
que  notre  revolte  nous  avait  ötee  et  il  n'y  a  point  d'asile  plus 
sür  pour  rhomme  que  l'amour  et  la  crainte  de  Dieu." 

II  y  a  peu  d'idees  originales  dans  les  petits  traites  moraux 
de  M"^^  de  Lambert.  Elle  emprunte  ä  toutes  ses  lectures,  eile  em- 
prunte  surtout  ä  la  conversation  de  ses  amis.  Ce  ne  sont  point 
lä  des  Plagiats  litteraires:  M"^^  de  Lambert  ne  retient  de  la  pen- 
see d'autrui  que  ce  que  son  experience  de  femme  a  eu  l'occasion 
de  verifier.  De  lä  cette  morale  eclectique,  souple,  adaptee  ä  la 
vie,  ä  sa  vie  ä  eile  d'honnete  femme  plutöt  que  de  femme  ver- 
tueuse,  consciente  de  ses  devoirs,  de  ses  obligations  vis-ä-vis  de 
la  societe  et  vis-ä-vis  d'elle  meme,  plutöt  que  d'un  bien  theorique, 
abstrait,  purement  formel. 

La  morale  de  W^^  de  Lambert  n'est  point  idealiste,  non 
plus  que  Celle  de  ses  contemporains;  eile  ne  propose  pas,  ä  l'admi- 
ration  et  aux  efforts  des  hommes,  une  vertu  absolue,  sublime, 
pratiquement  inaccessible,  comme  la  charite  ou  la  saintete;  eile 
ne  seduit  point  par  l'attrait  poetique  de  l'irrealisable;  eile  engage 
et  invite  les  esprits  positifs  par  la  facilite  ou  du  moins  la  possi- 
bilite  apparente  de  la  realisation;  eile  enseigne  le  moyen  d'arri- 
ver  ä  une  perfection  relative.  Elle  fait  consister  le  bonheur  dans 
un  calcul,  une  etude  attentive  de  la  realite,  un  effort  constant  pour 
conserver  l'equilibre  entre  nos  facultes.  Elle  ne  compte  point  sur 
l'imagination,  sur  toutes  les  qualites  en  general,  qui  ne  sont  pas 
sous  le  controle  de  la  raison;  eile  compte  peu  sur  les  mouve- 
ments  spontanes,  irreflechis  du  coeur.  Elle  defend  les  trop  grands 
biens,  les  plaisirs  trop  vifs,  pour  eviter  les  trop  grands  maux: 
„Ce  serait  un  heureux  traite  ä  faire  avec  l'imagination  de  lui 
rendre  ses  biens  afin  qu'elle  ne  vous  fit  point  sentir  ses  maux." 

120 


Tout  cela  n'est  point  si  faciie  ä  realiser  qu'il  parait  au 
Premier  abord.  Ce  souverain  bien  tout  relatif,  qui  peut  pa- 
rattre  mediocre  ä  des  esprits  plus  poetiques,  ä  des  imaginations 
plus  ardentes  que  celle  des  honnetes  gens  de  1700,  ne  se  peut 
atteindre  qu'au  prix  d'une  attention  aigue,  d'un  jugement  exerce; 
11  exige  un  esprit  souple  et  lucide  et  il  est  peut-etre  plus  diffi- 
cile  de  l'atteindre  que  de  s'approcher  du  point  ideal  de  perfection 
oü  nous  convient  certaines  religions. 

Cette  morale,  qui  ne  conviendrait  point  ä  tous  les  siecles  et 
ä  tous  les  hommes,  convenait  au  XVII l^  siede;  c'est  une  mo- 
rale d'hommes  ponderes,  prosaTques,  point  reveurs,  sociables; 
eile  convenait  aux  temps  qui  ont  produit  Malebranche,  Fonte- 
nelle,  Lamotte.  C'est  un  meme  esprit  qui  anime  M"^^  de  Lambert 
quand  eile  recommande  de  se  defier  des  plaisirs  trop  vifs  de 
l'imagination,  et  Lamotte  quand  il  depouille  Vlliade  de  tout  ce 
qui  n'est  pas  beaute  de  raison  et  Fontenelle,  quand  il  substitue 
ä  tout  le  pittoresque  des  Idylles  anciennes,  d'ingenieuses,  froides 
et  banales  pensees. 

L'esprit  d'ordre,  l'utilitarisme  sevissent,  et  president  ä  tout 
ce  qui  se  fait  ä  cette  epoque. 

Les  livres  de  M*"^  de  Lambert  parurent  trop  tard  pour  exer- 
cer  beaucoup  d'influence ;  ils  ne  sont  interessants  que  comme  des 
documents  qui  representent  un  courant  d'idees  d'autant  plus  fi- 
delement  que  l'auteur  n'est  que  tres  peu  domine  par  des  pre- 
occupations  litteraires,  qu'il  ne  cherche  qu'ä  faire  sa  propre  Ins- 
truction morale:  „Ces  reflexions,  dit  M"^«  de  Lambert  dans  les 
Avis  d'une  mere  ä  sa  fille,  me  sont  de  nouveaux  engagements 
pour  travailler  ä  la  vertu.  Je  fortifie  ma  raison,  meme  contre 
moi,  et  me  mets  dans  la  necessite  de  lui  obeir." 

Montesquieu  en  quelques  parties  de  son  Esprit  des  lois 
(livres  IV  et  V)  s'est  souvenu  de  ces  petits  traites.  Voltaire  fait 
ä  M""«  de  Lambert  une  place  tres  honorable  dans  son  Temple  du 
gout,  et  l'on  retrouve  jusque  dans  Rousseau  la  trace  fugitive  de 
quelques-unes  de  ses  pensees. 

Mais  c'est  sa  pensee  restee  inedite  et  qui  le  restera  toujours, 
qui  a  exerce  une  influence  sur  son  temps.  C'est  par  les  conver- 
sations  serieuses  qu'elle  eut  avec  ses  familiers,  c'est  par  les  lec- 
tures  et  les   discussions  d'ouvrages  qui  remplissaient  les  mardis 

121 


que  pendant  quaranta  ans  M"^^  de  Lambert  gouverna  l'opinion,  fit 
triompher  la  cause  des  modernes  et  pendant  quelque  temps  celle 
des  femmes. 


Dans  la  lettre  qui  suit,  j'ai  respecte  les  fantaisies  orthogra- 
phiques  de  l'auteur  et  meme  la  ponctuation.  Comme  c'est  le 
seul  autographe  de  M"^^  de  Lambert  que  j'aie  pu  trouver,  j'ai  pense 
qu'il  pourrait  etre  interessant  de  le  reproduire  tres  fidelement. 

LETTRE  DE  MADAME  DE  LAMBERT  AU  PRESIDENT  BOUHIER, 

A  DIJON^) 

Ce  n'est  pas  Monsieur  pour  satisfaire  a  I'usage  que  j'ay  l'honneur  de 
vous  escrire  au  commencement  de  cette  annee,  c'est  un  tribut  du  coeur  et 
des  sentiments,  et  pour  vous  remercier  de  toutes  vos  politesses  et  vous 
souhaiter  tout  le  bonheur  que  vous  meritez,  Le  livre  dont  vous  me  parlez 
Monsieur  ma  donne  Bien  du  chagrin^)  j'ay  fait  l'impossible  pour  qu'il  ne 
fut  pas  imprimer,  il  me  coutte  700  fr.  pour  retirer  une  autre  petite  ebeau- 
chure  (?),  Elle  n'a  pas  laisse  de  courir;  vous  mofrez,  Monsieur,  vos  Services 
si  obligemment  que  je  ne  ferai  pas  difficulte  de  les  axcepter.  Mfs  Du  Do- 
mainne^)  mon  fait  une  signification.  Mr  Dauby  qui  scay  de  quoy  il  est 
question  c'est  Charge  Monsieur  de  vous  en  escrire,  javais  autrefois  ä  Dijon 
un  procureur  qui  est  mort  que  Ion  appelle  Jacquemain,  je  crain  bien  qu'il 
ne  lui  soit  Beaucoup  reste  de  tittres.  Comme  ma  terre  de  St  Bry  releve 
du  roy,  nous  avons  eu  besoin  de  ses  Mrs  ja,  je  vous  serois  tres  obligee 
si  vous  vouliez  ordonne  a  quelqun  de  vos  gens  de  faire  chercher  dans 
l'estude  de  se  procureur  sil  ny  aurait  point  de  titie  de  nostre  maison,  vous 
voyez  bien  Monsieur  que  Ion  hazarde  de  faire  des  offres  ä  des  indiscrets 
qui  S(^avent  si  bien  nous  prendre  au  mot.  M""  le  President  de  Montesquieu 
a  essuye  bien  des  traverses*)  mais  enfin  len  voila  quitte,  tout  ce  qui  cest 
passe  est  bien  ä  la  honte  de  l'humanite,  quant  conte  vous  Monsieur  de 
revenir  dans  ce  pays  icy,  il  est  bien  triste  pour  moi  que  vous  nayez  fait 
que  vous  montrer  et  disparaitre,  une  personne  comme  vous  laisse  toujours 
des  desirs  et  des  Regrets  je  suis  Monsieur  avec  toutte  l'estime  et  l'amitie 
que  vous  meritez  vostre  tres  humble  et  tres  obeisente  servante  la  Mse  de 
Lambert  A  Paris  ce  8e  janvier  1728. 


1)  L'original  de  cette  lettre  est  ä  la  Bibliothöque  nationale  fr.  24  412. 

-)  11  s'agit  des  Riflexions  sur  les  Femmes  publikes    pour  la   premiöre  fois  en  1727. 

3)  Madame  de  Lambert  eut  presque  toute  sa  vie  ä  soutenir  des  procäs  au  sujet  de 
ses  biens.  Elle  faillit  perdre  toute  sa  fortune  ä  la  mort  de  son  mari,  1686 

*)  Montesquieu,  ä  la  fin  de  1727,  brigua  le  fauteuil  acadömique,  en  remplacement  de 
M.  de  Sacy,  ami  de  Fenelon  et  de  Mme  de  Lambert.  11  ötait  soutenu  par  tout  le  salon  et 
triompha,  malgre  Topposition  de  quelques  prelats,  en  particulier  du  cardinal  de  Fleury  qui 
ecrivit  ä  l'Acadömie  que  le  roi  se  refusait  ä  y  laisser  entrer  l'auteur  des  Lettres  persanes. 
II  fut  regu  le  24  janvier  1728,  gräce  aux  efforts  de  la  marquise  et  de  ses  amis.  —  Voir  sur 
les  rapports  de  Montesquieu  et  de  Mme  de  Lambert:  Preface  ä  2  opuscules  de  Montesquieu 
publi^s  par  les  descendants  de  l'dcrivain,  ä  Bordeaux,  en  1897. 

PARIS  J.  P.  ZIMMERMANN 

122 


SCHAUSPIELABENDE 

Ein  junger  Zürcher,  Hans  Ganz,  genoss  jüngst  die  Wonnen  und 
Schmerzen  einer  Premiere.  Für  die  Hörer  ergab  sich  kein  ästhetischer 
Gewinn.  „Helene  Brandt"  nennt  sich  ein  Kammerspiel,  was  entschieden 
psychologische  Erwartungen  weckt.  Mit  der  Einheit  des  Ortes,  die  in  den 
vier  Akten  gewahrt  bleibt,  ist  es  nicht  getan.  Wichtiger  wäre  die  Einheit 
in  der  dichterischen  Konzeption.  Statt  dessen  ist  Motiv  auf  Motiv  gepfropft, 
und  keines  kommt  zur  Entwicklung  und  Reife.  Die  Titelheldin  handelt 
nirgends,  sie  erleidet  nur:  der  alte  Oberst  heiratet  sie,  sein  Sohn  (ein  un- 
verstandener Jüngling  mit  Schönheitsdurst  und  tatenloser  Erwartung  des 
Wunderbaren)  verliebt  sich  in  sie,  der  illegitime  Sprössling  des  Obersten 
(und  gute  Freund  seines  Sohnes),  ein  Maler  seines  Zeichens,  vergewaltigt 
(oder  doch  so  ähnlich)  sie  und  macht  sie  zur  Mutter.  Sie  bleibt  ein  pas- 
sives, uninteressantes,  ja  uns  völlig  gleichgültiges,  weil  in  keiner  Weise 
genügend  klar  gemachtes  Wesen.  Die  Technik  ist  von  der  Art,  die  Kerr 
(der,  nebenbei  bemerkt,  wundervoll  über  Hebbel  bei  uns  gesprochen  hat, 
aus  dem  Geist  heraus  über  einen  Großen,  ohne  alle  rhetorischen  Kunst- 
mittel, die  man  so  gern  entbehrte)  —  von  jener  Art,  die  Kerr  einmal  (im 
„Tag")  die  Just-Technik  genannt  hat.  Just  in  die  Frau,  die  dem  angegrauten 
Obersten  den  Lebensabend  erheitern  soll,  hat  sich  der  Sohn  verliebt;  just 
am  Hochzeitstag  erfährt  der  Alte  von  der  Existenz  seines  illegitimen  Sohnes, 
der  just  der  Freund  seines  ehelichen  Sohnes  sein  muss;  und  just  diese 
zweite  Frau,  in  die  just  der  Legitimus  verkracht  ist,  bringt  dessen  illegitimer 
Bruder  zu  Fall.  Man  wird  sich  nicht  wundern,  dass  die  Komik  auf  der 
Schwelle  des  Stückes  lauert.  Der  Hörer  gerät  über  all  diesen  Just-Klitte- 
rungen  der  Handlung  in  eine  heitere  Stimmung.  Wie  dann  im  vierten  Akt 
der  Oberst  auf  seinen  (legitimen)  Sohn  schießt,  den  er  im  Verdacht  hat, 
bei  Frau  Helenen  (die  der  Vater  unberührt  gelassen  hat  wegen  einer  mora- 
lischen Anwandlung  von  zweifelhafter  Einsicht)  unerlaubte  Vertreterrolle 
gespielt  zu  haben  —  und  der  Sohn  sich  auf  den  Tod  getroffen  glaubt,  in 
Tat  und  Wahrheit  aber  gar  nicht  getroffen,  sondern  nur  an  der  Hemden- 
brust etwas  zerknittert  worden  ist:  da  überschritt  die  Komik  die  Schwelle, 
und  das  Auditorium  geriet  in  ein  unzweideutiges  Lachen  hinein.  Und 
der  Gedanke  tauchte  auf,  ob  nicht  aus  diesem  Kammerspiel  eine  überlegene 
Komödie  sich  hätte  machen  lassen.  Freilich  dazu  ist  Hans  Ganz  noch 
nicht  reif  genug;  dazu  müsste  er  auch  über  einen  ganz  anders  fein  und 
scharf  geschliffenen  Dialog  verfügen,  und  vor  allem  einen  dramatischen 
Organismus  klar  durchzudenken  müsste  er  sich  die  Mühe  nehmen. 


Hermann  Bahr's  neuestes  Bühnenopus  —  bald  ist  das  zweite  Dutzend 
des  bald  Fünfzigjährigen  voll  und  noch  nichts  für  die  Unsterblichkeit  getan  — 
das  Lustspiel  „Das  Prinzip"  ist  auch  zu  uns  gelangt.  Es  enthält  amüsante 
Partien,  flinke  Bonmots,  geistreiche  Aphorismen  und  lässt  am  Schluss  doch 
recht  gleichgültig.  Warum?  Man  kann  sich  keinen  rechten  Vers  zu  dem 
Stück  machen.  Da  ist  ein  Vater,  dem  es  seine  Mittel  gestatten,  eine  freie 
Laien-Missionstätigkeit  für  eine  gesündere,  rationellere  Menschen-  und  Kul- 
turentwicklung auszuüben:  er  lebt  vom  Glauben  an  sein  Prinzip,  und  das 

123 


lautet  ungefähr  dahin:  nur  kein  Zwang;  wie  der  Herr  im  Faust-Prolog: 
„ein  guter  Mensch  in  seinem  dunkeln  Drange  ist  sich  des  rechten  Weges 
wohl  bewusst."  Dieser  Optimismus  ist  seine  Richtschnur  im  Verkehr  mit 
den  Menschen;  in  concreto:  mit  seinen  beiden  Kindern.  Sohn  und  Tochter 
sollen  tun  und  lassen,  was  sie  mögen.  Ihre  gute  Natur  wird  sich  darin  zu 
bewähren  haben,  dass  sie  immer  wieder  auf  den  rechten  Weg  kommen. 
Nun  ist  man  im  voraus  darauf  gefasst,  dass  das  Experiment  nicht  glatt  ab- 
laufen und  das  Prinzip  des  alten  Idealisten  eine  Beule  abbekommen  wird. 
Was  denn  auch  geschieht.  Nur  geschieht  es  mit  den  Qeberden  des 
Schwankes.  Der  Sohn  fängt  an  einer  feschen  Köchin  Feuer,  die  er  auf  dem 
Tanzboden  „im  Himmel"  kennen  gelernt  hat,  und  will  sein  Verliebtsein  gleich 
mit  einem  Verlobtsein  beschlossen  wissen.  Und  der  Alte  hat  nichts  da- 
gegen; wenn  das  Mädchen  brav  ist,  warum  nicht?  Ein  Glück,  dass  die 
Köchin  klüger  ist  als  der  Mann  mit  dem  Prinzip.  Ein  Oberkellner  mit  An- 
lage zum  Geldverdienen  scheint  ihr  schließlich  doch  das  Praktischere  als 
ein  Neunzehnjähriger,  der  die  Gymnasiastenmütze  bald  an  eine  Studenten- 
mütze zu  vertauschen  gedenkt.  Und  der  Junge  gibt  der  Köchin  sofort  eine 
Nachfolgerin  in  einer  Tänzerin  voll  hellenischen  Liebreizes.  Die  Tochter 
aber  lässt  sich  entführen  von  einem  gottseligen  hübschen  jungen  Gärtner 
ihres  Papas  und  verdankt  es  dessen  reiner  Gesinnung,  dass  die  Entführung 
nicht  mit  Verführung  endigt. 

Also:  das  Prinzip  hätte  Fiasko  gemacht.  Aber  der  Inhaber  des  Prin- 
zips gibt  das  doch  nur  bedingt  zu.  Er  braucht  es  nun  einmal  zum  leben, 
und  dann:  was  jetzt  noch  unvollkommen  sich  bewährt,  das  wird  einmal  in 
Aeonen  zu  Kraft  und  Herrlichkeit  erstehen,  man  muss  nur  warten  können. 
Ein  brillanter  Aphorismus  fällt:  Es  ist  leichter,  die  Welt  erlösen,  wenn  sie 
nicht  dabei  ist.  Der  Dr.  Friedrich  Esch  wandelt  im  Wolkenkukuksheim. 
Sein  Oheim,  ein  sehr  realistisch-nüchtern  gerichteter  Weinhändler,  sorgt 
für  den  nötigen  Hohn  und  Spott. 

Ein  Eindruck  von  Dünnheit  und  Leere  bleibt  zurück.  Das  Possenhafte 
zehrt  das  Lustspielmäßige  auf.  Das  Geschehen  versandet.  Die  Erfindung 
lebt  von  Episodenhaftem.  Es  fehlt  die  Hand,  die  Menschen  gestaltet.  Am 
19.  Juli  feiert  Hermann  Bahr  den  fünfzigsten  Geburtstag.  Recht  interessante, 
ernste  neue  Wandlungen  (oder  Anwandlungen)  treten  in  jüngster  Zeit  bei 
ihm  zu  Tage.  Man  möchte  wünschen,  dass  von  ihnen  aus  dem  an  Geist  und 
Gemüt  wahrlich  nicht  armen  Schriftsteller  ein  Werk  von  sicherer  Dauer 
gelänge.  „Das  Prinzip"  ist  nur  ein  artiges  Parergon. 

ZÜRICH  H.TROG 

D  a  o 


zu  CARL  MEISSNER:  CARL  SPITTELER 

Es  gibt  zwei  Arten,  das  Oeuvre  eines  Künstlers  zu  vermitteln.  Die 
eine  zielt  auf  Herausarbeitung  der  charakteristischen  Merkmale  und  deren 
einheitliche  Gruppierung,  woraus  sich  die  Grenzen,  Vorzüge  und  Schwächen 
des  Talentes  von  selbst  ergeben.  Die  andere  führt  in  erster  Linie  den  psy- 
chologischen Entwicklungsgang  des  Helden  durch ;  es  handelt  sich  um  vor- 
behaltlose Durchdringung  des  Darzustellenden.    Der  Darsteller  nimmt  kel- 

124 


nen  Standpunkt  vor  seinem  Objekte  ein ;  er  schiupft  in  die  Haut  des  andern. 
Charakterisierung.  Einfühlung.  Dort  Fläcnen  und  Linien.  Hier  Stimmungs- 
werte. Zwei  Verfahren,  verschieden  in  der  Wirkung  und  den  Begabungen, 
die  sie  voraussetzen. 

Wer  beide  vermengt,  dem  fehlt  es  in  weiterem  Sinne  an  Stilgefühl,  so- 
dann an  Klarheit  darüber,  was  zu  sagen  ist.  Dieser  Mangel  eines  Stand- 
punktes, aus  dem  sich  glückliche  Gesichtspunkte  ergeben,  wird  kaum  ver- 
deckt durch  den  Untertitel  von  Carl  Meißners  (im  Verlag  Eugen  Diederichs 
In  schöner  Ausstattung  1912  erschienenen)  Büchlein  über  Carl  Spitteler: 
„Zur  Einfühlung  in  sein  Schaffen",  eine  geschickt  gewählte,  unbestimmte 
Marke,  unter  der  er  Biographisches,  Ästhetisches,  Polemisches  beibringt. 
Ob  jetzt  bei  Spitteler  „der  Versuch  einer  kritischen  Grenzbestimmung  seiner 
Bedeutung"  Sinn  hat  (Meißner  meint:  nein),  darüber  kann  man  verschie- 
dener Ansicht  sein:  nur  eine  aber  kann  es  darüber  geben,  dass  das  ver- 
wendete Material  auch  verwertet  werde.  Wir  erfahren  —  soweit  ich  sehe, 
hier  zum  erstenmal  ausführlichere  —  biographische  Daten,  dichterische 
Pläne,  Inhaltsangaben.  Das  meiste,  einzelne  gute  Bemerkungen  ausgenom- 
men, bleibt  totes  Material. 

Es  fehlt  der  intensive  Wille  zur  Verlebendigung  oder  auch  der  Wille 
zur  Erkenntnis,  nach  der  jeder  streben  muss,  der  öffentlich  gehört  werden 
will,  und  die  nur  privat  ersetzt  werden  kann  durch  Bewunderung.  „Am 
Kunstgeschwätz  vorbei  zum  Künstler  gehn"  ist  gewiss  das  beste.  Darüber 
soll  man  aber  nie  vergessen,  dass,  wo  es  Werte  zu  vermitteln  gilt,  fähige 
Ehrlichkeit  unvergleichlich  mehr  gibt  als  poetisierende  Ehrfurcht.  In  diesem 
Sinne  ist  es  Nebensache,  der  Wievielgrößte  Spitteler  sei,  und  nur  dilettan- 
tenhafter  Hilflosigkeit,  in  Liebe  ertrinkend  und  jeden  Maßes  bar,  kann 
der  Schluss  genügen:  „Nachdem  Ibsen  und  Tolstoi,  nachdem  nun  auch 
Strindberg  gestorben,  ist  unter  den  Dichtern  Carl  Spitteler  das  einzige 
lebende  Genie." 

Ein  singuläres  Oeuvre.  Darüber  sind  Gegner  und  Freunde  einig.  Jedoch: 
es  handelt  sich  um  die  Synthese. 

Von  Anfang  an  —  das  geht  klar  aus  den  Äußerungen  des  Dichters^ 
namentlich  aus  „Mein  Schaffen  und  meine  Werke,"  hervor  —  der  grandiose 
Wille  zur  monumentalen  Plastik,  der  einerseits  der  Phantasie  nicht  verwehrt, 
Varianten  auf  Varianten  zu  häufen,  so  dass  vor  ihrer  Vehemenz  die  dichte- 
rischen Pläne  zerschellen,  und  anderseits  lange  nach  der  Form  sucht.  Noch 
der  Siebenunddreißigjährige  glaubte,  „Verse  zu  reimen  wäre  so  unendlich 
schwierig,  dass  ich  es  nie  können  werde."  Maler  und  Musiker  finden  im 
„Prometheus"  die  rauschende,  ekstatische  Form,  die  der  Ausdruck  einer 
Persönlichkeit  in  einem  und  nur  in  diesem  bestimmten  Entwicklungsstadium 
und  eben  deshalb  keine  Kunstform  ist.  (Spitteler  selbst  sagte  kürzlich  im 
«Kunstwart",  er  dürfe  diese  Form,  ohne  Gefahr  der  Affektiertheit,  nicht 
mehr  verwenden.)  Hier  liegt  das  erste  Problem.  —  Spitteler  sucht  nach 
der  großen  Form  und  wohl  auch  nach  dem  großen  Stoff.  Die  Frage:  Was 
verleiht  einem  Stoff  in  erster  Linie  die  Größe,  Symbolgehalt  oder  glänzendes 
episches  Geschehen  ?  führt  ihn  auf  die  für  ihn  so  wichtige  Scheidung 
zwischen  Mythus  und  Epos.  Zunächst  kosmischer  Mythus:  Weltschöpfung. 
Aber  „Extramundana"  wird  bald  als  Sackgasse  erkannt.  Das  Symbol  wächst 
nicht  aus  der  Poesie  heraus.  An  den  Mythus  gliedern  sich  Gestalten  und 
Ereignisse,  die   aus  Gründen  poetischer  Notwendigkeit  erfunden  werden. 

125 


Der  Leser  jedoch   betrachtet  alles  als  Allegorie  und  sucht  mit  Mühe  und 
oft  vergebens  nach  dem  Sinn. 

Abkehr  von  der  mythologischen  Poesie  aus  äußern  und  wohl  auch 
innern  Gründen.  Lyrik  und  Prosa.  In  den  „Schmetterlingen"  spricht  vor- 
nehmlich der  Maler,  in  den  .Glockenliedern"  der  Musiker,  in  dieser  Ent- 
wicklung vom  Objektiven  über  das  Persönliche  („Literarische  Gleichnisse") 
zum  Subjektiven,  zum  geistreich  Spielerischen  und  zum  Gegenwartsjubel 
(„Ein  Jauchzer")  liegt  das  zweite  Problem.  Oder  besser:  in  der  Trennung 
der  zwei  im  „Prometheus"  vereinigten  Elemente.  Die  „Balladen"  —  zeitlich 
zwischen  „Literarischen  Gleichnissen"  und  „Glockenliedern"  bilden  in  ihrer 
Mischung  von  alten  Tönen  und  Vorklängen  zum  „Olympischen  Frühling" 
einen  Wendepunkt  und  weisen  mit  dem  humoristischen  Stück  in  realistischer 
Technik  „Die  jodelnden  Schildwachen"  unmittelbar  auf  die  poetische  Prosa. 
Da  fällt  vor  allem  auf  die  straffe  Komposition.  Dass  er  ein  neues  Genre 
(„Darstellung")  schafft  —  eine  nach  verschiedenen  Seiten  bemerkenswerte 
Tatsache  —  ist  weniger  interessant,  als  der  Umstand,  dass  er  im  Idyll  ex- 
zelliert.  Drittes  Problem,  das  auf  die  Art  seiner  Begabung  führt. 

Endlich  der  „Olympische  Frühling",  den  man  als  sein  Hauptwerk  be- 
trachtet, während  Spitteler  sich  in  erster  Linie  als  den  Verfasser  des  un- 
geschriebenen „Herakles"  fühlt,  von  dem  er  sagt:  „er  spannte  und  gipfelte 
nach  dem  Schlüsse."  Das  führt  auf  verschiedene  Fragen.  Wie  steht  es  mit 
dem  Stoffe  des  „Olympischen  Frühlings"?  Nicht  mehr  wie  in  „Extra- 
mundana" Weitschöpfung.  Die  Welt  besteht  seit  langem.  Der  Beginn  einer 
neuen  Epoche  wird  dargestellt.  Die  Götter  des  „Olympischen"  sind  nicht 
frei;  Ananke  zwingt  sie.  Selbst  Ananke  ist  nicht  frei,  er,  „der  gezwungene 
Zwang.-  Diese  Auffassung  vom  trostlos  unabwendbaren  Weltgeschehen 
ergibt  in  ihren  Konsequenzen  künstlerische  Nachteile.  Kronos  wird  nicht, 
wie  in  der  griechischen  Sage,  von  Zeus  gestürzt.  Die  beiden  Göttergene- 
rationen treffen  sich  zwar  einmal ;  aber  Kronos  wird  mit  den  Seinen  von 
Ananke  in  den  Abgrund  geschleudert.  Somit  fällt  ein  großer  Teil,  der  zu 
Bewegung  und  Spannung  führen  würde  und  aus  dem  sich  die  Herahandlung 
leicht  entwickeln  ließe.  Die  neuen  Götter  haben  ein  Programm  abzuwickeln 
und  Ananke  gibt  das  Zeichen  zu  jeder  Nummer.  Also  keine  Handlung,  die 
nach  dem  Schlüsse  spannt  und  gipfelt.  Anders  steht  es  mit  dem  Herakles- 
stoff. Herakles  wird  vom  Olymp  gesandt  und  dann  seinem  Schicksal  über- 
lassen. Er  hat  die  ganze  Welt  zum  Feinde;  aber  er  ist  im  Gegensatz  zu 
Prometheus  kein  leidender,  sondern  ein  tätiger  Held.  Folglich :  wilder  Trotz, 
Heldenkraft,  Kampf,  glänzende  Geschehnisse. 

In  der  realistischen  Prosa  straffe,  im  idealistischen  Epos  lockere 
Komposition.  Warum  „Olympischer  Frühling"  und  nicht  „Herakles"?  Das 
Heraklesmotiv  berührt  sich  mit  dem  Prometheusmotiv  und  enthält  wohl 
kaum  die  reichen  Möglichkeiten  des  „Olympischen  Frühlings".  Dann  ist 
die  Idee,  dass  selbst  die  Götter  nicht  frei,  gewissermaßen  nur  Statthalter 
des  Schicksals  mit  ganz  beschränkten  Vollmachten  sind,  größer,  tragischer 
als  die,  dass  Heroen  im  Kampfe  gegen  die  Welt  untergehen.  Ist  das  alles? 
Spitteler  sagt  einmal,  der  Dichter  wähle  den  Stoff  nicht,  er  müsse  ihn 
nehmen.  Stoff  und  Komposition  des  „Olympischen  Frühlings''  ist  das  vierte 
Problem,  das  beleuchtet  wird  einerseits  durch  die  unausgeführte  Herakles- 
idee, anderseits  durch  die  poetischen  Prosawerke  des  Dichters. 

126 


Diesen  Problemen,  die  von  der  Form  aus  in  die  Kunst  dringen,  steht 
eine  Reihe  anderer  nicht  minder  wichtiger,  aber  heikler  Fragen  gegenüber, 
die  direkt  auf  die  Struktur  der  Künstlerpersönlichkeit  zielen,  aber  noch 
nicht  oder  nur  schwer  zu  beantworten  wären.  Da  sind  einmal  die  interes- 
santen, von  Spitteler  selbst  angegebenen  Hemmungen,  die  so  lange  vor 
seiner  dichterischen  Produktion  standen.  Ferner:  Zwischen  „Extramun- 
dana" und  „Schmetterlinge"  liegen  „sechs  Jahre  angestrengtester  Arbeit": 
zahlreiche  Werke,  die  keinen  Verleger  fanden.  Schienen  nun  dem  Dichter  das 
Epos  und  das  Drama,  um  zwei  Hauptwerke  dieser  Zeit  zu  nennen,  nach- 
her, als  er  Verleger  hatte,  doch  nicht  reif  genug?  — 

Ein  beispielloser  Kunstwille  bildet  das  Signum  dieser  Persönlichkeit, 
und  alle  Fragen  gipfeln  schließlich  in  der  einen  nach  dem  Verhältnis  zwischen 
Wille  und  Talent  bei  Spitteler.  — 

Keine  Lösung,  aber  ein  Weg.  Meißner  sucht  weder  Lösung  noch  Weg. 
Auf  Spittelers  Ausspruch,  er  fühle  sich  in  erster  Linie  als  den  Dichter  des 
ungeschriebenen  Epos  „Herakles",  sagt  er:  „Wer  Spitteler  noch  nicht  kennt, 
schüttelt  zu  diesem  Satze  den  Kopf.  Wer  ihn  kennt  und  sein  Geschick, 
das  ich  zu  schildern  habe,  der  neigt  ihn,  durch  Wissen  glaubend,  in  Trauer 
und  Ehrfurcht." 

Nun  erhält  aber  das  Büchlein  einen  Wert,  den  es  in  absehbarer  Zeit 
behaupten  wird:  nicht  wegen  der  biographischen  Angaben,  sondern  wegen 
des  Anhangs :  „Carl  Spitteler.  Eugenia.  Eine  Dichtung.  Ausgewählte  Stücke." 
Die  drei  ersten  Gesänge  einer  unvollendeten  Dichtung  „Johannes"  erschie- 
nen als  selbständiges  Ganzes  unter  dem  Titel  „Eugenia"  in  den  achtziger 
Jahren  in  der  Sonntagsbeilage  des  „Bund". 

Meißner  zitiert  eine  Inhaltsangabe  J.  V.  Widmanns.  Es  handelt  sich 
um  einen  begabten  Knaben,  der,  aus  der  Schule  gewiesen,  von  seiner  Patin 
Eugenia,  einer  schönen,  jungen  Witwe,  aufgenommen  wird.  —  „Eugenia" 
ist  in  reimlosen  fünffüßigen  Jamben  geschrieben  und  bildet  stilistisch  eine 
Vorstufe,  etwa  zu  entsprechenden  Stücken  in  den  „Schmetterlingen".  Es 
finden  sich  auch  gleiche  Motive  und  Stimmungen  wie  in  den  „Schmetter- 
lingen" und  „Glockenliedern". 

Das  erste  Bruchstück  schildert  eine  Liebesstunde  der  Sonne  mit  dem 
armen  Ziegenknaben  Pan,  das  zweite  die  Fahrt  Eugenias  zum  Methodium 
und  die  Rückfahrt  mit  Johannes.  Das  dritte,  ein  Schlafstubenidyll,  erzählt 
von  den  Abenteuern  zweier  Schwesterchen  mit  ihren  Lebkuchenmännern. 
Im  letzten  holt  sich  Eugenia  bei  einem  befreundeten  Künstler  Rat  wegen 
ihres  Schützlings,  der  aus  Liebe  zu  ihr  einen  Selbstmordversuch  gemacht 
hat.  Auch  der  Meister  leidet  an  hoffnungsloser  Liebe  zu  der  schönen 
Frau,  und  wie  sich  das  Gespräch  auf  diese  Seite  wendet,  erklingt  in  den 
Worten  Megakles'  ein  Motiv  aus  den  „Schmetterlingen"  („Trauermantel"): 

Ich  aber  habe  fest  bei  mir  geschworen, 
Dass  ich  den  Wurm,  der  mir  seit  jenem  Tag 
Das  Herz  zerfrisst,  wandle  zum  Sonnenvogel 
Golden  und  schön,  duftig,  von  sammt'nen  Farben ; 
Der  soll  mir  ewig  fliegen  durch  die  Lande, 
Singend  von  Euch  und  Eurem  stolzen  Antlitz. 

USTER  JOSEF  HALPERIN 

aaa 

127 


KÜNSTLERTYPEN 

MAX  BURI 

Wer  da  glaubt,  Max  Buri  sei  ein  Genremaler,  so  eine  Art  Schweizer 
Defregger,  weil  er  sich  fast  nur  mit  der  Darstellung  von  Brienzer  Bauern 
befasst,  der  irrt  sich  gewaltig.  Niemals  ist  es  ihm  um  ein  Histörchen  oder 
Witzchen  zu  tun;  was  ihn  reizt,  ist  das  Bildnis,  und  seine  großen  Bilder 
sind  nichts  weiter  als  Bildnisgruppen.  Darum  stellt  er  auch  seine  Bauern 
nie  bei  der  Arbeit  dar,  sondern  in  Feierabendstimmung,  die  das  Porträtieren 
zulässt;  darum  wählt  er  auch  stets  einen  Maßstab,  der  eher  über  Lebens- 
größe hinausgeht.  Er  ist  auch  stets  bestrebt,  durch  den  Kopf  hindurch  auf 
die  Seele  zu  kommen,  und  was  er  da  schon  an  bäuerlicher  Vornehmheit, 
Biederkeit,  charakterhafter  Pfiffigkeit  und  an  lustig  komplexen  Charakteren 
gemalt  hat,  lässt  ihn  mit  besserem  Recht  neben  den  Bauernspion  Gotthelf 
stellen  als  irgend  sonst  einen  malerischen  oder  literarischen  Darsteller. 

So  wenig  es  äußerlich  den  Anschein  hat,  Max  Buri,  der  das  Rezept 
der  Münchener  Schule,  die  er  durchgemacht  hat,  längt  über  Bord  warf,  in 
technischer  Hinsicht  ein  Schüler  Hodlers.  Er  hat  dessen  helle  Palette  über- 
nommen und  für  die  Zwecke  einer  mehr  realistischen  Darstellung  um- 
gearbeitet. Und  ganz  besonders  hat  er  wie  Hodler  die  Umrisslinie  in  ihre 
alten  Rechte  eingesetzt;  er  blieb  dabei  ganz  Maler  und  hat  nie  bloß  Zeich- 
nungen koloriert.  Seine  Farbe  ist  saftig  und  lebendig,  wo  nicht  ein  Wirts- 
tisch oder  Spielteppich  wie  eine  bloß  angestrichene  Stelle  aus  dem  mit 
flotter  Handschrift  gemalten  Bild  herausfällt.  Die  Stilleben  Buris  sind 
gleichsam  Bildnisse  unbelebter  Gegenstände  und  zeigen  die  gleiche  Stili- 
sierung wie  seine  Figuren;  weniger  durchgearbeitet  sind  die  Landschaften. 

Eine  gut  zusammengestellte  Übersicht  über  Buris  Schaffen  ist  bis  Ende 
dieses  Monats  im  Kunstsalon  Wolfsberg  in  Zürich  zu  sehen. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 

D  a  D 

„Herr  von  Brake  seufzte  und  sprach:  Wenn  ich  doch  auch  einmal 
eine  Gelegenheit  fände,  die  Kunst  zu  unterstützen !  Ich  habe  mich  schon 
an  Erich  Schmidt  gewendet,  und  der  hat  mir  Ernst  Zahn  empfohlen,  der 
nach  Keller  und  Meyer  der  dritte  große  Schweizer  Dichter  sei ;  als  ich  aber 
an  Herrn  Zahn  schrieb,  erhielt  ich  eine  grobe  Antwort:  seine  beiden  Ge- 
schäfte gingen  gut,  da  sie  gut  eingeführt  seien,  er  denke  sogar  daran,  um 
sich  voll  und  ganz  einer  Sache  widmen  zu  können,  das  Romangeschäft 
seinem  Oberkellner  abzutreten,  der  eine  erste  Kraft  sei;  Keller  und  Meyer 
mit  ihrem  heute  veralteten  Kleinbetrieb  könne  man  überhaupt  nicht  mehr 
mit  ihm  vergleichen,  und  er  verbitte  sich  jede  Schädigung  seines  Kredits." 

Ich  fand  die  Stelle,  dick  mit  Blaustift  angestrichen,  in  einem  Buch, 
das  auf  dem  Schreibtisch  eines  Freundes  lag.  Es  war  eine  Sammlung  von 
Novellen  und  der  Brief  Zahns  war  natürlich  auch  Fiktion.  Der  Titel  lautet 
Die  Hochzeit  von  Paul  Ernst,  Verlag  Meyer  &  Jessen,  Berlin.  Ihr  könnt 
euch  denken,  wie  ich  das  Buch  verschlungen  habe. 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

128 


DIE  FOLGEN 

Wenn  irgendwo  in  der  Schweiz  ein  Verbreclien  begangen 
wurde,  das  die  Gemüter  besonders  aufregte,  i<ann  man  häufig 
genug  eine  ziemh'ch  weite  Kreise  ziehende  Voll<sbewegung  beob- 
achten, die  auf  eine  Ersetzung  der  milderen  Strafbestimmungen 
durch  schwerere  abzielt.  Aber  im  Hinbhck  auf  den  recht  um- 
ständlichen Weg  über  eine  Gesetzesänderung  ebbt  die  Bewegung 
verhältnismäßig  rasch  ab,  und  bald  tritt  die  ruhige  Überlegung 
wieder  an  die  Stelle  der  unter  dem  frischen  Eindruck  verständ- 
lichen Erregung. 

Eine  ähnliche  Stimmung  beherrscht  gegenwärtig  zahlreiche 
dem  Gotthardvertrag  gegnerisch  gesinnte  und  über  den  bedauer- 
lichen Ratifikationsbeschluss  der  Eidgenössischen  Räte  ungehaltene 
Volksgruppen,  und  ganz  besonders  bei  den  wärmerblütigen  Mit- 
eidgenossen der  welschen  Schweiz  hat  eine  Bewegung  eingesetzt, 
welche  der  augenblicklichen  Mißstimmung  zu  einem  dauern- 
den Niederschlag  in  der  Form  gesetzlicher  Maßnahmen  ver- 
helfen möchte. 

Diese  Vorschläge  einer  leidenschaftslosen  Betrachtung  zu 
unterziehen  wird  um  so  nötiger  sein,  als  der  durch  die  Bundes- 
verfassung vorgezeichnete  Weg  für  die  Einreichung  eines  Initiativ- 
begehrens, wie  es  geplant  wird,  leicht  zu  beschreiten  ist;  mehr 
als  das:  sind  erst  einmal  die  unerlässlichen  Stimmen  zusammen- 
gebracht, so  wird  die  Angelegenheit  unaufhaltsam  ihren  weitern 
Gang  nehmen,  auch  wenn  sich  inzwischen  bei  den  Urhebern  der 
Initiative  das  Blut  abgekühlt  haben  sollte.     Die  notwendige  Be- 


129 


ruhigung  des  Landes  wird  auf  unbestimmte  Zeit  hinausgeschoben; 
Aufgaben,  die  ein  Zusammenhahen  der  nationalen  Kräfte  ge- 
bieterisch fordern,  bleiben  liegen,  und  ein  Zwiespalt  der  Meinungen 
im  Land  selbst  kann  noch  lang  und  unheilvoll  nachwirken.  Denn 
das  muss  wohl  mit  voller  Deutlichkeit  und  von  Anfang  an  gesagt 
werden,  dass  nicht  alle,  die  Gegner  des  Gotthardvertrags  waren, 
deswegen  auch  mit  dem  Antrag  einig  gehen,  Staatsverträge  oder 
wenigstens  bestimmte  Gruppen  solcher  in  Zukunft  dem  Volks- 
entscheid zu  unterstellen;  die  Wege  vieler,  die  bis  dahin  mitein- 
ander gingen,  werden  sich  jetzt  trennen. 

Ist  der  Preis  den  hohen  Einsatz  wert? 

Die  zeitweise  Beunruhigung  des  nationalen  Lebens  könnte 
unbedenklich  in  Kauf  genommen  werden,  wenn  ein  unbestreitbar 
hohes  Ziel  am  Ende  stünde;  ein  allzu  weit  getriebenes  Ruhebe- 
dürfnis trägt  vielleicht  gerade  die  Schuld  an  manchen  Erscheinungen 
des  öffentlichen  Lebens,  die  uns  nicht  gefallen.  Aber  was  würde 
die  Schweiz  dauernd  erreichen? 

Das  Initiativbegehren  betreffend  Ergänzung  der  Bundesver- 
fassung, das  in  diesen  Tagen  dem  großen  Aktionskomitee  gegen 
den  Gotthardvertrag  vorgelegt  worden  ist,  lautet  in  demjenigen 
Teil,  der  uns  hier  beschäftigen  soll:  „Unkündbare  Staatsverträge 
oder  solche  von  mehr  als  fünfzehnjähriger  Dauer  unterliegen  der 
Genehmigung  des  Volkes,  insofern  30  000  Stimmberechtigte  oder 
acht  Kantone  das  Begehren  stellen."  Der  andere,  nicht  minder 
bedenkliche  Antrag,  welcher  diesem  beigefügt  wurde,  soll  hier 
außer  Betracht  fallen. 

Mir  scheint,  in  der  Rechnung  der  Urheber  dieses  Initiativ- 
begehrens müsse  schon  deshalb  etwas  nicht  recht  stimmen,  weil 
sie  einen  Unterschied  machen  wollen  zwischen  Staatsverträgen 
von  langer  und  solchen  von  kürzerer  Dauer.  Wenn  schon  grund- 
sätzlich der  Glaube  der  Initianten  vorhanden  ist,  die  Vox  populi 
treffe  in  der  Beurteilung  von  Staatsverträgen  das  Richtigere  als 
die  parlamentarische  Vertretung,  so  ist  nicht  einzusehen,  weshalb 
dem  Volk  nicht  das  fakultative  Referendum  in  allen  Fällen  zu- 
stehen solle.  Man  geht  wohl  nicht  fehl  mit  der  Annahme,  dass 
namentlich  im  Hinblick  auf  Zoll-  und  Handelsverträge  jene  zeit- 
liche Einschränkung  in  das  Begehren  aufgenommen  wurde:  also 
im   Hinblick   auf   eine   Gruppe   von   Verträgen,   die   den   starken 

130 


Nährquellen  des  Landes,  der  Industrie  und  der  Landwirtschaft, 
ihre  Richtung  weisen  und  deren  unmittelbar  praktische  Einwirkung 
auf  die  Lebenshaltung  des  Volks  deshalb  größer  ist  als  die  fast 
aller  andern  Staatsverträge.  Warum  soll  gerade  zu  ihnen  das 
Volk  nicht  Stellung  nehmen  dürfen? 

Offenbar,  weil  auch  bei  den  Vätern  der  Initiative  die  Über- 
zeugung besteht,  dass  damit  der  Abschluss  von  Staatsverträgen 
solcher  Art  für  die  Schweiz  ganz  außerordentlich  erschwert  würde. 
Denn  bei  allem  wünschbaren  nationalen  Selbstgefühl  ist  festzu- 
halten, dass  die  Schweiz  auf  diesem  Gebiet  nicht  wie  auf  dem 
internen  allein  zu  verfügen  hat,  dass  sie  vielmehr  mit  den  Mei- 
nungen —  vorgefassten  und  begründeten  —  anderer  Vertrags- 
staaten rechnen  muss,  und  dass  diese  nun  einmal  dem  unmittel- 
baren Volksentscheid  mindestens  misstrauisch  gegenüberstehen. 
Und  es  ist  ja  in  der  Tat  zuzugeben,  dass  mit  einer  Erweiterung 
des  Kreises  von  Personen,  die  über  eine  Vorlage  abzustimmen 
haben,  die  Gefahr  wächst,  dass  an  einem  im  Zusammenhang  des 
Ganzen  vielleicht  unwesentlichen  Punkt  der  Widerstand  einsetze, 
weil  gerade  dieser  Punkt  besonders  gut  in  seiner  Tragweite  über- 
sehbar ist  oder  weil  er  eine  leicht  erregbare  Saite  des  Volks- 
gemüts in  Schwingung  versetzt.  Die  Möglichkeit,  dass  ein  Staats- 
vertrag um  so  leichter  scheitert,  je  größer  die  Zahl  der  Instanzen 
ist,  denen  er  vorgelegt  werden  muss,  besteht  gewiss.  Es  ist  daher 
sehr  begreiflich,  dass  die  Vertragsstaaten,  die  ihrerseits  ein  solches 
Abkommen  der  Entscheidung  eines  einzigen  gesetzgebenden  Fak- 
tors, ihrem  Parlament,  unterstellen,  in  der  Einführung  einer  zweiten, 
einer  obern  Instanz  durch  die  Schweiz  eine  Erschwerung  für  den 
Abschluss  von  Staatsverträgen  erblicken  müssen.  Es  ist  richtig, 
dass  alsdann  die  Gewichte  in  den  Wagschalen  der  Vertragsparteien 
nicht  mehr  die  gleichen  wären. 

Aus  dieser  Erkenntnis  heraus  und  offenbar  um  allzu  häufige 
Konflikte  zu  vermeiden  soll  das  neu  zu  schaffende  fakultative 
Referendum  also  bloß  für  langfristige  oder  unkündbare  Verträge 
eingeführt  werden.  Aber  es  wurde  bereits  angedeutet,  dass  damit 
durchaus  nicht  nur  die  wichtigsten  Verträge  dem  Volksentscheid 
vorbehalten  bleiben;  man  denke  nur  etwa  an  eine  unbedeutende 
Grenzregulierung  im  Vergleich  zu  einem  die  wirtschaftliche  Ent- 
wicklung auf  Jahre   hinaus   bestimmenden   Zollabkommen.     Ein 

131 


gewisser  logischer  Widerspruch  klafft  also  von  vornherein  in  dem 
beabsichtigten  Initiativbegehren:  es  ist  eine  Halbheit,  weil  auch 
den  Initianten  vor  den  Konsequenzen  des  Ganzen  graut. 

Insofern  es  sich  aber  um  unkündbare  Verträge  und  um  solche 
von  mehr  als  fünfzehn  Jahren  Dauer  handelt,  die  tief  in  das 
politische  oder  wirtschaftliche  Dasein  des  einen  und  des  andern 
Staates  oder  der  beiden  Vertragsländer  eingreifen,  so  werden  die 
vorher  angeführten  Bedenken  an  Gewicht  noch  gewinnen,  und 
die  Schwierigkeiten,  zu  einer  Verständigung  zu  gelangen,  werden 
wachsen. 

Und  noch  ein  Weiteres  ist  zu  beachten.  Das  Volk  in  seiner 
Gesamtheit  —  dies  bedeutet  Vorteil  und  Nachteil  zugleich  —  ist 
temperamentvoller  und  Stimmungen  leichter  unterworfen  als  seine 
parlamentarischen  Vertreter,  denen  schon  ihr  Amt  eine  gewisse 
Bedächtigkeit  zur  Pflicht  macht.  Momentane  politische  Spannungen 
ohne  eigentlich  tiefere  Bedeutung  vermöchten  daher  in  einer  Volks- 
abstimmung über  einen  Staatsvertrag  leicht  einen  Einfluss  zu  ge- 
winnen, der  einer  sachlichen  Würdigung  der  Vertragsbestimmungen 
hindernd  in  den  Weg  träte;  damit  könnte  eine  vorübergehende 
Trübung  internationaler  Beziehungen  zu  dauernden  Misshelligkeiten 
angefacht  werden.  Diese  Gefahren  haften  einer  Entscheidung 
durch  das  Volk  unbedingt  stärker  an  als  der  einer  parlamentari- 
schen Körperschaft;  darüber  darf  das  Unbehagen  nicht  wegtäu- 
schen, das  ein  von  vielen  bedauerter  Beschluss  der  letztern  im 
Einzelfall  verursacht  hat. 

So  ist  von  einer  Erweiterung  der  Bundesverfassung  im  Sinn 
der  Initianten  eine  Erschwerung  des  Verkehrs  mit  anderen  Staaten 
fast  sicher  zu  erwarten;  was  aber  wäre  für  das  innere  Leben  der 
Eidgenossenschaft  gewonnen  ? 

Man  nimmt  auf  der  Seite  der  Gegner  des  Gotthardvertrags 
an,  das  Ergebnis  wäre  anders  ausgefallen,  wenn  die  letzte  Ent- 
scheidung beim  Volk  statt  bei  den  Eidgenössischen  Räten  gestan- 
den hätte.  Es  ist  wohl  möglich;  aber  immerhin  handelt  es  sich 
um  eine  bloße  Vermutung,  und  jedenfalls  hätte  auch  da  einer 
kleinen  Mehrheit  eine  ansehnliche  Minderheit  gegenübergestanden. 
Der  Kampf  selbst  aber  hätte  unzweifelhaft  noch  heftigere  Formen 
angenommen,  da  es  sich  nicht  nur  um  eine  bloß  moralische  Be- 
einflussung wie  gegenüber  dem  Parlament,  sondern  direkt  um  die 

132 


Gewinnung  der  Stimmberechtigten  selbst  gehandelt  hätte.  Und 
wenn  schon  bei  Abstimmungen  über  Fragen  der  Innern  Gesetz- 
gebung häufig  eine  anhaltende  Mißstimmung  bei  den  unterlegenen 
Volkskreisen  eintritt,  so  würde  die  Sache  noch  misslicher,  wo  die 
Beziehungen  zu  auswärtigen  Staaten  mit  hineinspielen.  Man  nehme 
nur  etwa  an,  es  wäre  —  entgegen  der  jetzt  vorherrschenden  Ver- 
mutung —  auch  In  der  Volksabstimmung  der  Gotthardvertrag 
ratih'ziert  worden,  und  man  wird  nicht  Im  Zweifel  sein  über  die 
geradezu  unheilvolle  Nachwirkung  eines  solchen  Entscheids  auf 
das  Innere  Leben  unseres  Volks. 

Dass  sich  die  Wogen  des  Unmuts  wegen  der  Entscheidung 
der  Räte  noch  nicht  geglättet  haben,  Ist  begreiflich;  aber  der  Un- 
mut ist  —  zumal  In  politischen  Dingen  —  ein  schlechter  Berater. 
Ein  Fehler  wird  nicht  dadurch  gut  gemacht,  dass  ein  zweiter, 
vielleicht  folgenschwererer,  begangen  wird. 

Der  Kampf  um  den  Gotthardvertrag  war  ohne  Zweifel  kein 
vergeblicher,  wenn  auch  der  Ausgang  anders  war,  als  wir  ihn 
wünschten.  Jeder  von  uns  kann  daraus  sein  Teil  lernen.  So 
empfindlich  der  Schweizer  gegen  jede  auch  berechtigte  Kritik  der 
Zustände  seines  Landes  durch  dritte  Ist,  so  leicht  trägt  er  Aus- 
ländern gegenüber  sein  Herz  auf  der  Zunge,  wenn  er  selbst  mit 
Irgendwelchen  Zuständen  seines  Vaterlandes  nicht  zufrieden  Ist. 
Wenn  dem  Industriellen  oder  Kaufmann  das  Geschäft  nicht  nach 
Wunsch  geht,  muss  einzig  die  Kleinheit  des  Landes  daran  Schuld 
sein,  die  keine  reiche  Entwicklung  zulasse;  wenn  den  Bürger  die 
öffentlichen  Zustände  enttäuschen,  liegt  es  wieder  an  den  engen 
und  kleinlichen  Verhältnissen  der  Schweiz;  und  diese  Klagen 
fließen  Ins  Ohr  des  willig  horchenden  Ausländers,  der  seine 
Schlüsse  zieht.  Was  Wunder,  wenn  bei  manchen  Ausländern  in 
der  Schweiz  die  Ansicht  um  sich  greift,  die  Schweizer  hätten 
immer  mehr  den  Wunsch,  in  einem  großen  Staat  aufzugehen,  um 
seiner  politischen  und  wirtschaftlichen  Segnungen  teilhaftig  zu 
werden.  Nur  so  ist  es  auch  verständlich,  dass  ein  in  der  Schweiz 
angestellter  Reichsdeutscher  sich  erdreisten  durfte,  In  einem  der 
zahlreichen  von  ihm  in  dieser  Sache  bedienten  schweizerischen 
Blätter  die  von  einer  starken  patriotischen  Welle  getragene  Be- 
wegung gegen  den  Gotthardvertrag  als  „die  Verschwörung  der 
Kannegießer"  zu  verhöhnen. 

133 


„Bei  nächster  Gelegenheit  werdet  ihr  Schweizer  Farbe  be- 
kennen müssen,"  sagte  mir  neulich  ein  hervorragender  Ausländer, 
der  mit  vielen  Schweizern  zusammenkommt.  Farbe  bekennen? 
Unsere  Farben  sind  rot  und  weiß;  noch  haben  wir  nicht  den 
Wunsch,  ihnen  schwarz  oder  blau  zuzusetzen. 

ZÜRICH  HANS  SCHULER 

DOD 

BETRACHTUNGEN  ZUR  ANNAHME 
DES  GOTTHARDVERTRAGS 

1.  DIE  ALTE  UND  DIE  NEUE  VOLKSBEWEGUNG 

Es  ist  das  beste  Zeugnis  dafür,  wie  die  Volksbewegung  gegen 
den  Gotthardvertrag  vor  der  Entscheidung  nicht  erlahmte,  dass 
die  117  102  Unterschriften,  die  wir  hier  am  I.Oktober  letzten  Jahres 
meldeten  (Seite  12,  Band  XI),  bis  zum  27.  März  1913  auf  130163 
anwuchsen,  dass  in  Lausanne  und  Genf  Volksversammlungen  ab- 
gehalten wurden,  die  von  zehn-  bis  fünfzehntausend  Bürgern 
besucht  waren,  und  dass  an  der  „Landsgemeinde"  in  Bern  vom 
Ostermontag  nicht  weniger  als  zwölftausend  Mann  teilnahmen. 
Viele  Vertragsgegner  hatten  gefürchtet,  die  Versammlung  könnte 
unwürdig  verlaufen  und  so  dem  guten  Zweck  der  Bewegung  eher 
schaden;  doch  waren  alle  Beteiligten  in  ihrem  Urteil  über  den 
starken  Eindruck,  wie  ihn  gewaltiges  Volksempfinden  in  einer 
ernsten  nationalen  Sache  erzeugen  kann,  einig.  Gegenüber  andern 
Behauptungen  sei  hier  festgestellt,  dass  höchstens  drei-  bis  vier- 
tausend Welschschweizer  an  der  Versammlung  teilnahmen;  von 
den  sechs-  bis  achttausend  Deutschschweizern  war  naturgemäß 
die  Mehrheit  Berner;  es  war  also  dort  etwa  das  gleiche  Verhält- 
nis wie  auf  den  Unterschriftenbogen,  das  heißt  von  den  rund 
130  000  Unterschriften  gehören  rund  45  000  mit  Tessin  der  welschen 
Schweiz  an,  der  Rest  von  zirka  85  000  der  deutschen  Schweiz 
und  den  Schweizern  im  Ausland.  —  Nach  der  Annahme  des 
Vertrags  fanden  in  Lausanne  und  in  Genf  gewaltige  und  würdige 
Protestversammlungen  statt. 

134 


Nachdem  eine  so  mächtige  Voiicsbewegung  von  der  Bundes- 
versammlung abgewiesen  worden  ist,  versteht  es  sich  von  selbst, 
dass  man  sich  nicht  mit  der  Tatsache  abfinden  mag,  sondern  sich 
allgemein  fragt,  was  geschehen  soll,  damit  solche  Dinge  nicht 
wieder  vorkommen,  damit  nicht  nochmals  solche  uns  und  unsere 
Nachkommenschaft  belastenden  Schicksalsfragen  entschieden  wer- 
den, ohne  dass  der  eigentliche  Souverän  etwas  dazu  zu  sagen  hat. 

Diese  Stimmung  wurde  noch  durch  die  Erfahrungen  verstärkt, 
die  man  bei  der  Beratung  des  Vertrags  in  den  eidgenössischen 
Räten  machte.  Im  Nationalrat  wurde  der  Vertrag  mit  108  gegen 
77,  im  Ständerat  mit  33  gegen  9  Stimmen  angenommen;  nur 
zwei  Mitglieder  in  jedem  Kollegium  waren  abwesend.  Lehrreich 
ist  die  Ausscheidung  sowohl  nach  Parteien  als  nach  Kantonen. 
Nach  Kantonen  stimmten: 

Nationalrat    Ständerat  Nationalrat    Ständerat 


Ja 

Nein 

Ja 

Nein 

Ja 

Nein 

Ja 

Nein 

Zürich 

17 

7 

1 

1 

Schaffhausen 

1 

1 

2 

— 

Bern 

20 

12 

2 

— 

Appenzell  A. 

-Rh. 

2 

1 

1 

— 

Luzern 

8 

— 

2 

— 

Appenzell  I.- 

Rh. 

— 

1 

1 

— 

Uri 

1 

— 

2 

— 

St.  Gallen 

7 

7 

1 

1 

Schwyz 

3 

— 

2 

— 

Graubünden 

3 

3 

1 

1 

Obwalden 

1 

— 

1 

— 

Aargau 

10 

2 

2 

— 

Nidwaiden 

1 

— 

1 

— 

Thurgau 

5 

2 

2 

— 

Glarus 

— 

2 

2 

— 

Tessin 

8 

— 

2 

— 

Zug 

— 

2 

2 

— 

Waadt 

1 

15 

1 

1 

Freiburg 

4 

3 

2 

— 

Wallis 

1 

5 

1 

1 

Solothurn 

4 

2 

2 

— 

Neuenburg 

— 

6 

— 

2 

Basel-Stadt 

4 

3 

1 

— 

Genf 

2 

6 

— 

2 

Basel-Land 

4 

— 

1 

— 

Total 

108 

77 

33 

9 

Daraus  geht  hervor,  dass  bei  der  Abstimmung  die  nationalen 
Gesichtspunkte  die  geringere  Rolle  spielten  und  dass  vorwiegend 
Rücksichten  für  eine  Partei  oder  für  eine  Region  vorherrschten. 
Es  ist  doch  eigentümlich,  dass  alle  Gotthardkantone  in  beiden 
Räten  (mit  Ausnahme  der  drei  Sozialdemokraten  von  Baselstadt, 
die  wie  ihre  Partei  gestimmt  haben)  lauter  bejahende  Stimmen 
aufweisen.  Es  ist  ferner  merkwürdig,  dass  alle  Mitglieder  der 
sozialdemokratischen  Partei  und  mit  einer  Ausnahme  auch  der 
demokratischen  Partei  (Zimmermann)  gegen  den  Vertrag  stimmten, 
während  die  freisinnig  -  demokratische  Fraktion  der  deutschen 
Schweiz  mit  vier  Ausnahmen  (Frey,  Usteri,  Michel  und  Vital)  für 
den  Vertrag  eintrat  und  sich  wie  eine  Leibgarde  um  den  Bundes- 

135 


rat  scharte.  Die  Rechte  war  weniger  wegen  ihrer  Stellung  zum 
Bundesrat  als  aus  regionalen  Gründen  gespalten.  In  beiden  Räten 
stimmten  29  Mitglieder  dafür  und  23  dagegen ;  die  welschen  Mit- 
glieder des  Zentrums  stimmten  mit  den  beiden  Bernern  gegen, 
die  deutschen  Mitglieder  für  den  Vertrag. 

Es  ist  zum  mindesten  sonderbar,  dass  alle  der  Gotthardzone 
angehörenden  und  an  der  Debatte  teilnehmenden  Mitglieder  des 
National-  und  Ständerates  aller  Parteien  von  Basel  bis  Chiasso  be- 
teuerten, nur  aus  nationalen  Rücksichten /w>  den  Vertrag  zu  stimmen, 
während  alle  Redner  der  welschen  Schweiz  mit  Ausnahme  der 
Herren  Charbonet  und  Thelin  nicht  weniger  überzeugt  ihre  rein 
nationalen  Motive  gegen  den  Vertrag  in  den  Vordergrund  stellten. 
Dass  regionale  Erwägungen  mittelbar  für  und  gegen  den  Vertrag 
mitspielten,  unterliegt  keinem  Zweifel,  und  zwar  ohne  dass  man 
ein  Recht  hat,  dem  Einzelnen  Verletzung  nationaler  Interessen 
vorzuwerfen.  Die  Gründe,  die  für  Annahme  oder  Ablehnung  des 
Vertrages  sprachen,  waren  in  der  Tat  so  stark,  dass  es  mensch- 
lich und  natürlich  ist,  wenn  man  denjenigen  Gründen  am  liebsten 
Gehör  schenkte,  die  einem  noch  aus  andern  Erwägungen  am 
nächsten  lagen.  Und  wenn  man,  wie  die  Gotthardkantone,  erst 
noch  den  einstimmigen  Beschluss  des  Bundesrates  und  die  ein- 
stimmige Billigung  der  Generaldirektion  vor  sich  hat,  die  einen 
jeden  beschworen,  für  den  Vertrag  einzustehen,  so  ist  es  minde- 
stens entschuldbar,  wenn  viele  für  regionale  Interessen  nicht  ganz 
taub  blieben.  Dabei  soll  zugestanden  werden,  dass  mancher  mit 
Nein  gestimmt  hätte,  hätte  er  nicht  wenigstens  bei  der  Frage  der 
Kontrolle  eine  Einmischung  des  Auslandes  befürchtet.  Darüber 
konnte  man  in  guten  Treuen  optimistisch  und  pessimistisch 
denken;  alle  andern  Fragen,  die  Meistbegünstigung,  die  Herab- 
setzung der  Bergtaxen,  spielten  daneben  eine  geringere  Rolle. 

Trotz  alledem  machte  das  einstimmige  Eintreten  der  Zentral- 
schweiz gegen  den  Vertrag  einen  bemühenden  Eindruck.  Man 
war  sonst  bei  ihr  an  ein  besonders  starkes  Empfinden  für  Fragen 
der  Unabhängigkeit  und  der  Selbständigkeit  der  Schweiz  gewohnt; 
man  denke  an  die  Reden  der  verstorbenen  Segesser,  Wirz,  Schu- 
macher und  anderer.  Es  gibt  keine  Urschweiz  mehr!  Das  war 
ein  bitteres  Wort,  das  man  oft  hören  musste. 

136 


Eine  gewisse  Erklärung  hiezu  gab  die  Antwort  von  Regie- 
rungsrat Walther  auf  den  Vortrag  von  Nationalrat  Gobat  in  Luzern; 
er  führte  aus,  Luzern  verdanke  der  Gotthardlinie  seinen  Auf- 
schwung und  man  dürfe  zu  nichts  stimmen,  was  die  Gotthard- 
interessen  gefährden  könnte.  Man  scheint  also  die  falsche  Parole 
ausgegeben  zu  haben,  es  gehe  gegen  den  Gotthard! 

Die  Berner  waren  in  einer  ganz  eigenen  Lage.  Ihre  gut 
schweizerische  Gesinnung  bewiesen  sie  ja  zum  Beispiel  beim  Bau 
der  Gotthardbahn  zur  Genüge.  Aber  jetzt,  wo  sie  vor  dem  Rück- 
kauf eines  Hundertmillionenwerkes  stehen,  kann  man  die  Vorsicht 
der  dem  Unternehmen  Nahestehenden  wenigstens  menschlich  be- 
greifen. Diese  Herren  mussten  sich  weiter  sagen,  dass  der  Lötsch- 
berg,  zu  dessen  Erstellung  der  Kanton  Bern  nach  der  Baubewilli- 
gung für  den  Simplon  das  volle  Recht  hatte,  die  deutsche  Re- 
gierung geradezu  darauf  stieß,  die  Hand  auf  den  Gotthard  zu 
legen,  und  ein  nicht  unberechtigtes  Taktgefühl,  das  wir  nicht 
näher  beschreiben  wollen,  stimmte  sie  zurückhaltend,  gegen  den 
ausdrücklichen  Willen  von  Bundesrat  und  Generaldirektion  Stel- 
lung zu  nehmen. 

Was  die  welsche  Schweiz  betrifft,  so  ist  es  eine  große  Un- 
billigkeit, ihr  anzudichten,  sie  habe  aus  Rücksicht  für  Simplon 
oder  Lötschberg  eine  vertragsfeindliche  Haltung  eingenommen, 
ihre  regionalen  Bedenken  waren  höherer  Art:  sie  befürchtete  vom 
Vertrag  eine  zunehmende  Germanisierung  der  Schweiz  in  verkehrs- 
politischen Fragen  und  dies  nicht  mit  Unrecht.  Dass  diese  Furcht 
sie  ganz  anders  bedrücken  musste  und  heute  noch  bedrückt,  liegt 
auf  der  Hand. 

Die  Behandlung  einer  Schicksalsfrage  für  die  ganze  Schweiz, 
wie  sie  der  Gotthardvertrag  darstellt,  nach  großenteils  regionalen 
Gesichtspunkten  erweckt  Bedenken  für  die  Behandlung  ähnlicher 
Verträge  für  die  Zukunft.  Man  sagt  nicht  ohne  Recht,  es  sei  ein 
Hohn  auf  unsere  demokratische  Verfassung,  wenn  unkündbare, 
die  Nachkommenschaft  belastende  Verträge  durch  bloßen  Beschluss 
der  großenteils  von  regionalen  Gesichtspunkten  geleiteten  Bundes- 
versammlung abgeschlossen  werden  können,  ohne  dass  das  Volk 
ein  Wort  mitreden  kann.  Das  einzige  Recht,  das  es  besitzt,  das 
Petitionsrecht,  ist  im  Grunde  des  Souveräns,  der  das  Volk  nun 
einmal  ist,  unwürdig  und  soll  das  Volk  nicht  ein  zweites  Mal  in 

137 


eine  beschämende  Lage  bringen.  Diese  Erwägung  und  nicht  ein 
übel  angebrachtes  Rachegefühl  war  der  eigentliche  Beweggrund 
zu  einem  Initiativbegehren,  wonach  gewisse  Staatsverträge  dem 
fakultativen  Referendum  unterstellt  werden  sollen. 

Daneben  hat  allerdings  noch  das  Moment  mitgespielt,  dass 
in  der  welschen  Schweiz  über  die  Annahme  des  Vertrags  eine 
derartige  Aufregung  geherrscht  hat,  dass  man  abgesehen  von 
den  erwähnten  Gesichtspunken  fast  wünschen  musste,  durch  irgend 
einen  Blitzableiter  die  gefährliche  Verstimmung  abzulenken.  Das 
ist  wohl  mit  ein  Grund,  warum  das  waadtländische  Aktions- 
komitee gegen  den  Gotthardvertrag  auf  sofortige  Einleitung  der 
Staatsvertragsinitiative  drang,  bevor  nur  das  schweizerische  Komitee 
Zeit  fand,  die  Sache  zu  besprechen. 

Aus  der  Erwägung  heraus,  dass  man  auch  den  Schein  mei- 
den müsse,  als  ob  es  sich  bei  der  Staatsvertragsinitiative  um 
einen  bloßen  Ausdruck  des  Ärgers  handle,  ist  der  Antrag  auf  sofor- 
tige Auflösung  des  großen  Aktionskomitees  durchgedrungen.  Neue 
Leute  sollen  die  Bewegung  leiten,  auch  solche,  die  für  den  Ver- 
trag eingenommen  waren,  aber  aus  Billigkeitsgefühl  für  die  ge- 
wünschte  Erweiterung  der  Volksrechte  einzutreten  gewillt  sind. 

Der  Beschluss  des  nunmehr  aufgelösten  großen  Aktions- 
komitees, dass  die  vom  waadtländischen  Komitee  eingeleitete 
Initiative  unterstützt  werden  müsse,  ergab  sich  von  selbst,  nach- 
dem schon  letzten  Herbst  zwei  großenteils  aus  Mitgliedern  des 
Aktionskomitees  bestehende  Versammlungen  in  Lausanne  und 
Zürich  zu  Händen  des  großen  Komitees  eine  ähnliche  Initiative 
für  den  Fall  der  Annahme  des  Vertrages  angeregt  hatten.  Seit 
letztem  Herbst  zeigte  sich  oft  eine  starke  Strömung,  unter  Um- 
ständen sofort,  vor  der  Beratung  der  Vorlage  durch  die  Räte,  los- 
zuschlagen. Man  verzichtete  darauf  hauptsächlich  auf  den  Rat  ver- 
tragsgegnerischer Parlamentarier  hin,  deren  freie  Stellung  im  Rat 
man  nicht  beeinträchtigen  wollte.  Es  handelt  sich  also  nicht  um 
eine  überstürzte  Aktion,  sondern  um  eine  Bewegung,  deren  Zustande- 
kommen schon  seit  Monaten  als  eine  gegebene  Sache  galt. 


Man  hat  nun  die  Frage  aufgeworfen,  was  das  Volk  denn  von 
Staatsverträgen  verstehe?   und   ob   das  Volk   bei   Abstimmungen 


138 


sich  denn  nicht  auch  vielfach  nach  materiellen  und  regionalen 
Gesichtspunkten  richte?  Das  ist  zum  Teil  richtig,  aber  dann  hat 
wenigstens  das  Volk  selbst  über  sein  Schicksal  befunden  und  trägt 
nicht  bloß  die  Konsequenz  der  „Realpolitik"  einzelner  Mitglieder 
der  obersten  gesetzgebenden  Behörden.  Im  übrigen  ist  die  Bilanz, 
die  man  über  das  Resultat  der  Referendums-Abstimmungen  ziehen 
kann,  gewiss  nicht  schlecht,  und  durch  die  ganze  Bewegung  gegen 
den  Qotth ardvertrag  ist  dem  Schweizervolk  für  den  gesunden  Sinn 
und  politischen  Takt  auch  bei  Staatsvertragsfragen  ein  glänzendes 
Zeugnis  ausgestellt  worden. 

Wenn  man  Bedenken  gegen  berechtigte  Volksrechte  hat,  so 
soll  man  diese  überhaupt  abschaffen.  Da  sie  aber  einmal  da  sind, 
so  ist  die  logische  Konsequenz  der  ganzen  Stellung  des  Volkes 
als  Spitze  des  Staatshaushaltes  die  Unterstellung  gewisser  Staats- 
verträge unter  den  Volkswillen.  Wir  sagen  gewisser  Verträge. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  eine  Form  gesucht  werden  musste» 
die  den  Abschluss  von  Zolltarif-,  Meistbegünstigungs-,  Nieder- 
lassungs-  und  andern  Verträgen,  die  zum  laufenden  Bundeshaus- 
halt gehören,  nicht  erschwert  oder  in  Frage  stellt. 

Wir  möchten  bei  dieser  Gelegenheit  doch  an  die  Bemer- 
kungen erinnern,  die  Bundesrat  Forrer  noch  als  Nationalrat  im 
Bericht  an  die  Bundesversammlung  über  die  Genehmigung  der 
Berner  Konvention  zum  Schutz  von  Werken  der  Literatur  und 
Kunst  vom  Q.September  1886  gemacht  hat: 

Indem  so  der  völkerrechtliche  Vertrag  in  das  materielle  Privat-  und 
Strafrecht  des  einzelnen  Staats  eingreift,  ergibt  sich  staatsrechtlich  der 
Satz,  dass  im  einzelnen  Staat  die  Übereinkunft  nur  auf  dem  Weg  ge- 
nehmigt werden  kann,  auf  dem  ein  giltiges  Gesetz  zustande  kommt. 
Wendet  man  diesen  Satz  auf  die  Schweiz  an,  so  sollte  folgerichtig  die 
Genehmigung  auf  dem  Wege  des  Erlasses  eines  Gesetzes  ausgesprochen 
werden.  Die  Bundesverfassung  hat  aber  dieses  Verhältnis  anders  ge- 
ordnet und  überlässt  in  Artikel  85,  Absatz  5,  solche  Genehmigungsbe- 
schlüsse dem  souveränen  Entscheid  der  Bundesversammlung,  während 
einem  Gesetz  die  sogenannte  Referendumsklausel  beigefügt  werden 
muss  (Artikel  89  der  Bundesverfassung).  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass 
diese  Ungleichheit  oft  Unzukömmlichkeiten  im  Gefolge  hat,  weil  auf 
diese  Weise  der  Schweizer  Aktivbürgerschaft  die  Teilnahme  an  der  f 
Gesetzgebung  versagt  wird,  sobald  es  beliebt,  die  betreffende  Materie 
international  zu  ordnen. 

Jedenfalls  folgt  aus  dem  Gesagten  die  eine  Regel  für  das  Verhalten 
der  Eidgenössischen  Räte:  Es  soll  nicht  auf  dem  außergewöhnlichen 
Wege  des  völkerrechtlichen  Vertrages  wichtiges  neues  internes  Recht 

139 


geschaffen  und  nicht  das  auf  dem  Wege  der  ordentlilchen  Gesetzgebung 
zustande  gekommene  eidgenössische  Recht  durch  einen  völkerrechtlichen 
Vertrag  erheblich  geändert  werden. 

Das  bernische  Patriziat  daciite  entschieden  demokratischer 
als  unsere  führenden  Politiker,  als  die  Regierung  beim  Abschluss 
eines  wichtigen  Vertrags  mit  dem  Herzog  von  Savoyen  im  ganzen 
Land  herum  fragen  ließ,  wie  man  dächte,  und  die  Volksmeinung 
feststellen  ließ.  Die  ideale  Hoffnung,  die  bedeutsame  Gotthard- 
vertragsdebatte  in  den  Eidgenössischen  Räten  habe  auf  die  Dauer 
regenerierend  gewirkt  und  man  werde  beim  Abschluss  gleich  be- 
deutsam.er  Staatsverträge  vorsichtiger  vorgehen,  ist  höchst  trü- 
gerisch. Auch  da  werden  sich  alle,  welche  die  tatsächlichen  Ver- 
hältnisse aus  eigener  Erfahrung  kennen,  auf  den  Standpunkt  der 
„Realpolitik"  stellen. 

Die  Frage  der  Unterstellung  von  Staatsverträgen  unter  das 
Referendum  ist  keineswegs  neu.  Bei  der  Beratung  über  die  Re- 
vision der  Bundesverfassung  im  Nationalrat  hat  schon  Segesser 
den  Antrag  gestellt,  Artikel  89  sei  so  zu  fassen:  „Bundesgesetze 
und  Staatsverträge  mit  dem  Auslande  unterliegen  der  Abstimmung 
des  Volkes."  Am  27.  Januar  1872  wurde  sein  Antrag  aber  mit  67 
gegen  31  Stimmen  verworfen,  also  immerhin  mit  erheblicher 
Minderheit. 

Abgelehnt  wurde  auch  die  Erheblichkeitserklärung  der  Motion 
Fonjallaz-Decurtins  vom  3.  Juni  1896,  dass  die  Handelsverträge 
dem  Volke  zur  Annahme  oder  Verwerfung  unterbreitet  werden 
sollen,  sobald  30  000  Schweizerbürger  oder  acht  Kantone  ein 
dahingehendes  Begehren  stellen.  Die  Abweisung  im  Nationalrat 
mit  82  Nein  gegen  6  Ja  war  vollkommen  berechtigt.  Niemals 
kann  es  sich  darum  handeln,  die  Freiheit  der  Eidgenössischen 
Räte  beim  Abschluss  der  genannten  Verträge  einzuschränken.  Anders 
verhält  es  sich  mit  eigentlichen  die  Nachkommenschaft  belastenden 
Schicksalsverträgen,  wie  Simplon-  und  Gotthardvertrag,  die  un- 
kündbar abgeschlossen  wurden. 

Das  waadtländische  Komitee  gegen  den  Gotthardvertrag  war 
bestrebt,  dieser  Forderung  so  weit  als  möglich  nachzuleben.  Es 
hat  für  die  Initiative  folgenden  Text  festgelegt: 

Art.  89,  alinea  3:  Les  traites  internaüonaux  conclus  pour  une 
dure'e  indeterminee  ou  pour  plus  de  quinze  ans  sont  soumis  egalement 
ä  l'adopüon  ou  au  rejet  du  peuple,  si  la  demande  en  est  faite  par 
30  000  citoyens  actifs  ou  par  8  cantons. 

140 


Der  dem  französischen  angepasste  deutsche  Text  lautet: 

Staatsverträge  mit  dem  Ausland,  welche  unbefristet  oder  für  eine 
Dauer  von  mehr  als  15  Jahren  abgeschlossen  sind,  sollen  ebenfalls 
dem  Volk  zur  Annahme  oder  zur  Verwerfung  vorgelegt  werden,  wenn 
es  von  30  000  stimmberechtigten  Schweizerbürgern  oder  von  8  Kan- 
tonen verlangt  wird. 

Es  war  dies,  soweit  bekannt,  bis  zu  einem  gewissen  Grad  ein 
Kompromiss  zwischen  solchen,  die  engere  Grenzen  ziehen,  und 
andern,  die  weniger  weit  gehen  wollten.  Dass  der  Text  der  Er- 
neuerung wenigstens  den  jetzt  in  Kraft  befindlichen  Handels-  und 
Meistbegünstigungsverträgen  nicht  entgegensteht,  geht  aus  einer 
amtlichen  Tabelle  des  Bundesrates  hervor. 

In  dieser  nachstehenden  Tabelle  des  bundesrätlichen  Geschäfts- 
berichts sind  alle  am  1.  März  1913  in  Kraft  stehenden,  ganz  oder 
teilweise  den  Handel  betreffenden  Verträge  und  Abkommen  auf- 
geführt. Die  mit  *  bezeichneten  Verträge  sind  sogenannte  Meist- 
begünstigungsverträge  und    enthalten    keine   Tarifvereinbarungen. 

Staaten  Inkrattsetzung  ^^^^^ 

Belgien* 1899  — 

Bulgarien*  Notenaustausch  vom  \2.j\l.  Februar  1906. 

Chile* 1899  - 

Kongostaat* 1890  - 

Dänemark* 1875  — 

Deutsches  Reich: 

Handelsvertrag  ....  1892  "i  ,.    y,,    ._._ 

Zusatzvertrag     ....  1906/  öl.  All.  lyi/ 

Exclave  Büsingen   ....  1896  — 

Ecuador* 1889  — 

Frankreich : 

Handelsvertrag  ....  1906  — 
Grenznachbarliche   Ver- 
hältnisse       1882  — 

—  Zusatzartikel     .    .    .  1895  — 

Genf  und  Zone      .    .    .  1883  — 

Grenz-Weidgang    .    .    .  1912  — 

Tunis* 1897  Unbestimmt 

Griechenland* 1887  — 

Großbritanien* 1856  — 

Handelsmuster    ....  1907  Unbestimmt 

Italien 1905  u.  1906  31.  VII.  1917 

—  Pharm.  Produkte    .    .  1907  Unbestimmt 

Japan* 1911  16.  VII.  1923 

Kolumbien* 1909  — 

Montenegro* 1911  — 

141 


Staate  Inkraftsetzung  ^auer 

Niederlande* 1878  — 

Norwegen*    Notenaustausch  vom  5./22.  Mai  1906. 
Österreich-Ungarn  ....            1906  31.  XII.  19171) 

Persien* 1874  — 

Portugal* 1907  — 

Rumänien* HH]  31.  XII.  19172) 

Russland* 1873                             — 

Salvador 1855                            — 

Serbien 1907  31.  XII.  1917 

Spanien 1906  31.  XII.  1917 

Türkei*    Notenaustausch  vom  22.  III.  1890. 

Handelsmuster    ....  1912  Unbestimmt 

Vereinigte  Staaten  3)   .    .    .  1855                            — 

Wo  nichts  angegeben  ist,  dauert  der  Vertrag  noch  bis  zum  Ablauf  von 
12  Monaten  nach  erfolgter  Kündigung. 

1)  Der  Vertrag  kann  mit  Rücksicht  auf  das  zollpolitische  Verhältnis 
zwischen  Österreich  und  Ungarn  schon  auf  31.  XII.  1915  gekündigt  werden. 

2)  Durch  das  Zusatzabkommen  vom  29.  XII.  1904  ist  die  1893er  Über- 
einkunft bis  Ende  1917  verlängert  worden. 

3)  Die  Artikel  8  bis  12  (Meistbegünstigung)  sind  von  der  Regierung 
der  Vereinigten  Staaten  gekündigt  worden  und  am  24.  März  1900  erloschen. 
Provisorisch  besteht  gegenseitige  autonome  Meistbegünstigung. 

Die  Zolltarifverträge  (Handeisverträge)  werden  gewöiinlich 
auf  10  bis  13  Jalire  abgeschlossen,  die  bloßen  Meistbegünstigungs- 
verträge in  der  Regel  auf  unbestimmte  Zeit,  aber  mit  Kündigungs- 
klausel. Die  bestehenden  Verträge  fallen  somit  bei  der  Erneuerung 
unter  den  selben  Bedingungen  nicht  unter  die  Wirkung  der  Initia- 
tive, ebensowenig  die  Niederlassungsverträge. 

Nach  Ansicht  der  Initianten  ist  nicht  einzusehen,  warum  eine 
solche  Initiative  das  Land  in  irgend  welche  Aufregung  versetzen 
soll.  Es  handelt  sich  um  die  Ausfüllung  einer  entschiedenen  Lücke 
in  der  Verfassung,  die  erst  durch  die  Gotthardbewegung  und  durch 
die  Notwendigkeit  der  des  Souveräns  wenig  würdigen  Petitions- 
form ganz  klar  geworden  ist.  Jedenfalls  ist  sie  allen  denen  sehr 
deutlich  geworden,  die  gegen  den  Vertrag  gefochten  und  die  eine 
gewisse  Scham  empfunden  haben,  dass  das  Volk  in  der  wichtigsten 
Frage  nur  auf  diese  demütigende  und  untaugliche  Weise  sein 
Selbstbestimmungsrecht  wahren  kann. 

Ob  der  vorgeschlagene  Text  allen  Verhältnissen  so  weit  als 
möglich   angepasst  ist,  darüber   werden   die    Meinungen  ausein- 

142 


andergehen,  auch  in  Kreisen,  die  der  Initiative  grundsätzUch  sym- 
pathisch gegenüberstehen.  Man  wird  sich  auch  nicht  ablehnend 
verhalten,  wenn  glaubhaft  nachgewiesen  wird,  dass  die  Interessen 
des  laufenden  Bundeshaushaltes  eine  längere  Frist  als  15  Jahre 
verlangen. 

Die  Hauptsache  ist  jetzt,  dass  man  Bundesrat  und  eidgenössische 
Räte  veranlasst,  sich  mit  einer  Frage  zu  beschäftigen,  mit  der  sie  sich 
sonst  nicht  beschäftigt  hätten,  damit  nämlich,  wie  die  angeführte 
Lücke  der  Verfassung  ausgefüllt  werden  kann.  Es  soll  sich,  wie 
gesagt,  nicht  um  Verträge  handeln,  die  den  laufenden  Betrieb  der 
Staatsverwaltung  betreffen,  wie  Zoll-,  Handels- und  Niederlassungs- 
verträge und  vielleicht  noch  andere.  Verträge  wie  der  Simplon- 
und  Qotthardvertrag  gehören  aber  nicht  zum  laufenden  Betrieb;  das 
sind  Schicksalsiragen,  über  die  das  Volk  ein  Recht  haben  soll, 
mitzusprechen. 

Wäre  es  denn  ein  Unglück  gewesen,  wenn  das  Schweizervolk 
kraft  des  Referendums  den  Qotthardvertrag  verworfen  hätte?  Die 
deutschen  und  die  italienischen  Regierungsunterhändler  hätten 
sicherlich  den  Bundesrat  anfangs  nicht  so  rücksichtslos  behandelt, 
wenn  sie  gewusst  hätten,  der  Vertrag  könne  vor  das  Volk  gezogen 
werden.  In  der  Bewegung  gegen  den  Qotthardvertrag  hat  das 
Volk  mehr  politisches  Empfinden  gezeigt  als  die  Mehrheit  der 
Behörden  und  als  der  Bundesrat.  Die  Haltung  des  Volkes  bei 
der  Bewegung  gegen  den  Qotthardvertrag  ist  nach  Ansicht  der 
Initianten  eine  Empfehlung  für  die  Initiative  und  diese  kann  und 
wird,  wenn  richtig  formuliert,  eine  Stütze  für  unser  Staatswesen 
werden  und  nicht  das  Qegenteil. 

Die  Textfrage  kann  bei  der  Beratung  durch  die  eidgenössi- 
schen Behörden  endgültig  erledigt  werden.  Man  kann  sich  wie 
bei  der  Wasserrechtsinitiative  über  eine  Form  verständigen.  Die 
Hauptsache  ist,  dass  die  Behörden  sich  nicht  unnahbar  zeigen 
und  einfach  vom  hohen  Ross  herunter  dem  Volk  die  Verwerfung 
der  Initiative  beantragen.  Da  könnten  sie  leicht  die  Rechnung 
ohne  den  Wirt  machen  und  die  Qeister,  die  der  Qotthardvertrag 
rief,  dürften  den  Behörden  nochmals  einen  Streich  spielen. 

BERN  J.  STEIGER 

(Fortsetzung  folgt.) 

DOD 

143 


HAUT  LES  COEURS! 

La  Convention  du  Gothard  a  ete  acceptee,  non  par  l'ensem- 
ble  du  peuple  suisse  ni  meme  de  ses  representants,  mais  par 
les  Interesses.  Parmi  les  deputes  des  cantons  que  traverse  la 
ligne,  45  ont  vote  pour  la  ratification  et  7  l'ont  rejetee;  dans  le 
reste  de  la  Suisse,  70  ont  vote  contre,  et  63  pour.  Ces  chiffres 
sont  suffisamment  clairs.  Si  Ton  tient  encore  compte  du  vote 
de  Berne,  interesse  indirectement  ä  l'approbation,  ä  cause  du 
Loetschberg,  la  majorite  rejetante  s'eleve  ä  15  voix,  malgre  la 
question  de  confiance  que  le  Conseil  federal  avait  nettement 
posee. 

Ce  serait  mal  connattre  nos  tendances  que  de  voir,  dans  ce 
rappel  de  chiffres  eloquents,  une  tentative  de  dresser  certains 
cantons  contre  d'autres  et  d'aggraver  encore  le  mal  que  nous 
fera  par  eile  meme  la  Convention  du  Gothard  desormais  defini- 
tive. Teile  n'est  pas  notre  Intention.  Nous  en  avons  d'autant 
moins  le  droit  que,  nous  aussi,  nous  n'avons  pas  toujours  su 
mettre  l'interet  national  au-dessus  des  considerations  materielles^ 
et  s'il  se  füt  agi  de  la  Faucille,  du  Mont-d'Or  ou  du  Simplon, 
au  lieu  du  Gothard,  nous  aurions  ä  faire,  en  nous  frappant  la 
poitrine,  des  reflexions  plus  ameres  encore.  Ne  soyons  pas  pha- 
risiens  et  ne  remercions  pas  Dieu  d'etre  les  seuls  purs  et  d'avoir 
defendu  les  interets  sacres  du  pays  contre  les  egarements  de 
quelques  cantons.  Si  nous  avons  une  action  de  gräce  ä  adresser 
au  ciel,  c'est  seulement  que  nos  interets  ne  fussent  pas  en  jeu. 
Nous  protestons  vigoureusement  contre  ceux  qui  nous  accusent 
d'avoir  obei  ä  des  motifs  malveillants  vis-a-vis  du  St-Gothard. 
Ce  n'est  pas  vrai  et  notre  bonheur  a  ete  precisement  de  pouvoir 
juger  la  question  en  toute  independance  d'esprit  parce  que  nos 
interets  materiels  ne  se  trouvaient  ni  engages  ni  menaces. 

Dans  l'etat  actuel  de  notre  esprit  public,  dans  tous  les  can- 
tons, la  majorite  du  peuple,  placee  dans  la  Situation  oü  se  trou- 
vaient Lucerne  et  le  Tessin,  aurait  agi  de  meme,  et  cette  cons- 
tatation  doit  enlever  ä  nos  reproches  toute  aigreur.  II  n'en  est  pas 
moins  vrai  que  ces  cantons  ont  impose  ä  la  Suisse,  dans  un  in- 
teret  pecuniaire,  un  traite  nefaste. 

144 


Si  nous  n'avons  pas  le  droit  de  le  leur  reprocher,  nous  de- 
vons  cependant  saisir  cette  occasion  pour  faire  un  examen  de 
conscience.  La  politique  materielle  est  le  mal  qui  ronge  la  Suisse 
et  contre  lequel  nous  devons  reagir,  A  cöte  des  mille  petites  ca- 
pitulations  qu'ont  dejä  imposees  ä  notre  pays  les  interets  höte- 
liers,  qu'est  donc  la  Convention  du  Gothard?  une  goutte  d'eau 
dans  la  vaste  mer,  et  son  importance  reelle  est  surtout  d'etre  le 
Symbole  d'un  etat  d'esprit,  le  pus  qui  decele  la  plaie. 

Cette  question  a  un  autre  cöte  que  nous  ne  devons  pas 
passer  sous  silence,  Tandis  que,  dans  la  Suisse  romande,  eile  a 
uni  le  peuple  et  ses  representants  dans  une  protestation  presque 
unanime,  eile  a  pris  nettement,  dans  les  cantons  allemands,  le 
caractere  d'une  question  de  parti.  Sur  93  deputes  de  la  Suisse 
allemande  qui  ont  accepte  le  traite,  il  y  a  80  radicaux  et  les 
13  autres  appartiennent  sans  exception  ä  la  region  du  Gothard; 
au  contraire,  sur  37  qui  Ton  rejete,  il  y  a  au  total  3  radicaux, 
MM.  Frey,  Michel,  et  Vital.  11  est  clair  qu'on  a  vote  comme  un 
seul  homme  sur  un  mot  d'ordre  et  la  conversion  in  extremis 
de  M.  Odinga  en  est  une  preuve  süffisante.  Bien  que  notre  droit 
public  ne  connaisse  pas  le  vote  de  confiance,  le  Conseil  federal 
s'en  est  fait  accorder  un  par  les  Chambres  et  le  parti  radical  a 
commande  ses  bataillons  pour  sauver  le  prestige  menace  du 
pouvoir  executif. 

Nous  trouvons  donc,  dans  cette  question  si  hautement  na- 
tionale, les  deux  ennemis  de  notre  politique  ligues  contre  la 
Suisse,  l'esprit  materialiste  et  l'esprit  de  parti,  et  Ton  est  parvenu 
ä  sauver  ä  la  fois  les  interets  de  certains  cantons  et  le  prestige 
du  Conseil  federal,  menaces,  pretendait-on,  par  le  mouvement 
populaire.  Nous  croyons  utile  de  faire  cette  constatation  de  la 
fa^on  la  plus  claire,  car  eile  doit  etre  la  base  de  nos  decisions 
futures.  Au  risque  d'etre  en  desaccord  avec  beaucoup  des  adver- 
saires  de  la  Convention,  nous  devons  avouer  que  le  vote  du 
Parlement  federal  nous  parait  plus  grave  moralement  que  par 
ses  consequences  pratiques.  II  y  a  eu  des  exagerations  commises 
au  cours  de  la  polemique;  on  peut  le  reconnaitre  sans  honte, 
car  cela  appartient  ä  l'essence  meme  d'une  campagne  politique. 
Si  le  Conseil  federal  a  decouvert  la  Suisse  vis-ä-vis  de  l'etranger, 
au   point  de  vue  materiel,   certains  adversaires  l'ont  decouverte 

145 


au  point  de  vue  moral.  L'argument  de  la  souverainete  etait  ä 
deux  tranchants  et  n'eiait  meme  pas  absolument  exact;  on  aurait 
du  en  user  avec  plus  de  prudence. 

La  demonstration  juridique  des  adversaires  de  la  Convention 
devait  porter  principalement  sur  ce  point  que  l'assimilation  de  la 
Suisse  et  des  Chemins  de  fer  federaux  est  abusive.  Les  chemins  de  fer 
sont  la  propriet^  de  l'Etat,  mais  ils  ont  une  personnalite  juridique 
distincte.  L'Allemagne  pretendait  que  la  Convention  de  1869  ne 
pouvait  pas  demeurer  en  vigueur  parce  qu'elle  prevoyait  un  con- 
tröle  de  la  Confederation  sur  la  Compagnie;  la  propriete  passant 
ä  l'Etat  le  contröle  fait  defaut,  et  le  contractant  de  1869,  la  Suisse, 
n'a  plus  la  meme  qualite;  d'autre  part  une  condition  essentielle 
du  traite  devient  inapplicable  et  l'on  est  oblige  de  conclure  un 
nouvel  accord.  Teile  etait  l'opinion  du  rapporteur  de  la  commis- 
sion  du  Reichstag. 

Ce  raisonnement  est  sans  force  des  l'instant  que  la  Confe- 
deration et  les  chemins  de  fer  federaux  sont  deux  personnalites 
distinctes  comme  elles  le  sont  en  fait.  Mais  s'il  en  est  ainsi,  ce 
sont  les  chemins  de  fer  qui  ont  abandonne  une  partie  de  leur 
souverainete  et  non  pas  la  Suisse.  C'est  l'evidence  meme.  La 
souverainete  est  une  notion  juridique  qui  se  trouve  bien  au- 
dessus  de  la  clause  de  la  nation  la  plus  favorisee  et  il  faut  forcer 
la  langue  pour  pretendre  que  notre  pays  est  maintenant  diminue 
vis-ä-vis  de  l'etranger. 

La  Convention  du  Gothard  est  une  mauvaise  affaire;  eile 
est  le  Symbole  et  la  preuve  de  l'insuffisance  diplomatique  de  nos 
autorites  autant  que  des  defauts  de  notre  Systeme  politique.  Mais 
eile  n'est  pas  finis  Helvetiae  et  ceux  qui,  au  lendemain  de  la 
ratification,  oseraient  encore  le  pretendre,  chargeraient  sur  leurs 
epaules  une  lourde  responsabilite.  C'est  un  abus  de  mots  que 
de  faire  resider  la  souverainete  d'un  pays  dans  une  question  de 
tarifs  ferroviaires. 

Mais  si  l'importance  intrinseque  de  la  Convention  n'est  pas 
aussi  grande  qu'on  l'a  pretendu,  son  adoption  ne  risque  pas 
moins  de  dechainer  sur  notre  pays  une  crise  politique  de  la 
plus  haute  gravite.  On  en  aper^oit  dejä  les  signes  avant-coureurs 
et  la  prudence  exige  que  nous  y  soyons  prepares. 

146 


Oserions-nous  dire  que  cette  crise  nous  paraissait  depuis 
longtemps  necessaire  et  que  nous  en  attendons  plus  de  bienfaits 
que  de  mal? 

Nous  ne  parlons  pas  naturellement  d'une  aigreur  qui  jette- 
rait  les  differentes  parties  de  notre  pays  les  unes  contre  les  au- 
tres,  ou  qui  opposerait  nos  cantons  les  uns  aux  autres.  C'est  le 
devoir  de  tous  les  patriotes  de  prevenir  un  semblable  malheur 
et  nous  avons  la  confiance  qu'il  y  a  assez  d'hommes  eclaires 
dans  le  pays,  pour  opposer  leur  energie  si  cela  etait  necessaire, 
ä  des  efforts  anti-nationaux.  L'idee  que  nous  assistons  en  Eu- 
rope  au  triomphe  des  races  en  Opposition  avec  les  nationalites, 
n'est  ni  une  idee  juste,  ni  une  idee  bienfaisante.  Elle  n'est  pas 
juste  parce  que  la  politique  slave  de  la  Russie  n'est  au  fond 
qu'une  politique  d'interet;  eile  est,  de  plus,  dangereuse  pour  la 
Suisse,  contraire  aux  le^ons  de  son  histoire  et  ä  la  direction  de 
son  evolution,  et  nous  nous  etonnons  de  lui  voir  gagner  du  ter- 
rain  dans  certains  milieux. 

La  n'est  point  la  question  presente.  Nous  devons  nous  op- 
poser en  ce  moment  comme  en  tout  temps  aux  menees  centri- 
fuges;  mais  il  est  ä  craindre  que,  dans  certains  cantons  plus 
particulierement  menaces,  la  ratification  de  la  Convention  n'ait 
au  point  de  vue  patriotique  des  resultats  funestes,  au  moins 
de  fa^on  passagere.  C'est  une  consideration  qui  aurait  du  in- 
fluencer  davantage,  independamment  du  fond  de  la  question,  le 
vote  du  Conseil  national. 

A  cöte  de  cette  crise  du  patriotisme  que  nous  redoutons, 
une  autre,  presque  aussi  perilleuse,  nous  menace.  On  parle 
d'augmenter  les  droits  populaires,  de  remettre  au  peuple  la  libre 
disposition  sur  les  traites  internationaux;  qu'on  y  prenne  garde, 
cette  initiative,  sans  qu'il  y  paraisse,  va  exactement  ä  l'encontre 
du  but  poursuivi. 

Le  rejet  de  la  Convention  du  Qothard,  contrairement  aux 
affirmations  mille  fois  repetees  de  ceux  qui  la  defendaient,  loin 
d'affaiblir  la  position  diplomatique  du  Conseil  federal,  l'eüt  ame- 
lioree.  C'est  une  force  et  non  pas  une  faiblesse  pour  un  gouver- 
nement  de  pouvoir  dire  aux  etrangers:  non,  je  ne  puis  accepter 
de  pareilles  conditions,  le  Parlement  s'y  opposerait,  les  Cham- 
bres  ne  le  permettraient  pas.    La  voix  de  l'opinion  publique  et 

147 


de  fa^on  plus  directe  encore  parlementaire,  est  Tun  des  moyens 
de  pression  les  plus  souvent  utilis^s  par  une  diplomatie  adroite. 
Nous  avons  meme  entendu  Tun  des  connaisseurs  les  plus  auto- 
rises  des  questions  ferroviaires  en  Suisse  et  en  Allemagne  affir- 
mer  que  le  moment  actuel  eüt  ete  particulierement  favorable  ä 
des  negociations  nouvelles. 

Le  Conseil  federal  n'a  pas  voulu  le  comprendre;  il  a  con- 
stamment  pretendu  le  contraire.  Au  Heu  de  prouver  ä  l'etranger 
qu'il  etait  incapable  d'obtenir  des  Chambres  une  adhesion  ä  des 
conditions  odieuses,  il  a  voulu  demontrer  qu'il  etait  le  seul 
mattre,  qu'il  pouvait  ce  qu'il  voulait,  que  le  controle  de  la  Con- 
stitution n'existait  pas  dans  la  pratique  et  que  des  siecles  de  de- 
mocratie  nous  avaient  insensiblement  conduits  ä  une  autocratie 
ä  sept  tetes. 

Quelle  conclusion  en  tirer?  Celle-ci,  que  le  droit  de  ratifier 
les  traites  doit  etre  enleve  aux  Chambres?  Certainement  non, 
car  au  lieu  de  fortifier  la  position  internationale  de  la  Suisse, 
on  l'affaiblirait  davantage  encore.  La  publicite,  inseparable  de  la 
democratie,  est  inconciliable  avec  la  diplomatie.  11  faut  se  mefier 
du  doctrinarisme  logique  qui  nous  pousse  aux  consequences  ex- 
tremes de  toutes  nos  institutions.  On  doit  avoir  le  but  devant 
les  yeux  et  ne  pas  s'attacher  aux  moyens.  Si  le  but  est  de  for- 
tifier la  Suisse  vis-ä-vis  des  autres  Etats,  le  moyen  n'est  certaine- 
ment pas  de  soumettre  les  traites  ä  la  sanction  populaire.  II 
faut'plutot  donner  ä  notre  administration  federale  et  ä  notre 
diplomatie,  une  autre  Organisation  et  d'autres  moyens  d'action. 
Mais  surtout,  plutot  que  d'etendre  davantage  les  limites  extremes 
d'une  democratie  theorique,  il  faut  reconquerir  la  realite  d'un 
pouvoir  qu'un  long  usage  a  laisse  se  perdre.  Lorsqu'il  y  aura 
au  Conseil  national  des  deputes  disposes  ä  obeir  ä  leurs  elec- 
teurs  plutot  qu'aux  conseillers  federaux,  le  peuple  aura  retrouve 
l'influence  qui  lui  appartient  et  dont  il  a  ete  frustre,  le  pouvoir 
executif,  la  force  que  nous  d^sirons  pour  lui  et  que  remplace 
mal  un  pouvoir  capricieux  et  incontröle.  C'est  pourquoi  la  cam- 
pagne  qui  va  s'ouvrir  doit  etre  dirigee  non  pas  contre  les  com- 
petences  du  Parlement,  mais  contre  son  esprit,  non  pas  contre 
les  regles  constitutionnelles  mais  contre  la  majorite.  Nous  ne 
craignons   meme   pas   d'ajouter   que  le  peuple  suisse  a  trop  de 

148 


respect  pour  ses  autorites.  Le  patriotisme  n'exige  pas,  comme  on 
le  croit  trop  souvent,  que  nous  ayons  une  confiance  aveugle  dans 
le  Conseil  federal.  II  exige,  au  contraire,  que  nous  ayons  l'oeil 
ouvert  sur  nos  interets  et  nous  ne  devons  pas  les  abandonner 
Sans  contröle  ä  des  magistrats  inamovibles.  Le  jour  oü  la  re- 
election  periodique  du  Conseil  federal  ne  sera  plus  une  simple 
formalite  et  le  contröle  parlementaire  une  simple  apparence,  nous 
aurons  plus  de  confiance  dans  le  fonctionnement  de  nos  institu- 
tions.  En  attendant,  les  destinees  du  peuple  le  plus  democratique 
de  la  terre  sont  remises  ä  des  magistrats  ä  vie,  assistes  de  con- 
seils  consultatifs.  Teile  est  la  realite  nouvelle  de  notre  Constitu- 
tion, contre  laquelle  nous  devons  reagir  ä  tout  prix. 

Si  le  peuple  comprend  cela,  les  consequences  bienfaisantes 
de  la  Convention  du  Gothard  depasseront  de  beaucoup  ses  mau- 
vais  resultats  et  la  crise  qu'aura  provoquee  sa  ratification,  au 
lieu  d'etre  une  crise  mortelle,  sera  une  crise  de  croissance.  Le 
peuple,  dans  notre  pays,  trop  longtemps  endormi,  a  senti  sa 
fierte  se  reveiller  en  face  de  pretentions  excessives  et  presque 
insolentes.  Rien  ne  prouve,  maintenant  qu'il  a  les  yeux  ouverts, 
qu'il  ne  saura  pas  voir  avec  un  instinct  tres  juste  le  siege  de  ses 
maux  et  les  remedes  qu'ils  exigent.  La  crise  est  inevitable,  mais 
il  faut  la  diriger.  Si  nous  faisons  tous  notre  devoir,  eile  ne  doit 
pas  avoir  des  tendances  antinationales,  pas  plus  que  des  visees 
demagogiques.  On  ne  doit  lui  livrer  ni  l'unite  de  notre  patrie, 
ni  sa  consideration  ä  l'etranger.  Mais  on  doit  diriger  la  colere 
populaire  contre  ceux  qui  Tont  provoquee:  l'esprit  de  parti  qui 
morcelle  notre  peuple,  l'esprit  de  gain  qui  le  ligotte  et  l'exploite. 
On  doit  separer  enfin  le  patriotisme  du  ministerialisme  et  com- 
prendre  que  les  lames  de  fond  peuvent,  elles  aussi,  porter  le 
navire  vers  un  horizon  plus  large.  On  doit  profiter  de  cette  oc- 
casion,  qui  a  revele  ä  tous  une  Situation  que  beaucoup  avaient 
aper^ue,  pour  retablir  dans  notre  politique  federale  le  contröle; 
c'est  l'essence  meme  de  la  democratie,  et  le  Conseil  na- 
tional l'a  laisse  se  perdre,  dans  le  menage  Interieur  autant  que 
dans  les  questions  internationales.  Et  puisque  les  espoirs  que 
nous  avions  places  dans  certains  chefs  nouveaux  ont  ete  de^us, 
c'est  le  personnel  gouvernemental  tout  entier  qui  doit  recevoir 
la  le?on  que  lui  donnera  le  peuple. 

149 


\         L'ennemi,  dans  notre  pays,  est  l'esprit  de  parti  qui  a  mis  le 
mot  d'ordre  radical  au-dessus  des  arguments  de  la  raison;  l'en- 
nemi, c'est  l'esprit  de  servilite  qui  a  mis  le  prestige  du  Conseil 
\  federal  au-dessus  des  interets  de   la  patrie ;    c'est  enfin  l'esprit 
"  utilitaire  qui  a  place  les  avantages  materiels  des  cantons  du  Go- 
thard  au-dessus  de  l'unite  du  pays.    Sus  ä  l'ennemi  I 

BERLIN  WILLIAM  MARTIN 

D  DD 


ÖSTERREICH  -  UNGARN 
IN  DER  ORIENTKRISE 

Im  November  vorigen  Jahres  waren  die  Beziehungen  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Russland  so  gespannt,  dass  die  Sorge,  es 
könne  zum  Kriege  kommen,  weit  verbreitet  war.  Serbien  erhob 
nach  den  Siegen  über  das  rasch  zusammengeraffte  Heer  Zekki 
Paschas  Ansprüche,  deren  Erfüllung  Österreich-Ungarn  unmöglich 
zulassen  konnte  und  deren  gewaltsame  Zurückweisung  die  Pansla- 
visten  aufs  äußerste  erregt  hätte.  Die  Friedenshoffnung  stützte 
sich  jedoch  darauf,  dass  die  russische  Regierung  aus  verschiedenen 
Gründen  einen  Krieg  nicht  wollen  könne,  und  tatsächlich  wurde 
mit  ihrer  Zustimmung  auf  der  Londoner  Botschafterreunion  an- 
erkannt, dass  der  Grundsatz:  „Der  Balkan  den  Balkanvölkern", 
wie  es  das  Wiener  Kabinett  verlangt  hatte,  auch  den  Albanesen 
zugute  kommen  müsse.  Serbien  lenkte  ein  und  schließlich  ver- 
sprach es,  sich  mit  einer  international  verbürgten  Zufahrt  zu  einem 
Adriahafen  zu  begnügen  und  die  von  seinen  Truppen  besetzten 
Gebiete  des  künftigen  albanesischen  Staates  zu  räumen.  Die  Fest- 
setzung der  Grenzen  dieses  Staates  durch  die  Botschafterreunion 
verzögerte  sich  indes,  da  die  russische  Diplomatie  ihn  möglichst 
eng  bemessen  wollte,  monatelang,  und  die  Montenegriner,  denen 
allmählich  die  Serben  zu  Hilfe  kommen  konnten,  bedrängten  das 
belagerte  Skutari,  nach  dessen  Besitz  König  Nikolaus  brennendes 
Verlangen  trug,  immer  mehr.  Der  König  schwor,  dass  er  eher 
sterben  als  sich  von  Skutari  zurückziehen  werde,  und  die  russi- 
schen Panslavisten,  deren  Stimmung  die  Einnahme  von  Adrianopel 

150 


gewaltig  gehoben  hatte,  jubelten  ihm  begeistert  zu.  Die  Bewegung, 
die  sie  in  Russland  hervorriefen,  machte  auf  die  Serben  einen  so 
starken  Eindruck,  dass  sie  ihr  Verzicht  auf  Nordalbanien  reute 
und  sie  neue  Hoffnung  fassten,  es  behalten  zu  können.  So  hatte 
die  Wiederaufnahme  des  Krieges  eine  Situation  geschaffen,  die 
viel  kritischer  war  als  die  vorjährige. 

Für  Österreich-Ungarn  gab  es  kein  Zurück.  Es  hat  in  der 
albanesischen  Abgrenzungsfrage  große  Zugeständnisse  zugunsten 
Serbiens  und  Montenegros  gemacht,  aber  es  konnte  in  der  Haupt- 
sache unmöglich  nachgeben.  Wir  durften  nicht  gestatten,  dass  die 
Albanesen  erdrückt  werden  oder  dass  ihnen  eine  so  rein  albanesi- 
sche  Stadt  wie  Skutari,  die  ansehnlichste  Albaniens,  entrissen 
werde.  Ein  selbständiges  und  lebensfähiges  Albanien  ist  für  Öster- 
reich-Ungarn eine  Notwendigkeit.  Wie  Italien  nicht  dulden  kann, 
dass  die  griechische  Seemacht  sich  im  Süden  Albaniens  allzuweit 
erstrecke,  so  kann  Österreich-Ungarn  nicht  dulden,  dass  der  Nor- 
den zwischen  Serbien  und  Montenegro  geteilt  werde.  Wenn  diese 
beiden  Länder  die  adriatische  Küste  beherrschen,  so  herrscht  dort 
ihr  Protektor  Russland  und  die  unterdrückten  Albanesen  würden, 
nachdem  Österreich  sie  preisgegeben  hätte,  in  tiefstem  Groll  über 
diese  Enttäuschung  und  in  Verachtung  unserer  Schwäche,  sich 
Italien  zuwenden.  Die  Sieger  und  die  Besiegten  wären  unsere 
Feinde.  Wir  würden  uns  aber  auch  die  Geringschätzung  der  süd- 
slavischen  Staaten  zuziehen,  die  von  da  an  mit  gesteigertem  Selbst- 
gefühl ihre  Agitation  in  Bosnien  und  Dalmatien  fortsetzen  würden, 
die  das  Ziel  verfolgt,  diese  Länder  von  der  Monarchie  loszureißen. 
Alles  hatte  sich  so  zugespitzt,  dass  Österreich-Ungarn  bereit  sein 
musste,  nötigenfalls  das  Äußerste  zu  wagen. 

Die  französische  Chauvinistenpresse  sucht  die  Sache  anders 
darzustellen.  In  ihr  erscheint  Österreich-Ungarn  als  der  Stören- 
fried, der  aus  Eigensinn,  Hochmut  und  Slawenhass  den  Serben 
und  Montenegrinern  die  Früchte  ihrer  Siege  nicht  gönnt  und  ein 
so  unzivilisiertes  Volk  wie  die  Albanesen  künstlich  zur  Selb- 
ständigkeit erheben  will,  vielleicht  um  es  dereinst  selbst  ein- 
zufangen.  Serben  und  Montenegriner,  von  deren  Existenz  man 
in  Paris  noch  vor  wenigen  Jahren  nur  dunkle  Vorstellungen  hatte, 
erscheinen  als  Kulturträger,  in  deren  Obhut  die  wilden  Albanesen 
veredelt  und  zu  sanfteren  Sitten  angeleitet  würden  und  die  sicherlich 

151 


irgend  ein  aus  altersgrauen  Zeiten  stammendes  Recht  auf  die  Gebiete 
haben,  die  ihnen  Österreich  streitig  machen  will.  Die  französi- 
sche Chauvinistenpresse  hält  sich  an  Herrn  Iswolski  und  die 
Panslawisten  und  folgt  dem  Wegweiser  im  eigenen  Gemüte,  der 
sie  gegen  den  Verbündeten  Deutschlands  führt.  Wenn  Österreich- 
Ungarn  gedemütigt  und  geschwächt  wird,  so  ist  das  schlimm  für 
Deutschland,  und  was  für  Deutschland  schlimm  ist,  muss  doch 
für  Frankreich  gut  sein,  in  Frankreich  leben  jetzt  selbst  vorur- 
teilslosere Leute  in  dem  Wahn,  dass  Deutschland  sich  mit  dem 
Plane  trage,  plötzlich  über  die  Vogesengrenze  zu  brechen.  Also 
nieder  mit  dem  Verbündeten  Deutschlands,  dem  herrschsüchtigen, 
ländergierigen  Österreich,  das  in  seiner  Brutalität  ein  so  kleines 
Volk  wie  die  Montenegriner  niederdrücken  und  ihnen  das  mit 
Blut  Errungene  abpressen  will.  Die  wahre  Ritterlichkeit  würde 
verlangen,  dass  der  Große  mit  gelassenem  Lächeln  zusehe,  wie 
der  Kleine  ihm  eine  Bombe  ins  Haus  legt. 


An  der  Ringstraße  in  Wien  erhebt  sich  vor  dem  letzten  Reste 
der  ehemaligen  Basteien  ein  Denkmal,  das  daran  erinnert,  dass 
an  dieser  Stelle  die  Angriffe  der  Türken  unter  Kara  Mustafa  im 
September  und  Oktober  1683  am  hartnäckigsten  waren  und  dass 
dort  am  heftigsten  gekämpft  wurde.  Mit  Mühe  und  Not  wurde 
damals  die  größte  deutsche  Stadt,  die  Residenz  des  römischen 
Kaisers,  das  Vorwerk  des  alten  deutschen  Reiches  vor  der 
Unterwerfung  durch  die  Eroberer  Ungarns  bewahrt.  Die  Nieder- 
lage, die  das  Entsatzheer  dem  Feinde  in  schwerer  Schlacht  in  dem 
Weingelände  zwischen  Wien  und  dem  Leopoldsberg  bereitete,  schloss 
die  fast  zweihundertjährige  Zeit  des  Türkenschreckens  für  die 
Alpenländer  endgültig  ab.  Glückliche  ruhmreiche  Feldzüge  folgten, 
die  die  Herrschaft  der  Sultane  bis  über  die  Save  zurückdrängten. 
Im  Laufe  der  Jahrzehnte  und  Jahrhunderte  aber  zog  eine  neue 
Gefahr  herauf,  die  der  Festsetzung  der  russischen  Macht  auf  der 
Balkanhalbinsel,  also  an  der  Südgrenze  Österreichs,  die  Umklam- 
merung Österreichs  durch  das  riesig  anwachsende  Russenreich. 
Schritt  für  Schritt  breitete  Russland,  dank  der  Glaubensverwandt- 
schaft mit  den  orientalischen  Christen,  seinen  Einfluss  aus,  unter- 

152 


wühlte  die  Türkei  und  hielt  sie  in  angstvoller  Unterwürfigkeit.  In 
Wien  wusste  man  wohl,  dass  sie  sich  nicht  auf  die  Dauer  werde 
halten  können,  entwarf  gelegentlich  ein  Zukunftsbild,  das  dem 
jetzt  verwirklichten  ähnlich  war,  führte  aber  keine  aktive  Politik, 
um  sich  ihm  zu  nähern.  Was  durch  eine  Beschleunigung  des 
Zerfalls  der  Türkei  gewonnen  sein  würde,  war  nicht  deutlich  zu 
erkennen,  um  so  deutlicher,  was  man  aufs  Spiel  setzte.  Dazu 
kam  die  finanzielle  Schwäche,  die  Kompliziertheit  der  Verhältnisse 
in  Deutschland  und  Italien,  wo  der  ererbte  Einfluss  —  denn  wer 
hat  den  Mut,  Überkommenes  freiwillig  aufzugeben?  —  bewahrt 
werden  sollte,  die  Furcht  vor  dem  bald  eroberungslustigen,  bald 
revolutionären  Frankreich,  die  Furcht  vor  Erschütterungen  über- 
haupt, die  das  sorglich  und  kunstvoll  gehütete  Stillstandssystem 
umwerfen  könnten,  und  so  achtete  das  von  allen  Seiten  eingeengte 
Österreich  nur  darauf,  dass  die  Katastrophe  nicht  hereinbreche, 
ehe  die  Zeit  reif  war.  Man  denke  sich  die  Balkanvölker  von 
damals;  sie  wären  nach  dem  Abzug  der  Türken  einfach  eine 
Herde  unter  russischer  Leitung  geworden.  Das  fürchteten  England 
und  Frankreich  ebenso  wie  Österreich,  und  besonders  Konstan- 
tinopel wollten  sie  schützen. 

In  aller  Schärfe  zeigte  sich  der  Gegensatz  zwischen  Österreich 
und  Russland  zum  erstenmal  während  des  Krimkrieges.  Seither 
ist  er  immer  wieder  hervorgetreten,  und  jeder  diplomatische  Zu- 
sammenstoß hat  Spuren  zurückgelassen,  die  den  sich  benachteiligt 
Fühlenden,  und  das  war  immer  Russland,  da  es  an  der  Erreichung 
seines  letzten  Zieles  gehindert  wurde,  mit  einem  Unmut  erfüll- 
ten, der  nie  ganz  zu  verwischen  war  und  die  Behandlung  der 
jeweilig  nächstfolgenden  Krise  erschwerte.  Wenn  es  zum  Paktieren 
oder  Zusammenwirken  kam,  wie  in  Reichstadt  oder  in  Mürzsteg, 
war  das  Ende  doch  ein  verstimmtes  Auseinandergehen.  Das  Hin- 
ausdrängen Russlands  aus  Rumänien,  wo  es  in  Österreichs  Flanke 
stand,  die  Besetzung  Bosniens  nach  dem  russisch  -  türkischen 
Feldzug,  die  Beschützung  des  von  Russland  selbst  geschaffenen 
Bulgarien  gegen  das  tyrannische  Auftreten  der  Schöpfer,  die 
schon  mit  dem  Gedanken  umgingen,  es  für  seine  Selbständigkeits- 
regung durch  Entsendung  eines  Heeres  zu  bestrafen,  und  schließ- 
lich die  Angliederung  des  besetzten  Bosniens,  zu  der  doch  die  ausdrück- 
liche Zustimmung  Russlands  vorlag,  all  dies  wurde  in  Petersburg 

153 


als  schwere  Verletzung  empfunden  und  die  Bitterkeit  häufte  sich 
an.  Neben  der  leidenschaftlichen  Feindseligkeit  der  Panslawisten, 
die  den  Kampf  des  Slawentums  gegen  Österreich  und  Deutschland 
proklamieren,  gibt  es  die  elegantere,  vorsichtigere,  aber  nicht 
minder  tief  sitzende  Reizbarkeit  der  russischen  Diplomatie,  die,  je 
nach  der  persönlichen  Sinnesart,  mehr  oder  weniger  bereit  ist, 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Hilfe  der  Panslawisten  zur  Ver- 
geltung an  Österreich  zu  benützen,  wobei  auch  das  Maß  und  die 
Form  der  Vergeltung  verschieden  gedacht  wird.  Und  nicht  nur 
Vergeltung  will  die  russische  Regierung,  sondern  Niederdrückung, 
damit  sich  das  mit  dem  Deutschen  Reich  gleichberechtigt  ver- 
bündete Österreich  in  ein  dem  russischen  Einfluss  unterworfenes 
verwandle. 

Äußerlich  hatte  man  sich  in  Petersburg  damit  abgefunden, 
dass  im  Westen  der  Balkanhalbinsel  der  Einfluss  Österreich- 
Ungarns  vorwiegen  solle.  Diesem  Programm  entsprach  hier  die 
Erwerbung  Bosniens,  die  zum  Teil  eine  vorbauende  Maßregel  war. 
Denn  wenn  Bosnien,  das  übrigens  nur  zur  kleineren  Hälfte  serbisch- 
orthodox, zur  größeren  mohamedanisch  und  katholisch  ist,  an 
Serbien  fiel,  so  blieb  Dalmatien  geographisch  in  der  Luft  hängen, 
ein  lockendes  Objekt  für  das  entstehende  Großserbien,  in  dem 
von  da  an  das  Schwergewicht  des  Südslawentums  gewesen  wäre. 
Über  Bosnien  und  die  Herzegowina  hinauszugehen  gedachte  man 
in  Wien  nicht;  nur  handelspolitischer  Anschluss  eines  etwa  später 
sich  loslösenden  Mazedonien  v/äre  das  Ziel  gewesen;  der  Plan 
einer  Eroberung  Mazedoniens,  von  dem  die  Legende  fortwährend 
erzählte,  hat  bei  keinem  politisch  maßgebenden  Österreicher 
bestanden.  Der  großen  Mehrzahl  der  Serben,  obwohl  Graf  An- 
drassy  dem  damaligen  Fürstentum  auf  dem  Berliner  Kongress 
gegen  den  Wunsch  Russlands  ein  ansehnliches  Stück  Land  im 
Süden  verschafft  hatte,  genügte  jedoch  die  Besetzung  und  dann 
die  Angliederung  Bosniens,  um  die  habsburgische  Monarchie  als  ihren 
Feind  zu  brandmarken,  und  radikale  Nationale  verbissen  sich  nun 
erst  recht  in  den  Gedanken,  die  südslawischen  Provinzen  dereinst 
loszureißen.  Von  den  Panslawisten  werden  diese  Ideen  unter- 
stützt und  dem  offiziellen  Russland  passt  zum  mindesten  die  anti- 
österreichische Richtung.  Unleidlich  verstärken  würde  sich  die 
serbische  Angriffslust,  wenn  Serbien  sich  bis  an  die  Adria  aus- 

154 


dehnen  könnte.  Die  Serben  haben  eine  sehr  lebhafte  Phantasie 
und  berauschen  sich  gern  an  Bildern  ihrer  eigenen  Größe.  Als 
Herren  von  Albanien  würden  sie  glauben,  mit  Österreich -Ungarn 
anbinden  und  die  stammverwandten  Länder  erobern  zu  können, 
und  käme  es  tatsächlich  zu  einem  Kriege,  so  könnte  eventuell 
Russland  auf  dem  Seewege  ihnen  Hilfe  leisten. 

Man  darf  nie  vergessen,  dass  für  Österreich-Ungarn  die  Balkan- 
fragen auch  Fragen  der  Innern  Politik  sind.  Unsere  innere  Politik 
aber  ist  ein  sehr  verwickeltes  Getriebe  und  nicht  mit  einigen 
Schlagworten  zu  erledigen.  In  einem  Reiche,  in  dem  neun  Volks- 
stämme beieinander  wohnen,  zum  Teil  in  kompakten  Massen, 
zum  Teil  in  Sprachinseln  und  Sprachhalbinseln,  wo  fast  jeder 
dieser  Stämme  seine  besondern  historischen  Überlieferungen  hat, 
auf  die  er  besondere  Ansprüche  gründet,  und  wo  jeder  kulturell 
und  sozial  auf  anderer  Stufe  steht,  kommt  man  mit  den  einfachen 
Rezepten  nicht  aus.  Das  haben  Ausländer  erfahren,  die  sich  hier 
mit  der  Zuversicht  ans  Werk  machten,  ungetrübten  Blickes  schnell 
das  Richtige  zu  treffen,  und  das  hat  die  Sozialdemokratie  erfahren, 
die  im  Vollbewusstsein  ihrer  noch  unabgenützten  Welt-  und  Staats- 
anschauung auch  diese  Frage  glaubte  lösen  zu  können.  Am  aller- 
verkehrtesten  urteilt,  wer  der  Ansicht  ist,  dass  die  Lösung  in  einer 
Auflösung  zu  finden  wäre.  Man  braucht  sich  nur  vorzustellen, 
wie  es  hier  aussehen  würde,  wenn  dieses  Reich  nicht  bestände. 
Das  Deutsche  Reich  kann  es  nicht  darauf  ankommen  lassen,  dass 
ihm  die  Verbindung  mit  dem  Adriatischen  und  Mittelländischen 
Meer  durch  feindliche  Staaten  versperrt  werde;  es  würde  daher 
die  slawischen  Küstenländer  mit  ihrem  italienisch  gefärbten  Saum 
unbedingt  in  Besitz  nehmen  müssen  und  dadurch  würden  sich 
in  verstärktem  Maße  wieder  die  bisherigen  Schwierigkeiten  ergeben 
und  vermutlich  Konflikte  mit  Italien,  dem  der  allzu  starke  Nachbar 
unbequem  wäre.  Auch  die  zweieinhalb  Millionen  Deutsche  in  Böhmen 
und  Mähren  würde  die  deutsche  Nation  nicht  opfern  wollen  und 
wenn  ihr  Gefühlsgründe  nicht  gälten,  so  würden  ihr  schon  wich- 
tige praktische  Gründe  verbieten,  aus  diesen  Ländern  einen  Staat 
werden  zu  lassen,  der  sich  als  ein  slawisches  Reich  bis  fast  in 
das  Herz  von  Deutschland  schieben  würde,  ein  freiwilliges  oder 
unfreiwilliges  Werkzeug  Russlands.  Die  Tschechen  täuschen  sich 
darüber  nicht  und  es  fällt  ihnen  nicht  ein,  die  Zerreißung  Öster- 

155 


reichs  zu  wünschen,  in  dem  sie  sich  auf  ihrem  Gebiete  vollständig 
frei  bewegen  i<önnen.  Sie  möchten  es  nur  im  Verein  mit  den 
Slowenen  so  weit  wie  möglich  entgermanisieren,  wodurch  es  aber 
natürlich  vollständig  seinen  Wert  nicht  nur  für  die  Ungarn  ver- 
lieren würde,  sondern  auch  für  die  Slawen  antirussischer  Richtung, 
die  Polen  und  Ruthenen,  oder,  wie  sie  sich  jetzt  nennen,  Ukrainer. 
Polen  und  Ruthenen  würden  in  dem  einen  wie  in  dem  anderen 
Falle  schutzlos  gegen  Russland  werden,  Ungarn  würde  bei  einer 
Lostrennung  vom  Reiche  mit  Mühe  und  Not  seine  Rumänen  fest- 
zuhalten suchen,  Kroatien  und  den  Zugang  zur  Adria  würde  es 
einbüßen.  Es  würde  an  seiner  Ungebundenheit  wenig  Freude  er- 
leben und  genötigt  sein,  sich  Deutschland  anzuschließen.  Aber 
auch  die  serbokroatisch  sprechenden  Südslawen,  die  in  Kroatien, 
Dalmatien,  Bosnien,  Serbien  und  Montenegro  beisammenwohnen, 
wären  in  ihrem  Winkel  wenig  glücklich  zu  preisen;  jetzt  haben 
sie,  haben  sogar  die  Serben  des  Königreichs,  kulturellen  Anschluss 
an  Österreich,  später  wären  sie  vereinsamt  und  in  keineswegs 
freundlicher  Nachbarschaft.  Denn  dass  der  alte  Zwiespalt  zwischen 
Serben  und  Bulgaren  fortbesteht,  zeigte  sich  sogar,  während  noch 
der  Krieg  gegen  die  Türkei  im  Gang  war,  und  in  diesem  Augen- 
blick entbrennt  er  bis  zu  beiderseitigen  Drohungen  mit  Gewalt- 
anwendung. 

Alle  Nationalitäten,  die  jetzt  innerhalb  Österreich  -  Ungarns 
vereinigt  sind,  würden  daher,  wenn  die  habsburgische  Monarchie 
nicht  bestünde,  entweder  schwer  benachteiligt  sein  oder  irgend 
ein  unzulängliches  Surrogat  für  sie  suchen.  Darüber  herrscht  auch 
fast  überall  Klarheit,  wenngleich  man  fortwährend  im  Streit  ist, 
womöglich  kein  Opfer  an  nationalem  Größengefühl  für  das  ganze 
bringen  will  und  wenngleich  diese  Streitigkeiten  bekanntlich  oft 
so  stark  werden,  dass  sie  die  Tätigkeit  der  Vertretungskörper 
lahm  legen  und  dringend  nötige  Beschlüsse,  auf  die  ungeduldig 
gewartet  wird,  verhindern.  Eine  Gefahr,  dass  das  Volksgefühl 
durch  ausländische  Agitation  verwirrt  werden  könnte,  besteht  nur 
in  einem  Teil  jener  südslawischen  Länder,  die  wie  das  vor  hundert 
Jahren  in  Besitz  genommene  Dalmatien  und  das  vor  fünfunddreißig 
Jahren  in  Besitz  genommene  Bosnien,  noch  zu  wenig  österreichische 
Tradition  haben;  in  Kroatien  hat  die  ungarische  Politik  schwere 
Fehler  begangen,  aber  dort  ist  die  Tradition  so  stark,   dass  bei 

156 


einiger  Klugheit  die  serbischen  Wühlereien  völlig  aussichtslos  sein 
werden.  Es  ist  hauptsächlich  Sache  der  ungarischen  Regierung, 
diese  Aufgabe  zu  übernehmen,  aber  auch  die  auswärtige  Politik 
muss  auf  der  Wache  stehen;  sie  wäre  schwächlich,  wenn  sie  ein 
Überquellen  des  Serbentums  gestattete  und  würde  eine  ihrer  wich- 
tigsten Pflichten  damit  versäumen.  Wenn  Serbien  vernünftig  ist, 
wird  es  sich  zur  Freundschaft,  insbesondere  zur  handelspolitischen, 
mit  Österreich-Ungarn  bequemen ;  will  es  in  Selbstüberschätzung 
den  Weg  der  Feindschaft  betreten,  so  wird  ein  Zusammenstoß 
schwer  zu  vermeiden  sein.  Ein  großes  Reich  kann  nicht  seinen 
Küstenbesitz  gefährden  lassen. 

Die  bestimmte  Forderung  Österreich-Ungarns,  dass  die  Grenzen 
des  künftigen  Albaniens  von  Serbien  und  Montenegro  respektiert 
werden  müssen,  ist  so  wichtig  geworden,  dass  sie  selbst  auf  die 
Gefahr  eines  Krieges  hin  nicht  missachtet  werden  durfte.  Denn 
sonst  würde  Österreich-Ungarn  das  Gespött  der  Balkanslawen 
und  der  Panslawisten  werden,  die  es  schon  jetzt  mit  der  sterbenden 
Türkei  vergleichen  und  sein  nahes  Ende  voraussagen.  Wenn  also 
die  andern  Großmächte  bei  etwa  nötig  werdenden  Zwangsmaß- 
regeln nicht  mittäten,  so  würde  Österreich-Ungarn  allein  vorgehen 
müssen.  Die  öffentliche  Meinung  ist  hier  überall,  wo  nicht  aus 
nationalen  Gründen  slawische  Sympathien  herrschen,  für  ein  ent- 
schlossenes Auftreten.  Man  fühlt  es,  dass  sich  Österreich-Ungarn 
durch  den  Sturm  in  Russland  nicht  einschüchtern  lassen  darf  und 
man  weiß  auch  sehr  genau,  dass  Russland,  welches  ja  gleichfalls 
kein  geschlossener  Nationalstaat  ist,  dessen  Nationalitäten  aber 
als  Fremdvölker  behandelt  werden  und  daher  vom  Reiche  los- 
streben, durchaus  nicht  so  stark  ist,  wie  die  Panslawisten  glauben 
oder  glauben  machen  wollen.  Ihre  Kundgebungen,  so  lärmend 
sie  sind,  sind  noch  kein  Zeichen  von  Kraft.  Die  Regierung,  die 
von  ihnen  angegriffen  wird  und  der  Zar  selbst,  der  wohl  fühlt,  was 
bei  einem  Krieg  in  seinem  tief  unterminierten  Lande  auf  dem  Spiel 
stünde,  müssen  diese  Demonstrationen  als  störend  und  gefährlich 
empfinden.  Tatsächlich  hat  sie  sich  am  Ende  gegen  sie  ausgespro- 
chen und  den  König  Nikolaus  abgeschüttelt.  Denn  sie  ermuntern 
Montenegro  und  Serbien  zu  einerTaktik,  deren  Fortsetzungösterreich- 
Ungarn  zu  Entschlüssen  zwingen  müsste,  die  dann  in  Russland 
noch  viel  mehr  Erregung  hervorrufen  würden  und  sie  verhindern 

157 


das  Zustandekommen  des  Friedens  zwischen  der  Türkei  und  den 
Balkanstaaten,  wodurch  es  dahin  kommen  könnte,  dass  die  Bul- 
garen schließh'ch  doch  nach  Konstantinopel  marschieren  —  ein 
schrecklicher  Gedanke  für  Russland,  so  viel  es  von  slawischer 
Brüderlichkeit  reden  mag. 

Für  die  Auffassung  der  Panslawisten  ist  der  historische  Pro- 
zess,  der  sich  jetzt  mit  dem  Zusammenbruch  der  Türkei  vollzogen 
hat,  das  Signal  zur  Zerstörung  Österreich-Ungarns,  zum  Ansturm 
gegen  das  Deutschtum.  Würde  Russland  nach  ihrem  Sinn  han- 
deln, so  würde  es  voraussichtlich  einer  Katastrophe  entgegengehen. 
Dass  der  Zar  und  seine  Minister  dies  empfinden,  darauf  beruhe 
die  Hoffnung  eines  friedlichen  Ausganges,  die  sich  auch  bestätigt 
hat.  Der  Friede  wird  geschlossen.  Mit  der  Lösung  der  Krise, 
die  an  die  Stelle  der  türkischen  Staatsruine  unabhängige  Staaten 
setzt,  kann  Österreich-Ungarn  zufrieden  sein,  wenn  die  neuen 
Gebilde,  wie  dies  zuerst  Rumänien  gelungen  ist,  ihre  Selbständig- 
keit gegen  Russland  wahren  und  unsere  Ruhe  nicht  stören.  Tat- 
sächlich ist  das  Gegenteil  nur  von  Serbien  zu  befürchten,  das  auf 
den  russischen  Panslawismus  Vergrößerungshoffnungen  baut,  die 
sich  gegen  uns  richten,  und  so  reduziert  sich  die  Baikanfrage,  so 
weit  sie  nicht  das  Schicksal  von  Konstantinopel  in  sich  einschließt, 
künftig  für  Österreich-Ungarn  auf  die  serbische,  genauer  gesagt, 
die  serbisch-montenegrinische.  Im  Zusammenhang  mit  der  vorder- 
asiatischen, die  vor  allem  Deutschland  interessiert,  kann  sie  der 
Ausgangspunkt  neuer  Krisen  werden. 

WIEN  BERTHOLD  MOLDEN 


158 


DIE  GUTE 

EIN  ERDACHTES  GESPRÄCH  VON  PAUL  ERNST 


Personen:  Yagnavalkya;  ein  Schüler.    Ort:  Ein  Mangohain. 

Der  Schüler:  Ich  hörte  von  einem  Lehrer,  der  zu  seinen 
Schülern  sagte:  Werdet  hart;  sehet  zu,  dass  ihr  alle  eure  Kraft 
zusammenhaltet,  um  euch  selber  höher  zu  bilden,  und  verzettelt 
euch  nicht,  indem  ihr  eure  Kraft  an  Geringere  verschenkt. 

Yagnavalkya:  Der  Arme  soll  sparsam  sein,  der  Reiche  soll 
ausgeben,  so  leben  beide  verständig. 

Der  Schüler:  Also  du  meinst  das  selbe,  wenigstens  für  einen 
Teil  der  Menschen? 

Yagnavalkya:  Freilich  habe  ich  noch  nie  gesehen,  dass  ein 
Armer  durch  Sparsamkeit  zu  Reichtum  gekommen  ist. 

Der  Schüler:  Aber  er  kann  doch  zu  einem  kleinen  Wohl- 
stand gelangen? 

Yagnavalkya:  Vielleicht  hat  jener  Lehrer  von  Leuten  ge- 
sprochen, welche  zu  einem  kleinen  Wohlstand  gelangen  wollen, 
damit  sie  dann  sagen  können :  Seht,  so  unabhängig  sind  wir.  Und 
es  muss  ja  auch  wohl  Leute  geben,  die  auf  dergleichen  stolz  sind. 

Der  Schüler:  Derartige  Leute  liebst  du  nicht? 

Yagnavalkya:  Du  gebrauchst  starke  Worte;  weshalb  sollte 
ich  sie  hassen? 

Der  Schüler:  Aber  du  meinst,  dass  diese  Leute  nicht  die 
wesentlichen  Menschen  sind? 

Yagnavalkya:  Die  wesentlichen  Menschen  sind  selten,  wie 
die  wirklich  Reichen ;  aber  sie  üben  eine  große  Wirkung  aus  und 
deshalb  bleiben  sie  in  der  Erinnerung  der  Menschen,  auch  wenn 
man  sie  nicht  sieht,  während  die  anderen  vergessen  werden,  so- 
bald sie  aus  unseren  Augen  entschwunden  sind ;  deshalb  hält  man 
sie  im  Vergleich  zu  den  andern  für  zahlreicher  wie  sie  sind.  Sie 
gleichen  dem  Licht,  das  ein  Zimmer  erleuchtet;  und  wenn  ein 
Wanderer  im  Dunkeln  die  Straße  entlang  geht,  so  denkt  er:  siehe, 
da  muss  ein  Haus  stehen,  in  dem  ist  ein  Zimmer  hell;  von  den 
übrigen  Häusern,  in  welchen  kein   erleuchtetes  Zimmer  ist,  weiß 

159 


er  aber  gar  nichts.  Ist  nun  der  Wanderer  ein  verständiger  aber 
armer  Mann,  so  spricht  er:  in  diesem  Lande  sollten  die  Leute 
sparsamer  sein;  denn  wenn  ich  in  der  Dunkelheit  gehe,  so  sehe 
ich  hier  ein  Licht,  und  nach  einer  halben  Stunde  wieder  eines, 
und  nach  einer  viertel  Stunde  ein  drittes.  Er  weiß  aber  nicht, 
dass  nur  die  wenigen  Leute  ein  Licht  brennen,  welche  reich  sind, 
und  dass  es  sehr  viele  Arme  gibt,  welche  klugerweise  im  Dunkeln 
sitzen.  So  wird  also  sein  Rat  schon  befolgt  von  denen,  welche 
er  angeht,  noch  ehe  er  ihn  gesagt  hat. 

Der  Schüler:  Wenn  ich  dich  recht  verstehe,  so  meist  du, 
man  solle  überhaupt  solche  Ratschläge  nicht  geben? 

Yagnavalkya:  Ich  habe  mich  freilich  immer  gehütet,  den 
Leuten  Ratschläge  zu  geben ;  denn  die  Narren  befolgen  sie  doch 
nicht,  und  die  Verständigen  wissen  jeder  selber,  was  für  ihn  das 
Richtige  ist. 

Der  Schüler:  Aber  weshalb  geht  der  Schüler  zum  Lehrer, 
oder  wenn  du  lieber  willst,  der  gewöhnliche  Mann  zu  bedeutenden  ? 

Yagnavalkya:  Um  sich  selber  kennen  zu  lernen,  denn  der 
Arme  weiß  nicht,  dass  er  arm  ist,  ehe  er  einen  Reichen  gesehen 
hat;  und  um  Einsicht  auch  in  die  Dinge  außer  ihm  zu  gewinnen; 
denn  der  Arme,  welcher  nur  die  vier  Pfähle  seines  Hauses  und 
die  vier  Grenzsteine  seines  Ackers  sieht,  kann  doch  nicht  wissen, 
wodurch  die  Menschen  unter  einander  zusammenhängen,  sondern 
er  denkt  nur:  neben  mir  wohnt  auch  ein  sparsamer  Mann,  und 
neben  dem  wieder  einer;  und  er  denkt:  das  genügt,  dass  wir 
verständigen  Menschen  so  ehrbar  neben  einander  leben. 

Der  Schüler:  Das  Eine  habe  ich  jetzt  verstanden,  dass  der 
Schüler  durch  den  Lehrer  sich  selber  erkennt.  Denn  als  ich  zu 
dir  kam,  da  hielt  ich  mich  noch  für  einen  wesentlichen  Menschen, 
weil  ich  dachte:  die  Menschen,  welche  hart  sind  gegen  sich  und 
andere,  welche  sparsam  sind  mit  ihrer  Kraft  und  aus  sich  das 
Höchste  bilden  wollen,  das  sind  die  Wesentlichen.  Nun  ich  aber 
dich  gesehen  und  dein  heiteres  Antlitz,  die  Güte,  mit  welcher 
du  Jedem  mitteilst,  und  seit  ich  beobachtet,  wie  die  Leute  zu  dir 
mit  Traurigkeit  kommen  und  mit  Frohsinn  fortgehen,  da  habe 
ich  eingesehen,  dass  ich  nicht  zu  den  Wesentlichen  gehöre,  und 
habe  mich  hierin  also  selber  erkannt.    Aber  das  Zweite,  was  du 

160 


sagst,  verstehe  ich  nicht:  wie  soll   ich  durch  dich  einsehen,  wo- 
durch die  Menschen  unter  einander  zusammenhängen? 

Yagnavalkya:  Das  ist  freilich  nicht  so  leicht  einzusehen.  Die 
Welt  gleicht  einem  Teig,  den  ein  Weib  geknetet  hat  aus  Wasser 
und  Mehl,  und  die  Teile  von  Mehl  und  Wasser  ruhen  eng  bei 
einander  auf  dem  Boden  des  Backtroges.  Der  Teig  aber  soll 
aufgehen  in  der  Nacht  und  den  ganzen  Backtrog  füllen,  damit 
das  Weib  am  Morgen  die  Brotlaibe  bilden  und  in  den  Backofen 
schieben  kann.  Deshalb  nimmt  sie  ein  kleines  Stückchen  Sauer- 
teig und  mengt  das  zwischen  das  andere,  und  durch  den  Sauer- 
teig geht  in  der  Nacht  alles  auf,  füllt  den  Backtrog  und  quillt  über 
ihn  hinaus,  und  wie  sie  am  Morgen  aufsteht,  dankt  sie  erst  Gott, 
dass  er  ihren  Teig  sich  so  hat  vermehren  lassen,  knetet  dann 
ihre  Laibe  und  backt  das  Brot. 

Der  Schüler:  Ich  glaube  dich  zu  verstehen:  du  meinst,  erst 
durch  das  kleine  Stückchen  Sauerteig  wird  die  große  Masse  zu 
wirklichem  Brotteig,  und  das  ist  kein  besonderes  Tun  des  Sauer- 
teigs, sondern  es  geschieht  einfach,  weil  es  nun  einmal  so  ist. 

Yagnavalkya:  Ja,  wie  auch  das  Licht  noch  anderen  Menschen 
leuchtet,  als  denen,  die  es  angezündet  haben  und  unterhalten, 
und  selbst  solchen,  die  verdrossene  Reden  über  die  Lichtver- 
schwendung führen;  denn  wenn  die  Besitzer  es  etwa  unter  einen 
Scheffel  stellen  wollten,  so  hätten  sie  ja  selber  nichts  von  ihrem 
Licht;  oder  wie  das  Salz  alle  flüssigen  Dinge  salzig  macht,  ohne 
das  besonders  zu  wollen,  nur  weil  es  einmal  so  ist;  denn  wenn 
es  nicht  salzig  machte,  so  wäre  es  ja  dumm  geworden  und  ganz 
wertlos. 

Der  Schüler:  Du  meinst  also  inbezug  auf  die  Worte  des 
Lehrers,  von  dem  ich  am  Anfang  sprach,  dass  er  die  Frage  über- 
haupt falsch  gestellt  hat,  indem  der  wesentliche  Mensch  gar  nicht 
sparsam  mit  seiner  Kraft  und  karg  mit  sich  sein  kann;  sondern 
dass  er  ausgibt,  das  gehört  eben  mit  zu  seinem  Wesen;  und  er 
gibt  nicht  zu  irgend  einem  Zwecke  aus,  sondern  weil  es  seine 
Natur  ist,  auszugeben,  wie  ja  auch  die  Wolke  ihren  Regen  fallen 
lässt  auf  den  Acker  des  Fleißigen,  der  ihn  benutzt  und  an  alle 
Wurzeln  das  Wasser  leitet,  und  auf  den  Acker  des  Trägen,  der  ihn 
nicht  benutzt  und  das  Wasser  ablaufen  lässt  in  den  Straßengraben? 

161 


Aber  ist  das  nicht  nur  eine  bloße  Behauptung,  indem  du  sagst: 
das  ist  nun  so  der  wesentliche  Mensch ;  und  könnte  jener  andere 
Lehrer  dir  nicht  erwidern:  ich  für  meine  Person  nenne  diesen 
eben  nicht  den  wesentlichen  Menschen? 

Yagnavalkya:  Du  hast  wohl  recht,  deshalb  muss  ich  noch 
mehr  sagen.  Alle  Gedanken,  welche  wir  aussenden,  kommen  auf 
irgend  eine  Weise  zu  uns  wieder  zurück.  Wenn  ein  Mensch  einen 
andern  hasst,  so  wird  er  ein  Hasser,  wenn  er  ihn  beneidet,  so 
wird  ein  Neider,  und  wenn  er  ihn  beschenkt,  so  wird  er  ein 
Schenker.  Denn  alles  Geistige  unterliegt  nicht  dem  Gesetz  des 
Körperlichen,  welches  weniger  wird,  wenn  man  davon  nimmt, 
sondern  es  wird  mehr.  Wer  einen  Menschen  hasst  oder  beneidet, 
der  erzeugt  immer  neuen  und  immer  mehr  Hass  und  Neid  in 
sich,  denn  eine  Frucht  kann  sein  Acker  nur  tragen.  Wer  einem 
Menschen  Güte  schenkt,  der  erzeugt  immer  mehr  Güte  in  sich. 
Die  Güte  hat  aber  dieselbe  Eigentümlichkeit  wie  Hass  oder  Neid: 
der  Acker  dieses  Menschen  wird  nur  noch  Güte  tragen.  Dadurch 
nun  wird  er  außerordentlich  reich,  dass  er  nicht  mehr  andere 
Pflanzen  erzeugen  kann,  die  Kraft  aus  dem  Boden  saugen  und 
ihm  nichts  einbringen:  Eigennutz,  Hochmut  und  wie  sie  sonst 
heißen;  denn  er  wird  ja  den  Menschen  gegenüber  in  allem  gleich- 
gültig werden.  So  geschieht  es,  dass  im  Geistigen  der  Schenker 
reicher  wird;  und  weil  man  die  geistigen  Dinge  nie  besitzt,  son- 
dern immer  nur  erwerben  muss,  so  muss  hier  umgekehrt  auch 
der  Reiche  immer  Schenker  sein.  Darum  sage  ich:  wer  einen 
andern  beneidet  oder  hasst,  wer  hochmütig  ist  oder  eigennützig, 
wer  karg  und  hart  ist,  der  ist  kein  wesentlicher  Mensch.  Ein 
wesentlicher  Mensch  hat  keine  würdig  gerunzelte  Stirn  und  keinen 
hoffärtigen  Gang,  er  ist  nicht  von  mürrischem  Ernst  und  saurem 
Wesen,  sondern  er  lacht  gern  und  ist  höflich,  er  schenkt  gern  und 
lässt  sich  gern  schenken;  und  die  Geringeren  verachtet  er  nicht, 
sondern  er  hat  sie  nicht  ungern,  denn  sie  sind  doch  für  ihn  da, 
damit  er  jemanden  hat,  dem  er  geben  kann. 

Der  Schäler:  Das  habe  ich  nun  wohl  verstanden;  aber  es 
wird  doch  immer  gesagt,  dass  die  Einen  Lohn  erhalten  und  die 
Anderen  Strafe  für  ihre  Taten;  das  sehe  ich  hier  nun  nicht;  denn 
Ich  kann  mir  denken,  dass  ein  solcher  wesentlicher  Mensch  doch 

162 


viele  Leute  zu  Feinden  hat,  die  sicii  vor  ihm  schämen,  dass  sie 
nicht  sind  wie  er;  und  wenn  ihm  auch  ihre  Gesinnung  gleich- 
gültig sein  mag,  so  weiß  er  doch  nicht,  ob  sie  nicht  vielleicht  zu 
Taten  gegen  ihn  kommen;  und  wirklich  hört  man  doch  auch, 
dass  die  Menschen  oft  gerade  die  Wesentlichen  verfolgt  haben. 

Yagnavalkya:  Wenn  du  so  fragst,  so  sagst  du,  dass  du  den 
letzten  Grund  des  Lebens  nicht  erkannt  hast.  Die  Menschheit 
gleicht  einem  großen  Walde,  in  welchem  viele  Arten  von  Bäumen 
wachsen:  nützliche,  die  Obst  tragen,  und  schädliche,  die  giftige 
Früchte  haben,  und  dumme,  die  ganz  überflüssig  sind.  Welche 
Belohnung  kann  ein  Apfelbaum  dafür  erwarten,  dass  er  Äpfel 
trägt,  als  die,  dass  man  seine  Äpfel  pflückt  und  isst,  und  welche 
Strafe  ein  Giftbaum,  als  dass  man  vor  ihm  ausbiegt?  Und  was 
soll  mit  den  dummen  Bäumen  geschehen,  als  dass  man  sie  stehen 
lässt,  wo  sie  stehen?  Und  wenn  böse  Buben  einem  Apfelbaum 
die  Zweige  abreißen,  schaden  sie  sich  dadurch  nicht  ebenso  wie 
dem  Baum?  Manche  Bäume  ziehen  den  Blitz  an,  weil  sie  be- 
sonders hartes  Holz  haben;  wäre  es  nicht  töricht,  wenn  sie  sich 
beschweren  wollten  und  sagten:  was  haben  wir  verbrochen  vor 
Anderen,  dass  wir  so  vom  Blitz  leiden?  Die  Härte  ihres  Holzes 
zieht  den  Blitz  an,  weil  der  Blitz  nun  einmal  so  beschaffen  ist, 
dass  er  von  ihr  angezogen  wird.  So  ziehen  die  wesentlichen 
Menschen  auch  die  böswilligen  an,  dass  sie  ihnen  Schaden  zu- 
fügen, weil  die  Böswilligen  nun  einmal  so  beschaffen  sind,  dass 
sie  den  Wesentlichen  schaden  müssen.  Ich  glaube,  dass  der  Ge- 
danke von  Lohn  und  Strafe  auch  so  ein  Gedanke  der  Armen  ist 
wie  die  Härte  und  Kargheit;  denn  die  Armen  müssen  ja  freilich 
immer  daran  denken,  dass  sie  etwas  verdienen;  der  Reiche  hat 
das  nicht  nötig. 

Der  Schüler:  Es  muss  freilich  sehr  schön  sein,  wenn  einer 
ein  reicher  Mann  ist. 

Yagnavalkya:  Du  bist  nicht  der  Erste,  der  diese  Einsicht  hat: 
aber  merkwürdigerweise  ist  sie  bei  den  Reichen  verbreiteter  als 
bei  den  Armen. 


ODD 


163 


DIE  ZÜRCHERBIBEL,  EINE 
KULTURANGELEGENHEIT 

Es  ist  nicht  sehr  bekannt,  dass  der  Kanton  Zürich  eine  landes- 
kirchh'ch  eingeführte  Übersetzung  der  Bibel  hat,  die  in  Zürich 
selbst  entstanden  ist  und  sonst  nirgends  in  Gebrauch  steht.  Die 
Tatsache  ist  schon  an  sich  geschichtlich  von  Bedeutung.  Zurzeit 
aberstehen  Synode  und  Geistlichkeit  vor  einer  Entscheidung,  die 
die  „Zürcher  Bibel"  zur  Tagesfrage  machen  müsste,  wenn  nicht 
unsere  protestantische  Bevölkerung  so  gut  katholisch  wäre,  das 
heißt  so  sehr  gewohnt,  alles  ihrer  geistlichen  Führerschaft  und 
dem  grünen  Tisch  zu  überlassen,  auch  dann,  wenn  es  sich,  wie 
in  diesem  Falle,  um  eine  wichtige  Kulturfrage  handelt. 

Es  ist  zum  Verständnis  dieser  Kulturfrage  nötig,  einige  Worte 
über  die  Entstehung  und  Geschichte  der  Zürcher  Bibel  vorauszu- 
schicken. Als  Luther  das  Neue  Testament  übersetzt  hatte,  wurde 
es  sogleich  in  Zürich  nachgedruckt,  aber  sprachlich  dem  schwei- 
zerischen Verständnis  angepasst  und,  als  man  infolge  des  Abend- 
mahlstreites dem  Wittenberger  nicht  mehr  unbedingt  traute,  bald 
auch  mit  wirklichen  oder  vermeintlichen  Verbesserungen  versehen. 
Ehe  dann  Luther  mit  der  Übersetzung  der  Apokryphen  und  Pro- 
pheten fertig  war,  erschien  in  Zürich  die  ganze  Bibel  (es  war  1530). 
Der  größte  Teil  davon  war  in  der  genannten  Art  von  Luther 
übernommen,  die  Lücken  füllte  man  durch  eigene  Arbeit  aus, 
indem  teilweise  Leo  Judae,  Pfarrer  zu  St.  Peter,  teilweise  die  unter 
dem  Namen  der  „Prophezei"  gegründete  Zürcher  Bibelschule  die 
fehlenden  Stücke  ergänzte.  So  ist  die  Zürcher  Bibel  nicht  das 
Werk  eines  Genius,  überhaupt  nicht  das  eines  Menschen,  sondern 
das  Ergebnis  anpassender,  ausgleichender  Arbeit,  in  Hast  und 
Zufall  begonnen,  mit  Fleiß  und  Behutsamkeit  fortgesetzt,  stets 
geflickt  und  niemals  fertig.  Es  wurde  nun,  zunächst  unter  des 
genannten  Leo  Judae  Leitung,  weiter  an  der  Verbesserung  des 
Werkes  gearbeitet,  weiter  durch  all  die  Jahrhunderte.  Zweierlei 
ist  dabei  zu  beobachten:  die  stetige  Annäherung  an  Luther  und 
die  fortschreitende  Verhochdeutschung  der  Zürcher  Bibel.  Ein 
Drittes  ist  beachtenswert:  die  allmähliche  Verkleinerung  ihres 
Verbreitungsgebietes.  Im  sechzehnten  Jahrhundert  war  die  Zürcher 

164 


Übersetzung  in  der  ganzen  Ostschweiz  gebraucht  worden;  dann 
eroberte  sich  Luthers  Übersetzung  einen  Kanton  nach  dem  andern, 
erst  Appenzell  und  Schaffhausen,  dann  die  sanktgallischen  Gebiete 
und  Qlarus,  zuletzt  auch  Thurgau,  bis  um  die  Mitte  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  endlich  Zürich  mit  seiner  Bibel  allein  da- 
stand, ein  Inselchen  im  Weltmeer  des  Protestantismus  deutscher 
Zunge. 

Die  Bedeutung  der  Zürcher  Bibelübersetzung  liegt  nicht  auf 
dem  Gebiete  der  Religion;  das  Buch  konnte  niemand  ans  Herz 
wachsen,  weil  es  gerade  das  aufgeben  musste,  was  es  zum  Volks- 
gut hätte  machen  können:  die  heimische  Sprache,  und  weil  der 
Wortlaut  infolge  seiner  fortwährenden  Neubearbeitung  gar  nicht 
Zeit  hatte,  festen  Fuß  zu  fassen.  Die  große  Bedeutung  der  Zürcher 
Bibel  liegt  darin,  dass  sie  in  ihren  früheren  Ausgaben  ein  einzig- 
artiges Sprachdenkmal  ist.  Sie  ist  eine  Fundgrube  für  die  Mund- 
artforschung der  Schweiz,  und  sie  veranschaulicht  mit  ihren  fort- 
währenden sprachlichen  Veränderungen  sozusagen  wie  der  Kine- 
matograph  das  allmähliche  Eindringen  der  neuhochdeutschen 
Schriftsprache  in  unserm  Lande.  Zur  Reformationszeit  wurde 
der  Spruch:  Niemand  flicket  ein  altes  Kleid  mit  einem  Lappen 
von  neuem  Tuch  für  Zürich  zurechtgemacht:  Niemand  bützet  ein 
altes  Kleid  mit  einem  Bletz  von  neuem  Tuch.  Und  dann  geht 
die  Verhochdeutschung  an  und  erreicht  im  neunzehnten  Jahr- 
hundert mit  der  Beseitigung  des  letzten  Mundartwortes  aus  dem 
Spruch  „Wo  nun  das  Salz  seine  Räße  verlieret"  (Luther:  wo  nun 
das  Salz  dumm  wird)  ihren  Abschluss. 

Die  letzte  Neubearbeitung  der  Zürcher  Bibel  geht  auf  die 
Jahre  1860  und  1868  zurück.  Diese  heutige  Zürcher  Bibel  be- 
friedigt niemand  mehr.  Die  Theologen  spenden  ihr  das  wohlver- 
diente Lob,  sie  sei  genauer  und  richtiger  als  die  Lutherische,  er- 
kennen aber  alle  an,  dass  sie  trocken  und  unschön  sei.  Die 
Evangelische  Gesellschaft,  die  den  Verlag  der  Bibel  hat,  verkauft 
viel  mehr  Lutherbibeln  als  Zürcher  Bibeln!  Von  1907  bis  1911 
verkaufte  sie  13  223  Bibeln  und  Bibelteile  in  zürcherischer  Über- 
setzung, dagegen  20  068  in  Lutherischer  Ausgabe.  Zu  beachten 
ist  dabei,  dass  die  genannte  Verkaufsstelle  die  einzige  Bezugs- 
quelle für  die  Zürcher  Bibel  ist,  während  die  Lutherische  außer- 
dem  auf  andern  Wegen   in   den  Kanton   eindringt,   so  dass  der 

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Unterschied  zwischen  den  beiden  Zahlen  in  Wirklichkeit  noch  viel 
größer  ist. 

Die  eifrigsten  Verteidiger  von  „Zwingiis  Erbe"  gegen  Luthers 
Übersetzung  führen  in  der  Predigt  die  Bibel  im  Lutherischen  Wort- 
laut an.  Auf  einer  ganzen  Reihe  von  Kanzeln  Zürichs,  ja  auf 
ZwingUs  eigener  Kanzel  im  Großmünster,  liegt  die  Lutherbibel, 
nicht  die  „in  Zürich  kirchlich  eingeführte  Übersetzung".  Der  so- 
zusagen klassische  freisinnige  Theologe  Zürichs,  der  Urzürcher 
Biedermann,  machte  aus  seiner  Bevorzugung  Luthers  kein  Hehl 
und  sprach  in  abfälligen  Ausdrücken  von  der  Zürcher  Bibel.  Dass 
diese  für  die  nachgerade  zahlreichen  außerhalb  des  Kantons  auf- 
gewachsenen Glieder  der  Zürcher  Landeskirche  etwas  ist,  woran 
sie  sich  nie  gewöhnen,  was  sie  befremdet  und  vielfach  abstößt, 
ist  selbstverständlich. 

Im  Jahre  1907  beschloss  die  Synode,  die  Zürcher  Bibel,  deren 
Vorrat  bald  zu  Ende  ging,  nicht  wieder  unverändert  zu  drucken, 
sondern  neu  zu  bearbeiten.  Sie  stellte  dafür  einige  Grundsätze 
auf  und  ernannte  für  die  Arbeit  eine  Kommission  von  elf  Mit- 
gliedern. Man  dachte,  bis  1910  mit  der  Arbeit  zu  Ende  zu  sein. 
Heute  (1913)  liegen  einige  Proben  vor,  und  bis  1918  oder  1919 
meint  man  die  Arbeit  beendigen  zu  können.  Die  Verzögerung 
kommt  nicht  daher,  dass  irgend  etwas  verschleppt  oder  ver- 
bummelt worden  wäre;  die  Arbeit  wuchs  den  Beauftragten  unter 
den  Händen  und  führte  viel  weiter  als  man  vorausgesehen  hatte. 

So  liegt  die  Hauptarbeit  jetzt  nicht  hinter,  sondern  vor  uns. 
Deshalb  ist  es  nicht  zu  spät,  sondern  der  richtige  Zeitpunkt,  zwei 
Fragen  ernstlich  zu  stellen.  Erstens,  ob  diese  ganze  Arbeit  not- 
wendig und  wünschenswert  sei  und  zweitens,  ob  sie,  nach  den 
vorliegenden  Proben  zu  urteilen,  befriedigend  ausfallen  werde. 

Für  die  Neubearbeitung  der  Zürcher  Bibel  macht  man  Gründe 
geltend,  die  niemand  überzeugen  und  die  sich  gegenseitig  zer- 
stören. In  der  Synode  sagte  ein  Landgeistlicher,  die  Zürcher 
Bibel  sei  dem  Volke  lieb.  Aber  weshalb  sie  dann  neu  bearbeiten 
und  zwar  gründlich,  so  gründlich,  dass  sie  mancherorts  gar  nicht 
wieder  zu  erkennen  ist?  Man  sprach  von  Zwingiis  und  Leo 
Judaes  teurem  Erbe.  Aber  die  zahlreichen  Umarbeitungen  haben 
von  der  damaligen  Bibel  sozusagen  nichts  übrig  gelassen.  Das 
„Erbe"  kann   also   nur  darin   bestehen,   dass  man  in  Zürich  an 

166 


dem  Grundsatz  festhält,  eine  eigene  Bibelübersetzung  zu  gebrauchen 
und  sie  immer  von  Zeit  zu  Zeit  neu  zu  bearbeiten. 

Wenn  nun  die  Mehrheit  der  Synode  im  Jahre  1907  geglaubt 
hat,  dieses  „Erbe  der  Zürcher  Reformation"  behalten  zu  sollen, 
so  sind  trotzdem  auch  seither  die  Stimmen  nicht  verstummt,  die 
eine  andere  Meinung  äußerten.  Man  muss  die  Frage  aufwerfen, 
ob  heute  die  Bedingungen  noch  vorliegen,  die  eine  Neubearbeitung 
der  Zürcher  Bibel  in  früheren  Zeiten  rechtfertigten.  Die  Frage 
ist  unbedingt  zu  verneinen.  Wir  haben  heute  mit  einer  Reihe  neuer 
Tatsachen  zu  rechnen,  die  nur  der  Eigensinn  zu  verkennen  ver- 
möchte, und  die  das  Zürcher  Übersetzungswerk  überflüssig  machen. 

Erstens  der  heute  vollendete  Siegeslauf  der  Lutherischen  Bibel. 
Heute  steht  nicht  mehr,  wie  zurzeit  der  Reformation,  Übersetzung 
wider  Übersetzung,  heute  ist  es  Tatsache,  dass  vierzig  Millionen 
deutsch  sprechender  Protestanten  unter  Bibel  schlechthin  die  Luther- 
bibel verstehen.  Eine  vierhundertjährige  Geschichte  hat  diese 
Frage  entschieden  und  keine  kantonale  Synode,  keine  Kommission, 
keine  Fakultät  ändert  daran  etwas.  Freund  und  Feind  gebraucht 
die  Lutherbibel.  Sie  ist  mit  unserm  ganzen  Geistesleben,  mit 
unsrer  Stil-  und  Geschmacksbildung  aufs  engste  verwachsen.  Die 
gesamte  religiöse  Literatur  bringt  uns  auf  tausend  Wegen  den 
Wortlaut  der  Lutherbibel  auch  in  den  Kanton  Zürich.  Es  mag 
in  der  Zürcher  Bibel  lang  heißen:  der  Geist  ist  zwar  geneigt, 
das  Fleisch  aber  ist  schwach;  das  Wort  ist  zum  Sprichwort  ge- 
worden und  lautet  nun  eben  trotz  allem  auch  in  Zürich :  der  Geist 
ist  willig.    Dagegen  ist  nichts  zu  machen. 

Ferner:  die  Bibelgesellschaften.  In  früheren  Jahrhunderten 
kam  es  in  Zürich  vor,  dass  der  Bibelvorrat  ausging  und  die  welt- 
liche Obrigkeit  für  einen  neuen  Druck  sorgen  musste.  Im  neun- 
zehnten Jahrhundert  entstanden  überall  die  Bibelgesellschaften 
und  seither  werden  Bibel  und  Bibelteile  in  Millionen  von  Abzügen 
zu  erstaunlich  billigen  Preisen  vertrieben.  Da  das  Verbreitungs- 
gebiet für  die  Lutherbibel  sich  über  alle  Erdteile  erstreckt,  so 
lohnt  sich  die  Herstellung  aller  möglichen  Ausgaben,  vom  Testa- 
mentchen zu  15  Rappen  bis  zur  Luxusbibel  zu  50  Franken,  in 
jeder  Größe,  jedem  Druck,  auf  jedem  Papier,  mit  jedem  Einband, 
Ausgaben  für  Schwachsichtige  in  zentimeterhohen  Buchstaben, 
Ausgaben,  die  beinahe  in  die  Westentasche  gehen,  Teile  der  Bibel 

167 


zu  5  Rappen,  zweisprachige  Ausgaben,  die  neben  der  deutschen 
Übersetzung  den  griechischen  oder  den  lateinischen  oder  den 
französischen  Wortlaut  bieten.  All  das  kann  für  die  Zürcher  Bibel 
niemals  geleistet  werden.  Schon  heute  sind  sicher  im  Kanton 
mehr  Lutherbibeln  zu  finden  als  zürcherische.  Die  Fortschritte 
des  Buchgewerbes  werden  ausschließlich  der  Verbreitung  der  Luther- 
bibel dienen  und  diese  immer  mehr  auch  in  Zürich  verbreiten. 

Die  Schranken  sind  endgültig  gefallen,  die  früher  Kantone 
und  Landeskirchen  trennten.  Wir  führen  kein  Sonderdasein  mehr. 
Reichlich  ein  Drittel  der  Bewohner  des  Kantons  wird  mit  der 
Zürcher  Bibel  niemals  in  Berührung  treten  und  unter  den  andern 
zwei  Dritteln  wird  Luther  mehr  Eingang  finden  als  das  Zürcher 
Werk.  Freilich  geht  ein  starker  Zug  nach  Schutz  der  heimatlichen 
Eigenart  durch  unsere  Zeit.  Aber  an  der  Zürcher  Bibel  wird  er 
vorbeigehen,  denn  nicht  etwas  Vorhandenes  zu  erhalten,  nicht  ein 
Denkmal  zu  schützen  gilt  es  hier,  sondern  etwas  Neues  zu  schaffen: 
eine  mit  den  Ergebnissen  der  heutigen  Wissenschaft  übereinstim- 
mende Bibelübersetzung.  Nicht  ein  einziges  Wort  der  neuen 
Zürcher  Bibel  wird  schweizerische  Eigenart  aufweisen. 

Endlich  die  heute  außer  der  Lutherischen  bestehenden  Über- 
setzungen. Man  weist  auf  die  vielen  Fehler,  die  veraltete  Sprache 
der  Lutherbibel  hin  und  anderseits  auf  die  Fortschritte  der  Bibel- 
forschung im  neunzehnten  Jahrhundert.  Ob  nun  außerhalb  der 
Fachmänner,  der  Theologen,  zumal  im  Kanton  Zürich  das  Be- 
dürfnis nach  einer  genauen  Bibel  groß,  ob  es  überhaupt  vorhan- 
den sei,  braucht  hier  nicht  erörtert  zu  werden.  Aber  wem  die 
Lutherbibel  nicht  genau  genug  ist,  der  hat  heute  die  Wahl  zwischen 
einer  Menge  von  allgemein  zugänglichen  neueren  und  guten  Über- 
setzungen jeder  nur  denkbaren  Art.  Das  war  noch  vor  einem 
halben  Jahrhundert  anders.  Da  haben  wir  wissenschaftlich  zu- 
verlässige, ganz  auf  dem  Boden  der  neueren  Forschung  stehend 
die  Textbibel  von  Kautzsch  und  das  Neue  Testament  von  Weiz- 
säcker, wo  sich  jeder  Auskunft  holen  kann,  der  gern  wüsste,  wie 
es  „eigentlich"  heißt.  Wer  die  Lutherbibel  vorzieht,  aber  wenig- 
stens keine  eigentlichen  Fehler  darin  haben  möchte,  für  den  ist 
immer  noch  die  berichtigte  Ausgabe  von  Stier  da.  in  pietistischen 
Kreisen  hat  sich  seit  langem  die  sogenannte  Elberf eider  Übersetzung 
der  Darbysten  verbreitet  und  in  den  letzten  Jahren  die  Taschen- 

168 


bibel  Schlachters  (jetzt  in  verbesserter  Ausgabe  unter  der  Mitarbeit 
eines  im  Amte  stehenden  Zürcher  Geisth'chen  herausgegeben); 
beide  werden  als  zuverlässig  gerühmt.  Bei  Reclam  ist  das  „Neue 
Testament  in  die  Sprache  der  Gegenwart  übersetzt"  von  Kart 
Stage  erschienen  und  es  erfreut  sich  großer  BeUebtheit  in  den 
verschiedensten  Kreisen. 

Am  störendsten  sind  die  Unvollkommenheiten  und  die  Alter- 
tümh'chkeit  der  Lutherbibel  im  Unterricht.  Aber  gerade  da  hat 
sich  in  Zürich  die  sogenannte  Glarner  Familienbibel  eingelebt. 
Sie  ist  ein  Auszug,  das  heißt  eine  Bibelausgabe,  aus  der  anstößige 
Stellen,  unnötige  Wiederholungen  und  sonstige  für  die  Erbauung 
wenig  geeignete  Stücke  weggelassen  sind.  Der  Wortlaut  bietet 
eine  die  heutigen  sprachlichen  Bedürfnisse  und  die  Forderungen 
der  Wissenschaft  befriedigende  Bearbeitung  der  Lutherbibel  mit 
wenigen  erläuternden  Anmerkungen.  In  Zürich  ist  sozusagen  das 
ganze  jüngere  Geschlecht  an  diese  Glarner  Bibel  gewöhnt,  die 
ohne  vollkommen  zu  sein  ihren  Zweck  trefflich  erfüllt  und  zwischen 
dem  Streben  nach  praktischer  Brauchbarkeit  und  dem  nach  Be- 
wahrung des  klassischen  Lutherischen  Wortlautes  die  richtige  Mitte 
hält.  Es  klingt  wie  ein  Hohn  auf  die  Zürcher  Bibelarbeit,  dass 
in  diesem  Jahre  das  neue  amtliche  Spruchbuch  für  den  kirchlichen 
Unterricht  „auf  allgemeinen  Wunsch"  die  Bibelworte  im  Glarner 
Wortlaut  gibt.  Entstanden  ist  die  Glarner  Bibel  in  den  achtziger 
Jahren  des  letzten  Jahrhunderts  als  gemeinsame  Arbeit  tüchtiger 
glarnerischer  Theologen. 

Ganz  neu  ist  die  sogenannte  Jubiläumsbibel  der  Stuttgarter 
Bibelanstalt.  Sie  bietet  den  bereinigten  Lutherischen  Wortlaut, 
enthält  aber  in  ungezählten  Anmerkungen  die  nötigen  Erläute- 
rungen und  Hinweise  auf  alle  fehlerhaften  Stellen. 

Vor  diesen  heute  vorliegenden  Tatsachen  sollte  man  sich 
beugen.  Sie  reden  eine  deutliche  Sprache:  die  heutige  Neubear- 
beitung der  Zürcher  Bibel  geschieht  unter  Verhältnissen,  die  bei 
keiner  der  früheren  Neuausgaben  auch  nur  annähernd  so  vor- 
lagen und  die  ihr  jede  Berechtigung  nehmen. 

Nun  die  begonnene  Arbeit  selbst.  Wird  sie  befriedigend  aus- 
fallen? Die  Synode  hat  vorigen  Winter  verlangt,  dass  Proben 
vorgelegt  werden  sollen.  Heute  liegt  den  Geistlichkeitskapiteln 
ein  Heft  vor,  das  20  Seiten  Vorbemerkungen  und  40  Seiten  Über- 

169 


Setzungsproben  enthält.  In  den  Vorbemerkungen  entwickeln  die  Über- 
setzer ihre  Grundsätze  und  ihre  Arbeitsweise.  Die  Proben  zeigen, 
wie  das  Ergebnis  ausfallen  wird.    Was  lässt  sich  davon  sagen? 

Die  Übersetzer  sind  sich  bewusst,  „eine  Volksbibel  und  spe- 
ziell (!)  eine  Zürcher  Volksbibel"  liefern  zu  sollen.  Aber  ihre 
ganze  Arbeit  zeigt,  dass  ihre  Aufmerksamkeit  ganz  und  gar  dem 
Grundtext  gehört.  Schon  die  Synode  scheint  an  nichts  anderes 
gedacht  zu  haben.  Denn  in  der  elfgliedrigen  Kommission  sitzen 
lauter  Theologen,  tüchtige  Griechen  und  Hebräer,  als  ob  es  sich 
um  die  Herstellung  einer  griechischen  oder  hebräischen  Bibel 
handelte.  Auch  nicht  ein  einziger  Dichter  oder  Schriftsteller,  über- 
haupt kein  Vertreter  der  deutschen  Sprache  ist  darunter.  Mit 
welch  kläglicher  Ratlosigkeit  man  der  gestellten  Aufgabe  entgegen- 
sah, erhellte  beim  Beginn  aus  der  Verteidigungsrede  eines  der 
Übersetzer,  der  in  demselben  Atemzuge  sagte:  „man  solle  der 
Übersetzung  anmerken,  dass  Goethe  und  Schiller  gelebt  haben" 
und  „sie  solle  die  sprachliche  Eigenart  Zürichs  aufweisen"  —  und 
der  nicht  merkte,  wie  sich  das  widerspricht. 

Die  ganze  Arbeit  geht  von  der  Voraussetzung  aus,  die  Schwierig- 
keit liege  in  der  Feststellung  und  im  Verständnis  des  fremd- 
sprachigen Grundtextes.  Das  ist  falsch.  Den  Sinn  des  Grund- 
textes kann  jeder  fleißige  Theologe  mit  den  heute  so  reichlich  vor- 
handenen Hilfsmitteln  feststellen.  Die  Aufgabe  für  eine  Volks- 
bibel besteht  einzig  und  allein  in  der  Herstellung  eines  schönen, 
klaren  und  packenden  Wortlautes.  Ein  holpriger  Satz,  ein  ge- 
schmackloser Ausdruck  ist  da  ebenso  schlimm  wie  ein  Über- 
setzungsfehler. Es  würde  völlig  genügen,  wenn  von  den  Herren 
einer  recht  die  Grundsprachen  versteht;  worin  sie  aber  alle  Meister 
sein  müssten,  das  ist  die  Sprache,  in  der  sie  ihr  Werk  heraus- 
geben wollen.  Statt  dessen  erwarten  sie  sogar  von  uns,  wir 
sollen  ihre  Arbeit  mit  Hilfe  des  Grundtextes  prüfen,  und  beschwören 
uns,  doch  ja  die  richtige  hebräische  Ausgabe  dazu  zu  benutzen! 

Und  nun  soll  noch  gar  das  „Kolorit  der  biblischen  Zeit"  ge- 
wahrt werden.  Darum  heißt  es  in  dem  neuen  Werke  nicht  mehr 
Knechte  und  Mägde,  sondern  Sklaven  und  Sklavinnen.  Hier  muss 
man  nun  doch  fragen:  soll  uns  durch  die  Übersetzung  die  Bibel 
näher  gebracht  werden,  oder  gilt  es,  unserm  Volk  recht  den  Ab- 
stand fühlbar  zu  machen,  der  uns  von  dem  alten  Buch  trennt? 

170 


Wenn  das  zweite  gilt,  dann  wohlan !  Nur  spreche  man  dann  nicht 
mehr  von  irgend  einem  Erbe  irgend  eines  Reformators!  Und 
merken  die  Herren  denn  gar  nicht,  dass  Sklave  und  Sklavin  das 
Gegenteil  von  „biblischem  Kolorit"  gibt,  da  der  Ausdruck  unser 
Volk  unfehlbar  an  Negersklaverei,  kapitalistische  Plantagenwirt- 
schaft und  Onkel  Toms  Hütte  erinnern  wird,  während  Knecht 
und  Magd  das  patriarchalische  Verhältnis  des  Altertums  unend- 
lich viel  richtiger  wiedergibt? 

Was  für  eine  schulmeisterliche  Schrulle  ist  es,  wenn  die 
Kommission  sagt:  „Sodann  glauben  wir  nicht  länger  vom  gali- 
läischen  Meer  reden  zu  dürfen,  weil  der  Ausdruck  „Meer"  für 
einen  so  kleinen  Binnensee  nicht  mehr  anwendbar  ist  und  man 
deshalb  geradezu  verführt  werden  könnte,  darunter  den  Teil  des 
Mittelmeeres  zu  verstehen,  der  Galiläa  bespült."  Erstens  ist  das 
Gesagte  tatsächlich  unrichtig;  wir  haben  noch  heute  bei  Hannover 
das  Steinhuder  Meer.  Sodann  heißt  der  See  Genezareth  Galiläi- 
sches  Meer  in  allen  Sprachen,  englisch,  italienisch,  französisch, 
spanisch.  Sollten  die  Zürcher  allein  so  unbegabt  sein,  dass  ein 
erläuterndes  Wort  des  Religionslehrers  nicht  genügte,  vor  Missver- 
ständnissen zu  schützen?  Und  ist  die  sprach-  und  bildungsge- 
schichtliche, man  kann  sagen:  die  erdkundliche  Tatsache,  dass  es 
nun  eben  einmal  Galiläisches  Meer  heißt,  einfach  beiseite  zu 
schieben?  So  springt  man  mit  dem  ererbten  Bestand  mutter- 
sprachlicher Überlieferung  um,  während  man  ehrfurchtsvoll  vor 
jedem  hebräischen  Akzent,  vor  jedem  von  einem  Gelehrten  ver- 
muteten Kai  und  fiev  Halt  macht.  Derselben  Schulmeisterlichkeit 
begegnet  man  auch  sonst  in  den  Proben.  Wozu  muss  es  (dies- 
mal mit  der  bisherigen  Zürcher  Bibel)  heißen  die  Wegführung 
nach  Babylon?  Richtigkeit  hin,  Richtigkeit  her:  dieses  Ereignis 
heißt  auf  deutsch  die  babylonische  Gefangenschaft.  Ein  theologi- 
scher Ausleger  darf  Wegführung,  sogar  Exil  schreiben,  ein  volks- 
tümlicher Übersetzer  muss  Gefangenschaft  sagen.  Hoffentlich 
bekommen  wir  nicht  an  Stelle  des  Abendmahls  das  Nachtessen. 

In  den  zehn  Geboten  der  „Proben"  stehen  „die  Kinder,  Enkel 
und  Urenkel  derer,  die  mich  hassen."  Diese  ergreifende,  in  den 
deutschen  Spruchschatz  übergegangene  Stelle  lautet  indessen  für 
die  gesamte  deutsche  Christenheit  mit  oder  ohne  Erlaubnis  der 
Zürcher  Synode:  der  da  heimsucht  der  Väter  Missetat  an  den 

171 


Kindern  bis  ins  dritte  und  vierte  Glied  derer,  die  mich  hassen. 
Der  Versuch,  daran  zu  rütteln  ist  kulturfeindlich. 

Es  ist  genug  an  diesen  grundsätzlichen  Ausstellungen.  Das 
Deutsch  der  Proben  ist  sonst  ungefähr  schlecht  und  recht,  zu 
viel  darf  man  von  so  tüchtigen  Griechen  und  Hebräern  nicht 
verlangen  und  muss  froh  sein,  dass  es  so  ausgefallen  ist. 

Entschiedenen  Widerspruch  aber  muss  man  erheben  gegen 
4ie  geschmacklose  Unart,  im  Texte  eckige  und  runde  Klammern, 
Halbklammern,  ja  Fragezeichen  anzubringen.  Immer  und  überall 
die  falsche  Vorstellung  eines  „deutschen  Grundtextes",  einer  Ar- 
beit für  Leute  von  der  Zunft,  Philologen,  Theologen.  Eine  Volks- 
bibel soll  schön  und  soll  lesbar  stm;  solche  eingestreute  Zeichen, 
wie  auch  die  textkritischen  Anmerkungen  stören  im  Lesen,  sind 
hässlich  und  gegen  den  guten  Geschmack.  Sie  unterbrechen, 
zerstreuen  und  sie  nützen  nichts.  Vollends  die  Fragezeichen  sind 
dem  erbaulichen  Zweck  der  Volksbibel  zuwider.  Sie  erwecken 
Kritik,  das  Gegenteil  von  frommem  Versenken  in  die  heiligen 
Urkunden,  Kritik,  die  Todfeindin  aller  Frömmigkeit.  All  das  gleicht 
dem  Gerüst,  das  der  Baumeister  für  die  Arbeit  nötig  gehabt  hat, 
aber  nach  der  Vollendung  des  Baues  wieder  abtragen  und  bis 
auf  die  letzte  Spur  beseitigen  soll.  Das  Gerüst  stehen  lassen, 
heißt  den  Genuss  am  Bauwerk  verhindern. 

Wie  unnütz  diese  Häkchen  sind,  lehre  ein  Beispiel.  In  der 
Stelle,  wo  Hiob  seinen  Geburtstag  verflucht,  da  steht  im  Hebräi- 
schen bloß  Tag.  Diese  Eigenheit  der  hebräischen  Sprache  geht 
den  deutschen  Bibelleser  nichts  an.  Unsere  Übersetzer  aber 
nehmen  das  sehr  wichtig  und  setzen  [Geburts-]  gewissenhaft  in 
eckige  Klammer! 

Von  den  Fußnoten  sind  die  meisten  entbehrlich,  einige  stoßen 
durch  ihre  Schulmeisterlichkeit  ab.  Abgeschmackt  ist  eine  Fuß- 
note zu  A^atthäus  1,16  über  die  jungfräuliche  Geburt  Jesu;  sie 
wird  zur  Folge  haben,  dass  in  den  Kreisen,  die  am  meisten  Bibeln 
zu  kaufen  pflegen.  Misstrauen  gegen  die  neue  Übersetzung  ent- 
steht, die  mit  dergleichen  Anmerkungen  wie  eine  theologische 
Parteiangelegenheit  aussieht,  während  sie  eine  Sache  der  ganzen 
Landeskirche  sein  sollte. 

Alles  in  Allem  genommen:  die  „Proben"  zeugen  von  fleißiger 
Arbeit,  lassen  aber  keineswegs  ein  Endergebnis  voraussehen,  für 

172 


das  man  sich  begeistern  kann.  Die  Übersetzung  weicht  so  stari< 
von  der  bisherigen  Zürcher  Bibel  ab,  dass  sie  deren  Anhänger 
nicht  befriedigen  i<ann ;  sie  leistet  als  neue  wissenschaftliche  Arbeit 
nichts,  was  nicht  andere  vorhandene  Werke  auch  leisten ;  sie  reicht 
sprachlich  nirgends  und  in  keiner  Weise  an  die  Lutherische  heran. 
Sie  wird  niemand  befriedigen  und  nur  den  einen  Vorteil  haben, 
dass  sie  in  Zürich  entstanden  ist.  Wer  darauf  Wert  legt,  wird 
sie  begrüßen. 

Vom  Druck  und  Aussehen  der  Proben  möchte  ich  am  lieb- 
sten nichts  sagen.  Die  allergewöhnlichste  Zeitungsletter,  ein  un- 
ruhiges, zerhacktes  Gesamtbild  (man  sehe  sich  zum  Beispiel  den 
Anfang  der  Bergpredigt  an),  unschön  angebrachte  Überschriften, 
dazu  die  schon  erwähnten  Häkchen  und  Klammern:  auch  hier 
wieder  derselbe  Fehler,  dass  man  nicht  ein  schönes  und  würdiges 
Buch  herstellt,  an  dem  der  Leser  Freude  haben  könnte,  sondern 
ein  Nachschlagebuch,  ein  gelehrtes  Hilfsmittel,  etwas  „Kritisches" 
statt  etwas  Erhebendem,  eine  höchst  werktägliche  Drucksache,  an 
der  die  Errungenschaften  des  heutigen  Buchgewerbes  spurlos 
vorübergegangen  sind. 

„Luthers  Bibel  ist,  wie  sie  das  erste  war,  so  das  letzte  klas- 
sische Prosabuch  deutscher  Sprache  geblieben,  wenn  wir  die 
allerstrengsten  Maßstäbe  anlegen."  So  sagt  Eduard  Engel  in  seiner 
Deutschen  Stilkunst.  Goethes  Verse  und  Goethes  Prosa  sind 
gesättigt  von  Anklängen  an  die  Lutherbibel.  Unsre  herrlichste 
Dichtung,  der  Faust,  ist  ohne  Luthers  Bibel  nicht  denkbar.  Einem 
nach  Stilbildungsmitteln  fragenden  jungen  Schriftsteller  kann  man 
ohne  weiteres  den  Rat  geben:  Lies  dich  recht  in  Luthers  Bibel 
hinein.  Denn  mit  Recht  singt  von  dem  Wittenberger  sein  Zeit- 
genosse Johann  Walther:  was  Luther  geschrieben 

hat  marck  und  safft,  es  trifft  und  hafft, 

wers  lieset  oder  höret. 

Die  Deutsche  Sprach  nach  rechter  Art 

hat  er  aufs  new  poliret, 

so  klar,  verstendlich,  rein  vnd  zart, 

wie  Deutscher  Sprach  gebüret. 

Sölchs  alle  die  Gottfürchtig  sein, 

mit  Gottes  lob  bekennen, 

den  Luther  Deutscher  Sprach  gemein 

als  jhren  Vater  nennen. 

173 


Viel  zu  wenig  beachtet  wird  der  musii^alische  Wert  der  Luther- 
bibel. Man  lese  den  23.  Psalm  laut,  lasse  den  wunderbaren  Klang 
dieser  Jamben  auf  das  Ohr  wirken  und  höre,  wie  dann  vom 
vierten  Vers  an  die  Daktylen  in  trotziger  Qlaubensfreudigkeit  fort- 
fahren, bis  am  Ende  ein  schlichter  Creticus  zur  Ruhe  des  Anfangs 
zurückführt.  Oder  die  Weihnachtsgeschichte,  Lukas  am  zweiten : 
von  Vers  10  bis  14  daktylischer  Klang  von  unvergleichlicher  Wirkung. 
So  auch  manches  in  den  Propheten.  Außer  dem  letzten  Akt  von 
Goethes  Egmont  und  etwa  noch  Arndts  Katechismus  für  den 
deutschen  Wehrmann  haben  wir  wohl  nichts  gleichwertiges  an 
musikalischer  Prosa.  Und  das  will  man  dem  Zürcher  Volk  vor- 
enthalten ? 

Luther  hat  nicht  bloß  übersetzt,  er  hat  verdeutscht,  hat  aus 
der  Bibel  ein  deutsches  Volksbuch  gemacht,  aus  dem  uns  unser 
eigenes  Leben  entgegenweht.  Um  „Kolorit  der  biblischen  Zeit" 
kümmerte  er  sich  ebensowenig  wie  Zwingli.  Dieser  hat  in  seiner 
deutschen  Ausgabe  der  Psalmen  übersetzt:  In  schöner  weyd  alpet 
er  mich,  zu  rüewigen  waßern  trybt  er  mich  (Psalm  23,  2).  Ein 
ganz  prächtiger  Einfall,  freilich  nicht  morgenländisches,  sondern 
toggenburgisches  „Kolorit".  Mit  einem  Schlage  sieht  der  schwei- 
zerische Leser  sich  aus  Judas  kahlen  Höhen  auf  die  heimischen 
Bergweiden  versetzt.  Nun  ist  aus  dem  uralten  Lied  des  morgen- 
ländischen Königs  ein  Lied  für  Schweizerbauern  geworden  und 
das  Buch  kein  fremdes  Buch  mehr,  sondern  Geist  von  unserm 
Geist.  Ganz  so  verfährt  Luther:  Zelt  übersetzt  er  mit  Hütte,  so 
dass  der  deutsche  Leser  dabei  an  die  eigene  Behausung  denken  kann. 
Gottes  Brünnlein  hat  Wassers  die  Fülle  heißt  es  Psalm  65.  Wer 
gibt  dem  sächsischen  Bergmannssohn  das  Recht,  den  Bach  zum 
Brünnlein  zu  machen?  Das  ist  ja  gegen  alles  „Kolorit"  der 
hebräischen  Sprache!  Gewiß,  es  gehört  aber  dafür  zum  „Kolorit" 
der  gehobenen  deutschen  Sprache  und  ist  geschehen  aus  der 
Machtvollkommenheit  des  großen  Dichters,  der  die  weltgeschicht- 
liche Aufgabe  hatte,  die  Bibel  zu  verdeutschen. 

Hier  stehn  wir  im  Mittelpunkt  der  ganzen  Angelegenheit. 
Luther  durfte  alles  wagen,  weil  er  das  Bewusstsein  hatte,  von 
Gott  zum  Verdeutscher  der  Bibel  und  zum  Erneuerer  seines 
Volkes  berufen  zu  sein.  Eine  aus  „Vertretern"  von  „Richtungen" 
zusammengesetzte  „Kommission",  die  den  Wortlaut  ihrer  Druck- 

174 


Sache  in  Mehrheitsbeschlüssen  festsetzt,  hat  natürlich  dieses  Be- 
wusstsein  nicht.  Daher  die  ängstlichen  Fragezeichen,  Klammern, 
Anmerkungen,  daher  das  rührende  Suchen  nach  einem  getreuen 
„adäquaten"  Ausdruck  (wie  die  schöne  Bezeichnung  lautet),  daher 
der  Mangel   an   Schwung   und   Frische,   an  Kraft  und  Schönheit. 

Wenn  die  Synode  der  Zürcher  Landeskirche  die  Kenntnis 
und  das  Verständnis  des  Bibelinhalts  fördern  will,  so  sei  sie  da- 
für besorgt,  dass  die  vorhandenen  Übersetzungen  und  Bibelhilfs- 
mittel unter  denen  bekannt  werden,  die  eingehende  Bibelforschung 
treiben  wollen,  ohne  die  alten  Sprachen  zu  kennen.  Die  Zürcher 
Bibel  lasse  man  im  Frieden  sterben,  das  heißt  man  verkaufe  sie 
so  lange  sie  noch  verlangt  wird,  und  lasse  sie  dann  einfach  ein- 
gehen. Die  Bahn  frei  zu  machen  für  des  Wittenbergers  welt- 
bewegendes Werk,  das  einzige  Band,  das  die  deutschen  Protes- 
tanten aller  Weltteile  verbindet,  wäre  ebenso  eine  Kulturtat,  wie 
es  rückschrittlich,  kleinlich  und  kulturfeindlich  wäre,  sich  dem 
Siegeslauf  der  Lutherbibel  im  Kanton  Zürich  durch  eine  neue 
Übersetzung  in  den  Weg  stellen  zu  wollen. 

Einen  Hauptnachteil  des  bisherigen  Zustandes  will  ich  nur 
kurz  erwähnen :  für  den  Unterricht  und  für  das  gesamte  kirchliche 
Leben  ist  dies  Nebeneinander  zweier  Übersetzungen  höchst  störend. 
Seitdem  Luther  eingedrungen  ist,  kann  man  nicht  mehr  recht 
Bibelstellen  anführen,  weil  der  Wortlaut  unsicher  geworden  ist. 
Es  wäre  von  großem  Nutzen,  wenn  die  Einheit  hergestellt 
würde,  und  da  Luther  nicht  mehr  zu  verdrängen  ist,  müsste  die 
Zürcherbibel  weichen. 

Können  aber  die  Zürcher  Gelehrten  das  Nachdolmetschen 
nicht  lassen,  so  wäre  ihnen  dringend  zu  raten,  ihr  Werk  vor  der 
Drucklegung  einer  Vereinigung  von  Sprachkundigen  zu  unter- 
breiten, die  womöglich  nicht  hebräisch  und  griechisch  können, 
sondern  nur  deutsch,  und  unbarmherzig  alles  „Adäquate"  streichen, 
um  dafür  Ebenmaß,  Tonfall,  Kraft  und  Schönheit  hineinzubringen 
—  so  gut  wie  so  etwas  nachträglich  geht.  Unterliegen  wird  die 
neue  Zürcher  Bibel  im  Wettbewerbe  auch  dann,  aber  sie  wird 
dann  doch  besser  aussehen. 

ZÜRICH  EDUARD  BLOCHER 

D  DD 

175 


SPRACHENFRAGE  IN  ÖSTERREICH 

(Fortsetzung) 

In  mehr  als  100  Fabriken  Böhmens  werden  Rüben  zu  aus- 
gezeichnetem Zucker  verarbeitet.  Damit  haben  wir  einen  wichtigen 
Industriezweig  genannt,  der  durch  die  Rohproduktion  begünstigt 
wird.  Böhmen  ist  aber  auch  sonst,  besonders  um  Prag  herum, 
dann  im  nördh'chen  Dreieck  und  der  ganzen  Länge  des  Erz- 
gebirgs  und  den  Sudeten  nach,  ja  bis  in  deren  oberste  Täler  und 
arme,  öde  Hochflächen  hinein  in  einer  Weise  von  Industrie  er- 
füllt, die  wir  in  der  Schweiz  glücklicherweise  nicht  kennen.  Durch 
die  Kohlen-  und  Eisenschätze  ist  wie  in  England  die  stoffliche 
Grundlage  für  Dampfkraft  und  Maschinen  gegeben.  Dazu  kommt 
noch,  dass  die  Gebirgsbewohner,  die  in  früheren  Zeiten  wie  die 
Thüringer  vom  Bergbau  lebten,  jetzt  nach  dessen  Rückgang  auf 
die  Einführung  und  Erhaltung  kleinerer  Industrien  angewiesen 
sind.  Dies  gilt  besonders  vom  Erzgebirge,  wo  die  Erzeugung  von 
Spielwaren  und  Musikinstrumenten  eine  große  Rolle  spielt,  da 
die  Ergiebigkeit  des  Bodens  bereits  auf  der  Höhe  von  800  bis 
1000  Meter  über  Meer  ganz  armselig  ist.  Im  Riesengebirge  ist 
seit  Jahrhunderten  die  Glasfabrikation  zu  Hause  (böhmisches 
Glas  ist  so  berühmt  wie  venetianisches);  in  anderen  Teilen  der 
Sudeten  blüht  schon  lange  die  Weberei  und  hat  dort  die  Ein- 
wohnerschaft auf  eine  gewisse  Höhe  der  Lebenshaltung  gebracht, 
die  von  derjenigen  der  Braunkohlengebiete  angenehm  absticht. 
In  den  Bergen  herrscht  wie  bei  uns  noch  die  Hausindustrie  vor, 
unten  in  der  Ebene  der  Großbetrieb  mit  der  ganzen  Grausam- 
keit des  modernen  Industrielebens.  Ein  erschütterndes,  aber  wahres 
Bild  davon  gibt  die  Selbstbiographie  des  tschechischen  Tagelöhners 
Holek^). 

Doch  der  Leser  wird  ungeduldig  fragen,  was  diese  Darstellung 
der  böhmischen  Industrie  mit  der  Sprachenfrage  zu  tun  habe, 
und  in  der  Tat  hat  sie  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  ich  beifüge, 
dass  diese  ungewöhnliche  Ausbeutung  der  Bodenschätze  und  der 
Arbeitskräfte    vorwiegend    dem    Beginnen   der   Deutschen  zuzu- 


1)  Wenzel  Holek,  Lebensgang  eines  deutsch-tschechischen  Handarbeiters 
Jena,  Diederichs  1909,  geb.  Mk.  5.50. 


176 


schreiben  ist,  welche  denn  auch  ^3  des  Steueri<apitals  in  Händen 
haben.  Damit  komme  ich  zur  Gegenüberstellung  der  beiden 
Volksstämme. 

Die  Verteilung  der  beiden  Völker  über  das  Land  ist  folgende: 
Die  gebirgigen  Randgebiete  gegen  das  Reich  zu  sind  vor- 
wiegend deutsch,  nur  im  Riesengebirge  steigen  die  Tschechen  bis 
weit  hinauf.  Das  nördliche  Dreieck  ist  bis  da,  wo  die  Ebene  beginnt, 
fast  ganz  deutsch,  soweit  nicht  in  neuerer  Zeit  die  deutschen 
Fabrikanten  und  Bergwerkbesitzer  Massen  von  tschechischen 
Arbeitern  herbeigezogen  haben.  Das  Innere  des  Landes,  das  wel- 
lige, fruchtbare  Hügelland,  wird  ganz  von  den  Tschechen  bewohnt. 
Nur  die  Industriebezirke  weisen  dort  wieder  Deutsche  als  Unter- 
nehmer und  Beamte  auf. 

Die  Deutsch-Böhmen  gehören  nach  meinem  Eindruck,  so- 
weit sie  nicht  den  Böhmerwald  und  die  Gebiete  gegen  Österreich 
zu  bewohnen,  mehr  dem  norddeutschen  Schlag  an ;  es  sind  nicht 
die  „gemütlichen  Österreicher",  wie  man  sie  aus  Rosegger  und 
aus  der  Wiener  Literatur  kennt,  sondern  unternehmende  Ver- 
standes-Menschen,  die  wissen,  wo  es  gilt,  ihren  Vorteil  wahrzu- 
nehmen. Die  Fabrikanten  sind  übrigens  vielfach  aus  dem  benach- 
barten Sachsen  eingewandert  und  erst  neuerdings  in  Böhmen 
heimisch  geworden.  In  geistigen  Dingen  hält  der  Deutsch-Böhme 
viel  auf  die  Überlegenheit  der  deutschen  Kultur;  oft  scheint  ihm 
der  Zug  nach  einer  weltbürgerlichen  Auffassung  des  Lebens  ab- 
zugehen, während  die  Liebe  zu  seinem  Volkstum  sehr  stark  aus- 
gebildet ist.  Weniger  bedeutsam  ist  für  ihn  die  religiöse  Über- 
zeugung; er  ist  im  allgemeinen  stark  antiklerikal  gesinnt,  obschon 
dem  Namen  nach  die  überwiegende  Mehrzahl  römisch-katholisch 
geblieben  ist  und  sich  nicht  von  der  „Los  von  Rom"-Bewegung  hat 
mitreißen  lassen.  Doch  wird  ein  Protestant  keineswegs  gering 
geachtet  und  genießt  völlige  Freiheit  in  der  Befriedigung  seiner 
kirchlichen  Bedürfnisse.  Stark  empfindet  der  Deutsch-Böhme  eigent- 
lich nur  in  nationalen  Angelegenheiten;  er  ist  ein  Feind  der  Juden, 
die  einen  spürbaren  Einschlag  besonders  in  der  gebildeten  deutschen 
Bevölkerung  (nicht  nur  als  Handelsleute,  auch  als  Ärzte  und 
Juristen)  ausmachen,  und  dann  ein  Feind  der  Tschechen.  Gegen- 
über den  Gewohnheiten  und  Anschauungen  dieser  zwei  ihm  gegen- 
überstehenden Rassen  hat  der  Deutsch-Böhme  eine  hohe  Meinung 

177 


von  der  Kulturstufe  seines  Stammes.  Dass  übrigens  die  deutsche 
Bevöli<erung  nicht  rassenrein  ist,  das  heißt  dass  sie  nicht  nur 
germanische  Ahnen  hat,  bemeri^t  man  einmal  an  Gestalt,  Augen, 
und  Gesichtsbildung  (blonde  Haare,  blaue  Augen  trifft  man  in 
Deutschböhmen  nicht  häufig),  dann  auch  an  den  vielen  fremden 
Geschlechtsnamen  von  Deutschen,  selbst  von  Führern  der  all- 
deutschen Partei,  wie  Maly,  Iro,  Lipka,  und  andern;  es  handelt 
sich  offenbar  bei  den  Deutschen  Böhmens  ähnlich  wie  im  König- 
reich Sachsen  und  in  Preußisch-Schlesien  um  eine  starke  Ver- 
mischung der  eingewanderten  deutschen  Ansiedler  mit  der  ein- 
gebornen  tschechischen  oder  slawischen  Bevölkerung. 

Die  Deutschen  machen  in  Böhmen  37,  in  Mähren  sogar  nur 
28  Prozent  der  Einwohnerschaft  aus;  die  Mehrheit  bilden  in 
beiden  Ländern  die  Tschechen  oder  Tschecho-Slawen,  die  zusam- 
men mit  den  in  Schlesien  und  in  den  deutschen  Kronländern  an- 
säßigen Volksgenossen  etwa  sechs  Millionen  zählen.  Sie  sind  ein 
eher  kleiner,  blonder  Schlag  mit  schmaler  Gesichtsbildung,  ziem- 
lich lebhaft  in  ihrem  Gebaren  und  Reden,  mit  einer  gut  ent- 
wickelten Sprache,  welche  vorzüglich  zum  Ausdruck  sinnlicher  Wahr- 
nehmungen geeignet  sein  soll.  Wenn  wir  uns  die  russischen 
Studenten  und  Studentinnen  vergegenwärtigen,  die  jetzt  so  zahl- 
reich an  unseren  Schweizer  Universitäten  zu  finden  sind,  so  be- 
kommen wir  eine  Vorstellung  von  ihren  böhmischen  Rassen- 
verwandten, nur  dass  bei  diesen  die  helle  Farbe  der  Augen  und 
Haare  vorwiegt.  Die  Sprache  ist,  wie  die  russische,  reich  an 
Zischlauten,  sodann  reicher  als  die  deutsche  an  Beugungsformen, 
deshalb  für  uns  schwer  zu  erlernen,  auch  aus  dem  Grunde,  weil 
wir  in  ihr  wenig  Wurzeln  finden,  die  mit  solchen  aus  germanischen 
oder  romanischen  Sprachen  verwandt  sind,  wenn  man  sich  nicht 
auf  indogermanische  Sprachvergleichung  einlassen  will.  Als  Schrift 
wird  die  lateinische  benutzt,  in  alten  Drucken  auch  etwa  die 
deutsche  Frakturschrift.  Man  merkt  den  Tschechen  an,  dass  sie 
ein  Volk  von  verhältnismäßig  junger  Kultur  sind;  sie  lassen  sich 
rasch  für  etwas  begeistern,  darin  den  romanischen  Völkern,  etwa 
den  Italienern,  Franzosen  vergleichbar;  mit  diesen  verbindet  sie  eine 
wahre  Wahlverwandtschaft;  sie  verbrüdern  sich  gern  mit  ihnen  an 
rauschenden  Festen,  und  wenn  ein  Schweizer  gute  Aufnahme  bei 
ihnen  finden  will,   so  braucht  er  sich  nur  der  welschen  Sprache 

178 


zu  befleißen.  (Schweizer  Studenten,  die  auf  der  Durcfireise  in 
Prag  ein  Fest  mitmachten,  wissen  davon  ein  hübsches  Abenteuer 
zu  erzählen.)  Ähnlich  wie  die  südlichen  Völker  haben  die 
Tschechen  in  ihrer  Lebhaftigkeit  und  Sinnenfreudigkeit  etwas 
Kindliches;  sie  schmücken  sich  gerne  mit  grellen  Farben,  häufen 
auf  ihre  Lieblinge  einen  Reichtum  von  Kosenamen,  deren  die 
deutsche  Sprache  kaum  fähig  wäre;  aber  ebenso  schnell  sind  sie 
in  Harnisch  zu  bringen,  fangen  gern  Streit  an  und  benehmen 
sich  dann  so  kindisch,  dass  sie  auf  einer  recht  bescheidenen  Kultur- 
stufe zu  stehen  scheinen.  Doch  spricht  man  ja  den  romanischen 
Völkern  wegen  der  gleichen  Eigenschaften  nicht  die  Fähigkeiten 
zu  den  schönsten  Leistungen  in  Kunst  und  Wissenschaft  ab.  Und 
auf  diesen  Gebieten  sind  auch  die  Tschechen  nicht  zurückgeblie- 
ben. Besonders  in  den  Künsten  sprechen  ihnen  sogar  die  Deut- 
schen, ihre  erbitterten  Gegner,  eine  besondere  Begabung  für 
Musik  und  Malerei  nicht  ab.  Wer  zum  Beispiel  die  großen  Ge- 
mälde von  Brozik  im  Prager  Rathaus  (unter  anderen  Hus  in  Kon- 
stanz, Georg  Podiebrad)  betrachtet  hat,  wird  diesen  tschechischen 
Maler  aufrichtig  bewundern  und  unter  die  ersten  der  Gegenwart 
stellen.  Von  den  Tonkünstlern  nenne  ich  nur  die  bekannten 
Namen  Cerny  und  Dvoi^äk;  bekannt  sind  auch  die  sogenannten 
böhmischen  Musikanten,  die  besonders  früher  die  Länder  durch- 
zogen und  wenn  nicht  von  hoher  Künstlerschaft,  so  doch  von 
künstlerischer  Begabung  auch  des  einfachen  Volkes  zeugten.  Es 
mag  sein,  dass,  wie  von  den  Deutschen  immer  hervorgehoben 
wird,  die  Tschechen,  die  in  der  Wissenschaft  etwas  Hervor- 
ragendes geleistet  haben,  erst  durch  die  deutsche  Schule  mit  ihrer 
Gründlichkeit  und  Methode  hindurchgegangen  sind;  dann  darf 
aber  gesagt  werden,  dass  den  Tschechen  und  den  Slawen  über- 
haupt eine  große  Fähigkeit  eignet,  das  Gelernte  für  ihr  eigenes 
Volkstum  fruchtbar  zu  machen.  Schöpferisch  sollen  sie  besonders 
auf  dem  Gebiete  der  Sprachbildung  gewirkt  haben,  indem  sie  eine 
Menge  Wörter,  für  die  wir  griechische  und  lateinische  Ausdrücke 
beibehalten,  durch  eigene  Wortbildungen  ersetzt  haben.  Eine  genaue 
Schätzung  der  Leistungen  der  Tschechen  entzieht  sich  meinem 
Urteil,  da  ich  ihre  Sprache  zu  wenig  kenne. 

Den  Slawen  im   allgemeinen  und   den  Tschechen  im  beson- 
dern wird  große  UnreinUchkeit  vorgeworfen.  Dass  die  Slawen  als 

179 


Angehörige  einer  Rasse,  die  noch  nicht  so  lange  wie  die  Deut- 
schen unter  dem  Zeichen  der  Kultur  steht,  im  täglichen  Leben 
noch  weniger  das  Bedürfnis  der  Reinlichkeit  in  Kleidern,  Nahrung 
und  Wohnung  verspüren,  muss  man  wohl  zugeben ;  sie  ist  ihnen 
weniger  selbstverständlich  als  uns.  Eine  Stadt  wie  Prag,  das 
goldene  Prag,  Slata  Praha,  die  Hochburg  und  der  Stolz  der 
Slawen,  kann  sich  neben  dem  sauber  asphaltierten,  tadellos  rein 
gehaltenen  Dresden  im  benachbarten  Sachsen  nicht  sehen  lassen, 
und  es  wird  manchem  Westeuropäer  grauen,  wenn  er  in  die  in- 
neren Viertel  der  Altstadt  kommt,  wo  die  jüdischen  Trödler  ihr 
Wesen  treiben.  Prag  hat  noch  nicht  einmal  eine  rechte  Wasser- 
versorgung und  der  Typhus  herrscht  dort  beständig  wegen  des 
unsauberen  Moldauwassers,  in  dem  sogar  das  Baden  gefährlich 
ist.  Wenn  aber  der  Vorwurf  der  tschechischen  Unreinlichkeit 
von  den  Deutsch-Böhmen  erhoben  wird,  so  muss  ich  gestehen, 
dass  ich  auf  mehreren  Fahrten  ins  Innere  Böhmens,  wo  nur 
Tschechen  wohnen,  recht  saubere  Dörfer  und  besonders  Städt- 
chen wie  Melnik,  Gitschin,  Laun  getroffen  habe,  die  wohl  den 
Vergleich  mit  entsprechenden  Dörfern  und  Städten  Deutschböh- 
mens aushielten,  ja  diese  nach  meinem  Eindruck  sogar  manchmal 
an  Sauberkeit  übertrafen. 

Der  schlimmste  Vorwurf,  der  den  Tschechen  von  den  Deut- 
schen gemacht  wird,  ist  der  der  Kriecherei,  der  Servilität.  Man 
sagt,  dass  die  Tschechen  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  so  sehr 
an  die  Herrschaft  der  Deutschen  gewöhnt  hätten,  dass  ihnen  die 
Untertänigkeit  jetzt  im  Blut  liege,  dass  sie  also  mit  Ergebenheit 
und  Demut  ans  Ziel  ihrer  Wünsche  zu  gelangen  suchten.  Auch 
jener  Handarbeiter  Holek,  selbst  Tscheche  von  Geburt,  klagt  über 
die  erniedrigende  Demut  seiner  Volksgenossen  und  fühlt  sich 
wohler  unter  den  deutschen  Arbeitern,  weil  diese  ein  höheres 
Bewusstsein  vom  menschlichen  Wesen  in  sich  trügen.  Das  mag  wahr 
sein;  wenn  aber  jetzt  die  Tschechen  sich  als  eigene  Nation  frei 
und  unabhängig  den  Deutschen  gegenüber  zu  fühlen  gelernt 
haben,  so  zeigt  das,  dass  sie  auf  dem  Wege  sind,  diesen  beschä- 
menden Charakterzug  abzulegen.  Sind  die  Slawen  einst  den  kolo- 
nisierend vordringenden  Deutschen  als  der  Inbegriff  eines  un- 
freien Volkes  erschienen,  so  dass  der  Ausdruck  „Sklave"  direkt 
von  „Slawe"   herzuleiten   ist,  so  haben  sie  sich  seither  den  Ruf 

180 


eines  auf  seine  Ehre  stolzen  und  eifersüchtigen  Volkes  erworben. 
Welcher  Unbeteiligte  würde  ihnen  zu  diesem  Erfolge  nicht  Glück 
wünschen  ? 

Wenn  wir  oben  die  Frage  gestellt  haben,  warum  die  Tsche- 
chen, sobald  sie  sich  als  eigene  Nation  zu  fühlen  begannen,  den 
Deutschen  feind.  wurden,  so  wird  deren  Beantwortung  nun  auf 
Grund  der  Charakteristik  der  beiden  Volksstämme,  wie  ich  sie  zu 
geben  versuchte,  schon  leichter  sein.  Sie  ist  meines  Erachtens 
in  wenige  Worte  zu  fassen :  die  Deutschen  wollten  ihr  lange  aus- 
geübtes und  nicht  bestrittenes  Herrenrecht  über  die  Tschechen 
nicht  aufgeben,  auch  als  die  Tschechen  sich  als  selbständige 
Nation  zu  fühlen  begannen ;  die  Tschechen  haben  sich  die  Gleich- 
berechtigung erkämpft  und  machen  nun,  nachdem  sie  die  Oberhand 
gewonnen  haben,  von  dem  Rechte  des  Stärkeren  Gebrauch,  indem 
sie  die  deutsche  Minderheit  an  die  Wand  drücken  und  ihr  nun 
ihrerseits  die  Gleichberechtigung  nicht  mehr  zugestehen. 

Diese  Behauptung  müsste  freilich  erst  bewiesen  werden;  ich 
versuche  meine  Auffassung  zu  rechtfertigen,  indem  ich  einen  kurzen 
Überblick  über  die  Geschichte  des  Zusammenlebens  der  beiden 
Nationen  gebe. 

Die  Deutschen  wurden  als  willkommene  Ansiedler  von  dem 
tschechischen  Fürstengeschlecht  der  Prschemisliden,  besonders  von 
dem  berühmten  Ottokar  11.  herbeigerufen  (im  dreizehnten  Jahr- 
hundert) und  selbst  in  den  Vorstädten  der  königlichen  Stadt  Prag 
gern  gesehen.  Grillparzer  lässt  in  seinem  Drama  „Ottokars  Glück 
und  Ende"  den  energischen  König  zu  seinen  eignen  Landsleuten, 
die  sich  über  die  fremden  Eindringlinge  beklagen,  folgendes  sagen : 

ich  weiß  wohl,  was  Ihr  mögt,  ihr  alten  Böhmen ! 

Gekauert  sitzen  in  verjährtem  Wust 

Wo  kaum  das  Licht  durch  blinde  Scheiben  dringt; 

Verzehren,  was  der  vor'ge  Tag  gebracht, 

Und  ernten,  was  der  nächste  soll  verzehren ; 

Am  Sonntag  Schmaus,  an  Kirchmess  plumpen  Tanz 

Für  alles  andre  taub  und  blind; 

So  möchtet  ihr,  —  ich  aber  mag  nicht  so! 

Wie  den  Ertrinkenden  man  fasst  am  Haar, 

Will  ich  Euch  fassen,  wo's  am  meisten  schmerzt: 

Den  Deutschen  will  ich  setzen  Euch  in  Pelz 

Der  soll  Euch  kneifen,  bis  Euch  Schmerz  und  Ärger 

Aus  Eurer  Dumpfheit  wecken  und  Ihr  ausschlagt 

181 


Wie  ein  gesporntes  Pferd.    Ihr  denkt  der  Zeit, 

Da  Eure  Fürsten  saßen  an  dem  Herd 

Und  einen  Kessel  führten  in  dem  schnöden  Wappen : 

Ich  bin  kein  solcher!  straf  mich  Gott!  —  seht  her, 

Der  Mantel  ward  in  Augsburg  eingekauft! 

Das  Gold,  der  Sammt,  die  Stickerei,  das  ganze, 

Könnt  ihr  das  machen  hier  in  Eurem  Land  ? 

Ihr  sollt,  bei  Gott,  Ihr  sollt,  ich  wills  Euch  lehren ! 

Mit  Köln  und  Wien,  mit  Lunden  und  Paris 

Soll  Euer  Prag  hier  stehen  in  der  Reihe 

FRAUENFELD  TH.  GREYERZ 

(Schluss  folgt) 

CDD 

L'INSTITUT  J.-J.  ROUSSEAU  A  GENEVE 

(£COLE  DES  SCIENCES  DE  L'EDUCATION) 

II  existe  ä  Geneve,  sous  la  presidence  de  M.  le  professeur  Bouvier, 
une  Societe  Jean-Jacques  Rousseau,  destinee  ä  favoriser  les  etudes  rous- 
seauistes.  L  Institut  J.-J.  Rousseau,  dont  nous  nous  proposons  d'entretenir 
les  lecteurs  de  Wissen  und  Leben,  n'a  de  commun  avec  eile  que  le  nom 
du  boheme  philosophe.  Qu'on  veuille  donc  bien  ne  pas  confondre  la  So- 
ciete et  rinstitut,  encore  que  tous  deux  rendent  hommage  ä  leur  maniere 
ä  l'immortel  Genevois,  dont  on  a  celebre  l'annee  derniere  le  bicentenaire. 

C'est  precisement  ä  l'occasion  de  cet  anniversaire  que  l'Institut  a  ete 
fonde  il  y  a  quelques  mois,  encore  que  I'idee  de  sa  creation  remonte  dejä 
ä  quelques  annees.  II  s'intitule  aussi  Ecole  des  Sciences  de  l'Education, 
et,  Sans  demander  ä  Jean-Jacques  un  programme  qu'il  ne  pourrait  fournir, 
l'institution  poursuit  la  ligne  de  l'auteur  de  VEmile.  Le  fondateur  de  l'Insti- 
tut, M.  Ed.  Claparede,  place  ce  mot  de  Rousseau  en  tete  des  pages  qu'il 
a  consacröes  dans  les  Archives  de  Psychologie  (fevrier  1912)  au  projet  qui 
lui  tenait  ä  coeur:  „Commencez-donc  par  etudier  vos  eleves,  car  tres  assu- 
rement  vous  ne  les  connaissez  point."  Et  M.  le  professeur  Pierre  Bovet, 
appeie  ä  diriger  l'Ecole,  ecrit  lui  aussi,  dans  VAnnee  psychologique 
(Tome  XVIII):  „Jean-Jacques  Rousseau  a  vu  l'enfant  comme  on  ne  l'avait 
pas  vu  avant  lui,  et  de  ses  vues  nous  sommes  loin  d'avoir  tire  encore  en 
theorie  et  en  pratique  tout  ce  qu'elles  renferment.  Si  la  psychologie  fonc- 
tionnelle  peut  se  reclamer  de  Jean-Jacques,  les  idees  modernes  sur  les  en- 
fants  continuent  les  siennes." 

Ainsi  place  sous  l'egide  de  celui  que  l'enfance  a  tant  Interesse,  l'Institut 
J.-J.  Rousseau  a  ouvert  ses  portes  le  21  octobre  1912.  II  a  son  organe, 
VIntermediaire  des  Educateurs,  qui  le  met  en  rapport  avec  ses  collabora- 

182 


teurs ;  il  public  une  collection  d'actualites  pedagogiques.  Le  Comite  de 
patronage  compte  des  noms  connus  de  Suisse  et  de  l'etranger  comme 
pedagogues,  medecins,  psychologues,  hygienistes,  professeurs.  II  y  a  un 
conseil  d'administration,  un  directeur  et  un  comite  de  direction.  L'affaire, 
comme  on  le  voit,  est  serieusement  menee.    Que  se  propose-t-on  ? 

„L'Ecole,  dit  le  programme  que  nous  avons  sous  les  yeux,  a  pour 
but  d'orienter  les  personnes  se  destinant  aux  carrieres  pedagogiques  sur 
l'ensemble  des  disciplines  touchant  ä  l'education.  Elle  vise  notamment  ä  les 
initier  aux  methodes  scientifiques  propres  ä  faire  progresser  la  psychologie 
de  l'enfant  et  la  didactique.  L'enseignement  est  donne  essentiellement  sous 
la  forme  de  Conferences  de  seminaire,  les  eleves  faisant  sous  la  direction 
des  professeurs  un  travail  personnel." 

Precisons  cette  indication  generale  d'apres  les  donnees  des  publi- 
cations  de  MM.  Claparede  et  Bovet,  indiquees  plus  haut. 

L'idee  de  l'lnstitut  Rousseau  est  nee  de  la  double  constatation  de 
l'insuffisance  de  preparation  scientifique  des  educateurs  et  de  la  necessite 
d'assurer  les  progres  de  la  science  de  l'education. 

II  est  affligeant  de  voir  combien  les  jeunes  educateurs  connaissent  mal 
l'enfant.  lls  repandent  la  semence  dans  un  sol  qu'ils  ne  savent  ni  labourer 
ni  preparer,  et  dont  ils  ignorent  la  constante  evolution.  Le  corps  enseignant 
lui-meme  fait  souvent  l'aveu  de  son  incompetence  en  matiere  de  psycho- 
logie infantile.  L'enseignement  scolastique  devrait  faire  place  ä  une  educa- 
tion  basee  sur  une  preparation  vraiment  scientifique.  On  eprouve  le  besoin 
de  cette  transformation  non  seulement  dans  le  domaine  de  l'instruction 
primaire,  mais  aussi  en  Instruction  secondaire,  dans  les  cours  agricoles 
et  jusque  dans  les  Universites.  A  tous  les  degres  on  se  rend  compte  avec 
une  nettete  croissante  que  la  question  didactique  est  ä  revoir.  Les  con- 
gres  insistent  les  uns  apres  les  autres  sur  l'importance  d'une  Initiation 
des  maitres  ä  tout  ce  qui  concerne  la  science  de  l'enfant.  Des  cours  se 
donnent  ici  ou  lä  qui  s'efforcent  d'ouvrir  la  voie  trop  longtemps  negligee: 
cours  de  psychologie  medico-pedagogique,  cours  de  psycho-pedagogie  ex- 
perimentale,  Conferences  de  Physiologie  et  d'hygiene  infantiles  et  de  Psy- 
chopathologie des  anormaux.  II  y  a  dejä  un  Institut  de  pedagogie  et  de 
Psychologie  experimentales  ä  Leipzig  et  un  institut  psycho-pedagogique  ä 
Munich.  La  creation  d'etablissements  analogues  est  ä  l'etude  egalement  en 
Angleterre.  Bref,  de  tous  cötes  on  sent  le  besoin  de  preparer  scientifique- 
ment  l'instituteur  ä  sa  täche. 

Et  dans  tous  ces  efforts  une  pensee  domine,  qui  est  le  renversement 
de  ce  qu'on  a  vu  et  pratique  jusqu'ä  maintenant:  l'enfant  devient  le  centre 
da  Systeme  e'ducatif.  On  en  arrive  ä  comprendre  qu'il  n'est  point  fait  pour 
l'ecole,  mais  bien  l'ecole  pour  lui.  „Reform  vom  Kinde  aus!"  dit  la  devise 
du  Bund  für  Schulreform  fonde  recemment  en  Allemagne.  Les  methodes, 
les  procedes,  les  programmes  doivent  se  mesurer  aux  capacites  de  l'enfant. 
Ce  n'est  pas  ä  l'enfant  ä  se  courber  devant  le  Systeme,  c'est  le  Systeme 
qui  doit  se  plier  ä  l'äge  et  aux  aptitudes  des  eleves. 

On  le  sait  d'ailleurs  depuis  longtemps,  on  l'a  repete  sur  tous  les 
tons.  On  l'a  trop  peu  pratique.  Rousseau,  dans  X Emile,  et  dejä  Montaigne, 
dans  les  Essais,  ont  ete  en  ces  matieres  les  grands  initiateurs,  et  si,  assu- 
rement,  leur  influence  n'a  point  ete  vaine  —  qui  le  soutiendrait?  —  on 
est   reste   bien    en-dessous  de  l'ideal   que   ces  renovateurs  ont  pose  et  la 

183 


routine  a  eu  trop  souvent  raison  de  l'esprit  de  progres.  Les  efforts  des 
Pestalozzi,  des  Herbart,  des  Froebel  n'ont  reussi  pratiquement  qu'ä  corri- 
ger  certains  defauts  Interieurs  de  I'edifice.  Cest  quelque  chose.  Ce  n'est 
pas  süffisant.  Ce  que  nous  pourrions  appeler  le  petit  logement  d'ä  cöte 
des  ecoles  enfantines  a  ete  transforme.  Le  grand  bätiment  de  l'instruction 
primaire  et  secondaire  est  encore  ä  reconstruire  ou  plutöt  ä  construire  sur 
le  fondement  pose  par  Rousseau.  On  est  loin  d'avoir  rompu  partout,  tant 
s'en  faut,  avec  l'emmagasinage  des  details  inutiles  en  histoire,  avec  la  no- 
menclature  seche  sous  forme  de  listes  et  d'enumerations  en  geographie, 
avec  la  regle  de  grammaire  presentee  comme  un  „probleme  de  pure  me- 
moire livresque",  avec  l'etude  du  vocabulaire  en  dehors  des  textes  en  ma- 
tiere  de  langues  mortes.  Meme  en  sciences,  quelle  memorisation  souvent 
fastidieuse  et  souvent  inutile  de  „noms  de  plantes,  de  coquilles  et  de  fos- 
siles". 11  n'est  pas  jusqu'aux  mathematiques,  oü  tout  devrait  etre  jugement 
et  reflexion,  qui  ne  soient  infectees  du  „microbe  de  savoir  par  coeur." 

Tout  cela,  c'est  la  negation  du  genie  propre  de  l'enfant.  Cest  la  cer- 
velle  qu'on  bourre  de  force  de  notions  qui  ne  peuvent  etre  assimilees,  c'est 
le  Systeme  livresque  ä  la  place  du  travail  pratique  et  fructueux.  „Oh!  edu- 
cateurs  inattentifs !  s'ecrie  Jean  Aicard;  quelle  fleur  m'apportez-vous  lä? 
Je  ne  veux  pas  de  ronces  pour  le  bouquet  des  Souvenirs  de  mon  fils." 
Pareilles  methodes  empechent  l'enfant  de  vivre  sa  vie,  elles  lui  rendent 
l'etude  amere,  et  avec  une  absence  complete  de  logique  et  de  bon  sens 
elles  moulent  tous  les  enfants,  intelligents  ou  non,  dans  les  memes  cadres, 
elles  ont  pour  tous  les  memes  exigences,  elles  etouffent  l'elite  sous  la  pe- 
danterie  du  nivellement  et  la  grosse  masse  sous  le  poids  d'un  bagage  trop 
lourd. 

Connaissons  donc  mieux  l'enfant,  et  respectons  ses  droits!  Juvenal 
avait  dejä  dit:  Maxima  debetur  puero  reverentia.  Nulle  part  mieux  qu'en 
education  cette  formule  doit  trouver  sa  place.  Elle  est  encore  loin  de  l'avoir, 
et  les  educateurs  de  la  jeunesse  sont  les  premiers  ä  s'en  plaindre. 

A  qui  la  faute  ? 

Les  instituteurs,  qui  deplorent  cette  Situation,  ne  peuvent  en  etre  ren- 
dus  responsables,  d'autant  moins  qu'un  grand  nombre  d'entre  eux  rachetent 
en  une  certaine  mesure  par  leurs  qualites  naturelles  et  leur  devouement  les 
defauts  du  Systeme  et  s'efforcent  malgre  tout  de  tenir  compte  de  l'indivi- 
dualite  de  leurs  eleves,  bien  qu'en  fin  de  compte  ils  soient  obliges  de  sa- 
tisfaire  au  gavage  pour  remplir  les  programmes  et  preparer  les  examens. 

L'Etat  ne  peut  pas  davantage  etre  incrimine,  encore  que  les  gouver- 
nements  aient  ete  plus  soucieux  de  repandre  l'instruction  que  d'approfondir 
le  Probleme  pedagogique.  „11  n'existe  malheureusement  pas  d'organisation 
destinee  ä  rechercher  d'une  fagon  methodique  quel  est  le  rendement  sco- 
laire  de  teile  methode,  de  tel  programme,  quelles  sont  les  fautes  commises 
qu'il  faudrait  eviter,  quelle  est  la  cause  des  educations  manquees,  ce  que 
deviennent  les  anciens  ecoliers,  ce  qu'etaient  au  College  ceux  qui  sont  deve- 
nus  plus  tard  des  hommes  de  talent  ou,  au  contraire,  des  malfaiteurs, 
quelles  sont  les  causes  de  l'arrieration  mentale  ...  et  c'est  cependant  une 
Organisation  de  ce  genre  qui  seule  permettrait  ä  la  pedagogie  de  progres- 
ser  d'une  fac^on  süre  et  normale"  (Claparede).  Cette  negligence  n'est  ce- 
pendant pas  le  fait  des  pouvoirs  publics,  brides  forcement  par  l'ambiance, 
l'opinion  et  les  traditions  admises. 

184 


Oü  git  donc  le  mal?  II  vient  essentiellement  de  ce  que  les  verites 
pedagogiques  ont  manque,  pour  s'imposer,  de  la  base  scientifique  indis- 
pensable. On  n'a  pas  apporte  la  ve'rification  experimentale  du  principe 
pose'  par  Rousseau.  Donnez  ä  la  pedagogie  un  fondement  rigoureusement 
scientifique  et  psychologique,  et  vous  entrainez  l'opinion  publique  et  les 
reformes  necessaires.  Herbart  lui-meme,  avec  tous  les  Services  qu'il  a  ren- 
dus,  a  eu  le  tort  de  s'en  tenir  ä  une  Psychologie  speciale  de  l'enfant;  il  a 
oublie  aussi  de  maintenir  sa  doctrine  en  contact  continuel  avec  les  faits, 
alors  que  Vexperimentation  doit  sans  cesse  controler  la  psychologie. 

Mais  nous  possedons  aujourd'hui  des  connaissances  et  des  methodes 
psychologiques  qui  nous  permettent  de  donner  ä  la  pedagogie  l'assise  qui 
lui  manque.  La  psychologie  est  sortie  de  son  caractere  purement  phiio- 
sophique  pour  devenir  scientifique.  La  psychologie  de  l'enfant,  en  particu- 
lier,  fille  de  la  biologie,  nous  a  revele  les  etapes  de  l'evolution  infantile, 
avec  leurs  centres  speciaux  d'interets,  et  la  signification  de  l'enfance;  eile 
nous  a  fourni  des  methodes  d'investigation,  tels  les  tests  d'Alfred  Binet 
pour  mesurer  l'intelligence  des  enfants. 

Comment  penetrer  la  pedagogie  de  ces  donn^es  et  de  ces  methodes 
scientifiques? 

P  En  creant  des  organes  qui  recueillent  le  materiel  documentaire  et 
en  degagent  les  conclusions  et,  si  possible,  les  lois. 

2"  En  initiant  les  maltres  aux  regles  de  cette  methode  scientifique. 

C'est  lä  precisement  la  raison  de  la  creation  de  l'Institut  Rousseau, 
et  nous  comprenons  maintenant  son  but  (voir  plus  haut):  orienter  les  per- 
sonnes  se  destinant  aux  carrieres  pedagogiques  sur  l'ensemble  des  disci- 
plines  touchant  ä  l'education,  les  initier  aux  methodes  propres  ä  faire  pro- 
gresser  la  psychologie  de  l'enfant  et  de  la  didactique,  les  faire  travailler 
elles-memes,  directement,  sous  la  direction  des  professeurs,  dans  des  Con- 
ferences de  seminaire. 

On  peut  faire,  et  on  a  dejä  fait,  dans  le  corps  enseignant  en  parti- 
culier,  des  objections  diverses  aux  principes  scolaires  psycho-pedagogiques 
et  experimentaux  que  l'Institut  Rousseau  espere  acclimater.  On  se  recrie 
au  nom  de  l'instinct  inne  que  tout  educateur  porte  en  lui  et  qui  le  dispense 
d'une  methode  basee  sur  la  science.  Mais  en  realite  le  don  pedagogique 
n'est-il  pas  l'apanage  d'un  petit  nombre  seulement,  et  s'il  faut  attendre  que 
les  annees  aient  forme  l'instituteur,  combien  ses  eleves  n'auront-ils  pas  ä 
pätir  de  ses  tätonnements? 

On  pretend  egalement  que  l'ecole  publique  ne  doit  pas  etre  un  champ 
d'experience,  et  au  nom  des  enfants  on  proteste  contre  l'espece  de  vivi- 
section  morale  (le  mot  a  ete  prononce)  qu'on  veut  pratiquer  ä  leurs  de- 
pens.  Mais  il  est  permis  de  demander  qui  donc  martyrise  le  plus  l'eleve, 
de  l'educateur  qui  exerce  ä  leur  endroit  ses  procedes  empiriques,  au  risque 
de  les  degoüter  souvent  de  l'ecole  et  de  vicier  des  le  debut  leurs  facultes 
d'assimilation  et  de  raisonnement,  ou  de  l'educateur,  qui,  avec  une  experi- 
mentation  raisonnee,  critiquee  et  toujours  verifiee  ä  nouveau,  cherche  les 
moyens  vrais   et  scientifiques  de  penetrer  jusqu'ä  l'intelligence  de  l'enfant. 

En  realite,  „aucune  raison  theorique  ne  s'oppose  ä  ce  que  les  ques- 
tions  pedagogiques  soient  soumises,  comme  toutes  les  autres  questions  de 
fait,  ä  l'experimentation",   et  l'on  n'a  pas  de  raison  de  craindre  des  obser- 

185 


vations  systematiques  dans  les  ecoles.  L'enseignement  ne  peut  qu'y  gagner 
en  sürete,  et  l'enfant  loin  d'en  souffrir  est  traite  „comme  un  etre  humain; 
l'institution  scolaire  est  appropriee  ä  ses  besoins,  parce  que  les  ecoles  sont 
creees  pour  lui,  et  non  lui  pour  les  ecoles"  (Millioud,  cite  par  Claparede). 
Rien  ne  doit  empecher  l'educateur  de  contröler  dans  sa  classe  une  nou- 
velle  methode  pedagogique  ou  le  rendement  d'un  Systeme  special.  D'autres 
experiences  pourront  et  devront  tendre  ä  connattre  toujours  mieux  la  men- 
talite  de  l'enfant.  L'eleve,  souvent,  ne  se  doutera  meme  pas  de  l'etude 
dont  il  est  l'objet,  et  le  maitre,  en  cherchant  ä  penetrer  la  maniere  de 
penser  et  de  sentir  de  l'enfant,  decouvrira  toute  sorte  d'idees  nouvelles 
utiles  pour  son  enseignement,  qui  en  deviendra  plus  pratique  et  plus  cap- 
tivant,  Sans  compter  que  ce  qui  ne  sera  pas  trouve  immediatement  utili- 
sable  pourra  recevoir  plus  tard  son  application. 

Sur  quoi  les  investigations  devront-elles  porter?  On  n'a  que  l'embar- 
ras  du  choix:  developpement  de  la  pensee  de  l'enfant,  questions  d'hygiene, 
d'alimentation,  d'education  morale  et  sociale;  etude  des  diversites  indivi- 
duelles, traitement  des  anormaux  et  des  surnormaux  (entre  parentheses, 
les  arrieres  scolaires  ont  ete  recemment  l'objet  de  la  sollicitude  des  auto- 
rites  vaudoises  qui  prennent  ä  ce  sujet  des  mesures  de  protection  qu'on 
ne  saurait  assez  louer);  economie  du  travail  scolaire  (depense  minimum 
d'energie  cerebrale  pour  un  maximum  de  rendement),  procedes  de  memori- 
sation,  de  repos,  d'entrainement,  horaires,  examens,  etc.;  recherche  des 
meilleures  methodes  pour  chaque  discipline,  suivant  Tage  ou  l'etat  mental 
de  l'enfant;  rendement  non  pas  en  quantite  d'erudition,  bien  entendu, 
mais  en  assimilation  des  matieres  enseignees:  et  aussi  qualites  requises  du 
maitre,  effets  de  son  caractere  sur  ses  eleves.  Donc,  une  foule  de  points, 
dont  seule  une  inveteree  routine  peut  contester  l'importance. 

On  voit  des  lors,  ä  quels  besoins  imperieux  repond  un  Institut  de  la 
nature  de  l'Institut  Rousseau.  11  sera  un  centre  didactique,  oü  le  futur  edu- 
cateur  pourra  se  documenter  rapidement  sur  tout  ce  qui  touche  ä  l'edu- 
cation,  notamment  sur  la  reforme  pedagogique  elle-meme;  et  surtout  11 
apprendra  comment  il  ne  faut  pas  experimenter,  crainte  d'erreurs,  et  com- 
ment  il  faut  s'y  prendre  pour  aboutir  avec  des  chances  de  succes.  L'Insti- 
tut centralisera  les  recherches,  le  materiel,  les  statistiques,  et  ses  propres 
eleves  eux-memes  s'emploieront  ä  ce  travail  avec  les  professeurs.  11  cen- 
tralisera de  meme  les  informations;  nous  avons  dejä  dit  qu'il  a  son  Jour- 
nal, il  a  de  meme  son  musee  et  sa  bibliotheque,  il  pourra  posseder  son 
Service  de  consultation.  II  agira  sur  le  public  pour  tout  ce  qui  touche  non 
seulement  ä  l'instruction  de  l'enfant  mais  ä  son  bien  general.  11  completera 
et  achevera  les  institutions  analogues,  mais  quelquefois  embryonnaires, 
d'Europe  et  d'Amerique.  A  cöte  des  ecoles  normales,  qui  pr^parent  les  ins- 
tituteurs  ä  remplir  des  programmes  dejä  fixes,  il  etudiera  les  programmes 
eux-memes  en  meme  temps  que  les  methodes  en  usage. 

Un  principe  superieur  dirigera  l'enseignement  de  l'Institut:  la  con- 
ception  fonctionnelle  de  i'education,  posee  par  Rousseau,  et  que  M.  Cla- 
parede resume  ainsi :  „I'education  de  l'enfant  doit  se  faire  du  dedans,  non 
du  dehors:  eile  doit  consister  non  dans  une  action  exterieure  exercee  par 
le  maitre  sur  l'eleve,  mais  dans  un  acte  meme  de  l'enfant,  acte  consecutif 
ä  l'eclosion  de  mobiles  inteiieurs.  Connattre  ces  mobiles  propres  ä  declan- 
cher  l'action  et  l'effort,   et,   une  fois  qu'ils  sont  connus,   les   mettre  en  jeu 

186 


en  pla(;ant  l'enfant  dans  les  conditions  convenables,  tel  doit  etre  le  but  de 
l'educateur."  Autrement  dit,  le  point  de  depart  est  et  doit  rester,  tant  que 
l'experience  ne  l'aura  pas  contredit,  la  psycho-biologie  de  l'enfant  et  l'ob- 
servation  de  son  activite.  Cela  est  conforme  aux  lois  de  l'evolution  et  de 
la  Psychologie  generale,  bref  aux  lois  de  la  vie;  tout  l'effort  de  la  peda- 
gogie  fonctionnelle  tendra  ä  susciter  la  contrainte  Interieure  ä  la  place  de 
la  methode  coercitive.  Ainsi  essayent  dejä  de  faire  les  „ecoles  nouvelles." 
L'lnstitut  Rousseau  prolongera  et  perfectionnera  cette  experience  et  en 
synthetisera  les  resultats. 

Une  caracteristique  interessante  de  l'Ecole  est  qu'elle  regoit  des  eleves 
Sans  grade  ni  diplome.  11  suffit  pour  pouvoir  etre  inscrit  d'avoir  dix-huit 
ans  et  de  posseder  une  culture  generale  süffisante.  L'Ecole  est  ainsi  ou- 
verte  ä  toute  personne  capable  de  suivre  des  etudes  superieures,  et  con- 
formement  au  principe  d'individualisation  qu'on  reclame  pour  les  enfants, 
on  n'astreindra  les  eleves  de  l'lnstitut  qu'ä  ceux  des  cours  adaptes  au  but 
qu'ils  se  proposent.  Le  reglement  porte  qu'un  plan  d'etudes  est  propose 
par  le  Comite  directeur  ä  chaque  eleve,  tot  apres  son  arrivee,  en  tenant 
compte  de  ses  desirs  et  de  ses  aptitudes.  Des  diplomes  et  des  certificats 
termineront  les  etudes,  mais  l'eleve  ne  sera  pas  „ecrase  par  l'instruction 
livresque  et  terrorise  par  l'examen  final."  Ce  qu'on  lui  demandera  c'est  une 
participation  personnelle  et  active  aux  travaux  de  l'Ecole,  et  le  diplome 
mentionnera  la  direction  que  l'etudiant  aura  specialement  poursuivie,  (en- 
seignement  des  tout  petits,  Instruction  secondaire,  etc.).  L'essentiel  sera 
qu'il  mette  du  sien  dans  la  recherche  et  le  depouillement  des  documents, 
et  que,  sous  la  direction  des  professeurs,  il  arrive  ä  tirer  par.i  par  lui-meme 
des  faits  et  des  experiences  qu'on  mettra  sous  ses  yeux.  Preparation  toute 
pratique,  comme  on  voit,  oü  le  professeur  est  moins  un  mattre  qu'un  guide, 
et  oü  l'on  fait  appel  aux  qualites  et  aux  ressources  individuelles  et  ä 
l'esprit  d'initiative  de  chacun,  L'eleve,  par  exemple,  preparera  lui-meme  des 
le^ons  qui  seront  discutees  et  critiquees  par  ses  coUegue-  et  par  le  pro- 
fesseur. On  le  mettra  de  meme  en  contact  direct  avec  des  enfants  et  des 
classes,  et  nous  savons  dejä  tel  directeur  d'ecole  qui  ne  demande  qu'ä 
recevoir  la  visite  des  futurs  ^ducateurs  dans  les  etablissements  ä  lui  confies. 

On  sent  que  dans  toute  cette  conception  l'lnstitut  entend  non  seule- 
ment  instruire  ses  eleves  sur  l'education  fonctionnelle  mais  la  pratiquer  ä 
leur  egard.  MM.  Ciaparede  et  Bovet  le  disent  tous  les  deux:  il  ne  s'agit 
pas  d'endoctriner  mais  d'orienter.  „Enseigner,  sur  l'enfant  normal  et  anor- 
mal, ce  que  l'on  sait,  et  les  moyens  de  rechercher  ce  que  l'on  ne  sait  pas 
encore;  sur  les  methodes  d'enseignement  ce  qui  se  fait  et  la  fa^on  dont 
on  peut  contröler  la  valeur  de  ce  qui  se  fait:  sur  les  efforts  scolaires  et 
extra-scolaires  d'education  morale  —  d'education  religieuse,  esthetique  et 
sociale  aussi  —  renseigner  encore,  en  cherchant  toujours  une  methode 
pour  apprecier  les  resultats.  Et,  pour  apprendre  tout  cela,  autant  que  pos- 
sible  le  faire  voir;  suivant  les  aptitudes  et  la  vocation  des  eleves,  les  ame- 
ner ä  collaborer  aux  entreprises  scolaires,  de  fa^on  ä  ce  que  l'on  s'exerce 
ä  voir  et  ä  profiter  de  ce  que  Ton  a  vu"  (Bovet).  Et  pour  parer  ä  la  gri- 
serie  possible  des  eleves,  qui  pourraient  oublier  la  realite  concrete  quand 
on  leur  parlera  de  psychoIogie,  de  pathologie  ou  d'analyse,  le  professeur 
dirigera  lui-meme  l'etudiant  de  fa^on  graduee  et  il  le  suivra  de  tres  pres 
tout  en  lui  laissant  le  plus  de  liberte  d'action  possible, 

187 


On  appreciera  l'esprit  de  recherche  aussi  complete  et  aussi  compa- 
rative  que  possible  qui  anlme  l'Institut  Rousseau  quand  on  saura  qu'ä  cöte 
de  ses  Services  ordinaires,  il  sera  dote,  si  la  chose  est  possible,  d'un  labo- 
ratoire  de  psychologie  animale.  Le  psychisme  animal  et  le  psychisme  in- 
fantile ont  plus  de  rapports  qu'on  ne  pourrait  penser  au  premier  abord. 
Et  puis  surtout,  en  se  livrant  ä  des  exercices  de  psychologie  animale,  le 
futur  educateur  s'habitue  ä  comprendre  d'autres  esprits  que  le  sien  et  ä 
regier  sa  conduite  en  consequence.  En  agissant  avec  un  enfant,  on  est 
volontiers  porte  ä  s'en  prendre  ä  lui  des  insucces  constates,  et  Ton  oublie 
qu'on  a  peut-etre  brusque  les  voies  que  la  nature  a  tracees  ä  l'acquisition 
des  habitudes.  Mais  en  manipulant  un  animal,  force  est  de  s'armer  de  pa- 
tience  et  de  douceur,  et  de  ne  point  se  laisser  effrayer  par  de  perpetuels 
recommencements. 

Un  membre  de  Commission  scolaire,  dont  j'apprecie  le  sens  praiique, 
racontait  un  jour,  ä  propos  d'education,  la  fa(;on  dont  son  professeur  de 
manege,  au  Service  militaire,  recommandait  de  s'approcher  du  cheval: 
„Allez  ä  lui  comme  ä  une  jolie  femme,  et  vous  ferez  de  lui  tout  ce  que 
vous  voudrez!"  tant  il  est  vrai  que  le  dressage  demande  du  tact,  de  la 
retenue,  et  une  veritable  politesse.  Et  la  personne  dont  je  parle  ajoutait 
avec  un  parfait  serieux:  „Faisons  donc  pour  Tenfant  ce  qu'on  exige  ä  l'en- 
droit  de  la  bete,  et  nous  aurons  toute  sorte  de  chances  de  reussir!"  Pen- 
see tres  juste,  et  nous  sommes  persuade  qu'une  Ecole  des  sciences 
de  l'education  qui  s'annexerait  un  laboratoire  de  psychologie  animale, 
comme  espere  le  faire  l'Institut  Rousseau,  donnerait  ä  ses  eleves  un  doigte 
et  une  sürete  de  main  dont  les  enfants  retireraient  un  incontestable  bene- 
fice  dans  l'enseignement  scolaire. 

Si  l'Institut  n'est  pas  encore  outille  ä  cet  ^gard,  au  moins  le  Pro- 
gramme des  cours  et  Conferences  du  semestre  d'hiver  1912—1913,  que  nous 
avons  sous  les  yeux,  montre  que  d'emblee  on  a  cherche  ä  repondre  aux 
besoins  dans  les  directions  les  plus  diverses.  A  cöte  des  le(;ons  du  fon- 
dateur  et  du  directeur,  on  a  fait  appel  ä  de  nombreux  professeurs  et  spe- 
cialistes,  pedagogues,  medecins,  voire  ä  des  artistes  qui  donnent  ou  bien 
un  enseignement  suivi  ou  des  series  de  causeries.  Les  sujets  sont  groupes 
sous  les  grands  chefs:  l'Enfant,  l'Enseignement,  l'Education. 

On  etudie  ainsi  la  psychologie  de  l'enfant,  la  psychologie  experimen- 
tale,  la  psychologie  speciale  (types  mentaux,  art  d'observer).  Dans  les  me- 
thodes  de  recherche,  il  y  a  place  pour  les  experiences  en  classe,  l'anthro- 
pometrie  scolaire,  les  enquetes  sociales  sur  I'enfance,  la  technique  psycho- 
logique,  la  graphologie  infantile.  On  aborde  la  puericulture,  les  questions 
de  croissance  et  de  maladie  des  enfants,  les  anomalies  mentales,  les  clas- 
ses  d'arrieres.  Voilä  pour  l'Enfant. 

Pour  l'Enseignement,  je  note  la  didactiqne  generale  (technique  du 
travail  scolaire,  attention,  memoire,  association),  le  röle  de  l'energetique, 
la  didactique  speciale  en  matiere  d'enseignement  des  tout  petits  ou  d'en- 
seignement  du  fran<;ais,  des  langues  etrangeres  ou  des  langues  anciennes, 
de  Thistoire,  de  la  geographie,  des  sciences,  des  mathematiques  elemen- 
taires;  la  culture  physique,  la  gymnastique  rythmique;  Organisation  des 
classes  (classes  mobiles,  examens,  ecoles  nouvelles);  l'hygiene  scolaire, 
(bätiment  et  individus,  mesure  prophylactiques  et  hygieniques) ,  formation 
de  la  voix  du  maitre;  röle  du  dessin  pour  illustrer  l'enseignement. 

188 


Dans  ie  domaine  enfin  de  l'Education  proprement  dite,  on  discute 
et  etudie  les  questions  d'education  morale  (sports,  jeux,  travaux  manuels, 
education  esthetique,  education  sexuelle,  coeducation,  autonomie  scolaire, 
sanctions,  education  civique,  les  oeuvres  laiques  ou  religieuses  (Eclaireurs, 
Espoir,  ecoles  du  jeudi),  les  types  d'education  religieuse,  l'energie  psychique, 
la  criminalite  juvenile,  les  agents  qui  agissent  sur  la  race,  l'ecole  au  point 
de  vue  sociologique,  enfin  l'histoire  et  la  philosophie  des  grands  educateurs 
anciens,  modernes  et  contemporains. 

Teile  est,  rapidement  esquissee,  l'oeuvre  avec  ses  principes  et  son 
Organisation,  ün  le  voit:  c'est  une  entreprise  considerable.  Nous  autres 
Suisses  ne  pourrons  jamais  assez  nous  feliciter  qu'elle  soit  nee  en  terre 
helvetique,  dans  la  patrie  de  Rousseau.  Dejä  les  etudiants  arrivent  des 
endroits  les  plus  divers  et  les  plus  lointains.  11s  remporteront  chez  eux  une 
semence  de  prix.  Nous  souhaitons  seulement  que  les  educateurs  de  notre 
pays  ne  s'en  laissent  pas  ravir  tout  le  benefice,  et  qu'il  n'en  aille  pas  de 
I'Institut  Rousseau  ce  qui  est  advenu  de  mainte  autre  initiative  feconde  que 
nous  avons  iaisse  tomber  avec  une  parfaite  incomprehension  de  nos  in- 
terets  les  plus  immediats.  La  ville  de  Rousseau  devait  cette  creation  au 
monde.  Nous,  Suisses,  devons  ä  nous-memes  d'en  profiter  les  tout  premiers. 

NYON  LOUIS  GOUMAZ 

D  D  D 

PARSIFAL 

Das  Unbeschreibliche,  hier  ist's  getan.  Was  Richard  Wagner  an  tiefster 
Religiosität  der  inbrünstigen  Musik  seinem  Bayreuther  Bühnenweihfestspiel 
anvertraute,  hier  in  Zürich  wurde  es  nun  Ereignis.  Wenn  ich  auch  nie 
ernstlich  Zweifel  daran  gehegt  habe,  dass  Parsifal  auch  außerhalb  Bayreuths 
wirken  könne,  so  hätte  ich  mir  doch  nie  ein  so  begeisterndes  Erlebnis  von 
unserer  Zürcher  Bühne  versprochen.  Und  doch  ist  es  nun  so:  wer  mit 
leiser  Bangnis  das  sonntägliche  Theater  betrat,  verließ  es  als  ein  beglückter 
Optimist,  und  wenn  eines  die  Begeisterung  noch  hätte  steigern  können,  so 
wäre  es  nur  das  gewesen :  ganz  aus  der  Sphäre  des  Alltags  herausgehoben 
zu  sein,  weit  entfernt  von  der  Stadt,  irgendwo,  aber  nahe  an  der  Stille  der 
Natur.  Wer  im  Innersten  bewegt  ist,  will  seine  Gedanken  nicht  durch  die 
Außenwelt  in  alltägliche  Bahnen  lenken  lassen.  Das  war  etwas  schmerzvoll: 
nach  dem  Zauber  des  Grals  und  seiner  Entrücktheit  die  alten  Häuser  und 
Straßen  zu  sehen  und  den  gewohnten  Gang  zu  gehen  wie  immer  und  alle 
Tage,  wo  doch  jeder  sein  persönlichstes  Verhältnis  zu  den  Offenbarungen 
des  Weihespieles  sich  zurechtzulegen  hatte.  Man  hätte  sich  selbst  verlieren 
mögen  in  die  Mystik  des  Parsifals  und  fand  sich  aus  all  diesen  sonntäglichen 
Betrachtungen  plötzlich  in  den  Werktag  unserer  guten  alten  Stadt  zurück- 
versetzt. Und  doch  wieder:  wer  zwischen  den  Akten  ein  paar  Schritte  vor 
dem  Theater  an  der  frischen  Luft  machte  und  die  Bucht  von  Zürich  so 
friedlich  daliegen  sah  im  abendlichen  Lichte,  und  dahinter  die  stille  Stadt 
und  den  frischen  Schnee  der  Albiskette,  der  empfand  durch  den  Anblick 
eine  unendliche  Beruhigung,  und  der  Gedanke  war  so  selbstverständlich, 
dass  nun  gegenüber  dem  grünen  Hügel  das  letzte  Werk  dessen  aufgeführt 
wird,  der  dort  so  viel  geliebt  und  gelitten  hatte. 

Welche  Welt  trennt  dies  Werk  von  all  seinen  früheren  Schöpfungen! 
Die  Antithese  kann  eine  letzte,  größte  Sensation  bedeuten,  und  dieser  Macht 

189 


konnte  ein  so  sensibles  Künstlernaturel  wie  Richard  Wagner  nicht  wider- 
stehen. Wer  menschliche  Leidenschaft,  Sinnenglut  und  Körperkraft  so  ver- 
herrlicht hat  wie  er,  den  konnte  schließlich  nichts  mehr  reizen  als  deren 
Verneinung  und  so  wurde  denn  Wagner  der  Sänger  des  Grals  und  des 
Parsifals,  des  reinen  Toren,  der  nur  durch  inneres  Heldentum,  durch  bloßes 
Mitleid  sein  Ziel  erreicht.  Ähnlich  wie  Philipp  II.  am  Schlüsse  seines  Lebens 
eine  Steinwüste  in  ein  prunkendes  Schloss  verwandeln  ließ  und  den  Rest 
seines  sonst  so  übermächtigen  Erdenwallens  in  Resignation  und  Weltflucht 
auf  diesem  seinem  Escurial  zubrachte.  So  groß  ist  die  Antithese  bei  Wagner 
allerdings  nicht;  sie  ist  bei  ihm  begreiflicher  und  deshalb  auch  weniger 
sensationell.  Dass  der  bald  Siebzigjährige  noch  neue  musikalische  Gebiete 
der  Bühne  urbar  machte,  die  der  Religiosität  und  Innerlichkeit,  zeigt  wieder, 
wie  groß  die  Selbstkritik  Wagners  und  seine  Anpassungsfähigkeit  an  die 
Physiologie  des  Alterns  war,  so  dass  Parsifal  nicht  das  Werk  des  Alterns, 
sondern  eines  erkennenden  und  könnenden  Alten  wurde. 

Das  Unaussprechliche  hat  er  hier  ausgesprochen.  Weniger  in  Worten 
als  in  Tönen,  Symbolen,  Stimmungen.  Was  uns  Menschen  so  schwer  fällt, 
unsern  Nächsten  mitzuteilen:  das  Innerste,  unser  Verhältnis  zur  Natur  und 
zur  Gottheit,  die  Gebiete  der  Religiosität,  die  weniger  Glauben  als  Gefühl 
sind  und  uns  deshalb  so  schwer  über  die  Zunge  wollen:  Wagner  hat  für 
das  alles  den  adäquaten  künstlerischen  Ausdruck  gefunden.  Dass  er  dies 
am  Ende  seines  Lebens  tat,  macht  das  Werk  um  so  wertvoller  als  den 
Ausdruck  seiner  letzten  Lebensweisheit.  Diese  war  bei  ihm  nicht  in  allen 
Lebensperioden  gleich  optimistisch;  er  ist  zu  lange  in  die  Schule  Schopen- 
hauers und  in  die  der  bitteren  Not  gegangen ;  dass  er  sich  durchgerungen 
hat  zu  einem  überzeugten  Optimismus,  beweist  die  Sicherheit  in  der  Grund- 
stimmung des  ganzen  Parsifals,  diese  Wärme  im  Kolorit,  die  überall  so 
wohltuend  durchdringt  und  die,  wenn  sie  auch  oft  stille  Resignation  zu- 
decken muss,  doch  ihre  Träger  in  die  reine  Sphäre  edler  Menschenliebe 
hinaufhebt.  Seinen  Helden  aber,  Parsifal,  den  verkannten  Sucher  des  Ideals, 
lässt  er  das  Ziel  erreichen  und  milde  und  verklärt  leuchtet  ihm  schließlich 
sein  Gral. 

Man  ist  versucht,  den  Parsifal  von  seiner  historischen  Seite  her  zu 
erklären  und  darob  zu  vergessen,  wie  sehr  Wagner  die  Parsifalidee  umge- 
ändert hat  für  seinen  Zweck,  seine  Gedankenwelt.  Aber  auch  darin  wird 
man  bald  buddhistische  und  pantheistische  Ideen,  bald  einen  großen  Idealis- 
mus und  Optimismus  vorfinden,  und  zwar  jeder  gerade  so  viel,  wie  in  ihm 
selbst  drin  steckt.  Ich  will  deshalb  darüber  gar  nicht  schreiben  und  nur 
dem  künstlerischen  großen  Eindruck  das  Wort  reden,  den  das  Werk  in  der 
Aufführung  auch  außerhalb  Bayreuths  auslöst.  Lasse  jeder  das  Werk  auf 
sich  wirken  und  setze  sich  mit  ihm  auseinander:  es  wird  ihm  zum  Erlebnis 
werden,  denn  jeder  Mensch  ist  Parsifal. 

Was  nun  die  Zürcher  Parsifalaufführung  anbetrifft,  so  ist  der  Kritiker 
in  einer  beneidenswerten  Lage:  er  kann  nur  rühmen.  Und  beim  rühmen  ist 
es  immer  besser,  sich  zu  kurz  zu  fassen  als  zu  lang  zu  werden.  Ich  habe 
in  Zürich  noch  nie  eine  so  weihe-  und  stimmungsvolle  Festvorstellung  ge- 
sehen wie  die  Parsifalaufführung.  Alles  zeugte  von  großem  Eifer  und  großer 
Anstrengung,  sodass  dann  auch  eine  Gesamtleistung  herauskam,  die  hoch 
über  dem  Durchschnitt  unserer  Oper  steht.  Wundervolle  Szenerien,  prägnant 
und  doch  poetisch,  entworfen  und  ausgeführt  von  den  Herren  Gamper  und 

190 


Isler;  eine  Inszenierung,  die  bis  ins  Kleinste  durchdacht  und  künstlerisch 
wirksam  war  und  der  Regie  der  Herren  Reucker  und  Rogorsch  alle  Ehre 
machte ;  ein  Orchester  endlich,  das  mit  Liebe  und  Wärme  das  Musikalische 
wiedergab  unter  der  so  sicheren  Leitung  des  Herrn  Dr.  Kempter.  Von 
Solisten  nenne  ich  zuerst  Fräulein  Krüger,  von  der  wir  gewohnt  sind,  das 
Höchste  zu  erwarten  und  die  uns  denn  auch  in  der  Kundry  eine  unüber- 
treffliche künstlerische  Schöpfung  bot.  Je  schwieriger  die  Rolle,  um  so 
größer  scheint  ihre  Kunst  zu  werden.  Wie  ihre  Auffassung  der  Rolle  ge- 
sanglich und  mimisch  verschmilzt  zu  einer  Einheit,  ist  künstlerisch  einwand- 
frei. In  jedem  Akt  war  sie  eine  andere:  Naturweib  im  ersten,  das  liebende 
Weib  im  zweiten  und  endlich  das  demütig  dienende  Weib  im  dritten  Akt, 
und  doch  immer  dieselbe  gute  Kundry.  Auch  Parsifal  war  durch  Herrn  Ulmer 
gesanglich  und  darstellerisch  recht  erfreulich  vertreten,  während  die  enorm 
schwere  Rolle  des  Gurnemanz  nicht  recht  zur  Geltung  kam:  Herr  Gritzbach 
war  zu  wohlwollend-greisenhaft,  und  das  fesselt  nicht  auf  die  Dauer.  Am- 
fortas  und  Klingsor  wurden  durch  die  Herren  Bockholt  und  Janesch  cha- 
rakteristisch dargestellt.  Herrlich  war  die  Blumenmädchenszene,  an  Ton- 
reinheit, Grazie  und  bildlicher  Schönheit  geradezu  unübertrefflich,  während 
der  Ritterchor  leider  besonders  in  gesanglicher  Hinsicht  viel  schuldig  blieb 
an  Rundheit  und  Reinheit  des  Tones.  Doch  mochten  die  erwähnten  kleinen 
Mängel  der  Stimmung  des  Ganzen  keinen  Abbruch  zu  tun,  sodass  es  zu 
Recht  besteht:  Parsifal  ist  eines  der  großen  künstlerischen  Ereignisse  für 
Zürich  geworden.  Dass  es  gerade  Zürich  war,  das  den  Bann  brechen  durfte, 
der  dreißig  Jahre  über  dem  Werke  schwebte,  und  dies  dazu  noch  in  so 
uneigennütziger,  von  rein  künstlerischen  Erwägungen  diktierter  Weise,  das 
soll  uns  mit  zukunftsfroher  Freude  erfüllen. 

ZÜRICH  OTTO  HUG 

Dan 
SCHAUSPIELABENDE 

Mit  Strindberg,  dem  erbarmungslosen,  sind  wir  jüngst  in  letzte  Tiefen 
des  Ehe-Inferno  hinabgestiegen.  Die  beiden  Teile  der  zu  Beginn  dieses 
Jahrhunderts  entstandenen  Dichtung  „Totentanz"  wurden  an  zwei  aufein- 
anderfolgenden Abenden  im  Pfauentheater,  auf  unserer  Schauspielbühne 
aufgeführt.  Die  Darsteller  setzten  ihr  ganzes  Können  ein,  so  dass  das 
Werk  unvergessbaren  Eindruck  machte. 

Eine  Ehe  vor  der  silbernen  Hochzeit.  Aber  es  sieht  nach  nichts  weniger 
als  nach  einem  freudigen  Familienfest  aus.  Die  Frau  Edgars,  des  Kapitäns 
bei  der  Festungsartillerie,  am  Meer,  in  einem  alten,  düstern,  feuchten  Festungs- 
turm —  Frau  Alice  spricht  von  „unserm  fünfundzwanzigjährigen  Elend",  das 
sie  eher  verbergen  als  feiern  sollten.  Ihrem  Vetter  Kurt,  der  als  Quaran- 
tänemeister auf  diese  militärische  Station  kommt,  spricht  sie  von  dem  Gatten 
als  einem  für  sie  fremden  Mann,  „ebenso  fremd  wie  vor  fünfundzwanzig 
Jahren" :  „wir  trennten  uns  als  Verlobte  zweimal,  seitdem  haben  wir  uns 
jeden  Tag,  der  kam,  zu  trennen  versucht  .  .  .  aber  wir  sind  zusammenge- 
schmiedet und  können  nicht  loskommen.  Einmal  waren  wir  getrennt  — 
im  Hause  —  fünf  Jahre  lang.  Jetzt  kann  nur  der  Tod  uns  trennen ;  das 
wissen  wir  und  darum  warten  wir  auf  ihn  als  den  Befreier."  So  lautets 
gleich  in  den  Eingangsszenen.    Und  das  Thema  wird  durchgeführt,  unbarm- 

191 


herzig,  mit  eiserner  Konsequenz,  das  Thema  vom  Tod-Befreier.  Immer 
wieder  scheint  die  schaurige  Hoffnung  der  Frau  in  Erfüllung  zu  gehen.  Der 
Mann  ist  Apoplektiker;  auch  die  Arterienverkalkung  sitzt  ihm  im  Leibe. 
Er  hat  Anfälle,  denen  ein  Wiedererwachen  nicht  mehr  zu  folgen  scheint, 
und  die  Lebensgier  regt  sich  in  der  Frau.  Und  nach  dem  Vetter,  den  sie 
einst  geliebt,  züngelt  schon  ihre  Lust,  dass  sie  ihn  betörend  in  den  Wirbel  zu 
ziehen  droht.  Aber  noch  ists  nicht  so  weit.  Der  Alte  kommt  wieder  auf 
die  Beine.  Wohl  ist  er  gleichsam  nur  noch  eine  galvanisierte  Leiche;  aber 
zum  Bösestun  ist  er  immer  noch  rechtzeitig  zur  Stelle—  zum  Quälen,  zum 
Spionieren,  zum  Ruinieren.  Kurt  wird  sein  Opfer:  teuflisch  untergräbt  er 
ihm  seine  ganze  Position,  seinen  kleinen  Wohlstand,  seine  Hoffnung  auf 
des  Sohnes  Karriere.  Mit  der  eigenen  Tochter  treibt  er  Schacher:  einen 
alten  Obersten  soll  sie  heiraten,  damit  der  Kapitän  am  Schluss  seines  von 
lauter  Feinden  oder  doch  Nichtfreunden  umlagerten  Lebens  doch  noch  zu 
Ehre  und  Ansehen  käme,  dem  ganzen  Pack,  wie  ihm  seine  Umgebung  er- 
scheint, zum  Trotz.  Da  schnellt  die  Tochter,  die  Kurts  Sohn  liebt,  den 
tödlichen  Pfeil  auf  ihn  ab:  durch  eine  Impertinenz  gegen  den  Obersten 
macht  sie  die  Heiratsaussichten  ein  für  allemal  zu  nichte.  Das  bringt  den 
Kapitän  zur  Strecke.  Dämonisch  triumphiert  Frau  Alice.  Die  Tochter  ist 
ihre  Rächerin  geworden.  Und  sie  schreckt  nicht  davor  zurück,  dem  röcheln- 
den Gatten  ins  Gesicht  zu  schlagen,  als  dieser  nach  ihr  ausspuckt. 

Der  Totentanz,  der  infernale  Tanz,  den  Lebende  mit  einem  im  Grunde 
schon  Toten  aufführen  mussten,  ist  vorbei  —  scheinbar;  denn  mit  seinem 
letzten  Worte  versalzt  er  ihnen  noch  das  befreiende  Uff.  Verzeih  ihnen, 
denn  sie  wissen  nicht  was  sie  tun  —  so  hat  er  noch  gelallt.  Damit  setzt 
er  sie  noch  nach  seinem  Tod  ins  Unrecht  und  appliziert  ihnen  Gewissens- 
bisse. Am  Ende  hat  ers  doch  bei  all  seiner  Tyrannis,  bei  all  seiner  uner- 
gründlichen Widerwärtigkeit  gut  gemeint  mit  den  Seinen.  Schließlich  war 
er  doch  auch  selber  ein  Opfer  der  Umstände:  seine  Karriere  war  verpfuscht 
worden ;  man  hat  ihn  nicht  emporkommen  lassen ;  das  hat  ihn  so  arg  ge- 
macht; und  er  dachte  nur  daran,  schließlich  doch  noch  hochzukommen, 
seine  Familie  zu  heben.  Diese  Gedankengänge  macht  das  fromm  drapierte 
Schlusswort  bei  der  Witwe,  selbst  bei  Kurt  locker,  und  sie  flechten  einen 
Märtyrerkranz  samt  zugehöriger  Gloriole  um  sein  totes  Haupt.  Alice  be- 
sinnt sich  auf  ihre  Liebe  zu  dem  Gatten ;  allerdings  auch  auf  ihren  Hass. 
Den  gibt  sie  auch  zu ;  aber  einen  Knacks  hat  er  doch  erlitten.  Kurt  und 
Alice  werden  sich  gewiss  nicht  heiraten.    Der  Tote  steht  zwischen  ihnen. 

Mit  Meisterhand  ist  das  alles  geformt.  Das  Trivialste  wird  zum  psy- 
chologischen Werte.  In  Höllen  wird  hinabgezündet,  dass  man  erschreckt 
zurückbebt,  in  Höllen  der  Alltäglichkeit,  ohne  alle  Größe.  Tatbestände 
werden  aufgedeckt,  die  über  den  Individualfall  hinausreichen  ins  allgemein 
Zutreffende  (wenn  auch  in  wesentlich  abgeschwächten  Nuancen).  Grund- 
instinkte (trennender,  nicht  einigender  Art)  werden  von  Strindberg  grausam 
kalt  bloßgelegt.  Liebe  und  Hass  als  Geschwister,  wie  Schlaf  und  Tod. 
Abgründe  tun  sich  auf.  Dante  hat  an  diesen  Höllenkomplex  nicht  gedacht. 
Strindberg  hat  ihn  erlebt,  und  den  Weg  zum  Ehe-Paradies  fand  er  nie. 

ZÜRICH  H.TROG 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

192 


CHINESENFEST  IN  SINGAPORE 

Bei  den  wehenden  Lichtern 

Oben  auf  dem  bekränzten  Balkon 

Kauern  sie  ruhevoll  in  der  festlichen  Nacht, 

Singen  Lieder  von  lang  verstorbenen  Dichtern, 

Horchen  beglückt  auf  der  Laute  schwirrenden  Ton, 

Der  die  Augen  der  Mädchen  größer  und  schöner  macht. 

Gläsern  wie  Flügelschlag  großer  Libellen 
Klirrt  durch  die  sternlose  Nacht  die  Musik, 
Braune  Augen  lachen  in  lautlosem  Glück, 
Keiner,  der  nicht  den  Glanz  im  Auge  hat! 
Drunten  wartet  schlaflos  mit  tausend  hellen 
Lichteraugen  am  Meere  die  glänzende  Stadt. 

HERRMANN  HESSE 
DDC 


193 


BETRACHTUNGEN  ZUR  ANNAHME 
DES  GOTTHARDVERTRAGS 

DIE  ALTE  UND  DIE  NEUE  VOLKSBEWEGUNG 

(Fortsetzung) 

Zwei  Gründe  sind  es  also,  die  aus  der  Volksbewegung  gegen 
den  Gotthardvertrag  die  Staatsvertragsinitiative  herauswachsen 
ließen.  Erstens  erwiesen  sich  im  Gang  der  Beratung  und  bei  der 
Abstimmung^)  nicht  vorwiegend  nationale,  sondern  parteipolitische 
und  regionale  Gesichtspunkte  bei  vielen  eidgenössischen  Räten 
als  maßgebend,  und  nichts  bürgt  dafür,  dass  das  künftig  besser  werde ; 
der  starke  patriotische  Eindruck  der  Reden  von  Frey,  Usteri, 
Planta,  Ador  zerfloss  bei  der  Abstimmung  unter  den  Parolen, 
die  Parteien  und  Regionen  ausgegeben  hatten.  Und  zweitens  ist 
es  der  Stellung  des  Volkes  als  Souverän  nicht  würdig,  wenn  es 
sich  mit  einer  Bittschrift  an  seine  Vertreter  wenden  muss,  ganz 
besonders,  wo  es  sich  um  Entscheidungen  handelt,  die  man  als 
Schicksalsfragen  bezeichnen  kann.  Beides  ruft  nach  einer  Er- 
weiterung des  Selbstbestimmungsrechts  des  Volkes  für  jene  Fälle, 
wo  es  sich  um  unabänderliche,  unkündbare  und  folgenschwere 
Verträge  mit  ausländischen  Staaten  handelt. 

Diese  Erkenntnis  ist  nicht  erst  aus  dem  Gotthardvertrag  her- 
ausgewachsen, wie  behauptet  wird,  sondern  sie  herrschte  schon 
beim  Abschluss  des  alten  Vertrags,  als  über  70  000  Unterschriften 
gegen  den  Vertrag  vornehmlich  aus  der  Ostschweiz  unter  Führung 
erster  Vertreter  des  Handels  und  der  freisinnigen  Poh'tik  nach  Bern 
gesandt  wurden.  Man  lese  die  Berichte  aus  damaliger  Zeit  nach; 
man  wird  finden,  dass  man  es  ebenso  ungehörig  fand  wie  heute, 


1)  In  der  auf  Seite  135  des  letzten  Heftes  mitgeteilten  Tabelle  haben 
sich  verschieden  Druckfehler  eingeschlichen.    Es  soll  dort  heißen: 

Nationalrat  Ständerat 

Ja         Nein  Ja  Nein 

Bern  20        12  1  —  (Herr  Kunz  stimmte 

Zug  1        —  nicht  als  Präsident) 

Schaffhausen  1        —  2  — 

Zu  den  welschen  Mitgliedern,  die  mit  Ja  gestimmt  haben,  gehört  Herr 
Bonjour;  die  sechs  deutschen  Mitglieder  des  Zentrums  haben,  zur  Hälfte  mit 
Ja,  zur  Hälfte  mit  Nein  (die  beiden  Berner  Herren  und  Herr  von  Planta) 
gestimmt. 

194 


dass  das  Volk  zu  Verträgen,   die   auf   immer  die  Nachkommen- 

sciiaft    belasten,    nichts   zu    sagen    haben  soll.     Die   „St.  Galler 

Zeitung"  bemerkte  nach  der  Genehmigung  des  alten  Gotthardver- 

trags  vor  dem  Kriegsausbruch  Ende  Juli  1870  resigniert: 

Aber  das  Volk  in  der  Schweiz  hat  zu  solchen  Dingen  nichts  zu  sagen ; 
ein  paar  Herren  lenken  die  Geschicke  des  Landes,  und  doch  gehört  das 
Land  dem  Volk! 

Am  16.  Juni  1870  findet  man  in  dem  selben  Blatt  ein  Stim- 
mungsbild, das  genau  zu  den  jüngst  gemachten  Erfahrungen  passt: 

's  wird  noch  erlaubt  sein.  Durch  die  Blätter  geht  die  Nachrichte,  dass 
nächsten  Sonntag  in  Aarau  eine  Versammlung  stattfinden  werde,  um  zu 
beraten,  wie  hinsichtlich  des  Staatsvertrages  mit  dem  Ausland,  betreffend 
die  Gotthardbahn,  die  Unabhängigkeit  der  Eidgenossenschaft  zu  wahren  sei ! 

Das  Tagblatt  der  Urkantone  sagt,  es  handle  sich  bloß  darum,  dem 
Gotthard  ein  Bein  zu  unterschlagen  und  setzt  bei:  Gute  Patrioten,  die  „Ost- 
und  West-''Schweizer! 

Wir  haben  auch  von  einer  solchen  Versammlung  gehört,  wissen 
aber,  dass  auch  eifrige  Freunde  und  Förderer  des  Gotthardunternehmens 
dabei  sind,  —  die  aber  nicht  um  jeden  Preis,  nicht  um  denjenigen  der  Un- 
abhängigkeit des  Landes,  sich  in  Staatverträge  mit  dem  Ausland  einlassen 
wollen.  Anderseits  sind  Ost-  und  Westschweizer  genug,  welche  diese  Un- 
abhängigkeit ebenso  gut  bei  Staatsverträgen  hinsichtlich  des  Splügen  und 
des  Simplon,  als  hinsichtlich  des  Gotthard  zu  wahren  entschlossen  sind. 

Die  Unabhängigkeit  des  Vaterlandes  aber  über  Eisenbahninteressen, 
selbst  über  die  höchsten  zu  stellen,  wird  noch  erlaubt  sein.    Oder? 

Darum  handelt  es  sich  in  der  Tat  auch  heute.  Dagegen 
kommen  alle  Theorien  nicht  auf.  Um  diesen  Zweck  zu  erreichen, 
braucht  man  nicht  die  kurzfristigen  oder  auf  ein  Jahr  künd- 
baren Handels-,  Meistbegünstigungs-  und  Niederlassungsverträge  dem 
fakultativen  Referendum  zu  unterstellen.  Die  selben  Leute,  die  da 
aussetzen,  es  sei  nicht  „logisch",  dass  man  das  nicht  tue,  könnten 
sich  nicht  genug  tun  in  Entrüstung,  wenn  man  es  verlangt  hätte! 
Da  könnte  man  wohl  eher  sagen,  die  Vertragsfähigkeit  der  Schweiz 
stehe  in  Gefahr;  heute  aber  nicht.  Im  Gegenteil. 

Es  ist  gesagt  worden,  die  heutige  Ordnung  der  Dinge  (Re- 
ferendum für  Bundesgesetze,  aber  kein  Referendum  für  Staats- 
verträge, auch  wenn  sie  in  das  Gesetzesrecht  eingreifen)  bilde 
eine  staatsrechtliche  Anomalie,  deren  Beseitigung  mit  guten  Grün- 
den verlangt  werden  könnte.  Das  ist  vollständig  richtig  und  in 
dieser  Erkenntnis  sind  eine  ganze  Reihe  Vertragsgegner  dringend 
ersucht  worden,   in   der  Bundesversammlung  darauf  aufmerksam 

195 


zu  machen  und  die  Unterstellung  des  Vertrags  unter  das  Referen- 
dum zu  verlangen,  nicht  als  Demonstration,  sondern  zum  Zweck 
der  Feststellung,   ob   es   anerkannt  werde   oder  nicht. 

Man  sagt,  man  hätte  vorerst  die  Erfahrungen  mit  der  neuen 
Organisation  des  Bundesrats  abwarten  sollen.  Wir  geben  ohne 
weiteres  zu,  dass  die  Reorganisation  des  politischen  Departements 
sehr  wichtig  sein  kann  und  wird,  um  bessere  Staatsverträge  als 
die  der  letzten  15  Jahre  vorzubereiten.  Aber  abgesehen  davon, 
dass  es  in  niemandes  Macht  gelegen  hat,  die  Westschweiz  von 
der  sofortigen  Anhandnahme  der  Initiative  abzuhalten  und  dass 
diese  sogar  in  einem  internen  politischen  Interesse  gelegen  hat, 
soll  die  Frage  der  Berechtigung  eines  Volksrechtes  oder  der  Aus- 
dehnung eines  bestehenden  Rechtes  nicht  von  der  Organisation 
des  Bundesrates  abhangen,  sondern  von  Innern  Gründen,  die  sich 
nicht  erst  bei  der  Gotthardbewegung,  sondern  schon  früher,  beim 
alten  Gotthard-  und  bei  Simplonvertrag,  geltend  gemacht  haben. 
Wer  bürgt  denn  dafür,  dass  wir  nach  15  oder  20  Jahren  nicht 
wieder  einen  etwas  altersmüden  Bundesrat  besitzen,  wie  wir  ihn 
noch  vor  einigen  Jahren  besaßen,  der  trotz  Reorganisation  des 
politischen  Departements  die  Zügel  nicht  in  der  Hand  hätte,  wie 
es  sein  sollte?  Es  ist  hier  ähnlich  wie  beim  Proporz.  Wer  ihn 
grundsätzlich  nicht  will,  der  findet  unzählige  Schwierigkeiten;  wer 
ihn  will,  der  findet  sich  mit  einigen  nicht  zu  leugnenden  Schwierig- 
keiten ab.  Rein  theoretisch  gesprochen  kann  man  gewiss  die 
Ansicht  vertreten,  die  Genehmigung  von  Staatsverträgen  dürfe 
niemals  Sache  des  Volkes  werden.  Wer  aber  mit  den  tatsäch- 
lichen Verhältnissen  rechnet,  mit  der  vom  mehrheitlich  regionalen 
Gesichtspunkte  geleiteten,  gegen  die  eindrucksvollsten  Vorstel- 
lungen tauben  Bundesversammlung,  wie  man  dies  bei  der  Gott- 
hardvertragsdebatte  erlebt  hat,  der  findet  es  gerechtfertigt,  dem 
Volk  zum  mindesten  in  Fragen,  die  die  Nachkommenschaft 
dauernd  belasten,  die  Verantwortung  für  den  Entscheid  selbst  zu 
überbinden.  Der  Bundesrat  ist,  wie  gesagt,  wandelbar.  Heute 
mögen  wir  einen  sehr  energischen  jugendfrischen  Bundesrat  haben; 
später  kann  das  ändern,  wie  es  sich  auch  schon  geändert  hat. 

Die  Aussichten  für  die  Mehrung  der  Unabhängigkeit  unseres 
Parlamentes  sind  nichts  weniger  als  rosig.  Schon  jetzt  haben  wir 
zwei   von   Mitgliedern  der  Bundesversammlung  geleitete  Vereini- 

196 


gungen:  die  eine  für  die  Wahrung  der  Verkehrsinteressen  des 
Slmplon-Lötschberggebietes,  die  andere  für  die  Gotthardinteressen 
Es  liegt  außerordenth'ch  nahe,  dass  diese  Vereinigungen  sich  nicht 
bloß  hin  und  wieder  bekämpfen,  sondern  dass  sie  sich  auch 
Konzessionen  machen,  „Kuhhändel"  abschließen.  Es  fehlt  jetzt 
nur  noch  das  dritte  Glied  im  Bunde,  eine  Interessenvereinigung 
für  das  Gebiet  der  Ostalpenbahn.  Sie  wird  sofort  entstehen,  sobald 
man  sich  über  die  Bahnführung  geeinigt  hat  und  der  Betrieb  in 
Sicht  steht.  Dann  liegen  sich  plötzlich  die  feindlichen  Brüder  von 
der  Greina  und  dem  Splügen  versöhnt  in  den  Armen. 

Man  sieht  also  heute  schon  den  Moment  der  verkehrs- 
politischen Dreiteilung  des  Landes  vor  sich.  Wo  bleibt  da  die 
Garantie,  dass  die  Bundesversammlung  nach  vorwiegend  natio- 
nalen Gesichtspunkten  urteilen  werde?  Da  soll  doch  das  Volk 
bei  wichtigen  Entschließungen  sein  Schicksal  lieber  selbst  be- 
stimmen. 

Alfred  Frey  sagte  über  die  kurzsichtige    Interessenpolitik  im 

Nationalrat: 

Aufrichtig  bekümmert  es  mich,  zu  gewahren,  wie  man  wohl  in  vielen 
Kreisen  die  Bedeutung  der  Frage  ahnt  und  fühlt,  ihre  endliche  Beurteilung 
jedoch  nur  oder  doch  verwiegend  vom  Befund  darüber  abhängig  macht, 
ob  die  Gutheißung  des  Vertrages  mit  den  eigenen  nächstliegenden  Interessen 
vereinbar  sei  oder  nicht.  Ob  der  Vertrag  den  Schweizerischen  Bundes- 
bahnen ein  bisschen  mehr  oder  weniger  Schaden  tut,  ob  er  ihnen  so  oben- 
hin berechnet  für  absehbare  Zukunft  sogar  Gewinn  brächte,  ob  er  dem 
Lötschberg  oder  dem  Simplon  oder  beiden  eher  günstig  oder  ungünstig 
sei,  und  was  dergleichen  Erwägungen  mehr  sind:  die  Entscheidung  über 
den  Vertrag  muss  von  rein  vaterländischen  Gesichtspunkten  aus  erfolgen  — 
und  dann  ist  sie  nicht  schwer.  Am  allerwenigsten  verstehe  ich  darum  die 
sogenannten  Gotthardkantone,  die  für  etwas  zittern,  das  nicht  bedroht  ist 
und  nie  verloren  gehen  kann  und  das  man  ihnen  von  lästigen  Fesseln  frei 
schenken  möchte.  Und  da  die  Ermäßigung  der  Bergzuschläge  im  verein- 
barten Maß  ohnehin  erfolgen  soll,  so  ist  dem  Tessin  auch  bei  Ablehnung 
der  übrigen  Vertragsbestimmungen  ebenfalls  geholfen. 

Wir  fürchten,  diese  Worte  werden  ihre  Bedeutung  je  länger 
je  weniger  verlieren;  da  heißt  es  sich  vorsehen. 

Wir  erwähnten  im  letzten  Heft  verschiedene  Tatsachen,  die 
erweisen,  dass  eine  Volksbefragung  bei  Staatsverträgen  schon  zur 
Zeit  der  alten  Eidgenossenschaft  geübt  worden  ist,  so  von  der 
aristokratischen  bernischen  Regierung  anfangs  1590  beim  Abschluss 
eines  Vertrages  mit  Savoyen;  auch  in  neuerer  Zeit  habe  man  ein 

197 


solches  Recht  mehrmals  wieder  einführen  wollen.  Dazu  ist  nach- 
zutragen, dass  Bundesrat  Zemp  am  19.  Juni  1884  noch  als  Na- 
tionalrat bei  der  Begründung  der  Motion  Zemp-Keel-Pedrazzini 
folgende  Gedanken  aussprach: 

Wenn  wir  nun  von  einer  Ausdehnung  der  Volksrechte  sprechen,  so 
haben  wir  zunächst  im  Auge,  dass  dem  Referendum,  möge  dasselbe  in 
welcher  Form  immer  statuiert  werden,  auch  Staatsverträge  mit  dem  Aus- 
lande zu  unterstellen  sind.  Diese  Erweiterung  ist  nicht  ein  Gedanke  von 
heute;  aber  Erfahrungen  aus  der  letzten  Zeit  haben  denselben  reifer  ge- 
macht. Die  Bundesversammlung  hat  zweimal  in  Staatsverträgen  Bestim- 
mungen sanktioniert,  durch  welche  bestehende  konstitutionelle  Rechte  ver- 
letzt worden  sind. 

Die  Staatsvertragsinitiative  ist  nun  in  vollem  Gang,  und 
man  darf  annehmen,  dass  während  der  nächsten  Tagung  der 
Bundesversammlung  die  erforderlichen  fünfzigtausend  Unter- 
schriften beisammen  sein  werden.  Gleichzeitig  wurde  am  4.  Mai 
vom  frühern  schweizerischen  Proporzkomitee  in  Ölten  beschlossen, 
durch  eine  neue  Initiative  für  das  proportionale  Verfahren  bei  den 
Nationalratswahlen  einzutreten.  Man  hofft  so  Volksvertreter  zu 
erhalten,  die  weniger  nach  parteipolitischen  oder  regionalen  Ge- 
sichtspunkten ihre  Stimme  abgeben  müssen.  Ob  zwar  unter  einem 
so  gewählten  Nationalrat  Staatsverträge  nationaler  behandelt 
würden,  bleibt  noch  eine  offne  Frage.  Immerhin  würden  die 
Minderheitsparteien,  besonders  die  sozialdemokratische  Partei,  ver- 
mehrt, und  eine  stärkere  Opposition  im  Nationalrat  kann  unter 
keinen  Umständen  schaden;  sie  würde  besonders  den  Bundesrat 
bei  Vertragsabschlüssen  vorsichtiger  stimmen.  Die  Rücksicht  auf 
eine  Volksabstimmung,  wie  sie  die  Staatsvertragsinitiative  mit 
sich  bringen  würde,  und  auf  eine  stärkere  Opposition  im  Parla- 
ment, wie  sie  die  Folge  des  proportionalen  Wahlverfahrens  wäre, 
müsste  in  Verbindung  mit  der  in  Aussicht  stehenden  Reorgani- 
sation des  politischen  Departements  zu  einer  besseren  Wahrung 
unserer  Interessen  führen,  als  wir  sie  beim  Simplon  und  Gotthard- 
vertrag  wie  beim  Niederlassungsvertrag  mit  Deutschland  und  bei 
noch  weiteren  Gelegenheiten  erfahren  haben. 

Die  Folgen  der  Gotthardbewegung  in  ihrer  Gesamtheit  kann 
man  erst  übersehen,  wenn  man  weiß,  wie  die  Fehler,  die  gemacht 
wurden,  verunmöglicht  werden  sollen.  Mit  Jammern  und  Klagen 
über   Regionalismus    und    Parteigeist  wird    da    nichts    erreicht, 

198 


sondern  nur  dadurch,  dass  man  die  Autorität  des  Volkes  gegen- 
über seinen  Behörden  und  dem  Auslande  verstärkt. 

Hierfür  Bahn  geschaffen  zu  haben,  ist  das  direkte  oder  in- 
direkte Verdienst  der  Bewegung  gegen  den  Gotthardvertrag,  die 
auch  einen  sachgemäßen  Entwurf  für  die  Reorganisation  des 
Bundesrates  und  des  politischen  Departements  ins  Leben  ge- 
rufen hat. 

Das  einstweilige  Ergebnis  der  Gotthardbewegung  hat  das 
nunmehr  aufgelöste  Aktionskomitee  in  seiner  Schlußsitzung  vom 
12.  April  1912  in  Bern  durch  folgende  Kundgebung  ausgesprochen: 

Der  Gotthardvertrag  ist  von  den  Eidgenössischen  Räten  in  den  Tagen 
vom  25.  März  bis  9.  April  behandelt  und  nach  bewegten  Debatten  geneh- 
migt worden,  trotzdem  die  Opposition  energisch  und  mit  unwiderlegbaren 
Gründen  die  Ablehnung  durchzusetzen  versuchte. 

Das  Aktionskomitee  hat  seine  Aufgabe  erfüllt,  wie  sie  ihm  von  seinem 
patriotischen  Gewissen  diktiert  und  bestimmt  war. 

Es  lehnt  alle  Verantwortung  für  die  Konsequenzen  ab,  die  sich  aus 
der  Annahme  des  Vertrages  für  unser  Land  ergeben.  Diese  Verantwortung 
fällt  auf  die  Mitglieder  der  Eidgenössischen  Räte,  die  dafür  gestimmt  haben, 
dass  der  Schweiz  eine  gefahrbringende,  unkündbare  Servitut  aufgeladen 
wird.    Möge  das  Schweizervolk  sie  eines  Tages  nicht  anzuklagen  haben. 

Die  entgegenkommende  Note  der  deutschen  Regierung  ist  eine  direkte 
Folge  der  Volksbewegung.  Sie  gestattet  eine  gewisse  Hoffnung,  dass  der 
Vertrag  einmal  revidiert  werden  könnte. 

Sieht  nun  zwar  das  Aktionskomitee  seinen  direkten  Zweck,  die  Ab- 
lehnung des  Vertrages,  nicht  erfüllt,  so  hat  es  nichts  destoweniger  materielle 
und  moralische  Erfolge  erzielt,  die  von  großer,  sehr  großer  Bedeutung  für 
unser  Land  sind.  Durch  die  Bewegung  sind  die  Eidgenössischen  Behörden 
veranlasst  worden,  sich  über  die  Tragweite  der  einzelnen  Vertragsartikel 
ganz  anders  Rechenschaft  zu  geben,  für  Gegenwart  und  Zukunft,  als  das 
sonst  der  Fall  gewesen  wäre.  Das  Aktionskomitee  kann  demnach  auf  eine 
nutzbringende  und  ehrenvolle  Kampagne,  die  nunmehr  3V2  Jahre  gedauert 
hat,  zurückblicken.  Der  Volksbewegung  kann  ein  guter  Patriot  die  Aner- 
kennung nicht  versagen;  das  ist  in  den  Eidgenössischen  Räten  und  auch 
vom  Bundesrat  anerkannt  worden. 

Die  Mitglieder  des  großen  und  des  engeren  Aktionskomitees 
dürfen  mit  Befriedigung  auf  ihre  Arbeit  zurückschauen.  Die  weni- 
gen unvermeidlichen  Auswüchse,  die  die  Bewegung  zeitigte,  können 
ihnen  nicht  zur  Last  gelegt  werden ;  man  hat  es  an  nichts  fehlen 
lassen,  sie  abzuschneiden  und  zurückzudämmen.  Besonders  die 
iVlitglieder  des  engeren  Aktionskomitees  haben  alle  zum  Teil  sogar 
beträchtliche  Opfer  an  Zeit  und  Geld  gebracht  Drei  Bundesräte 
und  zahlreiche  Freunde   des  Vertrags,   mit  Ausnahme   immerhin 

199 


eines  Vertreters  der  Urschweiz  und  des  Tessins,  haben  während 
den  Verhandlungen  mit  großer  Achtung  von  der  Volksbewegung 
und  ihren  Führern  gesprochen ;  ein  Grund  mehr,  dass  diese  mit 
Stolz  auf  ihre  uneigennützige  Tätigkeit  zurückblicken  dürfen. 

DAS  ERGEBNIS  DER  BERATUNG 

Es  ist  für  die  Räte  nicht  besonders  schmeichelhaft  und 
stimmt  bedenklich  für  die  Zukunft,  dass,  wie  mehrfach  erwähnt, 
hauptsächlich  in  parteipolitischem  und  regionalem  Sinne  ge- 
stimmt wurde. 

Einen  großen  Einfluss  übte  das  Schreiben  des  deutschen  Ge- 
sandten, das  am  ersten  Sitzungstag  bekannt  gegeben  wurde,  auf 
die  Abstimmung  aus.     Es  lautet: 

Bern,  den  22.  März  1913. 

Erhaltenem  Auftrage  zufolge  beehrt  sich  der  Unterzeichnete  dem  hohen 
Schweizerischen  Bundesrate  das  Nachstehende  ganz  ergebenst  mitzuteilen: 

Von  der  Erwägung  ausgehend,  dass  die  Bestimmungen,  die  in  dem 
neuen  Gotthardbahnvertrag  vom  13.  Oktober  1909  über  die  Meistbegünsti- 
gung enthalten  sind,  den  deutschen  und  den  schweizerischen  Interessen, 
namentlich  was  die  Meistbegünstigung  der  Gotthardroute  anlangt,  in  gleicher 
Weise  entsprechen,  gibt  die  Kaiserlich  Deutsche  Regierung  die  nachstehende 
Erklärung  ab: 

1.  In  Bestätigung  einer  bereits  im  Jahre  1911  mündlich  gemachten 
Mitteilung  erklärt  sich  die  Kaiserlich  Deutsche  Regierung  für  den  Fall,  dass 
sich  die  Art.  7,  8  und  9  des  neuen  Gotthardvertrages  später  wider  Erwarten 
als  den  schweizerischen  Interessen  zuwiderlaufend  herausstellen  sollten, 
bereit,  alsdann  in  eine  Revision  dieser  Bestimmungen  einzutreten. 

2.  Die  Kaiserlich  Deutsche  Regierung  erklärt  weiter,  dass  sie  die  frag- 
lichen Bestimmungen  nicht  in  dem  Sinn  auslegt,  dass  die  schweizerischen 
Bahnen  hierdurch  irgendwie  gehindert  werden  sollen,  mit  Bahnen  dritter 
Staaten  wirksam  zu  konkurrieren. 

Endlich  benützt  die  Kaiserlich  Deutsche  Regierung  den  vorliegenden 
Anlass,  um  noch  zu  erklären,  dass  sie  die  Auslegung,  die  der  Schweizeri- 
sche Bundesrat  in  dem  der  Bundesversammlung  unter  dem  18.  Februar 
dieses  Jahres  erstatteten  Ergänzungsbericht  auf  S.  52 — 55  über  die  Tragweite 
der  Bestimmung  des  Schlussprotokolls  zu  dem  neuen  Gotthardvertrage, 
Abs.  IV,  betreffend  die  Materialbestellungen  für  die  Gotthardbahn,  gegeben 
hat,  ihrerseits  als  zutreffend  erachtet. 

Mit  Vergnügen  benutzt  der  Unterzeichnete  auch  diesen  Anlass,  um 
Seiner  Exzellenz,  dem  Schweizerischen  Bundespräsidenten,  Herrn  Müller, 
die  Versicherung  seiner  ausgezeichnetsten  Hochachtung  zu  erneuern. 

Der  Kaiserlich  Deutsche  Gesandte: 
Romberg. 

Ohne  die  Volksbewegung  und  die  durch  sie  herbeigeführte 
Mehrheit   der   nationalrätlichen    Kommission   gegen   den   Vertrag 

200 


wäre  niemals  diese  Note  geschrieben  worden,  die  wesentliche 
Punkte  des  Vertrags  abklärt  und  namentlich  die  Auslegung  der 
deutschen  und  italienischen  Regierung  für  den  unklaren  und  fa- 
talen Artikel  des  Schlussprotokolls  festlegt.  Die  Auslegung  des 
Bundesrates  in  der  Nachtragsbotschaft  wäre  ohne  diese  Note 
durchaus  nicht  verbindlich  und  könnte  je  nach  dem  Fall  von 
den  Vertragsstaaten  angenommen  oder  zurückgewiesen  werden. 
Es  ist  kein  Zweifel,  dass  dieses  Zugeständnis  nicht  dem  Bundes- 
rat, sondern  der  Volksbewegung  und  der  Mehrheit  der  national- 
rätlichen  Kommission  gemacht  wurde.  Darüber  hat  im  National- 
rat kein  Zweifel  geherrscht,  u'ie  unter  anderm  aus  den  Worten 
von  Raschein  hervorgeht: 

Volle  Beruhigung  darüber  gibt  uns  aber  in  dieser  Beziehung  erst  die 
Note  der  Kaiserlich  Deutschen  Regierung.  Ich  will  unumwunden  anerkennen, 
dass  ich  der  Opposition  dafür  dankbar  bin,  soweit  sie  das  Verdienst 
daran  hat,  dass  durch  energisches  Auftreten  diese  Erklärung  provoziert 
worden  ist. 

Man  darf  ruhig  sagen,  die  deutsche  Note  allein  sei  die  Be- 
wegung gegen  den  Gotthardvertrag  wert  gewesen.  Ihre  unmittel- 
bare Folge  war,  dass  jene  Räte,  die  schweizerischen  elektrischen 
Werken  nahestehen,  dem  Vertrag  nun   eher  zustimmen  konnten. 

Bei  den  Verhandlungen  in  beiden  Räten  lag  ohne  Zweifel 
der  moralische  Sieg  bei  den  Vertragsgegnern.  Bei  den  wuchtigen 
und  eindrucksvollen  Reden  von  Planta,  Frey,  Usteri,  Ador,  de 
Meuron,  Richard  fühlte  ein  jeder,  dass  nicht  die  Vertragsgegner, 
sondern  der  Bundesrat  auf  der  Anklagebank  saß,  allerdings  nicht 
seine  einzelnen  Mitglieder,  sondern  die  Behörde  als  solche.  Von 
Anfang  an  sah  sich  der  Bundesrat  in  die  Verteidigungsstellung 
gedrängt,  und  wenn  sich  nicht  die  freisinnig-demokratischen  Rats- 
mitglieder der  deutschen  Schweiz  wie  eine  Leibgarde  um  ihn  ge- 
schart hätten,  es  hätte  leicht  anders  herauskommen  können. 

Darüber  kann  kein  Zweifel  herrschen,  dass  es  dem  Bundes- 
rat nicht  gelang,  sich  von  den  diplomatischen  Fehlern  rein  zu 
waschen,  die  man  ihm  vorgeworfen  hatte.  Die  Neue  Zürcher 
Zeitung  brachte  folgende  Ausführungen  über  die  Rede  von  National- 
rat von  Planta: 

Fragen  wir  nach  dem  Ergebnis  und  Erfolg  der  Rede,  so  lag  ihr  Schwer- 
punkt unzweifelhaft  im  ersten  historisch-kritischen  Teile.  Hätten  wir  es  nicht 
lange  gewusst,  so  würden  die  Darlegungen  Plantas  uns  haben  überzeugen 

201 


müssen,  dass  bei  der  Verstaatlichung  der  Gotthardbahn  und  bei  der  ganzen 
Behandlung  der  Vertragsangelegenheit  während  zwölf  Jahren,  1897—1909, 
bedauerliche  Fehler  und  Unterlassungssünden  begangen  worden  sind,  nicht 
zu  reden  davon,  dass  der  Bundesrat  und  die  ihn  beratenden  Organe  sich 
in  der  ganzen  Angelegenheit  von  Anfang  an  auf  eine  Auffassung  festlegten, 
die  nicht  genügend  untersucht  war,  deren  Berechtigung  Deutschland  und 
Italien  von  Anfang  an  bestritten  und  die  unsere  Behörden  1909  praktisch 
aufgeben  mussten.  Der  diplomatische  Verkehr  scheint,  wie  längst  bekannte 
Vorgänge,  zum  Beispiel  das  Schweigen  Zemps  über  eine  formelle  Verwah- 
rung des  deutschen  Gesandten,  beweisen,  durchaus  primitiv  und  rückständig 
gewesen  zu  sein.  Und  nur  das  scheint  festzustehen,  dass  im  Namen  des 
Bundesrates  vor  der  Bundesversammlung  Erklärungen  abgegeben  wurden, 
die  weniger  sorgfältig  überdacht  als  apodiktisch  waren.  Das  sind  bedauer- 
liche Dinge,  aber  sie  gehören  der  Vergangenheit  an  und  bilden  heute  nur 
die  beste  Illustration  zu  der  von  allen  anerkannten  Notwendigkeit  der  Ver- 
waltungsreform, zumal  der  Wiederherstellung  eines  ständigen  Politischen 
Departementes.  Für  den  Entscheid,  ob  der  vorliegende  Gotthardvertrag  an- 
zunehmen oder  zu  verwerfen  sei,  sind  jene  Irrtümer  ohne  wesentlichen  Belang. 

Auch  Herr  Usteri  führte  im  Ständerat  Ähnliches  aus : 

Wir  haben  uns  1903  in  eine  Zwangslage  versetzen  und  uns  zu  einem 
Vertrag  drängen  lassen,  der  unseren  billigen  Ansprüchen  nicht  entspricht. 
Ein  Ausweg  tut  sich  aber  auf.  Die  Note  der  deutschen  Regierung  bietet  die 
Brücke  zu  neuen  Verhandlungen.  Es  muss  gesagt  werden,  dass  die  schwei- 
zerische Delegation  zur  Konferenz  von  1909  nicht  sachgemäß  zusammen- 
gesetzt und  organisiert  war.  Den  Herren  vom  Flügelrad  sind  Aufgaben 
zugemutet  worden,  denen  sie  nicht  gewachsen  sein  konnten.  Es  handelte 
sich  doch  in  erster  Linie  darum,  Leute,  die  in  politischen  und  völkerrecht- 
lichen Fragen  Routine  haben,  in  die  Konferenz  abzuordnen.  In  der  Teilnahme 
eines  Bundesratsmitgliedes  sah  der  Bundesrat  mehr  Nachteile  als  Vorteile. 
Diese  einseitige  Bestellung  der  Delegation  ergab  ein  entsprechendes  Resultat. 

Das  Journal  de  Geneve  berichtete  von  einer  Unterredung 
mit  einem  höheren  deutschen  Offizier,  der  die  Geschicklichkeit 
der  deutschen  Unterhändler  bei  der  Beratung  des  Gotthardver- 
trages  pries:  „Wir  sind  gescheit  gewesen  und  Sie  nicht.  Das  ist 
alles."  Das  hat  auch  seine  Richtigkeit,  weniger  noch  für  die  Be- 
ratung des  Vertrags  als  für  die  früheren  diplomatischen  Verhand- 
lungen, die  unsere  Unterhändler  von  Anfang  an  in  eine  geschwächte 
Verteidigungsstellung  brachten. 


Nicht  reinwaschen  konnte  sich  der  jetzige  Bundesrat  von  den 
schweren  und  berechtigten  Vorwürfen,  er  habe  die  Räte  mit  der 
Ergänzungsbotschaft  vom  letzten  Herbst  in  eine  noch  größere 
Zwangslage  versetzt,  als  es  mit  der  Botschaft  von  1909  geschehen 

202 


war.  Die  Ausführungen  über  die  Ertragsfähigkeit  bildeten  entschie- 
den den  schwächsten  Teil  der  sonst  sachlichen  und  schönen  Rede 
von  Bundesrat  Schulthess.  Er  verbreitete  sich  insbesondere  über 
die  Broschüre  Leuzinger,  in  der  ganz  unrichtigen  Annahme,  sie 
hätte  den  Vertragsgegnern  als  Grundlage  ihrer  Berechnung  ge- 
dient, trotzdem  sie  der  Verfasser,  wie  schon  Finanzdirektor  Müller 
andeutete,  auf  eigene  Verantwortung  ohne  Hinzutun  des  Aktions- 
komitees schrieb  und  verbreitete.  Ohne  dem  Inhalt  der  Schrift 
nahe  zu  treten  konnte  sie  für  das  Aktionskomitee  schon  deshalb 
nicht  entscheidend  sein,  weil  sie  sich  bloß  auf  die  Ertragsergeb- 
nisse der  Gotthardbahn  bis  1908  stützte.  Herr  Müller  hat  sie 
nur  insoweit  verwertet,  als  er  auf  Grund  der  Gotthardbahnrech- 
nungen  und  der  Ergänzungsbotschaft  auf  eigenem  Wege  zu  ähn- 
lichen Ergebnissen  gelangt  war. 

Der  Bundesrat  hat  den  Vorwurf  nicht  wiederlegt,  dass  die 
Ertragsberechnung  von  1908  bis  1912  in  tendenziöser  Art  auf- 
gestellt war.  Das  wurde  hier  am  15.  März  (Bd.  XI,  S.  726  usf.) 
mit  aller  Deutlichkeit  ausgeführt.  Immerhin  sei  das  Wesentliche 
nochmals  für  später  festgelegt: 

1.  Um  das  Gotthardnetz  richtig  in  Stand  zu  setzen,  müssen 
nach  Ansicht  der  Bundesbahnen,  des  Bundesrates  und  seines 
juristischen  Beraters,  des  Ständerats  Scherrer,  für  rund  40  Millionen 
Bauten  ausgesetzt  werden.  Rechnet  man  die  Tieferlegung  der 
Monte-Cenere-Linie  dazu,  die  heute  als  dringlich  betrachtet  wird, 
so  kommt  man  auf  eine  noch  viel  höhere  Summe. 

2.  Diese  Ausgaben  waren  schon  1909  bekannt,  ebenso  die 
Tatsache,  dass  die  Lötschbergbahn  die  Gotthardbahn  zwingen 
werde,  den  elektrischen  Betrieb  einzuführen,  was  eine  weitere 
Ausgabe  von  60  bis  70  Millionen  bedeutet,  die  in  der  Hauptsache 
keinen  Mehrwert  darstellt.  Über  die  Frage,  ob  der  elektrische 
Betrieb  billiger  oder  teurer  als  Dampfbetrieb  sei,  mit  andern 
Worten,  ob  die  Baukosten  der  Elektrifizierung  durch  Betriebs- 
ersparnisse gedeckt  werden  können,  ist  man  sich  auch  bei  der 
Leitung  der  Bundesbahnen  noch  nicht  einig;  das  wird  sich  erst 
nach  mehreren  Jahren  elektrischen  Betriebs  herausstellen. 

3.  Man  wusste  schon  1909,  dass  die  Lötschbergbahn  der 
Gotthardbahn  einen  in  die  Millionen  gehenden  Einnahmenausfall 
verursachen  werde;  seither  hat  man  die  Summe  amtlich  auf  3V2 

203 


Millionen  für  Personen  und  Güter  berechnet.  Auch  hier  wird 
man  sich  erst  dann  ein  richtiges  Bild  machen  können,  wenn  die 
Gotthardbahn  einige  Jahre  neben  der  Lötschbergbahn  betrieben 
worden  ist. 

Wie  hätte  nun  angesichts  dieser  Tatsachen  die  private  Gott- 
hardbahn ihre  künftigen  Erträgnisse  berechnet?  Sie  hätte  unter 
allen  Bedingungen  diese  sicher  kommenden  Ausgaben  und  Ein- 
bußen in  Rechnung  gestellt.  Sie  hätte  sogar  verschiedene  Millionen 
jährlich  in  Rechnung  stellen  müssen,  die  für  die  allmähliche 
Deckung  der  genannten  Ausgaben  nötig  sind,  um  zu  vermeiden, 
dass  spätere  Jahre  unnatürlich  schwer  belastet  würden.  Deutsch- 
land vor  allem  und  auch  Italien  hätten  die  Verwaltung  zu  dieser 
kaufmännisch  allein  richtigen  Rechnungsweise  ermuntert,  die  den 
deutschen  Bahnen  die  Konkurrenzfähigkeit  gegenüber  den  fran- 
zösischen und  belgischen  Zufahrtslinien  zum  Lötschberg  ge- 
sichert hätte. 

Herr  von  Planta  wies  darauf  hin,  wie  verschieden  die  An- 
sichten bei  der  Aufstellung  solcher  Berechnungen  in  guten  Treuen 
sein  können,  je  nachdem  einer  ein  Interesse  hat,  optimistisch 
zu  rechnen;  die  Verlustrechnungen,  die  die  Generaldirektion  und 
die  Splügenfreunde  für  die  Gotthardbahn  aufgestellt  haben,  gehen 
ja  auch  um  viele  Millionen  auseinander.  Die  Bundesbahnen 
rechneten  dort  pessimistisch,  ihre  Gegner  optimistisch ;  beim  Gott- 
hardvertrag  war  genau  das  Gegenteil  der  Fall.  Schon  darum, 
abgesehen  von  unseren  Erwägungen,  ist  man  bei  der  Beurteilung 
solcher  Berechnungen  zu  größter  Vorsicht  verpflichtet. 

Die  Richtigkeit  unserer  Darstellung  wird  durch  die  Gründung 
einer  „neuen  Gotthardvereinigung"  bestärkt,  die  als  ihre  Ziele 
den  Ausbau  des  Gotthardnetzes  und  die  Hebung  seines  Verkehrs 
bezeichnet.  Das  Programm  beschäftigt  sich  vorerst  mit  der 
Elektrifizierung  der  Strecken  Basel-Chiasso  und  Schaffhausen- 
Chiasso,  mit  der  Verbesserung  der  Rampe  Rotenburg  ohne  Ver- 
längerung der  Strecke  Olten-Luzern,  welche  Doppelgeleise  erhält, 
mit  der  Herabsetzung  der  Monte-Cenere-Rampe  auf  10  Promille 
Steigung,  mit  der  linksufrigen  Vierwaldstätterseebahn,  der  Doppel- 
spur Brunnen-Flüelen,  der  Randenbahn,  der  Normalspur  der 
Brünigbahn  und  mit  der  Schöllenenbahn. 

204 


Nun  stelle  man  sich  vor,  was  diese  schon  1909  geplanten, 
besonders  von  Vertragsfreunden  geforderten  Bauten  kosten!  Die 
Elektrifizierung  der  Strecke  Erstfeld-Chiasso  und  die  Tieferlegung, 
des  Monte-Cenere  kommen  aliein  auf  hundert  Millionen  zu  stehen, 
von  der  Doppelspur  Brunnen-Flüelen  und  anderem  nicht  zu  reden. 
Und  angesichts  solcher  gewaltiger  Ausgaben  hat  man  behauptet,, 
die  Schweiz  käme  in  die  Lage,  den  Vertragsstaaten  Dividenden 
bis  zu  13  Prozent  vorzurechnen! 

Wir  betrachten  es  nach  wie  vor  als  ein  Unrecht,  dass  der 
Bundesrat  so  willkürlich  oder  jedenfalls  so  unkaufmännisch  be- 
rechnete Erträgnisse  einer  Botschaft  einverleibt  hat.  Hätte  das 
eine  Privatgesellschaft  in  dieser  Form  veröffentlicht,  so  hätte  man 
sie  ohne  weiteres  einer  Irreführung  der  öffentlichen  Meinung  ge- 
ziehen. Jedenfalls  war  es  die  klare  Absicht  des  Bundesrates  und 
nicht  eine  bloße  Ungeschicklichkeit,  die  eidgenössischen  Räte  so 
in  eine  unwürdige  Zwangslage  zu  versetzen.  Das  ist  nicht  nur 
vom  allgemein  politischen,  sondern  auch  vom  moralischen  Stand- 
punkt aus  für  unser  und  anderer  Empfinden  das  peinlichste  Vor- 
kommnis in  der  ganzen  Gotthardvertragssache. 

Selbst  wenn  der  Bundesrat  die  ganze  Berechnung  als  richtig 
angenommen  hätte,  was  man  um  seiner  Ehre  willen  annehmen 
muss,  so  müsste  es  als  unerhört  bezeichnet  werden,  dass  unsere 
Positionen  während  der  Verhandlungen  in  dieser  Form  bekannt 
gegeben  und  so  dem  Ausland  gegenüber  geschwächt  wurden. 
Das  ist  in  der  Debatte  viel  zu  wenig  betont  worden. 

Wir  haben  ein  volles  Verständnis  für  die  schwierige  Lage  des 
Bundesrates  vor  und  während  den  Verhandlungen,  glauben  auch 
nicht,  dass  es  ihm  bloß  darum  zu  tun  war,  die  eigene  Ehre  zu 
wahren;  aber  der  Druck,  der  auf  die  Räte  ausgeübt  wurde,  kann 
niemals  gebilligt  werden. 


Auf  die  wuchtige  Wiederlegung  der  bundesrätlichen  Theorie 
der  Ausdehnung  der  Meistbegünstigung  von  der  alten  Gotthard- 
bahn  auf  die  Bundesbahnen  wollen  wir  nicht  mehr  eintreten.  Es 
sei  auf  die  Reden  der  hier  mehrfach  genannten  Räte  verwiesen. 
Wir  beschränken  uns  auf  die  Wiedergabe  folgender  Worte  von 
Herrn  Alfred  Frey: 

205 


Kein  Staat,  der  nicht  zum  mindesten  in  den  Knien  liegt,  kann  ein 
Meistbegünstigungsrecht  einem  andern  Staat  unbefristet  und  dazu  noch  ein- 
seitig gewähren,  ohne  unverzeihliche  Verkümmerung  seines  Selbstbestim- 
mungsrechtes. (Lebhafte  Zustimmung.)  Hier  ist  sie  da,  nicht  etwa  als 
unabwendbare  Folge  der  Verträge  von  1869—78,  sondern  lediglich  als  Er- 
gebnis nicht  hinlänglich  bedachten  oder  dann  vermessenen  Handelns.  Sie 
hätte  sich  vermeiden  lassen,  sie  lässt  sich  noch  vermeiden,  wenn  die  rati- 
fizierende Behörde,  die  Vertretung  des  Volkes,  sich  darüber  klar  wird,  dass 
ihr  die  beschworene  Pflicht  verbietet,  einen  Vertrag  mit  einer  solchen  Be- 
stimmung gut  zu  heißen.  .  .  . 

Mit  dem,  was  in  diesem  Punkte  der  neue  Vertrag  getan  hat,  lässt  sich 
zurzeit  überhaupt  kein  Vertrag,  nicht  einmal  der  Frankfurter  Friedensvertrag 
vergleichen,  denn  der  legt  in  seinem  viel  berufenen  Art.  11  eine  Meist- 
begünstigung gegenseitiger  Art  fest,  während  die  Schweiz  für  ihr  auf  alle 
Zeiten  hingegebenes  Meistbegünstigungsrecht  keine  entsprechende  Meist- 
begünstigung von  der  andern  Vertragsseite  zugesichert  bekommen  hat. 

Es  klingt  wie  bittere  Ironie,  wenn  man  die  Erwägungen  zum 
Bundesbeschluss  vom  22.  Juli  1870  liest,  wodurch  dem  Staats- 
vertrage vom  15.  Oktober  1869  die  Genehmigung  erteilt  wurde 
und  mit  deren  Wiedergabe  wir  unsere  Betrachtung  schließen: 

Die  Bundesversammlung,  in  Betracht,  dass  durch  dieselben  keinerlei 
Monopol  noch  Privilegien  für  den  Bau  und  Betrieb  der  Gotthardbahn  kon- 
stituiert wird,  vielmehr  die  Freiheit  des  Baus  und  Betriebs  auch  anderer 
Alpenbahnen  auf  schweizerischem  Gebiet  unangetastet  bleibt ;  dass  das 
Recht  der  Schweiz,  im  Wege  der  Gesetzgebung  über  die  Anwendbarkeit 
der  Differenzialtarife  im  internen  und  im  schweizerisch-ausländischen 
Verkehr  frei  zu  verfügen,  durch  die  Verträge  nicht  geschmälert  wird,  be- 
schließt .  .  . 

Der  allgemeine  politische  Eindruck  der  Verhandlungen  in 
den  Räten  im  Ausland  war  ein  durchaus  guter;  die  ganze  aus- 
ländische Presse  hat  die  Verhandlungen  mit  großer  Aufmerk- 
samkeit verfolgt.  Ein  forschrittlicher  deutscher  Politiker,  der  mit 
leitenden  Kreisen  Fühlung  hat,  äußerte  sich  laut  Basler  Nach- 
richten, wie  folgt: 

Ich  habe  die  Verhandlungen  im  Nationalrat  an  Hand  der  Sitzungs- 
berichte in  schweizerischen  Blättern  genau  verfolgen  können  und  möchte 
nun  mit  meiner  Bewunderung  nicht  zurückhalten.  Welche  Würde  und  wie 
viel  politische  Bildung  zeigten  alle  diese  Redner!  Natürlich  glaube  ich,  dass 
eine  Ablehnung  des  Vertrages  für  die  Schweiz  vom  Übel  wäre;  vor  allem 
hätte  es  in  ganz  Europa  herum  einen  schlechten  Eindruck  gemacht,  wenn 
die  oberste  Exekutive  durch  die  Verwerfung  eines  von  ihr  schon  gebilligten 
Vertrages  von  der  Legislative  derart  bloßgestellt  worden  wäre,  ein  Fall, 
der  den  auswärtigen  Regierungen  für  den  Verkehr  mit  dem  Bundesrat  und 
für  dessen  ungehemmte  Entschlussfähigkeit  als  eine  schlimme  Vorbedeutung 
hätte  erscheinen  müssen.  Trotzdem  sind  wahrhaft  staatsmännische  Reden, 

206 


wie  die  Ausführungen  des  Zürchers  Frey,  der  Form  und  dem  Gehalt  nach 
als  wahre  Meisterstücke  zu  bezeichnen.  "Wo  haben  wir  solche  Leistungen 
in  unserem  Reichstag?  Auch  die  Reden  der  Welschschweizer,  eines  Ador 
zum  Beispiel,  scheinen,  so  weit  sie  sich  wenigstens  aus  den  Übersetzungen 
beurteilen  lassen,  durchaus  auf  der  selben  Höhe  zu  stehen. 

Eine  aggressive  Gesinnung  gegen  Deutschland  ist  darin,  in  gutem 
Glauben,  nicht  zu  finden.  Vollends,  wie  einige  unserer  Alldeutschen  es  tun, 
aus  der  Verschiedenheit  der  Temperamente  einen  Gegensatz  zwischen 
Deutsch-  und  Welschschweizern  zu  konstruieren,  muss  jeder  nur  ein  klein 
wenig  einsichtige  Kenner  der  Verhältnisse  als  übelwollende  Verkennung  be- 
zeichnen. Ich  sage  nicht  zu  viel,  wenn  ich  behaupte:  Das  weltpolitische 
Interesse  Deutschlands  verlangt,  dass  das  Reich  in  ehrlicher  Freundschaft 
mit  der  Schweiz  auskomme.  Vollends  für  uns  Liberale  ist  die  große  schwei- 
zerische Demokratie  etwas  wie  unser  besseres  Selbst.  Meiner  Ansicht  nach 
dürfte  die  imponierende  Bewegung  um  den  Gotth ardvertrag  kraft  ihrer 
reinen  und  bisweilen  stürmisch  geäußerten  Vaterlandsliebe  und  kraft  ihres 
so  ruhig  und  würdig  betonten  Willens  zur  Unabhängigkeit  auf  das  Ausland 
einen  großen  Eindruck  machen ;  die  Debatte  war  also  jedenfalls  ein  be- 
deutender Erfolg  für  das  allgemeine  Ansehen  der  Schweiz. 

Dieser  Erfolg  ist  eine  unmittelbare  Wirkung  der  Volksbe- 
wegung, die  eine  denkwürdige  Episode  in  unserer  Qeschiclite 
bilden  wird. 

BERN  J.  STEIGER 

(Schluss  folgt.) 


aaa 


SPRÜCHE 

Von  KARL  SAX,  ZÜRICH 

Wenn  zwei  oder  drei  erschossen  werden,  telegraphiert  ihr  bis  Peking 

und  San  Franzisko,   aber  was   unter   der   Dummheit  stündlich   verendet, 

zählt  nicht! 

* 

Die  vereinzelten  Großen  sind  nur  für  die  Menge  geschaffen,  oder  viel- 
leicht die  Menge  nur,  dass  ein  Großer  wird! 


Ein  geschultes  Organ,  ein  prächtiger  Redner! 
die  Rede,  das  Organ  den  Schwätzer! 


Der  Geist  aber  macht 


Er  ist  ein  Schwätzer!  Er  spricht  über  alles!  Den  Dichter  der  Deutschen 
trifft  dieses  Wort  vor  allen.  Aber  er  hat  doch  in  allem  und  im  einzelnen 
eher  den  Sinn  erkannt  als  unsere  Geister,  die  auch  das  einzelne  spalten. 

DDD 


207 


DIE  FEINDSCHAFT  GEGEN  WAGNER 

eiNE  GESCHICHTLICHE  UND  PSYCHOLOGISCHE 

UNTERSUCHUNG 

Ich  sehe  fünferlei  Feindschaft  gegen  Wagner:  die  der  Zeit- 
genossen, insonderheit  der  Philister;  die  der  Feuilletonisten ;  die 
des  Genies:  Friedrich  Nietzsche;  die  Feindschaft  des  letzten  Jahr- 
zehnts; und  endlich  die  Feindschaft,  eine  Art  Feindschaft  Wagners 
gegen  Wagner,  und  damit  eine  verborgene  Feindschaft  in  uns. 

Die  Feindschaft  der  Zeitgenossen :  Jede  geniale  Begabung  ist 
ihrer  Zeit  fremd  und  feindlich.  Das  Talent  bringt  immer  das 
Erwartete  und  doch  das  Assimilierbare,  das  leichter  Verständliche, 
das  Gefällige.  Das  Genie,  das  uns  durch  den  großen  Wurf  weiter 
bringt,  hat  nur  Feinde  unter  den  Gleichzeitigen,  so  weit  die  große 
Zahl,  der  Durchschnitt  in  Frage  kommt.  Der  Einzelne  freilich, 
der  Erkennende  hat  um  so  mehr  die  Pflicht,  dem  Genie,  und 
auch  dem  unbekannten,  zu  dienen  und  der  sittliche  Wert  des 
Beispiels,  das  Wagner  und  die  Seinen  in  dieser  Beziehung  gegeben 
haben,  ist  nicht  das  Mindeste,  was  uns  diese  wunderbare  Erschei- 
nung zurückgelassen  hat.  Selbst  die  „Wagnerianer",  gegen  die 
noch  manches  einzuwenden  sein  wird,  selbst  sie  müssten  allen 
Achtung  einflößen,  die  hingebende  Treue  zu  verstehen  noch  be- 
fähigt sind.     Es  gibt  auch  einen  billigen  Spott. 

Manche  aber,  und  auch  sie  sind  vielleicht  eben  dadurch  Feinde 
Wagners  geworden,  hassen  Wagner  um  dieser  Anhängerschaft 
und  Gegnerschaft  willen  als  Urheber  des  „großen  Irrtums".  Er 
ist  ihnen  das  schlimme  Beispiel,  der  Sieger  über  alle  Verfolgungen! 
So  werde  sich  denn  jetzt  (nach  der  Meinung  dieser  Leute)  jeder 
Verfolgte  für  einen  Wagner  oder  doch  für  einen  Verkannten, 
jedesfalls  für  ein  Genie  halten.  Und  die  Verfolger,  sagen  wir 
doch  gleich  „Kritiker",  getrauten  sich  nicht  mehr  aufrichtig  abzu- 
lehnen. Sie  fürchteten,  einst  gerichtet  dazustehen,  wie  heute 
manche  der  wütendsten  Feinde  Wagners  von  ehedem !  Man  er- 
widere darauf,  dass  gegen  den  Wahn  noch  nie  ein  Kraut  ge- 
wachsen ist.  Bedeutet  aber  einer  wirklich  etwas,  dann  bleibe  ihm 
der  Trost,  den  die  Betrachtung  von  Wagners  Schicksal  gewährt! 
Übrigens  ist  Wagners  Werk  „glücklich"  gewesen,   nicht  Wagner; 

208 


und  eben  das  Glück  dieses  Werkes  hat  Wagner,  trotz  Bayreuth, 
nicht  mehr  gesehen.  Wer  spielte  doch  an  seinem  letzten  Lebens- 
tage so  beziehungsvoll  den  Gesang  der  Rheintöchter  „Traulich 
und  traut  ist's  nur  in  der  Tiefe?"  Wer  hat  den  Tristan  erlebt, 
gestaltet  und  überlebt?  Eines  solchen  Menschen  „Glück"  ist 
nicht  neidenswert;  ist  nur  ein  Trost  für  die,  die  jedes  Glückes 
würdig  wären. 

Die  „lobenden"  Kritiker  aber  würden  keinen  Schaden  an- 
richten, auch  wenn  sie  noch  viel  mehr  lobten.  Schon  weil  sie 
selten  genug  sind.  Und  weil  über  einen  Geretteten,  Ermutigten 
mehr  Freude  sein  darf  als  über  neunundneunzig  Mittelmäßige, 
falls  sie  solche  großgezogen  hätten. 

Zurück  zu  den  Zeitgenossen  Wagners.  Nicht  ihr  Widerspruch 
ist  heute  noch  einer  Betrachtung  wert,  nur  noch  der  Ton,  in  dem 
sie  widersprechen.  Je  geringer  einer  ist,  je  weniger  er  gilt,  und 
im  Geheimsten  auch  vor  sich  selber  gilt,  desto  gröber  wird  er, 
desto  leichter  witzelt  er.  Aber  auch  Menschen  von  einigem  An- 
sehen und  Wert  machten  sich  damals  gern  gemein.  Einige  Proben 
verwerfen  mit  Absicht  eine  Scheidung  dieser  beiden  Gruppen  und 
nicht  minder  eine  Wertung  der  so  merkwürdig  Wertenden  ^). 

Ferdinand  Hiller  fand  in  den  meisten  Werken  Wagners  „das 
tollste  Attentat  auf  Kunst,  Geschmack,  Musik  und  Poesie,  welches 
je  dagewesen" ;  die  Signale  bezeichneten  sie  als  „Berg  von  Albern- 
heit und  Plattheit  in  Wort,  Gebärde  und  Musik".  /  L.  Klein 
schreibt  in  einer  „Geschichte  des  Dramas"  am  Ende  eines  bom- 
bastischen Zornausbruches:  „Nur  ein  solcher  Höllendampf  husten- 
der, pedantisch  hölzerner  Wagner  konnte  die  Meistersinger  von 
Nürnberg  komponiert  haben".  Qumprecht  sah  in  den  Meister- 
singern „das  Ende  der  Musik".  Kdde  nannte  den  Tag,  an  dem 
er  zum  erstenmal  „anstandshalber"  die  Meistersinger  hören  musste, 
„den  scheußlichsten,  widerwärtigsten  seines  ganzen  Lebens".  Der 
Musikhistoriker /l/nöros  sagt:  „In  dem  Tönecharivari  der  Meister- 
singer-Ouvertüre stehen  wir  eine  wahre  Pein  aus."  Der  Kunst- 
historiker Liibke  meint,  die  ganze  Partitur  der  Meistersinger  sei 
nicht  so  viel  wert,  wie  ein  einziges  Lied  von  Gumprecht;  sie 
würde  sich  freilich  weiter  verbreiten,  aber  wie  eine  Seuche.     Es 


')  Diese  Proben  sind  zitiert  aus  der  Biographie  Wagners  von  Batka 
und  aus  Wilhelm  Tapperts  „Schimpflexikon". 

209 


ist  auch  nicht  richtig,  dass  nur  die  „späteren"  Werke  Wagners 
übel  aufgenommen  worden  seien,  die  früheren  aber  aligemein 
freundlich.  Die  Tannhäuser-Ouverture  ist  nach  einer  zeitgenössi- 
schen Kritik  „eine  Dornenhecke,  welche  durch  bengalisches  Feuer 
beleuchtet  wird".  Über  das  selbe  Stück  schrieb  Moritz  Haupt- 
mann, ein  viel  gerühmter  Theoretiker  der  Musik:  „Die  Tannhäuser- 
Ouverture  ist  ganz  grässlich,  unbegreiflich  ungeschickt,  lang  und 
langweilig  für  einen  so  gescheiten  Menschen  ...  Er  ist  kein  junger 
unerfahrener  Mensch  mehr  und  wer  da  noch  so  ein  Ding  machen 
und  stechen  lassen  kann  ....  dessen  Künstlerberuf  scheint  mir 
sehr  wenig  entschieden."  Der  selbe  Moritz  Hauptmann  in  einem 
Briefe  an  Otto  Jahn:  „Wie  es  bei  Wagner  in  den  Akkorden  her- 
umfaselt, ebenso  auch  im  Metrischen;  könnte  man  nur  solche 
Absurditäten  auf  eine  andere  sichtbare  oder  handgreifliche  Weise 
darstellen,  das  Kunstnichts  müsste  auch  dem  Borniertesten  offen- 
bar werden  .  .  ."  Berliner  Zeitungen  über  die  Musik  des  Lohen- 
grin  noch  1866:  „.  .  .  ein  frostiges,  Sinn  und  Gemüt  gleichmäßig 
erkaltendes  Tongewinsel,  ein  Abgrund  der  Langweile ;  jedes  Gefühl 
für  das  Würdige  und  Edle  in  der  Kunst  reagiert  gegen  eine  solche 
Verneinung  des  innersten  Wesens  der  Musik."  Ganz  allgemein 
waren  es  die  „Gebildeten",  die  „guten  Musiker",  die  sich  gegen 
Wagner  kehrten.  Sehr  natürlich.  „Wollt  ihr  nach  Regeln  messen, 
was  nicht  nach  eurer  Regeln  Lauf?"  Heute  sagt  man,  erst  eine 
von  Wagner  verführte  Kunstgeneration  lasse  erkennen,  wie  sehr 
diese  guten  Musiker  von  damals  Recht  gehabt  hätten.  Sie  hätten 
eben  Mozart  und  Beethoven  als  Vorbilder  angesehen,  zu  denen 
wir  heute  wieder  „zurück"  müssten.  Aber  mit  Mozart,  dem  heute 
so  gern  gegen  Wagner  ausgespielten  Götzen,  haben  die  ewig^ 
Gestrigen  das  selbe  Spiel  gespielt.  Von  Mozart  schrieb  der  Opern- 
kapellmeister Sartl,  „die  Musik  müsse  zugrunde  gehen,  wenn  solche 
Barbaren  sich  einfallen  ließen,  komponieren  zu  wollen  .  .  .  Mozart, 
der  Dis  von  Es  nicht  zu  unterscheiden  wisse,  müsse  mit  Eisen 
gefütterte  Ohren  haben."  (Auch  jener  früher  genannte  J.  L.  Klein 
hatte  von  dem  „eisenstirnigen,  mit  Blech  und  Holz  ausgefütterten" 
Wagner  gesprochen  .  .  .)  Und  von  einem  Streichquartett  Mozarts 
sagt  eine  zeitgenössische  Musikzeitung:  „Kann  man  so  die  Musik 
zum  Besten  haben?  Und  wird  sich  wirklich  jemand  finden,  der 
solche  Musik  drucken  wird?" 

210 


Nach  der  Groteske  die  Sache.  Was  wollten  die  Zeitgenossin 
sehen  Gegner  Wagners  widerlegen?  ' 

Den  Menschen:  er  sei,  immer  überreizt,  maßlos  in  seinen 
Forderungen  und  tyrannisch ;  dazu  verschwenderisch  und  ein  Aus-f 
beuter  seiner  Umgebung.  Eine  gar  nicht  voreingenommene  Bio- 
graphie Wagners  könnte  sie  leicht  abwehren,  wenn  es  solcher 
Abwehr  noch  bedarf  (und  das  scheint  allerdings,  denn  die  Angriffe 
kehren  immer  wieder).  Aber:  die  Erscheinung  Wagners  war 
etwas  so  Umwälzendes,  dass  sie  notwendig  wie  ein  ungeheures 
Ferment  wirken  musste,  wie  eine  Kraft,  die  nicht  nur  fortwährend 
bewegt,  sondern  auch  selbst  Bewegungen  erleidet,  verändert  wird; 
eine  Kraft,  die  ungeheure  Kräfte  bindet,  die  ein  ungeheures  Feld, 
eine  weite  Leere  um  sich  braucht.  Ja,  Wagner  brauchte  und  ver- 
brauchte Menschen,  Mittel,  Geld  —  sich  selbst.  Ein  Krampf  trieb 
ihn,  der  unerhörte  Wille  sich  durchzusetzen,  menschlich,  künst- 
lerisch durchzusetzen,  und  dieser  Wille  forderte  Opfer.  Und  wenn 
die  Opfer  aus  seinem  innersten,  aus  seinem  Künstlerwesen  und 
Künstlerschaffen  geholt  wurden,  er  gab  sie  hin.  Oder  sind  wir 
nicht  vor  der  Größe  eines  Schauspiels,  wie  es  seine  Selbstbio- 
graphie bietet,  für  immer  zu  ehrfürchtigem  Schweigen  verpflichtet? 
Gewiss,  er  schaltete  wie  ein  eifernder  Gott,  aber  eben  wie  ein 
Gott,  und  mochte  er  alles  opfern,  Freunde,  Mitbürger,  sich  selbst, 
sein  Werk:  nicht  etwa  für  Ästheten,  die  den  Ablauf  eines  solchen 
Lebens  als  Spiel  auf  der  Bühne  betrachten,  nein,  für  den  einfach 
menschlichen  Menschen  bleibt  das  gewürdigte  Erlebnis  Wagner 
darum  mehr  und  größer  als  jedes  andere  dieser  letzten  Zeit.  Das 
ist  die  Feindschaft  Wagners  gegen  Wagner:  er  selbst  in  seinem 
ungeheuren  Fordern  gegen  sich  und  andere  war  sein  Feind,  sein 
eigentlichster,  vielleicht  sein  einziger  Feind.  Aber  er  ist's  gewesen, 
ist  es  heute  nicht  mehr.    Davon  später. 

Vorwürfe  gegen  den  Künstler  Wagner:  der  Mann  der  Wand- 
lungen. Erst  Weltbejaher,  dann  Weltverneiner,  Antichrist  aus  der 
Sinnlichkeit  des  jungen  Europa,  später  aus  der  Lehre  Feuerbachs, 
Christ  im  Parsifal.  Parallel  die  Wandlungen  vom  Revolutionär 
zum  Royalisten.  Alle  diese  Wendungen  ohne  inneren  Sinn,  nur 
aus  Schauspielerei.    Dies  der  Hauptvorwurf:  Schauspielerei. 

Positum,  non  concessum.  So  wäre  dennoch  dieser  Wand- 
lungsreiche, dieser  „Schauspieler"  die  selbe  bewunderungswürdige 

2t  f 


Persönlichkeit  eben   inmitten   des  Schauspiels.    Und   es  blieben 

die  Werke. 

Aber  gerade  gegen  diese  richten  sich  die  Vorwürfe.  Hier  nur 

von  den   allgemeinen.    Wagner  sei   kein   Dichter.    (Das  sagten 

besonders  gern  die  Dichter  und  mutzten  ihm  einzelne  Verse  auf, 

über  deren  größeres  oder  geringeres  Glück  sich  streiten  lässt.) 

Aber  was  ist  er  doch  für  eine  Gestalt  in  der  traurigen  Epoche 

der  deutschen  Dichtung,  ja  des  deutschen  Geistes,  die  Wagner 

durchschreiten  musste!    Und   über  seine  Sprache  sagt  Friedrich 

Nietzsche : 

Leiblichkeit  des  Ausdrucks,  der  Weg  in  die  Gedrängtheit,  Gewalt 
und  rhythmische  Vielartigkeit,  ein  merkwürdiger  Reichtum  an  starken 
und  bedeutenden  Wörtern,  Vereinfachung  der  Satzgliederung,  eine  fast 
einzige  Erfindsamkeit  in  der  Sprache  des  wogenden  Gefühls  und  der 
Ahnung,  eine  mitunter  ganz  rein  sprudelnde  Volkstümlichkeit  und  Sprich- 
wörtlichkeit—  solche  Eigenschaften  würden  aufzuzählen  sein,  und  doch 
wäre  dann  immer  noch  die  mächtigste  und  bewunderungswürdigste 
vergessen  .  .  .  Wo  eine  solche  allerseltenste  Macht  sich  äußert,  wird 
der  Tadel  immer  nur  kleinlich  und  unfruchtbar  bleiben,  der  sich  auf 
einzelnes  Übermütige  und  Absonderliche,  oder  auf  die  häufigeren  Dunkel- 
heiten des  Ausdrucks  und  Umschleierungen  des  Gedankens  bezieht. 
Übrigens  war  denen,  welche  bisher  am  lautesten  getadelt  haben,  im 
Grunde  nicht  sowohl  die  Sprache  als  die  Seele,  die  ganze  Art  zu 
empfinden  und  zu  leiden,  anstößig  und  unerhört. 

Wagner  sei  kein  Musiker.  Das  ist  wieder  Vorwurf  der  zeit- 
genössischen Musiker,  wie  denn  Wagner  einmal  gesagt  hat,  die 
Dichter  seiner  Zeit  hielten  ihn  für  einen  großen  Musiker,  die 
Musiker  für  einen  großen  Dichter.  Es  geht  aber  nicht  an,  Wagner 
abzulehnen  und  die  moderne  Musik,  die  auf  ihm  fußt,  anzuer- 
kennen; oder  umgekehrt.  Beides  oder  nichts.  Es  ist  ehrlich, 
wenigstens  ehrlich,  wenn  man  beides  ablehnt. 

Wagner  sei  aber  auch  kein  Dramatiker.  Das  sagen  die  selben, 
die  Wagner  als  Schauspieler  hinstellen,  der  alles  und  jedes,  auch 
das  menschlichste  Verhältnis,  nur  unter  dem  Gesichtspunkte  fassen 
könnte:  wie  wird  das  auf  dem  Theater  aussehen?  Sieh  da!  Kommt 
es  einmal  dazu,  so  weiß  nun  auf  einmal  Wagner  nicht  aus  noch 
ein.  Beispiel:  „Ist  es  dramatisch,  wenn  der  betrogene  Gemahl, 
statt  ans  Schwert  zu  greifen,  dem  freundlichsten  der  Freunde  eine 
umständliche,  sanft  gerührte  Erbauungsrede  hält?"  Dramatisch  im 
Sinne  der  alten  Oper  nicht.  Dramatisch  im  Sinne  einer  neuen 
Tragödie  —  allerdings. 

212 


Vorwürfe  gegen  Wagner  als  Lehrer;  denn  er  will  die  Regene- 
ration des  Menschengeschlechtes.  Sein  ganzes  Tun  wird  nur  ver- 
ständlich als  Kampf  gegen  das  Bestehende,  als  Erziehung  zu  einer 
neuen  Welt  und  Menschheit.  Man  sagt  dagegen,  es  sei  ihm  nicht 
ernst  gewesen  und  seine  Vorwürfe  und  Forderungen  gingen  zu 
weit.  Aber  wenn  sie  es  taten,  musste  eine  extatische  Natur  wie 
die  Wagners  nicht  überall  den  Bogen  überspannen?  Und  die 
Arbeit  eines  halben  Lebens  Schauspielerei  zu  nennen,  bleibt  denen 
vorbehalten,  deren  eigener  Ernst,  deren  innere  Wahrhaftigkeit 
noch  ganz  und  gar  nicht  über  allem  Zweifel  steht. 

Im  Zusammenhange  mit  der  Regenerationslehre  schrieb  Wagner 
die  Schrift  über  das  Judentum  in  der  Musik.  Sie  hat  natürlich 
zu  den  heftigsten  Angriffen  geführt,  zumeist  von  solchen,  die  sie 
nicht  gelesen  hatten.  Auf  die  Erweiterung  ihrer  Ausführungen 
bei  Weininger  möchte  ich  besonders  aufmerksam  machen.  Auch 
darauf,  dass  viele  den  Spieß  umkehrten  (darunter  Gustav  Freytag) 
und  geradezu  Wagner  und  seine  Kunst  als  typisch  jüdisch  be- 
zeichneten. Wer  sich  über  diese  Dinge  seine  eigenen  Gedanken 
macht,  wird  sich  bei  solchem  Hin  und  Her  eines  Lächelns  wohl 
kaum  erwehren  können. 

♦ 
Wer  waren  die  zeitgenössischen  Gegner?  Man  sagt:  nicht 
nur  Größen  zweiten  oder  geringeren  Ranges,  sondern  auch  andere, 
zu  denen  wir  heute  noch  mit  den  reinsten  Gefühlen  aufblicken, 
wie  Grillparzer,  Hebbel,  Jakob  Burckhardt,  ja  selbst  Schopenhauer. 
Müssen  wir  deshalb  wirklich  an  Wagners  Sendung  verzweifeln, 
weil  auch  solche  Geister,  in  ihr  eigenes  Wesen  versponnen,  mit 
dem  Recht  des  Großen  zur  Verneinung  jedes  Nichtich  begabt, 
sich  seiner  erwehrten?  Doch  wohl  kaum.  Ein  Grillparzer  hatte 
schon  gegen  Beethoven  Einwände.  Machen  wir  sie  uns  zu  eigen? 
Ein  Hebbel  hätte  seine  Nibelungen  nicht  zu  denen  Wagners  stellen 
können,  wenn  er  eben  nicht  ein  ganz  anderer  Genius  gewesen 
wäre;  und  so  fort.  Schließlich  könnte  man  ja  auch  einige  Zeit- 
genossen, oder  nur  um  weniges  Spätere  nennen,  die  für  Wagner 
waren :  Liszt,  Brückner,  Wolf,  Cornelius,  Bülow,  Herwegh,  Renoir, 
Beardsley,  Baudelaire,  d'Annunzio,  Mahler,  Richard  Strauß,  Shaw; 
gewiss  nicht  die  schlechtesten. 


213 


Die  Besprechung  einer  Gegnerschaft  habe  ich  mir  bis  jetzt 
aufgehoben:  als  Feindschaft  der  Feuilletonsten  bezeichne  ich  die 
Gegnerschaft  nicht  nur  einzelner  Männer  gegen  Wagner,  sondern 
einer  ganzen  Richtung,  jenes  Liberalismus  vor  und  nach  1873,  der 
etwa  von  dem  Liberalismus  von  1848  gar  weit  entfernt  war.  Eine 
etwas  oberflächliche,  sensuell  materialistische,  eine  reiche,  aber 
geistig  verarmte  Zeit,  die  Zeit  der  Geistreichen  gegen  den  Geist, 
die  Zeit,  in  der  ein  großer  Wirbel  den  Rausch  ersetzen  musste, 
das  Gefällige  das  Große  verdrängte,  die  Zeit  der  Freudenopfer, 
insbesondere  nach  dem  schweren  Leid  der  Kriege  von  1864,  1866 
und  1870.  Diese  Lustigkeit,  dieser  Hedonismus  wollte  manches 
verdrängen.  Vergessen  wir  nicht,  dass  auch  er  zu  kämpfen  hatte 
und  betrachten  wir  die  Frucht  dieses  Zeitalters,  den  Feuilletonis- 
mus, mit  dem  großmütigen  Blick,  mit  dem  glücklichere  Nach- 
kommen über  vieles  hinwegsehen  dürfen.  Bei  weitem  der  Be- 
gabteste dieser  Zeit,  also  der  gefährlichste  Feind  Wagners,  ein 
Feind  für  sich,  war  Hanslick.  Dennoch  wird  man  seine  Bedeutung 
einigermaßen  örtlich,  auf  Wien  und  die  Geschichte  der  Wiener 
Musik,  beschränken  dürfen.  Insbesondere  muss  sich  diese  Be- 
trachtung auf  knappem  Raum  versagen,  hier  ausführlicher  zu 
werden.  Auch  ist  die  Zeit  über  diese  Gegnerschaft  hinweggegangen. 
Einer  anderen  wird  sie  nichts  anhaben  können:  der  Tragödie 
Friedrich  Nietzsches.  Tragödie  vor  allem  darum,  weil  sie  erst 
die  erhabenste  Freundschaft  hielten  und  sie  vielleicht  insgeheim 
auch  nach  dem  Bruch  immer  gefühlt  haben.  Friedrich  Nietzsche, 
Student  der  Philologie  in  Leipzig,  etwa  24  Jahre  alt,  schreibt  an 
seinen  Jugendfreund  Rohde  nach  einer  Aufführung  des  Tristan - 
und  des  Meistersingervorspiels:  „Ich  bringe  es  nicht  übers  Herz, 
mich  dieser  Musik  gegenüber  kritisch  kühl  zu  verhalten ;  jede 
Faser,  jeder  Nerv  zuckt  in  mir."  Bald  darauf  lernt  er  Richard 
Wagner  persönlich  kennen.  Wieder  nicht  lange  und  er  ist  Pro- 
fessor in  Basel.  Wagner  wohnt  in  Tribschen  bei  Luzern.  Inniger 
Verkehr.  Nietzsche  schreibt:  „Dazu  habe  ich  einen  Menschen 
gefunden,  der,  wie  kein  anderer,  das  Bild  dessen,  was  Schopen- 
hauer ,das  Genie'  nennt,  mir  offenbart  .  .  .  Dies  ist  kein  anderer 
als  Richard  Wagner,  über  den  Du  kein  Urteil  glauben  darfst,  das 
sich  in  der  Presse,  in  den  Schriften  der  Musikgelehrten  usw.  findet. 
Niemand  kennt  ihn   und  kann  ihn  beurteilen,   weil   alle  Welt  auf 

214 


einem  anderen  Fundamente  steht  und  in  seiner  Atmosphäre  nicht 
heimisch  ist.  In  ihm  herrscht  eine  so  unbedingte  Idealität,  eine 
solche  tiefe  und  rührende  Menschlichkeit,  ein  solch  erhabener 
Lebensernst,  dass  ich  mich  in  seiner  Nähe  wie  in  der  Nähe  des 
Göttlichen  fühle."  Nietzsche  geht  in  Wagner  auf.  Um  für  den 
Freund  einzutreten,  verfasst  er  die  „Geburt  der  Tragödie"  und 
verankert  die  Ideale  des  Freundes  bei  seinen  geliebten  Griechen. 
Damit  kompromittiert  er  sich  bei  den  Fachgenossen,  die  ihm  das 
Ausbiegen  in  die  Kunst  und  gar  in  die  Zukunftsmusik  durchaus 
verargen.  Das  Idyll  von  Tribschen  geht  zu  Ende.  Wagner  siedelt 
nach  Bayreuth  über.  „Fehlten  mir  diese  drei  Jahre,"  schreibt 
Nietzsche  damals,  „was  wäre  ich?"  1873  ist  der  Fortgang  des 
Bayreuther  Unternehmens  bedroht.  Die  Wagnervereine  wenden 
sich  auf  Wagners  Wunsch  an  Nietzsche  mit  der  Bitte  um  einen 
Aufruf  an  die  deutsche  Nation.  Nietzsche  verfasst  ihn,  die  Vereine 
nehmen  den  Text  zu  Wagners  Verdruss  nicht  an.  Aber  eine 
Spannung  bereitet  sich  vor.  Im  Sommer  1875  kommt  Nietzsche 
nicht  zu  den  Bayreuther  Proben.  (Die  Bayreuther  sorgen  sich  um 
ihn,  halten  ihn  für  verschlossen.)  Aus  der  Sehnsucht  des  Ab- 
wesenden entstehen  die  ersten  fünf  Abschnitte  von  Nietzsches 
Schrift  „Richard  Wagner  in  Bayreuth".  Sie  wird  sein  Abschieds- 
geschenk an  den  Freund.  Zur  ersten  Aufführung  des  Ringes  in 
Bayreuth  widmet  er  sie  ihm.  In  einem  Entwurf  des  Begleitbriefes 
steht  der  Satz:  „Meine  Schriftstellerei  bringt  für  mich  die  unan- 
genehme Folge  mit  sich,  dass  jedesmal,  wenn  ich  eine  Schrift 
veröffentlicht  habe,  irgend  etwas  in  meinen  persönlichen  Verhält- 
nissen in  Frage  gestellt  wird  und  erst  wieder  mit  einem  Aufwand 
von  Humor  eingerenkt  werden  muss.  Aber  Sie  haben  mir  ein- 
mal, in  Ihrem  allerersten  Brief  an  mich,  etwas  vom  Glauben  an 
die  deutsche  Freiheit  gesagt;  an  diesen  Glauben  wende  ich  mich 
heute:  wie  ich  auch  nur  aus  ihm  den  Mut  finden  konnte,  das  zu 
tun,  was  ich  getan  habe." 

Wagners  Antwort:  „Freund!  Ihr  Buch  ist  ungeheuer!  — 
Wo  haben  Sie  nur  die  Erfahrung  von  mir  her?  —  Kommen  Sie 
nur  bald  und  gewöhnen  Sie  sich  durch  die  Proben  an  die 
Eindrücke." 

Aber  er  gewöhnte  sich  nicht.  Er  reiste  nach  Bayreuth,  aus 
seinen  Idealen  in  die  Wirklichkeit.    Und  sah  —  vielleicht  war  es 

215 


so — „Menschliches,  Allzumenschliches".  Schon  vor  der  General- 
probe verlässt  er  die  Festspielstadt.  „Mein  Fehler  war  der,  dass 
ich  nach  Bayreuth  mit  einem  Ideal  kam:  so  musste  ich  denn  die 
bitterste  Enttäuschung  erleben  ...  Ich  habe  hoch  über  Wagner 
die  Tragödie  mit  Musik  gesehen  —  und  hoch  über  Schopenhauer 
die  Musik  in  der  Tragödie  des  Daseins  gehört." 

Er  ist  dann  freilich  wieder  zurückgekommen.  Aber  der  Ab- 
fall war  vollzogen.  Was  war  geschehen  ?  Kam  dieser  Bruch  plötz- 
lich? War  er  eine  Laune,  ein  Zufall?  War  er  von  menschlichen 
Kränkungen  eingegeben?  Meldete  sich,  wie  gewisse  Wagnerianer 
behaupten,  Nietzsches  Krankheit? 

Es  hieße  Zartestes,  die  Beziehungen  zweier  genialer  Freunde, 
entweihen,  wollte  man  den  unerforschlich  tiefen  Grund  in  rauhe 
Worte  fassen.  Die  Sprache  vermag  vieles  nur  anzudeuten.  Hier 
nur  das  Wichtigste  aus  Briefen  und  Werken. 

Leitmotiv:  „Die  allmächtige  Gewalt  unserer  Aufgaben  trieb 
uns  auseinander  und  jetzt  können  wir  nicht  mehr  zueinander. 
Wir  sind  uns  zu  fremd  geworden."  (Nietzsche) 

Wagner  sieht  in  Nietzsche  den  besten,  jugendlichsten,  leiden- 
schaftlichsten, aber  auch  begabtesten  Freund.  Er  soll  ihm  helfen, 
soll  seine  Bayreuther  Blätter  redigieren,  er  soll  fortsetzen,  was  er 
mit  der  „Geburt  der  Tragödie"  und  der  Schrift  „Richard  Wagner 
in  Bayreuth"  begonnen  hat.  Er  sieht  nicht,  dass  Nietzsche  einen 
ganz  andern  Weg  geht.  Dass  die  eigene  Erkenntnis  diesen  Denker 
unter  den  bittersten  Schmerzen  in  die  furchtbarsten  Konflikte  mit 
seiner  Natur,  mit  seinem  Leben  und  seinen  Lebensbedingungen, 
mit  seinen  Freunden,  mit  seiner  Vergangenheit  drängt.  Er  sieht 
nicht  voraus  und  niemand  konnte  es  voraussehen,  wie  Nietzsche 
endet:  der  kranke  deutsche  Professor,  der  Pfarrerssohn,  der 
gütigste,  liebevollste,  rücksichtsvollste  Mensch  als  Antichrist,  als 
Zertrümmerer  der  Jenseitsmoral,  als  Verkünder  des  Übermenschen, 
als  Feind  des  neuen  deutschen  Wesens,  Feind  Kants,  Schillers, 
des  letzten  Beethoven,  Feind  jedes  „Geistes  der  Schwere"  und 
darum  Feind  Wagners.  („Die  Wagnerei,"  schreibt  er  1888,  „ist 
nur  ein  einzelner  Fall.") 

ZÜRICH  PAUL  STEFAN 

(Schluss  folgt) 

na  D 
216 


L'ßTABLISSEMENT  DES 
GERMAINS  EN  SUISSE 

Peu  de  branches  de  l'activite  scientifique  ont  donne  lieu  ä 
autant  d'erreurs  manifestes  que  l'etude  des  races.  Nos  livres 
d'histoire  classiques  nous  fönt  de  la  pretendue  Invasion  des  Bar- 
bares en  Helvetie  un  tableau  d'une  candeur  psychologique  in- 
Gomparable.  Les  theories  des  hommes  ä  systemes,  pour  lesquels 
l'etiage  de  la  vie  inteliectueile  reside  dans  la  forme  du  cerveau 
ou  la  couleur  des  cheveux,  ne  sont  gueres  plus  exactes.  Ces 
gens-lä  ont-ils  regarde  autour  d'eux?  Quel  est  l'observatecr  sin- 
cere  capable  de  declarer  en  bonne  conscience  que  l'Allemagne 
est  peuplee  de  „Germains"  et  la  France  de  „Latins" !  Pour  con- 
fondre  ces  maniaques  —  maniaques  souvent  ingenieux  —  il  suf- 
firait  le  plus  souvent  de  publier,  avec  leur  Photographie,  leur 
propre  taille  et  leur  indice  cephalique.  Neanmoins  on  ne  peut 
que  repeter  apres  M.  Eugene  Pittard:  „II  est  singulier  de  voir 
avec  quelle  legerete  on  reproduit  de  vieilles  suppositions  ayant 
traine  dans  tous  les  livres  et  avec  quelle  legerete  aussi  on  con- 
sidere  ces  suppositions  comme  des  faits  averes".  C'est  ä  se  de- 
mander,  en  effet,  quelle  opinion  pourront  se  faire  nos  descen- 
dants  de  la  conscience  scientifique  de  beaucoup  de  nos  „lettres". 

Nous  possedons  d'ailleurs  une  pleiade  de  savants  qui  se 
sont  donne  pour  täche  d'etudier  ces  problemes  avec  impartialite. 
L'an  dernier,  M.  F.  Schwerz  a  apporte  ici-meme  la  tres  utile 
collaboration  de  ses  recherches  scientifiques^),  qui  confirment  les 
conclusions  de  ses  devanciers  et  notamment  de  M.  Pittard,  qui 
ecrivait,  dans  le  Dictionnaire  geographique  de  la  Suisse:  „La 
conclusion  provisoire  .  .  .  c'est  que  notre  pays  est  peuple  sur- 
tout  de  brachycephalesleptorosopes.  Ils  constituent  ce  qu'on  ap- 
pelle  en  anthropologie  le  groupe  des  Celtes-Alpins,  Celto-Ligures, 
Celto-Rhetiens  etc.  Dans  l'ensemble,  les  dolichocephales  ne  fi- 
gurent  que  pour  une  faible  part.  C'est  dans  la  Suisse  centrale, 
les  Grisons  et  le  Valais  que  le  type  brachycephale  est  le  plus 
accentue".     Parmi   les  historiens,   nous  avons  vu  MM.  Hugo  de 


*)  Die  Alemanen  und  die  heutige  Bevölkerung  der  Schweiz.    „Wissen 
und  Leben"  1er  et  15  juin  1912. 

217 


Claparede,  Paul-Edmond  Martin  et  Marius  Besson,  pour  ne  citer 
que  ceux  de  ce  siecle,  projeter  une  lumiere  subite  sur  Tetablisse- 
ment  des  Germains  en  Suisse.  Qu'on  me  pardonne  de  mettre 
en  evidence  l'oeuvre  de  trois  de  mes  concitoyens  romands.  „Qräce 
ä  MM.  Besson  et  Martin,  ecrit  M.  Ch.  Benziger,  la  partie  ro- 
mande  de  notre  pays  nous  semble  en  avance  (ä  cet  egard)  sur 
la  partie  germanique"  ^). 

Remarquons  qu'au  debut  de  notre  ere,  on  ne  constate  pas, 
en  dehors  des  deux  grands  etablissements  de  peuplades  germa- 
niques,  d'invasion  importante  au  point  de  vue  ethnique.  Certes 
plus  d'une  tribu  traverse  le  pays  sans  s'y  arreter.  Mais  ii  n'est 
rien  reste,  pour  ainsi  dire,  de  ces  Alemanes  qui  ravagerent  la 
Gaule  en  259,  saccagerent  Aventicum  en  260,  et  passerent  ensuite 
en  Italic  oü  ils  disparurent;  rien  de  ces  soixante  mille  Alemanes 
qui  furent  vaincus  par  Constance  Chlore  presde  Vindonissa;  rien 
non  plus  de  ces  bandes  qui  detruisirent  quarante-cinq  villes  et 
firent  un  desert  de  l'Alsace,  pour  etre  repousses,  en  fin  de  compte, 
par  l'empereur  Julien. 

Un  examen  attentif  de  cette  periode  nous  revele  d'aiileurs 
une  Rome  singulierement  plus  energique  et  plus  combattive  que 
Celle  que  nous  connaissions;  ses  generaux  ne  se  lassent  pas  de 
construire  de  nouvelles  forteresses,  et,  se  multipliant,  ils  infligent 
defaite  sur  defaite  ä  ceux  d'entre  les  Germains  qui  ne  passent 
pas  ä  son  Service.  C'est  ainsi  que  les  Burgondes,  qui,  etablis  pres 
de  Worms,  etaient  devenus  des  soldats  auxiliaires  de  l'Empire 
—  foederati  —  et  s'etaient  laisse  aller  ä  des  actes  de  deso- 
beissance,  se  voient  infliger  une  cruelle  le^on  par  Aetius  en  436, 
puis,  en  437,  par  les  Huns,  que  le  general  romain  avait  su 
habilement  exciter  contre  eux.  Aetius  assigne  aux  debris  de  ce 
peuple  des  cantonnements  en  Savoie-).  Ils  s'y  apprivoisent 
en  quelque  sorte  au  contact  de  la  culture  latine,  se  con- 
vertissent  au  christianisme,  si  bien  que  les  Romains  peuvent 
bientot  songer  de  nouveau  ä  s'en  servir.     En  488  Odoacre,  roi 


J)    Les   etudes  sur  le  haut  moyen-äge  en  Suisse.    „Les  Feuillets" 
1912,  p.  136. 

2)  Voir  Hugo  de  Claparede,  Les  Burgondes  jusqu'en  443,  Geneve  1909, 
page  49  et  suivantes;  P.  Edmond  Martin,  Etudes  critiques  sur  la  Suisse  ä 
l'e'poque  me'rovingienne,  Geneve  1910,  page  7  et  suivantes. 

218 


d'ltalie,  retire  les  garnisons  de  l'Helvetie.  C'est  ä  cet  instant  pre- 
eis  que  les  Bürgendes  se  transportent  sur  les  bords  du  Riiin, 
invites,  semble-t-il,  par  le  souverain  h^rule  ä  y  constituer  une 
manche  assez  solide  pour  proteger  l'Helvetie  contre  la  menace 
grandissante  d'une  invasion  alemanique.  En  traversant  l'Helvetie 
occidentale  privee  de  maitres,  les  Burgondes  y  installent  leur 
gouvernement  militaire,  puis  leur  protectorat,  ä  la  plus  grande 
satisfaction  des  populations  affolees. 

Jusqu'oü  penetrerent  les  Burgondes?  On  admettait  au  siede 
dernier  qu'ils  etaient  restes  ä  l'ouest  de  l'Aar,  et  que  ce  n'est 
qu'au  IX^  siede  que  la  seconde  Transjurane  aurait  pousse  ses 
frontieres  jusqu'ä  la  Reuss.  Aujourd'hui,  le  doute  n'est  plus  guere 
permis  sur  ce  point:  Ton  reconnait  que  c'etait  une  erreur.  En 
517,  Bubulcus,  eveque  de  Vindonissa,  participait  ä  Epaone  ä  un 
congres  des  prelats  burgondes;  M.  Besson  a  etabli  que  le  siege 
de  l'eveche  fut  transfere  ä  Avenches  apres  549  —  plus  probable- 
ment  en  561  —  puis,  ä  la  fin  du  meme  siede,  ä  Lausanne^). 
Vindonissa  apparait  ainsi  comme  le  premier  siege  de  l'eveque  de 
Lausanne,  fait  d'autant  plus  caracteristique  que  les  frontieres  entre 
les  eveches  —  le  cas  est  en  tout  cas  certain  pour  ceux  de  Coire 
et  de  Constance  —  furent  etablies  d'apres  la  repartition  des  ra- 
ces.  Les  peuplades  burgondes  semblent  ainsi  s'etre  fixees  tout 
d'abord  le  long  du  Rhin,  specialement  dans  le  canton  d'Argovie. 

Quant  aux  Alemanes,  ils  s'etaient  etablis  dans  le  courant  du 
cinquieme  siede  en  Souabe,  maintenus  par  les  Romains  ä  dis- 
tance,  soit  au  nord  du  Rhin  et  du  Danube.  Au  commencement 
du  siede  suivant  —  plus  exactement  entre  501  et  507  —  Clovis,  roi 
des  Francs,  remporte  sur  eux  une  victoire  decisive;  dans  la  bataille, 
le  roi  et  la  noblesse  des  Alemanes  sont  tombes  avec  une  grande 
partie  du  peuple ;  une  autre  partie  a  ete  reduite  en  esclavage.  Les  sur- 
vivants  de  la  defaite  se  refugient  alors  dans  le  royaume  ostrogoth, 
dont  faisait  partie  l'Helvetie  Orientale;  le  roi  Theodoric  leur  fait 
bon  accueil,  mais  en  les  obligeant  ä  accepter  son  protectorat  et 
ä  devenir  les  gardiens  de  l'empire,  custodes  imperii^).  C'est  donc 
en  qualite  de  vaincus  implorant  un  asile,   et  nullement  en  con- 


')  Marius  Besson,  Les  origines  des   eveches   de   Geneve,   Lausanne^ 
Sion,  Fribourg  1908,  page  140  et  suivantes. 

2)  P.  Edmond  Martin,  Ibid.  page  54  et  suivantes. 

219 


querants,  que  les  Alemanes  ont  pris  domicile  chez  nous.  On 
comprend  aisement,  dans  ces  conditions,  qu'ils  n'aient  pas 
aneanti  la  population  gallo-romalne  qu'ils  avaient  ä  Charge  de 
proteger.  Ils  etablirent  leur  domination  politique  en  Souabe,  et 
du  cote  sud,  sur  le  territoire  occupe  actuellement  par  les  cantons 
de  Schaffhouse,  Thurgovie,  Zürich,  Zoug,  autant  que  nous  en 
pouvons  juger  par  les  limites  de  l'eveche  de  Constance,  celui  de 
Coire  formant,  au  point  de  vue  politique,  la  „Rhetie  de  Coire". 
Or,  jusqu'au  IX^  siecle,  l'eveche  rheto-romanche  comprenait  outre 
les  Grisons,  la  partie  Orientale  du  canton  actuel  de  Schwytz,  la 
vallee  de  la  Linth,  le  haut  Toggenbourg  et  la  majeure  partie  du 
Rheintal  saint-gallois;  au  XI h  siecle,  sur  le  Rhin,  la  frontiere  est 
ä  Montlingen  ou  au  Hirschensprung.  Je  n'apprendrai  rien  ä  qui 
que  ce  soit  en  rappelant  la  signification  si  claire  des  termes  Walen- 
stadt et  Walensee;  selon  M.  Kollmann,  le  canton  de  Glaris  est 
encore  aujourd'hui  celui  oü  Ton  rencontre  le  plus  de  bruns; 
dans  tout  le  sud  du  canton  de  Saint-Gall,  la  persistance  du  sang 
gallo-romain  est  evidente.  Quant  ä  la  langue  rheto-romanche,  ce 
n'est  peut-etre  que  le  plus  pur  des  dialectes  gallo-italiens  —  c'est 
ainsi  que  les  appelle  Ascoli  —  qui  couvrent  tout  le  nord  de 
ritalie,  mais  s'y  sont  corrompus  bien  davantage  que  ce  pouvait 
etre  le  cas  dans  des  vallees  difficilement  accessibles,  dont  les 
montagnes  constituaient  une  puissante  sauvegarde  pour  l'integrite 
de  l'idiome;  notons  en  passant  la  ressemblance  du  romanche 
avec  le  patois  tessinois,  avec  le  roumain,  et,  dans  une  mesure 
beaucoup  plus  faible,  avec  le  proven^al. 


La  Reuss  fixa  longtemps  la  frontiere  officielle  entre  les  Ale- 
manes et  les  Burgondes.  On  sait  que  l'influence  de  la  loi  gombete 
en  matiere  successorale  se  retrouve  dans  les  droits  coutumiers 
de  l'Argovie  et  jusque  sur  les  bords  de  la  Limmat;  l'architecture 
jurassique  a  laisse  des  vestiges  jusqu'ä  nos  jours  dans  les  can- 
tons de  Lucerne  et  d'Unterwald;  dans  la  Suisse  centrale,  la  bra- 
chycephalie  —  type  du  cerveau  gallo-romain  —  est  plus  accen- 
tuee  que  partout  ailleurs  en  Suisse:  selon  MM.  Schurch,  His  et 
Rutimeyer,  la  proportion  des  brachycephales,  dans  les  cantons 
de  Lucerne,  Unterwald  et  Uri,  serait  du  86,6  %  des  individus. 

220 


Neanmoins  il  est  ä  presumer  que  les  Alemanes  ont  fait 
rapidement  breche  dans  la  frontiere  burgonde  de  l'Est.  Dejä  le 
transfert  ä  Avenches  de  l'^veque  de  Vindonissa  semble  indiquer 
que  ce  prelat  ne  se  sentait  pas  suffisamment  en  sürete  sur  ces 
confins.  Un  autre  indice  de  ce  phenomene  nous  est  fourni  par 
la  bataille  de  Wangen,  au  sud-ouest  de  Berne:  en  610 — 611  en 
effet,  des  bandes  d'Alemanes  penetrent  dans  la  Transjurane,  bat- 
tent  les  defenseurs  du  pays  ä  Wangen,  et  s'en  retournent  avec  le 
butin  conquis  sans  etre  autrement  inquietes.  On  peut  admettre, 
en  raison  de  la  superiorite  miiitaire  apparente  des  Alemanes, 
que  des  expeditions  de  ce  genre  ne  furent  pas  isolees,  et  que  les 
cantons  actuels  d'Argovie  et  de  Soleure,  comme  le  nord  de 
celui  de  Lucerne,  furent  l'objet  d'une  penetration  constante,  plus 
ou  moins  pacifique. 

Dans  l'Helvetie  occidentale  comme  au-delä  du  Jura,  les  Bür- 
gendes, qui  ne  devaient  constituer  qu'une  infime  minorite,  adop- 
terent  rapidement  les  moeurs  des  habitants  du  pays  et  recoururent 
ä  leur  collaboration  pour  le  gouvernement;  c'est  ainsi  qu'en  574 
Ton  rencontre  parmi  les  patrices  un  certain  Mommulus,  Celto- 
Romain  d'Auxerre,  fils  du  comte  de  cette  ville.  II  est  fort  douteux 
au  demeurant  qu'entre  l'Aar  et  la  Reuss  les  Burgondes,  nom- 
breux  dans  ces  parages,  se  soient  tous  assimiles.  Albert  Jahn  note 
expressement  l'existence  d'influences  burgondes  sur  le  dialecte 
allemand-bernois^).  Toutefois  il  est  vraisemblable  que  ces  Bur- 
gondes restes  Qermains  se  seront  trouves  dans  une  Situation 
fort  difficile,  places  qu'ils  etaient  entre  la  Transjurane  gallo-ro- 
mane  et  les  Alemanes  turbulents  et  batailleurs;  et,  entre  ces  deux 
influences,  celle  de  la  similitude  du  langage  aura  du  l'emporter. 
Remarquons  qu'au  point  de  vue  politique  le  territoire  compris 
entre  l'Aar  et  la  Reuss  fut  tres  dispute,  peut-etre  precisement 
en  raison  du  caractere  mal  determine  de  la  popuIation  qui  l'ha- 
bitait.  C'est  ainsi  qu'en  806  il  est  incorpore  ä  la  Transjurane 
sous  la  domination  de  Charles,  fils  atne  de  Charlemagne,  deci- 
sion  qui  permet  de  supposer  qu'il  avait  fait  partie  un  certain 
temps  de  Vimperlum  alemanique.  En  843  il  echoit  (de  nou- 
veau?)  en  qualite  de  fief  ä  Louis  le  Germanique,   mais  en  888 

^)  A.  Jahn,  Geschichte  der  Burgundionen  und  Burgundiens  bis  zum 
Ende  der  ersten  Dynastie.  Halle,  1874,  11,  pages  402—410. 

221 


il  est  attribue  ä  nouveau  ä  la  Transjurane,  dont  il  a  fait  partie  jus- 
qu'en  1032,  date  de  la  mort  de  Rudolphe  III,  le  dernier  des  rois 
de  Bourgogne^). 

Le  rattachement  progressif  au  pays  alemanique  du  territoire 
situe  entre  l'Aar  et  la  Reuss  s'effectua  sans  doute  fort  ientement. 
Lors  de  l'etablissement  de  la  Reforme,  l'eveche  de  Lausanne 
s'etendait  encore  jusqu'ä  Berne  et  ä  Soleure,  ce  qui  n'exclut 
d'ailleurs  aucunement  l'hypothese  d'une  extension  de  rallemand 
ä  l'ouest  de  l'Aar.  La  disparition  des  barrieres  qui  separaient 
l'Alemanie  de  la  Burgondie  germanique  exigea  en  tous  cas  six 
ou  sept  siecles,  et  put  s'operer  insensiblement  sans  que  l'histoire 
eüt  ä  l'enregistrer.  Teile  est  du  moins  Texplication  qui  nous 
parait  la  plus  naturelle. 


Ni  les  Burgondes  ni  les  Alemanes  n'ont  donc  eu  roccasion, 
lors  de  leur  etablissement  pacifique  en  Helvetie,  d'aneantir  la 
Population  gallo-romaine  qu'ils  venaient  proteger.  Comme  cette 
derniere  possedait  indubitablement  la  superiorite  numerique,  on 
s'explique  aisement  les  resultats  —  provisoires  il  est  vrai  —  aux- 
quels  ont  abouti  les  investigations  des  anthropologistes. 

Remarquons  d'autre  part  que,  du  temps  de  l'Helvetie  ro- 
maine,  I'immigration  italienne  avait  ete  tres  faible,  et  que  les 
Gallo-romains  etaient  en  realite  des  Qaulois,  ou  plutöt  des  Gel- 
tes. Encore  aujourd'hui  le  type  courant  en  Suisse  n'est-il  pas 
celui  des  Celtes,  dont  les  caracteristiques  sont:  taille  moyenne, 
forte  ossature,  brachycephalie,  traits  irreguliers,  cheveux  chätains, 
et  au  moral  le  caractere  obstine,  renferme,  conservateur,  l'esprit 
de  clan,  l'aversion  de  la  centralisation  et  du  „pouvoir  per- 
sonnel",  le  culte  de  la  natuie  vierge?  En  tous  cas  il  parait  qu'il 
faut  definitivement  renoncer  aujourd'hui  ä  voir  les  deux  seuls 
termes   du   probleme  ethnique  dans  les  Latins  et  les  Germains, 


1)  Notons  toutefois  qu'en  922  des  terres  situees  sur  les  frontieres  in- 
certaines  de  l'Argovie  provoquent  un  conflit  entre  Rodolphe  II  de  Bour- 
^ogne  et  Bourcard,  duc  d'Al^manie.  Rodolphe  est  battu  ä  Winterthour, 
mais  Bourcard  lui  donne  en  mariage,  comme  un  gage  et  comme  un  Sym- 
bole de  l'union  des  deux  Helveties,  sa  fille  Berthe,  la  fameuse  reine  Berthe, 
dont  la  douce  gloire  rayonne  encore  sur  le  pays  romand. 

222 


ces  deux  races,  meme  prises  ensemble,   n'ayant  qu'une  part  re- 
duite  dans  la  Constitution  de  notre  sang. 

D'ailleurs,  au  fait  et  au  prendre,  qu'est-ce  qu'une  „race", 
sinon  l'ensemble  des  personnes  se  rattachant  ä  un  type  commun, 
type  qui  subit  l'influence  du  sol,  du  climat,  des  melanges  reci- 
proques,  et  meme  de  la  maniere  de  vivre?  On  peut  presque  par- 
ier, aujourd'hui  dejä,  d'un  type  anglais,  d'un  type  fran(;ais,  d'un= 
type  espagnol,  les  Fran<;ais,  les  Espagnols  et  les  Anglais  formant 
en  quelque  sorte  trois  familles  vivant  chacune  en  commun  depuis  plu-' 
sieurs  siecles;  en  tous  cas,  on  ne  saurait  contester  l'existence  de 
types  provinciaux,  normand,  toscan,  wurtembergeois  ou  ecossais. 
Les  types  provinciaux  ou  nationaux  se  substituent  toujours  davan- 
tage  aux  types  originaires  en  voie  de  disparition.  Tous  les  jours, 
les  savants  decouvrent  des  cränes  qui  ne  repondent  plus  ä  au- 
cun  type  actuel. 

Successivement  Jaunes,  pygmees,  negroides,  Celtes,  Gaulois, 
Romains,  Germains  et  d'autres  encore  ont  appose  leurs  alluvions  dans 
riotre  pays  sans  que  l'on  puisse  nettement  distinguer  aujourd'hui, 
dans  le  melange  qui  en  est  resulte,  la  part  afferente  ä  chacun 
d'eux.  Ce  probleme  perd  d'ailleurs  de  son  importance  au  für  et 
ä  mesure  que  l'instinct  fait  place  ä  la  raison  dans  les  determi- 
nations  de  l'homme,  et  que  s'affirme  ainsi  la  predominance  de  la 
culture  intellectuelle  sur  l'influence  du  sang. 

BERNE  RICHARD  BOVET 


DDD 

Le  bienheureux  FraiKjois  avait  coutume  de  dire  que  les  tiödes,  qui  ne 
savent  s'appliquer  ä  aucune  affaire  simplement  et  humblement,  le  Seigneur 
les  vomirait  promptement  de  sa  bouche ;  et  personne  ne  pouvait  demeurer 
oisif  devant  lui  qu'il  ne  le  dechirät  ä  belies  dents.  Lui-meme  aussi,  l'exemple 
de  toute  perfection,  travaillait  humblement  de  ses  mains,  defendant  qu'on 
läissät  rien  perdre  du  temps,  qui  est  le  meilleur  des  presents. 

11  disait  en  effet:  „Je  veux  que  tous  mes  freres  travaillent  et  s'exercent 
humblement  ä  des  travaux  utlles,  afin  de  peser  moins  lourd  aux  hommes, 
et  de  peur  que  le  cceur  ou  la  langue  ne  s'egarent  dans  l'oisivete." 

Quant  au  gain  et  au  benefice  du  travail,  11  disait  qu'il  devait  etre  laiss6 
au  jugement  non  de  l'ouvrier,  mais  du  gardien  ou  de  la  famille.] 

Version  fran^aise  de  Paul  Budry.  Paris.  FR£RE  LßON:  Miroir  de  la  perfection 

Librairie  Plön  1911.  du  bienheureux  Franfois  d'Assise. 

223 


DER  SCHWEIZERISCHE 
NATIONALPHILOSOPH 

Der  1895  dahingeschiedene  Charles  Secretan  war  ein  echter 
Lausanner  von  aUem  Schrot  und  Korn.  In  seiner  Vaterstadt 
nannte  man  ihn  nur  den  Philosophen  und  das  mit  vollem  Recht, 
war  er  doch  zugleich  ein  weiser  Mann  und  ein  systematischer 
Denker. 

„Secretan,  ein  weiser  Mann!"  unterbricht  mich  hier  vielleicht 
etwas  erstaunt  ein  Leser,  der  das  kürzlich  erschienene  und  schon 
wieder  in  neuer  Auflage  veröffentlichte  Buch  durchmustert  hat, 
welches  Louise  Secretan  dem  Andenken  ihres  Vaters  gewidmet 
hat.  „Ja,  wo  denken  Sie  denn  hin,  den  Namen  eines  Weisen 
einem  stürmisch  auftretenden  Patrizier  beizulegen,  der  sich  noch 
ganz  jung,  ohne  Vermögen  und  ohne  sichere  Stellung  mit  einem 
zwar  aus  guter  Familie  stammenden,  aber  ebenfalls  unbemittelten 
Mädchen  verheiratet,  der  sich  in  die  politischen  Händel  mischt 
und  die  Regierung  angreift,  von  der  die  philosophische  Professur 
abhängt,  die  er  provisorisch  bekleidet!" 

Freilich  mäßigt  er  sich  allmählich  unter  dem  Einfluss  seiner 
Freunde  und  seiner  gemütvollen  Frau;  allerlei  erschütternde  Er- 
fahrungen, die  er  durchzumachen  hat,  besänftigen  nach  und  nach 
sein  jugendliches  Ungestüm,  so  dass  er,  der  sich  aus  den  Ge- 
danken anderer  Leute  wenig  machte,  der  im  Vollgenuss  seiner 
Kraft  ungenügend  motivierte  Einwände  und  Behauptungen  un- 
barmherzig zu  Boden  trat  und  nichts  tat,  um  seine  geistige  Über- 
legenheit nicht  allzufühlbar  zu  machen,  mit  der  Zeit  so  bescheiden 
wurde,  dass  er,  um  mit  Felix  Bovet  zu  reden,  in  vielen  Fällen, 
wenn  er  angegriffen  wurde,  seinem  Gegner  bereitwillig  Recht  gab, 
ja  sogar  manchmal  einen  Mangel  an  einschlägigen  Kenntnissen 
offen  eingestand.  In  seinem  ersten  Mannesalter  kann  er  also 
kaum  als  Muster  eines  weisen  Mannes  gelten;  aber  unter  dem 
Eindruck  seines  spätem  Lebens  muss  man  zugeben,  dass  er  es 
geworden  ist. 

Ebenso  und  noch  mehr  lässt  sich  die  Behauptung  bestreiten, 
Secretan  sei  ein  systematischer  Denker  gewesen.  Er  hat  sich 
niemals  einem  scharf  umrissenen  Gedankenkreis  angeschlossen. 

224 


Die  Schweizer  werden  oft  als  Anhänger  einer  nüchternen  Nütz- 
h'chkeitslehre  angesehen.  Gegen  eine  solche  Zumutung  hat  sich 
aber  Secretan  zeitlebens  gewehrt.  Sein  ganzes  Leben  hindurch 
hat  er  die  bloß  auf  Nutzen  gestützte  Erfahrungsphilosophie  be- 
kämpft und  einige  male  überrascht  er  uns  sogar  mit  dem  Feld- 
geschrei: Nieder  mit  dem  Empirismus!  Wenn  er  auch  in  Locke 
den  ersten  Begründer  der  Erkenntnistheorie  und  den  Gegner  des 
übertriebenen  Rationalismus  der  Cartesianischen  Schule  respektiert, 
so  klagt  er  doch  seine  wesentlich  auf  Sinnesempfindungen  fußende 
Psychologie  an,  den  materialistischen  Neigungen  Vorschub  zu 
leisten  und  solchermaßen  das  Denken  als  bloße  Begleiterscheinung 
des  universellen  Mechanismus  aufzufassen. 

Über  alle  Systeme,  welche  auf  sinnlicher  Erfahrung  beruhen, 
erhebt  er  die  Qedankengebäude  der  deutschen  Lehrer,  zu  deren 
Füßen  er  gesessen.  Und  doch  wird  es  ihm  mehr  und  mehr  un- 
möglich, sich  ihnen  vollständig  anzuschließen.  Eine  wahre  Apostel- 
natur möchte  er  überzeugen  und  Nachfolge  stiften.  Es  leuchtet 
ihm  aber  ein,  dass  eine  Weltanschauung,  für  welche  der  Geist 
allein  wirklich  existiert,  nur  wenigen  zugänglich  ist.  Er  verzichtet 
daher  auf  den  abstrakten  Idealismus,  je  mehr  er  in  nähere  Be- 
rührung mit  dem  wirklichen  Leben  tritt. 

Bei  der  Lebhaftigkeit  seiner  Angriffe  gegen  den  Determinismus 
fühlt  man  sich  oft  versucht,  ihn  den  Skeptikern  anzureihen ;  man 
entdeckt  aber  bald,  dass  er  die  verschiedenen  Lösungen  der 
Lebensrätsel  nicht  durchmustert,  um  seine  Neugierde  zu  befrie- 
digen, sondern  dass  es  ihm  um  Aufschlüsse  über  die  beste  Lebens- 
führung zu  tun  ist. 

Will  man  ihn  durchaus  in  einer  bestimmten  Kathegorie  von 
Philosophen  unterbringen,  so  könnte  man  ihn  allenfalls  zu  den 
Mystikern  rechnen.  Wenn  man  jedoch  bedenkt,  mit  welcher 
Legion  von  Vernunftschlüssen  er  die  geheimnisvolle  Vereinigung 
Gottes  mit  dem  Menschen  zu  erhellen  sucht,  so  kommt  man  un- 
willkürlich dazu,  Secretan  einen  Platz  im  Lager  der  kühnsten 
Rationalisten  anzuweisen.  Seine  Philosophie  der  Freiheit,  in  der 
er  sein  mystisches  Glaubensbekenntnis  ausspricht,  ist  übrigens 
kein  System,  falls  wir,  wie  wir  müssen,  unter  System  eine  ein- 
heitliche Zusammenfassung  von  Begriffen  verstehen.  Stellt  er 
doch  in  diesem  Bekenntnis  Gott  und  den  Menschen  als  zwei  von 

225 


einander  unabhängige,  also  freie  Wesen  auf.  Das  Übel,  das  in 
der  Welt  existiert,  soll  ausschließlich  das  Werk  des  Menschen  sein, 
und,  um  dies  zu  erweisen,  beruft  er  sich  auf  die  alte  Idee  eines 
vorhistorischen  Sündenfalls.  —  Nun  ist  aber  diese  ins  Christentum 
übergegangene  orientalische  Sage  im  Lauf  der  Jalirhunderte  auf 
sehr  verschiedene  Weise  interpretiert  worden.  Die  Anhänger  der 
sogenannten  natürlichen  Religion  benutzten  dieselbe,  um  die  An- 
klage gegen  die  Verderbnis  der  Zeit  auf  die  Schultern  der  Kirche 
abzuwälzen.  Den  Vertretern  des  deutschen  Idealismus  galt  sie 
als  der  sinnbildliche  Ausgangspunkt  einer  neuen,  fortschreitenden, 
sich  mehr  und  mehr  differenzierenden  Menschheit,  während  sie 
im  Gegenteil  von  der  theokratischen  Schule  der  Joseph  de  Maistre 
und  de  Bonald  dazu  ausgebeutet  wurde,  um  die  Übelstände,  unter 
denen  die  moderne  Menschheit  leidet,  auf  Rechnung  der  rationa- 
listischen Bewegung  zu  schreiben,  welche  von  der  Reformation 
ausgehend  bei  der  freigeisterischen  Anarchie  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts anlangt.  —  Doch  welcher  Art  nun  auch  die  Deutung 
dieser  Sage  sein  mag,  so  trägt  sie  jedenfalls  in  allen  ihren  Wand- 
lungen nicht  das  Gepräge  einer  einheitlichen,  sondern  einer  dua- 
listischen Weltanschauung  und  kann  deshalb  nur  dazu  dienen,  um 
den  Übergang  zwischen  Theologie  und  Philosophie,  zwischen 
polytheistischem  Pluralismus  und  theistischem  Monismus  an- 
zudeuten." 

Hier  wird  man  mir  erlauben,  meinem  improvisierten  Gegen- 
part das  Wort  abzuschneiden  und  ihm  folgendes  zu  erwidern: 

Gewiss  ist  es  Secretan  nicht  gleich  von  Anfang  an  gelungen, 
der  weise  Mann  zu  werden,  der  in  unserm  Andenken  weilt.  Ebenso 
muss  man  zugeben,  dass  er  es  niemals  zu  einem  abgeschlossenen 
System  gebracht  hat.  Was  uns  aber  durchaus  nicht  verhindern 
soll,  ihn  zu  den  bedeutendsten  Denkern  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts zu  rechnen.  Weit  davon  entfernt,  sich  auf  eine  einmal 
angenommene  Gedankenbildung  zu  versteifen,  hat  er  nicht  auf- 
gehört, sich  bis  ans  Ende  seines  Lebens  fortzuentwickeln.  In 
seiner  Jugend  trat  er  als  unerschrockener  Reaktionär  auf,  während 
er  in  seinem  Alter  zum  Fahnenträger  des  weitgehendsten  Fort- 
schrittes wurde.  Es  fällt  einem  unwillkürlich  ein,  ihn  mit  Pascal 
zu  vergleichen,  welcher,  obgleich  er  der  religiösen  Reaktion  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  angehörte,  sich  dennoch  im  Innern  der 

226 


Orthodoxie  als  ein  Neuerer  gebärdete,  dessen  gewaltiger  Simsons- 
griff  die  Säulen  des  überlieferten  Heiligtums  erschütterte. 

Beim  Studium  der  Geschichte  der  Philosophie  wird  es  einem 
oft  zu  Mut,  als  ob  die  philosophischen  Systeme  sich  ohne  Zu- 
ziehung des  Lebens  so  zu  sagen  aus  sich  selbst  immer  neu  er- 
zeugten. Dieser  Eindruck  löst  sich  aber  in  bloßen  Schein  auf, 
sobald  man  die  Systeme  in  Verbindung  mit  der  Gesamtheit  der 
sozialen  Äußerungen  bringt. 

Descartes  hat  nicht  nur  den  mittelalterlichen  Dualismus  auf 
die  äußerste  Spitze  getrieben  und  auf  solche  Weise  den  Anbruch 
einer  neuen  Weltanschauung  beschleunigt.  Durch  die  unvermittelte 
Zusammenjochung  der  geistigen  und  der  materiellen  Welt  formu- 
liert er  eine  Lebensauffassung,  in  welcher  er  das  scharfe  Aufein- 
anderprallen kirchlicher  und  weltlicher  Interessen  ausspricht,  das 
von  jeher  bis  auf  den  heutigen  Tag  das  französische  Leben  ge- 
kennzeichnet hat.  —  Locke,  Leibniz  und  Spinoza  sind  von  Des- 
cartes beeinflusst  worden.  Aber  in  der  Gedankenwelt  eines  jeden 
dieser  Philosophen  spielt  das  Volk,  dem  sie  angehören,  eine 
determinierende  Rolle.  —  Als  richtiger  Engländer  versetzt  Locke 
den  spekulativen  Rationalismus  seines  französischen  Lehrmeisters 
mit  englischem  Erfahrungsgeist.  —  Als  Deutscher,  der  in  seiner 
Philosophie,  wie  in  Küche,  Kirche  und  Kunstanschauung  das 
Prinzip  der  Mischung  vertritt,  begnügt  sich  Leibniz  in  seinen 
Monaden  nicht  damit,  geistiges  und  materielles  Wesen  ineinander 
zu  arbeiten;  unwillkürlich  spiegelt  er  in  denselben  auch  die  Hun- 
derte und  Aberhunderte  von  souveränen  oder  halbsouveränen 
Staaten  ab,  welche  sich  im  alten  Deutschland  unabhängig  von 
einander  um  ein  gemeinsames,  mehr  traditionell  als  wirksam  ein- 
greifendes kaiserliches  Zentrum  bewegten.  —  Als  unabhängiger 
jüdischer  Denker  entfernt  sich  vom  cartesianischen  Dualismus  der 
von  seinen  orthodoxen  Glaubensgenossen  ebensowohl  wie  von 
streng  und  freigläubigen  Christen  verketzerte  Spinoza  nur,  um 
in  moderner  Form  den  religiösen  Monismus  der  alttestament- 
lichen  Propheten  zu  verkünden.  —  Als  guter  Königsberger  und 
guter  Preuße  versteht  es  Kant  zwar  wie  Descartes,  in  Denken  und 
Sein,  Wissen  und  Leben,  Theorie  und  Praxis  die  Grundlagen  des 
menschlichen  Daseins  anzuerkennen ;  er  weiß  aber  auch  seiner 
Philosophie   das   Siegel    seiner   Zeit   und    seines   Volkes    aufzu- 

227 


drücken,  indem  er  trotz  weitausgreifendem  Scharfsinn  nichts  anderes 
h'efert  als  einen  Kommentar  zu  dem  Worte,  welches  Friedrich  der 
Große  an  seine  Untertanen  richtete,  da  er  sagte:  Räsonniert  so 
viel  ihr  wollt,  tut  aber  euere  verdammte  Pflicht  und  Schuldigkeit. 

Zieht  man  dies  alles  in  Betracht,  so  wird  man  sich  nicht 
wundern,  dass  Secretan  es  gerade  so  macht  wie  seine  großen 
philosophischen  Vorfahren,  und  dass  er  wie  diese,  meist  ohne  es 
zu  wollen,  zum  Dolmetsch  der  Gedanken  seines  Volkes  und 
seiner  Zeit  wird. 

Während  der  sechzig  Jahre  seines  philosophischen  Apostel- 
tums  sind  die  Interessen  der  geistigen  Welt  nicht  immer  die  selben 
geblieben.  So  bemühten  sich  zum  Beispiel  die  leitenden  Persön- 
lichkeiten der  Restaurationszeit  vor  allem,  die  durch  Revolution 
und  napoleonisches  Kaisertum  stark  geschädigten  Mächte  der  Tra- 
dition wieder  zu  neuem  Ansehen  zu  bringen,  den  überall  sich 
regenden  Emanzipationsgelüsten  entgegenzutreten,  Reformation 
und  Renaissance  wegen  ihres  Bruches  mit  der  nächsten  Ver- 
gangenheit zu  bekämpfen,  die  moderne  Geistesbewegung  als  einen 
neuen  Sündenfall  zu  verpönen  und  das  sittliche  Bewusstsein  durch 
Rückkehr  zum  naiven  Glauben  des  Mittelalters  zu  stärken. 

Ganz  anderer  Art  waren  aber  die  Bestrebungen  der  Gene- 
ration, welche  sich  zwischen  der  Julirevolution  und  dem  Fall  des 
zweiten  napoleonischen  Kaiserreichs  um  die  Fahne  des  utilitaristi- 
schen Evangeliums  scharte.  Während  dieser  Zeit  wurde  Europa 
zu  einem  Kampfplatz,  wo  es  galt,  die  weltbewegenden  Ideen  von 
drei  Revolutionen  durchzusetzen :  Das  politische  Erdbeben,  welches 
1789  von  Frankreich  ausgegangen  war,  erschütterte  nacheinander 
die  morschen  Staatsgebäude  der  alten  Zeit  bis  in  ihre  Grund- 
festen. —  Der  wirtschaftliche  Umschlag,  der  sich  von  dem  geschäf- 
tigen England  aus  mit  fieberhafter  Schnelligkeit  über  die  Welt 
verbreitete,  veranlasste  die  mit  neu  entdeckten  Maschinen  arbei- 
tende Industrie  weit  über  die  Bedürfnisse  eines  geschlossenen 
Marktes  hinaus  zu  produzieren,  für  die  aufgestapelten  Waren 
immer  neue  Absatzgebiete  zu  suchen,  alle  den  Verkehr  hemmen- 
den Schranken  in  Verruf  zu  bringen  und  womöglich  niederzu- 
reißen, im  Wettbewerb  skrupellos  alle  Mittel  anzuwenden,  um 
minderkräftige  Konkurrenten  aus  dem  Feld  zu  schlagen.  —  Eine 
gewaltig  gährende   Gemütsbewegung  trieb  Wilhelm  Meisters  und 

228 


Fausts  Gesinnungsgenossen  dazu  an,  die  größtmögliche  Ausbildung 
und  Verwertung  ihrer  Fähigkeiten  zu  verfolgen,  zu  diesem  Behuf 
die  gewagtesten  Versuche  anzustellen  und,  wenn  es  nicht  anders 
ging,  selbst  die  Bande  zu  lösen,  welche  das  Individuum  an  Fa- 
milie, Heimat  und  Vaterland  fesseln.  In  ihrer  vollen  Entwicklung 
drohte  die  Nützlichkeitsidee  geradezu  jedes  Gefühl  zu  ersticken, 
welches  sich  dem  Durst  nach  Freizügigkeit,  Reichtum,  Genuss- 
und Ausbildungssucht  entgegenstemmte. 

Freilich  weckte  der  utilitaristische  Wellenschlag  überall  und 
namentlich  auch  in  unserm  Vaterlande  manche  verborgene  Kraft 
und  spornte  sie  zu  gemeinnützigen  Leistungen  an.  Aber  indem 
er  die  Entfaltung  individueller  Energie  begünstigte,  drängte  sich 
einer  wachsenden  Anzahl  praktischer  Leute  die  Überzeugung  auf, 
dass  planvoll  konzentrierte  Massenmanöver  über  kurz  oder  lang 
den  Sieg  über  vereinzelt  auftretende  Unternehmungen  davontragen 
müssen.  Dies  ist  denn  auch  die  Quelle  der  imperialistischen 
Tendenzen,  welche  für  das  Ende  des  neunzehnten  und  den  An- 
fang des  zwanzigsten  Jahrhunderts  so  bezeichnend  sind.  Persön- 
liches Wirken  gilt  wenig,  wofern  es  nicht  durch  Achtung  gebietende 
Massen  unterstützt  wird.  Die  großen  Staaten  begnügen  sich  nicht 
damit,  ihre  militärischen  Hilfsmittel  straff  zusammenzuziehen,  sie 
schließen  auch  noch  Schutz-  und  Trutzbündnisse  mit  andern 
mächtigen  Staaten.  Und  ebenso  machen  es  auch  die  industriellen 
Kampforganisationen :  die  kapitalistischen  Großmächte  kombinieren 
ihre  Kräfte,  um  den  Weltmarkt  zu  beherrschen,  während  die 
Arbeitervereine  den  Klassenkampf  organisieren  und  in  vielleicht 
nicht  allzu  ferner  Zukunft  den  internationalen  Streitmächten  die 
Stange  halten  werden. 

Von  all  diesen  manigfaltigen  Bestrebungen  ist  nun  Secretans 
Tätigkeit  vielfach  berührt  worden;  und  glücklicherweise  entwickelte 
sich  seine  Laufbahn  in  einem  Lande,  wo  zwei  große  Kultur- 
strömungen sich  kreuzen  und  sich  wechselseitig  beeinflussen. 
Man  kann  als  Schweizer  geboren  sein,  man  wird  es  aber  heutzu- 
tage, wo  unser  Vaterland  immer  mehr  und  mehr  auch  für  die 
Geisteszüge  zur  Drehscheibe  unseres  Kontinents  geworden  ist, 
nur  dann  in  vollkommener  Weise,  wenn  man  Nord  und  Süden, 
Ost  und  Westen  auf  sich  einwirken  lässt.  Das  ist  nun  aber  bei 
Secretan  in  ganz  eminenter  Weise  der  Fall  gewesen.   Schon  früh 

229 


ist  seine  Seele  von  Samen  befruchitet  worden,  die  sowohl  der 
germanischen  wie  auch  der  lateinischen  Kultur  entstammen. 

Die  romanische  Welt  hat  zwei  Philosophien  gezeitigt,  welche 
den  getreuen  Abdruck  einer  Gesellschaft  bilden,  die  in  zwei  von 
einander  getrennten  Lagern  haust.  Katholischer  Spiritualismus 
auf  der  einen,  materialistische  Freigeisterei  auf  der  andern  Seite 
zeichnen  sich  in  Italien  und  Spanien,  namentlich  aber  in  Frank- 
reich durch  eine  so  scharf  ausgeprägte  Form  aus,  dass  sich  die 
selbe  auch  den  dualistischen  Denkern  der  übrigen  Länder  unseres 
Weltteils  aufdrängt.  So  haben  denn  Joseph  de  Maistre  und  de 
Bonald  durch  straffe  Formulierung  des  theokratischen  Gedankens 
Schelling  und  Friedrich  Schlegel  stark  beeinflusst,  während  die 
materialistische  Strömung  hauptsächlich  durch  die  englischen  An- 
hänger dieser  ursprünglich  französischen  Richtung  gewirkt  hat. 
Wie  Maistre  und  Bonald  sind  auch  ihre  deutschen  Jünger  erklärte 
Feinde  der  Revolution,  und  um  sie  nun  zu  bekämpfen,  greifen 
sie  die  Revolution  nicht  nur  in  ihren  Wirkungen,  sondern  auch 
in  ihren  Ursachen  an. 

Die  seit  Reformation  und  Renaissance  dahingeflossenen  Jahr- 
hunderte scheinen  den  Verteidigern  der  Theokratie  die  Ordnung 
dem  Fortschritt,  die  Vergangenheit  der  Gegenwart,  den  Geist  dem 
Stoff  aufgeopfert  zu  haben.  Anstatt  wie  Cartesianer,  Baconianer 
und  Sensualisten  vom  individuellen  Bewusstsein  auszugehen,  be- 
haupten sie,  dass  die  Quelle  aller  sozialen  Ordnung  im  kollektiven 
Bewusstsein  zu  finden  sei  und  stellen  deshalb  dem  Individualismus 
ihrer  Widersacher  die  Autorität  der  Rasse  und  der  Überlieferung 
entgegen.  Secretans  einstiger  Lehrer,  der  berühmte  Schelling, 
vertritt  ihren  Standpunkt  seit  dem  Jahre  1803.  In  seiner  Frei- 
heitslehre behauptet  er,  die  Einzeldinge  verdankten  ihren  Ursprung 
dem  Abfall  vom  absoluten  göttlichen  Sein.  Das  menschliche  Ge- 
schlecht habe  von  Anfang  an  eine  Offenbarung  von  Kunst,  Wissen- 
schaft und  Religion  empfangen,  und  zwar  durch  das  Mittel  über- 
menschlicher Wesen,  welche,  nachdem  sie  den  göttlichen  Samen 
einer  höhern  Kultur  ausgestreut  hätten,  wieder  verschwunden 
wären.  Dieses  Verschwinden  habe  eine  Verschlechterung  der 
Lebensbedingungen  unseres  Planeten  nach  sich  gezogen,  und  die 
Geschichte  dieser  Entartung  sei  wie  Iliade  und  Odyssee  eine 
Epopöe  in  zwei  Teilen,   wovon   der  eine  berichte,   wie   sich   der 

230 


Mensch  von  Gott  getrennt  habe,  während  der  andere  die  Rück- 
kehr zum  Urquell  alles  Daseins  erzähle.  In  dem  Kampfe  zwischen 
Einzel-  und  Gesamtwillen  bilde  die  Fleischwerdung  Christi  den 
wichtigsten  Zeitpunkt  der  menschlichen  Geschichte,  in  welchem 
der  engültige  Sieg  des  Guten  über  das  Böse  entschieden 
worden  sei. 

Noch  schärfer  und  ausführlicher,  als  dies  durch  Schelling 
geschehen,  ist  die  Philosphie  des  theokratischen  Frankreichs  durch 
Friedrich  Schlegel  formuliert  worden. 

Der  Sündenfall,  sagt  er  in  seiner  1827  erschienenen  Philo- 
sophie der  Geschichte,  ist  der  Anfang,  von  welchem  eine  von 
Gott  geplante  und  progressiv  sich  entwickelnde  Rettungserziehung 
anhebt.  Der  Mensch  gehört  keineswegs  zum  Tierreich.  Von  Be- 
ginn an  trägt  er  in  seinem  Innern  einen  göttlichen  Keim,  aus 
dem  in  der  Folge  Sprache,  Denken  und  alles  das  hervorgeht, 
was  den  Menschen  zum  Herrn  der  Erde  stempelt.  Die  Geschichte 
der  gefallenen  und  wieder  aufgerichteten  Menschheit  ist  eine 
Restaurationsbewegung,  die  sich  vom  südöstlichen  Asien  nach 
dem  nordwestlichen  Europa  hinzieht  und  sich  durch  vier  Perioden 
hindurch  entwickelt,  von  denen  die  erste  im  Orient,  die  zweite  in 
der  klassischen  Welt  Persiens,  Griechenlands  und  Roms,  die  dritte 
im  christlichen  Europa  des  Mittelalters,  die  vierte  im  modernen 
Europa  abspielt.  —  Die  Geschichte  der  orientalischen  Welt  beruht 
auf  einem  wesentlich  Innern  Prozess,  während  dessen  Verlaufs 
die  vier  Hauptvermögen  des  Menschen  zur  Entfaltung  kommen: 
der  Verstand  bei  den  Chinesen,  die  Einbildungskraft  bei  den  In- 
dern, die  praktische  Intelligenz  bei  den  Ägyptern,  der  Wille  bei 
den  Hebräern.  —  Eine  durchaus  entgegengesetzte  Richtung  schlägt 
die  Geschichte  von  Persien,  Griechenland  und  Rom  ein.  Bezieht 
sie  sich  doch  wesentlich  auf  die  äußere  Organisation  unseres 
Geschlechtes,  welche  sie  durch  eine  Reihe  von  Versuchen  zu  be- 
werkstelligen trachtet,  die  wie  die  Reiche  von  Cyrus,  Alexander 
dem  Großen  und  Cäsar  auf  die  materielle  Einheit  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  hinzielen.  —  Unter  der  Ägide  des  Papsttums 
offenbart  sich  im  christlichen  Mittelalter  zugleich  das  äußere  und 
innere  Leben  der  Menschheit,  eine  Zeit  des  höchsten  Glückes, 
welches  leider  durch  die  Wirren  der  Reformation  und  der  aus 
ihr  entstehenden  revolutionären  Regungen  getrübt  werden  sollte, 

231 


bis  endlich  die  Restauration  der  angestammten  Autoritäten  die 
Welt  wieder  in  die  alten  Bahnen  zurücklenkte. 

Diese  spekulativ  historische  Erklärung  des  Sündenfalls  bringt 
also  die  deutschen  Anhänger  der  theokratischen  Schule  dahin,  in 
der  Freiheit  die  wirkliche  Ursache  des  in  der  Welt  hausenden 
Übels  zu  sehen  und  sie  deshalb  wie  überhaupt  jede  Unterbrechung 
der  überlieferten  Denkgewohnheiten  mit  aller  Macht  zu  be- 
kämpfen. 

Wie  kommt  es  nun,  dass  Secretan,  der  doch  von  den  Prin- 
zipien der  theokratischen  Schule  ausgegangen  ist,  dennoch  zu 
ganz  andern  Schlussfolgerungengelangt,  dass  für  ihn  die  Geschichte, 
weit  entfernt  auf  eine  Unterbindung  der  individuellen  Kräfte  hin- 
zuleiten, im  Gegenteil  den  Endzweck  hat,  eine  allmähliche  Be- 
freiung der  sittlichen  Persönlichkeit,  den  Aufstieg  zu  einer  immer 
vollkommeneren  sozialen  Organisation  herbeizuführen,  wo  jeder 
berufen  wäre,  eine  seiner  besondern  Natur  angemessene  Rolle  zu 
spielen?  in  der  Seele  Secretans  hat  sich  eben  unter  dem  Einfiuss 
unseres  nationalen  Geistes  eine  religiöse  Änderung  vollzogen;  an 
die  Stelle  der  römischen  Idee  eines  nach  dem  Muster  Philipp  II., 
Ludwig  XIV.  oder  Napoleons  zentralistisch  regierenden  Gottes  ist 
nach  und  nach  das  Bild  eines  Gottes  getreten,  welcher  sich  in 
den  von  der  eidgenössischen  Verbrüderungsidee  beseelten  Indivi- 
duen offenbart, 

Secretan  begreift  immer  mehr  und  mehr,  welch  zersetzende 
Trockenheit  das  religiöse  Denken  der  lateinischen  Welt  beherrscht, 
die  das  Universum  in  zwei  absolut  getrennte  Hälften  zerlegt:  die 
Mächte  des  Guten  und  des  Bösen,  Gott  und  Natur,  Geist  und 
Körper,  Mann  und  Weib,  Priester  und  Laie,  Kirche  und  Staat. 
Alles  unvermittelte  Gegensätze,  deren  Widerstreit  nur  durch  die 
völlige  Niederlage  eines  der  antagonistischen  Elemente  beseitigt 
werden  soll.  Ergriffen  vom  mystischen  Odem  des  romantischen 
Deutschlands  und  des  wiederum  religiös  erwachten  Englands 
sucht  nunmehr  Secretan  für  das  Rätsel  des  Lebens  eine  Lösung, 
die  ihn  weniger  chimärich  anmutet  als  der  absolute  Dualismus. 
Er  sucht  eher  zu  vereinigen  als  zu  trennen,  gesellig  zu  verbinden 
als  über-  und  unterzuordnen.  Gut  und  Bös,  soziales  und  indi- 
viduelles Wesen  hören  für  ihn  auf,  sich  von  einander  zu  scheiden 
wie  Tag  und  Nacht;   er  ahnt,   dass  sie  sich  gegenseitig  bedingen 

232 


und  durchdringen.  Gott  und  Natur,  Geist  und  Körper  betraciitet 
er  nicht  mehr  als  durchaus  von  einander  geschiedene,  abstrai^te 
Wesen,  sondern  als  lebendige,  konkrete  Einheiten.  Mann  und 
Weib  erscheinen  ihm  als  zwar  differenzierte  aber  gleichwertige 
Wesen,  welche  dazu  bestimmt  sind,  sich  gegenseitig  zu  ergänzen, 
anstatt  in  sklavischer  Abhängigkeit  oder  gesondert  von  einander 
ihr  Leben  zu  führen.  Priester  und  Laien,  das  heißt  entweder 
ausschließlich  für  geistige  oder  nur  für  materielle  Interessen  lebende 
Menschen  sind  für  ihn  Monstruositäten,  von  denen  uns  die  Zu- 
kunft zu  befreien  hat,  und  mit  ihnen  soll  auch  verschwinden  der 
radikale  Antagonismus  zwischen  Kirche  und  Staat,  zwischen  rein 
sittlichen  und  rein  materiellen  Mächten. 

Nach  diesen  Ausführungen  hüte  man  sich  jedoch  davor,  in 
Secretan  einen  verkappten  Monisten  zu  wittern.  Er  ist  vielmehr 
ein  föderalistischer  Denker,  für  den  die  entscheidende  Schicksals- 
macht nicht  einem  monarchisch  eingreifenden  Oberwillen,  sondern 
einer  Kraft  entstammt,  die  sich  im  freien  Kampfspiel  der  Einzel - 
willen  entfaltet;  für  den  Sittlichkeit  nicht  einen  von  oben  herab 
regulierten  gesellschaftlichen  Zustand,  sondern  eine  allseitig  gute 
Sitten  schaffende  Tätigkeit  bedeutet.  Als  eifriger  Apostel  der  freien 
Persönlichkeit  ist  er  gegen  die  erschlaffende  Lehre  der  Optimisten 
aufgetreten,  welche  in  weichlichem  Daseinsdusel  vermeinen,  der 
Fortschritt  beruhe  nicht  sowohl  auf  dem  handelnden  Eingreifen 
der  Einzelnen,  als  auf  der  automatischen  Abwicklung  eines  not- 
wendig erfolgenden  Naturprozesses.  Und  als  die  wachsende  Macht 
des  militärischen,  kapitalistischen  und  sozialistischen  Imperialismus 
die  selbständige  sittliche  Entwicklung  des  Individuums  bedrohte, 
stellte  Secretan  mit  jugendlichem  Feuereifer  dem  egoistischen 
Ansturm  der  Massenpolitik  die  Handlungsweise  der  heldenhaften 
Seelen  entgegen,  welche  für  die  höchsten  Güter  der  Menschheit 
streiten.  Daher  auch  sein  mehr  auf  die  Zukunft  als  auf  die  Ver- 
gangenheit gerichteter  Blick,  seine  Vorliebe  für  das  vom  histori- 
schen Recht  verdrängte  idealistische  Naturrecht,  seine  tiefe  Sym- 
pathie für  alle  Bemühungen,  um  den  Übeln  des  Krieges  und  des 
sozialen  Elendes  zu  steuern,  sein  Feldzug  zugunsten  schützender 
Frauenrechte;  daher  endlich  seine  unerschütterliche  Überzeugung, 
dass  die  Aera  sozialer  Gerechtigkeit  nur  dann  anbrechen  kann, 
wenn  ihr  ein  sittlicher  Wandel  vorangeht,  der  uns  aus  der  engen 

233 


Sphäre  egoistischer  Interessen  zu  den  h'chten  Höhen  emporreißt^ 
wo  universelle  Ewigkeitsideen  hausen. 

In  den  Geschichten  der  Philosophie  wird  Secretan  nur  als 
Verfasser  der  „Philosophie  de  la  Liberte"  erwähnt,  und  als  solcher 
der  Schule  Schellings  angereiht.  Seine  Schriften  über  das  Prinzip 
und  den  Wert  der  Sittlichkeit,  über  die  sozialen  Fragen  und 
namentlich  sein  wichtiges  Werk  über  Kultur  und  Glauben  (la  Ci- 
vilisation  et  la  Croyance)  werden  stillschweigend  übergangen.  Läge 
vielleicht  der  Grund  dieser  Auslassung  in  der  Schwierigkeit,  sich 
in  den  meist  registerlosen  Werken  zu  orientieren,  die  sich  über- 
dies keinem  bestimmten  System  anschließen;  oder  in  dem  Hin- 
und  Herschwanken  zwischen  lebendiger  Anschauung  und  abstrakt 
beweisendem  Verfahren;  oder  in  der  Tatsache,  dass  Secretan 
weniger  auf  die  Architektur  seiner  Gedanken  als  auf  ihre  prakti- 
sche Wirkung  bedacht  war?  Vielleicht  steckt  etwas  von  alldem 
in  dieser  Übergehungssünde.  Jedenfalls  hieße  es  sich  um  die  von 
Secretan  vertretenen  Ideen  verdient  zu  machen,  wenn  jemand  es 
unternehmen  wollte,  eine  Ausgabe  seiner  Schriften  zu  veranstalten, 
die  mit  allen  praktischen  Zutaten  versehen  wären,  welche  sie 
dem  Publikum  zugänglich  machen  würden.  Ebenfalls  von  Nutzen 
dürfte  es  sein,  wenn  Secretans  gedankliche  Leistungen  in  einem 
Auszug  erschienen,  wo  die  langen  dialektischen  Auseinander- 
setzungen getilgt  würden,  um  die  genialen  Anschauungen  hervor- 
treten zu  lassen,  welchen  man  auch  in  den  Schriften  der  größten 
Philosophen  der  Gegenwart  begegnet  und  denen  man  so  leb- 
haften Beifall  zollt. 

Gewisse  Stellen  in  „Kultur  und  Glauben",  wo  Secretan  die 
Evolution  als  die  wesentliche  Form  der  Schöpfung  preist  und  wo 
er  in  der  Entwicklung  des  individuellen  Menschen  das  natürlichste 
Symbol  der  universellen  Entwicklung  sieht,  nehmen  sich  aus  wie 
ein  Präludium  zu  Bergsons  „Evolution  creatrice".  —  Ist  Secretans 
Behauptung,  dass  diejenigen  Dinge  die  besten  sind,  welche  den 
größten  Ewigkeitswert  besitzen,  nicht  auch  der  Grundgedanke  des 
Pragmatismus  von  James?  —  Und  finden  wir  Secretans  reifste 
Gedankenbildungen  nicht  auch  wieder  in  Euckens  Ansichten  vom 
Zusammenwirken  des  Ganzen  und  des  Teils,  Gottes  und  der 
Menschen,  des  Ideals  und  der  Wirklichkeit,  sowie  auch  in  Euckens 
anbetender  Verehrung  der  erhabenen  Idee  des  Christentums,  der 

234 


zufolge  Gott  zum  Menschen  wurde,  damit  wiederum  der  Mensch 
zur  Gottheit  emporgehoben  würde? 

Secretan  hat  auch  dadurch  vorbildlich  gewirkt,  dass  nicht  nur 
alle  europäischen  Geistesströmungen  ihren  Wiederhall  in  seiner 
Seele  fanden,  sondern  weil  er  auch  in  seinem  Leben  wie  in 
seinen  Schriften  die  tiefsten  Eigenheiten  unseres  Volkes  zum 
Ausdruck  brachte. 

Während  eine  mannigfach  gestaltete  Natur  uns  Schweizer  zu 
vielfältig  verschiedenen  Bildungen  hindrängt,  weist  uns  im  Gegen- 
teil die  Geschichte  darauf  an,  die  verschiedenartigsten  Elemente 
einander  näher  zu  bringen,  um  in  Gemeinschaft  mit  ihnen  am 
Werk  gesitteter  Freiheit  zu  arbeiten.  Hat  sie  doch  nacheinander 
Wald-,  Land-  und  Stadtkantone,  katholische  und  protestantische, 
germanische  und  romanische  Völkerschaften,  örtliche,  soziale, 
religiöse  und  ethnische  Sonderinteressen  aneinandergebunden  und 
so  ein  reiches  Zusammenwirken  zustande  gebracht,  dessen  unwill- 
kürliche philosophische  Formulierung  Secretan  vollzogen  hat. 
Kooperatives  Wirken  ist  sein  eigentliches  Losungswort.  In  Reli- 
gion, Metaphysik,  Psychologie,  Moral  und  Soziologie  sieht  er  das 
Zusammenwirken  von  Gott  und  Mensch,  des  Allgemeinen  und 
des  Besondern,  des  Denkens  und  der  Empfindung,  des  Ideals  und 
der  Wirklichkeit,  des  kollektiven  und  des  individuellen  Bewusstseins. 
Und  diese  eigentümliche  Zusammenfassung  hat  nicht  nur  sein 
Denken,  sondern  auch  sein  Leben  geleitet. 

Zu  den  wesentlich  lateinischen  Elementen  seiner  ersten  Er- 
ziehung gesellten  sich  schon  früh  deutsche  Geistesgewohnheiten. 
Seine  Heirat  mit  einer  Katholikin,  an  deren  Seite  er  fünfzig  Jahre 
in  ungetrübter  Harmonie  verlebte,  erhob  ihn  zu  dem  Begriff  eines 
über  den  kirchlichen  Spaltungen  schwebenden  Christentums.  Am 
Abend  seines  Lebens  sprach  er  gern  in  öffentlichen  Versamm- 
lungen mit  ansteckendem  Enthusiasmus  von  einer  Lebensweise, 
nach  welcher  körperliche  Arbeit  wo  möglich  in  freier  Luft  mit 
sitzenden  Beschäftigungen  mehr  geistiger  Art  einander  ablösen 
sollten,  wie  dies  in  manchen  Gegenden  unseres  Vaterlandes  noch 
oft  der  Brauch  ist.  Mit  seinen  heißesten  Wünschen  sehnte  er 
sich  nach  einer  sozialen  Organisation,  welche  sich  auf  koopera- 
tiver Grundlage  mit  brüderlicher  Beteiligung  von  Kapital  und 
Arbeit  erheben  sollte. 

235 


Dieses  anregend  anziehende  Leben,  welches  einer  Idee  ge- 
widmet war,  die  im  Grunde  die  Idee  unseres  Voli<es  ist  und  die 
vielleicht  die  Anwartschaft  hat,  einmal  der  leitende  Impuls  der 
zukünftigen  Welt  zu  werden,  spiegelt  sich  mit  besonderem  Reiz 
in  dem  schönen,  soeben  in  neuer  Auflage  erschienenen  Buch  ab, 
in  dem  Louise  Secretan  Leben  und  Schriften  ihres  Vaters  schildert^) 
und  uns  zu  Gemüte  führt,  wie  die  Geschlechter  der  Vergangen- 
heit mit  denen  der  Gegenwart  durch  das  Medium  eines  werbenden 
Denkers  zusammenhängen,  wo  von  Vater  auf  Sohn  übergegangene 
Überlieferungen  und  Krrungenschaften  der  angestammten  Heimat 
sich  mit  denen  des  Auslandes  verschmelzen,  um  eine  reich  aus- 
gestattete, edle  Persönlichkeit  hervorzubringen. 

Die  Gebiete,  in  welchen  sich  die  Philosophie  bewegt,  stehen 
nicht  im  Ruf,  angenehme  Zerstreuungen  aufzuweisen.  Wer  das 
Buch  von  L.  Secretan  in  die  Hand  nimmt,  wird  jedoch  von  dieser 
Meinung  abkommen,  weil  er  überall  darin  das  vorbildlich  an- 
regende Leben  eines  Denkers  entdeckt,  der,  wie  wir  alle,  gehofft, 
geirrt,  gelitten  und  gekämpft  hat,  und  der  uns  noch  überdies 
tröstende  Ausblicke  auf  eine  Menschheit  eröffnet,  die  wohl  besser 
organisiert  sein  dürfte  als  die  gegenwärtige. 

LAUSANNE  ALEXANDER  MAURER 

aan 

über  die  Berechtigung  des  Hässlichen  zwischen  der  Dichtung  und  der 

Malerei  zu  unterscheiden,  hat  gar  keinen  Sinn.   Die  Begierde  der  Salome 

nach  dem  Blute  des  Johannes  ist,  wenn  wir  sie  unkünstlerisch,  stofflich, 

als  Perversität  erfassen,  in    der   Dichtung  ebenso  ekelerregend,   wie  in  der 

Malerei.    Und  wird  die  Salome   nicht  von  der  Unkunst,  sondern  von  der 

Kunst  verarbeitet,  so  ist  sie  der  Malerei  ebenso  wertvoll,  wie  der  Dichtung. 

So  erfüllt  uns  ein  Hässliches   bald  mit  Ekel,   bald  mit  dichterischer  oder 

malerischer  Schönheit,  wie  auch  ein  Schönes  durch  die  Unkunst  zur  Wollust 

wird,  möge   es  in  der  Malerei  Adam  und  Eva  oder  in  der  Dichtung  Faust 

und  Gretchen  gehören. 

Vierte  ergänzte  Auflage  Von  Stoff  zu  Form 

Verlag  Huber,  Frauenfeld,  1913.  Essays  von  Oscar  Miller. 

D  D  D 


1)  L.  Secretan :    Charles  Secretan,    sa  vie  et  son  ceuvre    1  vol.  in  16. 
Quatrieme  edition.     Lausanne,  Payot,  1912. 

236 


SPRACHENFRAQE  IN  ÖSTERREICH 

(Schluss) 

So  sind  auch  hier  wie  überall  im  Osten  Europas  die  Deut- 
schen im  Mittelalter  als  die  Bringer  höherer  Kultur  angesehen 
worden  und  sie  waren  es  offenbar  auch ;  sie  waren  damals  die 
große  kolonisierende  Macht  in  Europa,  wie  einige  Jahrhunderte 
früher  ihre  normannischen  Stammesverwandten,  später  die  Hol- 
länder und  endlich  die  Engländer  auf  der  ganzen  Erde.  Böhmen 
hat  dann  im  vierzehnten  Jahrhundert  unter  dem  luxemburgischen 
Herrscher  Karl  IV.  eine  große,  bei  uns  noch  wenig  bekannte 
Kulturblüte  erlebt,  in  der  Prag  zur  herrlichen  Kaiserstadt  wurde. 
Die  Deutschen  in  Böhmen  haben  daran  gewiß  einen  großen, 
wenn  auch  nicht  ausschlaggebenden  Anteil;  denn  der  römische 
Kaiser  war  von  Nationalität  eher  Franzose  und  überhaupt  mehr 
international  gesinnt.  Von  einem  Streit  zwischen  den  Nationen  in 
Böhmen  hören  wir  denn  auch  damals  noch  nicht  viel;  an  der 
neugegründeten  Universität  Prag  gab  es  vier  sogenannte  Na- 
tionen, die  böhmische,  polnische,  bayrische  und  sächsische,  von 
denen  jede  gleich  viel  zu  sagen  hatte.  Erst  im  Anfang  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts,  als  Magister  Jan  Hus  an  der  Universität 
lehrte  und  predigte,  zeigt  sich  ein  Gegensatz  nationaler  Art.  Hus 
ist  ein  eifriger  Tscheche  und  will  der  böhmischen  Nation  allein 
drei  Stimmen,  den  übrigen  zusammen  nur  eine  gewähren.  Diese 
Umgestaltung  der  Universität  im  tschechisch-nationalen  Sinne 
gelang;  aber  die  Folge  davon  war,  dass  im  Jahre  1409  die  deut- 
schen Studenten,  etwa  5000  an  der  Zahl,  die  Universität  verließen 
und  nach  Leipzig  übersiedelten,  dessen  Hochschule  nun  auf  ein- 
mal anstatt  Prag  zum  Mittelpunkt  deutscher  Bildung  wurde.  Hus 
aber  ernannte  der  König  zum  Rektor  in  Prag  und  seine  reforma- 
torischen Gedanken  fanden  vor  allem  beim  tschechischen  Volk 
und  Adel  Anklang,  während  sich  die  Deutschen  in  Böhmen  eher 
zu  der  alten  Richtung  hielten.  Die  husitische  Bewegung,  welche 
dann  im  Anschluss  an  Husens  Verbrennung  in  Böhmen  entstand 
und  einen  furchtbaren  Bürger-  und  Raubkrieg  entflammte,  ist 
deshalb  nicht  nur  aus  religiösen,  sondern  auch  aus  nationalen 
Antrieben  zu  verstehen.     Die  Züge  der  Husiten  wandten  sich  mit 

237 


Vorliebe  gegen  die  Deutschen  in  und  außerhalb  Böhmens.  Als 
dann  das  Basler  Konzil  1433  den  Husiten  Recht  gab,  insofern 
als  ihnen  (in  den  Prager  Kompaktaten)  der  Laienkelch  und  die 
freie  Predigt  des  Bibelwortes  gestattet  wurde,  so  bedeutete  dieser 
Sieg  der  Husiten  in  nationaler  Beleuchtung  die  Oberherrschaft 
der  Tschechen,  besonders  des  tschechischen  Adels  über  das 
deutsche,  katholische  Element  im  Land.  Die  Tschechen  waren 
also  dadurch  emporgekommen,  dass  sie  den  reformatorischen 
Gedanken  100  Jahre  vor  Luther  ergriffen  und  sich  zu  eigen  ge- 
macht hatten. 

So  blieben  die  Verhältnisse  im  Wesentlichen  fast  200  Jahre 
lang.  Die  Tschechen  waren,  nachdem  auch  die  lutherische  und 
die  kalvinische  Lehre  eingedrungen  war,  ein  überwiegend  pro- 
testantisches Volk  geworden  und  wachten,  besonders  seit  sie  1609 
den  Majestätsbrief  vom  Kaiser  erzwungen  hatten,  eifersüchtig  über 
ihren  religiösen  Freiheiten,  die  zugleich  ihre  nationalen  waren. 
Denn  der  katholische,  von  Jesuiten  beratene  Kaiser  begünstigte 
im  allgemeinen  das  deutsche  Element,  und  so  stellt  sich  der  erste 
Teil  des  dreißigjährigen  Krieges,  der  sogenannte  böhmische 
Aufstand,  vom  nationalen  Standpunkt  aus  wieder  als  ein  Kampf 
zwischen  den  kaiserlich  gesinnten  Deutschen,  die  zu  den  deut- 
schen Habsburgern  halten,  und  den  böhmisch-national  gesinnten 
Tschechen  dar,  die  die  Selbständigkeit  und  Wahlfreiheit  ihres 
Königreiches  behaupten  wollen,  indem  sie  sich  von  Habsburg 
abwenden  und  sich  mit  der  internationalen  protestantischen  Partei 
verbinden. 

Aber  der  Kampf  fiel  diesmal  völlig  zu  Ungunsten  der  tsche- 
chischen Nationalität  aus:  nach  der  Schlacht  am  weißen  Berge  (1620) 
war  es  mit  der  Selbständigkeit  und  Wahlfreiheit  des  Königreichs 
Böhmen  aus;  die  tschechischen  Adligen,  die  am  Aufstand  teil- 
genommen hatten,  wurden  enthauptet  oder  verbannt  und  ihrer 
Güter  beraubt  und  die  deutschen  Habsburger  nahmen  über  Böh- 
men als  über  ein  Erbland  ohne  Vorrechte  Besitz  und  sind  bis 
heute  Herren  darin  geblieben.  Das  bedeutete  nun  einen  Sieg  für  die 
Deutschen  in  Böhmen,  die  ja  schon  vorher  eher  zu  Habsburg 
gehalten  hatten.  Die  herrschende  Schicht  in  Böhmen,  die  sich  an 
die  Wiener  Regierung  anlehnte,  war  nun  bis  ins  neunzehnte 
Jahrhundert  unbestritten  deutsch  und    es  scheint  auch  nicht  zu 

238 


eigentlichen  nationalen  Kämpfen  gekommen  zu  sein.  Die  Tsche- 
chen gewöhnten  sich  (wie  die  Slawen  an  anderen  Orten)  daran,  von 
den  Deutschen  abhängig  zu  sein  und  das  Verhältnis  zwischen 
beiden  Nationen  muss  vielfach  sogar  ein  freundliches  gewesen 
sein:  die  Deutschen  dachten  damals  nicht  daran,  die  Sprache  des 
ungebildeten  Volkes  auszurotten,  sondern  schenkten  ihr  vielfach 
ein  freundliches  Interesse,  indem  sie  sich  forschend  damit  be- 
schäftigten. 

Als  nun  die  nationale  Bewegung,  durch  die  deutsche  Ro- 
mantik ins  Leben  gerufen,  erwachte,  wurden  die  Verhältnisse  all- 
mählich anders;  die  Tschechen  fingen  an,  sich  als  die  Unter- 
drückten zu  fühlen  und  strebten  nach  völliger  Selbständigkeit,  im 
Frühling  1848,  als  ein  belebender  Sturmwind  durch  das  alternde 
Europa  fegte,  brechen  diese  neuen  Gedanken  durch,  und  in  Prag 
nimmt  die  revolutionäre  Bewegung  ein  ausgesprochen  tschechisch- 
nationales Gepräge  an.  Wie  in  Frankreich,  Deutschland  und 
Italien  wird  in  Prag  auch  für  die  Tschechen  eine  Trikolore  er- 
funden und  die  Tschechen  lehnen  es  ab,  mit  den  Deutschen 
zusammen  zu  tagen.  Zwar  findet  nach  einiger  Zeit  wieder  eine 
tschechisch-deutsche  Verbrüderung  statt,  dem  internationalen  Zuge 
der  Zeit  entsprechend,  der  zwar  nationale  Ziele  hat,  aber  doch  das 
Gemeinsame,  das  die  nach  Freiheit  strebenden  Völker  verbindet, 
wahrnehmen  will.  Aber  schon  damals  kamen  auf  einer  Insel  in 
der  Moldau  die  Vertreter  verschiedener  slawischer  Nationen  zu 
einem  sogenannten  panslawischen  Kongress  zusammen  (unter 
dem  Vorsitz  des  schon  mehr  erwähnten  Historikers  Palacky). 

Was  wollten  diese  Slawen?  Warum  arbeiteten  sie  nicht 
brüderlich  zusammen  mit  den  ebenfalls  im  Aufstand  begriffenen 
Deutschen,  um  ein  freiheitlich  regiertes  Österreich  ins  Leben  zu 
rufen?  Das  Sonderziel  der  Tschechen,  das  hier  zum  erstenmal 
auftaucht,  ist  das  sogenannte  böhmische  Staatsrecht,  das  noch 
heute  in  den  Köpfen  vieler  Tschechen  als  Ideal  ihres  Strebens 
steckt.  Böhmen,  Mähren  und  österreichisch-Schlesien,  also  die 
drei  Länder,  in  denen  die  Tschechen  zu  Hause  sind,  sollen  ein 
eigenes  slawisches  Königreich  bilden,  das  gleich  wie  Ungarn  nur 
in  Personalunion  mit  den  übrigen  Erblanden  von  dem  Hause 
Habsburg  regiert  wird.  Der  österreichische  Kaiser  soll  sich  erst 
mit  der  alten  Wenzelskrone,  die  im  Schlosse  Karlstein  in  Böhmen 

239 


schonseit  Jahrhunderten  ohne  Gebrauch  verwahrt  wird,  zum  König 
dieses  groß-tschechischen  Reiches  i<rönen  lassen ;  erst  dann  finden 
sich  die  Tschechen  mit  der  habsburgischen  Herrschaft  zurecht. 
Allein  dazu  ist  es  bis  zum  heutigen  Tage  nicht  gekommen;  die 
Wenzelskrone  ruht  noch  immer  im  Schlosse  zu  Karlstein,  während 
Franz  Josef  schon  vor  mehr  als  40  Jahren  die  ungarische 
Stefanskrone  in  feierlicher  Zeremonie  sich  hat  aufsetzen  müssen. 
Ais  nämlich  die  österreichische  Regierung  im  Laufe  der  Jahre 
1848 — 49  über  die  Revolution  in  Prag,  Wien  und  Ungarn  wieder 
Herr  geworden  war,  wurde  mit  allen  Sondergelüsten  energisch 
aufgeräumt  und  Österreich-Ungarn  sollte  als  einheitlicher  Staat 
wieder  absolut  regiert  werden  (Aera  Schwarzenberg).  Es  leuchtet 
ein,  dass  dieses  einheitliche  Regiment  von  Wien  aus  den  Deut- 
schen in  Böhmen  eher  gefallen  musste  als  die  Verwirklichung 
jenes  böhmischen  Staatsrechts;  sie  hatten  im  Qesamtverbande 
Österreich  und  in  Anlehnung  an  das  deutsche  Fürstenhaus  mehr 
Aussicht  auf  Geltung  und  Macht,  als  wenn  sie  in  einem  slawischen 
Königreich  die  Minderheit  bildeten.  So  sind  die  Deutschen  in  den 
nun  folgenden  Kämpfen  Zentralisten,  österreichisch,  nicht  böh- 
misch gesinnt,  die  Tschechen  dagegen  geschworne  Föderalisten. 
Man  muss  es  den  Tschechen  lassen:  sie  haben  sich  in  diesem 
Kampfe  um  ihr  böhmisches  Staatsrecht  charaktervoll  benommen : 
durch  Jahrzehnte  hindurch,  und  das  will  in  der  Politik,  wo  die 
Kompromisse  eine  so  große  Bedeutung  haben,  viel  sagen,  haben 
sie  sich  geweigert,  sowohl  in  den  böhmischen  Landtag,  als  auch 
besonders  in  das  österreichische  Gesamtparlament,  den  sogenannten 
Reichsrat,  ihre  Vertreter  zu  senden,  weil  sie  an  ihrer  staatsrecht- 
lichen Auffassung  festhielten.  Die  Folge  davon  war,  dass  in  dem 
Österreich  nach  1848  die  Deutschen  lange  die  Oberhand  behielten 
und  selbst  im  böhmischen  Landtag  die  Mehrheit  hatten.  Die  Tsche- 
chen verfolgten  diese  Politik  des  passiven  Widerstandes  offenbar  nach 
ungarischem  Vorbild,  und  die  Gegenwart  zeigt,  wie  viel  die  Ungarn 
durch  ihren  hartnäckigen  Eifer  bereits  erreicht  haben.  Die  Tsche- 
chen sind  nicht  so  glücklich  gewesen;  zwar  einmal  waren  sie 
nahe  daran,  ihr  Ziel  zu  erreichen.  1871,  unter  dem  Eindruck  der 
deutschen  Siege  im  französischen  Krieg,  als  Österreich  fürchtete, 
dass  ihm  die  Deutschen  zu  mächtig  würden,  „dass  durch  die  An- 
ziehungskraft des  deutschen  Nationalstaats  die  deutschen  Nägel 

240 


aus  dem  habsburgischen  Staatsschiff  gezogen  werden  könnten"  (Egel- 
haaf)  suchte  der  Kaiser  eine  Verständigung  mit  den  Slawen,  um 
sich  auf  sie  im  Parlament  stützen  zu  können.  Die  im  Prager  Landtag 
ausgearbeiteten  Fundamentalartikel,  nach  denen  die  Länder  der 
Wenzelskrone  innerhalb  der  habsburgischen  Monarchie  innere  Selb- 
ständigkeit erhalten  sollten,  wurden  vom  Kaiser  anerkannt  und  er  ver- 
sprach, sie  mit  seinem  Krönungseid  zu  bekräftigen.  Aber  nun 
wehrten  sich  die  verantwortlichen  Minister  Beust  und  Andrassy 
so  lebhaft,  dass  der  Kaiser  umgestimmt  wurde,  und  das  schöne 
tschechische  Ideal  verschwand  bis  heute  in  den  Wolken.  So  blie- 
ben die  Deutschen  noch  weiter  am  Ruder,  während  die  Tschechen 
im  Landtag  und  im  Reichsrat  noch  einige  Jahre  ihre  ablehnende 
Politik  fortsetzten;  unterdessen  aber  begann  im  Innern  des 
Landes  durch  Vereine  und  Presse  eine  unermüdliche  Werbetätig- 
keit für  das  Tschechentum,  und  die  Deutschen  wurden  in  Böh- 
men allmählich  aus  ihrer  Machtstellung  verdrängt.  Das  Blatt 
wandte  sich  ganz  zu  ihren  Ungunsten,  als  1878  Österreich  die 
slawischen  Länder  Bosnien  und  Herzegowina  besetzte.  Da  die 
Deutschen  diesen  Zuwachs  an  slawischer  Bevölkerung  für  Öster- 
reich nicht  für  gut  erachteten,  stellten  sie  sich  der  Regierung  ent- 
gegen, und  diese  musste  sich  nun  doch,  wenn  sie  ihren  Kurs  ver- 
folgen wollte,  auf  die  Slawen  stützen.  So  verloren  auch  im  Reich 
die  Deutschen  ihre  Führerstellung.  1879  trat  Taaffe  an  die  Spitze 
eines  Kabinetts,  das  die  „Versöhnung  der  Nationalitäten",  ihre 
Gleichberechtigung  in  Österreich  verkündigte.  Diese  bestand  von 
Rechtswegen  schon  lange,  sie  war  einer  der  von  der  Regierung 
angenommenen  Grundsätze  von  1848  und  wurde  in  das  damals 
(1879)  und  noch  heute  in  Geltung  stehende  österreichische  Staats- 
grundgesetz vom  21.  Dezember  1867  aufgenommen,  dessen  §19 
wie  folgt  lautet: 

„Alle  Volksstämme  des  Staates  sind  gleichberechtigt  und 
jeder  Volksstamm  hat  ein  unverletzliches  Recht  auf  Wahrung 
und  Pflege  seiner  Nationalität  und  Sprache. 

„Die  Gleichberechtigung  aller  landesüblichen  Sprachen  in 
Schule,  Amt  und  öffentlichem  Leben  wird  vom  Staate  anerkannt. 

„In  den  Ländern,  in  welchen  mehrere  Volksstämme  wohnen, 
sollen  die  öffentlichen  Unterrichtsanstalten  derart  eingerichtet 
sein,  dass  ohne  Anwendung  eines  Zwanges  zur  Erlernung  einer 

241 


zweiten  Landessprache  jeder  dieser  Volksstämme  die  erforderlichen 
Mittel  zur  Ausbildung  in  seiner  Sprache  erhält." 

Nun  traten  die  Tschechen  in  den  Reichsrat  ein;  hier  wie  im 
böhmischen  Landtag  gaben  sie  ihre  „Abstinenz"  auf,  da  sich  ihnen 
große  Aussichten  eröffneten,  Im  Landtag  hatten  sie  bald  die 
Herrschaft  an  sich  gezogen,  und  das  erste  Zeichen  ihres  Erfolgs 
war  1882  die  Teilung  der  alten  deutschen  Prager  Universität  in 
eine  deutsche  und  eine  tschechische.  Von  1880  an  bis  zur  Ge- 
genwart, also  über  dreißig  Jahre,  währt  nun  der  eigentliche  Kampf 
der  Deutschen  gegen  die  unaufhaltsam  vordringenden  Tschechen 
in  Böhmen.  Er  ist  je  länger  je  mehr  zu  einem  erbitterten  Ver- 
teidigungskampf der  Deutschen  geworden;  denn  sobald  sich  die 
Tschechen  einmal  in  Vorteil  wussten,  gingen  sie  rücksichtslos 
mit  dem  Rechte  des  Stärkeren  vor;  auch  bei  ihnen  ist  von  ge- 
rechter Würdigung  der  Ansprüche  einer  starken  Minderheit  nichts 
zu  spüren;  sie  erinnern  an  die  ins  römische  Reich  einstürmenden 
Germanen  vor  und  während  der  Völkerwanderung,  und  man 
kann  sich  fragen,  ob  in  diesem  unaufhaltsamen  Vordrängen  der 
slawischen  Rasse  auf  Kosten  der  germanischen  nicht  eine  Art 
geschichtlicher  Notwendigkeit  zu  erkennen  ist.  Vielleicht  hat  der 
Germane  im  Osten  Europas  seine  Mission  als  Kulturbringer 
erfüllt,  wie  seinerzeit  der  Römer  gegenüber  den  Germanen,  und 
es  kommt  eine  Zeit  heran,  in  der  die  Slawen  in  den  Vordergrund 
der  europäischen  Geschichte  treten  werden.  Die  jugendliche  Kraft, 
die  sich  in  dem  Vordringen  der  Tschechen  kundgibt  und  die  auch 
aus  der  für  die  moderne  Geistesentwicklung  so  wichtig  ge- 
wordenen russischen  Literatur  (Tolstoi,  Turgenjew,  Dostojewsky, 
Gorki)  spricht,  scheint  dieser  Vermutung  nicht  Unrecht  zu  geben. 
Vielleicht  gerade  deshalb,  weil  die  Deutschen  in  Böhmen  diese 
innere  Kraft  und  Überlegenheit  der  Slawen  nicht  leugnen  können, 
wehren  sie  sich  so  erbittert  gegen  ihre  Verdränger.  Ob  sie  es 
aber  mit  richtigen  Mitteln  tun,  das  ist  eine  andere  Frage. 

Der  Kampf  dreht  sich  in  den  drei  Jahrzehnten  bis  heute  haupt- 
sächlich um  die  amtliche  Verkehrssprache,  um  die  Abgrenzung 
einsprachiger  Gebiete  für  den  amtlichen  Verkehr,  um  die  Errichtung 
von  Schulen  für  die  Minderheit  und  um  die  Bewegungsfreiheit 
der  Deutschen  in  Prag,  das  überwiegend  von  Tschechen  bewohnt 
ist.  Sehen  wir  uns  diese  Streitpunkte  etwas  näher  an. 

242 


1.  Die  amtliche  Verkehrssprache  und  die  Beamtenfrage. 
Wie  oben  erwähnt,  sind  von  540  Landesbeamten  in  Böhmen  nur 
25  deutsche.  Wie  ist  das  zu  eri^iären?  Es  werden  offenbar  nur 
solche  Beamte  angestellt,  die  sich  über  die  Kenntnis  beider  Landes- 
sprachen ausweisen  können ;  denn  es  wird  verlangt,  dass  zum 
Beispiel  ein  Gerichtsbeamter  die  Verhandlungen  in  der  Sprache  führt, 
in  der  die  Klage  eingereicht  wird.  Das  kann  auch  in  einem  vorwiegend 
deutschen  Gebiet  die  tschechische  Sprache  sein,  da  überall  Tsche- 
chen wohnhaft  sind.  Während  nun,  wie  wir  oben  gezeigt  haben, 
die  Slawen  im  allgemeinen  sich  das  Deutsche  ohne  Schwierigkeit 
aneignen,  halten  es  die  Deutschen  fast  durchweg  für  ihrer  un- 
würdig, die  Sprache  eines  „kulturell  minderwertigen"  Volkes  zu 
lernen  oder  gar  zu  gebrauchen.  Sie  sagen,  man  könne  ihnen  nicht 
zumuten,  ein  Idiom,  das  nur  in  3  österreichischen  Kronländern 
gesprochen  werde,  zur  Amtssprache  zu  erheben.  Sie  anerkennen 
also  die  Gleichberechtigung  der  zwei  Sprachen  nicht  einmal  in 
Böhmen,  wo  die  Tschechen  bedeutend  in  der  Mehrheit  sind. 
Dieser  Standpunkt  erscheint  mir  durchaus  unhaltbar  und  un- 
praktisch, und  wenn  die  Deutschen  sich  immer  wieder  über  Zu- 
rücksetzung bei  Ernennung  von  Landesbeamten  beklagen,  so  ist 
offenbar  dieser  einseitigen  Auffassung  die  Schuld  beizumessen. 

2.  Die  Abgrenzung  von  einsprachigen  Gebieten  ist  gegen- 
wärtig die  Hauptforderung  der  Deutschen.  Böhmen  soll  in  zwei 
Teile  mit  gesonderter  Verwaltung  getrennt  werden.  Innerhalb 
dieser  Gebiete  soll  nur  eine  Sprache  gelten  und  die  anders- 
sprechende Minderheit  müsste  sich  wie  in  Ungarn  bedingungslos 
der  Mehrheit  fügen,  also  ihre  Sprache  und  Nationalität  aufgeben. 
Diese  Forderung  scheint  ebenso  schön  wie  sie  radikal  ist,  aber 
sie  ist  wohl  kaum  in  dieser  Einfachheit  durchzuführen;  denn  da 
der  Kampf  der  Nationalitäten  einmal  so  weit  gediehen  ist,  so 
kann  man  kaum  erwarten,  dass  sich  die  derzeit  so  großen  Minder- 
heiten in  den  zwei  zu  bildenden  Landesteilen  ihrer  bisherigen 
Rechte  begeben  würden.  Wie  sollte  zum  Beispiel  Prag  behandelt 
werden?  Es  hat  etwa  420  000  Einwohner,  davon  vielleicht  noch 
30000  Deutsche,  meist  Gebildete,  welche  wegen  der  hohen 
Bildungsanstalten  (Universität,  Kunstakademie,  Theater,  Gymnasien) 
oder  wegen  des  Geschäftsbetriebs  oder  wegen  der  Regierung  an 
Prag  sozusagen  gebunden  sind.  Soll  man  sie  verjagen  oder  wird 

243 


itian  sie  zu  Tschechen  mächen  können?  Doch  ist  es  möglich, 
dass  durch  eine  beschränkte  Abgrenzung  der  überwiegend  ein- 
sprachigen Gebiete  etwas  Ruhe  geschaffen  werden  kann;  in  den 
gemischten  müsste  dafür  unbedingte  Zweisprachigkeit  gelten. 

3.  Die  Errichtung  von  Schulen  für  die  sprachliche  Minder- 
heit der  Bevölkerung  wird  jedesmal  zu  einem  Stein  des  Anstoßes. 
Nach  der  Verfassung  von  1867  hat  jede  Nation  ausdrücklich  das 
Recht,  die  Schulbildung  in  ihrer  eigenen  Sprache  zu  erhalten. 
Wollen  aber  die  Tschechen  in  einer  bisher  deutsch  verwalteten 
Stadt,  wohin  sie  durch  die  Industrie  zu  Tausenden  gezogen  wor- 
den sind,  eine  eigene  Schule  errichten,  so  müssen  sie  sie  jahrelang 
durch  nationale  Sammlungen  als  Privatschule  erhalten,  bevor 
die  betreffende  Gemeinde  sie  übernimmt.  Während  bei  uns  die 
deutsche  Bevölkerung  und  die  Lehrerschaft  die  Errichtung  be- 
sonderer Schulklassen  für  die  zugewanderten  Italienerkinder 
geradezu  als  eine  Erleichterung  empfindet  und  sie  herbeiwünscht, 
sehen  es  die  deutsch-böhmischen  Lehrer  als  nationale  Pflicht  an, 
die  Kinder  der  Tschechen  in  der  deutschen  Schule  weiter  zu 
unterrichten,  auch  wenn  jene  in  der  Mehrzahl  sind  und  dann 
einen  gedeihlichen  Unterricht  in  der  ihnen  fremden  Sprache  zum 
mindesten  sehr  fraglich  erscheinen  lassen.  Sie  glauben  nämlich 
diese  Kinder  dauernd  dem  Deutschtum  zu  gewinnen,  sie  zu  ger- 
manisieren. Umgekehrt  erhält  der  deutsche  Schulverein,  ein  na- 
tionaler Bund,  dem  jeder  Deutsch-Gesinnte  sein  Scherflein  ent- 
richtet, in  den  Gebieten,  wo  die  deutsche  Bevölkerung  stark  in 
der  Minderheit  ist,  seit  Jahren  mit  großen  Opfern  deutsche  Pri- 
vatschulen, etwa  so,  wie  wir  Reformierte  im  katholischen  Frei- 
burg oder  Wallis  reformierte  Schulen  für  unsere  Glaubens- 
genossen unterhalten. 

4.  Die  Bewegungsfreiheit  der  Deutschen  in  Prag.  Hiervon 
war  bereits  mehrfach  die  Rede.  Es  ist  an  eine  Verlegung  der 
Universität  und  der  technischen  Hochschule  in  deutsche  Städte 
des  Nordens  gedacht  worden,  wenn  es  dazu  kommen  sollte,  dass 
die  Deutschen  Prag  als  verlorenen  Posten  endgültig  aufgeben 
müssten.  Einstweilen  halten  sie  sich  mit  größter  Anspannung  ihrer 
Kräfte,  bei  beständiger  Befehdung  durch  den  tschechischen  Pöbel 
und  nur  ungenügend  geschützt  von  den  Behörden,  noch  in  der 
Hauptstadt,  und  die  Studenten  suchen   immer  wieder  ihren  Aus-- 

244 


gang  in  farbigen  Mützen  zu  erzwingen.  Wenn  es  aber  weiter  zu 
solchen  dauernden  Unruhen  wie  im  Herbst  1908  an  sieben  Sonn- 
tagen hintereinander  i^ommen  sollte,  so  scheint  der  Augenblick 
gekommen,  wo  die  Deutschen  am  besten  den  Staub  von  der 
slawischen  Skandalstadt  abschütteln  und  ihr  Heim  anderswQ 
suchen. 

Überblicken  wir  als  Unbeteiligte  die  ganze  Frage,  an  deren 
Lösung  sich  die  beiden  Volksstämme  in  Böhmen  seit  Jahrzehnten 
abquälen,  so  bietet  sich  nur  eine  radikale  Lösung,  die  Aussicht 
auf  endgültige  Beilegung  des  Streites  gibt:  die  im  ganzen  Land 
durchgeführte  Zweisprachigkeit.  Die  Sprachenverordnungen,  die 
zu  verschiedenen  Zeiten  und  jetzt  wieder  1909  von  der  Regie- 
rung aufgestellt  worden  sind,  gehen  darauf  hinaus,  jedem  das 
Seine  zu  geben,  möglichst  sein  Gebiet  zu  schonen;  sie  wagen 
aber  nicht,  zur  Gleichstellung  der  Sprachen  in  Böhmen  zu  schrei- 
ten. Einer  hat  es  gewagt,  aber  es  ist  ihm  schlecht  bekommen: 
Badeni,  der  österreichische  Ministerpräsident  von  1897,  ein  ener- 
gischer Politiker.  Als  aber  seine  Verordnungen  bekannt  wurden, 
entfesselten  sie  einen  Sturm  der  Empörung  unter  den  Deutschen 
hin  und  her,  besonders  in  den  Städten,  und  in  Wien  glaubten  die  der 
alldeutschen  Partei  Abgeordneten  ihre  Gesinnung  am  besten  dadurch 
zu  bezeugen,  dass  sie  im  Parlament  eine  jener  großen  Lärmszene 
veranstalteten,  die  bald  von  ihnen,  bald  von  den  Tschechen  her- 
rührend, nun  schon  nicht  mehr  zu  den  Seltenheiten  im  parla- 
mentarischen Leben  Österreichs  gehören:  Pultdeckel  werden  laut 
zugeklappt,  der  Präsident  überschrieen  und  jegliche  Verhandlung 
unmöglich  gemacht  durch  die  Störung  aller  Ordnung.  Der  Prä- 
sident griff  zuletzt,  als  nichts  mehr  half,  zu  der  für  das  Parlament 
allerdings  gefährlichen  und  erniedrigenden,  aber  durchaus  begreif- 
lichen Maßregel,  die  Ruhestörer  durch  eine  Abteilung  Polizisten 
aus  dem  Saal  entfernen  zu  lassen.  In  Wien  wurde  nun  aber  die 
Haltung  der  Bevölkerung  so  gefährlich,  dass  der  Kaiser  seinen 
Minister  fallen  ließ:  der  Chauvinismus  hatte  gesiegt,  mit  andern 
Worten:  die  Politik  der  Straße. 

Viele  Deutsche  in  Böhmen  haben  jede  Anhänglichkeit,  jeden 
inneren  Zusammenhang  mit  dem  Staate  Österreich  verloren.  Wer 
von  vaterländischer,  patriotischer  Gesinnung  spricht,  kommt  in 
den  Verdacht,   ein    Kriecher   und  Streber  zu  sein;  nur  „deutsche 

245 


Gesinnung"  gilt  als  mannhaft.  Dem  Reichskanzler  Bismarck,  der  die 
Österreicher  anno  1866  gedemütigt  hat,  wurde  vor  einigen  Jahren 
in  Böhmen  ein  Denkmal  errichtet.  Auf  den  Vorwurf,  dass  die  All- 
deutschen nach  Deutschland  hinüberschielten,  ertönte  die  Antwort 
aus  deren  Lager:  „Wir  schielen  nicht,  wir  schauen  hinüber  in  das 
Reich",  und  einer  ihrer  Abgeordneten  schloss  im  Parlament  seine 
Rede  mit  einem  Hoch  auf  die  —  Hohenzollern!  Ob  aber  von 
diesen  den  Deutschböhmen  Hilfe  kommen  wird?  —  Die  ge- 
mäßigteren Nationalen  arbeiten  denn  auch  noch  nicht  (direkt) 
auf  einen  Anschluss  ans  Reich  hin,  sondern  suchen  innerhalb 
Österreichs  die  Gewähr  ihrer  Rechte.  Ich  zweifle  aber,  ob  sie  sie 
je  auf  anderem  Wege  als  auf  dem  völliger  Gleichberechtigung 
finden  werden.  Vielleicht  wird  der  Tod  des  alten  Kaisers  auch 
für  die  Entwicklung  der  nationalen  Frage  in  Österreich  große 
Überraschungen  bringen. 

Das  beste,  was  dieser  erbitterte  Kampf  bis  jetzt  gezeitigt  hat, 
ist  die  warme  Liebe  der  Deutschen  zu  ihrem  Volkstum,  das  sie 
gefährdet  sehen.  Alle  ideale  Gesinnung  betätigen  sie  in  dem  an- 
gestammten Volke.  Mit  großem  Nachdruck  pflegen  sie  besonders 
ihre  Sprache,  suchen  sie  von  fremden  Bestandteilen  zu  reinigen 
und  haben  in  diesem  Streben  schon  viel  erreicht.  Darin  haben 
auch  wir  deutsche  Schweizer  von  ihnen  zu  lernen.  Unsere  Sprache 
ist  nicht  durch  den  feindlichen  Ansturm  einer  fremden,  unauf- 
haltsam vordringenden  Rasse  bedroht,  aber  ein  bisschen  mehr 
Gefühl  für  [die  Schönheit  einer  reinen  Sprache  gegenüber  allen 
den  französischen  und  englischen  Brocken,  die  sich  besonders  in 
unser  Hotel-  und  Sportdeutsch  eingeschlichen  haben,  würde  uns 
wirklich  nichts  schaden.  Auch  wir  lieben  unsere  Sprache  und 
wollen  sie,  soviel  an  uns  ist,  nicht  herunterkommen  lassen,  sie 
vielmehr  ^durch  eine  sorgfältige  und  liebevolle  Pflege  zu  Ehren 
bringen. 

FRAUENFELD  TH.  GREYERZ 


246 


LE  THfiATRE  ET  LES  LETTRES 

LA   TRILOGIE    DE  M.  MATHIAS  MORHARDT 

M.  Mathias  Morhardt,  qui  est  d'education  et  d'origine  genevoises,  a 
fait  representer  les  15,  16  et  17  avril,  ä  Geneve,  une  serie  de  trois  pieces: 
A  la  Gloire  d'aimer,  La  Princesse  Helene,  La  Mort  du  Roi. 

Cet  ^venement  dramatique  etait  prepare  depuis  longtemps.  On  avait 
constitue  un  comite  d'honneur  qui  reunissait  une  quantit^  de  noms  con- 
nus  des  Arts,  des  Lettres  et  de  la  Politique.  Le  groupe  qui  avait  assume 
de  mener  ä  bien  cette  entreprise  difficile,  s'appellait  le  „Comite  genevois 
de  decentralisation  theätrale".  Ce  titre  est  malheureux.  La  decentralisation 
theätrale  n'est  point  une  idee  de  ces  derniers  mois.  Je  ne  vois  pas  tres 
bien  ce  que  Ton  veut  decentraliser.  Une  teile  expression  aurait  peut- 
etre  un  sens  de  Province  —  je  parle  de  Province  fran^aise.  En  ce  qui  con- 
cerne  Geneve,  les  choses  sont  un  peu  differentes.  II  s'agit  simplement 
d'aider  ä  la  realisation  scenique  d'oeuvres  dramatiques  inedites  ou  non, 
de  valeur  indiscutable,  dues  ä  des  ecrivainsj  de  naissance  ou  d'education 
romandes.  On  doit  meme,  si  j'ai  bien  compris,  ne  pas  attacher  plus  d'im- 
portance  qu'il  ne  sied  ä  cette  question  de  nationalite,  puisque  j'ai  entendu 
parier  du  Parsifal  de  Wagner. 

Bref,  pour  la  premiere  annee,  le  comite  de  decentralisation  a  fait 
monter  trois  pieces  de  M.  Morhardt,  une  par  les  soins  de  la  Societe  des 
Amis  de  l'lnstruction :  A  la  Gloire  d'aimer  \  et  deux  sur  la  scene  du  Grand 
Theätre  de  Geneve,  par  les  soins  d'un  metteur  en  scene  de  grand  talent, 
M.  Chabance,  et  d'une  troupe  de  professionnels  recrutes  pour  la  cir- 
constance. 

M.  Morhardt  est  un  travailleur  modeste.  Aucune  des  nombreuses 
pieces  qu'il  a  äcrites  n'avaient  encore  ete  representees.  Pour  la  premiere 
fois  ses  creations  vivaient  aux  feux  de  la  rampe.  Le  retentissement  qu'ont 
souleve  ces  representations  a  ^te  tres  grand.  Les  drames  de  M.  Morhardt 
sont  des  oeuvres  originales,  d'une  technique  hardie  et  particuliere ;  les  plus 
deconcertantes  ne  sont  point  cependant  des  oeuvres  mediocres.  A  la  Gloire 
d'aimer,  representee  par  des  amateurs  sur  une  scene  exigue  a  ete  tres 
discutee;  lelendemain  La  Princesse  Helene  a  etonne  et  emu,  et  le  troisieme 
soir  La  Mort  du  Roi  fut  un  des  plus  beaux  triomphes  d'enthousiasme  aux- 
quels  j'aie  jamais  assiste.  Cette  derniere  piece  est  vraiment  une  tres  belle 
ceuvre,  logiquement  construite,  noblement  congue,  et  ecrite  dans  un  style 
d'une  veritable  grandeur.  Ces  trois  pieces  ont  ete  composees  ä  des 
epoques  differentes,  et  cela  explique  ce  qu'on  a  pu  reprocher  de  gauche- 
rie,  ä  la  Gloire  d'aimer  ou  meme  encore  ä  la  Princesse  Helene. 

M  Morhardt  a  pris  dans  l'histoire  les  sujets  de  ses  pieces.  A  la  Gloire 
d'aimer  est  une  transposition  du  drame  de  Meyerling,  La  Princesse  Helene 
est  inspiree  par  la  retentissante  aventure  d'une  princesse  allemande  que 
l'on  reconnaitra  sans  peine,  La  Mort  du  Roi,  enfin,  c'est,  embellie,  transfi- 
guree,  la  folie  du  roi  Louis  II  de  Baviere.  Ces  trois  pieces  cons- 
tituent  donc  la  trilogie  allemande,  si  l'on  veut,  tandis  que  VEsprit  nouveau, 
La  loi  du  Martyre  et  La  circulation  des  ide'es,  qui  sont  encore  inedites, 
constitueraient  une  trilogie  frangaise.  Mais  -  et  ceci  apparente  M.  Mathias 
Morhardt  aux  plus  grands  dramaturges  —  s'il  prend  ses  sujets  dans  l'his- 
toire,  il   les  depouille  de  toutes  leurs  paiticularites  du  moment  pour  les 

247 


hausser  au  rang  de  sujets  universels,  universeilement  humains.  Les  criti- 
ques  I'ont  dit  et  repete  avant  et  apres  les  repr^sentations:  le  theätre  de 
Morhardt  est  du  theätre  d'idees,  ce  qui  fait  que  leur  auteur  est  plus  un  ideo- 
logue  qu'un  animateur,  un  magnifique  orateur  lyrique  qui  s'exprime  par  la 
bouche  des  personnages  de  ses  pieces  plutöt  qu'un  createur  de  types  vi- 
vant  de  notre  vie,  souffrant  comme  nous,  et  aux  souffrances  desquels  nous 
participons  directement. 


A  la  Gloire  d'aimer  comporte  trois  actes,  dont  le  premier  n'est  qu'un 
hors  d'oeuvre.  li  represente  une  auberge  de  banlieue,  oü  les  amis  du  prince 
Robert  —  Valene,  le  professeur  de  Philosophie,  Halese,  Pelade  et  le  capi- 
taine  —  se  livrent  ä  des  faceties  de  rapins  en  attendant  le  prince  heritier 
lui-meme  qui  doit  venir  partager  leurs  plaisirs.  Tout  cela  est  un  peu  long 
et  n'est  guere  utile  ä  l'action  de  la  piece.  Enfin  le  prince  arrive.  II  annonce 
que,  pour  aimer  librement,  il  a  renonce  ä  ses  droits  au  tröne  de  l'Empire. 
II  ne  veut  vivre  que  dans  la  gloire  d'aimer.  Nous  voici  donc  maintenant  au 
coeur  du  sujet.  Un  prince,  dont  I'heritage  est  un  des  plus  formidables  em- 
pires  du  monde,  se  libere  et  devient  un  homme  ordinaire  pour  pouvoir 
librement  aimer.  Le  second  acte,  qui  semble  un  peu  brusque,  nous  montre 
la  famille  de  Romana,  epioree  par  la  faute  de  Madeleine,  leur  fille,  qui  s'est 
donnee  au  prince  Robert.  Le  scandale  a  eclate,  et  pour  comble,  le  prince 
rend  le  deshonneur  des  Romana  public  puisqu'il  a  renonce  au  tröne  pour 
vivre  avec  sa  maitresse.  Cette  scene  est  la  contre-partie  de  la  derniere  scene 
du  premier  acte.  Mais  voici  Madeleine  elle-meme.  Elle  avoue  ce  qu'ils  appellent 
sa  faute.  Elle  reclame  son  „droit  au  bonheur",  et  comme  son  frere  Achille 
de  Romana  veut  la  saisir  pour  l'enfermer  chez  eile,  eile  le  cravache  et 
s'enfuit.  Rideau.  Ce  second  acte  est  dramatique,  mais  il  ne  semble  pas  tres 
amene.  Encore  une  fois,  le  theätre  est  l'art  des  preparations.  Le  troisieme 
acte  est  le  meilleur.  II  est  meme,  par  endroits,  d'une  singuliere  beaute.  II 
se  scinde  en  trois  dialogues,  ecrits  en  une  belle  langue,  forte,  elo- 
quente et  pure.  Le  premier  fait  parier  Robert  et  son  professeur  Valene. 
Robert  indique  les  mobiles  de  son  action.  II  aime;  l'amour  contient  en  lui 
sa  volonte,  son  but,  son  destin.  II  se  suffit  ä  lui-meme.  II  est  au-dessus 
des  hommes  et  des  volontes  humaines.  En  vain  Valene  tente-t-il  de  mon- 
trer  au  prince  qu'en  aimant,  qu'en  se  donnant  ä  cet  amour  tout  entier,  il 
ne  s'est  pas  libere,  mais  qu'au  contraire  il  a  perdu  sa  liberte  .  .  .  le  prince 
s'obstine.  Le  second  duo,  c'est  le  grand  duo  d'amour  de  Madeleine  et  de 
Robert:  Ils  s'exaltent  Tun  l'autre  jusqu'au  moment  oü  paratt  l'Empereur. 
Troisieme  duo.  Le  Souverain  reproche  ä  son  fils  d'avoir  trahi  son  rang, 
son  nom,  sa  race.  II  lui  represente  son  epouse  epioree,  sa  mere  en  larmes, 
lui-meme  enfin,  Empereur  Charge  d'annees,  prive  d'un  heritier  direct.  Le 
prince  repond  qu'il  s'est  libere,  que  tous  les  serments  qu'il  avait  pretes  dans 
l'ignorance  n'existent  plus  pour  lui,  et  qu'il  ne  saurait  „rentrer  dans  la  nuit". 
„Le  mensonge  s'est  dissipe  comme  un  nuage;  il  n'y  a  plus  de  force  hu- 
maine  qui  puisse  ramener  les  tenebres  jusqu'ä  moi,  je  suis  un  homme 
nouveau".  Madeleine  a  tout  entendu,  et  pour  ne  pas  etre  la  cause  de  mal- 
heurs  monarchiques,  eile  se  tue.  Robert  aftole  se  tue  sur  son  cadavre. 

Le  drame  finit  sur  cette  double  mort.  C'est  une  transposition  idealisee 
grandie,  epuree,  du  drame  de  Meyerling.    Le  dernier  acte  est  impression- 


248 


nant.  La  piece  de  M.  Morhardt  date  d'une  vingtalne  d'annees;  eile  paralt 
encore  incomplete  et  fragmentaire.  C'est  le  dessin  d'une  tres  belle  oeuvre 
qu'il  refera  peut-etre  plus  tard. 

La  Princesse  Helene,  la  seconde  piece  de  la  trilogie,  lui  est  infiniment 
superieure.  II  y  a  entre  ces  deux  oeuvres  la  difference  d'une  oeuvre  de  jeu- 
nesse  ä  une  oeuvre  de  maturite.  Le  sujet  de  cette  piece  est  pris,  lui  aussi, 
dans  i'histoire  contemporaine.  Les  lecteurs  de  Wissen  und  Leben  verront 
eux-memes  de  quoi  il  s'agit. 

Le  prince  Helie  de  Los-Lilienbourg  est  un  amant  de  la  liberte,  de  la 
iiberte  absoiue,  sans  contrainte,  sans  entraves  d'aucune  espece.  Comme  le 
prince  Robert  il  a  renonce  ä  tous  ses  droits.  Son  frere,  le  prince  regnant 
de  Los-Lilienbourg  l'a  exiI6,  puis  rappele.  Au  declin  de  la  vie,  il  a  epouse 
la  jeune  comtesse  Helene  de  Harz.  II  l'a  epousee,  parce  que  jadis  il  a  aime 
la  m^re,  et  qu'il  veut  rendre  Helene  heureuse,  en  la  rendant  libre.  Helene 
est  une  creature  d'amour  faite  pour  aimer,  pour  etre  aimee.  Sa  vie  ne  peut 
etre  qu'une  vie  d'amour.  Le  prince  Helie  l'a  bien  compris.  En  fait  il  n'a 
Jamals  ete  l'epoux  de  sa  femme.  11  la  lalsse  independante  et  libre  —  abso- 
lument.  Le  premier  acte  nous  presente  ce  menage  princier.  Malheureuse- 
ment,  la  nuit  meme,  Helene  a  ete  arretee  pour  scandale,  en  compagnie 
de  quelques-uns  de  ses  admirateurs.  Le  prince  regnant  donne  ä  Helie  le 
choix  entre  le  divorce  et  l'exil.  Helie  choisit  l'exil.  Mais  Helene  desesperee 
de  ne  pouvoir  se  dominer,  s'ecrie  —  et  c'est  un  des  plus  beaux  mots  de 
la  piece:  „En  me  livrant  ä  la  liberte  tout  entiere,  vous  m'avez  livree  au  pire 
esclavage."  La  nuit  est  tombee.  Helle  reflechit,  et  lorsque  par  hasard  il 
rencontre  M.  de  Hohenbourg,  l'amant  actuel  d'Helene,  qui  se  rend  chez 
eile,  il  l'arrete  habilement  .  .  . 

Le  second  acte  se  passe  en  exil  —  en  Suisse,  au  pied  de  la  Jung- 
frau. Le  prince  Helie,  toujours  philosophe  et  toujours  ami  de  la  liberte 
integrale,  a  invite  les  amis  de  sa  femme  ä  les  rejoindre.  Voici  d'abord 
Hohenbourg  qui  reproche  ä  Helene  de  ne  plus  l'aimer  et  d'en  aimer  un 
autre:  „Je  me  suis  donnee  ä  vous,  lui  dit-elle,  je  ne  vous  ai  pas  donne 
ma  fidelite".  Elle  aime  en  effet  Fritz  Molders:  cela  la  desespere,  mais  eile 
n'y  peut  rien.  Elle  demande  conseil  ä  son  vieil  ami  le  professeur  Blumen- 
feld, qui  ne  sait  que  lui  dire.  Elle  conclut  alors  melancoliquement:  „Nous 
sommes  les  victimes  de  nous-memes."  Puis  Fritz  Molders,  arrive,  lui  aussi, 
est  jaloux,  jaloux  de  Hohenbourg.  „Mon  Dieu!  s'ecrie  Helene,  que  ne 
suis-je  süre  de  vous  aimer  jusqu'ä  la  mort!"  Mais  son  amour  engendre  la 
haine,  et  les  deux  amants,  jadis  amis,  en  viennent  presque  aux  mains.  Le 
troisieme  acte  est  la  replique  du  second.  Helene  n'aime  plus  Molders, 
eile  aime  Frederic,  ä  qui  eile  s'est  donnee.  „Quelle  misere  que  nous- 
meme"  s'ecrie-t-elle  devant  sa  propre  vie.  Mais  les  deux  premiers  amants? 
Molders  s'en  ira,  oublier  loin  du  monde  l'amour  d'Helene.  Hohenbourg, 
un  violent,  apres  une  explication,  la  tue.  Helie  qui  survient  lui  tend  le  re- 
volver,  et  l'amant  meurtrier  tombe  sur  le  corps  de  celle  qu'il  a  aimee  jus- 
qu'ä la  mort!  C'est  le  drame  de  la  fatalite  de  l'amour.  J'imagine  bien  que 
ce  n'est  pas  sans  raison  que  M.  Morhardt  appelle  son  heroine  Helene.  II 
a  songe  ä  l'Helene  antique,  ä  celle  dont  l'amour  etait  irresistible  et  fatal,  et 
qui,  sans  le  vouloir  jamais,  engendra  la  haine,  le  meurtre  et  la  guerre.  La 
Princesse  Helene  contient  de  magnifiques  parties,  mais  il  semble  bien  que 
ce  soient  les  parties  purement  intellectuelles.    La  psychologie  de  la  prin- 

249 


cesse  Helene  reste  partielle  plutot  que  complexe.  Cela  s'expliqae. 
M.  Morhardt  est  un  poete  —  meme  un  grand  poete  —  qui  fait  du  theätre 
d'id^es,  et  qui  prend  des  personnages  plus  ou  moins  reels  pour  en  faire 
les  incarnations  de  ces  id^es.  D'un  evenement  en  somme  banal  —  car 
que  sont  au  fond  ces  deux  aventures  princieres?  —  il  prend  l'idee  pure  et 
la  magnifie,  l'idealise.  Le  personnage  le  mieux  reussi,  c'est  le  prince  Helie. 
11  ressemble  ä  Rank  de  Maison  de  poupe'e.  Raisonneur  melancolique  et 
äpre  il  profere  des  sentences  parfois  admirables,  admirablement  exprimees 
en  un  style  d'une  richesse  prestigieuse. 

La  Mort  du  Roi,  la  derniere  piece  de  la  trilogie,  est  aussi  la  derniere 
en  date  dans  la  succession  des  pieces  de  M.  Morhardt.  C'est  la  plus  belle, 
la  plus  parfaite.  II  s'agit  ici  de  peindre  un  roi  fou  —  ou  que  son  entourage 
tientpour  fou.  —  Evidemment,  il  s'agit  de  Louis  II  de  Baviire,  et  de  sa  mort 
dramatique.  M.  Morhardt,  comme  dans  les  pieces  precedentes,  a  reduit 
l'action  ä  son  minimum.  Comme  Shakespeare  s'est  servi,  pour  exhaler 
son  lyrisme,  d'Hamlet,  ou  du  roi  Lear,  M.  Morhardt  s'est  servi  de  ce  Roi  que 
le  conseiller  professeur  Billingdorff  tient  pour  un  fou  dangereux  .  .  .  Voyons 
la  piece.  Au  premier  acte  le  roi  fait  part  ä  ses  chambellans  et  ä  son  architecte 
Weissenkranz  de  ses  reves  grandioses.  II  veut  incarner  l'ideal,  sa  vision 
en  une  oeuvre  humaine,  un  temple  magnifique,  au  bord  du  lac,  dans  le- 
quel  s'eleverait  la  statue  en  or  du  Poete,  CEuvre  du  genial  sculpteur  Feuer- 
strom. Mais  Billingdorff  qui  assiste  ä  la  scene,  veillera.  On  ne  peut  dire 
cependant  au  peuple  que  le  roi  est  fou,  le  peuple  ne  le  croirait  pas  .  .  . 
Au  second  acte  nous  sommes  chez  Feuerstrom.  C'est  l'acte  qui  a  le  plus 
porte  ä  la  representation.  Le  rideau  est  descendu  au  milieu  d'acclamations 
formidables.  Voici  ce  que  c'est:  Feuerstrom,  le  vieux  sculpteur  de  genie,  est 
au  milieu  de  ses  eleves.  11  expose  les  idees  cheres  ä  Rodin.  L'Art  est  l'imi- 
tation  de  la  nature  et  de  la  vie.  La  vie  est  parfaite,  l'homme  est  „un  temple 
vivant  qui  marche".  La  nature  est  incomparable  parce  qu'elle  est  la  nature  . . . 
Les  conseillers  du  Roi  surviennent  alors  et  informent  Feuerstrom  que  le  sou- 
verain  a  perdu  la  raison  et  qu'il  sied  de  l'enfermer.  Feuerstrom  ne  peut 
les  croire:  lui  et  le  Roi  sont  de  la  meme  famille.  Et  lorsque  le  chancelier 
Donnertweg  lui  demande  de  se  faire  leur  complice  pour  l'attirer  dans  un 
lieu  designe  et  l'interner,  il  refuse  avec  indignation.  11s  se  retirent.  Le  Roi 
lui-meme,  comme  chaque  jour,  vient  rendre  visite  ä  Feuerstrom.  Le  Roi  et 
i'artiste  s'exaltent  Tun  pour  l'autre,  et  leur  dialogue  est  d'une  puissance, 
d'une  ampleur,  d'un  lyrisme  prodigieux.  Cela  n'a  d'egal  que  les  plus  belies 
imaginations  d'Ibsen  ou  de  Villiers-de-l'lsle-Adam  (Axel)  et  meme  l'on 
songe  sans  peine  ä  Shakespeare"  „Dire!"  —  s'ecrie  le  Roi  —  „qu'il  aurait 
suffi  que  chaque  siede  dressät,  ä  la  lisiere  d'un  champ,  la  Silhouette  du 
laboureur,  pour  ecrire  l'histoire  indestructible  de  l'humanite." 

Le  troisieme  acte  est  plus  court.  Un  parc  delaisse.  Deux  jardiniers 
ramassent  des  feuilles  mortes,  car  c'est  octobre.  Le  Roi  survient,  tete  nue, 
echevele.  Comme  Hamlet  aux  fossoyeurs,  il  leur  tient  de  magnifiques  dis- 
cours,  sur  l'impossibilite  de  realiser  son  Reve.  Mais  Billingdorff  et  les  con- 
seillers sont  ä  sa  poursuite.  Comprenant  que  tous  ses  reves  sont  des  folies 
pour  le  commun  des  hommes,  il  monte  sur  le  rocher  oü  devait  s'elever  le 
temple  du  Poete.  Billingdorff  va  l'y  rejoindre,  et  le  Roi,  l'entratnant  avec 
lui,  se  precipite  dans  le  lac!  Avec  lui  meurt  le  Genie  que  tue  sa  propre 
impuissance! 

250 


Je  n'ai  pas  accoutum^,  pour  juger  !me  piece,  de  tenir  compte  du  suc- 
ces  que  lui  fait  le  public.  Le  public  se  trompe  souvent.  Si  A  la  Gloire  d'aimer 

—  Oeuvre  indecise  —  avait  laisse  une  impression  mitigee;  si  La  Princesse 
Helene  —  ceuvre  encore  fragmentaire  —  avait  force  l'admiration,  La  Mort 
du  Roi  a  connu  le  triomphe.  Ce  triomphe  est  merite.  C'est  une  oeuvre 
magnifique,  enorme,  grandiose,  eclairee  par  la  flamme  du  genie.  Je  le  dis 
parce  que  c'est  ma  conviction  absolue,  profonde.  Cette  oeuvre  sera  jouee 
ailleurs,  eile  sera  traduite  et  prendra  place  ä  cöte  des  plus  belles  oeuvres 
de  theätre  que  l'on  connaisse.  Elle  est  emouvante;  plusieurs  scenes  pro- 
curent  —  sans  image  —  le  frisson  de  la  ßeaute.  Mathias  Morhardt  est  un 
solitaire.  Ses  oeuvres  sont  le  fruit  de  trente  ans  de  travail  obstine,  loin  de 
la  Foire  sur  la  place,  loin  des  officines  qui  fönt  et  defont  les  reputations. 
II  a  voulu  que  sa  ville  natale  füt  la  premiere  ä  le  connattre  et  ä  l'admirer. 
Le  succes  de  La  Mort  du  Roi,  de  cette  oeuvre  si  haute,  est  la  legitime  r€- 
compense  d'une  foi,  d'une  probite  emouvantes.  Et  maintenant,  s'il  faut  con- 
clure,  il  sied  de  se  rejouir  grandement  du  succes  qu'a  empörte  M.  Mor- 
hardt. Ce  n'est  point  un  succes  de  snobisme,  c'est  encore  moins  un  succes 
de  bluff.  La  Suisse  romande  a  un  dramaturge  et  un  grand  ecrivain  de  plus 

—  ou  plutot  eile  vient  de  le  consacrer.  Et  puisque,  en  dehors  des  efforts 
du  Theätre  de  la  Comedie,  il  est  question  de  creer  une  Saison  de  Geneve, 
chaque  printemps,  souhaitons  qu'elle  contribue,  en  nous  revelant  des  oeu- 
vres de  la  valeur  des  pieces  de  M.  Morhardt,  ä  donner  au  theätre  d'idees 
et  au  veritable  theätre  d'art  la  place  qui  lui  revient. 

GENEVE  GEORGES  GOLAY 

ODD 

BERLINER  FRÜHJAHRSSAISON 

Im  April,  u'enn  die  Theater  ihre  Erfolgstücke  in  die  Provinz  oder  ins 
Ausland  tragen,  wird  es  in  Berlin  stiller.  Das  Repertoire  besteht  aus  alten 
Ladenhütern,  die  Besetzung  aus  zweiten,  dritten  oder  gar  siebenten  Kräften. 
Die  Größen  gastieren,  der  Fremde  lernt  die  hauptstädtischen  Bühnen  nicht 
kennen.  Nur  an  leichtere  Schwanke  wendet  man  noch  einen  Rest  von 
Mühe.  So  gab  es  in  den  Kammerspielen,  die  immer  mehr  ein  Konversations- 
theater geworden  sind,  ein  Lustspiel  von  Sacha  Guitry:  Die  Einnahme 
von  Berg- op- Zoom.  Es  ist  amüsant,  weil  Guitry  geschickt  mit  szenischen 
Pointen  arbeitet.  Der  Titel  deutet  darauf  hin.  Ein  Polizeipräfekt  prophe- 
zeit der  Frau,  die  er  liebt,  dass  er  am  Datum  der  Einnahme  von  Berg-op- 
Zoom  ihren  Widerstand  besiegt  haben  wird.  Einige  Minuten  später  liegt  sie 
in  seinen  Armen  und  reißt  die  trennenden  Kalenderblätter  verschämt  ab. 
Dieser  Requisitenwitz  weist  über  die  sonstigen  Kulissenscherze  des  französi- 
schen Schwankes  hinaus.  Und  man  könnte  bei  geringen  Ansprüchen  fast  an- 
nehmen, dass  Guitry  eine  Entwicklung  der  französischen  Boulevardleichtig- 
keiten bedeutete,  wenn  er  im  ersten  und  zweiten  Akt  nicht  den  alten  Schwindel 
mitmachte.  Trottelkomik,  Gegenstandsulk,  Wirrwarr,  sich  öffnende  Logen- 
türen, Milieuwitze  schaffen  ein  Durcheinander  und  lenken  ebenso  auf  eine 
andere  Gattung  wie  auf  einen  andern  Inhalt.  Erst  im  dritten  Akt  erfährt 
man,  auf  welches  Niveau  und  auf  welche  Handlung  man  sich  einstellen  soll. 
Dieser  Zwiespalt  macht  das  als  Partitur  für  Darsteller  und  Regisseur  oft 

251 


feine  und  anregende  Lustspiel  lebensunfähig.  Der  Regisseur  hatte  die  Par- 
titur wenig,  die  Darsteller  Hans  Wassmann  und  Jakob  Tiedtke  hatten  sie 
vortrefflich  verstanden.  Den  größten  Beifall  allerdings  heimste  Leopoldine 
Konstantin  in  der  Rolle  der  sich  verweigernden,  nachgebenden  und  doch 
anständigen  Frau  ein.  Leopoldine  Konstantin  ist  Berlins  beliebteste  Salon- 
schauspielerin. Sie  ist  schön,  wenn  auch  ein  wenig  puppenhaft,  sie  geht 
leicht,  wenn  auch  ein  wenig  duvieurhaft,  und  versteht  sich  zu  kleiden.  Vor- 
teile genug  1  Nur  dass  ihre  schauspielerischen  Fähigkeiten  über  eine  äußere 
Gewandtheit  nicht  hinauskommen,  und  in  großen  Rollen  die  sprachliche  Nüan- 
cierung  arm  bleibt.  Eine  Darstellerin  wie  Tilly  Waldegg  ist  ihr  überlegen, 
die  kitschig  wird,  wenn  sie  sich  auf  anspruchsvolles  Gebiet  wagt,  die  aber 
in  der  Salonkonversation  nicht  ohne  Reiz  ist.  Tilly  Waldegg  gab  im  The- 
ater in  der  Königgrätzerstraße  die  ehebrechende  Gattin  in  Lothar  Schmidts 
Lustspiel:  Das  Buch  einer  Frau.  Hier  ist  französische  Technik,  französi- 
scher Witz,  französischer  Stoff  berlinisiert.  Aber  das  Berlinische  hat  keine 
Durchschlagskraft.  Es  hat  nicht  geschärft  und  gehärtet,  es  hat  vergröbert. 
Die  Morallosigkeit  ist  nicht  frei,  sondern  lüstern,  die  Leichtigkeit  schwitzt 
und  die  Pointe  kommt  nicht  ohne  Kommisgrinsen  zustande.  Aber  damit 
niemand  sich  beunruhigt  fühlt:  zwischen  Deutlichkeiten  weht  es  sanft  wie 
in  den  Fliegenden  Blättern.  Dennoch  hätte  Lothar  Schmidt  die  Begabung 
zu  einer  neuberlinischen  Komödie.  Das  Erfordernis  wäre  nur,  dass  er  alle 
französischen  Lustspiele  vergäße,  sowohl  die  alten,  unanständigen  wie  die 
neuen,  anständigen,  und  höchstens  das  herübernähme,  was  seinem  eigenen 
Talente,  wie  die  besten  Szenen  im  Buch  einer  Frau  zeigen,  auch  liegt: 
die  Ausbildung  der  szenischen,  der  pantomimischen  Pointe.  Denn  hier,  im 
rein  Technischen,  nicht  in  einer  andern  ethischen  Einstellung,  scheint  mir 
fürs  erste  die  Entwicklung  des  Unterhaltungsstückes  zu  liegen.  Diese  szeni- 
sche Punktierung  soll  nicht  mit  Tricks,  Verwandlungen  und  Überraschungen 
arbeiten,  sie  soll  nicht  die  alte  Situationskomik  erneuern,  sie  soll  keine 
Beschwerung,  sondern  eine  Entlastung  des  Wortwitzes  bilden.  Das  Spiel 
wird  leichter,  phantastischer  und  im  Gewagtesten  reiner,  wenn  eine  pan- 
tomimische Symbolik  die  Dialogpointen  entmaterialisiert,  indem  sie  sie 
ironisiert.  Das  hat  nicht  nur  Sacha  Guitry  mit  seinen  abgerissenen  Ka- 
lenderblättern gezeigt,  das  zeigt  auch  ein  Schauspieler  wie  Eugen  Burg,  der 
für  die  Deutlichkeiten  Lothar  Schmidts  marionettenhaft  karrikierende  Be- 
gleitgebärden erfindet,  die  den  Witz  distanzleren.  Wenn  Herr  Burg  nicht 
manchmal  noch  schmunzelnd  auf  seine  eigenen  Gesten  hinwiese  und  so 
wieder  verdeutlichte,  wäre  das  der  Stil,  den  ich  meine  und  den  Otto  Gebühr 
für  den  betrogenen  Gatten  nur  deswegen  nicht  nötig  hat,  weil  er  alles  auf 
sein  humoristisches  Naturell  zurückführen  kann. 

Die  Wagnisse  waren  musikalische.  Der  Kapellmeister  Richard  Falk 
veranstaltete  eine  Sonderaufführung  von  Paisiellos  Barbier  von  Sevilla. 
Zweifellos  würde  Paisiello  heute  im  Repertoire  der  besseren  Bühnen  stehen, 
wenn  Rossini  später  den  selben  Stoff  nicht  noch  einmal  komponiert  hätte. 
Ohne  Vergleiche  behauptet  sich  Paisiello  durchaus.  Er  ist  witzig  in  einigen 
Ensemblesätzen  und,  hier  darf  man  nebeneinander  stellen:  lyrisch  wahrer 
als  Rossini.  Was  fehlt,  ist  markante  Betonung,  durchgehender  Strom,  Fülle 
des  ganzen.  Im  übrigen  scheint  die  Verwandtschaft  mit  Mozart  größer  als 
mit  Rossini.  Mozart  hat  Paisiello  überwunden,  weil  er  seine  Art  steigerte 
und  vollendete,  Rossini,  weil  er  mit  sicheren  Mitteln  einen  ähnlichen  Text 

252 


komponierte.  Für  singende  Darsteller  ist  Paisiellos  Oper  ein  Vergnügen. 
Die  Musik  ist  an  vielen  Stellen  geradezu  mimisch.  Francesco  d'Andrade 
sang  den  Barbier.  Wenn  es  zwei  Gruppen  von  Sängern  gibt,  eine,  die  mit 
der  Sinnlichkeit  ihrer  Stimme  ohne  körperliche  Aktivität  körperlich-schau- 
spielerische Eindrücke  geben  —  ihr  vornehmster  Vertreter  ist  das  Stimmen- 
genie Jadlowker  —  und  eine  andere,  denen  der  Gesang  die  Folge  körper- 
lichen Spieltriebs  ist,  so  bedeutet  d'Andrade  die  letzte  Ausprägung  der 
zweiten  Art.  Sein  Gesang  ist  Akzent  und  Gebärde.  Romanisches  Rassen- 
temperament gibt  eine  Nüancierung  ohne  gleichen.  Alles  ist  Beweglichkeit, 
Laune,  Schwerlosigkeit,  Grazie.  Die  übermütigsten  Einfälle  sind  phan- 
tastisch legitimiert.  Eine  Gestalt  d'Andrades  ist  eine  geniale  Improvisation. 
Das  Opernhaus  in  Charlottenburg  gab,  als  deutsche  Uraufführung, 
Puccinis  Mädchen  aus  dem  goldenen  Westen.  Gewiss,  es  ist  ein  Reißer 
von  gewalttätigster  Agressivität :  die  Häufung  der  Spannungen  geht  bis  zur 
äußersten  Grenze,  wo  die  Erregung  sich  selbst  durch  Lachen  befriedigt. 
Trotzdem  habe  ich  eine  versteckte  Schwärmerei  für  diese  Oper,  weil  sie 
sich  zu  ihrem  Reißertum  bekennt.  Die  Musik  Puccinis  täuscht  nicht  vor 
und  übernimmt  sich  nicht.  Sie  brutalisiert,  aber  sie  hat  das  künstlerische 
Recht  auf  ihre  Brutalität,  weil  sie  die  Energie,  die  Kraft  und  das  Tempera- 
ment dazu  hat.  Auf  jeden  Fall  sind  mir  musikalische  Nervenattacken  lieber 
als  blasse  Mythenopern  schwächlicher  Wagnerepigonen.  Das  Deutsche 
Opernhaus  gab  von  der  schwierigen  Massenoper  eine  ausgezeichnete  ge- 
schlossene, durchgearbeitete  Vorstellung,  die  auch  im  Dekorativen  geschickt, 
nur  nicht  ganz  kitschfrei  war.  Ebenfalls  im  Deutschen  Opernhaus  wurde 
Ernst  von  Dohnänyis  Pantomime  Der  Schleier  der  Pierette  aufgeführt. 
Die  szenische  Unterlage  stammt  von  Arthur  Schnitzler.  Sie  ist  energisch, 
wirksam.  Sie  hat  Empfindung  für  die  Verdeutlichung  durch  die  Gebärde. 
Aber  dieses  Gefühl  war  nicht  stark  genug,  alles  Ballettmäßige  abzustoßen. 
So  kommt  es  zu  Geistererscheinungen  und  überflüssigen  Gesellschafts- 
szenen. Die  letzte  Konzentration  fehlt,  die  die  Musik  Dohnänyis  hat. 
Sie  ist  drängend,  zwingend.  Sie  ist  körperlich,  deutlich.  Sie  hat  etwas 
Unerbittliches  in  dem  Verlangen  nach  Ausdruck  und  Geste. 

Auch  diese  Pantomime  kam  in  Charlottenburg  überzeugend  heraus. 
Im  Hinblick  auf  die  ungewöhnliche  Leistungsfähigkeit  der  Volksoper  er- 
scheint die  Trägheit  des  Königlichen  Opernhauses  nur  noch  beschämender. 
Was  ist  das  für  ein  Institut,  das  in  acht  Monaten  eine  Premiere  und  drei 
Neueinstudierungen  gewagt  hat!  Das  Königliche  Schauspielhaus  ist  schon 
längst  dem  Gelächter  ausgeliefert.  Dabei  könnte  alles  besser  sein,  wenn 
das  Abgeordnetenhaus  den  Etat  verweigern  und  die  Tagespresse  sich  end- 
lich zu  einem  einmütigen  Protest  aufraffen  würde.  Anzeichen  des  Unwillens 
melden  sich.  Aber  so  lange  es  Kritiker  gibt,  die  primanerhafte  Albernheiten» 
wie  das  sogenannte  Künstlerdrama  Veit  Stoß  von  Tim  Klein  ernst  nehmen, 
wird  eine  Reform  aussichtslos  sein. 

Man  kann  nicht  über  Berliner  Theater  schreiben,  ohne  sich  mit  dem 
Kientopp  zu  beschäftigen.  Täglich  wachsen  ihm  neue  Stätten  zu  und  es 
ist  ein  beliebtes  Zeitungsthema,  seine  Gefahren  für  das  reguläre  Theater 
abzuschätzen.  Die  Konkurrenzmöglichkeit  wird  übertrieben.  Gerade  die 
ernsten  Bühnen  haben  von  ihm  wenig  zu  fürchten.  Niemand  wird  sich 
durch  Filmdramatik  von  Shakespeare  abhalten  lassen.  Ängstlich  müssen 
hur  die  Unterhaltungstheater  werden,  denn  der  Kientopp  versucht  sie  auf 

253 


ihrem  eigenen  Felde  zu  schlagen.  Er  appelliert  an  die  selben  Instinkte, 
die  das  Publikum  zur  Posse  und  zur  Kolportageromantik  treiben  und  be- 
friedigt sie  auf  bequemerem  Wege.  Aber  ist  es  ein  so  großer  Verlust,  wenn 
einige  Amüsiertheater  zugrunde  gehen?  Wird  nicht  im  Gegenteil  eine  rein- 
lichere Scheidung  möglich  sein:  das  Theater  der  Kunst,  der  Kientopp  der 
Unterhaltung?  Dabei  ist  im  Augenblick  für  ein  originelles  Possenunter- 
nehmen noch  nicht  einmal  eine  Konkurrenz  zu  besorgen,  weil  die  Film- 
schwänke  blöde  sind.  Nur  die  Vorstadttheater  sind  jetzt  schon  erledigt, 
weil  die  grausigen  Räubergeschichten,  die  sie  pflegen,  an  Verwegenheit 
längst  vom  Kientopp  übertroffen  sind.  Das  künstlerische  Theater  wird 
auch  deshalb  nicht  verdrängt  werden,  weil  die  Entwicklung  des  Filmschau- 
spiels, wenn  es  eine  solche  geben  sollte,  nach  entgegengesetzter  Seite  gehen 
müsste:  vom  Drama  zum  Epos,  von  der  Szene  zum  Bild,  vom  Schauspie- 
lerischen zum  Pantomimischen.  Eine  Gefahr  besteht  nur  für  die  Bühnen- 
darsteller, Da  ihre  Filmtätigkeit  gut  bezahlt  wird,  werden  sie  sich  nicht 
überzeugen  lassen,  dass  Filmdarstellung  und  Bühnendarstellung  Gegensätze 
sind.  (Bassermann  war  im  Film  einfach  schlecht;  Asta  Nielsen,  die  doch, 
weiß  Gott,  kitschig,  leer,  temperamentlos  und  schauspielerisch  ohne  Belang 
ist,  weiß  wenigstens,  worauf  es  im  Film  ankommt  und  hat  Stil.)  Der  Schau- 
spieler wird  unsicher,  zwingt  sich  zu  einer  fremden  Ausdrucksart,  verdeut- 
licht und  verliert  auf  der  Bühne  das  Gefühl  für  Diskretion.  Aber  vielleicht 
geht  auch  diese  Gefahr  vorüber,  die  Berufe  teilen  sich,  man  wird  Film- 
schauspieler oder  Bühnenschauspieler.  Dann  haben  die  Lichtspiele  den 
Zustrom  der  Theatermitglieder  nicht  nötig  und  bezahlen  den  Bühnenkünstler 
nicht  mehr. 

BERLIN  HERBERT  JHERINQ 

D  D  D 

SCHAUSPIELABENDE 

Herbert  Eulenbergs  Belinde.  Das  „Liebesstück"  hat  den  Volks-Schiller- 
preis  erhalten.  Weder  mit  dem  Volk  noch  mit  Schiller  hat  es  das  Mindeste 
gemein.  Sicherlich  hat  der  Dichter  nie,  auch  nur  von  ferne  beim  Konzi- 
pieren und  Schreiben  seines  Werkes  an  das  Volk  oder  an  Schillers  Drama 
gedacht.  Hat  er  überhaupt  an  die  reale  Bühne  gedacht?  Es  ist,  als  hätte  ein 
nachgeborner  Romantiker  das  Stück,  oder  sagen  wir  besser:  das  Spiel,  dieses 
Liebesspiel  geschaffen.  Man  schlägt  das  Buch  auf.  Bei  den  Personen 
stoßen  wir  auf  folgende  Zusätze :  Hyazinth,  „ein  Mensch  vom  letzten  Adel", 
Roger,  „der  Jüngling",  Moritz,  „ein  schönlicher,  kleiner  Buckel".  „Der  Schau- 
platz aller  fünf  Akte  ist  Belindens  Haus  und  Herz,  gestern,  heut  und 
morgen".  Wir  drehen  die  Seite  und  finden  vier  Stanzen:  „Verse  auf  ihre 
Urne  gestreut".    Die  zweite  Strophe  lautet: 

Ich  träumte  dich  im  violetten  Schatten 

Des  geist-  und  blutsverwandten  Bruders  stehen. 

Du  dachtest  stumm  an  den  verschollenen  Gatten 

Und  sahst  ihn  immer  weiter  von  dir  gehen 

Auf  fernen  Meeren,  Inseln,  wüsten  Watten, 

Die  Zeit  ließ  seine  letzte  Spur  verwehen. 

Da  musste  selbst  ein  Herz  wie  deins  ermatten. 

Und  es  begann  ganz  leise  sich  zu  drehen. 

Auf  solche  Melodien  ist  das  Stück  angelegt :  auf  Zärtliches,  Sehnsüch- 
tiges, Verschwimmendes,  Verzeihendes.  Aber  die  romantische  Ironie  bleibt 

254 


nicht  aus  —  „und  es  begann  ganz  leise  sich  zu  drehen".  Wir  finden  sie 
auch  sonst:  in  der  Vermischung  abgeblühter  Namen  mit  Gegen wartsatmo- 
sphäre,  in  der  Wahl  von  Todesarten,  die  dem  Heroismus  (des  Todes  für 
ein  heiß-  und  einziggeliebtes  Wesen)  einen  Stich  ins  Komische  geben:  dem 
Sicherschießen  einem  amerikanischen  Duell  zufolge;  dem  Sichverhungern, 
beginnend  mit  dem  schlagkräftigen  Abweisen  eines  Zinntellers  mit  Austern. 
Und  Belinde,  die  aus  dem  Leben  und  damit  ihren  Herzenskonflikten  aus 
dem  Wege  geht  (wem  soll  sie  die  Treue  halten :  dem  Gatten,  der  wieder 
heim  kam,  während  er  für  verschollen  galt,  oder  seinem  Ersatzmann,  dem 
Jüngling,  der  lieber  aus  der  Welt  ging,  als  freiwillig  auf  Belinde  zu  ver- 
zichten?) —  Belinde  stiehlt,  um  sich  den  Tod  beizubringen,  dem  Bruder 
Hyazinth  die  Morphiumpulver,  die  ihm  einzig  und  allein  das  gemeine  Leben 
erträglich  machen. 

Die  Ironie  spöttelt  in  das  Drama  hinein.  Sie  hat  sogar  in  diesem  Hya- 
zinth eine  Figur  geschaffen,  um  die  sämtliche  Romantiker  Herbert  Eulenberg 
beneiden  dürfen:  den  aus  Ästhetizismus  nur  par distance Liehenden  —  „ich 
liebe  in  die  Ferne,  so  etwas  Herrliches  lässt  man  doch  nicht  erwidern.  Ich 
lebe  der  unsterblichen,  unerfüllten  Liebe",  so  spricht  er  zu  Belinde  — ,  den 
Mann  mit  den  Handschuhen,  der  vor  der  Sinnenwelt  zurückschreckt;  sich 
ein  Wolkenkukuksheim  zurecht  macht,  in  dem  nur  mit  irrealen  Größen 
gerechnet  wird  und  die  Dinge  dieser  Welt  mit  einer  pflichtwidrigen  Nach- 
lässigkeit, mit  einem  selbstbewussten  Zynismus  behandelt  werden,  die  ans 
Strafbare  grenzen ;  der  sich  zum  Gericht  an  sich  selbst  durchaus  nicht  ent- 
schließen kann,  weil  er  alles  Irdische  zu  sehr  als  irrelevant  zu  betrachten 
sich  gewöhnt  hat  und  darum  auf  den  sogenannten  Ehrenkodex  pfeift.  Trotz 
den  zärtlichen,  liebkosenden  Stanzen  an  Belinde  kommt  man  von  dem 
Eindruck  nicht  los,  als  ob  Eulenberg  dieser  Hyazinth  immer  mehr  die  Haupt- 
person seines  Stückes  geworden  wäre,  nicht  bloß  als  genial  erdachte  Kon- 
trastfigur zu  den  drei  Liebenden,  Belinde,  ihrem  Gatten  und  „dem"  Jüng- 
ling, die  an  ihrer  Leidenschaft  zugrunde  gehen,  während  Hyazinth  für  etwas 
zu  sterben,  was  wir  in  Wirklickeit  gar  nicht  besitzen,  was  er  nur  aus  der 
Ferne  adorieren  will,  nicht  die  mindeste  Lust  hat,  auch  dann  nicht,  als  er 
sieht,  dass  er  mit  seinem  Phantasie-Ideal  recht  schlimm  in  den  Kot  hin- 
eingeraten ist. 

„Und  alles  war  ein  Spiel."  Das  ist's,  was  letzten  Endes  dieses  Liebes- 
stück zu  einem  schlechten  Drama  macht.  Es  ist,  als  habe  der  Dichter  ab- 
sichtlich alles  getan,  um  in  uns  keine  tiefere  Anteilnahme  an  seinen  Figuren 
des  Liebesdramas  aufkommen  zu  lassen.  Wir  hören  sie  nur  reden,  wir 
sehen  ihnen  nicht  ins  Herz.  Sie  kämpfen  auch  nicht.  Sie  bleiben  hinter 
einem  Schleier.  Bezeichnend,  wie  in  diesem  Stück  die  Personen  auf  die 
Bühne  treten  und  von  ihr  abgehen.  Wie  in  einem  Taubenschlag.  Sie  sind 
da,  sie  verschwinden  nach  reiner  Dichterwillkür.  Er  braucht  sie  just,  er 
braucht  sie  just  nicht:  das  regelt  die  Türbewegungen.  Hat  Eulenberg  wirk- 
lich an  die  Bühne  gedacht?—  In  den  Stil  seiner  Verse  (und  neben  diesen 
steht,  auch  wieder  mehr  willkürlich  als  aus  innerer  Notwendigkeit  oder 
tieferer  seelischer  Konsequenz,  Prosa;  Hyazinth  wird  der  Vers  versagt)  — 
in  den  Stil  dieser  Verse,  in  ihre  Form  hat  Eulenberg  sein  poetisches 
Künstlertum  voll  und  rein  einströmen  lassen.  Schade,  dass  diese  dichteri- 
schen Schönheiten  mehr  nur  wie  ein  prachtvolles  Kleid  sich  ausnehmen; 
dass  das  geistvoll  Gedachte,  seelisch  Erleuchtete  so  vieler  Stellen  wesent- 

255 


lieh  den  funkelnden  Glanz  aufhellender  Aphorismen  hat.  Und  wir  lechzen 
danach,  Menschen  von  Fleisch  und  Blut  reden  zu  hören,  den  tiefen  Seelen- 
klang von  Menschen  zu  hören,  die  an  Eros  höchste  Seligkeit  erleben  und 
höchste  Bitterkeit  erleiden. 

Kerr  schrieb  einmal  von  Eulenberg  —  bei  Anlass  des  Dramas  Der 
natürliche  Vater:  „Ist  Eulenberg  ein  Dichter?  Menschlich  ist  er  es:  im 
Sinn  eines  innerlich  dahinblühenden  Mannes,  Künstlerisch?  Es  lässt  sich 
äußern :  er  hat  mancherlei  Stoff  zu  einem  Dichter  .  ,  .  Dies  aber  äußern 
wir  nun  schon  seit  zehn  Jahren,  zum  Donnerwetter,  Wann  macht  er  Ernst?* 
Das  war  Anfang  1910.  Auch  die  Belinde  von  1912  ist  noch  keine  Erfüllung. 
Aber  auch  von  ihr  kann  gesagt  werden,  was  der  Berliner  Kritiker  damals 
beifügte:  „Trotz  alledem  singt  in  mir  beim  Gedanken  an  dieses  Stück  auch 
ein  Gedanken  an  Schönheit."  Und  dann,  wie  gesagt,  bleibt  die  Gestalt 
des  Hyazinth. 

ZÜRICH  H.  TROG 

D  D  D 

KURZE  ANZEIGEN 

Im  Verlag  von  Herder,  Freiburg  i.  B.,  ist  der  dritte  Band  des  Lehrbuches 
der  Nationalökonomie  von  Heinrich  Pesch  S.  J.  erschienen.  Es  hat  einen 
Umfang  von  beinahe  950  Seiten  und  behandelt  die  allgemeine  Volkswirt- 
schaftslehre. Der  Verleger  will  in  diesem  Teile  „die  aktiven  Ursachen  im 
volkswirtschaftlichen  Lebensprozesse"  klarlegen.  Schon  die  ersten  beiden 
Bände  des  hochbedeutenden  greisen  Jesuiten  haben  auch  bei  der  religiös 
total  indifferenten  deutschen  Fachkritik  die  verdiente  Anerkennung  gefunden. 
Der  katholisch-soziale  Standpunkt  tritt  nirgends  aufdringlich  hervor,  wohl 
aber  treffen  wir  überall  eine  tolerante  Haltung  gegenüber  anderen  Lehr- 
meinungen an.  Das  Werk  von  Pesch  darf  neben  die  besten  Lehrbücher 
der  modernen  Nationalökonomie  gestellt  werden ;  die  theoretischen  For- 
mulierungen sind  so  scharf  und  klar  und  die  Darstellung  hält  sich  absolut 
frei  von  allem  überflüssigen  Beiwerk,  dass  die  Lektüre  des  Werkes  zum 
erhabenen  Genuss  wird.  Die  meisten  Urteile,  die  Pesch  fällt,  gründen  sich 
auf  sorgfältige  theoretische  Kenntnisse  und  eine  tiefe  Einsicht  in  die  mo- 
dernen wirtschftlichen  und  sozialen  Zusammenhänge.  Wie  gewandt  Pesch 
schwere  theoretische  Probleme  meistert,  zeigen  die  Ausführungen  über  die 
gegenwärtige  Krisis  in  der  Nationalökonomie. 

Die  ersten  beiden  Bände  sind  bei  uns  wenig  bekannt.  Sollen  wir  das 
Gute,  ja  das  Hervorragende,  wenn  es  von  der  „anderen  Seite"  kommt,  grund- 
sätzlich ignorieren?  Das  wäre  eine  Borniertheit,  die  sich  rächen  könnte. 
Oder  sollte  uns  ein  Gruseln  befallen,  wenn  zufällig  einer  die  Buchstaben 
S.  J.  hinter  seinen  titellosen  Namen  setzt?  E.  Fueter  hat  in  seiner  groß- 
angelegten Geschichte  der  neueren  Historiographie  gegen  allen  Usus  auch 
der  Geschichtschreibung  der  Jesuiten  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen. 
Darf  man  es,  wenn  sie  auf  nationalökonmischem  Gebiete  etwas  Tüchtiges 
leisten,  nicht  auch  tun? 

ZÜRICH  PAUL  GYGAX 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750' 

256 


SARAJEVO 


MAX  BUCHERER  1912 


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Depuis  longtemps  on  n'a  vu  Situation  aussi  embrouillee  pour 
une  election  au  Conseil  Federal.  C'est  une  melee  confuse  des 
partis,  des  regions  et  des  interets;  on  invoque  les  „principes" 
les  plus  divers;    mais  je  cherche  en  vain  l'idee  federale. 

Au  moment  oü  j'ecris  ces  lignes  (mercredi  28  mai),  voici  la 
liste  des  candidats:  M.  Calonder,  presente  par  les  radicaux  grisons; 
M.  Marc  Peter,  candidat  officiel  des  radicaux  genevois;  le  colo- 
nel  Audeoud,  energiquement  soutenu  par  le  Journal  de  Geneve; 
M.  Couchepin,  presente  par  le  Confedere.  Neuchätel  hesite  entre 
M.  Pettavel  et  M.  Calame.  Les  jeunes-radicaux  genevois  semblent 
ne  pas  renoncer  ä  la  candidature  Rosier;  et  d'autres  encore  reser- 
vent  (dit-on),  pour  le  dernier  moment,  une  candidature  Char- 
bonnet.  M.  von  Planta  s'efface  devant  M.  Calonder,  et  c'est  un 
geste   chevaleresque  ä  remarquer  tout  particulierement. 

Verrons-nous  surgir  d'autres  candidatures  encore?  C'est  tres 
possible,  puisque  nos  hommes  politiques  semblent  avoir  perdu 
le  sens  de  l'orientation.    D'oü  provient  ce  foisonnement  inusite? 

La  Suisse  romande  estime  que  M.  Motta  represente  au  Con- 
seil Federal,  non  le  Tessin,  mais  la  minorite  catholique,  et  des 
lors,  eile  demande  ä  avoir,  ä  cote  de  M.  Decoppet,  un  deuxieme 
representant.  En  admettant  que  ces  premisses  soient  justes,  il 
importait  de  se  mettre  d'accord  sur  le  nom  d'un  candidat  de 
valeur  indiscutable;  si  la  Suisse  romande  avait  presente  M.Eu- 
gene Borel,  l'election  etait  assuree;  mais  M.  Borel,  ne  Neuchäteiois 
et  habitant  Geneve ,  est  un  „deracine" ;  defaut  physique,  auquel 
s'ajoute  cette  tare  morale:  de  n'etre  pas  aveuglement  soumis  ä 
la  discipline  radicale.  Voilä  pourquoi  on  a  ecarte  d'emblee  un 
homme  de  tres  grande  valeur  .  .  .  Resultat?  le  gächis.  M.  Peter, 

257 


inconnu  en  dehors  de  Qeneve,  n'a  aucune  chance  de  reussir; 
M.  Audeoud,  de  premier  ordre  comme  homme  et  comme  chef 
militaire,  n'a  point  encore  accepte  de  candider  contre  M.  Calon- 
der,  et  reconnait  lui-meme,  avec  une  belle  franchise,  que  ses 
soixante  ans  sont  un  obstacle  serieux.  Le  nom  de  M.  Couche- 
pin  est-il  presente  avec  son  consentement?  La  candidature  est  cer- 
tainement  interessante,  tres  sympathique;  il  ne  faut  pas  la  perdre 
de  vue;  mais  dans  les  circonstances  presentes,  eile  a  peu  de  chan- 
ces.  —  En  resume:  la  Suisse  romande  ecarte,  sans  discussion, 
Thomme  le  plus  qualifie,  qui  serait  M.  Borel ;  et  eile  eparpille 
ses  voix  sur  six  ou  sept  candidats.  Si  ia  Suisse  allemande  choisit 
ailleurs,  la  faute  n'en  sera  vraiment  pas  ä  eile. 

Du  reste,  les  premisses  posees  plus  haut  sont-elles  bien 
exactes?  M.  Motta  ne  represente-t-il  que  la  minorite  catholique? 

Le  Vaterland  l'affirme,  et  se  trouve  d'accord,  pour  une  fois, 
avec  le  Journal  de  Geneve;  mais  pour  des  raisons  tres  differen- 
tes.  Le  caractere  et  la  grande  intelligence  de  M.  Motta  lui  don- 
nent  certainement  une  autre  notion  de  ses  devoirs  actuels;  il  peut 
fort  bien  defendre  les  interets  legitimes  d'une  minorite  sans 
s'enfermer  dans  cette  minorite;  et  il  me  parait  qu'il  represente, 
d'une  fa^on  tout  ä  fait  remarquabie,  la  mentalite  latlne  au  Conseil 
Federal ;  on  grandit  les  hommes  en  faisant  appe!  ä  ce  qu'ils  ont 
de  plus  hautet  de  plus  libre;  voir  en  M.  Motta  exclusivement  le 
Tessinois  et  le  catholique,  c'est  contredire  etrangement  la  recep- 
tion  faite  en  mars  au  poete  Chiesa,  c'est  pratiquer  des  idees 
etroites  et  intolerantes,  funestes  ä  l'idee  suisse. 

De  fait,  la  Suisse  latine  a  deux  representants  au  Conseil 
Federal;  je  voudrais  qu'elle  en  eut  trois  et  je  vais  plus  loin  en- 
core: ä  toutes  les  raisons  organiques  qui  parlent  en  faveur  d'un 
Conseil  de  neaf  membres,  s'ajoute  cette  raison  pratique  qu'une 
repartition  plus  equitable  des  Sieges  en  serait  tres  facilitee.  Dans 
un  Conseil  de  neuf  membres,  les  cinq  cantons  ä  grandes  villes 
devraient  etre  toujours  representes,  s'ils  ont  les  hommes  neces- 
saires  (Bäle,  Berne,  Qeneve,  Vaud,  Zürich);  et  les  quatre  autres 
Sieges  serviraient  ä  equilibrer  la  representation  des  minorites, 
langues  et  regions.  Avec  le  Systeme  de  sept  membres  on  se  heurte 
fatalement  ä  des  difficultes,  qui  sont  ressenties  par  quelque  region 
comme  autant  d'injustices. 

L'an  dernier,  lors  de  la  succession  Deucher,  M.  Calonder 
etait  dejä  en  premiere  ligne,  et  l'election  de  M.  Schulthess  fut  une 

258 


surprise.  li  n'y  a  pas  lieu  de  revenir  sur  les  'details  de  cette  sur- 
prise,  si  ce  n'est  pour  constater  que  les  Grisons  ont  ete  froisses 
par  le  mode  de  proceder  plus  encore  que  par  l'echec  de  leur  can- 
didat;  ils  ont  manifeste  leur  colere  bruyamment,  et  ils  ont  meme 
boude ;  dans  la  vie  politique,  la  bouderie  est  une  taute  plus  grave 
encore  que  dans  la  vie  individuelle;  mais  enfin,  le  fait  essentiel  c'est 
que  les  titres  indiscutables  de  M.  Calonder  n'ont  pas  varie  depuis 
un  an.  Lui  reprocher  son  vote  dans  l'affaire  du  Gothard,  ou 
combattre  en  sa  personne  le  projet  du  Splugen,  c'est  un  vilain 
procede.  II  Importe  que  le  Splugen  se  discute  loyalement,  au 
grand  jour,  et  non  au  scrutin  secret  d'une  election.  Les  affaires 
de  chemins  de  fer  introduisent  chez  nous  des  moeurs  de  suspi- 
cion  et  des  ostracismes  indignes  d'une  saine  democratie.  On 
parle  de  quelque  Outsider  de  la  Suisse  allemande  qui,  au  dernier 
moment,  distancerait  M.  Calonder;  je  me  refuse  ä  admettre  la  pos- 
sibilite  d'une  pareille  manoeuvre. 

Malheur  ä  nous,  si  nos  deputes  en  arrivaient  ä  oublier  les 
regles  elementaires  qui  doivent  determiner  le  choix  d'un  conseiller 
federal:  En  premiere  ligne,  la  valeur  morale  et  intellectuelle  de 
Thomme;  ensuite,  l'equilibre  entre  la  Suisse  allemande  et  la  Suisse 
latine;  en  dernier  lieu,  les  interets  regionaux.  Voilä  les  principes; 
le  reste,  c'est  de  la  cuisine. 

Cela  etant,  la  Situation  se  debrouille:  M.  Borel  n'est  pas 
porte ;  M.  Audeoud,  d'ailleurs  trop  äge,  a  declare  ne  pas  candider 
contre  M.  Calonder;  M.  Couchepin  estaffaibli  par  lesefforts  qu'on 
fait  pour  d'autres.     II  ne  reste  vraiment  que  M.  Calonder. 

II  faut  souhaiter  que  la  Suisse  fran<;aise  fasse  un  de  ces 
gestes  genereux  que  la  Republique  demande  tour  ä  tour  ä  cha- 
cun  de  ses  enfants;  geste  de  renoncement,  dur  ä  l'amour-propre, 
mais  profitable  ä  la  patrie  entiere.  Entre  Suisses  ne  faisons  pas 
trop  d'arithmetique,  mais  pretons-nous  les  uns  aux  autres.  Rabe- 
lais ecrivait  en  1546:  „De  cestuy  monde  rien  ne  prestant,  ne 
sera  qu'une  chienerie  .  .  .  Entre  les  humains.  Tun  ne  sauvera 
l'autre:  il  aura  beau  crier  ä  l'aide,  au  feu,  ä  I'eau,  au  meurtre, 
personne  n'ira  ä  secours.  Pourquoi?  11  n'avait  rien  prete,  on  ne 
lui  devait  rien.  Bref,  de  cestuy  monde  seront  bannies  Foi,  Espe- 
rance,  Charite:  car  les  hommes  sont  nes  pour  l'aide  et  secours 
des  hommes." 

ZÜRICH  E.  BOVET 

DD  D 


259 


BETRACHTUNGEN  ZUR  ANNAHME 
DES  GOTTH ARDVERTRAGS 

(Schluss.) 
EISENBAHNVERSTAATLICHUNG  UND  ALPENBAHNEN 

Man  hat  in  letzter  Zeit  oft  ein  Wort  des  1894  verstorbenen 
Bundesrats  Schenk  angeführt:  „Das  Ausland  wird  uns  nicht  durch 
Waffen  unterwerfen,  —  die  Verträge  werden  uns  erwürgen.'* 

An  diesem  Wort  ist  gewiss  etwas  Wahres  und  diese  Erkennt- 
nisliegt ja  auch  der  Staatsvertragsinitiative  zu  Grunde.  Daran  ist  aber 
nicht  das  Ausland,  sondern  der  UmstandSchuld,  dass  es  in  der  Schweiz 
immer  schwerer  hält,  große  Entscheidungsfragen  anders  als  vom 
engen  Gesichtspunkt  der  Regional-  oder  Parteipolitik  zu  beurteilen. 
Das  hat  man  nun  beim  Gotthard-  und  Simplonvertrag  wie  bei 
Anlass  der  Verstaatlichung  der  Eisenbahnen  zur  Genüge  erfahren. 
Das  Wort  von  Bundesrat  Schenk  macht  die  Forderung  noch  be- 
rechtigter, das  Volk  selbst  solle  sein  Bestimmungsrecht  bei  wichti- 
gen Verträgen  nicht  an  eine,  gerade  bei  Eisenbahnfragen  in  der 
Hauptsache  mehr  von  regionalen  und  parteipolitischen  Gesichts- 
punkten geleitete  Bundesversammlung  endgültig  abtreten,  sondern 
sich  das  letzte  Wort  selbst  wahren. 

Es  wäre  ungerecht,  die  wenig  erbauliche,  durch  Simplon- 
und  Gotthardvertrag  entstandene  heutige  Lage  einfach  auf  die 
Eidgenössischen  Räte  abschieben  zu  wollen.  Die  Grundlage,  dass 
Verträge  wie  der  Simplon-  und  der  Gotthardvertrag  überhaupt 
entstehen  konnten,  bildet  die  vom  Volk  1898  mit  großem  Mehr 
genehmigte  Verstaatlichung  der  schweizerischen  Hauptbahnen, 
eine  Tatsache,  die  sich  jedenfalls  für  die  innerpolitische  und 
finanzielle  Unabhängigkeit  der  Schweiz  bis  jetzt  nicht  als  so  glück- 
lich erwies,  als  man  uns  damals  glauben  gemacht  hat. 

Es  fällt  uns  trotzdem  nicht  ein,  die  uns  in  unsrer  Bewegungs- 
freiheitstark einengenden  Verträge  über  Simplon-  und  Gotthard  ohne 
weiteres  in  das  Schuldbuch  der  Eisenbahnverstaatlichung  zu 
schreiben.  Man  hätte  zum  Beispiel  nur  die  Verstaatlichung  der 
Gotthardbahn  hinausschieben  oder  sie  vorsichtiger  betreiben  sollen, 
so  hätte  sie  keinerlei  Störungen  verursacht.  Das  ist  heute  klar 
nachgewiesen. 

260 


Wir  betonen  nur,  dass  jene  Recht  gehabt  haben,  die  als  Folge 
der  Verstaatlichung  Situationen  vorausgesehen  haben,  denen  sich 
die  Führer  des  Landes  möglicherweise  nicht  gewachsen  zeigen 
könnten.  Das  war  ein  Hauptgrund,  warum  man  einst  unter  Führung 
von  Numa  Droz  energisch  Stellung  gegen  die  Verstaatlichung 
genommen  hat.  Auch  der  Schreiber  dieser  Zeilen  gehörte  zu  den 
Schuldigen.  Bundesrat  Forrer  hat  im  Nationalrat  auf  eine  Schrift 
von  1897  gegen  den  Rückkauf  Bezug  genommen,  worin  geschrie- 
ben steht: 

Die  Annahme  der  Rückkaufsvorlage  ist  mit  Recht  als  ein  Sprung  ins 
Dunkle  bezeichnet  worden.  Sie  bringt  uns  in  eine  sichere  dauernde  Ver- 
schuldung gegenüber  dem  Ausland,  sie  gefährdet  unsere  finanzpolitische 
und  in  Zeiten  der  Not  sogar  die  politische  Unabhängigkeit,  sie  begünstigt 
das  politische  Strebertum  und  eine  ungesunde  wirtschaftliche  und  finanzielle 
Abhängigkeit  der  Kantone  vom  Bunde,  welche  die  Kantone  allmählich  ihrer 
Würde  entkleidet  und  ihnen  alle  Selbständigkeit  nimmt." 

Dazu  bemerkte  Bundesrat  Forrer: 

Zur  Begründung  dieses  Verdammungsurteils  ist  aber  in  allen  voraus- 
gehenden 184  Druckseiten  mit  keinem  Worte  der  besondern  Stellung  der 
Gotthardbahn  und  der  daraus  entstehenden  Schwierigkeiten  Erwähnung 
getan. 

Man  muss  zugeben,  dass  dazu  Anlass  vorhanden  gewesen 
wäre,  vollends  nach  den  Worten  von  Ständerat  Isler  bei  der 
Verstaatlichungsdebatte.     Er  bemerkte  unter  anderm: 

Für  mich  war  von  Anfang  an  klar,  dass  die  vier  Hauptlinien  Jura^ 
Simplonbahn,  Zentralbahn,  Nordostbahn  und  Vereinigte  Schweizerbahnen 
in  dem  Rückkaufsprogramm  zu  stehen  haben.  In  bezug  auf  die  Gotthard- 
bahn lag  für  mich  die  Sache  -nicht  so  einfach. 

Warum  ich  von  der  Gotthardbahn  rede.geschieht  aus  folgendem  Grunde. 
Es  war  früher  eine  Art  Rätsel,  ob  man  den  Gotthard  verstaatlichen  könne 
oder  nicht,  ob  Staatsverträge  da  entgegenstehen  oder  nicht.  Wer  sich  nicht 
näher  mit  der  Sache  befasste,  hatte  das  Gefühl,  es  gehe  nicht  wohl  an. 
Man  dachte  an  die  Subventionen,  die  die  Staaten  leisteten,  und  sagte, 
die  Schweiz  könne  dieselben  doch  nicht  wohl  zurückzahlen.  Später  kam 
man  dahin,  zu  erklären :  es  geht  viel  leichter,  als  man  glaubte:  die  Schwie- 
rigkeit, die  man  voraussetzte,  ist  im  Grunde  nicht  vorhanden,  und  ich  gebe 
gerne  zu,  dass  in  dieser  Beziehung  die  Botschaft  die  Bedenken  ziemlich 
zerstreut  und  die  Sache  sich  für  einen,  der  logisch  und  juristisch  die  An- 
gelegenheit sich  zurecht  legt,sehr  vereinfacht.         -  -  •    • 

Nun  bin  ich  für  mich  nicht  ganz  sicher,  ob  bezüglich  der  Subventionen 
das  das  letzte  Wort  sein  kann  oder  sein  wird,  dass  man  einfach  eine  ge- 
trennte Verwaltung  einführt  und  alles  im  übrigen  beim  Alten  lässt,  und  ob 
wirklich  die  am  Staatsvertrag  Beteiligten  sich  damit  zufrieden  geben.  Ich 
weiß  darüber  gar  nichts;   aber  mir  ist,   der   Bundesrat  sollte  uns  darüber 

261 


eine  Aufklärung  geben,  jetzt  oder  später,  ob  man  in  dieser  Beziehung  auf 
keine  Schwierigkeiten  stoße.  Denn  Schwierigkeiten,  die  sich  aus  dem 
Staatsvertrag  ergeben  würden,  könnten  wir  von  uns  aus  nicht  lösen. 

Mat  hat  den  Herren  Isler  und  Berthoud  das  Gutachten  der 
Herren  Speiser,  Scherz,  Ador  und  Comtesse  entgegengehalten  und 
die  Gemüter  zu  beruhigen  gesucht.  Es  war  wirkhch  nicht  die 
Aufgabe  der  Gegner  der  Verstaatlichung,  die  jede  Verstaatlichung 
bekämpften,  auch  die  der  Gotthardbahn,  noch  die  Verstaatlichungs- 
mögllchkeit  der  Gotthardbahn  zu  untersuchen.  Wir  geben  aber 
gerne  zu,  dass  sich  über  die  Frage  des  Rückkaufs  der  Gotthardbahn 
alle  getäuscht  haben :  juristische  Subkommission,  Bundesrat,  Eid- 
genössische Räte,  Freunde  und  Gegner  der  Eisenbahn  Verstaat- 
lichung, sonst  wäre  dieser  Kernpunkt  im  Kampfe  für  und  gegen 
die  Eisenbahnverstaatlichung  viel  mehr  ausgenützt  worden.  Inso- 
fern war  der  Einwurf  des  Herrn  Forrer  nicht  ganz  unbegründet. 

Im  übrigen  aber  ist  zu  sagen:  Noch  nie  ist  die  ungesunde 
wirtschaftliche  und  finanzielle  Abhängigkeit  der  Kantone  vom 
Bund  als  indirekte  Folge  der  Eisenbahnverstaatlichung  klarer  vor 
Augen  getreten  als  während  der  Beratung  des  Gotthardvertrages. 
Und  nicht  minder  die  Gefährdung  der  politischen  Unabhängigkeit. 
Der  Simplon-  und  der  Gotthardvertrag  haben  es  vollauf  gerechtfertigt, 
wenn  die  Eisenbahnverstaatlichung  als  „ein  Sprung  ins  Dunkle" 
bezeichnet  wurde.  Es  scheint  am  Platz,  diesen  Punkt  näher  zu 
erörtern.  Er  gehört  zu  den  wichtigsten  Erscheinungen,  die  bei 
Anlass  der  Beratung  des  Gotthardvertrags  zu  Tage  getreten  sind. 


Wenn  man  über  die  Folgen  der  Eisenbahnverstaatlichung 
urteilen  will,  so  muss  man  zwei  Dinge  klar  auseinanderhalten: 
die  politi.schen  und  finanzpolitischen  Wirkungen  nach  innen  und 
außen  einerseits,  und  anderseits  das  wirtschaftliche  Verkehrsergebnis 
für  das  Innere  der  Schweiz.  Es  gibt  Leute,  die  es  fast  als  ein 
Vergehen  betrachten,  wenn  man  die  Frage  der  Zweckmäßigkeit 
der  Eisenbahnverstaatlichung  heute  überhaupt  noch  aufwirft.  Auch 
Herr  Forrer  scheint  aus  diesem  Gefühl  heraus  gesprochen 
zu  haben. 

Bevor  wir  auf  die  politische  Seite  eintreten,  mögen  einige 
Worte  über  das  wirtschaftliche    Ergebnis  folgen,   das   unter  Um- 

262 


ständen  ja  so  groß  sein  kann,  dass  man  auch  Einbußen  auf  einem 
andern,  dem  politischen  Gebiet  verschmerzen  kann. 

Der  abgetretene  Präsident  der  Generaldirektion  der  Bundes- 
bahnen, Herr  Weißenbach,  hat  das  wirtschaftliche  Ergebnis  der 
Eisenbahnverstaatlichung  im  Archiv  für  Eisenbahnwesen  1912, 
Heft  4  und  5,  einer  Besprechung  unterzogen.  Er  gelangt  zu 
den  nicht  sehr  ermutigenden  Schluss: 

Bei  vorsichtiger  Geschäftsführung  ist  die  Lage  der  Bundeshahnen 
auch  für  die  Zukunft  als  gesichert  zu  betrachten,  und  es  sind  die  großen 
volkswirtschaftlichen  Vorteile  der  Verstaatlichung  ohne  finanzielle  Opfer 
erreicht  worden. 

Er  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  in  den  ersten  zehn  Jahren 
der  Verwaltungstätigkeit  der  Bundesbahnen  sehr  viel  erreicht 
worden  ist.  Die  große  und  verdienstliche  Arbeit,  die  in  den  letzten 
Jahren  von  General-  und  Kreisdirektionen  für  die  finanzielle  Re- 
konstruktion der  Bundesbahnen  geleistet  wurde,  hat  die  gebührende 
Anerkennung  gefunden.  Aber  das  berechtigt  nicht  zu  der  im 
Schlußsatz  der  besprochenen  Abhandlung  enthaltenen  Annahme, 
dass  das  Ziel,  das  man  bei  der  Verstaatlichung  im  Auge  hatte: 
Die  Schwdzerb ahnen  dem  Schweizervolk!  schon  erreicht  sei. 

Die  Bundesbahnen  haben  ihre  Aufgabe  in  erster  Linie  gegen- 
über ihrem  Personal  erfüllt.  Der  Referent  der  ständigen  Kommis- 
sion hat  in  einer  der  letzten  Verwaltungsratssitzungen  ausdrücklich 
betont,  dass  „mit  diesen  Zugeständnissen  die  Grenze  erreicht  sei, 
bis  zu  welcher  das  Wohlwollen  gegenüber  dem  Personal  mit 
Rücksicht  auf  die  finanzielle  Lage  der  Bundesbahnen  ausgedehnt 
werden  dürfe.  Allen  weitergehenden  Postulaten  der  Personalver- 
bände, welche  noch  aufrecht  erhalten  werden  sollten,  müsste  des- 
halb die  ständige  Kommission  entgegentreten". 

Den  Hauptvorteil  von  der  Verstaatlichung  hatte  also  ganz 
entschieden  bis  heute  das  Personal.  Die  Besoldungsfragen  bildeten 
neben  den  Baufragen  der  Hauptgegenstand  der  Beratungen  des 
Verwaltungsrates  und  die  Darstellung  dessen,  was  alles  auf  diesem 
Gebiete  geleistet  worden  ist,  nimmt  einen  wesentlichen  Teil  der 
erwähnten  Arbeit  in  Anspruch.  Eine  richtige  Behandlung  des 
Personals  liegt  ja  auch  im  Interesse  eines  jeden  Geschäftes,  das 
leistungsfähig  sein  will,  und  vor  allem  einer  Verkehrsanstalt.  Aber 
zu  den  volkswirtschaftlichen  Aufgaben,  derentwegen  man  geglaubt 

263 


hat  verstaatlichen  zu  müssen,  hat  die  Personalfrage  nicht  gehört; 
denn  die  Leistungen  der  Qotthardbahn  hat  man  auch  heute  erst 
knapp  erreicht  und  das  Personal  hätte  sich  dank  seinen  starken 
Verbänden  auch  ohne  Verstaatlichung  geholfen. 

Auch  das  Lokomotiv-  und  Wagenmaterial  ist  bedeutend  besser 
geworden.  Man  hat  viele  wertvolle  Zugsverbindungen  eingeschaltet, 
große  Bahnhofumbauten  sind  oder  werden  ausgeführt;  neue  Linien 
mussten  allerdings  so  zu  sagen  keine  erstellt  werden.  Das  rei- 
sende Publikum  hat  unbestritten  viel  gewonnen. 

Damit  soll  nicht  gesagt  werden,  dass  die  Privatbahnen  viel 
weniger  getan  hätten  oder  hätten  tun  müssen,  hätten  sie  kon- 
kurrenzfähig bleiben  wollen;  eine  richtige  Kontrolle  für  Instand- 
haltung der  Bahnen  und  der  Bahnhöfe  von  Bern  aus,  woran  es 
vor  der  Verstaatlichung  mehr  mit  als  ohne  Absicht  bedenklich 
gehapert  hat,  hätte  ein  übriges  getan. 

Viel  zu  wenig  von  der  Verstaatlichung  gespürt  haben  bis 
heute  Industrie  und  Handel,  die  in  der  Hauptsache  immer  noch 
die  alten  hohen  Tarife  bezahlen;  die  Reorganisation  der  Güter- 
tarife ist  eine  Aufgabe,  die  erst  noch  gelöst  werden  muss.  Die 
Verstaatlichung  hatte  nur  einen  wirtschaftlichen  Sinn,  wenn  man 
energisch  entschlossen  war,  die  ohnehin  schwierige  Exporttätig- 
keit durch  angemessene  Tarife  zu  unterstützen  und  dem  internen 
Handel  und  der  Fabrikation  aufzuhelfen.  Das  ist  bis  jetzt  nur 
in  ganz  ungenügendem  Maß  geschehen.  Die  Schweiz  hat  bis  zur 
Stunde  immer  noch  fast  durchgehend  viel  höhere  interne  Güter- 
tarife als  die  uns  umgebenden  Staaten.  Der  Tonnenkilometer 
kostet  durchschnittlich  in  der  Schweiz  8  Rappen,  auf  den  preußi- 
schen und  hessischen  Staatsbahnen  4,5  Rappen,  in  Frankreich 
zirka  4  Rappen. 

Was  auf  diesem  Gebiet  noch  zu  leisten  wäre,  ist  durch  die 
Bewegung  zu  gunsten  der  Rheinschiffahrt  und  der  Förderung  der 
südlichen  Getreidezufahrten  zur  Genüge  gezeigt  worden  {Wissen 
und  Leben,  Bd.  XI,  S.  513,  1.  Februar  1913:  Brotversorgung  der 
Schweiz  und  Rheinschiffahrt).  Und  was  man  gegenüber  den  so- 
genannten schweren  Industrien,  wie  Granit,  alles  bis  jetzt  nicht 
getan  hat,  ist  in  letzter  Zeit  ebenfalls  vor  aller  Öffentlichkeit  laut 
geworden  anlässlich  der  Verhandlungen  über  den  Zusammenbruch 

264 


der  tessinischen  Qranitwerke,  an  dem  allerdings  nicht  nur  un- 
günstige Frachtenverhältnisse  mitgewirkt  haben.  '  '' 

Aus  diesen  wenigen  aber  wichtigen  Erscheinungen  geht  allein 
schon  mit  aller  Klarheit  hervor,  dass  man  nicht  das  Recht  hat, 
zu  sagen,  die  großen  volkswirtschaftlichen  Vorteile  der  Verstaat- 
lichung seien  erreicht  worden. 

Jedenfalls  sind  sie  bis  jetzt  nicht  so  groß,  dass  man  die  politi- 
schen Nachteile  darob  vergessen  könnte. 


Diese  politischen  Nachteile  nun  sind  derart,  dass  unter  allen 
Umständen  festgestellt  werden  muss,  dass  die  Eisenbahnverstaat- 
h'chung  die  staatsrechtliche  Stellung  der  Schweiz  nicht  verbessert 
sondern  verschlechtert  hat.  Dazu  ist  kein  langer  Kommentar  er- 
forderlich. Man  braucht,  abgesehen  vom  Gotthardvertrag,  nur 
auf  die  keineswegs  harmlose  Milliardenverschuldung  gegenüber 
Frankreich  hinzuweisen  und  auf  den  fatalen  Slmplonvertrag,  der 
die  Schweiz  unter  anderm  zwingt,  einen  zweiten  Tunnel  zu  bauen, 
ob  sie  will  oder  nicht. 

Auch  die  internen  politischen  Gefahren,  die  durch  die  Ver- 
staatlichung geschaffen  worden  sind,  darf  man  nicht  gering  an- 
schlagen. Sie  bestehen  darin,  dass  die  maßgebenden  Politiker 
jederzeit  über  ein  großes  Beamtenheer  verfügen  können,  wenn 
sie  ihm  nur  die  nötigen  Konzessionen  machen.  Es  sei  an  die 
letzte  Versicherungskampagne  erinnert,  wo  man  in  ungesetzlicher 
Weise  den  Eisenbahnern  noch  kurz  vor  der  Abstimmung  Zusagen 
gemacht  hat,  zu  denen  man  gar  nicht  berechtigt  war,  bloß  um 
einer  Vorlage  durchzuhelfen,  die  sie  sonst  hätten  verwerfen  müssen. 
So  wird  man  auch  in  Zukunft  vorgehen.  Die  Politik  und  Popu- 
laritätssucht haben  auch  im  Schöße  des  Verwaltungsrats  der 
Bundesbahnen  hin  und  wieder  eine  viel  zu  große  Rolle  gespielt, 
die  nicht  zum  Nutzen  der  Bundesbahnen  war. 

Das  sind  allerdings  Begleiterscheinungen,  die  man  mit  der 
Verstaatlichung  ohne  weiteres  in  den  Kauf  nehmen  musste,  ebenso 
den  Umstand,  dass  durch  die  infolge  der  Verstaatlichung  ent- 
stehende Abhängigkeit  vieler  Regierungen  vom  Bund  die  politi- 
schen Minderheiten  politisch  zum  Teil  entwurzelt  werden,  was 
sich  auch  seither  zur  Genüge  bewahrheitet  hat. 

265 


Man  braucht  alle  diese  Punkte  bloß  anzudeuten,  um  sich 
klar  zu  werden,  dass  heute  jedenfalls  noch  nicht  der  Moment  da 
ist,  um  über  Licht-  und  Schattenseiten  der  Eisenbahnverstaatlichung 
das  Endurteil  zu  fällen,  sowie  darüber,  ob  sie  der  Schweiz  zum 
Segen  oder  Unsegen  gereiche.  Man  kann  nur  sagen,  die  Bundes- 
bahnbehörden haben  die  Aufgabe  der  Verstaatlichung  so  gut  als 
möglich  gelöst,  und  so  weit  es  die  Generaldirektion  betrifft,  ist 
dies  geschehen,  ohne  nach  rechts  oder  links  zu  schauen.  Die 
Bundesbahnbehörden  und  vor  allem  die  General-  und  Kreisdirek- 
tionen haben  wesentliche  Erfolge  aufzuweisen;  aber  dass  sie  am 
Ziel  der  Aufgabe  auch  nur  annähernd  angelangt  seien,  davon  ist  gar 
keine  Rede.  Über  diesen  Punkt  kann  man  dann  vielleicht  einmal 
in  zehn  Jahren  reden,  wann  man  sieht,  was  die  Bundesbahnen 
für  die  Hebung  der  Exporttätigkeit  des  internen  Handels  und  der 
Fabrikation,  sowie  für  die  Lösung  der  großen  wirtschaftlichen 
Fragen  des  Landes  (Brot-  und  Kohlenversorgung,  Rheinschiffahrt 
usw.)  mit  und  ohne  Hilfe  des  Bundes  geleistet  haben,  und  wann 
die  Gotthard-,  Simplon-  und  Ostalpenfrage  sich  noch  mehr  ab- 
geklärt haben  werden. 


Diese  Erörterungen  haben  lediglich  den  Zweck,  dass  man 
sich  über  den  Stand  der  Dinge  klar  werden  soll.  Die  großen  Ge- 
fahren, die  für  ein  demokratisches  Staatswesen  die  Verstaatlichung 
der  Hauptbahnen  und  die  damit  in  Zusammenhang  stehenden 
Alpenbahnverträge  bedeuten,  sind  während  der  Verhandlungen 
über  den  Gotthard  vertrag  fast  mit  erschreckender  Deutlichkeit  zu- 
tage getreten. 

Über  die  Simplon-  und  Gotthardverträge,  die  mit  der  Eisen- 
bahnverstaatlichung zusammenhängen,  braucht  man  nicht  weiter 
zu  reden.     Darüber  ist  genügend  geschrieben  worden. 

Auch  der  alte  Gotthardvertrag  hätte  die  Schweiz  dank  der 
Verstaatlichung  in  eine  Abhängigkeit  für  den  Verkehr  von  Nord 
nach  Süd  gebracht.  Die  Frage  war  nur,  bei  welchem  Vertrag 
die  Interessen  und  die  Würde  der  Schweiz  am  wenigsten  verletzt 
werden.  Baut  man  noch  den  Splügen,  wozu  natürlich  ein  Staats- 
vertrag mit  Italien  gehört,  einerlei,  ob  der  Bund  die  Bahn  baute 
oder  nicht,  dann  ist  die  eisenbahnpolitische  Einkreisung  der  Schweiz 

266 


vollendet.  Es  dürfte  dann  mehr  als  wahr  werden,  was  Professor 
Burkhardt  im  „Pohtischen  Jahrbuch"  sagt:  „Berechtigte  Sorge  be- 
reitet die  Einsicht,  dass  die  Schweiz  trotz  ihrer  völkerrechtlichen 
Unabhängigkeit  die  Gefahr  läuft,  durch  ihre  wirtschaftlichen  und 
personellen  Beziehungen  mehr  und  mehr  in  die  tatsächliche  Ab- 
hängigkeit ihrer  mächtigeren  Nachbarn  zu  geraten." 

Beunruhigend  ist  ferner,  dass  sich  die  Schweiz  als  Folge  der 
Eisenbahnverstaatlichung  immer  mehr  in  drei  Alpenbahnregionen 
scheidet,  die  alle  möglichst  viel  von  den  Bundesbahnen  begehren: 
die  Lötschbergregion,  die  Ostalpenbahnregion,  und  in  der  Mitte 
hat  die  Vereinigung  der  Gotthardfreunde  eine  Verteidigungsstellung 
bezogen,  die  sehr  viel  besagt.  In  dieser  Erscheinung  liegt  die 
größte  Gefahr  für  unser  Land  und  für  die  Unabhängigkeit  des 
Parlamentes.  Sie  erklärt,  warum  die  große  Mehrheit  nach  rein 
regionalen  Gesichtspunkten  in  Sachen  des  Gotthardvertrages  ge- 
stimmt hat,  wenn  man  auch  die  nationalen  Gesichtspunkte  in 
den  Vordergrund  schob.  Wir  fürchten,  es  wird  nicht  besser 
werden,  sondern  die  wirtschaftlichen  Gegensätze  dürften  sich  noch 
schärfer  gestalten. 

Auch  die  Freunde  der  Ostalpenbahn  haben  bei  der  Gotthard- 
vertragsdebatte  ihre  Kampfstellung  mit  aller  Energie  bezogen. 
Wir  können  nicht  umhin,  mit  Rücksicht  auf  die  nächste  Entwick- 
lung der  Dinge  in  Sachen  von  Eisenbahnverstaatlichung  und  Alpen- 
bahnen auf  die  gemachten  Feststellungen  hinzuweisen.  Zunächst 
hat  sich  der  Chef  des  Eisenbahndepartements  wie  folgt  geäußert: 

Herr  Calonder  hat  in  der  Kommission  des  Ständerates  seine  Bedenken 
mit  Bezug  auf  den  vorliegenden  Vertrag  geltend  gemacht  und  gewisse 
Fragen  gestellt,  ihm  hat  unter  andern  der  Sprechende  geantwortet,  und 
zwar  was?  Ich  habe  erklärt,  dass  er  nach  meinen  Begriffen  die  Sache,  der 
er  einen  großen  Teil  seiner  Zeit,  ja  seines  Lebens  gewidmet  habe  und 
widme,  nicht  fördere,  wenn  er  gegen  den  Gotthardvertrag  auftrete,  weil  ja 
unzweifelhaft  von  der  Anhandnahme  der  Frage,  die  ihn  beschäftigt,  keine 
Rede  sein  könne,  bevor  die  Gotthardfrage  erledigt  sei.  Ich  fügte  bei,  dass 
er  um  so  mehr  annehmen  könne,  es  sei  mir  mit  dieser  Bemerkung  ernst, 
als  ich,  wie  er  ja  ganz  genau  und  seit  vielen  Jahren  wisse,  mit  den  Be- 
strebungen, für  die  er  einstehe,  durchaus  sympathisiere  .  .  . 

Auch  der  erste  Berater  des  Herrn  Forrer,  Herr  Pestalozzi, 
Chef  der  verwaltungstechnischen  Abteilung,  hat  sich  schon  längst 
als  Anhänger  der  Splügenbahn  bekannt.  Das  Eisenbahndeparte- 
ment hat  also  mit  der  Erklärung  seines  Chefs  mehr  oder  weniger 

267 


Stellung  genommen,   nicht  aber  der  Bundesrat.     Herr  Schulihess 

äußerte  sich : 

In  Beziehung  auf  die  Ostalpenbahn  möchte  ich  nicht  ermangeln,  noch 
diejenige  Erklärung  zu  wiederholen,  die  ich  bereits  im  Nationalrate  im 
Namen  des  Bundesrates  abgegeben  habe.  Der  Bundesrat  hat,  solange  ich 
ihm  angehöre,  und  auch  vorher,  so  viel  ich  weiß,  nie  ein  Wort  über  Greina 
oder  Splügen,  nie  ein  Wort  über  das  System  Staatsbahn  oder  Privatbahn 
verhandelt. 

Die  Herren  Raschein  und  Calonder  haben,  was  nicht  zu  ver- 
wundern ist,  den  Anlass  benutzt,  um  in  den  beiden  Räten  für  die 
Splügenlinie  Propaganda  zu  machen.  Herr  Raschein  bemerkte 
unter  anderm: 

Wir  haben  also  den  neuen  Gotthardverträg  von  den  zwei  großen  Ge- 
sichtspunkten aus  zu  betrachten:  Erstens  kann  er  vom  eidgenössischen 
Standpunkt  aus  und  zweitens  kann  er  vom  Splügenstandpunkt  aus  an- 
genommen werden  .  .  . 

Dagegen  hat  Herr  Bundesrat  Forrer  gesagt,  für  den  Bau  der  Ost- 
alpenbahn sei  ein  Bundesgesetz  nötig,  das  dem  Referendum  zu  unterstellen 
sei.  Dagegen  müssen  wir  Einsprache  erheben.  Der  Bund  mag,  wenn  er 
will,  den  Splügen  selber  bauen;  wenn  aber  etwa  die  Absicht  bestände,  mit 
Bundesgesetz  und  Referendum,  mit  Volksabstimmung,  wie  auch  schon  ge- 
droht worden  ist,  unsere  Rechte  auf  eine  Splügenbahn  zu  vernichten,  so 
müssen  wir  dagegen  Protest  erheben.  Art.  3.  des  Eisenbahngesetzes  von 
1872  und  der  Kompromiss  von  1878  besteht  auch  für  das  Volk. 

Die  gegnerische  Seite  im  Ständerat  vertrat  Heinrich  Scherren 

Ein  Redner  für  den  Vertrag  hat  die  Ostalpenbahn  mit  dem  Splügen 
identifiziert  und  erklärt,  der  Splügen  sei  gesetzlich  garantiert.  Das  ist 
nicht  richtig.  Gesetzlich  garantiert  ist  nicht  der  Splügen,  sondern  die  Ost- 
alpenbahn. Ich  verweise  auf  den  Text  der  gesetzlichen  Bestimmungen  im 
Eisenbahngesetz  von  1873,  im  Nachsubventionsgesetz  von  1897.  Dafür 
gibt  es  übrigens  neben  mehreren  keinen  bessern  Kronzeugen  als  Herrn 
Nationalrat  Forrer,  den  jetzigen  Bundesrat,  der  seinerzeit  bei  der  Beratung 
einer  solchen  Gesetzbestimmung /örm//cÄ  und  ausführlich  konstatiert  hat, 
ohne  widersprochen  zu  werden,  dass  unter  einer  Ostalpenbahn  auch  eine 
Linie  verstanden  werden  könne,  die  durch  das  Tessin  führe.  Im  übrigen 
dürfte  es  verfrüht  sein,  heute  diese  Frage  zu  diskutieren. 

Bemerkenswert  ist,  wie  sich  der  erste  Vertreter  der  Lötsch- 

bergbahn,  Nationalrat  Hirter,  zur  Frage  stellte : 

Von  verschiedenen  Seiten  und  auch  von  Herrn  Vizepräsident  von 
Planta  und  gestern  von  Herrn  Weber  wurde  namentlich  mit  Bezug  auf  die 
Ostalpenbahn  das  Bedenken  erhoben,  es  könnte  die  Annahme  des  Gott- 
hardvertrages  das  Zustandekommen  der  Ostalpenbahn  verhindern.  Vor 
allem  habe  ich  die  Meinung,  dass  die  Ostalpenbahn  durch  den  Bund  zu 
erstellen  ist.  Ich  habe  die  Meinung  namentlich  auch  deswegen,  weil  ich 
aus  nun  mehrjähriger  Erfahrung  das  Gefühl  bekommen  habe,  dass  es  wohl 

268 


besser  sein  wird,  wenn  der  Bund,  der  Staat  selbst,  den  Schwierigkeiten  und 
Hindernissen  eines  Bahnbaues  gegenübersteht,  als  wenn  dies  nur  eine  Pri- 
vatgesellschaft tun  muss. 

Aber  auch  mit  Rücksicht  auf  die  Tarifgestaltung  ist  es  unbedingt  not" 
wendig,  dass  der  Bund  die  Ostalpenbahn  baut;  wenn  dies  der  Fall  sein  wird, 
so  glaube  ich,  fallen  die  Bedenken,  die  mit  Bezug  auf  die  Tariffrage  erho- 
ben wurden,  dahin.  Sie  werden  wohl  alle  mit  mir  einverstanden  sein,  dass 
eine  Ostalpenbahn  nicht  im  Zeichen  des  Tarifkampfes  gebaut  werden  kann, 
sondern  dass  sie  nur  auf  dem  Wege  der  Verständigung  entstehen  wird. 
Des  Schutzes  der  Bergzuschläge  wird  sie  nicht  entbehren  können,  und 
wenn  sie  diesen  Schutz  haben  will,  bietet  der  neue  Gotthardvertrag  ihr 
mehr  Gewähr  als  der  alte  mit  seinen  veränderlichen  Bergzuschlägen. 

Wir  wollen  uns  über  diese  Feststellungen  nicht  weiter  äußern, 

wir  weisen   bloß   darauf   hin,  dass  sich  während    der  Gotthard- 

vertragsdebatte  das  kommende  Gewitter  in  der  Ostalpenbahnfrage 

bereits  mit  aller   Deutlichkeit   angekündigt   hat,   wiederum    einer 

der  „dunklen  Punkte"  der  Eisenbahnverstaatlichung,  der  ohne   sie 

kaum   oder  gar  nicht  da  wäre.    Wie  ein   Hoffnungsstern    leuchtet 

zwar  das  Wort  Calonders: 

Nun  ist  doch  klar  und  wird  durch  die  Geschichte  des  Qotthardver- 
trages  deutlich  bewiesen :  wenn  wir  nach  außen  eine  kräftige,  zielbewusste 
und  umsichtige  Eisenbahnpolitik  betreiben  wollen,  müssen  wir  nach  Innen 
einig  sein  und  die  regionalen  Gegensätze  überbrücken.  Wir  dürfen  nicht 
mehr  in  die  Lage  kommen,  infolge  von  Innern  Zwistigkeiten  schnell  ein 
Angebot  des  Auslandes  anzunehmen,  um  die  Sache  zum  Abschluss  zu 
bringen,  trotzdem  nicht  alle  Punkte  der  internationalen  Beziehungen  genau 
abgeklärt  und  im  Vertrag  genau  geregelt  sind. 

Wir  wollen  abwarten,  wie  man  im  Kanton  Graubünden  dieses 
schöne  Wort  auslegt. 

Es  rechtfertigt  sich,  unsere  Betrachtungen  mit  dem  Hinweis 
auf  die  nun  unmittelbar  bevorstehende  schwierige  Lösung  der 
Ostalpenbahnfrage  abzuschließen  und  mit  dem  Wunsch,  dass  sie 
sich  nicht  so  schwierig  gestalten  möge,  als  es  heute  den  Anschein 
hat.  An  Bedeutung  übertrifft  sie  wesentlich  die  Gotthardvertrags- 
sache,  und  erst  an  der  Art  der  Lösung  wird  offenbar  werden, 
ob  die  verhängnisvollen  Beziehungen  der  Eisenbahnverstaatlichung 
zu  unsern  Alpenbahnfragen  und  den  Alpenbahnverträgen  der 
Schweiz  nicht  endgültig  zum  Verhängnis  werden.  Vergessen  wir 
nie  das  eingangs  erwähnten  Wort  von  Bundesrat  Schenk:  „Das 
Ausland  wird  uns  nicht  durch  Waffen  unterwerfen,  —  die  Verträge 
werden  uns  erwürgen." 

BERN  J.  STEIGER 

D  D  D 

269 


DIE  FEINDSCHAFT  GEGEN  WAGNER 

EINE  GESCHICHTLICHE  UND  PSYCHOLOGISCHE 

UNTERSUCHUNG 

(Schluss) 

Was  verkündet  der  Freigewordene  gegen  Wagner?  Bizet, 
Musik,  die  „nicht  schwitzt",  Musik  ohne  Schauspielerei,  Musik  des 
Südens,  Mozart,  den  Tänzer  Zarathustra,  den  Rausch,  „Dionysos 
gegen  den  Gekreuzigten". 

Nietzsche  wiederum  sah  nicht,  und  er  war  30  Jahre  jünger 
und  hätte  es  vielleicht  leichter  sehen  können,  welches  Wagners 
Bahn  werden  musste.  Er  erwartete  eine  Umkehr,  ein  Bekenntnis 
des  Allzumenschlichen  vom  letzten  Bayreuther  Sommer.  Die 
Umkehr  kam  nicht,  sondern  eine  andere,  wenn  dies  eine  Umkehr 
war.  im  Herbst  76  spricht  in  Sorrent  Wagner  mit  Nietzsche  über 
den  Parsifal.  Wagner  ist  also  Christ  geworden!  Zwei  Jahre 
später  kreuzen  sich  zwei  Sendungen:  Nietzsche  schickt  „Mensch- 
Jiches,  Allzumenschliches"  an  Wagner,  dieser  die  Parsifaldichtung 
an  Nietzsche.     Von  da  an  verstummen  beide  für  einander. 

Kommen  sie  einander  auch  aus  dem  Sinne?  Heinrich  von 
Stein  hat  den  Eindruck,  dass  Wagner  immer  einen  Ersatz  für 
Nietzsches  Freundschaft  gesucht  hat.  Ein  Jahr  vor  seinem  Tode 
sagt  Wagner  zu  Nietzsches  Schwester:  „Seit  Ihr  Bruder  nicht 
mehr  bei  mir  ist,  bin  ich  allein."  In  Nietzsches  Leben  spielen  die 
geheimen  Beziehungen  zu  Wagner  fort.  Erst  der  Tod  Wagners 
schafft  ihm  einige  Erleichterung:  „Ich  bin  nicht  groß  genug  zu 
einer  Gegnerschaft"  schreibt  er  und  kündigt  seinen  Entschluss 
an,  das  Erbe  des  jungen  Wagner  anzutreten.  Es  erfüllt  ihn  mit 
Freude,  dass  ihn  zwei  so  wichtige  Anhänger  Wagners,  wie  Seyd- 
litz  und  Levi  nicht  verlassen.  Und  es  ist  sein  Schmerz,  dass  er 
den  Parsifal  in  Bayreuth  nicht  hören  kann.  „Hat  Wagner  je  etwas 
besser  gemacht?"  fragt  sein  Brief.  Er  bewundert  diese  Musik,  und, 
das  Merkwürdigste,  er  erkennt  sie  wieder:  in  seiner  Jugend  hat 
er  ganz  ähnliche  Oratorienmusik  komponiert. 

Dann,  etwas  später,  ein  Brief  an  Gast:  „die  ganze  Stellung 
der  Kunst  ist  mir  zum  Problem  geworden,  und  psychologisch 
geredet .  . .  was  ging  eigentlich  in  mir  vor,  als  ich  mich  Wagner 

270 


entfremdete?  (Und  vor  Wagner  schon  der  Schumannschen  Musik.) 
Ich  will  dahinter  kommen.*' 

Nun  wohl,  er  kommt  dahinter.  Er  versucht  es  und  dieser 
Versuch  wird  „Der  Fall  Wagner".  War  es  wirkhch  nur  Psycho- 
logenleidenschaft, die  ihn  zu  diesem  Ausbruche  veranlasste?  War 
es  nicht  auch  Sehnsucht,  wiederum  Sehnsucht  und  Schmerz  um 
das  Verlorene?  Nicht  ein  Betäubungsversuch,  wie  seine  vielen 
Schlafmittel,  die  er  damals  brauchte,  kurz  vor  dem  Erlöschen  des 
Geistes  in  seinem  Körper? 

Genug,  dieser  Fall  Wagner  ist  der  wildeste  Angriff.  Er  war 
nötig  für  Nietzsche.  Aber  wir  von  heute,  wir  dürfen  diese  Schrift 
nicht  so  lesen  wie  sie  gedruckt,  sondern  wie  sie  geschrieben  ist. 

Im  selben  Jahre,  an  seinem  40.  Geburtstage,  beginnt  Nietz- 
sche sein  erschütterndes  Selbstbekenntnis,  das  Buch  „Ecce  homo. 
Wie  man  wird,  was  man  ist".  Auch  hier  besonders  viel  Psycho- 
gisches  zum  Fall  Wagner.  „Der  Instinkt  der  Wiederherstellung 
[von  einem  immer  Kranken  ist  die  Rede]  verbot  mir  eine  Phi- 
losophie der  Armut  und  Entmutigung  ...  Ich  empfand  Wagner 
[zuerst]  als  Protest  gegen  alle  deutschen  Tugenden.  Jetzt  ist  der 
Wagnerianer  Herr  über  Wagner  geworden.  Ich  habe  Wagner  ge- 
liebt, den  Angriff  lange  zurückgehalten  . .  .  aber  ich  konnte  nicht 
anders."  Er  konnte  nicht  anders,  denn  (hier  steht  es  mit  seinen 
eigenen  Worten)   „Ich   bin  kein  Mensch,  ich  bin  Dynamit". 

Und  noch  einmal  ein  Wort  Nietzsches  „Wir  sind  zwei  Schiffe, 
deren  jedes  sein  Ziel  und  seine  Bahn  hat". 

So  hätten  wir,  was  man  den  „sachlichen  Kern"  nennt.  Es 
geht  ganz  schematisch.  Aufgang  gegen  Niedergang,  Antichrist 
gegen  Christ  (hiezu  wäre  zu  sagen,  dass  Nietzsche  Wagners 
Christentum  für  neu  und  nicht  für  echt  hielt,  für  ein  Theater- 
requisit; die  Christen,  die  nach  Bayreuth  gingen,  waren  ihm  „zu 
bescheiden".)  Und  damit,  mit  diesem  sachlichen  Gegensatze,  haben 
sich  die  meisten  Erklärer  und  Biographen  begnügt.  Aber  vielleicht 
ist  es  erlaubt,  nach  den  inneren  Gründen  der  Wendung,  und  zu- 
nächst bei  Nietzsche,  dem  Überlebenden  der  Tragödie,  zu  fragen. 
Alle  Psychologenschliche  im  „Fall  Wagner"  erklären  sie  nicht, 
erklären  nicht  die  Verschärfung  des  Tons  in  dieser  Schrift,  selbst 
wenn  man  für  Nietzsche  das  Erlebnis  der  Enttäuschung  gelten  lässt. 

271 


Vielleicht  lässt  sich  eine  solche  Lösung  des  Wagnerkom- 
plexes bei  Nietzsche  andeuten.  Er  schreibt  1886  an  Rohde:  „Ein 
Mensch,  der  mir  gleich  geartet  ist,  „profondement  triste",  kann 
es  auf  die  Dauer  nicht  mit  Wagners  Musik  aushalten.  Wir  haben 
Süden,  Sonne  um  jeden  Preis,  Mozarthelle,  harmlose,  unschuldige 
Glücklichkeit  und  Zärtlichkeit  des  Tones  nötig,"  Dazu  die  Stelle: 
„Der  Instinkt  der  Wiederherstellung  verbot  mir  eine  Philosophie 
der  Entmutigung",  Und  nun  urteile  man!  Manche  von  uns  ken- 
nen Menschen  dieser  Art,  Menschen  von  heute  und  gestern,  Süd- 
landmenschen, todestraurig,  wenn  die  Sonne  nicht  scheint,  himmel- 
hoch jauchzend,  wenn  sie  am  Himmel  steht.  Mediziner  mögen 
sie  anders  nennen,  in  Sachen  der  Musik  weiß  ich,  dass  solche 
Menschen  zu  Mozart  halten  und  gegen  Wagner  empfinden.  Und 
wenn  sie  eine  Mission  zu  haben  glauben,  gegen  Wagner  agitieren. 
Man  wählt  seine  Freundschaft,  seine  Liebe  nicht.  Man  wird  zu 
allem  bestimmt  geboren.     Man  wird,  was  man  ist. 

So  wurde  Nietzsche,  so  werden  viele  andere.  Und  eine 
Quelle  der  Feindschaft  gegen  Wagner  wäre  etwa  doch  gefunden. 

Gegenüber  solchen  ungeheueren  Tragödien  der  Geburt,  gegen- 
über diesem  Drama  der  Erlebnisse  tritt  zurück,  was  Nietzsche  in 
beiden  Schriften  aus  dem  letzten  lichten  Jahr  gegen  Wagner  ge- 
sagt hat.  Und  doch  müssen  wir  es  beachten.  Denn  es  gewinnt 
Wert  nicht  nur  dadurch,  dass  es  Nietzsche  gesagt  hat,  sondern 
auch  darum,  weil  es  so  ziemlich  alles  erschöpft,  was  gegen 
Wagner  überhaupt  noch  gesagt  werden  konnte. 

Also:  Wagners  Musik  ist  schwer,  sie  kann  nicht  tanzen,  sie 
ist  krank,  dekadent  und  allem  Dekadenten  verwandt,  sie  ist  schau- 
spielerisch-literarisch, wie  der  Künstler  Wagner,  der  Theorie  und 
Literatur  für  seine  Rechtfertigung  brauchte.  Wagner  hängt  mit 
dem  neuen  „Reich"  zusammen,  mit  dem  klassischen  Zeitalter  des 
Krieges  und  der  Kriegsentnervung.  Aber  —  er  ist  nicht  deutsch. 
Seine  Kunst  läuft  parallel  mit  den  französischen  Spätromantikern, 
mit  Flaubert  und  Delacroix.  Er  schreibt  für  Laien,  für  nerven- 
verderbte,  süchtige  Frauen,  für  erlösungsbedürftige  Scheinchristen; 
und  endet  mit  dem  Parsifal:  das  ist   Roms  Glaube  ohne  Worte. 

Aber  trotz  diesen  Vorwürfen,  die  in  ihrer  Form  oft  maß- 
los sind,  in  ihrem  Vortrag  neben  der  Hellsichtigkeit  des  bald 
Vollendeten  auch  die  Spuren  naher  Zerstörung  zeigen  (man  denke 

272 


nur  an  die  Stelle  „typisches  Telegramm  aus  Bayreuth:  bereits 
bereut"):  trotzdem  noch  immer  Lob  und  V^erehrung  für  die 
außerordentliche  Erscheinung  Wagners.  Andere  Musiker,  er  nennt 
ausdrücklich  Brahms,  kommen  neben  ihm  gar  nicht  in  Betracht, 
immer  neue  verborgene  Schönheiten  zeigt  ihm  Wagners  Musik, 
und  er  preist  die  Verdienste  Wagners  um  Vortrag  und  Aus- 
führung. Und  schließlich :  „Wagner  ist  einer,  der  tief  gelitten  hat . .  . 
Ich  bewundere  Wagner  in  allem,  worin   er  sich  in  Musik  setzt." 

Was  sagen  uns  diese  Schriften?  Dass  man  vieles  verwerfen 
kann  und  dennoch  lieben.  Dass  man  lieben  kann  und  manches 
preisgeben;  manches  einräumen,  manches  zugeben  und  dennoch 
lieben  und  verehren.  Und  dass  all  diese  Vorwürfe,  begründet  oder 
nicht,  die  gewaltige  Erscheinung  nicht  von  ihrem  Fleck  rücken. 
Solange  sie  uns  gegenwärtig  bleibt,  ist  sie  nicht  zu  erschüttern. 
Sobald  sie  uns  entschwindet,  vermöchte  sie  nichts,  auch  unsere 
Liebe  nicht  zu  stützen. 

Und  entschwindet  uns  Wagner  ?  Ist  er  uns  in  den  25  Jahren  seit 
Nietzsche  entschwunden?  Gedanken  üben  eine  mystische  Macht 
aus.  Sie  dringen  langsam,  aber  unaufhaltsam  vorwärts.  Wohin 
sind  diese  Gedanken  gedrungen? 


Zu  einer  Gruppe  jüngerer  Menschen.  Sie  hängen  unter  ein- 
ander und  wohl  auch  mit  Nietzsche  ideell  zusammen.  Aber  ich 
löse  hier  zuerst  einen  Musiker  von  ihnen  los,  Debussy. 

Von  der  Wirkung  Wagners  auf  die  französische  Musik  kann 
man  sich  kaum  eine  Vorstellung  bilden.  Es  gab  eine  Zeit,  und 
ihre  Zeugen  leben  noch,  in  der  französische  und  Wagnerische 
Musik  eins  war.  Der  Rückschlag  ging  von  Debussy  aus.  Er  ver- 
tritt eine  Art  Praerafaelismus  gegenüber  der  vielfach  als  Barock 
bezeichneten  Kunst  Wagners.  So  hat  er  denn  auch  alle  Einwände 
der  Primitiven  gegen  den  komplizierten  Mechanismus  und  die 
Intellektualität  von  Wagners  Musik,  vermehrt  um  die  national- 
französischen: seine  Kunst  will  nicht  in  deutschen  Meistern  wurzeln. 
Beethoven  und  Bach  lässt  er  ebensowenig  als  Vorbilder  gelten. 
Nur  Rameau  und  die  Seinen. 

„La  courbe  de  Wagner  me  semble  accomplie.  Maintenant 
Wagner  est  et  restera  un  tres  grand  artiste."  Hier  ist  ein  Künstler 

273 


gegen  den  anderen,  ein  Selbständiger  gegen  den  anderen.  Eine 
Gegnerschaft,  die  man  gelten  lassen  kann,  ohne  dass  sie  weitere 
Anregungen  gäbe. 

Und  nun  zu  jener  jüngeren  Gruppe.  Nietzsches  Schwester 
sagt  von  den  letzten  Schriften  ihres  Bruders:  „Wenn  . . .  seine  . . . 
Schrift  oft  harte  Worte  .  .  .  findet,  so  wird  das  jeder  begreifen  . .  . 
Deshalb  haben  aber  andere  Menschen  durchaus  nicht  das  Recht, 
den  .Fall  Wagner'  als  den  Ausdruck  ihrer  Gesinnung  zu  be- 
zeichnen." Dass  sich  manche  dieses  Recht  genommen  haben, 
wird  uns  nicht  wundern.  Unterschätzen  wir  doch  Mode  und 
Bequemlichkeit  nicht! 

Die,  von  denen  ich  jetzt  sprechen  werde,  möchte  ich  mit 
den  Modemenschen,  den  bequemen,  denen,  die  von  dem  großen 
Gedanken  eines  anderen  leben,  nicht  verwechseln.  Wenn  sie  trotz- 
dem zu  Ergebnissen  kommen,  die  Nietzsches  Vorwürfen  oder 
noch  älteren  so  ähnlich  sind,  so  wird  uns  das  vielleicht  manches 
deuten.  Ich  spreche  hier  als  von  typischen  Gegnern  Wagners, 
von  drei  jüngeren  Schriftstellern,  von  Leopold  Ziegler,  Julius  Bab 
und  Emil  Ludwig. 

Ziegler  schreibt  in  der  Zeitschrift  „Logos"  1910  einen  Auf- 
satz über  „Die  Tyrannis  des  Gesamtkunstwerks".  Er  leugnet  die 
ausschließende  Notwendigkeit  von  Wagners  „rein  menschlichem" 
Drama,  die  sich  aus  der  Ablehnung  des  Historischen  ergibt.  Aus 
dem  Fehler  dieser  Einführung  des  Mythischen  in  das  Drama 
folgt  für  Ziegler  der  weitere,  dass  Wagner  nur  noch  mythisch, 
aber  nicht  dramatisch  motiviert  und  dass  wir  sein  Fatum  häufig 
nur  noch  als  Zufall  und  äußerliche  Zauberei  erkennen.  Der  nächste 
Einwand  ist  gegen  die  Verknüpfung  des  dramatischen,  nicht  mehr 
wie  in  der  Oper  lyrischen  Geschehens  mit  der  Musik  zu  erheben. 
Die  Musik  entfernt  unsere  Aufmerksamkeit  vom  Sinn  der  Worte. 
Die  Musik  ruht  aber  auf  dem  Klang  dieser  Worte,  nicht  auf  ihrem 
Sinn.  Das  wusste  die  Oper.  Das  Musikdrama  aber  führt  nur 
mehr  zum  Sinn  (deutsche  Gründlichkeit!).  Überhaupt  ist  jede  ab- 
solute Musik  vollkommener  als  Musik  in  Verbindung  mit  dem 
Wort,  weil  diese  die  Phantasie  des  Zuhörers  in  Fesseln  schlägt. 

Aber  die  Musik  ruht  nicht  auf  dem  Klang  des  Wortes  (sonst 
wäre  jede  Lied-  oder  Opernübersetzung  unmöglich),  sondern  auf 
der  Sprachmelodie,  die  sogar  bis  zu  einem  gewissen  Grade  dem 

274 


„Sinn"  parallel  geht.  Den  alten  Streit  zwischen  der  absoluten 
und  der  Worttonmusik  zu  erörtern,  ist  vollkommen  müßig.  Und 
ebenso  müßig  sind,  mit  Verlaub,  die  Einwände  dieser  Unter- 
suchung. Über  das  Mythische  im  Drama  und  über  die  dadurch 
bedingte  Motivierung  kann  man  theoretisch  den  verschiedensten 
Ansichten  huldigen.  Die  Lebensfülle  der  Werke  Wagners  bleibt 
davon  unberührt.  Dass  aber  Wagners  Theorie  nur  für  Wagner 
gilt,  hat  Theorie  und  Praxis  seither  wiederholt  durch  die  Tat 
bezeugt. 

Bab  (in  einem  Aufsatz  der  „Schaubühne"  1911):  schon 
Gehörtes,  besonders  stark  aufgetragen.  Wagner,  der  sinnlichste 
Mensch,  verlästert  die  Sinnlichkeit  (Tristan!  Es  trifft  nicht  einmal 
für  Parsifal  zu).  Aus  der  überall  durchbrechenden  Sinnlichkeit 
stammt  Wagners  Massenerfolg.  (Nietzsche!)  Die  schon  erwähnte 
Flucht  von  der  dramatischen  Kausalität  in  den  Mythos.  Babs  Bei- 
spiel hierfür  ist  die  Antwort  Tristans  an  Marke:  „Oh  König,  was 
du  fragst,  das  kann  ich  dir  nicht  sagen"!  Er  nennt  sie  „feig, 
frech,  zynisch,  die  sittliche  Schuld  eines  Künstlers,  der  sein  Ma- 
terial ...  nie  voll  ernst  nimmt,  der  mit  mystischer  Eitelkeit  dar- 
über hinspielt".  Wagner  ist  der  Anti-Goethe,  der  Dekadent,  der 
Romantiker,  wird  daher  von  jeder  romantischen  Welle  von  neuem 
emporgetragen.  Seine  Romantik  führt  zur  Dekoration,  zum  Kitsch : 
Bab  zieht  die  schon  von  Hanslick  gezogene  Linie  Wagner-Makart- 
Hamerling  (darüber  später).  Auch  die  Schlösser  des  Königs  Lud- 
wig von  Bayern  mit  ihrem  sinn-  und  geschmacklosen  Prunk  müssen 
zum  Vergleich  herhalten.  Dialog  des  Autors  mit  einem  Freunde: 
„Haben  Sie  noch  Aktien  auf  Wagner?  Der  Autor:  Seit  meinem 
19.  Jahre  nicht  mehr  viele.  Der  Freund:  Verkaufen,  verkaufen! 
In  ein  paar  Jahren  stehen  sie  auf  Meyerbeer".  Und  der  Autor 
fügt  hinzu:  „Was  sagt  die  Gemeinde  der  Gläubigen  dazu,  dass 
es  solche  Lästerer  gibt?"  Ach  ja,  was  sagen  sie  nur  dazu!  diese 
„Gemeinde",  diese  „Gläubigen!" 

Emil  Ludwigs  Buch  heißt  „Wagner  oder  die  Entzauberten"; 
es  steht  (in  wenigen  Wochen)  vor  der  dritten  Auflage.  Hat  Nietz- 
sche das  Wildeste,  Genialste,  bei  aller  Verzerrtheit  Hellsichtigste 
gegen  Wagner  gesagt,  so  sagt  Ludwig  das  Ruhigste  und  Klarste. 
Er  kennt  das  neue  Material,  die  Selbstbiographie  und  die  neueren 
Briefe,  den  vollendeten  Glasenapp.  Und  sieht  mit  scharfen  Augen. 

275 


Er  ist  hier  vielleicht  ein  feuilletonistischer  Psychologe,  aber  er 
ist  einer.  So  zeichnet  er  auf  hundert  von  seinen  dreihundert 
Seiten  ein  Bild  des  Menschen  Wagner:  Theater  von  Jugend  an; 
es  steckt  in  der  Familie.  Dann  überall  Krampf.  Überall  wildes 
Begehren  ohne  Erlebnis.  Wenn  zum  Beispiel  Wagner  sagt,  er 
müsse  sich,  vierzigjährig,  gestehen,  dass  er  eigentlich  noch  gar 
nicht  gelebt  habe,  so  wird  das  eindeutig  erotisch  gewendet.  Das 
Wesen  Wagners:  er  steht  gegen  alle  Welt  und  darum  ist  alles 
für  ihn  da,  jede  Theorie  pro  domo  erdacht.  Das  Erlösungsmotiv 
taucht  auf ;  das  Motiv  der  Vertiefung,  also  die  Flucht  in  den  My- 
thos. Gehemmte  Vitalität  (bei  Wagners  Gelegenheiten !),  mangelnde 
Harmonie,  mangelnder  Natursinn  (Charfreitagszauber  und  Wald- 
weben!), gespieltes  Martyrium  (Paris!);  Wagners  Menschenver- 
brauch, Wagners  Konzessionen,  Wagners  wildes  Verlangen  zu 
wirken  und  nur  zu  wirken,  und  wenn  es  in  der  Kunst  nicht  geht, 
bloß  im  Leben.  Wie,  fragt  Ludwig,  kann  das  einen  Künstler 
geben?  Nun,  aber  vielleicht  einen  Menschen?  Nein,  sagt  Ludwig, 
nur  einen  Schauspieler,  einen,  der  die  Wirkung  um  ihrer  selbst 
willen  liebt  (Wagners  Wort  von  der  „Wirkung  ohne  Ursache"!). 
Überhaupt  kommen  jetzt  bekannte  Themen:  die  „Wandlungen",, 
die  „Erlösung"  um  jeden  Preis;  Wagner  kein  Dichter,  als  Musiker 
ein  Literat.  Wagner  kein  Dramatiker.  Wagner  kein  Deutscher, 
schon  wegen  seiner  Wirkung  auf  Nichtdeutsche.  Nur  die  geistige 
Bourgeoisie  hat  Wagner  für  sich,  weder  die  Kenner  noch  das 
Volk.  (Man  denke  einerseits  an  Strauß  und  Mahler,  andererseits 
etwa  an  die  Wiener  Arbeitersymphoniekonzerte!)  Und  wenn  er 
überhaupt  eine  Wirkung  hatte,  so  war  es  die  des  Anti-Mozart. 
Mozart  aber  ist  das  Heil. 

N'est-ce  que  cela?  Der  Mensch,  die  Erscheinung,  die  Wirkung 
Wagners,  das  steht  alles  so  gewaltig,  so  greifbar  da.  Was  unser 
Verstand  auch  immer  zugeben  möge,  was  sagt  unser  Gefühl? 
Es  bejaht.   Und  auch  dieser  Angriff  schrumpft  in  sich  zusammen^ 


Und  doch,  unser  Gefühl  hat  einen  Gegner  Wagners  zu 
fürchten:  Wagner  selbst.  Hier  sein  Bekenntnis  (aus  einem  Briefe 
an  Röckel):  „Ich  sehe  nur,  dass  der  meiner  Natur,  wie  sie  sich 
nun  einmal  entwickelt  hat,  normale  Zustand   die  Exaltation  ist . . .. 

276 


In  der  Tat  fühle  ich  mich  nur  wohl,  wenn  ich  außer  mir  bin: 
dann  bin  ich  ganz  bei  mir.  Wenn  Goethe  anders  war,  so  beneide 
ich  ihn  darum  nicht." 

Aus  diesem  Zustand  der  Exaltation  erklärt  sich  wirklich 
Wagners  ganze  Art,  sein  Wirken,  seine  Gegnerschaften  und  seine 
Kunst.  Da  es  Richard  Wagner  zugibt,  dürfen  wir  es  umso  ruhiger 
zugeben.  Dies  alles  ist  uns  auch  so  lieb  und  in  Liebe  und  Hass 
etwas  so  Vollendetes,  wie  eine  große  Dichtung,  wie  ein  großes 
Theaterstück  des  Weltgeistes.  Aber  vielleicht  war  diese  Exaltation 
gar  nicht  das  Primäre.  Vielleicht  war  sie  gar  nicht  Ursache,  son- 
dern Wirkung,  Wirkung  dieser  Umwelt  und  dieser  Zeit  auf  den 
Umstürzler,  den  Künstler,  den  Erneuerer,  den  Lehrer  Wagner. 
Der  ein  gewaltiges  Selbst  durchzusetzen  hatte  gegen  eine  Zeit, 
die  alles  andere  dachte  als  Richard  Wagner. 

Aber  dieses  Bekenntnis  muss  uns  zugleich  eine  Ermahnung 
sein:  in  allem,  was  Wagner  angeht,  ruhiger  zu  werden,  seine 
zeitlich  bedingten  Meinungen,  Lobpreisungen,  Verdammungen, 
ja  selbst  Vorschriften  zeitlich  zu  nehmen,  ich  halte  es  zum  Bei- 
spiel für  ein  Zeichen  abgeklärter  und  richtiger  Wagnerverehrung, 
gegen  die  Beschränkung  des  Parsifal  auf  Bayreuth  zu  sein,  wenn 
auch  vielleicht  nur  aus  dem  rein  praktischen  Grunde,  dass  dem 
sogenannten  Gralschutz  ein  Erfolg  nach  den  Gesetzen  und  Ver- 
trägen gar  nicht  werden  kann.  Es  ist  ja  nicht  angenehm,  mit 
gewissen  Gegnern  Wagners  einer  Meinung  zu  sein;  aber,  man 
verzeihe  das  Bekenntnis,  auch  in  der  Gesellschaft  gewisser  An- 
hänger fühh  man  sich  nicht  wohl.  Um  es  mit  Nietzsche  zu  sagen, 
man  muss  einmal  Wagnerianer  gewesen  sein.  Und  man  sollte 
seine  Verehrung  für  Wagner  behalten.  Aber  ich  weiß  nicht,  ob 
man  sich  noch  Wagnerianer  nennen  und  wie  ein  Wagnerianer  im 
Übeln  Sinne  des  Wortes  benehmen  darf.  Treue  ist  schön;  Blind- 
heit bedenklich.  Es  ist  gewiss  dankenswert,  dass  wir  durch  die 
aufopfernde  Genauigkeit  Glasenapps  um  jeden  Tag  aus  dem 
Leben  Wagners  Bescheid  wissen.  Aber  wie  wissen  wir  darum  Be- 
scheid? Weil  es  einmal  Gegnerschaften  zwischen  Wagner  und 
Schumann  oder  zwischen  Wagner  und  Nietzsche  gab,  so  spricht 
Glasenapp  von  Schumann  etwa  so:  „Dieser  Musiker  ohne  Seele, 
ohne  Einfälle  .  .  ."  Oder  von  Nietzsche:  „Ein  hohler  Schall,  ein 
hochtrabendes,  leeres  Nichts  ..."    Derlei  geht  doch  gegen  den 

277 


guten  Geschmack.  Der  Meister  darf  alles  zu  seiner  Zeit;  der 
Nachfahre  tut  so,  als  ob  er  es  heute  noch  dürfte. 

Oder  die  „Vorschriften"  Wagners.  Noch  in  einem  der  letzten 
Hefte  der  „Musik"  ergeht  sich  Alfred  Heuss  in  Lamentationen 
darüber,  wie  Mahler  auf  eine,  wie  mir  scheint,  sehr  sinnreiche 
Weise  eine  solche  Vorschrift  abgeändert  hat.  Mahler,  ein  Refor- 
mator im  Sinne  Wagners,  daher  den  eingefrorenen  Wagnerianern 
höchst  unbequem,  hat  da  überhaupt  viel  hören  müssen.  Seitenlang 
quält  sich  Heuss  ab,  die  höchst  unbedeutende  „Vorschrift"  zu 
Gunsten  des  Buchstabens  zu  verteidigen.  Warum?  Es  steht  ge- 
schrieben. 

Geben  wir  doch  das  alles  preis !  Jede  Zeit  verehrt  ihre  Meister 
anders.  Unser  Wagner  ist  vielleicht  nicht  Wagners  Wagner,  son- 
dern eben  der  unsere  .  .  . 


Die  Strömung  gegen  Wagner  zu  leugnen,  wäre  töricht,  sie 
gering  zu  achten,  törichter,  sie  zu  deuten  —  vielleicht  nicht  zu 
vermessen.  Ich  habe  bei  Nietzsche  zu  deuten  versucht.  Nun  denn : 
seither  hat  die  „tristesse  profonde"  noch  um  sehr  vieles  zuge- 
nommen. Noch  viel  lebhafter  ist  die  Sehnsucht  nach  einem 
Süden  des  Klimas  und  der  Kunst,  einem  neuen  Paradies,  einem 
lichten  Traum  geworden.  Ludwig  zum  Beispiel  wünscht  ein  Leben 
ohne  verminderten  Septimenakkord.  Ach  nur  Septimenakkord! 
Dieses  alte  Rüststück  der  Romantiker.  Was  sagt  er  zu  den  Quar- 
tenakkorden, zu  unserer  atonalen  Musik?  Und  wer  ist  der  Mu- 
saget  dieser  Sehnsucht?  Wer  anders  als  Mozart?  Von  Nietzsche 
bis  Ludwig,  alle  fliehen  sie  zu  Mozart,  und  es  gibt  keine  Ver- 
dammung Wagners,  die  nicht  mit  einem  Lobe  Mozarts  endigte. 
Heute  nämlich !  Heute,  nach  anderthalb  Jahrhunderten.  Seiner 
Zeit  galt  Mozart  nicht  als  heiter,  als  unkompliziert,  als  harmonisch, 
als  anmutig.  (Die  „Fachgenossen!")  Aber  es  ist  ehrlich,  wenn 
einer,  erschöpft  von  den  Problemen  des  Tages,  dieses  ganze  1913, 
diesen  Norden  nicht  mag.  Ehrlich,  wenn  sich  einer  nach  seiner 
Jugend  sehnt.  (Unter  den  Schwärmern  sind  manche,  die  auch 
den  heute  gewiss  verkannten  Mendelssohn  und  seine  Zeit  zurück- 
wünschen, eine  Zeit,  deren  Ausläufer  sie  etwa  noch  miterlebt 
haben.)  Jeder  hat  das  Recht  so  zu  denken.  Aber  man  möge  uns 

278 


daraus  kein  Prinzip,  möge  uns  aus  dem  Ruf  „Zurüci<  zu  Mozart" 
i<ein  Literaten-  und  Musikantencredo  machen.  Man  möge  uns 
die  Abneigung  gegen  Wagner  nicht  als  „entscheidungsvollsten 
Kulturkampf  unserer  Zeit"  einreden.  Man  nehme  sich,  nehme 
auch  seine  Antipathien  nicht  zu  wichtig.  Niemand  ist  heute  in 
Notwehr  gegen  Wagner,  wie  es  Wagner  gegen  eine  ganze  Zeit 
war;  und  wäre  es  ein  Künstler,  so  gibt  ihm  die  Notwehr  kein 
Recht,  Notwehrexzesse  zu  begehen. 

Aber  wenn  es  nicht  Notwehr  ist,  was  treibt  dann  manche 
immer  wieder  gegen  Wagner?  Die  Ermüdung,  die  vor  einer  großen 
Kunst  nicht  tapfer  sein  kann.  Der  Drang  der  letzten  Jahrzehnte, 
selbst  etwas  zu  schaffen,  ein  Drang,  dem  die  große  Erscheinung 
Wagners  theoretisch  und  praktisch  Hemmungen  bereitete.  Die 
Erkenntnis  von  der  Unfruchtbarkeit  eines  Epigonentums,  das  Er- 
lösungsmysterien stammelte  und  Musikdramen  nachstümperte. 
Wohl  hatte  Wagner  wie  jeder  Große  für  sich  selber  Recht.  Wir 
wollen  es  ihm  danken,  wollen  hingehen  und  nicht  desgleichen 
tun.  Aber  indem  wir  ausweichen,  müssen  wir  darum  nicht  zertreten. 

In  diesem  Streben  Selbst  zu  sein,  kennen  wir  dank  Wagner 
die  Mittel,  kennen  sie  vielleicht  besser  als  Wagner  selbst  und 
sehen  Wagners  Mittel,  etwa  seine  szenischen,  schon  historisch. 
Hier  wäre  auf  Appia  hinzuweisen,  auf  Mahler,  auf  Roller  und 
seine  Nachfolger.  Befreien  wir  Wagners  Bild  von  den  Spuren  des 
Makartzeitalters  I  Fort  mit  dem  sogenannten  altdeutschen  Stil  aus 
seinen  Werken !  Fort  mit  den  falschen  Barten,  dem  Nibelungen- 
apparat, der  Wandeldekoration,  dem  Zaubertheater  einer  Wirk- 
lichkeit von  1873  oder  einer  Qrottenbahn  von  heute.  Es  ist  nicht 
gleichgiltig,  wer  uns  von  diesen  Dingen  erlöst  und  Kapellmeister 
und  Direktoren,  die  nichts  vermögen  als  hassen  und  streichen, 
mögen  die  Hand  von  den  Werken  lassen.  Aber  das  Genie,  das 
unserer  Erkenntnis  kommen  muss,  war  da  und  wird  da  sein, 
wenn  es  gebraucht  wird.    Denn  Erkenntnis  und  Tat  sind  ewig. 

Noch  eines  ist  es,  was  heute  manche  von  Wagner  trennt. 
Ludwig  hat  es  denn  auch  aufgespürt  und  wirft  es  Wagner  vor, 
dass  er,  immer  nur  auf  Wirkung  bedacht  (diese  Gruppe  ver- 
wechselt nämlich  Wirkung  und  Wirksamwerden),  dass  er  also 
nicht  nur  Wirkung  durch  die  Kunst  suche,  sondern  auch  Wirkung 

279 


ins  Leben.  Wagners  Briefworte  „hätten  wir  das  Leben,  so  hätten 
wir  i<eine  Kunst  nötig",  sollen  ein  Einwand  sein  .  .  . 

Wahrhaftig,  Wagner  dachte  anders.  „Oh  Ihr  Menschen!  fühlt 
gesund,  handelt  wie  ihr  fühlt,  dann  wollen  wir  Kunst  machen". 
Oder:  „Ich  würde  mit  Freuden  alles,  was  ich  schaffe,  darangeben 
für  Wahrheit  und  Gerechtigkeit."  Immer  wieder  ist  Wagner  sozial 
bewegt,  denkt  er  an  Menschen  und  Tiere,  schwingt  er  das  reli- 
giöse Band  um  ein  Weltall,  in  dem  auch  Kunst  ist,  und  Kunst 
als  Stufenleiter  vom  Niedersten  zum  Höchsten,  aber  nicht  nur 
Kunst.  Und  es  gibt  heute  mehr  als  je  solche,  die  nur  Kunst 
wollen.  Ich  werte  nicht,  ich  zeige  dieses  Zweierlei :  die  einen  sind 
zu  Wagner  geboren,  die  anderen  passen  nicht  zu  ihm. 

Es  gibt  in  der  Tat  auch  hier  Wahlverwandtschaften,  und  im 
letzten  Grunde  löst  sich  das  Künstlerische  im  Menschlichen. 
Seien  wir  größer,  haben  wir  den  weiteren  Blick,  die  leichtere 
Verzeihung.  Weiten  wir  unser  Reich.  Ein  Meer  brandet  vor  uns, 
und  es  hat  Gezeiten,  hat  Ebbe  und  Flut.  So  schwindet  und  wächst 
die  Liebe  zu  einem  Großen,  dessen  heiliger  Bau  am  Strande 
steht,  an  einem  Ufer  jenseits  von  Liebe  und  Hass.  Den  Ver- 
klärten lasst  uns  sehen,  nicht  den  Endlichen,  den  Hass  und  Not 
umtosten.  Nicht  im  Sinne  des  Eifernden  wollen  wir  wirken,  son- 
dern wie  ein  glücklicheres  Geschlecht  von  Späteren,  das  gekämpfte 
Kämpfe  nicht  noch  einmal  kämpfen  will.  Wir  wollen  seine  Größe 
verkünden,  seine  Schlacken  verwerfen,  seine  Milde  üben,  die 
Milde  seiner  besten  Tage,  die  ihm  so  viele  Herzen  einfacher 
Menschen  gewann.  Vielleicht  gelingt  es  so,  manche  zu  gewinnen, 
die  nicht  zu  widerlegen  sind.  Und  die  auch  nicht  gewonnen  werden 
können,  einfach  zu  fragen:  Was  ereifert  ihr  euch?  Wenn  dieses 
Werk  aus  der  Lüge  ist,  so  wird  es  von  selbst  vergehen.  Wenn 
es  aber  aus  der  Wahrheit  ist,  so  werdet  ihr  es  doch  nicht 
stürzen. 

WIEN  PAUL  STEFAN 


aaa 


280 


DIE  REVISION  DER  ZÜRCHER  BIBEL 

Im  ersten  Maiheft  des  laufenden  Jahrganges  dieser  Zeitschrift 
ist  die  Beibehaltung  und  die  jetzt  im  Gange  befindh'che  Revision 
der  Zürcher  Bibel  als  ein  kulturfeindliches  Unternehmen  bezeichnet 
worden.  Dazu  möchte  sich  der  unterzeichnete  Mitarbeiter  am 
Tieutestamentlichen  Teil  dieser  Revision^)  freundliches  Gehör  für 
ein  Wort  der  Entgegnung  und  der  Aufklärung  erbitten. 

Was  versteht  Herr  Pfarrer  Blocher  in  der  Frage  der  Bibel- 
übersetzung unter  Kultur?  In  erster  Linie  die  Alleinherrschaft 
der  Lutherschen  Übersetzung,  die  er  über  alle  Maßen  preist. 
Sodann  ein  schönes,  klares  und  packendes  Deutsch;  doch  sind 
alle  seine  Beispiele  hiefür  bis  auf  eins  der  Lutherbibel  entlehnt, 
und  so  wird  dieser  zweite  Punkt  wohl  stark  mit  dem  ersten  zu- 
sammenfallen. Endlich  fordert  er,  dass  die  Übersetzung  direkt 
zu  frommer  Versenkung  in  die  heiligen  Urkunden  geeignet  sei. 

Nun  sind  Kultur  und  Sprache  zwei  Dinge,  zu  deren  Wesen 
es  gehört,  sich  fortzuentwickeln.  Was  zu  Luthers  Zeiten  ihren 
Höhepunkt  bildete,  kann  heute  leicht  überholt  sein.  Doch  wollen 
wir  durch  diese  Betrachtung  noch  nichts  bewiesen,  sondern  nur 
die  Frage  begründet  haben,  ob  es  eine  so  einfache  Sache  sei, 
ein  seit  400  Jahren  unverändert  gebliebenes  Werk  als  den  Höhe- 
punkt der  Kultur  auch  für  heute  zu  bezeichnen.  Darin  besteht 
nämlich  der  Unterschied  in  der  Geschichte  der  beiden  Über- 
setzungen: die  Zürcher  ist,  wie  Herr  Pfarrer  Blocher  auch  angibt, 
von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  dem  fortschreitenden  Verständnis 
des  Grundtextes  und  der  sich  von  selbst  vollziehenden  Änderung 
des  deutschen  Sprachgebrauchs  gemäß  berichtigt  worden,  während 
die  Luthersche  eine  so  maßlose  Verehrung  genoss,  dass  über 
300  Jahre  lang  nur  geringfügige  Kleinigkeiten  geändert  wurden 
und  auch  die  von  einer  Reihe  deutscher  Kirchenregierungen  be- 
stellte Kommission  trotz  sechzehnjähriger  Arbeit  (1865 — 1881) 
kläglich  wenig  eingriff. 

Die  Vorzüge,  durch  die  die  Lutherbibel  unerreicht  dasteht, 
haben  wir  in  unsern  Vorbemerkungen  aufs  nachdrücklichste  an- 

^)  Die  unlängst  erschienene  Probe  (57  Seiten)  ist  in  der  Buchhandlung 
der  Evangelischen  Gesellschaft  an  der  Peterstraße  sowie  durch  jede  andere 
Zürcher  Buchhandlung  für  20  Cts.  zu  haben. 

281 


erkannt,  indem  wir  erklärt  haben,  es  sei  uns  nie  in  den  Sinn 
gekommen,  sie  bieten  zu  können.  Daneben  enthält  sie  aber  so 
viel  Mängel,  dass  sie  als  Ganzes  eben  doch  völlig  unzulänglich  ist. 

Hierüber  ist  freilich  schwer  mit  einem  Manne  zu  rechten, 
der  sich  so  ganz  in  sie  eingelebt  hat.  Nur  zu  leicht  vergisst  ein 
solcher,  dass  er  vieles  in  ihr  am  Ende  nur  deshalb  schön  findet, 
weil  er  von  Kindheit  an  damit  vertraut  ist.  In  unserer  Kommis- 
sion wenigstens  ist  es  ein  deutlicher  Erfolg  der  mehrjährigen 
Arbeit  unter  Vergleichung  anderer  Übersetzungen,  dass  bei  den 
an  die  Zürcher  Übersetzung  gewöhnten  Mitgliedern  die  naturge- 
mäße Hinneigung  zur  Bevorzugung  ihres  Wortlauts  immer  mehr 
der  Bereitwilligkeit  zur  Annahme  eines  andern,  wo  diese  nötig 
schien,  Platz  gemacht  hat. 

Belege  für  die  Mängel  der  Lutherschen  Übersetzung  darf  ich 
hier  natürlich  nur  in  ganz  geringer  Zahl  bringen,  und  ich  lege 
mir  weiter  die  überaus  große  Beschränkung  auf,  sie  lediglich  den 
Abschnitten  zu  entnehmen,  für  die  unsere  Proben  vorliegen,  damit 
man  diese  vergleichen  kann.  Trotzdem  hoffe  ich  bei  einigen 
Lesern  dieser  Blätter  auf  Zustimmung,  wenn  ich  frage,  ob  wirk- 
lich heute  noch  festgehalten  zu  werden  verdient,  was  Jesaja  5J3 
bei  Luther  steht:  „Darum  wird  mein  Volk  müssen  weggeführt 
werden  unversehens,  und  werden  seine  Herrlichen  Hunger  leiden, 
und  sein  Pöbel  Durst  leiden".  Bei  uns  lautet  die  Stelle:  „Darum 
wandert  mein  Volk  in  die  Verbannung,  unversehens ;  seine  Edlen 
sind  kraftlos  vor  Hunger,  und  die  Menge  brennt  vor  Durst".  — 
Oder  nehmen  wir  Psalm  16.4  bei  Luther:  „Aber  jene,  die  einem 
andern  nacheilen,  werden  groß  Herzeleid  haben.  Ich  will  ihres 
Trankopfers  mit  dem  Blut  nicht  opfern,  noch  ihren  Namen  in 
meinem  Munde  führen".  Ich  frage:  ist  das  heute  noch  deutsch? 
Ich  frage  weiter:  kann  man  sich,  auch  wenn  man  von  der  Frage 
der  Sprachrichtigkeit  absieht,  etwas  dabei  denken?  Ich  frage 
drittens:  kann  man  sich  mit  Erbauung  in  einen  solchen  Text  ver- 
senken? Bei  uns  lautet  er:  „Viel  sind  der  Schmerzen  derer,  die 
andern  [Göttern]  nacheilen.  Ich  aber  werde  ihnen  nimmer  Trank- 
opfer von  Blut  spenden,  noch  ihren  Namen  auf  meine  Lippen 
nehmen". —  In  demselben  Psalm  heißt  es  in  Vers  7  bei  Luther: 
„Ich  lobe  den  Herrn,  der  mir  geraten  hat;    auch  züchtigen  mich 

282 


meine  Nieren  des  Nachts";  bei  uns:  „Ich  preise  den  Herrn,  der 
mich  beraten;  auch  des  Nachts  mahnt  mich  mein  Inneres".  Hier 
trifft  Luthers  Übersetzung  der  Vorwurf,  den  Herr  Pfarrer  Biocher 
immer  wieder  der  unsern  macht,  dass  sie  zu  wörth'ch  ist.  Im 
Hebräischen  gelten  die  Nieren  so  gut  wie  das  Herz  als  Sitz  der 
geistigen  Regungen  des  Menschen,  im  Deutschen  nicht.  —  Doch 
nur  noch  zwei  Beispiele,  wo  bei  Luther  ein  Missverständnis  vor- 
liegt. Im  Römerbrief  5.8  übersetzt  er:  „Darum  preiset  Gott  seine 
Liebe  gegen  uns,  dass  Christus  für  uns  gestorben  ist,  da  wir  noch 
Sünder  waren".  Ist  das  eine  Gottes  würdige  Vorstellung,  dass 
er  seine  Liebe  auch  noch  preist?  Kann  man  sich  an  ihr  erbauen? 
Der  Apostel  Paulus  hatte  sie  nicht;  wir  hatten  zu  übersetzen:  „Es 
beweist  aber  Gott  seine  Liebe  gegen  uns  dadurch,  dass  Christus 
für  uns  gestorben  ist,  als  wir  noch  Sünder  waren".  Oder  sollte 
uns  jemand  nachweisen  wollen,  dass  bei  Luther  „preisen"  so  viel 
sei  wie  „verherrlichen",  also  doch  gleich  „erweisen",  „beweisen"? 
Ich  weiß  es  nicht,  ob  jemand  das  unternehmen  kann.  Aber  jeden- 
falls müsste  er  sich  einen  Erforscher  deutschen  Altertums  als 
Zuhörer  suchen ;  uns,  die  wir  eine  Bibel  für  heute  herzustellen 
haben,  würde  so  etwas  in  keiner  Weise  interessieren.  —  Endlich : 
sollen  wir  glauben,  dass  Herodes  beim  Kindermord  in  Bethlehem, 
um  Jesus  ganz  sicher  mitzutreffen,  auch  die  Mädchen  hat  töten 
lassen?     Luther  sagt  es:  alle  Kinder  (Matthäus  2.16). 

Zu  diesen  Beispielen  nur  noch  eine  Frage.  Wie  wird  der 
Luthertext  in  der  Schule  wirken?  Herr  Pfarrer  Blocher  weiß  zu 
sagen,  das  Nebeneinanderbestehen  zweier  Übersetzungen  sei  im 
Unterricht  störend,  und  da  nun  die  Lutherbibel  nicht  mehr  zu 
verdrängen  sei,  müsse  man  die  Zürcher  eben  aussterben  lassen; 
für  unsere  Frage  hat  er  kein  Wort.  Und  doch  ist  klar,  dass  die 
sprachlichen  und  sachlichen  Anstöße  bei  Luther  und  die  selbst 
bei  einem  wohlwollenden  Lehrer  unvermeidliche  Kritik  derselben 
einem  nicht  sehr  religiös  angelegten  Kinde  die  Achtung  vor  seiner 
Bibel  und  die  Liebe  zu  ihr  nur  zu  leicht  beeinträchtigen  können. 
Es  hilft  auch  gar  nichts,  darauf  hinzuweisen,  dass  sie  doch  mit 
Segen  gebraucht  wird.  Von  dem,  was  sich  die  Kinder  im  Stillen 
denken  oder  nicht  einmal  denken  und  doch  als  Empfindung  in 
sich  aufnehmen  und  behalten,  erfährt  der  Pfarrer  in  den  seltensten 
Fällen  etwas. 

283 


Im  ganzen  haben  wir  in  unsern  Vorbemerkungen  als  unsere 
drei  Hauptziele  aufgestellt,  „dass  man  genau  erfährt,  was  wirklich 
im  Urtext  steht,  womöglich  so  genau  wie  der  Kenner  des  Urtexts 
selbst;  dass  auch  für  den  schlichtesten  Leser  jedes  etwaige  Miss- 
verständnis nach  Kräften  von  vornherein  abgeschnitten  wird ;  dass 
das  Ganze  sich  in  ein  vom  Standpunkt  der  heutigen  Schule  aus 
einwandfreies  und  dabei  doch  stets  kirchlich  würdiges  Deutsch 
kleidet".  Für  den  letzten  Punkt  hat  Herr  Pfarrer  Blocher,  was 
die  Schule  betrifft,  wie  schon  erwähnt,  kein  Wort.  Für  den 
zweiten,  der  uns  unsägliche  Mühe  macht  und  für  eine  Volksbibel 
so  wichtig  ist,  hat  er  überhaupt  keins.  Den  ersten  als  grundver- 
fehlt zu  bezeichnen  kann  er  sich  gar  nicht  genug  tun. 

„Die  ganze  Arbeit",  sagt  er,  „geht  von  der  Voraussetzung 
aus,  die  Schwierigkeit  liege  in  der  Feststellung  und  im  Verständ- 
nis des  fremdsprachigen  Grundtextes.  Das  ist  falsch.  Den  Sinn 
des  Grundtextes  kann  jeder  fleißige  Theologe  mit  den  heute  so 
reichlich  vorhandenen  Hilfsmitteln  feststellen".  Auf  welcher  Insel 
der  Seligen  mag  wohl  Herr  Pfarrer  Blocher  wohnen,  dass  er  das 
glauben  kann?  Psalm  19.5  heißt  es  bei  Luther  von  den  Himmeln: 
„Ihre  Schnur  geht  aus  in  alle  Lande,  und  ihre  Rede  an  der  Welt 
Ende".  Herr  Pfarrer  Blocher  weiß  zu  sagen,  Nichtkenner  der 
Ursprachen  könnten  sich  völlig  genügende  Auskunft  über  den 
wirklichen  Sinn  des  Alten  Testaments  in  Kautzschs  Textbibel  holen. 
Was  steht  dort?  „In  alle  Lande  geht  ihre  Meßschnur  aus,  und 
ihre  Worte  bis  ans  Ende  des  Erdkreises".  Hier  erfahren  wir  also, 
was  bei  Luther  völlig  dunkel  bleibt,  dass  mit  der  Schnur  eine 
Meßschnur  gemeint  ist.  Aber  was  soll  die  Meßschnur  der  Himmel 
neben  deren  Worten?  Wir  empfehlen  nun,  beispielsweise  noch 
das  sehr  gediegene  Werk  von  Reuß  über  das  Alte  Testament  auf- 
zuschlagen. Dort  findet  man,  manche  Ausleger  übersetzten:  „über 
die  ganze  Erde  geht  ihr  Gebiet,  und  ihre  Töne  bis  ans  Ende  der 
Welt",  was  offenbar  einen  etwas  bessern  Sinn  gibt.  Reuß  selbst 
aber  gibt  den  Text  so:  „und  doch  geht  ihr /(/fl/z^ durch  die  ganze 
Erde,  ihre  Töne  bis  ans  Ende  der  Welt".  Ganz  ähnlich  unsere 
Probe,  und  zwar  deshalb,  weil  statt  des  hebräischen  Wortes  qaw, 
das  „Meßschnur"  heißt  und  zur  Not  auch  „Gebiet"  heißen  kann, 
in  der  schon  vor  Jesu  Zeiten  angefertigten  griechischen  Über- 
setzung dasWort  qol,  das  heißt  „Stimme",  wiedergegeben  ist  und  einen 

284 


sehr  guten  Sinn  gibt.  Das  ist  unter  tausenden  nur  ein  verhält- 
nismäßig sehr  einfaches  Beispiel  dafür,  wie  uneinig  die  Gelehrten 
über  den  Sinn  vieler  Bibelstellen  sind,  wie  ratlos  ein  Nichtkenner 
ist,  den  man  auf  einige  einander  so  widersprechende  Bücher  als 
untrügliche  Auskunftsmittel  hinweist,  und  welche  umfassende  Sach- 
kenntnis dazu  gehört,  um  in  jedem  Falle  eine  Entscheidung  zu 
treffen.  Nun  möge  man  ermessen,  was  es  mit  dem  Ausspruch 
von  Herrn  Pfarrer  Blocher  auf  sich  hat:  „Es  würde  völlig  genügen, 
wenn  von  den  Herren  einer  recht  die  Grundsprachen  versteht". 
Sie  verstehen  sie  alle  recht,  Kautzsch,  Reuß  und  die  von  ihm  ge- 
nannten Dritten.  Aber  wen  von  ihnen  sollte  man  für  diesen 
Fall  in  die  Kommission  berufen  ?  Dem  nächsten  Satze  von  Herrn 
Pfarrer  Blocher:  „worin  sie  aber  alle  Meister  sein  müssten,  das 
ist  die  Sprache,  in  der  sie  ihr  Werk  herausgeben  wollen",  stimmen 
wir  mit  einem  Seufzer  über  unsere  Unzulänglichkeit  gern  zu;  der 
vorhergehende  aber  ist  einfach  unerhört.  Und  wird  den  Lesern 
von  „Wissen  und  Leben"  als  ausgemachte  Wahrheit  geboten. 

Im  Zusammenhang  hiermit  rühmt  Herr  Pfarrer  Blocher  Luther,, 
dass  er  die  Erzväter  statt  in  Zelten  vielmehr  in  Hütten  wohnen 
lässt,  wobei  der  „deutsche  Leser  an  die  eigene  Behausung  denken 
kann".  Er  entsetzt  sich  über  unsern  Grundsatz,  das  Kolorit  der 
biblischen  Zeit  möglichst  zu  wahren.  Nun,  nehmen  wir  einmal 
die  Geschichte  von  dem  Gichtkranken  (oder  müssen  wir  im  Inter- 
esse der  Kultur  mit  Luther  sagen:  von  dem  Gichtbrüchigen?),, 
der  wegen  des  Volksandranges  nicht  zu  Jesus  ins  Haus  gebracht 
werden  kann  und  deshalb  durchs  Dach  zu  ihm  herabgelassen 
wird.  Kann  man  das  verstehen,  ohne  zu  wissen,  dass  ein  orien- 
talisches Haus  ein  gemauertes  flaches  Dach  hat?  Oder  hat  Luther 
auch  hier  dafür  gesorgt,  dass  „der  deutsche  Leser  an  seine  eigne 
Behausung  denken  kann"?  Nein.  Er  übersetzt  bei  Markus  (2.4) r 
sie  „deckten  das  Dach  auf,  da  er  war,  und  gruben's  auf,  und 
ließen  das  Bette  hernieder",  bei  Lukas  (5.19):  sie  „stiegen  auf 
das  Dach,  und  ließen  ihn  durch  die  Ziegel  hernieder  mit  dem 
Bettlein".  Die  Vorstellung  von  einem  orientalischen  Dache  hat 
er;  wer  sie  aber  nicht  hat,  ist  nicht  genügend  davor  bewahrt, 
an  ein  schräges  deutsches  Ziegeldach  zu  denken  und  die  Sache 
höchst  wunderlich  zu  finden. 


285 


Sollen  wir  nun,  um  Herrn  Pfarrer  Blocher  zu  genügen,  über 
Luther  hinausgehen  und,  wie  aus  dem  Zelt,  so  hier  aus  dem  Haus 
eine  Hütte  machen,  damit  sich  die  Durchbrechung  des  Daches 
leichter  vorstellen  lässt?  Sollen  wir  die  Einzelheiten  des  Acker- 
baus, der  Viehzucht,  der  Handwerke,  der  Kriegführung,  sollen  wir 
die  Hausgeräte,  die  Waffen,  die  Kleidungsstücke,  die  Speisen,  die 
bloß  im  Morgenland  vorkommenden  Tiere  und  Pflanzen  —  um 
nicht  noch  weiter  zu  gehen  —  so  benennen  und  darstellen,  dass 
es  zu  unserm  heimischen  Anschauungskreis  passt?  Wenn  nicht, 
dann  verfallen  wir  dem  Urteil,  das  Herr  Pfarrer  Blocher  so  aus- 
spricht: „Soll  uns  durch  die  Übersetzung  die  Bibel  näher  gebracht 
werden,  oder  gilt  es,  unserm  Volk  recht  den  Abstand  fühlbar  zu 
machen,  der  uns  von  dem  alten  Buch  trennt?  Wenn  das  zweite 
gilt,  dann  wohlan!"  Und  wenn  das  erste  gilt?  Dann  bekommen 
wir  ein  Buch,  dessen  Vorzüge  ich  nicht  zu  beschreiben  brauche; 
nur  eins  zu  sein  wird  es  immer  mehr  aufhören:  die  Bibel. 

Noch  weiter  geht  Herr  Pfarrer  Blocher,  wenn  er  behauptet, 
sogar  aus  Gründen  der  Sache  und  des  Sprachgebrauchs  müsse 
zum  Beispiel  —  wir  dürfen  nur  noch  ganz  wenige  Punkte  be- 
rühren —  ein  Sklave  des  Altertums  nicht  ein  Sklave,  sondern 
wie  bei  Luther  ein  Knecht  heißen,  und  der  See  Genezareth,  der 
mit  diesem  Namen  doch  auch  in  Herrn  Pfarrer  Blochers  Bibel 
(Lukas  5,1)  und  in  seinem  eigenen  Aufsatz  steht,  nicht  der  galiläi- 
sche  See,  sondern  wie  bei  Luther  das  galiläische  Meer.  Das  Ver- 
hältnis des  Herrn  zu  seiner  in  Rede  stehenden  Dienerschaft  nennt 
er  ein  patriarchalisches.  Findet  er  wirklich  etwas  so  sehr  Patri- 
archalisches in  der  Vertreibung  der  „Magd"  Hagar  samt  ihrem 
doch  von  Abraham  selbst  gezeugten  Sohne  Ismael,  oder  in  der 
Stelle  (wohlgemerkt:  aus  einem  Gesetzbuche,  2.  Mose  2L20  f.), 
bei  der  bekanntlich  einst  ein  Zulukaffer  dem  englischen  Missions- 
bischof Colenso  die  Bibel  vor  die  Füße  geworfen  hat:  „Wer  seinen 
Knecht  oder  Magd  schlägt  mit  einem  Stabe,  dass  er  stirbt  unter 
seinen  Händen,  der  soll  darum  gestraft  werden.  Bleibt  er  aber 
einen  oder  zween  Tage  am  Leben,  so  soll  er  nicht  darum  gestraft 
werden;  denn  es  ist  sein  Geld".  In  unserm  Ausdruck  „der  gali- 
läische See"  sieht  Herr  Pfarrer  Blocher  „eine  schulmeisterliche 
Schrulle" ;  wir  erblicken  darin  eine  pflichtmäßige  Beachtung  des 
veränderten    Sprachgebrauchs.     Auf   dessen   Nachweis    gehe    ich 

286 


jetzt  natürlich  nicht  ein.  Aber  das  hätte  ich  von  einem  Manne, 
der  auf  Sprachsinn  und  Sprachverständnis  Anspruch  macht,  nicht 
erwartet,  dass  er  sich  zugunsten  eines  deutschen  Ausdrucks  („das 
gahläische  Meer")  auf  das  Engh'sche,  Italienische,  Französische 
und  Spanische  berufen  würde.  Und  gegenüber  unserer  Befürch- 
tung, dass  der  Ausdruck  missverstanden  werde,  weiß  er  nur  zu 
sagen:  „Sollten  die  Zürcher  allein  so  unbegabt  sein,  dass  ein 
erläuterndes  Wort  des  Religionslehrers  nicht  genügte,  vor  Miss- 
verständnissen zu  schützen?"  Ich  hätte  geglaubt,  er  wünsche 
gleich  uns  seiner  Bibel  auch  solche  Leser,  die  keinen  Religions- 
lehrer zur  Stelle  haben. 

Je  weniger  er  uns  zugestehen  will,  dass  wir  uns  bemühen, 
unserer  Übersetzung  die  Eigenart  einer  Volksbibel  zu  erhalten, 
desto  schwerer  müsste  uns  sein  Vorwurf  treffen,  dass  sie  „als 
neue  wissenschaftliche  Arbeit  nichts  leistet,  was  nicht  andere  vor- 
handene Werke  auch  leisten".  Wir  sehen  aber  hierüber  dem 
Ausspruch  anderer  Beurteiler  getrost  entgegen.  Aus  unserer  un- 
säglich mühsamen  Vergleichung  von  nahezu  dreißig  Übersetzungen 
wissen  wir,  wie  selten  in  ihnen  (mit  Einschluss  der  von  ihm  so 
hoch  gepriesenen  Glarner  Bibel)  die  Goldkörner  sind,  die  wir  be- 
nutzen können,  und  wie  erstaunlich  oft  sie  das  Brett  bohren,  wo 
es  am  dünnsten  ist;  und  davon  vollends,  dass  eine  bestimmte 
einzelne  von  ihnen  die  Anforderungen  auch  nur  von  fern  erfüllte, 
die  wir  an  uns  stellen,  kann  nach  unsern  Beobachtungen  gar 
keine  Rede  sein.  Ob  Herr  Pfarrer  Blocher  eine  ebenso  müh- 
same Vergleichung  angestellt  hat,  ehe  er  sein  Urteil  sprach, 
wissen  wir  nicht. 

Über  Druck  und  Aussehen  der  Proben  urteilt  er  so  ungünstig 
wie  nur  möglich:  „Die  allergewöhnlichste  Zeitungsletter,  ein  un- 
ruhiges, zerhacktes  Gesamtbild,  .  .  .  unschön  angebrachte  Über- 
schriften" usw.  Er  hat  also  gar  nicht  gesehen,  was  doch  jedem 
irgend  achtsamen  Betrachter  geradezu  ins  Auge  springen  muss, 
dass  wir  in  den  verschiedenen  Teilen  unserer  Proben  eine  ganze 
Anzahl  von  Druckeinrichtungen  absichtlich  verschieden  geben, 
damit  jedermann  sagen  kann,  was  ihm  besser  gefällt;  die  Schluss- 
seite der  Vorbemerkungen,  auf  der  wir  diese  zur  Wahl  gestellten 
Einrichtungen  einzeln  aufführen,  hat  er  gar  nicht  gelesen.  Und 
trotzdem  dieses  Verdammungsurteil  vor  den  Lesern  von  „Wissen 


287 


und  Leben",  die  auf  solche  Dinge  sicher  Gewicht  legen.  —  Gerade 
für  sie  sei  deshalb  noch  erwähnt,  dass  unsere  Probe  inbezug  auf 
Schriftart,  Schriftgröße,  Papier  usw.  noch  gar  nichts  Endgültiges 
bieten  will  und  dass  man  alle  Anregungen  hierüber  gern  prüfen 
wird,  so  weit  die  Geldmittel  reichen. 

Dass  die  Klammern  und  die  andern  Zeichen  mitten  im  Text 
für  die  erbauliche  Benutzung  der  Bibel  nicht  förderlich  sind,  em- 
pfinden wir  mit  Herrn  Pfarrer  Blocher  sehr  wohl,  und  wir  würden 
sie  sehr  gern  weglassen,  wenn  er  uns  nur  sagen  wollte,  wie 
wir  ohne  sie  dem  Leser  die  Auskünfte  geben  können,  die  wir 
ihm  nun  einmal  schuldig  zu  sein  glauben.  Sie  für  unnötig  zu 
erklären  hilft  gar  nichts;  wir  wissen  sehr  genau,  wie  willkommen 
sie  denen  sein  werden,  die,  um  einen  von  Herrn  Pfarrer  Blocher 
fast  geringschätzig  gebrauchten  Ausdruck  aufzunehmen,  „gern 
wüssten,  wie  es  eigentlich  heißt",  und  wie  oft  man  ohne  sie 
völlig  ratlos  sein  würde.  Der  Kürze  halber  sei  nur  auf  die  oben 
(Seite  312)  abgedruckte  Klammer  in  Psalm  16.4  verwiesen.  Was 
ist  das  kleinere  Übel,  was  ist  insbesondere  für  die  Erbauung 
weniger  störend:  dass  man,  wie  bei  Luther,  keine  Ahnung  hat,, 
warum  es  so  viel  Herzeleid  bringt,  einem  andern  nachzueilen,, 
oder  dass  man  in  einer  Klammer  erfährt,  es  handle  sich  darum, 
nicht  andern  [Göttern]  nachzueilen? 

Das  Gleiche  wie  von  den  Zeichen  im  Text  gilt  von  unsern 
Fußnoten,  von  denen  Herr  Pfarrer  Blocher  die  meisten  —  also 
doch  nicht  alle  —  entbehrlich,  einige  durch  ihre  Schulmeisterlich- 
keit abstoßend  findet.  Eines  Wortes  bedarf  nur  die  eine,  über 
die  er  sagt:  „Abgeschmackt  ist  eine  Fußnote  zu  Matthäus  1.16 1) 
über  die  jungfräuliche  Geburt  Jesu;  sie  wird  zur  Folge  haben, 
dass  in  den  Kreisen,  die  am  meisten  Bibeln  zu  kaufen  pflegen. 
Misstrauen  gegen  die  neue  Übersetzung  entsteht,  die  mit  dergleichen 
Anmerkungen  wie  eine  theologische  Parteiangelegenheit  aussieht. 


*)  Den  Bibeltext  geben  wir  hier,  ohne  wesentliche  Abweichung  von 
der  bisherigen  Zürcher  und  der  Lutherschen  Übersetzung,  so :  Jakob  zeugte 
den  Joseph,  den  Mann  der  Maria,  von  der  Jesus  geboren  wurde,  welcher 
der  Christus  genannt  wird. 

Dazu  folgende  Fußnote:  Christus  bedeutet:  der  Heiland  (wörtlich:  der 
Gesalbte).  —  Einige  Zeugen,  zum  Teil  von  hohem  Alter,  lassen  in  ver- 
schiedener Weise  erkennen,  dass  Jesus  einer  andern  Gestalt  des  Textes, 
zufolge  als  ehelicher  Sohn  des  Joseph  und  der  Maria  betrachtet  wurde. 

288 


während  sie  eine  Sache  der  ganzen  Landeskirche  sein  sollte". 
Das  Erste,  was  man  hier  beobachten  kann,  ist  dies:  der  Vorwurf 
der  Abgeschmacktheit  wird  im  weitern  Verlauf  des  Satzes  nicht 
begründet;  das  Urteil  wird  als  ein  ästhetisches  eingeführt,  ist  aber 
ein  dogmatisches  oder,  wenn  man  lieber  will,  ein  kirchenpoliti- 
sches. Sodann  weiß  Herr  Pfarrer  Blocher,  dass  in  der  neutesta- 
mentlichen  Sektion,  die  für  diese  Fußnote  ganz  allein  verantwort- 
lich ist,  die  freisinnige  Richtung  nur  über  eine  Minderheit  von 
zwei  Mitgliedern  verfügt.  Bei  Entscheidung  der  Frage  stand  ihr 
übrigens  eine  Mehrheit  von  vier  konservativen  gegenüber,  drei 
durch  das  zürcherische  Bibelkomitee  der  Evangelischen  Gesellschaft 
gewählte  und  Professor  Kägi,  der  zu  unserm  großen  Bedauern 
inzwischen  aus  Gesundheitsrücksichten  zurückgetreten  ist  (an  seine 
Stelle  kam  Pfarrer  Kägi  in  Oetwil,  der  sich  keiner  von  beiden 
Richtungen  zuzählt).  Herr  Pfarrer  Blocher  sagt  aber  seinen  Lesern 
nicht,  dass  die  freisinnige  Richtung  stets  nur  zwei  Stimmen  hatte, 
und  tut  somit  nichts,  um  den  wirklich  naheliegenden  Schluss  aus 
seinen  eigenen  Worten  zu  verhüten,  die  freisinnige  Partei  habe 
diese  Fußnote  aus  Parteiinteresse  durchgesetzt.  Ich  darf  ihm  mit- 
teilen, dass  die  konservative  Mehrheit  anfangs  ebenfalls  keine  Fuß- 
note wollte.  Sie  hat  sich  aber  gemäß  dem  treuen  Wahrheitssinn, 
der  uns  bei  allen  Meinungsverschiedenheiten  immer  wieder  zu- 
sammenführt, überzeugt,  dass  das,  was  jetzt  in  der  Fußnote  steht, 
eine  Tatsache  ist  und  dass  diese  Tatsache  —  andere  Wortfassung 
vorbehalten  —  um  der  Wahrhaftigkeit  willen  unbedingt  mitgeteilt 
werden  muss.  —  Herr  Pfarrer  Blocher  will  mit  Recht,  dass  die 
neue  Übersetzung  eine  Sache  der  ganzen  Landeskirche  sein  soll. 
Zur  ganzen  Landeskirche  gehört  doch  wohl  auch  für  ihn  die  frei- 
sinnige Richtung  ebenfalls,  deren  Anhängern  die  Lehre  von  der 
jungfräulichen  Geburt  Jesu  so  ernsten  Anstoß  bereitet  und  einen 
engen  Anschluss  an  die  offizielle  Kirche  so  sehr  erschwert.  Unsere 
Probe  trägt  nun  aber  dieser  Richtung  keine  weitergehende  Rechnung, 
als  dass  sie  die  der  jungfräulichen  Geburt  Jesu  entgegenstehende 
Textgestalt  in  einer  Fußnote  bespricht;  im  Bibeltext  selbst  lässt 
sie  den  bisherigen  Wortlaut  stehen,  der  die  jungfräuliche  Geburt 
Jesu  ausspricht.  Bei  diesem  Tatbestand  kann  die  Streichung  der 
Fußnote,  wenn  von  Parteiinteressen  die  Rede  sein  soll,  nur  aus 
einem  ganz  einseitigen,  engen  Parteiinteresse  gefordert  werden. 

289 


Doch  zum  Schluss.  Es  ist  mir  noch  nie  ein  Theologe  be- 
gegnet, der  so  wie  Herr  Pfarrer  Biocher  imstande  gewesen  wäre, 
auf  die  Richtigkeit  der  Bibelübersetzung,  die  er  in  seinem  Amte 
gebraucht,  zu  verzichten  und  sich  mit  ihrer  Schönheit  zu  begnügen, 
auch  wenn  diese  Schönheit  der  wirlclichen  Bibel  gar  nicht  eigen 
ist.  Mit  dem  größten  Erstaunen  ruft  er  aus :  „Statt  dessen  (näm- 
lich: dass  sie  im  Deutschen  Meister  wären)  erwarten  sie  sogar 
von  uns,  wir  sollen  ihre  Arbeit  mit  Hilfe  des  Grundtextes  prüfen!" 
Ja,  wonach  prüft  denn  er  eine  Arbeit,  die  eine  Übersetzung  ist? 

Um  so  mehr  möchte  ich  betonen,  dass  wir  alles  bereitwillig 
prüfen  werden,  was  er  uns  etwa  an  positiven  Vorschlägen  bieten 
will,  von  denen  sein  Aufsatz,  abgesehen  von  den  Hinweisen  auf 
Luther,  so  völlig  leer  ist.  Wir  sind  sicher  alle  überzeugt,  von 
ihm  lernen  zu  können. 

Aber  das  muss  doch  noch  ausgesprochen  werden:  zur  Kultur 
rechne  ich  auch  das  Durchdringen  des  Wahrheitsinteresses  in  der 
Erforschung  der  Bibel  so  gut  wie  auf  andern  Gebieten  des  mensch- 
lichen Wissens,  und  die  Erschließung  ihrer  gesicherten  Ergebnisse 
für  die  weitesten  Kreise  des  Volkes,  das  bei  Befolgung  der  Grund- 
sätze von  Herrn  Pfarrer  Blocher  verurteilt  ist,  ewig  in  seiner 
Unwissenheit  zu  bleiben.  Die  von  mir  gemeinte  Kultur  aber 
schreitet  fort,  und  deshalb  betrachte  ich  es  als  eine  Kulturtat  —  nicht, 
dass  man  die  Lutherbibel  für  ewig  gültig  erklärt,  sondern  dass 
man  die  Zürcher  Bibel  immer  von  neuem  verbessert  hat.  Gewiss, 
die  zahlreichen  Umarbeitungen  haben  zwar  keineswegs,  wie  Herr 
Pfarrer  Blocher  mit  riesiger  Übertreibung  sagt,  von  ihr  sozusagen 
nichts  übrig  gelassen,  aber  sie  haben  allerdings  nicht  weniges  an 
ihr  geändert.  Das  waren  jedoch  eben  Verbesserungen,  die  die 
ursprünglichen  Übersetzer  nur  zu  gern  angebracht  hätten,  wenn 
sie  dazu  schon  imstande  gewesen  wären.  Um  den  Hinweis 
auf  Zwingiis  und  Leo  Juds  teures  Erbe  als  nichtig,  ja  als  lächer- 
lich hinzustellen,  sagt  Herr  Pfarrer  Blocher:  „Das  Erbe  kann  also 
nur  darin  bestehen,  dass  man  in  Zürich  an  dem  Grundsatz  fest- 
hält, eine  eigene  Bibelübersetzung  zu  gebrauchen  und  sie  immer 
von  Zeit  zu  Zeit  neu  zu  bearbeiten".  Wider  Willen  spricht  er 
damit  gerade  das  Richtige  aus,  das  zudem  in  der  Geschichte  der 
Bibelübersetzungen  einzig  dasteht.  Und  so  wollen  wir  hoffen, 
dass  andere   Beurteiler  unser  Werk  nicht  von   vornherein   ver- 

2Q0 


werfen,  sondern  lediglich  darauf  hin  prüfen  werden,  ob  wir  die 
Vorschrift  der  Kirchensynode  von  1907  ausgeführt  haben,  welche 
lautet : 

„Der  neuen  Übersetzung  ist  in  erster  Linie  der  Wortlaut  der 
Zürcher  Ausgabe  von  1892  zugrunde  zu  legen.  Überall  aber  ist 
derselbe  auf  seine  Richtigkeit  genau  zu  prüfen,  und  wo  er  im 
Widerspruch  steht  mit  dem  wirklichen  Sinn  oder  mit  dem  richtig 
erstellten  Grundtext,  oder  wo  er  sonst  unschön,  ungenau,  unklar 
ist,  soll  er  verbessert  werden.  Hierbei  sind  die  besten  vorhan- 
denen Übersetzungen  in  erster  Linie  zu  benutzen;  nur  wo  diese 
ungenügend  sind,  ist  neuer  Ausdruck  zu  suchen". 

ZÜRICH  PAUL  SCHMIEDEL 


NACHSCHRIFT 

Auf  den  von  Herrn  Pfarrer  Blocher  am  Schlüsse  seines  Artikels  uns 
gegebenen  Rat,  wir  möchten  unser  Werk  „vor  der  Drucklegung  einer  Ver- 
einigung von  Sprachkundigen  unterbreiten,  die  womöglich  nicht  hebräisch 
und  griechisch  können,  sondern  nur  deutsch,  und  unbarmherzig  alles 
,Adäquate'  streichen,  um  dafür  Ebenmaß,  Tonfall,  Kraft  und  Schönheit  hin- 
einzubringen", bin  ich  absichtlich  nicht  eingegangen,  weil  es  dann  selbst- 
verständlich eine  Torheit  wäre,  unsere  Arbeit  überhaupt  weiterzuführen, 
und  weil  Herr  Pfarrer  Blocher  ja  ohnehin  im  Ernst  gar  nicht  ihre  Ver- 
besserung, sondern  ihre  Einstellung  wünscht.  Da  ich  aber  erfahren  habe, 
dass  seine  Meinung  in  anderer  Form  Anklang  zu  finden  scheint,  sei  noch 
die  Bitte  ausgesprochen :  man  möge  doch  ganz  genau  sagen,  wie  man  sich 
die  Ausführung  der  Sache  denkt.  Sollen  diese  Sprachkundigen  ihre  Vor- 
schläge uns  schriftlich  einreichen  und  auf  schriftlichem  Wege  die  Antwort 
erhalten,  wie  viele  davon  sie  wegen  Unvereinbarkeit  mit  dem  Urtext  durch 
neue  ersetzen  müssten?  Sollen  sie  an  unsern  Sitzungen  zweimal  in  der 
Woche  je  vier  Stunden  teilnehmen  und  darin  endlose  Aufklärungen  über 
den  Sinn  des  Urtexts  nötig  machen?  Wer  soll  die  entscheidende  Stimme 
haben?  Und  wer,  der  sie  nicht  bekommt,  soll  überhaupt  Freude  an  der 
Arbeit  finden? 


aua 


291 


LA  „MUSE"  DE  FLAUBERT 

.  .  .  „Puis  ce  bruit  mensonger  se  tut  en  meme  temps  que 
se  ternissait  sa  beaute.  Rien  ne  resta  de  tant  d'adoration.  Et 
malgre  tout  ce  qu'a  de  deplaisant  la  reclame  effrenee  qu'elle 
s'appliqua  sans  reläche  ä  se  faire  ä  elle-meme,  le  coeur  se  serre 
ä  voir  finir  dans  un  tel  abandon  une  vie  ä  ses  debuts  si  bril- 
lante. Victime  d'elie-meme,  de  son  milieu,  de  son  epoque,  Ma- 
dame Colet  est  certainemem  moins  encore  ä  blämer  qu'ä  plain- 
dre."  Ces  lignes  sont  les  dernieres  du  livre  piquant  et  neuf  que 
M"^  J.  de  Mestral-Combremont  a  ecrit  sur  La  Belle  Madame 
Colet  (in-12,  Payot  et  Cie,  editeurs,  Lausanne).  J'ai  dit:  „neuf", 
et  je  ne  m'en  dedis  point,  car  si  la  tumultueuse  amie  de  Gustave 
Flaubert,  et  de  quelques  autres,  a  trop  mele  sa  vie  ä  sa  litte- 
rature  pour  n'etre  qu'une  demi-inconnue,  on  ne  savait  d'elle  que 
ce  qu'il  lui  avait  plu  d'en  apprendre  elle-meme  ä  ses  contem- 
porains;  je  concede  que  la  correspondance  de  l'auteur  de  Sa- 
lammbö  a  mis  bien  des  choses  au  point  et  que  cette  „deesse  des 
romantiques"  n'a  pas  manque  de  detracteurs  feroces,  mais  il 
restait  du  mystere  sur  eile.  La  tres  fine  et  tres  attentive  etude 
de  M"^  de  Mestral,  gräce  ä  des  documents  inedits  utilises  de 
fa^on  experte,  gräce  ä  Tintelligente  et  libre  maniere  de  la  bio- 
graphe,  nous  permet  de  suivre,  des  les  debuts  jusqu'ä  la  fin,  la 
destinee  de  cette  jolie  femme  qui  chercha  la  gloire  pour  recueil- 
lir  le  bruit  et  ä  laquelle  des  adulateurs  interesses  donnerent  du 
talent  ou  du  genie. 

Comme  un  jeune  alcyon,  le  jour  oü  je  suis  nee, 
Mon  regard  embrassa  la  Mediterranee  .  .  . 

Madame  Louise  Colet  a  beaucoup  rime ;  eile  s'est  copieuse- 
ment  racontee  en  vers  et  en  prose.  Ces  deux  alexandrins,  si  nous 
ne  nous  en  etions  doute,  nous  annonceraient  qu'elle  est  du  Midi. 
En  revanche,  ils  ne  nous  conduiraient  pas  ä  Aix-en-Provence, 
oü  fut  son  berceau,  puisque  l'on  n'ignore  point  que,  de  la  ville 
d'Aix,  la  mer  n'est  pas  visible.  Un  petit  mensonge,  dans  lequel 
on  pourrait  n'apercevoir  qu'une  assez  venielle  licence  poetique; 
ilestsignificatif  cependant.  M"^^  Colet,  parmi  toutes  les  amours  qui 
se  sont  Offertes  ä  eile,  n'a  pas  choisi  l'amour  de  la  verite.  Elle 
a  la  passion  des  travestissements  qui  la  flattent.     Elle  joue  avec 

292 


ses  Souvenirs   comme  eile  jouera   plus  tard  avec  les  coeurs,  et 
comme  Ton  jouera  vivement  avec  le  sien. 

Elle  se  crut  la  vocation  d'une  muse.  D'insuffisantes  notions 
de  prosodle  ne  l'empechaient  nullement  d'affirmer: 

La  Poesie  m'a  dit:  „Tu  seras  reine!" 

Malgre  tous  les  eloges  que  lui  prodiguerent  Victor  Cousin, 
Gustave  Flaubert  et  d'autres,  eile  fut,  bien  plutöt  qu'une  „reine" 
du  Parnasse,  la  „Venus  de  Milo  en  marbre  chaud"  qu'Alfred  de 
Musset  ne  dedaigna  point  apres  la  quarantaine.  Mais  quoi! 
Victor  Hugo  l'avait  portee  aux  nues:  „Planez,  c'est  votre  devoir 
d'aigle".  II  rencherissait  simplement  sur  Chateaubriand,  et  sur 
^me  colet  elle-meme: 

J'entrevols  sur  ma  tombe  une  foule  soumise, 

Un  immortel  vieillard  me  dit:  „Tu  m'es  promise!" 

Et  mon  front  couronne  s'appuie  au  front  du  Temps. 

Sa  famille,  qui  etait  de  petite  bourgeoisie,  s'appliqua  vaine- 
ment  ä  contrarier  des  goüts  litteraires  qu'elle  jugeait  ridicules. 
Louise  Colet  se  gardera  bien  de  ne  pas  nous  en  informer: 

Nos  sentiments  luttaient  dans  d'eternels  combats; 

Les  miens  planaient  trop  haut,  les  leurs  rampaient  trop  bas. 

A  douze  ans,  eile  a  dejä  les  pretentions  et  les  manies  du 
bas-bleu.  Elle  grandit,  et  comme  le  note  spirituellement  M"^  de 
Mestral,  on  pouvait  penser  que  „sa  figure  vaudrait  mieux  que 
ses  vers".  Apres  M"^^  de  Stael  et  avec  le  meme  insucces,  eile 
attendit  „l'aureole",  —  le  feerique  mariage  qui  la  sortirait  de  sa 
province  et,  par  des  routes  fleuries,  la  menerait  au  pays  de 
renommee. 

Le  Prince  Charmant  se  deroba,  ou  ne  vint  point.  C'est  alors 
que  M.  Hippolyte  Colet  surgit  ä  l'horizon.  Professeur  d'harmonie 
au  Conservatoire,  s'il  n'etait  qu'un  parti  modeste,  il  avait  du 
moins  cette  superiorite  sur  d'autres  fiances  possibles:  il  installe- 
rait  son  menage  ä  Paris.  Or,  Paris,  n'etait-ce  pas,  pour  celle  ä 
laquelle  la  Poesie  avait  dit:  „tu  seras  reine",  n'etait-ce  pas  la  no- 
toriete  et  la  fortune? 

Un  des  premiers  soins  de  M'"^  Colet  fut  de  publier  ses  vers, 
qui  sombrerent  dans  un  cruel  silence.  Malheureusement,  l'Aca- 
demie  fran^aise   la  couronna   en    1837   pour  une  poesie  sur  le 

293 


„musee  de  Versailles".  La  jeune  laureate  perdit  la  tete.  Elle  se 
Vit  promise  ä  rimmortalite.  Au  cours  des  visites  qu'elle  fit  ä 
des  academiciens  qui  avaient  vote  pour  eile,  Louise  Colet  monta 
l'escalier  du  philosophe  Victor  Cousin.  Elle  aurait  pu,  dans  la 
suite,  rectifier  ces  deux  phrases  de  Jules  Simon  sur  l'inventeur 
de  l'eclectisme:  „11  n'y  a  pas  de  femmes  dans  sa  vie,  ou  du 
moins  il  n'y  a  pas  de  femmes  Vivantes.  11  reste  cette  grande 
lacune  dans  son  coeur  et  dans  son  talent".  Une  allusion  de  Cou- 
sin ä  un  certain  „colombier  de  Passy",  dans  l'une  de  ses  lettres 
ä  M"^^  Colet,  nous  dispense  d'appuyer  sur  les  melancoliques  et 
candides  regrets  de  Jules  Simon.  L'aventure,  d'ailleurs,  fut  tres 
banale,  l'amour  yetant  moins  encombrant  que  l'interet  et  la  vanite. 
Une  belle  maitresse,  un  protecteur  puissant.  Cela  explique  tout. 
„Pour  n'etre  pas  en  reste  de  bons  procedes,  ajoute  M"^  de  Mes- 
tral,  Cousin  pilotait  assidüment,  dans  les  theätres  et  dans  les 
revues  la  litterature  de  son  amie".  La  liaison  dura  un  lustre  ou 
deux,  traversee  de  recriminations,  de  querelies  et  de  brouilles. 

Devenu  ministre  en  1840,  Victor  Cousin  usa  et  abusa  de  sa 
Situation  pour  imposer  la  copie  de  sa  muse  un  peu  partout. 
Alphonse  Karr  s'en  divertit  mechamment  dans  les  Guepes:  par 
un  grossier  jeu  de  mots,  il  insinua  meme  que  l'enfant  attendu  par 
M"!^  Colet  avait  pour  pere  quelqu'un  qui  n'etait  pas  le  mari,  mais 
le . , .  Cousin.  Lä-dessus,  une  scene  de  melodrame.  M"^^  Colet  se  pre- 
cipite  chez  Alphonse  Karr.  Elle  s'est  armeed'un  couteau  . . .  Laissons- 
lui  la  parole;  „Je  le  trouvai  sur  sa  porte,  en  manches  de  chemise. 
Je  ne  lui  dis  que  ces  mots:  —  J'ai  ä  vous  parier.  II  m'engagea 
ä  entrer  chez  lui,  et  comme  il  se  penchait  vers  la  löge  de  son 
portier,  je  le  frappai  dans  les  reins.  Quelques  gouttes  de  sang 
jaillirent.  Le  couteau  avait  glisse".  Karr  la  reconduisit  poliment 
et,  pour  toute  vengeance,  il  se  contenta  de  suspendre  dans  son 
cabinet  de  travail,  comme  un  trophee,  l'instrument  tombe  des 
mains  de  M"^^  Colet.  Avec  cette  amüsante  suscription :  „Donne 
par  M'"^  Louise  Colet  .  .  .  dans  le  dos". 

Quand  Victor  Cousin  eut  obtenu  du  ministere  une  pension 
pour  son  impetueuse  amante,  quand  il  fut  las,  moins  de  lui  ren- 
dre  des  Services,  que  de  supporter  un  caractere  violent  et  om- 
brageux  ä  Texces,  il  rompit  definitivement  avec  M"^^  Colet.  Celle- 
ci  ne  negligea  pas  de  cultiver  les  reiations  utiles  qu'elle  avait 

294 


nouees  par  rintermediaire  de  Cousin:  Beranger,  Ampere,  Ma- 
dame Recamier.  Elle  etait  femme  de  lettres  avant  tout;  decidee 
ä  reussir,  coüte  que  coüte,  et  n'y  parvenant  point  par  ses  pro- 
pres forces,  eile  ne  meprisait  pas  les  concours  profitables. 

Celle  que  Barbey  d'Aurevilly  baptisa  „la  Muse  turbulente, 
Imprecatoire  et  spumeuse"  n'en  etait  pas  moins  dans  une  position 
etroite  et  precaire.  Elle  etait  condamnee  aux  expedients  pour 
vivre.  Mais  son  salon  attirait  encore  les  celebrites  du  jour.  On 
y  rencontrait  Villemain,  Mignet,  Theophile  Gautier:  „Alfred  de 
Vigny  lui-meme,  raille  l'impitoyable  Barbey  d'Aurevilly,  Alfred  de 
Vigny,  ce  cygne,  s'abattit  un  instant  sur  cette  mare".  Et,  d'apres 
M"^  de  Mestral,  „le  mot  de  l'enigme  ne  serait,  je  le  crains,  guere 
ä  la  louange  du  poete  que  Ton  se  represente  enferme  dans  sa 
tour  d'ivoire,  les  yeux  imperturbablement  fixes  sur  les  etoiles", 
—  les  etoiles  de  theätre,  helas!  comme  M'"^  Dorval,  ou  les  etoi- 
les de  cenacle  comme  M"^^  Colet! 

Au  mois  de  juillet  1846,  avant  meme  d'avoir  echange  des 
adieux  assez  froids  avec  Cousin,  Louise  Colet  s'enflamma  pour 
Gustave  Flaubert.  Comme  l'indique  M"^  de  Mestral:  „La  partie 
etait  trop  inegale  entre  le  jeune  provincial  de  vingt-quatre  ans, 
presque  Ignorant  de  la  femme,  et  l'experte  coquette  qui  resolut 
d'emblee  de  s'en  faire  aimer.  Elle-meme  d'ailleurs  fut  prise  ä 
son  piege:  car,  si  Ton  peut  dire  que  Louise  Colet  connut  l'amour, 
je  crois  bien  que  ce  fut  par  Gustave  Flaubert."  L'idylle,  avec 
beaucoup  de  litterature  autour,  enchanta  d'abord  le  plus  novice 
des  deux  amoureux.  Quelle  tendresse  et  quelle  ivresse  ne  res- 
pirent  pas  certaines  lettres  de  Flaubert  ä  celle  qui  le  traitera  plus 
tard  de  „larron  polluant  les  voluptes  ineffables  qu'il  m'a  dero- 
beesi".  11  a  re<;u  le  coup  de  foudre,  quoique,  des  les  premieres 
semaines,  il  sente  que  son  reve  ne  sera  pas  eternel.  C'est  que, 
si  le  coeur  est  touche,  le  cerveau  n'abdique  pas.  Flaubert,  aux 
pieds  de  M*"^  Colet,  n'en  est  pas  moins  l'esclave  de  son  art. 

Elle  a  de  furieuses  exigences  de  passion.  Elle  n'admet  point 
que  son  ami  ne  lui  sacrifie  pas  tout.  Quand  il  persiste  ä  de- 
meurer  au  Croisset,  pour  consoler  sa  mere  en  deuil,  et  n'accourt 
pas  au  moindre  signe  ä  Paris,  eile  l'accable  de  sa  Jalousie  soup- 
^onneuse  et  de  ses  impatiences  ameres.  Comme  il  tient  bon,  et 
comme  eile  a  peur  qu'il  ne  la  congedie  dans  un  acces  de  colere» 

295 


eile  bat  prudemment  en  retraite.  Mais  eile  est  trop  le  „bei  orage* 
que  fut  M"^^  de  Stael  pour  se  resigner  aux  concessions  necessal- 
res.  On  se  raccommode,  on  se  boude,  on  s'accuse,  on  se  revoit, 
et  cela  continue  ainsi,  deux  ans  durant.  En  avril  1848,  Flau- 
bert, qui  est  excede  de  tout  ce  manege,  part  pour  l'Egypte  avec 
Maxime  Du  Camp.  Son  absence  se  prolongea  jusqu'en  1851. 

A  son  retour,  11  retomba  sous  le  joug.  Mais  la  ferveur  d'an- 
tan  est  bien  morte.  L'amour  n'est  plus  que  la  survivance  d'une 
tyrannique  habitude.  M*"«  Colet  gemit  de  Tinsuffisance  sentimen- 
tale de  Flaubert,  lorsqu'elle  ne  s'en  indigne  point.  II  plaide  les 
circonstances  attenuantes:  il  est  „vieilli",  il  est  „nerveux  ä  s'eva- 
nouir",  il  est  „plein  de  doute  du  dedans  et  du  dehors".  Et  puis, 
il  est  en  proie  aux  affres  du  style:  „Quel  lourd  aviron  qu'une 
plume  et  combien  l'idee,  quand  il  faut  la  creuser  avec,  est  un 
dur  courant!"  Faute  de  mieux,  il  envoie  ä  sa  muse  des  conseils 
litteraires  et  de  l'encens  confraternel :  „Soigne  bien  tes  vers;  au 
point  oü  tu  en  es,  tu  ne  dois  plus  te  permettre  un  seul  vers 
faible  ...  La  correction  fait  ä  la  pensee  ce  que  l'eau  du  Styx 
faisait  au  corps  d'Achille;  eile  la  rend  invulnerable  et  indestruc- 
tible".  La  desillusion  se  demasque,  l'ennui  est  lä. 

De  l'humeur  et  du  temperament  dont  eile  est,  M*^^  Colet 
s'exaspere  ä  la  lecture  de  ces  epttres.  Son  depit  s'exhale  en  fou- 
gueuses  apostrophes.  Flaubert  essaie  de  la  raisonner,  ou  de  rire:  „Sa- 
cree|[Muse,  va,  que  tu  es  drole!"  La  derniere  entrevue  qu'il  eut  avec 
eile  faillit  tourner  au  tragique.  11  ne  revint  plus.  En  1859,  il  man- 
dait  ä  Ernest  Feydeau:  „Veux-tu  te  distraire?  Fais-moi  le  plaisir 
d'acheter  Lui,  roman  contemporain  par  M"i^  Louise  Colet.  Tu  y 
reconnaitras  ton  ami  arrange  de  belle  fa(;on.  Mais,  pour  com- 
prendre  entierement  l'histoire  et  surtout  l'auteur,  procure-toi 
d'abord:  1".  La  Servante,  poeme  oü  le  gars  Musset  est  aussi 
ereinte  qu'il  est  exalte  dans  Lui,  et  2°.  Une  hlstoire  de  Soldat, 
roman  dont  je  suis  le  principal  personnage.  Tu  n'imagines  pas  ce 
que  c'est  comme  canaillerie".  Et  voilä  comment  s'achevent  les 
amours  oü  il  y  eut  trop  d'encre  d'imprimerie! 

Le  „gars  Musset"  fut  de  la  galerie  de  Louise  Colet.  Et  d'au- 
tres.  Nous  pouvons  tirer  le  rideau. 

11  serait  injuste  de  taire  que  M'"^  Colet  a  ete  une  laborieuse. 
Les  besoins  de  son  menage  et  les  frais  de  ses  receptions  l'obii- 

296 


geaient  ä  produire  infatigablement.  Sans  treve,  eile  bäclait  des 
articles,  des  nouvelles,  des  volumes  qu'on  lui  payait  mal,  mais 
qui,  leur  nombre  aidant,  representaient  un  peu  d'or.  Elle  se 
lan9a  meme  dans  les  historiettes  pour  enfants.  II  est  vrai  que  le 
Pamphlet  ou  le  roman  ä  clef  etaient  davantage  dans  sa  note. 
Elle  y  deposait  tout  le  fiel  de  ses  deceptions,  tout  le  poison  de 
ses  rancunes.  Son  ambition  eüt  ete  d'avoir  une  place  dans  les 
Lundis  de  Sainte-Beuve;  le  critique,  en  depit  des  plus  adroites 
et  des  plus  pressantes  solllcitations,  fit  obstinement  la  sourde 
oreille. 

Tout  pres  de  la  cinquantaine,  eile  gardait  des  charmes.  On 
ne  cueille  plus  les  fleurs  qui  vont  se  faner.  Remuante  et  tapa- 
geuse  comme  toujours,  eile  versa  dans  la  politique.  Puis,  eile 
parcourut  le  Midi  de  la  France  et  1' Italic.  A  Rome,  toute  sa  di- 
plomatie  se  brisa  contre  la  finesse  peninsulaire.  A  Milan,  eile 
echoua  dans  son  projet  de  fonder  un  Journal  oü  eile  s'etait 
assure  cinqcents  francs  d'appointements  par  mois.  En  1864,  eile 
eut  la  mortification  d'apprendre  qu'on  ne  la  tolererait  plus  ä 
Rome;  eile  s'y  rendit  quand  meme,  et  la  mansuetude  des  auto- 
rites  romaines  eut  sans  doute  des  causes  identiques  au  silence 
de  Sainte-Beuve.  En  1869,  eile  intrigua  si  bien  qu'elle  fut  invitee 
ä  participer  aux  fetes  de  l'inauguration  du  canal  de  Suez.  Elle 
etait  ä  Tage  oü  les  femmes  de  sa  reputation  fönt  le  vide  aupres 
d'elles.  Litteralement,  on  la  fuyait,  un  peu  pour  les  scandales  de 
son  passe,  beaucoup  parce  qu'elle  etait  vieille  et  qu'on  redoutait 
sa  langue  comme  sa  plume.  Theophile  Gautier  feint  de  ne  pas 
la  reconnattre.  Fromentin,  Berthelot,  Pelletan  sont  de  glace.  Elle 
sefigurequesil'ons'ecarted'elle,  c'est  parce  qu'elle  a  publie  sa  „Sa- 
tire Paris-Matiere  qui  flagellait  les  vices  de  la  cour  imperiale". 
Pour  eile,  les  „agressions  tacites"  des  „hommes  officiels"  n'ont 
pas  d'autre  raison.  Elle  se  drape  dans  son  orgueil.  Elle  brave 
le  sort. 

Du  moins,  eile  put  abondamment  narrer  ses  peregrinations, 
qu'elle  entremela  de  ses  Souvenirs.  Le  fantöme  de  Gustave  Flau- 
bert n'est  pas  absent  de  cette  litterature;  il  est  maltraite  ä  sou- 
hait.  Avoir  exerce  une  sorte  de  royaute  amoureuse  et  n'etre  plus 
que  ce  qu'elle  etait,  il  faut  avouer  qu'un  philosophe  meme  aurait 
pu  montrer  de  l'aigreur.  A  Paris,  on  ne  prete  plus  qu'une  atten- 

297 


tion  distraite  ä  ses  livres.  Elle  signe  une  affiche  feministe  en  sep- 
tembre  1870.  Quelques  mois  apres,  eile  se  ränge  du  cote  de  la 
Commune.    Revolte  et  decadence! 

Louise  Coiet  mourut  en  1876.  Maxime  Du  Camp  iui  dedia 
cette  epitaphe: 

Ci-git 

Celle  qui  compromit  Victor  Cousin, 
Ridiculisa  Alfred  de  Musset, 
Vilipenda  Gustave  Flaubert 
Et  tenta  d'assassiner  Aiphonse  Karr. 

Que  la  „Muse"  füt  une  aga(;ante,  envahissante  et  mediocre  per- 
sonnalite,  nul  n'y  contredira.  Et  pourtant,  ses  lautes  et  ses  faiblesses 
ne  seraient-elles  pas  le  fait  de  son  visage,  de  son  epoque  et  de  son 
milieu  tout  autant  que  de  son  caractere?  M"^  de  Mestral  indine 
ä  le  penser:  „Car  enfin,  meme  en  l'an  de  gräce  1840,  si  M"^« 
Colet  avait  ete  laide,  tout  porte  ä  croire  qu'elle  aurait  coule  ob- 
scurement  et  paisiblement,  ä  Aix  ou  ä  Paris,  son  existence  de 
petite  bourgeoise  .  .  .  Son  tort  ä  eile  tut  de  ne  pas  compren- 
dre  qu'en  pronon^ant  esprit,  talent,  genie,  ses  adorateurs  ne 
voulaient  [jamais  dire  que  beaute."  L'Academie  couronna  les 
larges  yeux  bleux  et  les  süperbes  boucles  blondes.  Cousin,  Flau- 
bert, Vigny,  Musset  admirerent  les  magnifiques  epaules  de  cette 
„Venus  de  Milo  en  marbre  chaud".  Le  coeur  masculin,  aux  plus 
grandes  heures  de  la  periode  romantique,  accomplissait  des  pro- 
diges  d'egoisme  et  d'hypocrisie.  Louise^ Colet  s'imagine  qu'elle 
est  aimee,  et  pour  son  intelligence  non  moins  que  pour  son 
visage.  Apres  la  fin  des  courtes  illusions,  des  rapides  vertiges, 
eile  en  est  reduite  ä  lire  le  bout  de  phrase  de  Flaubert:  „Sacree 
Muse,  va,  que  tu  es  drole!" 

VIRQILE  RÖSSEL 


?•••?• 


298 


VIKTOR  HEHN 

Lasst  mich  nur  auf  meinem  Sattel  gelten! 
Bleibt  in  euren  Hütten,  euren  Zelten  I 
Und  ich  reite  froh  in  alle  Ferne, 
Über  meiner  Mütze  nur  die  Sterne. 

(Buch  des  Sängers) 

Es  lohnt  sich,  Viktor  Hehn  näher  zu  treten,  auch  wenn  kein 
äußerer  Anlass  dazu  herausfordert.  Dank  einer  umfassenden  selbst- 
erworbenen Bildung  durfte  er  in  die  verschiedensten  Provinzen 
der  Gelehrsamkeit  schweifen,  ohne  irgendwo  als  wildernder  Frev- 
ler zurückgewiesen  zu  werden,  und  überall  ließ  er  deutlich  sicht- 
bare Spuren  zurück,  die  auch  die  Zukunft  nicht  leicht  verwehen 
wird.  Manches  bedarf  vielleicht  schon  jetzt  der  nachbessernden 
Feile  des  modern  geschulten  Gelehrten,  doch  sein  naturwissen- 
schaftlich-linguistisches Hauptwerk  „Kulturpflanzen  und  Haustiere"^) 
ist  noch  heute  ein  unentbehrlicher  Berater  des  Pflanzengeographen 
und  Kulturhistorikers,  wer  nach  Itahen  zieht,  tut  noch  heute 
gut  daran,  zu  Jakob  Burckhardts  „Cicerone"  Hehns  „Ansichten 
und  Streiflichter"  in  die  Tasche  zu  stecken,  und  der  erste,  leider 
einzige  Band  seiner  „Gedanken  über  Goethe"  gilt  noch  heute 
manchem  Kenner  als  das  Feinste  und  Gehaltvollste,  was  über 
unsern  größten  Menschen  und  Dichter  gesagt  worden  ist,  und 
überdies  versucht  dieses  Werk,  so  unmodern  es  sonst  sein  mag,  zum 
erstenmal  das  topographische  und  stammesgeschichtliche  Moment 
für  die  Analyse  des  dichterischen  Talentes  zu  nutzen.  Er  selbst 
vermochte  nur  einen  Teil  der  ungeheuren  Ernte  seines  Sammel- 
fleißes unter  Dach  zu  bringen;  verständige  Vertraute  seiner  Denk- 
weise, wie  Theodor  Schiemann,  Albert  Leitzmann,  Eduard  von 
der  Hellen,  haben  nach  seinem  Tode  den  reichen  literarischen 
Nachlass,  den  die  Krallen  der  russischen  Geheimpolizei  nicht  hatten 
erwischen  können,  kundig  verwaltet;  ihrem  Eifer  verdanken  wir 
die  interessanten  italienisch-französischen  und  russischen  Tage- 
bücher, die  wundervolle  Schrift  über  „Hermann  und  Dorothea" 
und    neuerdings    aus    Hehns  Frühzeit    ein    größeres   Buch    über 


^)  Hehns  eigene  Publikationen  haben  Gebr.  Borntraeger  in  Berlin,  die 
Schriften  aus  seinem  Nachlass  y.  G.  Coftas  Nachfolger  in  Stuttgart  verlegt; 
bei  Cotta  ist  auch  Theodor Schiemanns  biographisches  Werk :  „Viktor  Hehn. 
Ein  Lebensbild"  (1894)  erschienen. 

299 


Goethes  Gedichte,  das,  wie  der  berufene  Herausgeber  bezeugt, 
manches  ahnend  vorwegnimmt,  was  erst  die  neueste  Forschung 
klar  eri<annt  hat. 

Trotz  der  bunten  Mannigfaitigi^eit  seiner  Studien  geht  ein 
großer  einheitlicher  Zug  durch  Viktor  Hehns  Lebenswerk.  Das 
Kernproblem  seiner  naturwissenschaftlichen  Tätigkeit  ist  die  Frage: 
wie  hat  sich  die  Natur  unter  der  Herrschaft  des  Menschen  ver- 
ändert? Alle  seine  kulturgeschichtlichen  Arbeiten,  zu  denen  er  in 
seinen  Notizenheften  eine  Unmenge  von  Details  aufspeicherte, 
erscheinen  so  als  Bausteine  zu  einer  Darstellung  der  gesamten 
Kultur  des  modernen  Europa  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung; 
jede  Beobachtung  wird  seinem  episch-plastischen  Temperament 
sofort  zum  Ereignis,  überall  wittert  er  mit  feinem  Spürsinn  das 
Typische  heraus,  und  die  rupfende  Ziege  gestattet  seinem  scharf- 
sichtigen Auge  ebenso  wie  der  von  Schlingpflanzen  umwucherte 
Säulenstumpf  fördernde  Blicke  In  weite  geschichtliche  Fernen. 
Mit  der  Andacht  des  deutschen  Gelehrten  hegt  er  das  Kleine,  das 
Einzelne;  aber  es  fesselt  ihn  nur  insofern,  als  es  sich  ihm  als 
Glied  einer  langen  Entwicklungskette  darstellt,  als  sich  in  ihm 
das  Allgemeine  spiegelt.  „Müsset  im  Naturbetrachten  immer  eins 
wie  alles  achten!"  ruft  Goethe  der  verknöchernden,  sich  im  Ein- 
zelnen verlierenden  Wissenschaft  zu,  Goethe,  zu  dem  nur  wenige 
Deutsche  ein  so  inniges  persönliches  Verhältnis  gewannen  wie 
der  Russe  Hehn.  Nicht  die  eigene  Zeit,  die  Gedankenwelt  Goethes 
und  der  in  ihm  wiedergeborenen  Antike  ist  der  Wurzelboden 
seines  Geistes;  hier  findet  er,  was  er  in  der  Nähe  vergeblich  ge- 
sucht: die  edle  Einfalt  und  stille  Größe  wahrer  innerer  Kultur. 
Wer  sich  in  sattem  Behagen  mit  dem  Bewusstsein  begnügt,  „wie 
wirs  dann  zuletzt  so  herrlich  weit  gebracht,"  mag  sich  nase- 
rümpfend von  dem  Vertreter  eines  wolkigen,  gegenwartsfremden 
Ästhetizismus  abwenden  —  wer  tiefere  Bildungswerte  zu  würdigen 
versteht,  wird  in  Viktor  Hehn  etwas  anderes  erkennen:  eine  zwar 
einseitig  orientierte,  aber  in  dieser  Beschränkung  harmonische 
und  unendlich  reiche  Persönlichkeit. 

I. 

Livland,  Viktor  Hehns  Heimat,  hat  als  das  nördlichste  Boll- 
werk deutschprotestantischer  Kulturarbeit  schon  im  achtzehnten 

300 


Jahrhundert  an  der  Entwicklung  der  deutschen  Literatur  teilge- 
nommen; in  Riga  durfte  der  junge  Herder  zuerst  Anker  werfen, 
aus  einem  livländischen  Pfarrhaus  ging  der  geniale  Lenz  hervor, 
und  ein  anderer  Stürmer  und  Dränger,  Klinger,  landete  nach 
einem  abenteuerlichen  Leben  als  General  und  Kurator  der  1802 
nach  deutschem  Vorbild  neu  gegründeten  Universität  in  Dorpat. 
Im  ersten  Band  des  Sammelwerkes  „Aus  baltischer  Geistesarbeit" 
(Riga  1908)  entwirft  Julius  Eckardt  ein  überaus  ansprechendes 
Bild  des  deutschen  Livland  in  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts:  Lebensweise,  Sitte,  Sprache,  alles  ist  kerndeutsch, 
bis  um  die  Mitte  der  vierziger  Jahre  das  kleinbürgerliche  Stilleben 
mit  jähem  Missklang  abbricht:  eine  slawische  Sturzwelle  überflutet 
das  Land,  russische  Beamte  ziehen  in  den  Städten  ein,  der  Bauer 
opfert  sogar  den  ererbten  Glauben,  und  selbst  die  Universität 
Dorpat,  die  Akropolis  der  deutschen  Kultur  in  Livland,  muss  vor 
der  brutalen  Übermacht  kapitulieren.  Doch  die  Balten  haben  es 
auch  heute  noch  nicht  vergessen,  dass  ihr  geistiges  Vaterland 
jenseits  der  Weichsel  liegt. 

Viktor  Hehn  fühlte  sich  durch  und  durch  als  Deutscher.  Auf 
seinem  ersten  Flug  nach  dem  Süden  biegt  er  in  Bamberg  nach 
Nordwesten  vom  Weg  ab,  um  den  Quellen  seines  Geschlechts 
nachzugehen  und  dabei  die  Erklärung  für  manche  Rätsel  der 
eigenen  Seele  zu  suchen ;  auf  diesem  Streifzug  gewinnt  er  die  Ge- 
wissheit, dass  seine  Familie  dem  selben  gesegneten  Land  entstammt, 
das  Goethe  hervorgebracht:  der  fränkischen  Rhein-Maingegend, 
wo  Sitte  und  Leben  zwischen  dem  düsteren  Puritanismus  des 
Nordens  und  der  fessellosen  Sinnlichkeit  des  Südens  die  glück- 
liche Mitte  halten.  Der  Theologe  Johann  Martin  Hehn,  mit  dem 
sich  ein  Zweig  der  Familie  in  Livland  ansiedelte,  scheint  seinem 
Enkel  die  Freude  an  linguistischen  Studien  vererbt  zu  haben;  dem 
Vater,  der  früh  aus  dem  Predigertalar  herausschlüpfte  und  in 
Erlangen  zum  Dr.  jur.  promovierte,  mag  Viktor  den  beweglichen 
kritischen  Verstand   und  die  Neigung  zur  Polyhistorie  verdanken. 

Kurz  vor  der  Völkerschlacht  bei  Leipzig,  am  8.  Oktober  1813, 
ist  Viktor  Hehn  in  Dorpat  zur  Welt  gekommen.  Wie  sein  Bio- 
graph Theodor  Schiemann  erzählt,  verriet  schon  der  Gymnasiast 
außer  großem  Lerneifer  respektable  Belesenheit  und  eine  unge- 
wöhnliche   Beherrschung   des    sprachlichen    Ausdrucks,    und    in 

301 


frühen  poetischen  Versuchen  schaute  er  schon  nach  dem  fernen 
Süden  aus,  „wo  der  Himmel  blau  ist,  und  wo  die  Dichtung,  die 
Freude  und  die  Freiheit  wohnen".  In  Viktors  zehntem  Lebens- 
jahr stirbt  der  Vater,  und  da  er  als  das  älteste  von  drei  Kindern 
aus  dieser  Ehe  so  bald  als  möglich  auf  eigenen  Füßen  stehen 
soll,  ergreift  er  noch  als  Student  der  alten  und  neuen  Sprachen 
den  Schulmeisterbakel  und  leistet  nach  bestandenem  Examen  vier 
Jahre  lang  in  verschiedenen,  zum  Teil  ungebildeten  und  unbild- 
samen adeligen  Familien  als  Hauslehrer  bittere  Frohndienste.  Im 
Januar  1838  darf  er  das  verhasste  Joch  endlich  abschütteln  und 
aufatmend  dem  nordischen  Nebel  entfliehen,  in  Hamburg  betritt 
er  deutschen  Boden ;  über  Köln  und  Frankfurt,  wo  ihn  die  naive 
Lebensfreude  des  Süddeutschen  erquickt,  eilt  er  auf  den  Beginn 
des  Wintersemesters  nach  Berlin.  Mit  einem  Bildungshunger  ohne 
gleichen  wirft  er  sich  hier  polyhistorischen,  besonders  aber  philo- 
sophischen Studien  in  die  Arme;  „das  Bewusstsein  der  Kraft- 
entwicklung" steigert  seine  Lebenslust,  aber  zugleich  bemächtigt 
sich  seiner  jene  einsame  „Düsterkeit  des  tiefen  Denkers",  die  sein 
Hegel  in  Spinozas  Gesichtsausdruck  fand;  sein  gesunder  Sinn  für 
die  Wirklichkeit  bewahrt  ihn  freilich  trotz  seiner  Hingabe  an  die 
Hegeische  Philosophie  vor  dem  völligen  Aufgehen  in  der  bloßen 
Gedankenwelt  der  philosophischen  Spekulation.  Der  Verkehr  mit 
einem  hochbegabten  Landsmann,  Georg  Berkholz,  bringt  eine 
Fülle  fördernder  Anregungen ;  aber  nach  einem  überreichen  Winter 
vermag  ihn  auch  Berlin  nicht  länger  zu  halten:  seine  Sehnsucht 
nach  Italien  ist  jetzt  erfüllungsreif.  Auf  den  selben  Pfaden,  auf 
denen  Goethes  Reisewagen  im  Herbst  1786  dem  Süden  zurollte, 
zieht  Hehn  in  Italien  ein.  Wie  Goethe  folgt  er  in  Vicenza 
und  Venedig  andächtig  den  Spuren  Palladios;  auch  ihn  vermögen 
nur  die  Erben  der  Antike  dauernd  zu  fesseln :  San  Marco  erscheint 
ihm  „von  ausschweifendem,  wollüstigem,  gewundenem  Geschmack, 
wie  ein  Opiumtraum",  Sant  Antonio  in  Padua  ist  ein  „uraltes 
byzantinisches  Ungeheuer".  Nach  längerem  Aufenthalt  in  Florenz 
erreicht  er  am  letzten  August  Rom;  von  hier  aus  durchstreift  er 
das  Land  östlich  bis  in  die  Bergtäler  der  Apenninen  und  südlich 
bis  Neapel  und  Salerno.  Kunst  und  Volksleben,  Land  und  Leute 
ziehen  ihn,  wie  das  von  Schiemann  herausgegebene  Reisetagebuch 
bezeugt,  gleichermaßen  an;  aber  schon  jetzt  ist  ihm  die  Entwick- 

302 


lung  interessanter  als  die  gegenwärtige  Erscheinung:  die  Lage 
Roms  regt  ihn  zum  Nachdenicen  über  die  frühere  Bodengestalt 
Mittelitahens  an,  emsig  pirscht  er  in  der  alten  Literatur  nach  Mit- 
teilungen über  die  Kulturpflanzen  und  Haustiere  im  alten  und 
neuen  Italien,  und  auf  Capri  studiert  er  das  Gesicht  einer  schönen 
Blumenverkäuferin,  um  zu  erfahren,  ob  Griechen,  Sikuler  oder 
Etrusker  die  ersten  Bewohner  der  Insel  gewesen  seien ;  als  rechter 
Hegelianer  findet  er  in  der  „Kette  der  Ereignisse  nichts  als  die 
in  der  Zeit  entfaltete  Vernunft,  die  sich  in  sich  selbst  bewegt". 

Am  16.  März  1840  schied  Hehn  von  Rom,  wie  Goethe  mit 
dem  Gefühl,  dass  er  der  Verbannung  entgegenziehe.  Frei  und 
leicht,  so  hatte  er  wohl  gehofft,  sollte  ihm  auf  der  Heimreise  zu 
Mute  sein;  statt  dessen  schleppte  er  als  schweres  Reisegepäck 
eine  Fülle  von  Ideen  mit  sich,  die  doch  nur  dann  reifen  konnten, 
wenn  sie  die  Sonne  Italiens  von  Zeit  zu  Zeit  streifte.  Der  Riviera 
schadet  die  Konkurrenz  des  Golfes  von  Neapel;  bei  Nizza 
beobachtet  er  den  Übergang  des  italienischen  Landschaftstypus 
in  den  französischen,  und  mit  wachsendem  Entzücken  fährt  er 
durch  die  Provence  und  über  Lyon  nach  Paris.  Noch  lauter  als 
die  Trümmer  der  Cäsarenstadt  reden  die  Straßen,  Türme,  Paläste 
von  Paris  zu  ihm  von  großen  Zeiten;  alle  Jahrhunderte  haben 
da  ewige  Spuren  zurückgelassen,  und  ein  seltsames  Getöse  schwebt 
über  dem  Koloss:  „es  ist  der  Dampf  der  Gedanken,  der  Nebel 
der  Weltgeschichte,  der  Schatten  unzähliger  Existenzen,  der  Dunst- 
kreis großer  Verhältnisse  und  Taten  und  das  Gegenbild,  das  sich 
über  unergründlichen  Tiefen  zeichnet." 

Auf  der  Rückreise  hält  er  sich  noch  einmal  längere  Zeit  in 
Berlin  auf.  Zu  Beginn  des  Jahres  1841  übernimmt  er,  jedenfalls 
der  Not  gehorchend,  nicht  dem  eignen  Trieb,  die  Stelle  eines 
Oberlehrers  der  alten  Sprachen  an  der  höhern  Kreisschule  des 
frommen  baltischen  Städtchens  Pernau;  erst  1846  findet  er  als 
Lektor  der  deutschen  Sprach-  und  Literaturgeschichte  an  der 
Universität  Dorpat  ein  seinem  Können  angemessenes  Arbeitsfeld. 
Doch  die  Dorpater  Lehrjahre  nehmen  ein  unerwartetes  Ende: 
im  Juli  1851  wird  der  Ahnungslose  nach  seiner  Rückkehr  aus  der 
Sommerfrische  ohne  weiteres  verhaftet  und  nach  Petersburg  ins 
Gefängnis  der  sogenannten  dritten  Abteilung,  das  heißt  der  Ge- 
heimpolizei, geschleppt;   in   der  Briefkassette    einer  vornehmen 

303 


Livländerin,  die  mit  den  deutschen  Freiheitshelden  sympathisiert 
und  sich  noch  rechtzeitig  auf  deutschen  Boden  zurückgezogen 
hatte,  fanden  sich  auch  —  übrigens  ganz  unverfängliche  —  Briefe  von 
Viktor  Hehn.  Da  Hehn  wie  alle  Gefangenen  der  dritten  Abtei- 
lung Stillschweigen  geloben  musste,  sind  wir  über  den  Gang  der 
Verhandlungen  nur  mangelhaft  unterrichtet;  ein  Erlass  des  Zaren 
Nikolaus  II.  verurteilte  ihn  endlich  zu  drei  Monaten  Festungshaft 
und  zur  Verbannung  in  einer  beliebigen  großrussischen  Stadt,  die 
aber  weder  Haupt-  noch  Universitätsstadt  sein  durfte;  das  Recht 
zu  lehren  wurde  ihm  für  immer  entzogen,  dagegen  sollte  er  eine 
Anstellung  im  öffentlichen  Dienst  und  einen  seinem  Rang  ent- 
sprechenden Titel  erhalten. 

In  Tula,  südlich  von  Moskau,  wo  Hehn  sein  Exil  abzubüßen 
beschloss,  hatte  er  nicht  unter  äußerer  Not  zu  leiden ;  ein  Oheim 
führte  ihn  in  die  großenteils  deutsche  Gesellschaft  ein;  er  galt 
offiziell  als  Staatsbeamter,  wurde  aber  nie  mit  einem  Auftrag  be- 
lästigt; Klavierstunden  verschafften  Abwechslung  und  etwelchen 
Erwerb,  und  im  Kartenspiel  brachte  er  es  zu  anerkannter  Meister- 
schaft, Aber  eines  empfand  er  schmerzlich :  den  Mangel  an  Büchern. 
Zum  Glück  hatte  er  wenigstens  seine  Goetheliteratur  gerettet;  sie 
bewahrte  ihn  vor  dem  geistigen  Hungertode.  Was  Bismarck  im 
Tischgespräch  zu  Versailles  geäußert  haben  soll:  „Mit  den  neun 
ersten  Bänden  Goethe  könnte  ich  ziemlich  lange  auf  einer  wüsten 
Insel  existieren,"  das  hat  Hehn  in  Tula  fast  buchstäblich  erfüllt. 
Eine  Menge  von  Auszügen,  Bemerkungen,  Dispositionen  geben 
Rechenschaft  davon,  mit  welcher  Gründlichkeit  Hehn  damals 
Goethes  Leben  und  Werke  durcharbeitete.  Alle  diese  Vorarbeiten 
sollten  sich  zu  einer  großen  Goethe-Monographie  zusammen- 
schließen ;  in  Tula  gelang  ihm  nur  das  eine  nach  seinem  Tod  ge- 
druckte Büchlein  über  „Hermann  und  Dorothea";  ein  Teil  des 
übrigen  Materials  wurde  nach  dreieinhalb  Jahrzehnten  in  den 
„Gedanken  über  Goethe"  geborgen. 

Nach  dem  Tode  Nikolais,  im  April  1855,  erhielt  Viktor  Hehn 
endlich  die  Freiheit  zurück,  und  bald  darauf  fand  sich  für  ihn  auch 
ein  bequemer  Posten  an  der  kaiserlichen  öffentlichen  Bibliothek 
zu  Petersburg.  Die  vielen  freien  Stunden,  die  ihm  sein  Amt  ließ, 
nutzte  er  durch  rastloses  Sammeln  von  Materialien  zu  einer 
Kulturgeschichte  Europas.    Die   ganze  ungeheure  Stoffmasse  zu 

304 


bändigen  überstieg  die  Kräfte  des  einen  Menschen ;  dafür  weiteten 
sich  einzelne  Abschnitte  zu  großen  Monographien  aus,  von  denen 
drei  noch  zu  Lebzeiten  Hehns  erscheinen  konnten:  1864  „Italien, 
Ansichten  und  Streiflichter" ;  1873  „Das  Salz,  eine  kulturhistorische 
Studie**  und  1869  das  Werk,  das  ihn  mit  einem  Schlage  zum  be- 
rühmten Manne  machte:  ,, Kulturpflanzen  und  Haustiere  in  ihrem 
Übergang  aus  Asien  nach  Griechenland  und  Italien  sowie  in  das 
übrige  Europa;  historisch  -  linguistische  Skizzen**.  Nebenher 
sammelte  er  in  einer  Art  verschwiegenem  Tagebuch  eine  Menge 
Notizen  über  Russen  und  Russland,  die  Schiemann  nach  dem 
Tode  Hehns  unter  dem  Titel  „De  moribus  Ruihenorum"  veröffent- 
licht hat;  sie  sind  wohl  das  Schärfste,  was  je  über  den  russischen 
Nationalcharakter  gesagt  worden  ist,  und  bilden  als  authentische 
Quelle  den  besten  Realkommentar  zu  den  Werken  der  jüngeren 
Russen,  vor  allem  auch  zur  Dichtung  Gogols,  in  dessen  Realis- 
mus Russland  nach  Hehns  Urteil  „sein  wahres  Organ,  seine  wahre 
Form**  gefunden  habe.  Als  Puschkin  Gogols  Meisterroman  „Die 
toten  Seelen**  aus  der  Hand  legte,  ächzte  er:  „Ach  Gott,  wie 
traurig  ist  unser  Russland!**  und  die  selbe  Klage  stöhnt  auch 
Hehns  Petersburger  Tagebuch.  Die  Russen  sind  für  ihn  ein  se- 
niles Volk;  „alle  ihre  Fehler  sind  keine  jugendliche  Roheit,  son- 
dern gehen  aus  asthenischer  Entartung  hervor.**  Trunksucht, 
Bestechlichkeit,  Unreinlichkeit,  Aberglaube,  Dummheit,  Geckerei, 
Unsittlichkeit  zeichnen  den  Russen  aus;  vor  allem  zeigt  er  eine 
unüberwindliche  Abneigung  gegen  jede  Art  von  tieferer  Bildung;  er 
besitzt  keine  Spur  von  produktiver  Originalität  —  Russland  hat 
im  Gegensatz  zu  dem  jungen  Amerika  nichts  erfunden  —  und 
damit  hängt  endlich  der  Mangel  an  Idealität  zusammen,  der  den 
russischen  Nationalcharakter  auszeichnet:  alles  ist  niedrig,  gemein, 
selbst  Schädel  und  Gesicht  des  Menschen.  Vielleicht  bedürfte 
Hehns  schroff  ablehnendes  Urteil  über  die  Russen  seiner  Zeit  heute 
ebensosehr  der  dämpfenden  Korrektur  wie  sein  Hymnus  auf  die 
Italiener. 

Nach  mehr  als  dreißigjähriger  Tätigkeit  im  öffentlichen  Dienst 
konnte  Hehn  im  Oktober  1873  mit  einer  kleinen  Pension  und 
einem  ansehnlichen  selbsterworbenen  Vermögen  nach  Berlin  über- 
siedeln. Ein  alter  Wunsch  ging  dadurch  in  Erfüllung,  aber  Hehn 
ahnte  doch,  dass  seiner  in  der  neuen  Heimat  manche  Enttäuschung 

305 


harrte.  „Ein  neuer  Lebensabschnitt  beginnt,"  seufzte  er,  „der 
letzte  Akt  des  Trauerspiels,  wo  der  Held  in  beschleunigtem  Gange 
zum  Ende  geführt  wird."  Trotzdem  ihm  alle  denkbaren  kleinen 
und  großen  Ärgernisse  die  letzten  Lebensjahre  verbitterten,  konnte 
er  wenigstens  den  ersten  Teil  seiner  „Gedanken  über  Goethe'' 
abschließen ;  zum  zweiten  lagen  die  Vorarbeiten  schon  auf  seinem 
Schreibtisch,  als  ihn  der  Tod  am  21.  März  1890  nach  dreitägiger 
Krankheit  abberief. 

Als  ein  Einsamer,  der  den  Kontakt  mit  der  lebendigen  Gegen- 
wart schon  lange  verloren  hatte,  ist  Viktor  Hehn  gestorben.  Vor 
allem  verdross  ihn  die  innere  Entwicklung  des  geeinigten  konsti- 
tutionellen Deutschland.  „Vor  vierzig  Jahren,"  brummt  der  Siebzig- 
jährige, „war  der  stumpfen  Masse  gegenüber  jeder  reichere,  um- 
fassender gebildete  Geist  liberal;  jetzt  ist  jede  tiefere  Natur 
konservativ  und  überlässt  den  Fortschritt  den  Männern  von  der 
Bierbank."  Der  schrille  Lärm  der  Tagespolitik  verletzt  sein 
vorwiegend  inwärts  lauschendes  Ohr,  und  wie  Kellers  Martin 
Salander  hegt  er  schwere  Zweifel  an  der  politischen  Mündigkeit 
der  Masse.  In  der  „demokratischen  Plattheit  und  Seichtigkeit, 
von  der  man  millionenfach  in  Wort  und  Schrift  umwimmelt  wird", 
ist  sein  Trost  und  seine  Erbauung  einzig  Bismarck,  zu  dem  er 
begeistert  aufschaut,  ohne  unbedingt  auf  die  konservative  Partei 
zu  schwören ;  Bismarck  ist  in  seinem  —  und  Goethes  —  Sinne 
konservativ,  das  heißt,  wie  die  Vorrede  zur  dritten  Auflage  der 
„Ansichten  und  Streiflichter"  es  klipp  und  klar  ausdrückt:  „in 
historischer  Anknüpfung  progressiv."  Ebenso  peinlich  wie  der 
Phrasen-Demokratismus,  den  die  üble  Pressfreiheit  gezeitigt  hat, 
ist  ihm  der  wachsende  nationale  Dünkel  der  Deutschen;  jedes 
einzelne  Volk  erscheint  seinem  immer  auf  das  Allgemeine  gerich- 
teten Blick  nur  als  Teil  eines  großen  Ganzen :  „Nationalität  ist 
Organ  der  sich  bewegenden  Menschheit,  ihre  Erhaltung  in  den 
Augen  des  Weisen  nur  so  lange  wichtig,  als  sie  der  Entwicklung 
der  Menschheit  dient."  Wie  die  Schlussworte  der  „Kulturpflanzen 
und  Haustiere"  ausführen,  ist  es  nutzlos  und  borniert,  sich  den 
Lehren  der  Fremde  zu  verschließen;  wahre  Vaterlandsliebe  sucht 
auch  den  Kulturgewinn  des  Auslandes  zu  nutzen,  und  selbst  das 
verachtete  Fremdw.ort  kann,  ohne  die   nationale  Würde  zu  ver- 

306 


letzen,  das  überlieferte  Kulturgut  der  Muttersprache  bereichern: 
„viel  entlehnt,  viel  gelernt." 

Neben  dem  Demokratismus  trägt  nach  Hehns  Überzeugung 
das  Judentum,  das  die  Literatur  und  das  öffentliche  Leben  be- 
herrscht, die  Hauptschuld  am  Verfall  der  modernen  Kultur.  Der 
einzelne  Jude  galt  Hehn  im  persönlichen  Leben  so  viel  wie  der 
Christ;  aber  das  spezifisch  Jüdische,  dessen  Vertreter  Heine  ist, 
ist  ihm  der  Inbegriff  des  Verderblichen  und  Verachtenswerten. 
„Wir  sind  die  Unterdrückten,  nicht  siel"  ruft  er  erbittert  aus;  „sie 
zerstören  systematisch  den  idealen  Grund  unseres  Lebens,  und 
wir  dürfen  nicht  einmal  murren!"  Jüdischer  Einfluss  richtet  vor 
allem,  wie  ausführliche  Vorstudien  zu  einer  stilistischen  Arbeit 
nachzuweisen  versuchen,  die  deutsche  Muttersprache  zugrunde. 
Kein  Jude,  versichert  Hehn,  kann  reines  Deutsch  schreiben;  der 
Jude  ist  geistreich,  aber  abgeschmackt;  er  sagt  nichts  natürlich, 
sondern  zieht  alles  ins  Gemeine  herab  oder  steigert  es  ins  Un- 
gereimte. Der  Humor  fehlt  ihm;  dafür  besitzt  er  das  traurige 
Surrogat  der  beißenden  Satire,  des  zersetzenden  Witzes;  er  strebt 
nach  dem  Auffallenden,  nicht  nach  dem  Schönen;  sein  Stil  ist 
prickelnd,  er  verschmäht  die  „schöne  Wellenform",  und  seine 
faszinierende  Wirkung  verdankt  er  lediglich  dem  traurigen  Kniff, 
„das  Ideale,  das  Heilige,  die  Welt  des  Gemüts  und  der  Phantasie 
durch  Zusammenstoß  mit  der  vulgärsten  Prosa  der  Tagesgeschichte, 
des  gemeinen  Lebens  und  grober,  natürlicher  Bedürfnisse  zu  zer- 
trümmern; es  ist  ein  ewiges  Beinstellen". 

Unaufhaltsam  geht  unter  dem  Einfluss  des  Judaismus  die 
deutsche  Sprache  dem  Verfall  entgegen.  Eins  könnte  sie  retten: 
die  Schule,  aber  sie  erfüllt  nach  Hehns  Ansicht  ihre  Kulturmission 
nicht.  Das  lebendige  Sprachgefühl  des  Kindes  —  das  dürfen  auch 
wir  uns  noch  merken!  —  verkümmert  unter  dem  Drucke  der 
Schulerziehung;  „der  Bauer,  der  in  keiner  Schule  gewesen  ist, 
spricht  besser  als  der  aus  der  Schule  gekommene."  Vor  allem 
aber  stellt  sich  die  Schule  immer  mehr  in  den  Dienst  der  Natur- 
wissenschaften, die  das  ganze  Gebiet  des  menschlichen  Wissens 
gepachtet  haben  und  sich  nun  sogar  die  Philosophie  selbst  be- 
sorgen, und  damit  vermittelt  sie  statt  der  rein  menschlichen  Kultur, 
das  heißt  der  „natürlichen  Liebenswürdigkeit  und  Humanität",  die 
iür  Hehn  das  letzte  Ziel  .jeglicher  Bildung  bedeutet,  bloße  „höhere 

307 


/ 


Commisbildung**.  Wie  der  Demokratismus  macht  die  Schule  vom 
eigenen  Wert  viel  Aufhebens;  doch  „die  beste  Schule",  heißt  es 
in  den  „Ansichten",  „ist  die,  von  deren  Dasein  man  kaum  weiß; 
nur  in  der  Stille  bringt  sie  ihren  Segen  und  auch  den  erst  nach 
Jahren." 

So  dringt  von  allen  Seiten  her  verwirrender  Lärm  auf  den 
modernen  Menschen  ein  und  droht  die  zarten  Stimmen  der  eignen 
Brust  brutal  zu  übertönen.  Aber  noch  stehen  dem  Verständigen 
die  Fenster  offen,  durch  die  das  nördliche  Europa  zur  Zeit  der 
Renaissance  und  des  deutschen  Klassizismus  sein  hellstes  und 
wärmstes  Licht  empfangen;  im  romanischen  Süden,  auf  dem 
Trümmerfeld  der  Antike,  findet  die  heimatlose  Sehnsucht  ihr 
Delos,  doch  in  einem  Deutschen  verkörpern  sich  ihr  die  ewigen 
Kulturwerte  der  Menschheit. 

ZÜRICH  MAX  ZOLLINGER 

(Schluss  folgt) 

DDD 

ERICH  SCHMIDT  UND  DIE 
SCHWEIZERISCHEN  DICHTER 

In  einem  Aufsatz  über  „Erich  Schmidts  Schaffen  und  Per- 
sönlichkeit" hat  neulich  Hans  Trog  in  der  „Neuen  Zürcher 
Zeitung"  auch  der  besonderen  Beachtung,  der  sich  die  schweize- 
rischen Dichter  von  Seiten  des  Verstorbenen  erfreut,  rühmend 
gedacht.  Wenn  auch  Erich  Schmidt  mancher  Kranz  mit  Recht 
gebührt,  gerade  diesen  wird  ihm  aber  die  Geschichte  dereinst  ab- 
sprechen. Und  um  deswillen  erfordert  jene  Behauptung  einer 
berichtigenden  Ergänzung. 

Erich  Schmidt  hat,  soviel  ich  weiß,  nur  einmal  einem  schwei- 
zerischen Schriftsteller  zum  Durchbruch  verholfen:  als  er  in  den 
neunziger  Jahren  Walter  Siegfrieds  Künstlerroman  „Tino  Moralt" 
mit  Nachdruck  in  der  Deutschen  Literaturzeitung  besprach.  Er 
hat  dann  vor  einigen  Jahren  in  einer  Staunen  und  Aufsehen  er- 
regenden Abhandlung  der  Deutschen  Rundschau  —  —  Ernst 
Zahn  den  Kranz  der  Unsterblichkeit  gereicht.  Damit  ist  aber  sein 
Interesse  für  schweizerische   Dichtung  der  Gegenwart  erschöpft; 

308 


wenigstens  soweit  es  sich  in  der  Öffentlichiceit  geäußert  hat.  Wer 
wird  danach  noch  nach  einem  Menschenaiter  fragen?  Niemand. 
Wenn  aber  ein  Historilcer  der  Literatur  dereinst  nach  der  Auf- 
nahme forschen  wird,  die  jenes  Weric,  das  wie  ein  einsamer 
Granitblock  das  wogende  Meer  der  Produi^tion  dieser  Zeit  über- 
ragt, bei  den  representativen  Kritikern  gefunden  habe,  so  wird  es 
unter  diesen  dem  Namen  Erich  Schmidts  nicht  begegnen.  Und  er 
wird  sich  wohl  bei  dieser  Gelegenheit  die  Erwähnung  der  er- 
heiternden Tatsache  nicht  versagen,  dass  in  den  Jahren,  da  man 
in  der  deutschen  Literatur  das  Wunder  des  „Olympischen  Früh- 
lings" von  Carl  Spitteler  erlebte,  Erich  Schmidt  nacheinander 
Paul  Heyse  und  Gerhart  Hauptmann  für  die  Auszeichnung  durch 
den  Nobel-Preis  vorgeschlagen  hat  .  .  . 

Man  wird  freilich  eine  Erklärung  hiefür  leicht  finden  können. 
Erich  Schmidts  literarischer  Geschmack  stammte,  was  nicht  ge- 
nügend beachtet  wird,  aus  der  Schule  seines  Namensvetters,  des 
kritischen  Aristarchen  der  „Grenzboten",  Julian  Schmidt.  Ihm 
erschien  der  gemäßigte  Realismus  Otto  Ludwigs  und  Gustav 
Freytags  —  man  verzeihe,  dass  ich  die  Beiden  zusammen  nenne! 
—  als  der  einzige  mögliche  Weg,  der  der  deutschen  Literatur 
nach  dem  durch  die  Klassiker  einmal  erreichten  Gipfel  noch  zu 
gehen  bestimmt  war.  Was  sich  in  diese  Tradition  nicht  einfügen 
lassen  wollte,  das  existierte  für  ihn  nicht,  das  lehnte  er  schlank- 
weg ab.  Es  war  die  gleiche  Taktik,  die  auch  Schmidts  Freund 
Rodenberg  seit  jeher  in  der  Deutschen  Rundschau  befolgt  hat 
und  über  die  der  Biograph  Spittelers  dereinst  ein  erbauliches 
Kapitel  zu  schreiben  haben  wird.  So  kam  es  denn,  dass  Erich 
Schmidt,  wie  er  vor  einem  Menschenalter  dem  schmächtigen  Talent 
Carl  Busses  wegen  einiger  volksliedartiger  Almanach  -  Verse 
öffentlich  ein  „Morituri  te  salutant"  zugejubelt,  so  auch  später 
wohl  Ernst  Zahn  als  den  Erben  der  Kunst  Gotthelfs  und  Kellers 
ausrufen  konnte  —  aber  die  selbständige  Poesie  Spittelers,  die 
wie  die  Erfüllung  der  Sehnsucht  eines  ganzen  Jahrhunderts  an- 
mutet, bis  zum  letzten  Augenblicke  ignorierte. 

Das  soll  um  der  Wahrheit  willen  nicht  verschwiegen  werden. 

BÜMPLIZ  JONAS  FRÄNKEL 

aaa 

309 


» 


GYGES  UND  SEIN  RING" 


Wenn  Friedrich  Hebbel  an  die  Ausführung  eines  Dramas 
heranging,  stand  ihm  gewöhnlich  nichts  so  klar  im  Bewusstsein, 
wie  die  sittliche  Idee  oder  vielmehr  der  dialektische  Gang  der 
sittlichen  Idee.  Bei  „Qyges  und  sein  Ring"  war  das  anders.  Er 
kam  ohne  eigentliche  Vorbereitung  zu  diesem  Stoff,  „wie  der 
Knabe  zum  Vogel;  er  fängt  ihn,  weil  er  gerade  da  sitzt".  „Ich 
war  mir  sonst  bei  meinen  Arbeiten  immer  eines  gewissen  Ideen- 
hintergrundes bewusst,  wegen  dessen  ich  keineswegs produ- 
zierte, der  aber  doch  wie  eine  Gebirgskette  zu  betrachten  war, 
welche    die  Landschaft  abschloss.    Daran    mangelte    es   diesmal 

ganz;  mich   reizte  nur  die  Anekdote, und  nun  das  Stück 

fertig  ist,  steigt  plötzlich  zu  meiner  eigenen  Überraschung  wie  eine 
Insel  aus  dem  Ozean  die  Idee  der  Sitte,  als  die  Alles  bedingende 
und  bindende,  daraus  hervor."  (Brief  vom  14.  XII.  1854an  Uechtritz.) 
Also  schuf  Hebbel  bei  diesem  Stück  viel  unmittelbarer,  viel  un- 
bewusster,  als  es  sonst  bei  ihm  der  Fall  war. 

Er  hatte  die  Geschichte  von  Kandaules  und  Rhodope  erstmals 
in  einem  Lexikon  gelesen  —  später  diente  ihm  Herodot  als  Quelle  — 
der  Stoff  „zündete  und  noch  den  selben  Abend  entstand  eine  der 
Hauptszenen,  die  zwischen  Gyges  und  Kandaules  zu  Anfang  des 
zweiten  Aktes".  Dies  beweist  zur  Genüge,  dass  ihn  diesmal  die 
Idee  nicht  plagte. 

Die  Anekdote  war  für  eine  Tragödie  gewiss  geeignet,  doch 
ein  roher  Block,  der  schwere  Meißelarbeit  erforderte.  Der  Lydier- 
könig  Kandaules  will  seinen  Liebling  Gyges  überzeugen,  dass  er 
das  schönste  Weib  besitze ;  er  soll  es  in  nackter  Schönheit  sehen. 
Tief  verletzt,  verlangt  die  Königin,  nachdem  das  geschehen  ist,  von 
Gyges,  dass  er  den  König  töte  und  ihr  Gatte  werde.  Sie  schenkt 
ihm  darauf  einen  Sohn.  Den  Weg  ins  Schlafgemach  der  Königin 
findet  Gyges  mit  Hilfe  eines  unsichtbar  machenden  Ringes,  aber 
er  sucht  und  findet  mit  dem  selben  Ring  auch  den  Weg  zum  Herzen 
der  Königin. 

Die  Schwierigkeit  für  den  Dichter  lag  vor  allem  in  einer  rein 
psychologischen  Motivierung  der  Handlung.  Sie  musste  aus  allge- 
meinen menschlichen  Regungen  abgeleitet,  sie  musste  dem  Kreise 

310 


des  Besondern  entrückt  und  in  die  Sphäre  des  Allgemeinen  gehoben 
werden.  Erst  dann  konnte  der  Gegenwart  lebendig  werden,  was 
um  fast  drei  Jahrtausende  von  ihr  getrennt  war. 

Wie  wahr  ist  nun  diese  Motivierung  in  der  Tragödie  durch- 
geführt! Aus  dem  Frevel  des  Königs  an  der  Gattin  wird  ein  Ver- 
gehen an  der  ganzen,  den  König  umgebenden  Welt.  Dieses  Vergehen 
ist  nicht  mehr  ein  Fehltritt,  der  auch  hätte  unterbleiben  können,  es 
ist  die  notwendige  Verteidigung  des  eigenen  Ichs  gegenüber  der  Ge- 
samtheit. Das  individuelle  Leben  überhaupt  wird  Gegenstand  der  Tra- 
gödie. Rhodopens  Kränkung  wird  zur  Verletzung  der  Natur;  darum 
kann  die  Königin  nicht  wie  bei  Herodot  darüber  hinweg  zu  einer 
neuen  glücklichen  Ehe  schreiten.  Gyges  braucht  sie  auch  nicht 
nackt  zu  sehen ;  es  ist  schon  zu  viel,  wenn  er  ihr  ins  entschleierte 
Antlitz  blickt.  Ich  sprach  vom  unbewussten  Arbeiten  des  Dichters 
an  dieser  Tragödie,  weil  schon  jene  sofort  entstandene  Szene 
eine  dialektische  Ordnung  des  Stoffes  verrät.  Es  war  eben  so  sehr 
Hebbels  Überzeugung,  dass  aller  Fortschritt  nur  vom  Individuum 
ausgeht,  dass  alle  Entwicklung  sich  als  ein  Kampf  zwischen  Indi- 
viduum und  Gesamtheit  vollzieht,  zwischen  dem  Bringer  des  Neuen 
und  der  Verehrerin  und  Behüterin  des  Alten,  in  dem  das  Indi- 
viduum immer  unterliegen  muss,  die  Gesamtheit  aber,  um  den 
individuellen  Wert  bereichert,  als  Siegerin  hervortritt,  dass  diese 
Dialektik  für  den  Dichter  gewissermaßen  zu  einer  Anschauungs- 
form für  alles  historische  Geschehen  wurde.  So  gestalteten  sich  ihm 
die  drei  Hauptcharaktere  Rhodope— Kandaules — Gyges  zu  These- 
Antithese — Synthese,  ohne  dass  es  ihm  klar  ins  Bewusstsein  trat. 

Rhodope  ist  eine  Tochter  Indiens.  Ihre  Herkunft  weist,  weil 
nach  Osten,  nach  der  Vergangenheit.  Ihr  Schleier  ist  das  Symbol 
für  die  alternde  Welt,  die  sie  vertritt.  Ihr  den  Schleier  rauben, 
ihr  Empfinden  verletzen  und  missachten,  heißt  sich  an  der  Natur 
vergreifen.  Und  da  die  Natur  immer  stärker  ist  als  ein  Einzelnes, 
so  kann  das  ungestraft  nicht  geschehen.  Die  Welt  im  Schlafe 
kann  man  Rhodope  nennen,  und  wenn  man  an  ein  ungedrucktes 
Hebbelwort  „Schlaf  ist  Zurücksinken  ins  Chaos"  denkt,  von  ihr 
sagen,  sie  möchte  immer  weiter  zurück  in  die  Vergangenheit, 
wogegen  Kandaules  sagt:  „man  kann  doch  nicht  zurück".  „Wecke 
den  Irrenden  sanft  und  lasse  ihn  schelten  und  um  sich  hauen. 
Erst  wenn  der  Mensch   (selbst)  erwacht,   räumt  er  Dir  ein,  dass 

311 


er  geschlafen  hat."  (Tagebuch  III.  4831,  Ausgabe  Werner,  zweite 
Auflage.) 

Das  ist  die  Warnung,  die  Kandaules  gilt.  Mit  ihm  stößt  eine 
neue  Welt  auf  die  alte.  Er  steht  auf  einem  höhern  Standpunkte; 
die  ganze  Vergangenheit  soll  umgewertet  werden.  Im  Schleier 
vermag  er  nichts  zu  erblicken  als  den  Rest  eines  alten  Aberglau- 
bens, der  ausgerottet  werden  muss.  Sein  Streben  ist  für  ihn  ein 
völliges  Recht;  denn  er  gehorcht,  wenn  er  sich  behaupten  will, 
einem  Lebensgesetze.  Nur  erkennt  er,  trotz  seiner  höhern  Intelli- 
genz, nicht,  dass,  wenn  er  die  alte  Form  zertrümmert,  die  neue, 
die  er  bietet,  umfassender  und  kräftiger  sein  muss,  um  das  Chaos 
wieder  aufzunehmen.  Er  vergisst,  dass  er  kein  Fertiger,  sondern 
selbst  ein  Werdender  ist,  dass  er  auf  einer  Grenze  steht.  „Jedes 
Geschöpf,  das  zwischen  zwei  Welten  in  der  Mitte  steht,  soll  sich 
zu  der  Welt,  aus  der  es  hervorwuchs,  und  nicht  zu  der,  der  es 
entgegen  wächst,  rechnen.  Für  jene  hat  es  Überfluss,  für  diese 
dagegen  Mangel."  (Tgb.  II.  2281.)  Kandaules,  indem  er  die 
Zukunft  zur  Gegenwart  machen  will,  indem  er  den  natürlichen 
Gang  der  sittlichen  Idee  beschleunigen  möchte,  vergewaltigt  das 
sittliche  Gesetz.  Er  besitzt  keine  Pietät  für  das  Bestehende,  durch 
das  er  geworden  ist.  Dieses  Bestehende  aber  ist,  obwohl  nur 
im  Schlafe  und  nicht  positiv,  „doch  unendlich  mehr  wie  alle  zu- 
gespitzte Einzelheit".  Unter  Schlaf  versteht  Hebbel  das  sittliche 
Gesetz  in  der  Gesellschaft,  im  Staate.  Es  ruht  eigentlich  in  jeder 
Brust,  aber  es  tritt  in  dem  individuellen  Bewusstsein  nur  ganz 
dunkel  oder  gar  nicht  hervor.  Es  ist  aber  dennoch  ein  sicherer 
Führer  und  lässt  das  naive  Individuum  nicht  im  Stich.  Es  ist  das 
/rra//o/za/ß  im  Individuum.   Das  Gesetz  liegt  verborgen,  es  schlaf t. 

„Pietät  ist,  wie  der  Schlaf,  die  Hauptwurzel  des  sittlichen 
Menschen,  die  Nabelschnur,  durch  die  das  Individuum  mit  dem 
Weltall  zusammenhängt." 

Mangelt  ihm  die  Pietät,  so  ist  es  auch  schon  losgelöst  vom 
Weltganzen  und  es  muss  untergehen.  Diese  Pietät  fehlt  dem 
König  vollständig,  aber  nur,  weil  er  zu  sehr  mit  neuem  sittlichem 
Stoff  geladen  ist.  Er  stirbt  als  Pionier  der  sittlichen  Idee,  der 
Hebbel  bekanntlich  absolute  Existenz  zuschreibt. 

Aber  aus  dem  Kampfe  der  beiden  Welten,  der  Rhodopens 
und  der  des  Königs,   erhebt  sich   als  Synthese  eine  neue  Welt. 

312 


Sie  findet  ihre  Veri<örperung  in  Gyges.  In  ihr  sind  die  Gegen- 
sätze ausgeghchen,  es  lebt  das  Individuelle  weiter,  es  wird  in  ihr, 
von  der  individuellen  Form  befreit,  allgemeines  Gesetz,  was  ehe- 
dem in  Kandaules  als  reine  Willkür  wirkte.  Die  kommende  Welt 
urteilt  wie  er.  Seine  Schuld  lag  nicht  in  einem  bestimmten  V^oWqti, 
sondern  vielmehr  im  Wollen  an  sich.  Das  ist  die  erschütternde 
Tragik,  dass  der  Held  überall  Recht  hat  und  nur  deshalb  scheitern 
muss,  weil  eine  Generation  noch  nicht  zu  billigen  vermag,  was 
die  nächste  schon  zum  Gesetze  erhebt.  Hebbel  hat  den  Helden 
sehr  sympathisch  gestaltet,  indem  er  ihn  zu  einem  einheitlichen 
Charakter  machte,  der,  wo  er  geht  und  steht,  sich  immer  gleich 
bleibt.  Das  Spezielle,  dem  er  zum  Opfer  fällt,  ist  nicht  frevel- 
hafter als  sein  übriges  Tun.  Er  sträubt  sich  gegen  alles,  was 
nicht  von  morgen  kommt. 

Gleich  die  erste  Szene  zeigt  uns  seinen  antithetischen  Geist. 
Man  feiert  das  Heraklidenfest,  zu  dem  er  mit  Diadem  und  Schwert, 
die  schon  seit  fünf  Jahrhunderten  die  Könige  schmückten,  er- 
scheinen soll.  Aber  er  weigert  sich,  den  alten  Reifen  und  das 
rostige  Eisen  zu  tragen 

Das  neue  Diadem!    Was  soll  mir  dies? 

Hast  du  dich  auch  vielleicht  im  Schwert  vergriffen? 

und  ob  ihn  Thoas  auch   warnt,   ihn   daran   erinnert,   dass  beim 

letzten  Feste  das  Volk  das  neue  Diadem   und  das  neue  Schwert 

nur  mit  Entsetzen   erblickte,   ihn  versichert,   dass  die  Lydier  im 

alten  Schmucke  zugleich  alle  seine  Ahnen  mitverehren,  er  bleibt 

bei  seinem  Entschlüsse: 

So  darfs  nicht  länger  bleiben!    Nimm  denn  hin 
Und  tu,  was  ich  gebot. 

Schon  jetzt  sehen  wir,  dass  er  einem  Konflikte  entgegengehen 
muss.  Er  darf  zwar  als  König  wagen,  zum  zweitenmale,  den 
Wunsch  des  Volkes  zu  missachten,  weil  man  ihm  als  dem  Herr- 
scher Gehorsam  schuldig  ist;  aber  das  Verhängnis  ist  da,  so  bald 
er  seinesgleichen  trifft. 

Er  verlangt  von  der  Königin,  was  diese  nicht  tun  darf,  dass 
sie  am  Feste  teilnehme  und  sich  dem  Volke  zeige.  Sie  bleibt 
jedoch  im  Schleier,  wie  es  ihre  Sitte  gebietet. 

Wie  kann  ich! 
Du  holtest  dir  von  weitentlegner  Gränze 
Die  stille  Braut  und  wusstest,  wie  sie  war. 

313 


und  er 

Genug!  ich  bin  ja  an  dies  Nein  gewöhnt! 
Bläst  auch  der  frische  Wind  an  allen  Orten 
Die  Schleier  weg:  du  hältst  den  deinen  fest. 

Das  ist  eine  der  Stellen,  die  deutlich  dartut,  dass  es  sich 
nicht  um  den  Schleier  im  buchstäblichen  Sinne  handeh  und  die 
deshalb  auf  der  Bühne  auch  nicht  bloß  vorbeigeredet  werden 
darf,  wenn  der  Zuschauer  nicht  zu  einer  falschen  Auffassung  ge- 
langen soll.  So  wie  Rhodope  den  Schleier,  das  durch  die  Tra- 
dition Geheih'gte,  verehrt,  so  fürchtet  sie  den  unsichtbarmachenden 
Ring.  Denn  er  ist  es,  mit  dem  man  den  Schleier  zu  heben  ver- 
mag, mit  ihm  durchbricht  man  das  Sittengesetz.  Sie  ängstigt  sich 
vor  dieser  unheimlichen  Kraft;  sie  ahnt  schaudernd  das  Unheil 
vorweg,  das  er  bringen  muss.  Der  König  aber  schätzt  ihn  als  ein 
Machtmittel.  Es  kann  aber  nicht  gut  werden,  denn  dieser  Ring 
kommt  zu  einer  gefährlichen  Zeit.  Der  Zustand  des  Königs  ist 
der  der  Gereiztheit.  Er  findet  überall  Widerstand  und  so  kommt 
er  sich  in  der  Rolle  des  „Grenzpfahlkönigs"  doppelt  erbärmlich 
vor,  er,  der  doch  ein  König  der  Gesinnung,  ein  Gesetzgeber  sein 
möchte,  den  der  eigene  Wert  zum  Könige  adelt,  der  nicht  erst 
von  der  Größe  seiner  Ahnen  zu  borgen  braucht.  Der  Widerstand 
stärkt  gar  oft  den,  der  ihn  erleidet,  deshalb  werden  seine  Wünsche 
nur  umso  heftiger.  In  dieser  Verfassung  trifft  ihn  Gyges,  aber 
nicht  der  alte  Gyges,  sondern  der  Sieger,  der  gefeierte  Held  des 
Tages.  Er  hat  zugleich  den  Ruhm,  der  dem  Könige  gehörte, 
mit  eingeerntet,  so  dass  Thoas  von  ihm  sagt,  er  sei  für  das  Volk 
„wenn  noch  nicht  Phöbus  selbst,  so  doch  sein  Sohn."  ,Wie  fein 
ist  es  psychologisch  gedacht,  dass  gerade  jetzt  der  Ring  eingreift. 
Denn  Kandaules  verträgt  solche  Größe  nicht  neben  sich.  Gyges 
muss  irgendwie  besiegt  werden.  Hat  er  auch  alle  Kränze  sich  er- 
obert, den  einen  vermag  er  dem  Könige  nicht  zu  entreißen.  Kan- 
daules besitzt  das  schönste  Weib !  Das  soll  der  Grieche  fühlen  und 
gestehen.  Deshalb  versichert  er:  „Du  sollst  sie  sehen!" 

So  fängt  denn  der  König  an,  das  gefährliche  Werkzeug  zu 
gebrauchen,  um  seinem  Freunde  die  Schönheit  Rhodopens  zeigen 
zu  können.  Dieser  unsichtbar  machende  Ring  aber  hätte  kein  Recht 
in  der  Tragödie,  wenn  er  mehr  bedeutete  als  menschliches  Ver- 
mögen, und  ein  Dramatiker  wie  Hebbel,  der  gerade  für  „Gyges" 

6\A 


den  vollsten  Realismus  in  Anspruch  nahm,  hätte  auch  nie  eine 
Handlung  auf  die  Bühne  gebracht,  die  ohne  Wundermittel  nicht 
zustande  kommen  könnte.  Denn  eine  Handlung  gehört  dem 
Drama  an,  nur  soweit  sie  menschlich  ist.  Darin  irrte  sich  Hebbel 
nicht.  Freilich  ist  der  Realismus,  wie  der  Dichter  selbst  sagt,  in 
das  psychologische  Moment  verlegt,  weil  ein  Dichter  immer  nur  die 
Menschen  und  nicht  den  Kosmos  kennt.  „Nie  gestatte  ich  mir  aus  der 
dunklen  Region  unbestimmter  und  unbestimmbarer  Kräfte,  die  ich 
hier  vor  Augen  habe,  ein  Motiv  zu  entlehnen ;  ich  beschränke  mich 
darauf,  die  wunderbaren  Lichter  und  Farben  aufzufangen,  welche 
unsere  wirklich  bestehende  Welt  in  einen  neuen  Glanz  tauchen, 
ohne  sie  zu  verändern.  Der  Qyges  ist  ohne  Ring  möglich,  die 
Nibelungen  sind  es  ohne  Hornhaut  und  Nebelkappe."  (Brief  vom 
23.  11.  1863  an  Engländer.)  Für  diese  unbestimmten  Kräfte  hatte 
die  Mythologie  Symbole.  Hebbel  hat  sie  beibehalten:  den  Ring 
und  den  Schleier.  Kandaules  und  Rhodope  sind  die  Lichter  und 
die  Farben  dazu.  Diese  Kräfte  sind  heute  noch  ebenso  real,  wie 
vor  dreitausend  Jahren,  nur  leuchtet  heute  unsere  Erkenntnis 
hinein.  Die  Handlung  ist  vorgeschichtlich.  Der  Dichter  liebte  es, 
die  Fabel  ihres  mythologischen  Gewandes  nicht  ganz  zu  entklei- 
den ;  denn  es  war  nicht  seine  Meinung,  dass  man  etwas  gewinne, 
wenn  man  den  Eselskinnbacken  der  Bibel  in  ein  Schwert  ver- 
wandle. Der  Ring  hat  so  im  Stücke  nur  Platz,  wenn  er  eine  all- 
gemein menschliche  Regung  vertritt.  Er  ist  ein  Symbol  für  das 
individuelle  eigenmächtige  Bewusstsein. 

Es  gibt  einen  Punkt  im  einzelnen  Menschen,  der  diesem 
nicht  mehr  angehört;  er  ist  das,  was  ihn  mit  dem  Universum 
verbindet,  was  er  mit  der  Gesamtheit  gemein  hat.  Alles,  was 
in  ihm  außer  diesem  Allgemeinen  noch  existiert,  ist  das  ei- 
gentlich Individuelle,  und  es  kommt  für  den  Einzelnen  darauf 
an,  dass  er  das  Verhältnis  des  Individuellen  zum  Allgemeinen 
richtig  ordne.  Es  kann  schon  von  Natur  aus  richtig  sein, 
bei  dem  Menschen,  der,  wie  Rhodope,  schläft,  der  im  Grunde 
gar  kein  individuelles  Bewusstsein  besitzt.  Anders  bei  dem 
Menschen,  der  erwacht  ist,  der  als  Individuum  lebt.  Bei  ihm 
muss  das  Verhältnis  erst  hergestellt  werden  und  zwar  so,  dass  das 
Besondere  dem  Allgemeinen  untergeordnet  bleibt,  weil  nur  das  All- 
gemeine die  gültige  Form  des  Sittlichen  darstellt.  Nun  ist  möglich, 

315 


dass  der  Einzelne  sich  dem  Ganzen  unterzuordnen  vermag;  es 
ist  aber  auch  möglich,  dass  dies  nicht  gelingt.  Das  erste  ist  der 
Fall  bei  Gyges,  das  andere  bei  Kandaules.  Jener  besitzt  den 
Ring  nur,  dieser  besitzt  und  gebraucht  ihn.  Deshalb  kann  aus 
dem  Ring  sowohl  das  Gute  wie  das  Böse  hervorgehen,  je  nach 
dem  Menschen,  der  ihn  trägt.  Jeder  besitzt  ein  eigenes  Streben; 
aber  nicht  jeder  mäßigt  es,  dass  es  über  die  Grenzen  des  All- 
gemeinen nicht  hinausgeht.  Das  kräftige  Individuum  sündigt  daher 
vor  allem;  je  stärker  sein  Wollen,  desto  größer  wird  die  Ent- 
fernung und  deshalb  auch  die  Loslösung  vom  Ganzen.  Der  Ring 
schafft  bei  ihm  das  Böse.  Nur  ein  Individuum  vermag  mit  ihm  allein 
das  Gute  zu  tun.  Das  ist  Gott.  Denn  er  ist  als  höchstes  Indivi- 
duum zugleich  das  vollendete  Allgemeine,  das  sich  nicht  von  sich 
selbst  entfernen  kann.  In  diesem  Sinne  sagt  Rhodope,  der  Ring 
stamme  „aus  der  Zeit,  wo  Gott  und  Mensch  noch  miteinander 
gingen  und  Liebespfänder  tauschten".  Damals,  zur  Zeit  der  Halb- 
götter, wirkte  er  noch  das  Gute;  heute  kann  er  nur  Böses  stiften. 

Den  Ring  gebrauchen  ist  daher  nur  der  symbolische  Aus- 
druck für  ein  gesteigertes  individuelles  Streben,  das  die  Einheit  in 
einen  Dualismus  auflöst,  indem  es  dem  Besonderen  eine  Selb- 
ständigkeit verleiht. 

In  dem  Momente,  wo  der  König  den  Ring  benützt,  durch- 
schneidet er,  um  beim  Hebbelschen  Bilde  zu  bleiben,  jene  oben 
erwähnte  Nabelschnur,  durch  die  ihm  das  Leben  zuströmt.  Er 
vergisst,  dass  seine  eigene  Begrenztheit  weniger  ist  als  der  Kos- 
mos, dass  sie  bei  weitem  nicht  ausreicht,  um  der  ins  Chaos  auf- 
gelösten Natur  wieder  Gesetz  zu  geben,  dass  sie  nicht  einmal 
durch  sich  selbst  zu  existieren  vermag.  Ein  wenig  Ehrfurcht  hätte 
ihn  retten  können,  aber  sie  fand  neben  dem  kühnen  Drange  nach 
vorne  keinen  Platz. 

Gyges  dagegen  ist  von  einer  schonenden  Vorsicht  erfüllt,  die 
ihn  zugleich  auch  gerechter  macht.  Ihm  erscheint  die  Tat  frevel- 
haft und  er  tritt  deshalb  nicht  als  einer,  der  verurteilt  zu  werden 
braucht,  vor  die  Königin,  sondern  als  ein  Gerichteter,  der  schon 
selbst  das  harte  Urteil  für  sich  fällte.  Darum  packt  ihn,  als  er  es 
aus  dem  Munde  der  Königin  vernimmt,  auch  kein  Schaudern, 
„wie  es  jeden  Menschen  packt,  wie  es  den  Jüngling  doppelt 
packen  muss".  Ganz  im  Sinne  der  Synthese  sucht  er  die  Gegen- 

316 


Sätze    auszugleichen.    Wie    er    den    vernichtenden    Schmerz    der 

Königin  nachempfindet,  so  hat  er  auch  für  den  König,  nachdem 

ihn  Rhodope  als  Frevler  erkannt,  milde,  entschuldigende  Worte: 

Er  glich  dem  Priester,  der  die  selbe  Flamme, 
Die  ihn  durchlodert,  zu  des  Gottes  Ehre 
Auch  in  der  fremden  Brust  entzünden  mögte : 
Wenn  dieser  leidenschaftlich  —  unvorsichtig 
Die  heiligen  Mysterien  enthüllt, 
Um  dumpfe  Sinne  rascher  zu  erwecken 
Und  falsche  Götzen  sich'rer  zu  entthronen: 
Fehlt  er  so  schwer,  dass  man  ihm  nicht  verzeiht? 

Er  fand  die  Strafe,  als  sie  ihm  galt,  gerecht;  er  kann  sie 
jetzt,  da  sie  Kandaules  trifft,  nicht  zurückweisen.  So  fordert  er 
denn  als  Rächer  beim  Könige  die  Schuld,  damit  nur  einer  lebe, 
der  Rhodopen  entschleiert  sah.  Damit  dieser  eine  ihr  Gatte  sei, 
führt  ihn  die  Königin  zum  Altare,  bevor  sie  stirbt. 

Unter  dem  neuen  Lydierkönig  —  Thoas  zeigt  sehr  klar,  wie 
das  Volk  ihn  auf  den  Thron  erhebt  —  gelangt  das,  was  Kan- 
daules erstrebte,  zum  Siege;  es  wird  ein  anderer  Schleier  gewoben 
und  der  Kampf  wird  von  neuem  beginnen. 

Der  Kern  des  ganzen  Dramas  liegt  in  der  Schlussbetrachtung 
des  Helden.  Des  Dichters  eigene  Weltanschauung  spricht  aus 
diesem  Evangelium.  Rückwärts  schauend,  erkennt  er  den  Irrweg, 
den  ihn  seine  rein  persönlichen  Tendenzen  führten: 

O,  dieser  Ring!   Du  meinst,  er  wäre  besser 
In  seiner  Gruft  geblieben!   Das  ist  wahr! 


Denn  nicht  zum  Spiel  und  nicht  zu  eitlen  Possen 
Ist  er  geschmiedet  worden,  und  es  hängt 
Vielleicht  an  ihm  das  ganze  Weltgeschick 
—    —    —    —    _    _    _  und  wäre  ich 
Dir  gleich,  so  hätte  er  mich  nicht  verlockt. 
Ich  hätt'  ihn  still  der  Nacht  zurückgegeben, 
Und  alles  würde  stehen,  wie  zuvor. 

Aus  dieser  leisen  Wehmut  ringt  er  sich  zu  einem  frohen 
Optimismus  empor.  Die  Kurzsichtigkeit  weicht  einem  weiten, 
klaren  Blick,  der  ihn  das  unabänderliche  Verhältnis  des  Einzelnen 
zur  Gesamtheit  schauen  lässt.  Sein  tragisches  Schicksal  wird 
ihm  die  notwendige  Bedingung  für  das  Wohl  der  Gesamtheit.  Eine 
dämmernde  Gewissheit  überzeugt  ihn,  dass  die  Kraft,  welche  in 
ihm  wirkte,  ebenso  göttlich  ist,  als  der  Schleier,  den  er  zerstörte. 

317 


Im  Glauben,  dass  er  das  Werkzeug  eines  Höheren  sei,  empfindet 
er  auch  das  Sterbenmüssen  nicht  mehr  als  eine  persönliche  Sache. 
Bei  den  Worten  vom  Schlaf  der  Welt  erscheint  der  König  so  stark 
geläutert,  so  frei  von  jeglicher  Schuld,  dass  wir  uns  gegen  seinen 
Untergang  sträuben  möchten  und  sein  Ende  nur  ertragen,  weil  wir 
die  alte  Welt  mit  Kandaules  ersterben,  ihn  aber  in  Gyges  wieder 
auferstehen  sehen. 

Was  die  Tragödie  zu  unserer  Angelegenheit  macht,  das  ist 
das  Verhältnis  des  Individuums  zur  Gesamtheit  in  der  allgemein- 
sten Form.  Der  Kampf  ist  im  Grunde  ein  Kampf  zwischen  Ring 
und  Schleier,  jener  gleich  ursprünglichen  Kräfte,  die  als  Trieb  zum 
Individuellen  und  als  Macht  der  Tradition  ewig  mit  einander 
ringen  werden. 

Die  Tragödie  wird  daher  vollständig  falsch  aufgefasst,  wenn 
aus  dem  Schleierrecht  ein  Recht  der  freien  Selbstbestimmung  des 
Weibes  gemacht  wird.  Dadurch  würde  Rhodope  zu  einer  moder- 
nen Frau,  die  mit  persönlichem  Bewusstsein  eine  Forderung  für 
sich  stellt. 

Das  tut  sie  aber  nicht.  Sie  lebt  gar  nicht  als  Individuum, 
wie  etwa  Mariamne,  und  darf  als  solche  auch  auf  der  Bühne  nicht 
erscheinen.  Sie  hat  symbolisch  das  Allgemeine  zur  Darstellung 
zu  bringen  und  die  Schwierigkeit  liegt  für  sie  darin,  dass  sie  nur 
individuelle  Ausdrucksmittel  zur  Verfügung  hat.  Der  Vorwurf, 
dass  sie  als  Weib  zu  wenig  Gefühle  zeige,  ist  somit  für  die  Dar- 
stellerin ein  Lob  im  Sinne  Hebbelscher  Kunst.  Denn  sie  muss, 
um  dem  Dichter  gerecht  zu  werden,  möglichst  weit  vom  Individu- 
ellen sich  entfernen.  Die  Distanz,  die  sie  halten  muss,  wird 
fälschlich  als  Kälte  ausgelegt.  Wem  aber  diese  Kälte  fremd  vor- 
kommt, der  sollte  wissen,  dass  er  Rhodopen  nur  so  weit  ver- 
stehen kann,  als  er  selbst  über  das  Individuum  hinaus,  zum  Allge- 
meinen vorgeschritten  ist. 

Hebbel  hat  schon  solchen  und  ähnlichen  Vorwürfen  geant- 
wortet in  dem  Epigramm:  Selbstkritik  meiner  Dramen" 

Zu  moralisch  sind  sie!    Für  ihre  sittliche  Strenge 

Stehn  wir  dem  Paradies  leider  schon  lange  zu  fern, 

Und  dem  jüngsten  Gericht  mit  seinen  verzehrenden  Flammen 

Noch  nicht  nahe  genug.    Reuig  bekenn'  ich  euch  dies. 

ZÜRICH  LOUIS  GLATT 

DDD 

318 


AUS  CHAMBERLAINS  „GOETHE" 

„.  .  .  Am  besten  vielleicht,  da  es  sich  um  ein  kaum  Fassbares  handelt, 
wir  erhaschen  diese  der  Natur  gewachsene  Phantasie  in  dem  Augenblick, 
wo  sie  sich  am  Werke  zeigt,  das  heißt  in  dem  Augenblick,  wo  unser  Dichter 
sich  selber  verbessert,  indem  er  herkömmliche  Redensart  oder  knapp  an- 
liegende Naturtreue  oder  grammatische  Zaghaftigkeit  oder  rhythmischen 
Zwang  beseitigt.  Dazu  bietet  die  Entstehungsgeschichte  Goethescher  Ge- 
dichte und  Prosawerke  viele  Belege.  Greifen  wir  zuerst  weit  zurück  zu 
dem  einfachen  Fabelliedchen,  wie  der  erste  Druck  es  nennt.  Da  lesen  wir: 

Es  sah  ein  Knab'  ein  Rösiein  stehn, 

Ein  Rösiein  auf  der  Heiden. 

Er  sah,  es  war  so  frisch  und  schön, 

Und  blieb  stehn,  es  anzusehn, 

Und  stand  in  süßen  Freuden. 

Goethe  und  Herder  werden  wohl  an  dieser  Fassung,  die  sie  eingestandener- 
maßen „aus  der  mündlichen  Sage"  erhielten,  kaum  ein  Wort  geändert  haben. 
Bei  dem  zweiten  Druck  aber,  sechs  Jahre  später,  lautet  das  jetzt  Rösiein 
auf  der  Heide  genannte  Gedicht: 

Es  sah  ein  Knab'  ein  Rösiein  stehn, 

Rösiein  auf  der  Heiden : 

Sah,  es  war  so  frisch  und  schön, 

Und  blieb  stehn,  es  anzusehn, 

Und  stand  in  süßen  Freuden. 

Wie  viel  Leben  ist  durch  Streichung  von  nur  zwei  Wörtern  hineingekommen! 
Das  Rösiein  tritt  uns  jetzt  im  zweiten  Vers  ohne  das  fatale  „ein"  wie  ein 
Individuum  aus  dem  Einerlei  der  Heide  entgegen;  und  die  Tilgung  des  nur 
logisch  geforderten  „er"  —  „sah,  es  war'',  statt  „er  sah,  es  war"  —  schenkt 
dem  Blicke  des  Knaben  eine  merkwürdige  Unmittelbarkeit;  und  doch  ist 
wenigstens  diese  zweite  Änderung  gewiss  grammatikalisch  nicht  unanfecht- 
bar. Nun  aber  emanzipiert  sich  Goethe  vollends  von  Herders  Mitwirkung 
und  dichtet  das  Liedchen  so  um,  dass  er  es  als  eigenes  Heidenröslein  in 
die  erste  Ausgabe  seiner  Werke  aufnehmen  darf. 

Sah  ein  Knab'  ein  Rösiein  stehn, 
Rösiein  auf  der  Heiden, 
War  so  jung  und  morgenschön, 
Lief  er  schnell,  es  nah  zu  sehn, 
Sah's  mit  vielen  Freuden. 

An  einem  einfachsten  Beispiel  haben  wir  hier  die  Metamorphose  aus  einem 
lieblichen  „Naturwerk"  menschlicher  Dichtung  in  ein  vollendetes  „Kunst- 
werk", und  zwar  vermittelst  der  Befreiung  der  Phantasie.  Das  „war"  im 
dritten  Vers  bezöge  sich  nach  den  Regeln  der  Grammatik  auf  den  Knaben; 
doch  wird  wohl  nie  ein  Leser  auch  nur  einen  Augenblick  bezweifelt  haben, 
die  Rose  sei  gemeint;  wir  aber  verfolgten  die  Entstehungsgeschichte:  erst 
das  erbarmungslos  logisch  ausführliche  „er  sah,  es  war";  dann,  schon 
wesentlich  entlastet  vom  Verstandesballast,  „sah,  es  war";  jetzt  kommt  das 
Genie  und  sagt  „war" !  Es  trägt  auch  kein  Bedenken,  den  folgenden  Vers 
mit  einem  „lief"  zu  beginnen,  das  ebenfalls  sprachlich  —  wenigstens  vor- 
übergehend —  in  der  Schwebe  bleibt;  denn  da  das  „er"  und  das  „und" 
gfefallen  sind  und  „war"  sich  auf  das  Rösiein  beziehen  soll,  so  wäre  nach 
den  Regeln  der  Logik  vorauszusetzen,  „lief"  bezöge  sich  auch  auf  das  Rös- 
iein ;  erst  das  Fürwort  „er"  deckt  grammatikalisch  die  Rückkehr  zum  ersten 
ßfttzsubjekt  auf.    Die  Phantasie   setzt;  sich   über  die  Grammatik   hinweg: 

319 


mit  welchem  Erfolg,  das  sage  sich  jeder  beim  Vergleich.  Und  nun  der  Ein- 
fall, das  Stehenbleiben  in  ein  Hinlaufen  umzuwandeln  I  Wie  klein  und  harm- 
los das  Gebilde  auch  ist,  man  muss  doch  sagen,  dieses  r 

Lief  er  schnell,  es  nah  zu  sehn 

gleicht  dem  „Es  werde  Licht!"  der  Schöpfungsgeschichte.  Mit  einem  Schlag 
ist  alles  Bewegung  und  Bewegung  ist  Leben.  Nicht  bloß  erhalten  wir  hier- 
durch die  Ferne  und  die  Nähe,  das  Schlendern  und  das  Laufen,  also  Raum 
und  Zeit  —  die  Perspektive  eines  Geschehnisses,  sondern  namentlich  kommt 
die  innere  Bewegung  jetzt  erst  zur  Geltung.  Stehenbleiben  in  süßen  Freu- 
den, weil  man  an  eine  schöne  Rose  zufällig  geraten  ist,  das  bringt  jedes 
träge  Durchschnittswesen  fertig,  wogegen  Hinlaufen,  ja,  „schnell"  Hinlaufen, 
weil  der  Seele  nach  der  Anschauung  des  Schönen  gelüstet,  weil  das  Schöne 
wie  ein  Magnet  auf  die  Seele  wirkt,  weil  jeder  Eindruck  Wille  erweckt  und 
jede  Willensregung  sofort  in  Tat  umschlägt:  das  zeigt  uns  einen  regen, 
feurigen  Knaben.  Da  kann  der  Poet  ruhig  die  weichliche  Redensart  „süße 
Freuden"  aufgeben  und  durch  das  schlichte  „viele  Freuden"  ersetzen;  denn 
jetzt  haben  wir  die  Freude  erlebt  und  bedürfen  keiner  überschwänglichen 
Versicherungen.  Und  nun  die  von  Goethes  auserwählter  Schutzgöttin  ihm 
eingegebene  Umgestaltung  von  „es  war  so  frisch  und  schön"  in 

War  so  jung  und  morgenschön  I 

Frisch  ist  nur  ein  Gegensatz  zu  verwelkt ;  es  ist  Naturtreue,  nicht  Geistes- 
poesie; „jung"  zaubert  die  Anmut  der  Natur,  wie  sie  die  Seele  ewig  von 
neuem  entzückt,  in  das  Herz.  Und  „morgenschön" !  Nichts  finde  ich  be- 
zeichnender für  Goethe  als  die  Sparsamkeit  in  der  Anwendung  solcher  Ein- 
gebungen ;  nur  für  diesen  einen  Fall  erfand  und  gebrauchte  er  das  herrliche 
Wort ;  nie  wieder  sprach  er  es  aus ;  dem  Heidenröslein  gehört  es  auf  ewig. 
Derartige  Neubildungen  sind  bei  ihm  nicht  Münzen,  die  er  in  Umlauf  setzt, 
sondern  geprägte  Kunstformen,  die  der  einen  Gestaltung  ihr  Dasein  ver- 
danken und  nun  mit  dem  einen  einzigen  Werk  als  organische  Bestandteile 
verknüpft  bleiben.  Das  ist  Phantasie,  Phantasie,  die  der  Natur  gewachsen  ist. 
Noch  sei  auf  die  Umdichtung  in  der  dritten  Strophe  aufmerksam  ge- 
macht. Ursprünglich  las  man: 

Das  Röslein  wehrte  sich  und  stach, 

Aber  er  vergaß  darnach 

Beim  Genuss  das  Leiden. 

„Er"  ist  der  Knabe.  Eine  recht  nüchterne,  hausbackene  Moral,  würdig  des 
stehenbleibenden  Knaben.  Wogegen  der  wahre  Poet  dichtet: 

Rösiein  wehrte  sich  und  stach, 
Half  ihm  doch  kein  Weh  und  Ach, 
Musste  es  eben  leiden. 

Eine  Wendung,  die  in  ihrer  unsentimentalen  Tragik  etwas  Hellenisches  an 

sich  hat."   (S.  521—524.)  Dazu  die  Anmerkung:    „Die  erst  in  der  Ausgabe 

letzter   Hand   eingeführte  Änderung    des    zarten    „ihr"  in  „ihm"  ist  ohne 

Zweifel  dem  unheilvollen  Philologen  und  Pedanten  Göttling  zuzuschreiben, 

der,  Goethes  Vollmacht  missbrauchend,  noch  so  manchen  anderen  feinen 

Zug  verwischt  hat.  Auch  ist  die  Lesung  „musste"  der  ersten  Ausgabe  von 

Goethes  Schriften,  die  sowohl  Herder  wie  Goethe  selber  korrigiert  hatten, 

der  jetzigen  Lesung  „musst"  vorzuziehen,  welche  sich  erst  in  der  Ausgabe 

von  1806  bis  1810,  mitten  in  den  Kriegsunruhen,  einschlich." 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

320 


VEREINFACHUNG 

DER 

STAATSVERWALTUNG  UND  ERLEICHTERUNG 
DER  STAATSLASTEN 

„Wirtschaft,  Horatio,  Wirtschaft!" 

Hamlet 

I. 

Der  zürcherische  Kantonsrat  hat  den  Steuerfuß  für  das  Jahr 
1913  auf  4^4  7oo  vom  Vermögen  festgesetzt.  Darnach  richtet 
sich  dann  auch  der  Steuerfuß  vom  Einkommen,  indem  laut  Gesetz 
so  viel  mal  als  1  %o  Vermögensteuer  erhoben  wird,  2  7»  Ein- 
kommenssteuer zu  bezahlen  sind  —  von  der  Aktivbürgersteuer, 
die  nur  Vs  ^^^  Betrages  des  Vermögensteuer/«/ß5  ausmacht, 
nicht  zu  reden.  Es  trifft  also  für  1913  neben  474  °/"o  Vermögens- 
steuer eine  Einkommensteuer  von9V2  7o-  Maßgebend  aber  bleibt 
der  Steuerfuß  vom  Vermögen,   und   davon   ist  auch  auszugehen. 

Bis  zum  Jahr  1904  war  die  Steuer  vom  Vermögen  nie  über 
4  7oo  hinausgegangen,  und  das  war  schon  eine  ganz  ansehnliche 
Belastung  des  Steuerzahlers,  wohl  die  höchste  unter  den  Kantonen. 
Das  neue  Jahrhundert  hat  dann  im  Kanton  Zürich  eine  Finanz- 
misere eingeläutet.  Als  infolgedessen  der  Steuerfuß  zum  ersten- 
mal auf  4^2700  erhöht  wurde,  erhob  sich  dagegen  alsbald  eine 
Volksinitiative,  die  sogenannte  Steuerfußinitiative,  welche  verlangte, 
dass  der  vom  Kantonsrat  festzusetzende  Steuerfuß  niemals  den 
bisherigen  Ansatz  von  4  7oo  übersteigen  dürfe.  Es  war  ihr,  um 
sie  zu  diskreditieren,  gelegentlich  der  Sinn  unterschoben  worden, 

321 


dass  der  Steuerfuß  überhaupt  nie  über  dieses  Maß  hinausgehen 
dürfe,  als  ob  er  gesetzlich  darauf  festgelegt  werden  wollte.  Zwar 
würde  auch  das  nicht  unerhört  sein ;  St.  Gallen  und  Luzern  zum 
Beispiel  haben  den  Steuerfuß  gesetzlich  beschränkt  und  auf  ein 
weit  geringeres  Maß  (2^2,  iVaVoo;  ja,  diese  iVaVoo  werden  in 
Luzern  sogar  nur  alle  zwei  Jahre  erhoben),  müssen  also  damit 
schlecht  oder  recht  auskommen.  Aber  die  Initianten  wollten 
offenbar  nur,  dass  über  mehr  als  4  7oo  hinaus  das  Volk  anzu- 
fragen sei  und  nicht  der  Kantonsrat  aus  sich  in  alle  Höhen  hin- 
auf Steuern  dekretieren  könne.  Die  Beschränkung  der  kantons- 
rätlichen  Kompetenz  durch  das  Referendum  ist  nun  noch  viel 
weniger  eine  Seltenheit,  sondern  in  einer  ganzen  Reihe  von  Kan- 
tonen hergebrachtes  Recht,  und  wieder  tritt  dort  das  Referendum 
nicht  erst  von  4  7oo  an,  sondern  schon  früher  und  zum  Teil  viel 
früher  in  Wirksamkeit.  Aber  der  zürcherische  Kantonsrat,  eifer- 
süchtig auf  seine  Oberhoheit,  wurde  empfindlich,  und  seine  Mit- 
glieder haben  es  sich  denn  wie  kaum  je  angelegen  sein  lassen, 
an  allen  Versammlungen  zur  Besprechung  der  Initiative  zu  er- 
erscheinen,  um  die  Diskussion  zu  beherrschen  und  dieses  er- 
weiterte Volksrecht  niederzustimmen. 

Nun  also  ist  der  Steuerfuß  noch  weiter  erhöht  worden.  Um 
so  mehr  schiene  eine  Kontrolle  vonnöten.  Wir  haben  nichts  da- 
gegen, wenn  diese  weder  in  ein  Finanzreferendum,  noch  gar  in 
ein  Gesetz  gelegt  wird,  sondern  dem  Kantonsrat  selbst  überlassen 
bleibt.  Zwar  erscheint  ein  äußerer  Zwang  zum  Maßhalten  in  den 
Ausgaben  immer  heilsam.  Bei  der  privaten  Wirtschaft,  wenn  sie 
anders  ordentlich  ist,  liegt  er  in  der  Rücksicht  auf  die  Einnahmen, 
das  heißt  der  Private  hat  sich  nach  der  Decke  zu  strecken.  Wir 
wissen  schon,  dass  für  das  Gemeinwesen,  Staat  und  Gemeinde, 
gewissermaßen  der  umgekehrte  Grundsatz  gilt,  es  hätten  sich  die 
Einnahmen  nach  den  Ausgaben  zu  richten.  Aber  das  doch  nur, 
so  weit  die  Ausgaben  nötig  oder  doch  wirklich  ersprießlich  sind; 
verplempern  darf  auch  das  Gemeinwesen  nichts  —  von  eigent- 
licher Verschwendung  nicht  zu  reden,  an  die  wir  überhaupt  nicht 
denken.  Auf  dieser  Seite  bestände  der  Zwang  eben  in  einem 
über  dem  Kantonsrat  stehenden  Volksvotum,  sei  es  in  einem 
Steuerreferendum  oder  in  einer  gesetzlichen  Maximalbegrenzung 
des  Steuerfußes,  so  dass  für  ein   Mehr  das  Volk  in  der  einen 

322 


oder  andern  Form  angerufen  werden  müsste.  Das  schiene  um 
so  eher  gerechtfertigt,  als  das  Volk  daran  mehr  interessiert  ist, 
als  an  manchem  Gesetz.  Aber  wir  wollen,  wie  gesagt,  die  Kon- 
trolle nach  wie  vor  vertrauensvoll  dem  Kantonsrat  selbst  über- 
lassen. Nur  soll  er  dann  auch  wirklich  Selbstkontrolle  üben  und 
sich  an  ein  gewisses  Höchstmaß  der  Steuer  für  gebunden  halten, 
so  gut  als  wäre  es  ihm  vom  Volk  vorgeschrieben;  er  ist  ja  für 
das  Volk  da  und  hat  in  seinem  Sinn  zu  walten.  Dazu  erschienen 
4"/oo  für  ordentliche  Zeilen  nachgerade  genug,  und  es  sollte  da- 
mit außer  im  Falle  von  Krieg  und  andern  Landeskalamitäten 
auszukommen  sein.  Es  sollte  also  an  eine  Erhöhung  gar  nicht 
gedacht  werden,  bevor  nicht  alle  zulässigen  Ersparnisse  versucht 
wären.  Wenn  noch  andere  Einnahmequellen  zu  Gebote  ständen, 
hielte  man  auch  sie  besser  für  ungewöhnliche  Lagen  zurück,  wie 
ein  kluger  Feldherr  seine  Reserven.  Es  kommt  also  immer 
darauf  hinaus,  die  ordentlichen  Ausgaben  unerbittlich  auf  den 
Belauf  der  ordentlichen  Einnahmen  zu  reduzieren,  so  weit  es 
immer  möglich  ist,  ohne  ersprießliche  Aufgaben  bloßzustellen. 
Darin  bestände  die  Selbstkontrolle,  von  der  wir  sprechen,  und 
diese  erscheint  von  Segen  für  das  Gemeinwesen  und  als  Gerechtig- 
keit gegen  den  Steuerzahler.  Es  liegt  darin  eine  Selbstzucht,  die 
keine  Verwöhnung  und  Verweichlichung  aufkommen  lässt,  son- 
dern strafft  und  kräftigt,  den  Staat  wie  den  Mann  zum  Charakter 
macht  und  für  das  private  Leben  zum  Vorbild  würde.  Gerecht 
aber  gegen  den  Steuerzahler  ist  eine  solche  Kontrolle  insofern, 
als  dieser  sich  in  schwierigen  Zeiten  auch  einschränken  muss, 
mehr  als  man  glaubt,  und  vernünftigerweise  ohne  besondere  Not 
gewiss  nicht  auf  Kosten  seiner  Selbsterhaltung  und  Vervollkomm- 
nung, sondern  er  wird  sich  eben  das  mehr  oder  weniger  Über- 
flüssige oder  Nebensächliche  versagen.  Oder  soll  er  um  so  mehr 
sparen,  damit  das  Gemeinwesen  es  um  so  weniger  nötig  hat  und 
sich  um  so  eher  gehen  lassen  kann?  Übrigens  gibt  es  für  den 
öffentlichen  Haushalt  eine  Art  Careyschen  Gesetzes,  das  ihm  be- 
sonders zu  gut  kommt.  Wie  mit  der  Kultur  die  Produktions- 
fähigkeit der  Erde  sich  steigert,  so  dass  eine  Übervölkerung  im 
Sinne  der  Überschreitung  der  Ernährungsmöglichkeit  für  den  Ein- 
zelnen nie  eintreten  könnte  —  so  vermehren  sich  mit  den  Be- 
dürfnissen und  Aufgaben  des  Gemeinwesens  auch  ohne  weiteres 

323 


die  Mittel  zu  deren  Bestreitung ;  die  vermeiirten  Bedürfnisse  sind  ja  nur 
die  Folge  der  erhöhten  Lebenslage  der  Einzelnen,  im  ganzen  und 
grundsätzlich  also  sollten,  von  außerordentlichen  Umständen  ab- 
gesehen, die  gewöhnlichen  Einnahmen  immer  an  die  erforderlichen 
Ausgaben,  wenn  sie  richtig  zusammengehalten  werden,  hinanreichen, 
ohne  dass  es  überhaupt  einer  übermäßigen  und  insofern  gewalt- 
mäßigen Steigerung  des  Steuerdruckes  bedürfte. 

Jedenfalls  passt  es  sich  schlecht,  den  Steuerfuß  zu  erhöhen 
in  einer  Zeit,  wo  man  in  voller  Arbeit  ist,  die  Taxation  zu  ver- 
schärfen. Das  heißt,  die  Steuerschlinge  an  beiden  Enden  zuziehen. 
Ein  guter  Hirte  müsse  seine  Herde  scheren,  aber  nicht  schinden, 
hat  schon  Kaiser  Tiberius  gesagt.  Eine  Erhöhung  des  Steuer- 
fußes lässt  man  sich  eher  gefallen,  wenn  nicht  zugleich  die  Schraube 
der  Taxation  angezogen  wird  und  umgekehrt.  Welches  der  bei- 
den Mittel  für  einmal  zu  wählen  ist,  wird  sich  jeweilen  aus  den 
Verhältnissen  ergeben.  Wo  der  Steuerfuß  bereits  sein  ordent- 
liches Maximum  erreicht  hat,  wie  es  mit  4  7oo  der  Fall  scheint, 
bleibt  nur  das  Mittel  ergiebigerer  Taxation.  Deren  Verfahren  zu 
vervollkommnen  war  denn  auch  ein  Hauptzweck  und  ein  haupt- 
sächliches Verdienst  der  Vorlage  des  Regierungsrates  vom  Jahr 
1899  für  eine  Revision  des  Staatssteuergesetzes.  Aber  bei  den 
Taxationen  sollte  gewissermaßen  der  umgekehrte  Weg,  als  ge- 
wohnt, eingeschlagen  werden.  Statt  bei  den  kleinen  und  mittleren 
Leuten  anzufangen  und  sie  bis  zum  letzten  Quentchen  zu  quängeln 
und  zu  drängeln,  sollten  zuerst  die  Größten  und  Großen  daran 
kommen.  Das  ist  nicht  nur  gerechter,  sondern  auch  verdienst- 
licher und  ergiebiger.  Es  ist  leicht,  einen  armen  Teufel  von 
Stromer  festzunehmen;  aber  eine  gute  Polizei  wird  eher  ein  Dutzend 
kleiner  Schelmen  laufen  lassen,  um  nicht  Zeit  und  Mühe  dafür 
zu  verlieren,  Hochstapler  und  Kapitalverbrecher  zur  Strecke  zu 
bringen.  Nach  diesem  Rezept  hat  auch  die  Steuerkommission  zu 
verfahren.  Wenn  in  der  Steuersache  Brandt,  die  sich  einen  großen 
Aufwand  von  Rekursen  und  Gutachten  hat  leisten  können  und 
dadurch  allgemein  Aufsehen  gemacht  hat,  die  Steuerkommission 
den  vielfachen  Zehntmilllonen  nur  halbwegs  nahe  gekommen 
wäre,  statt  bei  einer  einzigen  oder  gar  nur  einer  halben  Million 
stehen  zu  bleiben,  wie  vielen  kleinen  Leuten  hätte  man  dafür  die 
Mehrtaxation  und  damit  vielleicht  eine  eigentliche  Härte  erlassen 

324 


können?  Es  scheint  allerdings  die  richtige  Taxation  um  so 
schwieriger,  je  größer  der  Mann  oder  das  Geschäft,  aber  unmög- 
lich ist  sie  doch  nicht;  es  gibt  immer  mehr  oder  weniger  sichere 
Anzeichen  dafür.  Angenommen  den  Fall  des  Direktors  einer 
Aktienbank.  Man  kennt  den  Umsatz  der  Bank  aus  den  Jahres- 
berichten und  weiß,  wie  ihm  die  Honorare  und  Tantiemen  zu 
entsprechen  pflegen ;  ergibt  sich  daraus  ein  Jahreseinkommen  des 
Mannes  von  250000  Franken,  so  muss  man  sich  nicht  mit  einer 
Steuer  für  25  000  begnügen,  und  wenn  er  sich  in  der  Zeit  hat 
schätzungsweise  zwei  Millionen  zurücklegen  können,  so  lässt  man 
sich  nicht  mit  einem  Zugeständnis  von  200  000  Fr.  abfinden.  Was 
wollen  dagegen  wieder  ein  paar  hundert  Franken  mehr,  die  man 
aus  den  Lohnlisten  einem  kleinen  Beamten  vorrechnet,  besagen? 
und  was  ist  für  ein  großes  Verdienst  dabei?  Dazu  kommt, 
wohlgemerkt,  dass  in  den  obern  Lagen  die  gleiche  Summe  für 
die  Besteuerung  mehr  wert  ist,  wegen  der  Progression.  Freilich 
muss  man  sich  in  diesen  großen  Geschäften  auskennen  und  dar- 
nach sollten  auch  die  Steuerkommissäre  ausgewählt  werden  und 
nicht  aus  den  Kreisen,  die  nicht  über  sich  hinaussehen.  Dann 
fänden  sie  auch  den  nötigen  Mut,  den  es  um  so  mehr  braucht, 
je  höher  der  Steuerzahler  steht.  Kurz,  der  Steuerkommissär 
muss,  wie  ein  Staatsmann,  mehr  auf  das  Große  sehen,  und  es  muss 
ein  größerer  Zug  in  die  amtlichen  Taxationen  kommen.  Man  soll 
nicht  Mücken  seigen  und  Kamele  verschlucken.  Dann  wird  das 
große  Publikum  auch  mehr  Vertrauen  zur  Steuerbehörde  ge- 
winnen und  seinerseits  ihr  mehr  und  lieber  entgegenkommen. 
Wir  wollen  die  Progression  nicht  abgeschafft  wissen;  nur  muss 
sie  durch  eine  um  so  schärfere  Taxation  ergänzt  werden,  und 
zwar,  wohlverstanden,  nach  oben,  sonst  ist  sie  wirkungslos  und 
bleibt  die  größte  Steuerlast  nach  wie  vor  auf  den  kleinen  und 
mittleren  Leuten  liegen,  wie  es  aus  Schuld  einer  verkehrten 
Taxationsmethode  zurzeit  wirklich  der  Fall  zu  sein  scheint. 

Bei  alledem  aber  hat  der  Staat  seine  Pflicht  als  Verwalter 
von  Volksgeldern  nicht  zu  vergessen.  Man  redet  uns  immer  nur 
von  „Steuergewissen"  vor,  und  erst  jüngst  wieder.  Es  dürfte  aber 
auch  ein  Finanzgewissen  geben,  das  heißt  ein  Gefühl  der  Ver- 
antwortlichkeit auf  Seiten  des  Staates  für  das,  was  er  dem  Volke 
schuldig  ist,  nämlich  dem  Volksvermögen  nicht  mehr  zu  entziehen 

325 


als  notwendig  und  mit  den  Bezügen  sorgfältig  und  sparsam  um- 
zugehen. 

Es  ist  etwas  Schönes  um  ein  solides  Gemeinwesen,  wie  um 
eine  solide  Privatwirtschaft.  Ja,  die  Solidität  ist  an  beiden  das 
Beste,  weil  Notwendigste.  Sie  zeigt  sich  in  der  Kreditwürdigkeit, 
und  diese  ihrerseits  beruht  auf  dem  Gleichgewicht  von  Einnahmen 
und  Ausgaben  —  wenn  also  jene  nicht  unerschöpflich  sind,  auf 
der  Einschränkung  dieser,  kurz  auf  der  Sparsamkeit.  Mag  man 
diese  altbacken  nennen,  ohne  sie  geht  öffentliche  und  private 
Wirtschaft  aus  Rand  und  Band.  Die  besten  Staaten  waren  immer 
die  sparsamsten ;  das  lehrt  die  ganze  Geschichte  ohne  Unterbruch 
und  Ausnahme.  Nur  darf  man  den  Satz  nicht  umkehren,  um 
ihn  ad  absurdum  zu  führen;  es  kommt  auch  darauf  an,  wo  und 
wie  gespart  wird.  Man  muss  nur  die  Banken  fragen,  was  einer, 
Staat  oder  Privatmann,  wert  sei ;  sie  stellen  die  zuverlässigsten 
Leumundszeugnisse  aus.  Ein  weises  Bankinstitut  beurteilt  die 
Person  nicht  nur  nach  ihrem  Besitz  und  Erwerb,  sondern  nicht 
weniger  zieht  es  auch  ihre  geistigen  und  moralischen  Eigenschaften 
in  Rechnung:  Leistungsfähigkeit,  Solidität  und  Sparsamkeit.  Die 
Gehaltsprobe  für  ein  öffentliches  Gemeinwesen  ist  namentlich  der 
Weg,  der  ihm  für  die  Emission  von  Anleihen  offen  steht:  ob  es 
noch  so  viel  Kredit  besitzt,  dass  es  eine  Anleihe  zur  öffentlichen 
Subskription  auflegen  kann  und  dabei  die  nötige  Zeichnung  oder 
gar  Überzeichnung  findet,  oder  ob  es  das  gewünschte  Geld  um 
teuren  Preis  bei  Banken  aufnehmen  muss,  um  dadurch  desto 
tiefer  in  Schulden  zu  versinken.  Eine  Großstadt,  ganz  nahebei 
von  Zürich,  ist  schon  längst  auf  diesen  letzten  Weg  gewiesen 
und  hätte  also  auch  schon  längst  alle  Ursache  gehabt,  darin 
ein  Warnungszeichen  zu  sehen,  um  Einkehr  zu  halten  und 
sich  zur  Umkehr  anzuschicken.  Und  nun  sollten  sogar  Schatz- 
scheine ausgegeben  werden,  die  freiwillig  zu  ordentlichen  Be- 
dingungen niemand  kaufen  wird.  Es  fehlte  nur  noch  der  Zwang 
zum  Kaufe;  dann  wären  wir  glücklich  bei  den  berüchtigten  Assig- 
naten der  französischen  Revolution  angelangt,  nur  dass  sie  da- 
mals doch  unter  etwas  außerordentlicheren  Umständen  ausgegeben 
wurden  und  um  das  entschuldbarer  erscheinen.  Die  Finanz- 
kontrolle durch  den  Staat  hat  sich  als  leere  Formel  erwiesen, 
wie  zu  erwarten  war,  so  lange  der  Staat  im  gleichen  Geleise  fährt. 

326 


Man  sieht  nur,  wie  wichtig  das  Finanzwesen  in  Staat  und  Ge- 
meinde ist,  eigentlich  das  wichtigste,  insofern  alles  davon  abhängt. 
Aber  ein  Finanzdirektor  braucht  ein  festes  Rückgrat  gegen  all  die 
vielen  und  vielfach  übertriebenen  Anforderungen  an  den  Fiskus, 
wie  es  ein  Walter  Hauser  in  Kanton  und  Bund  gehabt  hat.  Es 
sollte  daher  bei  einer  Regierung  jedes  Mitglied  wenigstens  einmal 
durch  die  Finanzdirektion  hindurch,  um  aus  der  Nähe  zu  erkennen, 
was  es  alles  braucht  und  wofür  alles  es  schlechterdings  nicht 
reicht;  so  würde  jedes  Mitglied  das  richtige  Augenmaß  gewinnen 
für  die  Begehren  an  den  Staatssäckel,  auf  die  es  sich,  wieder  zu 
seinem  Departement  zurückgekehrt,  beschränken  müsste.  Die 
Budgets  sähen  dann  gewiss  glatter  aus  und  gingen  leichter  durch 
die  Siebe.  Es  schiene  das  sogar  wichtiger  als  der  periodische 
Wechsel  im  Regierungspräsidium,  dessen  Aufgabe,  wenn  ich  sie 
nicht  unterschätze,  eigentlich  in  nicht  viel  anderem  besteht  als 
im  Aufschneiden  der  Briefe  für  das  Kollegium. 

11. 

Man  hat  sich  zwar  auch  schon  nach  Ersparnissen  umgesehen, 
aber  keine  oder  nichts  von  Erheblichkeit  gefunden;  jeder  häh  für 
sein  Departement  natürlich  alles  und  noch  mehr  für  nötig  und 
nichts  als  unentbehrlich,  wenn  er  nur  auf  sich  und  nicht  auf  das 
Ganze  schaut.  Aber  viele  kleine  Vögel  geben  auch  einen  Braten, 
sagt  der  Volksmund,  und  im  Evangelium  steht:  „Leset  die  Bro- 
samlein  zusammen,  dass  sie  nicht  verloren  werden."  Es  gibt  aber 
neben  diesen  noch  ganze  Laibe  von  Ausgaben,  von  denen  es  sich 
fragen  könnte,  ob  sie  sich  nicht  entbehren  oder  für  Besseres  auf- 
heben ließen.  Sehen  wir  uns  einmal  das  Beamtentum  im  ganzen 
an,  nach  Zahl  und  Löhnung.  Je  größer  die  Zahl  der  Angestellten, 
um  so  teurer  selbstverständlich  die  Wirtschaft.  Jeder  Geschäfts- 
mann weiß  das  und  hält  sich  daher  an  das  Verhältnis,  in  welchem 
die  Unkosten  zum  ganzen  Umsatz  stehen  müssen,  damit  das  Ge- 
schäft noch  rentabel  erscheine.  Ähnlich  soll  es  das  Gemeinwesen ; 
nur  dass  den  Umsatz  hier  das  vorstellt,  was  es  für  die  Bürger 
leistet.  Dabei  gibt  es  ja  allerdings  auch  unproduktive  Leistungen 
(nicht  zu  verwechseln  mit  unproduktiven  Gütern),  die  schlechter- 
dings keinen  Geldwert  darsteilen,  wie  Polizei  und  Rechtspflege, 
im  Gegensatz  zu  Armen-  und  Schulausgaben,  den  Ausgaben  für 

327 


Straßen  und  Anstalten  usw.  Solche  Leistungen  aber  sind  tun- 
lichst einzuschränken  oder  umzulegen.  So  war  gerade  die  Polizei, 
die  heute  ohne  weiteres  und  im  ganzen  Umfang  als  Aufgabe  des 
Gemeinwesens  gilt,  früher,  auch  im  Kanton  Zürich,  so  weit  es 
die  Gewerbe  betraf,  den  Handwerksverbänden  übertragen,  die  sie 
gewiss  mit  größerer  Sachkunde  und  deshalb  nicht  schlechter  be- 
sorgten, und  so  könnte  es  beim  Wiederaufleben  der  Berufsge- 
nossenschaften aufs  neue  geschehen.  Diesem  Vorgang  ließen  sich 
vielleicht  noch  andere  polizeiliche  Funktionen  anschließen,  so  dass 
die  Polizei  sich  auf  ihre  erste  und  eigentliche  Aufgabe,  die  Sicher- 
heitspolizei, beschränken  könnte.  Das  geschähe  nicht  allein  zum 
finanziellen  Vorteil  des  Gemeinwesens,  sondern  auch  zur  Erlösung 
der  Bürger  von  öffentlicher  Polizeiaufsicht  auf  Weg  und  Steg,  die 
unlieber  als  jede  genossenschaftliche  Kontrolle  ertragen  wird.  Was 
sich  aber  verrechnen  lässt,  soll  das  Gemeinwesen  nicht  an  sich 
tragen,  namentlich  gegenüber  Personen,  welche  die  ihnen  geleisteten 
Dienste  sehr  wohl  zu  vergüten  imstande  wären,  wie  es  zum  guten 
Teil  bei  der  Rechtspflege  der  Fall  scheint,  von  der  nachher  noch 
speziell  zu  reden  ist. 

Nun  sollte  man  meinen,  eine  Demokratie  brauche  am  wenig- 
sten Beamte,  weil  sie  ja  auf  dem  Grundsatze  beruhe,  dass  sich 
die  Bürger  selbst  beherrschen  können,  also  um  so  weniger  einer 
besondern  Herrschaft,  des  Beamtentums,  bedürften.  Aber  unbe- 
streitbar ist  das  Umgekehrte  der  Fall:  sie  weist  verhältnismäßig 
die  größte  Zahl  der  Beamten  auf.  Woher  das  kommt?  weil  alle 
nicht  nur  gehorchen,  sondern  auch  regieren  wollen?  Das  könnte 
sich  der  Staat  schließlich  wohl  gefallen  lassen,  wenn  es  unent- 
geltlich, ehrenhalber,  geschähe.  Aber  die  Beamten  der  Demo- 
kratie wollen  wie  andere  bezahlt  und  möglichst  gut  bezahlt  sein. 
Es  ist  also  eine  Art  Versorgungsanstalt,  was  man  beim  Staate 
sucht.  Wer  aber  sollte,  schließlich  den  Staat  unterhalten?  Bei 
einer  gewissen  Freiwilligen-  und  Einwohnerarmenpflege  kam  es 
vor,  dass  sie  von  einem  Ausgabenbudget  von  zirka  160000  Fr. 
ganze  70000  für  ihre  Beamten  brauchte,  also  an  die  40  7o.  Ein 
Armenverein  für  seine  Beamten,  könnte  man  fast  sagen.  Würde 
ein  Privater  das  Geschäft  wohl  auch  mit  solchen  Unkosten  be- 
treiben? So  stark  ist  das  Missverhältnis  von  Umsatz  und  Be- 
amtenkosten beim  Staat  nun  allerdings  nicht.  Bei  einem  zürcheri- 

328 


sehen  Ausgabenbudget  von  rund  dreißig  Millionen  macht  es  für 
die  Beamten,  Irrtum  vorbehalten,  gegen  fünf  Millionen,  die  Be- 
soldung für  Lehrer  und  Pfarrer  ungerechnet,  die  nicht  zu  den 
eigentlichen  Beamten,  sondern  zu  den  sogenannten  Pflegern  zählen, 
die  Bildung  und  Erziehung  des  Volkes  besorgen.  Es  lässt  sich 
das  Beamtendevis  zwar  nicht  durchgehend  genau  feststellen,  indem 
namentlich  in  den  Anstaltsrechnungen  manche  und  gerade  die 
erheblichsten  Posten  für  Beamte  und  Insaßen  zusammengefasst 
sind,  eine  Vermischung,  die  ein  Privatgeschäft  nicht  litte,  weil  es 
wissen  will,  wie  hoch  die  Angestellten  kommen  und  was  die 
Gäste  und  Kostgänger  verbrauchen.  Immerhin  machte  also  der 
ganze  Beamtenkonto  16  bis  17  "/o  aller  Ausgaben  aus,  und  das 
erscheint  zu  viel,  auch  zur  Größe  des  Staates,  nach  Bevölkerung 
wie  nach  Gebiet.  Man  wird  nicht  glauben,  dass  ein  Privater  bei 
100000  Fr.  Umsatz  für  Angestellte  16  bis  17  000  Fr.  bezahlte,  wo 
der  ganze  Bruttogewinn  noch  lange  nicht  so  viel  betrüge.  Wir 
verkennen  den  Unterschied  zwischen  beiden  Arten  von  Wirtschaft 
nicht;  aber  es  tut  doch  gut,  immer  wieder  Vergleiche  mit  der 
Privatwirtschaft  anzustellen,  um  sich  möglichst  zu  deren  gesunden 
Rechnungsweise  zu  erheben,  statt  sich  mehr  und  mehr  gehen  zu 
lassen.  Auf  diesen  Vergleich  ist  man  um  so  mehr  angewiesen, 
als  es  immer  noch  an  einer  Wissenschaft  für  die  Normen  der 
Staatskostenberechnung  fehlt,  während  das  Recht  der  Staats- 
verwaltung und  im  übrigen  auch  deren  Politik  ausgebildet 
genug  sind. 

Eine  Überzahl  von  Beamten  kommt  aber  den  Staat  nicht 
nur  um  so  viel  teurer  zu  stehen,  sondern  erzeugt  auch  das  viel- 
köpfige Ungeheuer  der  Bureaukratie,  vor  dem  eigentlich  die  Demo- 
kratie am  meisten  bewahren  sollte.  Demokratie  ist  Volksherr- 
schaft und  steht  als  solche  im  Gegensatz  zur  Beamten  Wirtschaft. 
Und  zwar  zeigen  sich  darin  die  Hauptmerkmale,  an  denen  die 
Bureaukratie  erkennbar  wird.  Die  Überzahl  schon  ist  ein  solches. 
Es  handelt  sich  nicht  um  Ehrenämter,  wo  das  Volk  als  solches 
an  der  weitern  Leitung  des  Staates  beteiligt  ist,  und  die  daher 
gewissermaßen  nur  als  eine  Erweiterung  der  politischen  Volks- 
rechte und  insofern  selbst  volkstümlich  erscheinen  —  sondern 
um  bezahlte  Ämter  und  um  eine  Bezahlung,  die  möglichst  zum 
Leben  ausreichen  soll  und  damit  die  Stelle  zum  Berufsamt  macht. 

329 


Dadurch  tritt  der  Gegensatz  des  Beamtentums  zum  Volk  hervor, 
und  das  Beamtentum  wird,  je  zahlreicher  es  ist,  um  so  über- 
mächtiger und  um  so  mehr  unvolkstümlich  und  bureaukratisch. 
Daraus  entwickelt  sich  dann  der  andere  Übelstand,  die  bureau- 
kratische  Behandlung  der  Geschäfte:  der  Durchzug  durch  die 
vielen  Bureaux  und  die  damit  verbundene  Verschleppung,  und  die 
formale,  mechanische  Art  der  Erledigung.  Mit  der  Verteilung 
wäre  zwar,  sollte  man  meinen,  eine  um  so  raschere  Behandlung 
gegeben;  aber  dann  kommen  die  mehreren  Instanzen  und  für  ein 
und  das  gleiche  Geschäft  oft  noch  die  Zersplitterung  in  verschie- 
dene Spezialbehandlungen.  Die  mechanische  Methode  aber  be- 
steht darin,  dass  der  einzelne  Fall  in  der  Schreibstube  einge- 
schlossen und  schriftlich  bearbeitet,  von  einer  Aktennummer  zur 
andern  gewälzt  wird,  statt  dass  man  auf  eine  möglichst  rasche 
und  sachgemäße  Erledigung  sähe.  Zu  dieser  gehörte  möglichst 
wenig  Schreiberei  und  dafür  lebendige  Verhandlung  durch  Be- 
sprechung mit  den  Parteien,  persönliche  Anschauung  der  Zustände 
usw.  Dadurch  geht  nicht  nur  ein  schnelleres  Licht  über  die  Sache 
auf  oder  wird  eher  eine  Verständigung  erzielt,  die  vielmal  eine 
förmliche  und  umständliche  Entscheidung  überhaupt  entbehrlich 
macht,  sondern  es  bleibt  der  ständige  Kontakt  mit  dem  Volke 
erhalten,  und  ein  schließlicher  Entscheid  findet  um  so  mehr  Kredit 
bei  den  Beteiligten  und  im  Volke.  Die  andere  Art  büßt  erstens 
diese  großen  Vorteile  ein  und  erfordert  überdem,  weil  je  länger 
ein  Geschäft  dauert,  um  so  mehr  neben  einander  herlaufen,  wieder 
nur  desto  mehr  Beamte.     Ein  falscher  Zirkel! 

Wie  aber  wird  eine  Überzahl  von  Beamten,  Berufsbeamten 
vermieden?  Der  Weg  ist  schon  im  Vorstehenden  angedeutet. 
Einmal,  was  an  öffentlichen  Interessen  sich  zur  Besorgung  irgend- 
wie für  das  Volk  selbst  eignet,  soll  diesem,  das  heißt  dafür 
geeigneten  Verbänden,  die  bereits  vorhanden  sind  oder  sich  dafür 
bilden  ließen,  überlassen  werden,  so  dass  der  Staat  sich  auf  die 
Aufsicht  beschränken  könnte.  Die  Aufsicht  ist  des  Staates  eigent- 
lichstes Gebiet,  dass  alles  in  Ordnung  vor  sich  geht  und  sich 
wohl  befindet,  nicht  die  Verwaltung  selbst,  die  eigentlich  nichts  ist 
als  Bevormundung  oder  in  solche  ausartet,  und  dabei  wird  auch 
die  freie  Betätigung,  die  bürgerliche  Freiheit  am  besten  gewahrt, 
die  das  höchste  Gut  des  Menschen  darstellt.  Ordnung  und  doch 

330 


Freiheit,  oder  Freiheit,  aber  Ordnung,  das  ist  die  wahre  Parole. 
Immerhin  meinen  wir  nur  eine  Freiheit,  bei  der  alle  bestehen 
können,  worauf  nachher  zurückzukommen  ist.  Es  ist  einfach  ein 
verkehrter  Zug,  wenn  alles,  was  von  öffentlichem  Interesse  er- 
scheint —  und  was  gehört  nicht  nachgerade  alles  dazu!  —  zu 
einer  obrigkeitlichen  Institution  gemacht  und  dafür  ein  weiteres 
Beamtentum  eingesetzt  werden  will.  Sogar  der  Kaminfegerberuf 
und  die  Leichenbitterinnen.  Aus  diesem  Betracht  ist  auch  das 
Elektrizitätswerk  als  staatliche  Einrichtung  eine  fragwürdige  Er- 
rungenschaft. Der  Staat  hat  sich  damit  nur  eine  neue  Aufgabe 
aufgesackt  und  ein  weiteres  Beamtentum  geschaffen,  und  zwar 
einen  wirtschaftlichen  Betrieb,  für  den  er  nicht  geschaffen  ist  und 
sich  auch  nach  allen  Erfahrungen  weniger  eignet  als  der  Private. 
Zu  einem  ergiebigen  wirtschaftlichen  Betrieb  gehört  nun  einmal 
das  private  Interesse,  der  private  Vorteil,  der  als  treibende  Kraft 
unersetzlich  und  daher  wohl  zu  berücksichtigen  und  nicht  schlecht- 
hin zu  ertöten  ist,  soll  nicht  der  Kulturfortschritt  selbst  einen 
tötlichen  Schlag  erleiden.  Im  Staat  fehlt  dieser  Trieb  schlechter- 
dings, ein  Mangel,  der  sich  in  allem  und  nicht  zuletzt  in  der  Ren- 
dite zeigt,  und  der  Staat  ist  auch  gar  nicht  dazu  da,  mit  den 
Privatwirtschaften  zu  konkurrieren,  sondern  steht  auf  dem  höheren 
Standpunkt,  sie  zu  überwachen.  Gewiss  soll  ein  so  wichtiges 
Element  der  Volkswirtschaft,  wie  die  Wasserkraft  es  namentlich 
durch  die  Erfindung  der  Umsetzung  in  elektrische  Kraft  geworden 
ist,  nicht  bedingungslos  der  Ausbeutung  überlassen  werden;  aber 
wenn  die  bloße  Aufsicht  ungenügend  erschien,  so  gab  es  noch 
eine  mittlere  Form  der  Einmischung,  auf  die  sich  der  Staat  hätte 
beschränken  können:  die  Beteiligungan  einer  entsprechenden  Privat- 
unternehmung, um  von  deren  besonderem  Vorteil  zu  profitieren 
und  sie  zugleich  zu  überwachen.  Doch  das  nur  als  Beispiel  für 
die  Darlegung  des  ersten  Mittels  zur  Beschränkung  des  Beamten- 
tums und  damit  der  Bureaukratie.  Jedenfalls  sollte  man  nach 
diesem  Schritt  Halt  machen,  um  sich  auf  die  Umkehr  von  einer 
falschen  Richtung  zu  besinnen. 

Sodann  die  bestehenden  Beamtungen.  Sie  wären  darauf 
nachzuprüfen,  ob  sich  ihr  Personal  im  ganzen  oder  einzeln  nicht 
vermindern  ließe.  Das  erscheint  lächerlich  für  alle  diejenigen,  die 
nichts  anderes  wissen,   als   dass  sich   die  Aufgaben   des  Staates 

331 


täglich  vermehrten  und  damit  auch  der  Beamtenkörper  stetig  ver- 
größert werden  müsste.  Aber  jenes  ist  nicht  viel  mehr  als  eine 
Annahme,  und  dieses  nicht  die  ohne  weiteres  gegebene  Folge. 
Wir  denken  beispielsweise  an  die  Statistik.  Wir  unterschätzen  sie 
nicht,  haben  sie  im  Gegenteil  schon  mehr  benutzt  und  ihr  laut 
und  im  stillen  schon  mehr  gedankt,  als  vielleicht  andere,  die  an 
ihren  Bestand  auch  nur  zu  rühren  für  ein  Sakrilegium  halten.  Es 
gilt  ja  überhaupt  immer  als  ein  Sakrilegium,  wenn  man  das  Be- 
stehende in  Frage  zieht,  und  gar  eine  Beamtung,  wo  noch  die 
persönliche  Empfindlichkeit  mitspielt.  Aber  schon  Dickens  hat 
die  Statistik  einen  großen  brüllenden  Ozean  der  tabellarischen 
Übersichten  genannt,  aus  welchem  noch  nie  ein  Mensch,  der  bis 
zu  einer  gewissen  Tiefe  niedertauchte,  gesund  wieder  heraufge- 
kommen sei.  Sie  ist  zum  guten  Teil  mehr  wissenschaftliche  Mode, 
um  nicht  zu  sagen  Spielerei,  als  praktische  Notdurft.  Wenigstens 
wenn  man  das,  was  sie  liefert,  vergleicht  mit  dem,  was  vom  Ge- 
meinwesen davon  benutzt  wird  und  insofern,  was  sie  ihm  nützt. 
Bloß  für  private  Liebhabereien  aber  ist  eine  amtliche  Statistik 
nicht  da.  Wie  viele  langwierige  und  mühsame  Arbeiten,  Armen- 
statistik, Gemeinde-,  landwirtschaftliche  Statistik  etc.  etc.,  werden 
von  ihr  erstellt,  die  nur  dem  Staub  der  Akten  verfallen,  und  ge- 
rade das  sprichwörtlich  gewordene  „unschätzbare  Material"  der 
Archive  rührt  hauptsächlich  von  ihr  her  —  unschätzbar  nach  den 
Kosten,  aber  nicht  für  den  Gebrauch.  Zurzeit  ist  eine  Statistik 
der  Finanzen  der  Kantone  in  Vorbereitung.  Wozu  das,  wo  die 
Finanzmisere  der  Kantone  auf  flacher  Hand  liegt?  oder  soll  dar- 
aus erst  der  Ansporn  und  die  Richtschnur  für  eine  Sanierung 
gewonnen  werden?  Man  hat  es  schon  zu  oft  erlebt,  dass  statisti- 
sche Umfragen  unternommen  wurden,  nur  um  sich  den  Anschein 
zu  geben,  in  der  Sache  etwas  zu  tun,  und  dass  für  diese  schließ- 
lich nichts  gewonnen  wurde.  Insoweit  könnten  sich  Staat  und 
Gemeinde  die  Aufgabe  und  damit  das  Persona!  und  die  Kosten 
dafür  ersparen.  Das  Volk  aber  nimmt  die  Ergebnisse  nicht  zur 
Kenntnis,  versteht  sie  wohl  nicht  einmal.  Zu  diesem  Zweck 
müsste  die  Statistik  auch  anders  eingerichtet  sein,  nicht  nur  in 
Zahlen  reden,  sondern,  was  diese  beweisen  sollen,  in  lebendige  Worte 
umsetzen. 

(Fortsetzung  folgt.) 

332 


BEI  ARISTIDE  BRIAND 

Im  September  1911  nach  einer  Ferienreise  in  den  industriellen 
Norden  Frankreichs  lernte  ich  Aristide  Brland  kennen.  Der  Pre- 
mier ruhte  sich  damals  von  den  Strapazen  seiner  Ministertätigkeit 
aus  und  bewohnte  als  simple  depute  eine  einfache  Mietswohnung 
an  der  Avenue  Kleber  weit  draußen  bei  den  Champs  Elysees. 
Ohne  großen  Aufwand  an  Zeit  konnte  ich  zu  Briand  gelangen  und 
wurde  von  ihm  mit  so  natürlicher  Herzlichkeit  empfangen,  wie  sie 
berufsmäßigen  Interviewern  wohl  nicht  zu  teil  wird.  Die  Audienz 
trug  den  Charakter  eines  Besuches  und  ließ  mich  vor  allem  die 
Bekanntschaft  des  Menschen  Brland  machen.  Dass  ich  das  durfte, 
verdankte  ich  jedoch  größtenteils  der  Empfehlung  des  Herrn 
Zebrowski  in  Zürich,  der  einst  in  Nantes  mit  dem  jungen  Briand 
auf  der  Schulbank  saß. 

Kaum  war  das  einführende  Billet  überreicht,  saß  ich  auch 
schon  im  Empfangssalon  des  ehemaligen  Ministerpräsidenten, 
einem  nicht  gerade  großen,  rondellartigen  Raum  mit  stilvollen 
Möbeln.  Ein  großes  Ölgemälde,  Briand  im  Studierzimmer  dar- 
stellend, gab  dem  Salon  die  charakteristische  Note.  Aus  den  Ge- 
sichtszügen des  Mannes,  den  man  auf  diesem  Gemälde  erblickte, 
leuchteten  die  Eigenschaften,  die  man  ihm  nachrühmt:  Geist,  Ge- 
wandtheit und  hervorragende  Tatkraft.  Aber  auch  etwas  Gütiges 
sprach  aus  diesen  tiefschwarzen  Augen.  Unwillkürlich  erinnerte 
ich  mich  an  einige  besonders  sympathische  Züge  aus  dem  Leben 
des  Politikers,  von  dem  Adolphe  Brisson  einst  schrieb,  dass  er  der 
zärtliche  Sohn  seiner  Mutter  war,  so  anhänglich  wie  einst  Gam- 
betta  an  seine  Mutter.  Der  vielbeschäftigte  Abgeordnete  setzte 
sich  an  Sonntagen  in  den  Schnellzug  nach  der  Touraine,  nur  um 
das  alte  Mütterchen  in  St.  Nazaire  auf  ein  paar  flüchtige  Augen- 
blicke wieder  zu  sehen. 

Das  Antichambrieren  löste  noch  allerlei  andere  Erinnerungen 
und  Gedanken  aus.  Wenn  man  auch  nicht  von  übermäßigem 
Respekt  vor  offiziellen  Machthabern  angekränkelt  ist,  so  sitzt  es 
sich  vor  der  Türe  zum  Kabinett  eines  Mächtigen  doch  wie  auf 
feurigen  Kohlen.  Und  eigenartige  Reflexionen  und  Stimmungen 
sind's,   die  uns  beschleichen.    Ich  musste  immer  wieder  an  die 

333 


Laufbahn  dieses  rätselhaften  Mannes  denken,  an  seinen  meteor- 
artigen Aufstieg  vom  Pubh'zisten  und  Advol<aten  zur  obersten 
Macht,  an  Guizots  Wort:  Le  journah'sme  mene  ä  tout.  Der, 
dessen  Stimme  ich  vom  Arbeitskabinett  aus  ganz  gedämpft  ver- 
nahm, konnte  auf  keine  Protektion  rechnen;  die  Coterie,  die  Clique 
ging  an  ihm  vorüber,  er  hatte  keinen  Vetter  im  Ministerium,  keine 
Familientradition,  keinen  regionalen  Deputierten,  der  schützend  über 
ihm  die  Hand  gehalten  hätte.  Kleiner  Leute  Sohn  aus  St.  Nazaire 
konnte  er  weder  auf  Geld  pochen,  noch  auf  Beziehungen,  noch 
auf  Protektion  und  Konnexion.  Er  musste  sich  seinen  Weg  ganz 
anders  bahnen  als  der  gewöhnliche  Karrieremacher.  Und  er 
bahnte  sich  ihn  durch  seine  Intelligenz,  sein  Rednertalent,  seine 
zähe  Ausdauer  und  ein  löwenhaftes  Vertrauen  in  die  eigene  Kraft. 
Nachdem  er  die  Trennung  von  Staat  und  Kirche  durchgekämpft, 
war  auch  sein  Name  als  der  eines  leadingman  endgültig  gemacht. 

Während  ich  in  derlei  Betrachtungen  versunken  bin,  entleert 
sich  der  Wartesalon  ziemlich  rasch ;  einige  Audienzen  fanden  eine 
so  prompte  Erledigung,  wie  ich  sie  für  die  meinige  nicht  wünschte. 
Neben  mir  saß  nur  noch  ein  älterer  würdiger  Herr  mit  distinguier- 
ten Manieren;  Briands  Sekretär  versicherte  ihn,  er  werde  bald 
vorgelassen.  Und  es  ging  auch  nicht  mehr  lange.  Nun  saß  ich 
als  zuletzt  Angekommener  noch  allein  da.  Es  war  also  so  weit. 
Doch  nicht,  denn  schon  war  wieder  eine  halbe  Stunde  verstrichen, 
seitdem  mein  Vorgänger  über  die  Schwelle  huschte.  Die  Uhr  rückt 
gegen  zwölf  und  meine  Hoffnungen  reduzieren  sich  auf  ein  Mini- 
mum. Da  kam  Briands  Sekretär  wieder,  ein  Mann  mit  einem 
rundlichen,  vertrauenerweckenden  Gesicht,  und  bemerkte:  Monsieur 
Briand  lässt  Ihnen  sagen,  Sie  möchten  nicht  fortgehen,  Sie  kämen 
so  bald  als  möglich  an  die  Reihe.  Es  sei  nämlich  ein  Botschafter 
bei  ihm,  bemerkte  mit  entschuldigender  Miene  der  Sekretär.  Nach 
wenigen  Minuten  öffnete  sich  denn  auch  die  Türe  des  Arbeits- 
kabinetts, und  was  ich  bisher  nur  im  Bilde  vor  mir  hatte,  wurde 
lebendige,  sprechende  Wirklichkeit.  Ein  mittelgroßer  Mann  in  den 
besten  Jahren  im  schwarzen  Jacketanzug  trat  auf  mich  zu  und 
schüttelte  mir  freundlich  die  Hand,  unter  Entschuldigungen,  dass 
ich  etwas  lange  habe  warten  müssen. 

Eine  eigenartige  Wirkung  geht  von  dem  schmächtigen  Manne 
mit  den  feingeschnittenen  Gesichtszügen  aus.    Das   ist  nun  also 

334 


Briand,  sagt  man  sich,  der  überall  anerkannte  Briand,  der  ge- 
wandte Politiker,  der  einstige  Ministerpräsident  und  vielleicht  wieder 
der  kommende  Mann.  Und  doch  nahm  die  Art,  wie  Briand  sich 
gab,  sofort  jede  Befangenheit;  sie  war  so  herzlich,  fast  heimelig, 
dass  bei  mir  die  erwartungsvolle  Unruhe  sich  gleich  in  eine  ruhige 
Sicherheit  verwandelte. 

Im  Arbeitskabinett  des  Ministers  kam  denn  auch  die  Unter- 
haltung sofort  in  Gang.  Nach  einigen  mehr  konventionellen  Rede- 
wendungen nahm  sie  die  von  mir  herbeigewünschte  Richtung. 
Auf  ein  Interview  war  ich  nicht  eingerichtet,  ich  wollte  auch  nicht 
den  Politiker,  sondern  vielmehr  den  Privatmann  kennen  lernen, 
und  meine  ganze  Disposition  bestand  in  vier  Worten:  Innere 
Politik,  Einkommensteuer,  Kulturkampf,  Sozialismus.  Alles  andere 
war  dem  Spiel  des  Zufalls  anheimgegeben.  Was  konnte  eine 
mechanisch  zurechtgelegte  Vorbereitung  helfen,  musste  doch  alles 
aus  dem  Moment  herauswachsen !  Briand  saß  mir  gerade  gegen- 
über und  ich  konnte  reichlich  den  Gesichtsausdruck  des  interes- 
santen Mannes  studieren.  Die  Augen  sind  schön,  groß  und 
fragend;  sie  blicken  ruhig  und  sind  unablässig  auf  das  Gegenüber 
gerichtet.  Der  buschige  Schnurrbart  legt  sich  leicht  um  die  Mund- 
winkel. Das  schwarze,  glänzende  Haar  kontrastiert  mit  dem 
bleichen,  nicht  gerade  vollen  Gesicht.  Die  Stimme  ist  ruhig  und 
von  weichem  Wohllaut.  Briand  spricht  ohne  Geste,  ohne  Hast, 
kurz  und  bestimmt,  aber  alles  was  er  sagt  ist  von  einer  klassi- 
schen Form,  mit  allem,  was  er  einwirft,  trifft  er  gleich  den  Nagel 
auf  den  Kopf.  Er  ist  vor  allem  liebenswürdig,  das  personifizierte 
Wohlwollen. 

Die  Unterredung  kam  zunächst  auf  die  innere  Lage  Frank- 
reichs; die  äußere  anzutönen  erschien  mir  wegen  der  Marokko- 
krise nicht  ratsam.  Das  Land  hat  sich  durchaus  beruhigt,  bemerkte 
Briand,  die  Kämpfe  sind  vorübergegangen.  Ich  sagte  ihm,  auch 
in  der  Schweiz  hätte  sein  großes  Werk,  die  „Separation",  viel  Be- 
wunderung gefunden,  was  er  mit  den  Worten  quittierte:  „Je  suis 
touche  de  ce  que  vous  me  dites."  Man  sprach  dann  von  den 
Kämpfen  gegen  die  Reaktion,  welche  die  dritte  Republik  auszu- 
fechten  hatte,  von  den  Männern,  deren  Namen  mit  ihnen  ver- 
knüpft bleiben.  Für  Gambetta  „le  grand  tribun"  hatte  er  manches 
übrig,  noch  mehr  aber  für  Waldeck-Rousseau.  „C'etait  un  homme 

335 


splendide."  Die  Entwicklung  der  Parteiverhältnisse  im  modernen 
Frankreich  führte  uns  zur  herrschenden  radikalen  Partei.  Er  ver- 
kannte ihre  Verdienste  um  die  Laisierung  des  Staates  nicht,  sie 
erliege  aber  dem  Schicksal  aller  großen  Parteien :  „le  parti  radical 
n'a  pas  assez  de  mouvement,  il  n'est  pas  assez  large  dans  ses 
idees."  Das  Verhalten  radikaler  Politiker  gegenüber  der  Einkom- 
mensteuer leitete  uns  zum  Projekt  Caillaux  über.  Hat  es  eine 
Zukunft?  Briand  lächelte  in  seiner  überlegenen  Art  und  meinte: 
„Sous  cette  forme  il  ne  passera  pas."  Die  Frage  sei  sehr  subtil, 
eine  letzte  Formel  noch  nicht  gefunden.  Was  Briand  selber  von 
dem  Problem  hält,  konnte  ich  nicht  herausbekommen.  Die  sozialen 
Fragen,  die  der  Hebung  der  ärmeren  Volksklassen,  beschäftigen 
Briand  ebenfalls.  Wie  die  wachsende  Kluft  zwischen  Be- 
sitzenden und  Besitzlosen  überbrücken,  die  Schäden  des  modernen 
großindustriellen  Zeitalters  mildern?  Briand  meinte,  neben  der 
auf  eine  ökonomische  Besserstellung  ausgehenden  Arbeiterbewegung 
müsse  eine  Hebung  der  untern  Stände  überhaupt  erfolgen,  da 
ganze  Kreise  von  erkämpften  Arbeiterforderungen  nicht  berührt 
werden  (Frauen,  Kinder,  unqualifizierte  Arbeiter). 

Bis  zu  welchem  Grad  er  der  französischen  Sozialpolitik  Ver- 
dienste einräumt,  konnte  ich  nicht  erkennen.  Seine  Kritik  des 
Radikalismus,  dahingehend,  dass  er  modernen  Ideen  zu  wenig 
zugänglich  sei,  war  wohl  in  erster  Linie  auf  die  sozialen  Leistun- 
gen der  radikalen  Mehrheitspartei  gemünzt.  Weder  über  den 
politischen  Sozialismus  noch  über  den  revolutionären  Syndikalismus 
sprach  Briand  sich  aus;  so  viel  war  aber  aus  seinem  Mienenspiel 
abzulesen,  dass  er  nicht  ohne  Sorge  das  Wachsen  des  revolutio- 
nären Syndikalismus  verfolgt.  Von  den  älteren  heute  noch  die 
französische  Großbourgeoisie  beherrschenden  wirtschaftspolitischen 
Lehrmeinungen  der  Walras,  Molinari,  Paul  Leroy-Beaulieu  scheint 
er  nicht  viel  zu  halten.  „C'est  un  reactionnaire,"  sagte  er  lächelnd 
von  Leroy-Beaulieu,  „c'est  ce  qu'on  dit  vieux  j'eux."  So  viel  kam 
mir  aber  klar  zum  Bewusstsein,  dass  Briand,  der  auf  eine  bestimmte 
Richtung  kaum  festzulegen  ist,  dem  Interventionismus  freundlich 
gesinnt  ist.  Die  Lex  Briand,  die  eine  direkte  Folge  des  Streikes 
der  Eisenbahner  der  Nordbahn  war,  atmete  einen  gewissen  esprit 
d'equite.  Mir  schien  aus  den  Äußerungen  Briands  hervorzugehen, 
dass  er  auch  der  Gewinnbeteiligung  in  industriellen  Unternehmun- 

336 


gen  große  Bedeutung  beimisst  und  allen  übrigen  Maßnahmen, 
welche  das  gegenseitige  Verhältnis  erträglicher  gestalten  könnten. 
Einige  Worte  über  die  Schutzzollpolitik  Frankreichs  schlössen  den 
Besuch  bei  Briand  ab;  mir  schien,  man  dürfe  den  gewandten 
Staatsmann  eher  als  freihändlerischen  Argumenten  zugeneigt  be- 
zeichnen. Ich  ließ  durchblicken,  dass  der  Tarif  Meline  und  der 
Zollkrieg  mit  der  Schweiz  nicht  Frankreichs  Vorteil  war  und  dass 
man  wenigstens  später  zu  einem  etwas  besseren  Übereinkommen 
gelangt  sei,  worauf  Briand  bemerkte:  „Cetait  sous  mon  ministere." 
Dass  Aristide  Briand  der  Schweiz  mit  freundlichen  Gefühlen  gegen- 
übersteht, ist  so  selbstverständlich,  dass  es  kaum  gesagt  werden 
muss.  „Savez-vous,  en  France  on  aime  bien  la  Suisse,"  diese 
Worte  gab  er  mir  mit  auf  den  Heimweg. 

Die  Unterredung  mit  Aristide  Briand  hat  bei  mir  eine  Er- 
innerung zurückgelassen,  die  nicht  auslöscht.  Un  homme  supe- 
rieur,  ein  Mann  von  großen  Linien,  ein  wahrhaft  glänzender, 
reichtalentierter  Mensch,  der  sofort  gefangen  nimmt  und  den  man 
nicht  vergessen  kann,  der  nicht  durch  eine  feurige  Dialektik  wirkt, 
sondern  durch  diese  absolute  Vernunft,  den  bon  sens,  die  kristall- 
helle Logik,  die  er  stets  für  sich  hat. 

Das  „Problem"  Briand  hat  oft  die  Essayisten  beschäftigt. 
Wie  viel  verzerrte  Porträts  haben  wir  von  ihm !  So  viel  Tinte  ist 
noch  selten  über  einen  französischen  Staatsmann  vergossen  wor- 
den. Und  seine  Wandlungen?  Mein  Gott,  wie  viele  bedeutende 
Menschen  haben  umgelernt,  frühere  Anschauungen  revidiert,  Götzen 
verbrannt,  zu  denen  sie  einst  beteten.  In  Briand  nur  einen  ge- 
scheiten Streber,  einen  Emporkömmling  zu  erblicken,  einen  Ehr- 
geizigen, den  eine  günstige  politische  Woge  emporgetragen  hat,  heißt 
dem  Mann  nichtgerechtwerden,  dessen  Psyche  für  den  Fernstehenden 
schwer  zu  enträtseln  ist.  Seine  republikanische  Gesinnung,  sein 
Credo  an  den  Fortschritt,  an  einen  humanen  Ausgleich,  seine 
Loyalität,  seine  Ehrlichkeit  und  persönliche  Uninteressiertheit 
stehen  außer  Zweifel.  Nicht  seiner  Redekunst  allein,  wie  Gambetta, 
dankt  er  alles,  sondern  auch  seinem  superioren  politischen  Emp- 
finden, der  Fähigkeit,  das  Mögliche  abzuschätzen  und  mit  ihm 
auf  dem  parlamentarischen  Fechtboden  durchzudringen,  seiner 
geradezu  genialen  Gewandtheit. 

337 


Des  andern  Morgens  früh  auf  der  Heimkehr  erwachte  ich 
im  Nachtschnelizug  bei  Vesoul.  Mir  war  beim  Abschied  von  der 
France  süperbe,  als  ob  ich  einen  seiner  besten  und  bedeutendsten 
Repräsentanten  kennen  gelernt  hätte.  Und  ich  bh'eb  unter  dem 
Zauber  eines  Wortes:  das  Talent! 

ZÜRICH  PAUL  GYGAX 

aaa 
GEDICHTE  VON  BERTHA  VON  ORELLl 

AM  TURMFENSTER 

Um  mein  Fenster  hoch  im  Turm 
Heult  und  brandet  heut  der  Sturm, 
Rauscht  durch  dunkle  Tannennacht, 
■    Pappeln  schüttelt  er  mit  Macht, 
Schlägt  den  Regen  mir  ins  Haus, 
Löscht  mein  Licht  mit  Lachen  aus. 

Wolken  jagen  wild  vorbei; 
Auffliehn  Raben  mit  Geschrei, 
Und  im  Nussbaum  kracht  ein  Ast. 
Aufgeschreckt  aus  Ruh'  und  Rast 
Zittr'  ich  bang  in  Nacht  und  Sturm 
An  dem  Fenster  hoch  im  Turm. 

DER  SCHNELLZUG 

Es  irrt  mein  Blick  durch  dunkle  Ferne 
In  tiefer  Einsamkeit. 
Verhüllt  sind  heute  selbst  die  Sterne; 
Kein  Licht  glimmt  weit  und  breit. 

Da  zittert  plötzlich  durch  die  Ferne 
Des  Schnellzugs  lichtes  Band, 

—  Gleich  einer  Kette  goldner  Sterne  — 
Und  lischt  am  Hügelrand. 

Ich  weiß,  dass  er  aus  lieber  Ferne 
Mir  deine  Grüße  bringt, 

—  Gleich  einer  Kette  goldner  Sterne, 
Die  dich  und  mich  umschlingt. 

aaa 
338 


LES  INCOMPARABLES 

Je  ne  parle  pas  du  pastiche  involontaire  et  naif  qui  est, 
chez  les  tres  jeunes  ecrivains,  un  signe  touchant  de  leur  admi- 
ration  pour  les  maitres.  Je  parle  de  cette  delicate  imposture  litte- 
raire,  qui  se  nomme  aussi  pastiche,  et  qui  est  aussi  vieille  que 
le  monde,  j'entends  que  le  monde  civilise.  Imiter  le  style  des 
ecrivains  en  renom,  de  maniere  ä  donner  le  change  au  lecteur 
et  ä  lui  faire  prendre  des  vessies  pour  des  lanternes,  est  un  jeu 
habituel  ä  toutes  les  societes  raffinees  qui  donnent  quelque  prix 
aux  amusements  litteraires.  Sans  remonter  aux  Alexandrins,  aux 
Romains  de  l'Empire  ou  aux  Byzantins,  on  sait  que  La  Bruyere 
a  pastiche  Montaigne,  parce  qu'il  l'aimait,  et  que  Boileau  a  pas- 
tiche Voiture  et  Balzac,  parce  qu'il  ne  les  aimait  pas.  C'est  une 
Sorte  de  monstrueux  pastiche  que  VOssian  de  Macpherson,  et 
c'est  un  veritable  pastiche  que  le  Theätre  de  Clara  Gazul  de 
Merimee.  Salvandy  fit  d'etonnants  pastiches  de  Chateaubriand. 
Les  Contes  drölatiques  de  Balzac  sont  des  pastiches  du  seizieme 
siede;  et  la  Ballade  ä  la  lune  de  Musset  est  un  pastiche  de 
toutes  les  ballades  romantiques,  de  meme  que  les  Deliquescences 
d'Adore  Floupette  en  sont  un  de  toutes  les  deliquescences  deca- 
dentes.  Becq  de  Fouquieres  qui  etait  pourtant  critique  avise  et 
qui  connaissait  Andre  Chenier  mieux  qu'homme  au  monde,  a 
cependant  admis  dans  sa  celebre  edition  le  fragment: 

Proserpine  incertaine  .  .  . 
que  M.  Anatole  France  pretendait  avoir  retrouve,   et  qu'on  sait 
maintenant  qui  n'est  qu'un  adroit  pastiche  de  M.  France  lui-meme. 

Mais  Jamals  peut-etre  le  pastiche  n'a  ete  plus  en  faveur  que 
de  nos  jours^).  II  est  devenu  parmi  nous  un  vrai  genre  litteraire. 
On  le  nomme  A  la  maniere  de  .  .  .  Sous  cette  nouvelle  forme, 
il  ne  cherche  plus  ä  mystifier.  II  ne  veut  plus  qu'amuser  le  pu- 
blic en  se  moquant  des  ecrivains.  C'est  une  fa^on  de  critique 
litteraire.  MM.  Muller  et  Reboux  qui  lui  ont  donne  son  nom 
et  qui   en   ont  fourni  les  exemples  les  plus  acheves,  n'en  sont 

')  Evelyne  Moncoeur:  VIncomparable,  Oesse  de  Noailles:  Le  visage 
emerveille,  La  nouvelle  esperance,  La  Dotnination.  Gerard  d'Houville: 
l'Inconstante,  VEsclave,  Le  Temps  d'aimer.  Colette  Willy :  La  Retraiie  sen- 
timentale, La  Vagabonde.    M^ie  Burnat-Provins:  Le  Livre  pour  toi. 

339 


point  cependant  les  inventeurs,  je  crois  bien  que  l'inventeur  en 
est  M.  Jules  Lemaltre  qui  donna  en  1887,  dans  un  article  intitule 
Pronostics,  une  serie  de  petits  ä  la  maniere  de  .  .  .  qui  me 
semblent  bien  avoir  servi  de  modeles  ä  tous  ceux  qu'on  a  com- 
poses  depuis. 

Le  genre  ä  la  maniere  de  .  .  .  se  distingue  du  pastiche  en 
ce  que  celui-ci  veut  se  moquer  du  public  en  le  trompant,  tandis 
que  celui-lä  veut  se  moquer  des  ecrivains  en  revelant  perfide- 
ment,  par  une  exageration  legere,  leurs  defauts  et  leurs  ridicules. 

C'est  donc  ä  ce  genre-lä,  plutot  qu'au  pastiche,  que  se  rat- 
tache  VIncomparable,  ce  petit  roman  paru  recemment  sous  la 
signature  enigmatique  d'Evelyne  Moncoeur  et  qui  a  fait  une  pinte 
de  bon  sang  ä  tant  d'honnetes  gens.  L'Incomparable  n'est  point 
tout-ä-fait  un  pastiche;  on  n'y  voit  aucune  Intention  serieuse  de 
mystifier;  ii  ne  se  donne  pas  vraiment  pour  un  roman  de  femme. 
Je  pense  que  personne  ne  s'y  est  iaisse  prendre.  C'est  une 
„Charge" ;  une  Charge  tres  fine,  mais  une  Charge.  On  pouvait 
hesiter  apres  avoir  lu   i'epigraphe: 

Ici  bien-aime  s'offre  l'Incomparable 

Car  je  suis  la  plus  tendre  et  la  plus  geniale 

Mais  il  me  sembie  qu'on  etait  fixe  apres  avoir  lu  la  dedicace: 
„A  celui  dont  la  forte  caresse  est  la  seuie  chose  au  monde 

que  je  comprenne". 

Quel  est  l'auteur  de  YIncomparable?    Quel  nom  obscur  ou 

fameux  se  cache  sous  celui  d'Evelyne  Moncoeur?    Je  crois  que 

c'est   encore   un   mystere.     Et  ce   mystere  ajoute  un  attrait  plus 

piquant  ä  la  lecture  de  ce  petit  livre. 


C'est  en  effet,  un  petit  livre,  un  tout  petit  livre.  Mais  il  est, 
en  verite,  bien  plus  grand  qu'il  ne  sembie.  11  est  considerable,  il 
est  incomparable.  11  est  tout  simplement,  sans  l'ombre  de  pedan- 
terie,  et  avec  un  sourire  continuel,  une  critique  complete,  defi- 
nitive, cruelle  sans  doute,  mais  non  point  injuste,  de  la  litterature 
feminine  en  France  depuis  dix  ou  quinze  ans. 

Car  il  y  a  en  France,  depuis  dix  ou  quinze  ans,  non  pas 
seulement  des  femmes  qui  ecrivent,  qui  ecrivent  comme  des 
hommes  et  vont  ä  la  remorque  des  hommes;  il  y  a  une  veri- 

340 


table  iitterature  feminine,  tres  differente  de  la  masculine  et  bien 
reconnaissable  ä  ses  brillantes  qualites  comme  ä  ses  dclatants 
defauts.  Les  historiens  litteraires  qui  parieront  de  notre  epoque 
ne  pourront  se  borner  ä  faire  entrer  teile  ou  teile  femme  auteur 
dans  tel  ou  tel  groupe  d'ecrivains.  II  faudra  bien  qu'ils  consa- 
crent  un  chapitre,  ou  du  moins  un  paragraphe,  ä  la  Iitterature 
de  femmes. 

C'est  ä  cette  Iitterature  tout  entiere  qu'en  a  l'auteur  de  Vln- 
comparable,  et  non  pas  ä  l'une  ou  ä  l'autre  de  ces  dames  poe- 
tiques.  C'est  pourquoi  son  livre  est  plus  qu'un  simple  amuse- 
ment;  c'est  pourquoi  il  a  une  vraie  valeur  et  une  vraie  signi- 
fication. 


Quels  sont  donc,  d'apres  Evelyne  Moncoeur,  les  traits  les 
plus  remarquables  de  cette  Iitterature? 

11  faudrait,  d'abord,  vous  conter  l'histoire  de  VIncomparable. 
Mais  vraiment  je  ne  saurais,  car  c'est  une  histoire  qu'on  lit  pour 
soi  avec  mille  petits  delices  intimes;  ce  n'est  pas  une  histoire 
qu'on  puisse  lire  ni  meme  raconter  ä  haute  voix.  D'ailleurs  vous 
la  connaissez  sans  doute,  et  si  vous  ne  la  connaissez  pas,  vous 
ne  laisserez  point  passer  un  jour  de  plus  sans  l'apprendre. 

Aussi  bien,  Tun  des  traits,  et  peut-etre  le  plus  apparent  de 
cette  Iitterature  de  femmes,  semble  etre  l'indecence.  Sous  ombre 
de  franchise,  ces  dames  disent  les  choses  les  plus  fortes 
avec  une  tranquillite  parfaite  et  une  naive  effronterie.  Elles  rejet- 
tent  hardiment  les  volles  de  la  pudeur  qu'on  avait  pris  tant  de 
peine  ä  tisser  pour  elles.  Elles  ne  fönt  pas  mystere  de  leurs 
goüts  les  plus  simples.  Elles  etalent  leur  sensualite.  Car  c'est  par 
les  sens  surtout  qu'elles  semblent  vivre.  De  quelque  lyrisme 
qu'elles  l'embellissent,  de  quelques  guirlandes  qu'elles  l'adornent, 
leur  amour  s'appelle  surtout  desir.  Ce  n'est  point  pour  leur  äme, 
ni  pour  leur  esprit  qu'elles  aiment  leurs  amants.  „La  forte  ca- 
resse  est  la  seule  chose  au  monde  qu'elles  comprennent."  Dans 
la  Maison  du  peche,  Augustin  de  Chantepie  est  un  petit  nigaud; 
mais  il  est  jeune  et  charmant,  et  c'est  pourquoi  la  pauvre  Fanny 
en  est  folle.  Dans  le  Visage  emerveiUe  qui  est  donc  l'ami  de  la 
petite  nonne?  Je  ne  sais  ni  eile  ne  sait  non  plus.  Elle  sait  seule- 

341 


ment  qu'il  est  tres  jeune,  tres  beau,  avec  des  cheveux  blonds.  Et 
cela  lui  suffit  bien.  Dans  VEsclave  de  M"^^  Gerard  d'Houville,  si 
M""^  Mirbelle  echoue  dans  ses  efforts  louables  pour  aimer  le 
joli  blond  et  retombe  aux  bras  du  beau  brun,  c'est  que  le  beau 
brun  lui  fait  une  Impression  physique  que  le  joli  blond  ne  lui 
fera  jamais.  Quant  au  Livre  pour  toi  de  M""^  Burnat-Provins, 
c'est  un  hymne  ä  la  beaute  de  Thomme. 

Voilä  donc  l'amour  des  femmes  quand  ce  sont  les  femmes 
qui  en  parlent.  Et,  je  le  crois  bien,  voilä  l'amour  tout  simple- 
ment,  l'amour  veritable,  l'amour  qui  n'est  plus  une  amitie  plus 
ou  moins  amoureuse  ou  une  habitude  plus  ou  moins  bourgeoise. 
Remarquez  que  c'est  precisement  l'amour  de  Roxane  pour  Bajazet 
et  l'amour  de  Phedre  pour  Hippolyte. 

Fier  et  meme  un  peu  farouche, 

Charmant,  jeune,  trainant  tous  les  coeurs  apres  soi, 

l'amour  de  Tristan  et  d'lseult.  Nous  le  connaissions  depuis  long- 
temps;  et  nous  n'avions  pas  besoin  des  romans  de  femmes  pour 
nous  y  rendre  attentifs.  Mais  ce  qu'il  y  a  d'assez  piquant,  c'est 
que  ce  soient  les  femmes  qui  l'aient  represente  avec  le  plus  de 
franchise,  avec  le  moins  d'ornements,  dans  sa  complete  et  un 
peu  triste  nudite. 

Tout  cela  est  vrai;  on  l'a  beaucoup  dit,  et  Ton  a  eu  raison 
de  le  dire.  Mais  on  l'a  trop  dit,  et  il  ne  faut  rien  exagerer.  Si 
cette  sensualite  des  romans  de  femmes  nous  frappe,  sl  eile 
nous  parait  nouvelle,  ce  n'est  pas  que  les  hommes  n'en  aient 
dit  souvent  tout  autant,  et  bien  pis.  Seulement  nous  nous  faisions 
des  femmes  une  idee  fausse.  Nous  les  parions  d'une  ridicule  de- 
ücatesse;  nous  en  faisions  des  etres  plus  etheres,  plus  immate- 
riels  que  nous.  II  y  avait  des  choses  que  nous  nous  reservions 
le  droit  de  penser  et  de  dire.  Longtemps,  car  elles  sont  do- 
ciles,  elles  ont  cru,  elles  ont  du  moins  laisse  croire  que  nous 
avions  raison.  Mais  enfin  elles  se  sont  lassees  de  jouer  la  come- 
die.  Elles  ont  dit  le  fond  de  leur  coeur.  Elles  ont  ecrit  des  Livre 
pour  toi.  Cela  est  fort  contrariant. 

Et  puls,  si  la  sensualite  qu'elles  etalent  dans  leurs  ouvrages 
ne  laissait  pas  d'etre  connue  et  tres  connue,  il  faut  avouer 
qu'elles  nous  l'ont  montree,  si  l'on  peut  dire,  par  un  autre  cöt^. 

342 


Et  c'est  ce  qui  nous  a  fait,  un  peu  injustement,  crier  au  scan- 
dale.  Les  compliments  trhs  directs  que  les  hommes  se  permet- 
taient  de  faire  aux  femmes,  ce  sont  les  femmes  maintenant  qui 
les  fönt  aux  hommes.  Cela  nous  surprend,  et  nous  charme  peut- 
etre,  mais  nous  gene  un  peu.  Qu'un  homme  dise  ä  une  femme: 
„Vous  etes  belle!"  rien  de  mieux.  Mais  qu'une  femme  dise  ä 
un  homme:  „Vous  etes  beau!"  nous  ne  pouvons  nous  empecher 
d'etre  choques.  Nous  ne  pensions  pas  que  nos  cheveux, 
nos  dents  et  notre  teint  eussent  pour  les  femmes  precisement  la 
meme  valeur  qu'ont  pour  nous  le  teint,  les  dents  et  les  cheveux 
des  femmes.  Cela  nous  trouble.  Cela  trouble  surtout  ceux 
d'entre  nous  qui  ont  entre  quarante  et  cinquante  ans,  les  che- 
veux rares  et  le  teint  brouille. 

Tant  y  a  que  beaucoup  de  critiques  se  plaignent  aigrement 
de  cette  franchise  feminine.  Apres  tout,  ils  ont  peut-etre  tort. 
J'avoue  qu'il  y  a  des  precisions  d'assez  mauvais  goüt  chez 
M"^^  Burnat-Provins  et  meme  chez  M"^"^  de  Noailles,  et  meme 
chez  M""^  Colette  Willy,  et  meme  chez  la  gracieuse  M^"^  Gerard 
d'Houville.  Et  c'est  un  defaut  dont  Evelyne  Moncoeur  s'est  mo- 
quee  presque  ä  chaque  page  de  VIncomparable.  Mais  enfin  c'etait 
peut-etre  le  droit  des  femmes  de  parier  un  peu  de  nous  comme 
nous  parlions  d'elles.  Et,  si  tous  les  poetes  ont  compare  la  joue 
fraiche  de  leur  amie  ä  un  fruit  vermeil  et  duvete,  pourquoi  la 
Vagabonde  de  M"^^  Colette  Willy  ne  dirait-elle  pas  de  la  joue 
rasee  de  M.  Dufferein-Chautel  qu'elle  est  „douce  comme  une 
pierre  ponce  tres  douce".  Et,  apres  tout  ce  que  les  hommes  ont 
repete  de  charmant  sur  les  mains  des  femmes,  pourquoi  Sabine, 
dans  la  Nouvelle  Esperance,  ne  remarquerait-elle  pas  la  main  de 
Gerome,  „le  bras,  le  poignet  et  la  main,  d'un  blanc  poli,  les 
doigt  fins,  un  peu  larges  aux  phalanges"? 

Mais,  pour  qui  veut  etre  offense,  ce  qui  rend  souvent  cette 
franchise  des  romans  feminins  plus  offensante  encore,  c'est  que 
beaucoup  sont  ecrits,  comme  VIncomparable,  sous  forme  d'auto- 
biographie,  de  memoires  ou  de  Journal  intime.  L'auteur  a  l'air 
de  parier  pour  son  propre  compte,  de  nous  faire  une  confession 
ou  une  confidence,  d'utiliser  sa  derniere  petite  aventure.  11  se 
pose  non   en   spectateur   mais  en  acteur.     Gillette  Vernon  dans 

343 


VInconstante  comme  M'"^  St-Helier  dans  le  Temps  d'aimer,  Clau^ 
dine  dans  la  Retraite  sentimentale  comme  la  cabotine  de  la  Va- 
gabonde,  et  la  petite  nonne  naive  du  Visage  imerveille  comme 
l'ardente  amoureuse  du  Livre  pour  toi,  nous  content  elles-memes 
leur  histoire. 

Cest,  peut-etre,  qu'elles  seraient  bien  empechees  de  nous 
conter  autre  chose;  car  un  autre  trait  de  la  litterature  feminine, 
fort  bien  mis  en  valeur  par  Evelyne  Moncoeur,  semble  etre  le 
manque  d'invention.  Je  ne  dis  pas  d'imagination :  il  y  a,  dans  les 
livres  de  femmes,  une  Imagination  de  details  souvent  charmante, 
parfois  abondante.  Mais  il  n'y  a  aucune  invention.  La  trame  de 
ces  romans  est  des  plus  legeres  et  des  plus  insignifiantes.  On 
aime  un  homme,  et  puis  on  ne  l'aime  plus  et  on  se  met  ä  en 
aimer  un  second;  ou  bien  on  aime  un  homme  et  on  essaie  d'en 
aimer  un  autre,  mais  decidement  c'est  le  premier  que  Ton  aime; 
ou  bien  on  aime  un  homme,  et  cet  homme  s'en  va,  et  Ton 
pleure.  Je  ne  songe  pas  ä  blämer  cette  simplicite.  On  peut  bro- 
der, on  a  brode  des  chefs-d'oeuvre  sur  des  canevas  aussi  tenus; 
et  c'est  Birenice.  Mais  encore  faut-il  reconnattre  que  ce  manque 
d'invention  est  un  trait  commun  ä  presque  toutes  les  femmes. 
II  y  a  ä  peine  une  intrigue  dans  la  Princesse  de  Cleves,  ou  dans 
les  meilleurs  romans  de  Georges  Sand  —  et  l'extraordinaire  et 
folle  complication  de  Consuelo  ou  des  Beaux  Messieurs  de  Bois 
dore  est  aussi,  tout  compte  fait,  une  preuve  d'impuissance.  S'il 
y  a  des  femmes  poetes,  des  femmes  romanciers  ou  meme  des 
femmes  philosophes,  remarquez  qu'il  n'y  a  guere  de  femmes 
dramaturges.  C'est  que,  pour  reussir  au  theätre,  il  faut  avant 
tout,  —  ä  moins  d'etre  Racine  ou  Marivaux,  —  cette  force  d'in- 
vention qui  manque  aux  femmes. 

Incapables  d'imaginer  une  forte  intrigue,  les  femmes  sem- 
blent  ne  pas  l'etre  guere  moins  de  creer  des  caracteres.  _11  y  en 
a  ä  peine  chez  M'"^  Tinayre  ou  chez  M""^  Colette  Willy ;  et  chez 
M*"^  Gerard  d'Houville  ou  chez  M^"^  de  Noailles,  il  n'y  a  que 
des  silhouettes  vite  oubliees.  Occupees  uniquement  d'elles-me- 
mes,  et,  comme  dit  VIncomparable,  de  leur  „tendre  coeur",  elles 
n'ecrivent  jamais  ni  roman  de  moeurs  ni  roman  de  caracteres. 
Elles  pourraient  etre  psychologues,  et  elles  le  sont  souvent,  et 
avec  une  finesse  ravissante.     Mals  leur  veritable  veine  est  le  ly- 

344 


risme.  Le  genre  ou  elles  excellent,  oii,  du  moins,  elles  se  com- 
plaisent,  c'est  le  „roman  lyrique".  Elles  sont  lyriques  ä  tout  pro^ 
pos  et  parfois  hors  de  propos.  Toute  occasion  leur  est  bonne 
ä  s'epancher  en  tirades;  les  conjonctures  les  plus  ordinaires  leur 
inspirent  des  developpements  poetiques.  Cela  ne  va  pas  toujours 
sans  un  certain  comique.  C'est  ce  que  l'auteur  de  VIncomparable 
a  tres  bien  compris;  de  cette  disproportion,  il  a  tire  ses  effets 
les  plus  amusants.  Un  matin,  en  voyage,  son  hero'i'ne  passe  par 
une  petite  ville  dont  eile  ne  peut  lire  completement  le  nom  sur 
le  mur  de  la  gare.  Elle  ne  perd  pas  une  si  belle  occasion  de 
s' exalter:  „Chätel"  .  .  .  Quel  Chätel?  Chätel-Quyon?  Chätel- 
aillon?  Je  ne  le  sais  pas;  j'ignore  la  geographie  qui  n'importe 
guere  ä  l'amour;  je  ne  le  sais  pas;  je  ne  le  saurai  jamais  .  .  . 
Quelles  que  soient,  petite  ville,  les  dernieres  syllabes  de  votre 
nom,  vous  etes  une  pauvre  petite  ville  remplie  de  trop  de  calme, 
de  silence  et  de  paix,  une  petite  ville  honnete,  une  petite  ville 
morte,  et  voilä,  ö  Chätel  inconnu,  6  Chätel  anonyme,  que  je 
pleure  sur  vous  .  .  ." 

Ce  lyrisme  perpetuel  est  la  source  de  toute  sorte  d'enfantil- 
lages  dont  le  plus  constant  et  le  plus  remarquable  est  Tabus  de 
la  „prosopopee",  comme  disent  les  vieux  manuels  de  rhetorique. 
Les  auteurs  feminins  ne  se  lassent  point  d'interpeler.  Elles  inter- 
pellent  les  inconnus,  les  absents  et  les  morts,  les  tables,  les 
portes  et  les  arbres,  et  l'amour,  et  leurs  cheveux,  et  leurs  mains, 
et  leur  coeur,  leur  tendre  coeur.  La  nonne  du  Visage  emerveille 
ne  se  borne  pas  ä  dire,  ce  qui  est  dejä  assez  precieux:  Mon 
couvent  me  fend  le  coeur  d'amour.  Elle  s'ecrie:  „Mon  couvent, 
vous  me  fendez  le  coeur  d'amour;  vous  etes,  ce  matin,  comme 
une  belle  turquoise  douce."  Non  seulement  eile  interpelle  Sainte 
Therese,  mais  eile  s'adresse  ä  la  bouche  de  cette  bienheureuse 
et  lui  dit,  avec  une  naive  incoherence:  „Bouche  de  Sainte  The- 
rese, ouverte  et  pleine  de  gräce,  que  buvez-vous  que  vous  ayez 
ainsi  la  figure  parfaite,  morte  et  noyee".  Et  ainsi  VIncomparable: 
„Elle  s'est  ouverte;  vous  vous  etes  ouverte,  6  porte!"  ou  bien: 
„Votre  nuance,  6  Qaves,  plus  que  le  bleu  rüde  du  ciel,  etc." 
ou  encore:  „Ah!  jours  d'amour !  C'etait  donc  vrai,  doux  amours, 
que,  mon  tendre  coeur,  vous  l'empliriez  de  plenitude!"  ou  enfin: 
„Ah!  splendeur  de  la  viel     Douceur  d'aimer!    Folie!    Sagesse! 

345 


H«ure  eternelle!  Je  vous  tiens  donc  enfin,  mon  bonheur  ephe- 
mere, qui  sur  ma  tendre  paume,  comme  un  oiseau  farouche,  un 
instant  vous  vous  posiez!" 

Mais  si  ce  lyrisme  tourne  facilement  et  trop  souvent  ä  la  niai- 
serie,  il  a,  souvent  aussi,  sa  valeur.  II  pousse  au  beau  style,  au 
grand  style,  ou  simplement  au  style.  II  laut  bien  reconnattre  que 
dans  notre  litterature  contemporaine,  sauf  quelques  exceptions, 
les  femmes  ecrivent  mieux  que  les  hommes.  Si  elles  manquent 
parfois  de  rigueur  et  de  precislon,  elles  ont,  presque  toujours, 
l'elegance,  Tharmonie  et  le  nombre.  Leurs  romans,  generalement 
mal  composes,  offrent  au  moins  aux  faiseurs  d'anthologies,  quel- 
ques pages  parfaltes.  Elles  savent,  comme  on  dit,  „enlever  le  mor- 
ceau".  II  n'est  presque  pas  un  de  leurs  livres  qui  ne  laisse  dans 
la  memoire  le  souvenir  d'un  episode  ou  d'un  tableau,  d'un  dis- 
cours  ou  d'une  conversation.  II  y  a  ainsi  des  passages  delicieux 
dans  la  Retraite  sentimentale  et  dans  la  Vagabonde.  Et  dans 
VInconstante  avez-vous  oublie  la  visite  de  Gillette  ä  Marion 
dans  le  vieux  cloftre  fleuri?  ou,  dans  le  Temps  d'aimer,  le 
voyage  de  noce  de  Pascal  et  de  M'^^  La  Charmotte,  et  la  Serenade 
que  fit  ä  Laure  sa  blonde  amie  costumee  en  page?  Quant  ä 
M"^«  de  Noailles,  eile  s'est  montree  souvent  tres  grande  artiste 
en  langage.  Teile  de  ses  phrases  nous  revele  toute  la  subtile 
beaute,  toute  la  mysterieuse  Harmonie  oü  peuvent  atteindre  les 
mots  ordonnes  par  des  mains  inspirees  et  savantes.  II  y  a  dans 
sa  prose  un  echo  de  Chateaubriand  et  de  Renan.  La  Prlere  ä 
l'amour  dans  le  Visage  emerveille  sera  belle  tant  que  les  mots 
qui  la  composent  offriront  un  sens  aux  oreilles  humaines. 

„Amour  ...  Je  vous  donne  aussi  toutes  les  violences,  les 
crimes  et  les  coleres:  les  dagues  teintes  de  sang,  le  flacon  de 
jusquiame,  le  gant  et  la  rose  empoisonnes,  le  mouchoir  qui 
perdit  Desdemone,  l'epee  qu'Hippolyte  laissa  dans  la  main  de 
Phedre,  et,  en  temoignage  du  temps  de  la  chevalerie,  ce  coeur 
chaud  de  l'amant  qu'on  fit  manger  ä  l'amante. 

„Et  je  vous  offre,  Amour,  comme  rose  derniere  et  plus  belle, 
et  pour  que  soient  eternellement  charmees  vos  sensibles  oreilles, 
le  son  le  plus  brülant,  le  plus  voluptueux,  qui  n'est  pas  la  voix 
de  Juliette  au  balcon,   ni  la  tendre  plainte  d'lphigenie,   mais   le 

346 


divin  eclat  d'or  que  fit,  en  se  brisant,  la  chaine  etroite  des  pieds 
de  Salammbö  .  .  .** 

Et  que  pensez-vous  de  cette  invocation,  ä  Pan?  N'est-elie 
pas  digne  de  sauver  de  l'oubli  cette  mediocre  Dominatlon? 

„O  Pan,  reviens  dans  le  bois  parfume!  Que  mon  äme  qui 
depuis  trois  miile  ans  garde  ton  culte  champetre  voie  luire  cette 
nativite!  Tous  les  poetes,  et,  mon  eher  Pan,  il  est  beaucoup  de 
poetes,  t'attendent  dans  les  jardins.  Ne  les  crois  pas  lorsqu'ils  se 
pensent  mystiques  et  convertis  aux  religions  de  Judee.  S'ils  disent 
que  leur  äme  est  alteree  de  mystere,  c'est  parce  qu'ils  te  cher- 
chent  et  qu'ils  ne  t'ont  point  trouve.  Ah !  qu'un  matin  de  Päques 
quand  sur  les  villes  chretiennes  les  cloches  danseront,  vaines 
poupees  de  metal,  la  foret  enfin  se  ranime!  que  l'aulne  entende 
revenir  sa  nymphe  aux  jambes  mouillees,  que  les  bergers  s'en- 
lacent,  que  le  bouc  et  la  biche  resplendissent  au  soleil,  et  que, 
plus  haut  que  les  cloches  d'argent  sur  les  villes,  tout  le  feuillage 
chante:  Pan  est  ressuscite!  .  .  ." 

Cette  aisance  du  langage  qui  semble  naturelle  aux  femmes, 
Evelyne  Moncoeur  ne  la  conteste  pas.  Llncompaiable  n'est  point 
mal  ecrite.  Si  Ton  y  trouve  quelque  galimatias  et  quelque  am- 
phigouri,  on  n'y  rencontre  pas  cette  lourdeur,  cette  platitude, 
cette  impropriete  qu'il  faudrait  bien  imiter  si  l'on  pastichait  tant 
et  tant  de  livres  d'hommes!  Voici  meme  un  petit  passage  qui, 
malgre  l'auteur  peut-etre,  est  vraiment  bon,  parce  qu'il  est  la 
moquerie  legere  de  beaucoup  de  passages  excellents: 

„O  douceur  de  la  caresse  premiere,  faite  de  toutes  les  atten- 
tes  finies,  de  toutes  les  craintes  rassurees,  de  toutes  les  joies 
approchees,  du  flechissement  infiniment  heureux  des  nerfs  trop 
longtemps  tendus  ...  je  ne  veux  pas  que  ctte  caresse  finisse, 
parce  qu'apres  eile,  quand  eile  sera  morte,  ce  ne  sera  plus, 
jamais  plus,  la  caresse  premiere  ..." 


Cette  Incomparable  sera  sans  doute  tout  ä  fait  in  utile ;  eile 
ne  changera  rien  au  cours  impetueux  de  la  litterature  feminine. 
Qu'importe?  Elle  vaut  par  elle-meme,  non  pas  seulement  parce 
que  la  moquerie,  comme   dit   Pascal,  est  une  oeuvre  de  justice, 


347 


mais  parce  que  rire  est  une  des  meilleures  choses  de  ce  monde, 
et  que  nous  devons  de  bons  rires  ä  Evelyne  Moncoeur. 

II  faudrait  seulement  que  VIncomparable  mit  les  femmes  en 
garde  contre  quelques  defauts  qui  empoisonnent  leurs  plus  heiles 
qualites,  qu'elle  leur  fit  reconnattre  en  elles-memes,  l'ivraie  du 
bon  grain.  11  faudrait  que,  capables  de  nous  donner  encore  beau- 
coup  d'ouvrages  charmants,  de  Vagabonde,  de  Visage  ^merveiUi, 
d'Inconstante,  elles  fissent,  en  souvenir  d'Evelyne  Moncoeur,  le 
ierme  propos  de  ne  nous  plus  jamais  donner  de  .  .  .  Mais  je 
jie  veux  citer  aucun  titre,  car  il  ne  faut  desobliger  personne. 

PARIS  F.  ROQER-CORNAZ 

aoa 
SUPREME  APOTHEOSE 

Lourde  de  siecles,  mais  fiere  et  tragique  encore, 
Avec  sa  tour  fendue  et  ses  mille  ecussons 
llluminant  I'orgueil  carre  de  ses  maisons, 
Toute  la  ville  ecoute  en  ses  echos  sonores, 

Toujours  les  memes  glas,  lui  predire  sa  mort. 

Elle  est  vieille,  la  ville,  et  sa  place  est  deserte, 

Et  son  fleuve  ensable,  et  ses  vagues  inertes 

Ne  poussent  plus  les  vaisseaux  clairs  jusqu'ä  son  port. 

Mais  tout  ä  coup,  comme  un  faisceau  de  feux  et  d'ailes 
Paratt  au  ciel  le  Saint-Georges,  patron  hautain; 
„Elle  ne  choira  pas  dans  le  neant  certain, 
Ma  ville,  et  sa  muraille  et  son  donjon  fideles. 

Ni  le  vulgaire  emoi  d'un  touriste  gante 
De  sa  canne  d'ennui  ne  frappera  ses  pierres: 
Heros  en  vos  cercueils,  et  vous  dames  guerrieres, 
Dormez  sans  peur  sur  vos  coussins  d'eternite." 

Et  l'archange  d'argent  süperbe  et  debonnaire, 
Debout  sur  un  orage  eclabousse  d'eclairs, 
Ulumina  la  ville  avec  ses  grands  yeux  clairs 
Et  l'emporta,  on  ne  sait  oü,  dans  le  tonnerre. 

EMILE  VERHAEREN 

ann 

In  Paris-Neuilly  (20  rue  de  Chartres)  erscheint  seit  dem  1.  April  unter  dem  Titel  La 
Vie  et  les  Lettres  eine  vorzügliche  periodische  Anthologie  der  neuern  französischen  Lite- 
ratur, der  wir  dieses  Gedicht  entnehmen. 

D  a  D 

348 


DIE  SCHULD  DES  GOTTLOB 
SCHLEICHER 

NOVELLE  VON  ROBERT  JAKOB  LANG 

So  kam  der  Frühling  schon  im  Februar:  die  Sonne  schien 
warm  und  freudig  auf  die  i<ahien  Zweige.  Die  Finken  schlugen 
verwundert  im  Geäst;  der  Himmel  war  von  einem  tückischen 
blassen  Blau. 

Hinter  dem  Dorf  streckte  sich  eine  breite,  weiße  Straße,  an 
welcher  Pappeln  standen.  Zwischen  der  fünften  und  sechsten 
Pappel  lag  das  Haus.  Es  war  so  gewöhnlich,  dass  man  seine 
bescheidene  Hässlichkeit  übersah  und  ihm  eine  Berechtigung  in 
der  Natur  zuerkennen  konnte  wie  jedem  grauen  Feldstein.  Hinter 
dem  Haus  fing  das  Gewirr  der  Baumgärten  an.  Die  Dächer  lagen 
über  den  Kronen  wie  braunrote  vielgestaltige  Eier  in  einem  Rie- 
sennest. Unter  der  obersten  Fensterreihe  des  Hauses  lief  eine 
lange  hölzerne  Laube.  Über  dem  Geländer  war  eine  Schnur  ge- 
spannt, daran  flatterten  rote  und  weiße  Windeln.  An  einer  der 
hölzernen  Stützsäulen  hing  eine  kleine  Eisentafel,  auf  welcher  die 
Rostflecken  üppig  wucherten,  nur  die  Buchstaben  der  Aufschrift 
verschonend.  Von  der  Straße  aus  war  nichts  zu  lesen  und  es 
hatte  auch  keine  Not,  denn  dass  da  oben  der  Schneidermeister 
Gottlob  Schleicher  seine  Werkstatt  hatte,  das  wusste  ein  jeder 
im  Dorfe.  Wenn  man  sich  aber  über  das  Geländer  der  Laube 
lehnte,  las  man  mit  Befriedigung,  dass  der  Schneidermeister  nicht 
ein  gewöhnlicher  Kleidungskünstler  war,  sondern  ein  „marchand- 
tailleur".  Über  die  Bedeutung  dieses  Ausdrucks  war  sich  der 
Meister  nicht  im  Klaren  und  dachte  sich  die  Sache  so,  dass 
marchand  wahrscheinlich  Schneider  und  tailleur  demzufolge  Meister 
bedeute.  Es  war  da  vor  einigen  zehn  Jahren  ein  fremder  Geselle 
beim  Maler  Fischer  untergekommen,  der  hatte  ihm  den  Firmen- 
schild gemalt  und  als  er  damit  fertig  war,  zeigte  das  Schneider- 
lein einen  hellen  Stolz  über  seinen  neuen  Titel,  getraute  sich  aber 
nicht  aus  der  löblichen  Furcht  heraus,  ungebildet  zu  erscheinen, 
nach  dem  Sinn  zu  fragen.  Er  ahnte  wohl  dessen  Herkunft  aus 
der   französischen    Sprache    und   grämte   sich    ein    wenig,    nicht 

349> 


Schangi  oder  Schaggi  zu  heißen.  Mit  einem  solchen  feinen  Namen 
wäre  die  Tafel  sein  ganzes  Glück  gewesen  und  seine  biderbe 
deutschschweizerische  Wesenheit  hätte  dann  den  höchsten  Grad 
erreicht. 

Er  hatte  ein  schönes  Geschäft,  der  marchand-tailleur  Gottlob 
Schleicher.  Er  flickte  zum  mindesten  sechs  Paar  Mannshosen  und 
ein  Paar  Herrenhosen  in  der  Woche.  Auf  diese  letzte  Arbeit 
bildete  er  sich  etwas  ein.  Es  ist  nämlich  ziemlich  zweierlei,  einen 
viereckigen  Fleck  Stoff  auf  ein  Loch  zu  nähen  ohne  besondere 
Berücksichtigung  des  Grundgewebes,  oder  mit  viel  Sach-  und 
Farbkenntnis  den  Fleck  auf  der  Innenseite  des  Loches  anzubringen 
und  den  Übergang  in  den  Stoff  der  Hose  so  zu  bewerkstelligen, 
dass  man  ihn  gar  nicht  merkt;  ebenso  zweierlei  wie  das  Bügeln 
einer  Zwiilichhose  und  eines  Beinkleides  aus  englischem  Hosenstoff. 

Jetzt  lehnte  sich  der  kleine  Mann  mit  dem  großen  Kopf 
über  das  Lauben-Geländer  und  sah  mit  dunkeln  Augen,  in  denen 
eine  pfiffige  Wohligkeit  blitzte,  auf  die  Straße  hinunter.  Um  ihn 
herum  flatterten  die  Windeln  seines  Jüngsten.  Es  war  zwischen 
zwölf  und  ein  Uhr.  Ein  paar  Arbeiter  gingen  geschäftigen  Schrittes 
dem  Dorfeingang  zu.  Mitten  auf  der  Straße  lag  ein  schwarzer 
Köter  und  sonnte  sich.  Der  Schneidermeister  sog  die  Frühlings- 
luft mit  offenem  Munde  ein  und  pustete  sie  durch  die  zusammen- 
gekniffenen Nasenflügel  wieder  aus.  Die  Finken  schlugen  in  den 
Bäumen  und  die  Spatzen  quietschten  in  den  staubigen  Pappeln. 
Der  Schneidermeister  Gottlob  Schleicher  freute  sich  an  den  Finken 
und  an  den  Spatzen.  Über  ihm  aber  hatte  der  Himmel  ein  giftig 
blasses  Blau.  Schulbuben  gingen  vorbei.  Der  schwarze  Köter 
schnupperte  in  die  Luft,  stand  auf,  streckte  sich  und  trollte  sich, 
bevor  ihn  der  erste  Stein  erreichte,  davon.  Um  die  Ecke  aber 
klang  ein  mehrstimmiger  Spottruf:  „Schneider  meck  meck! 
Schneider  meck  meck!" 

Der  Meister  zog  die  Stirne  kraus,  ärgerlich  ging  er  an  die 
Arbeit.  Mit  lässiger  Behendigkeit  zog  er  seinen  Rock  aus  und 
stand  nachdenkend  in  seiner  Werkstatt.  Die  dünnen  Beine  in  zu 
kurzen  hellen  Hosen,  den  Oberkörper  ohne  Hosenträger  in  einem 
weichen  grauen  Kamisol,  das  bauschig  über  den  Hosengurt 
herabfiel. 

350 


Das  war  des  Meisters  Werkstatt:  Drei  Meter  im  Geviert, 
von  denen  ein  schön  Stüclc  abging,  weil  zwei  Türen  zu  öffnen 
waren,  eine  auf  die  Laube  und  eine  in  die  Küche.  Die  vier  Wände 
strahlten  im  Glanz  einer  grün-  und  rotblumigen  Tapete.  An  klo- 
bigen Nägeln  hingen  des  Schneiders  Schnittmuster,  Scheeren  und 
Elle;  bei  der  Küchentür  über  dem  Kundensessel  hing,  am  Ehren- 
platz, die  Photographie  des  Gemischten  Chors.  Durch  das  Fenster, 
das  auf  die  Laube  ging,  fiel  das  Licht  von  rechts  auf  den  mäch- 
tigen Arbeitstisch;  dem  Fenster  gegenüber  stand  hart  neben  dem 
Tisch  ein  Schrank,  dessen  Türen  beim  Öffnen  knapp  an  der  Tisch- 
platte vorbeirieben  und  neben  dem  Schrank  glühte  der  kleine 
eiserne  Ofen.  Die  Laubentür  war  verglast.  So  war  in  dem  Stüb- 
chen  eine  nette  Helligkeit;  aber  weil  der  Meister  der  frischen  Luft 
alle  möglichen  Untugenden  zuschrieb  und  die  Fenster  mit  allen 
erdenklichen  Listen  zuzuhalten  wusste,  eine  jämmerliche  Atmungs- 
gelegenheit. 

„Die  verdammten  Buben!" 

Misslaunig  holte  Gottlob  Schleicher  sein  Kohlenbügeleisen  vom 
Schrank  herunter  und  füllte  es  mit  Glut  aus  dem  Ofen.  Dann 
schwang  er  es  auf  der  Laube  einige  zwanzig  Mal  hin  und  her, 
netzte  bedächtig  seinen  Zeigefinger,  fuhr  vorsichtig  über  die  Bügel- 
fläche und  brachte  ein  gutes  Zischen  zuwege,  in  seiner  Werkstatt 
faltete  er  ein  Paar  Hosen  umständlich  auf  den  Tisch,  legte  ein 
schwarzes  Schutztuch  darüber  und  bügelte  mit  viel  Anstrengung 
und  genug  Wasser  vier  vorzügliche  Bügelfalten. 

Bei  seiner  Arbeit  war  Gottlob  Schleicher  mit  seinen  Ge- 
danken allein. 

„Die  verdammten  Buben!    Seinerzeit  .  .  ." 

Da  ging  ihm  ein  Begegnis  durch  den  Sinn,  das  er  gerne 
vergessen  hätte  und  das  ihm  doch  immer  wieder  aufkam: 

Die  Bäume  blühten.  Hinter  dem  „Mohren"  stand  eine 
Kutsche.  Der  Gaul  scharrte  ungeduldig.  Auf  dem  Bremsbacken 
lag  ein  glimmender  Zigarrenstummel.  Weiß  der  Teufel  was  den 
Schlingel,  den  Gottlob  Schleicher,  ankam.  Auf  einmal  stak  der 
Stummel  zwischen  Lederzeug  und  Pferdefell.  Der  Bub  aber  stand 
hinter  Brunnenstock  und  wartete  und  sah  zu,  wie  der  Gaul  Reißaus 
nahm  und  Leute  aus  dem  „Mohren"  stürzten,  dem  herrenlosen 
Gefährt  nach.    Der  Gottlob  Schleicher  ist  nie  mit  dem  Gesetz 

351 


und  seinen  Vertretern  in  Konflikt  gekommen,  aber  seit  jenem 
Jugendstreich  hat  er  ein  verdammt  empfindh'ches  Gewissen  und 
die  Sache  will  sich  ihm  nicht  verjähren.  Schheßlich  hatte  ja  nie- 
mand etwas  gesehen  als  seine  Frau,  die  damals  ein  kleines  Mägdlein 
war  und  die  er  —  ein  klein  wenig  auch  —  wegen  ihres  Mitwissens 
geehlicht  hatte.  So  kam  vielleicht  die  Hälfte  der  Schuld  auf  sie. 

Das  Mägdlein  war  ein  Jüngferlein  geworden.  Schmal  und  bleich 
mit  großen  dunklen  Augen,  in  denen  immer  die  Frage  zu  stehen 
schien:  warum  schaust  du  mich  an?  Wenn  sie  angezogen  war, 
legte  sie  ihr  Umtuch  ins  Dreieck,  schlug's  um  die  Schultern,  band 
zwei  Zipfel  davon  kreuzweis  um  die  Brust  und  im  Rücken  zu- 
sammen und  ließ  den  dritten  unter  ihrem  schwarzen  Haar  wie 
ein  braunrotes  Wimpelchen  flattern,  wenn  sie  mit  raschen  Schritten 
durch  die  Straßen  ging.  Das  war  die  Frau  Schleicher  und  war 
früher  die  Jungfer  Steiner  gewesen  und  noch  früher  das  Steiner 
Miggeli.  Aber  das  Umtuch  war  immer  dasselbe.  Vor  Jahren  ein- 
mal war  sie  an  einem  schönen  Sonntag  nachmittag  durch  die 
Wiesen  gegangen  und  der  Schneider  hatte  sich  zu  ihr  gesellt.  Sie 
sah  ihn  gern,  weil  er  ihr  Schulkamerad  gewesen.  Dass  sie  seine 
Frau  werden  würde,  daran  dachte  sie  nie.  Sie  ließ  ihre  Träume 
nicht  so  hoch  fliegen.  Darauf  dass  einmal  ein  scheu  gewordenes 
Pferd  durch  die  Straßen  gerast  und  der  Qottlobli  hinter  dem 
Brunnenstock  gestanden,  hatte  sie  vergessen,  und  dachte  jetzt, 
wo  der  junge  Schneider  neben  ihr  durch  die  Wiesen  ging,  erst 
recht  nicht  daran. 

„Weißt  du  noch  Miggeli?" 

„Was  denn?" 

„Hedann,  weißt  beim  Mohren?" 

„Nichts  weiß  ich!" 

„Der  Wagen  mit  dem  Gaul?" 

„Was  für  ein  Wagen?" 

„Weißt  doch,  der  wo  wild  geworden  ist!" 

Miggeli  Steiner  sah  Gottlob  Schleicher  mit  sonderbaren  Augen 
an.  Was  der  für  wunderliche  Sachen  berichtete. 

„Da  bin  ich  schuld  daran." 

Die  Augen  der  Jungfer  nahmen  einen  immer  verwunderteren 
Ausdruck  an  und  wurden  so  groß  wie  der  Schneider  sie  noch 
nicht  gesehen. 

352 


Oh  lätz,  dachte  er  traurig,  jetzt  ist's  aus.  Und  er  wusste  nicht, 
ob  er  da   noch   berichten  solle,   dann  nahm  er  sich   ein   Herz: 

„Aber  weißt  Miggeh",  das  hab  ich  auch  nie  mehr  getan, 
meiner  Seel  nicht!** 

Das  Miggeli  war  dran  ihm  zu  sagen,  dass  ihm  das  doch 
gleich  sein  könne,  und  was  er  denn  etwa  wolle  mit  seinem  Qered. 

„Weißt,  aber  ich  weiß  nicht,  was  ich  denkt  hab  selbiges  Mal. 
Auf  einmal  hab  ich  dem  Gaul  die  zündige  Zigare  zwischen  das 
Lederzeug  und  das  Fell  gesteckt,  da  ist  er  davon ! " 

Das  Mädchen  sah  auf  den  Boden  und  wusste  nicht,  ob  der 
Gottlob  am  heiterhellen  Tag  schon  besoffen  oder  sonst  über  sei. 

„Magst  du  mich  jetzt  gleich  noch?  fragte  der  nach  einer  Weile? 

Da  stieg  der  Jungfer  ein  roter  Schein  ins  Gesicht  und  sie  ließ 
die  Augen  nicht  mehr  vom  Boden  los. 

„Jetzt  wirst  mich  denk  nimmer  mögen?"  fragte  der  Gottlob 
weiter. 

Da  fing  das  Miggeli  ein  Lächeln  an,  dass  die  Vögel  in 
den  Bäumen  darob  zu  staunen  schienen. 

„Ja  wenn  dir  so  viel  daran  gelegen  ist,  mögen  tu  ich  dich 
schon." 

„Gleich,  auch  wegen  dem  Gaul?" 

Darauf  hat  sich  der  Schneidermeister  Gottlob  Schleicher  nicht 
länger  besonnen  und  hat  das  Miggeli  Steiner  zur  Frau  genom- 
men, und  ist  trotz  der  Gaulgeschichte  nicht  übel  dabei  gefahren. 

Aber  verrechnet  hat  er  sich  dabei  doch.  Die  Angst  vor  der 
Polizei  und  vor  allen  uniformierten  Beamten  ist  er  nicht  los  ge- 
worden   

Jetzt  wo  er  auf  seinem  Tisch  saß  und  sinnierend  auf  seinen 
Fingerhut  guckte,  war  es  ihm  genau,  als  höre  er  die  Stimme 
eines  Wächters  der  Ordnung.  Da  kam  sein  Gesicht  in  ein  son- 
derliches Aussehen.  Eine  herrische  Angst  hockte  sich  in  Mund 
und  Augenwinkel  und  versteinerte  seine  Züge.  Das  gab  ihm  einen 
entschlossenen  Ausdruck,  den  ihm  niemand  kannte.  Er  lauschte 
hinaus.  Da  verklang  die  Stimme  wieder.  Mit  einem  scheuen 
Seufzer  zog  er  eine  Armlänge  Zwirn  von  der  Spule,  fädelte  ein 
und  nähte  Stich  an  Stich. 

Schon  in  der  Schule  hatte  ihm  diese  Furcht  im  Nacken 
lesessen.  So  war  er  immer  für  Sich  allein  geblieben,  weil  er  sich 

353 


vor  neuen  Bubenstreichen  fürchtete.  Vor  den  Lehrern  zitterte 
er,  weil  sie  für  ihn  Staatsgewalt  waren.  Und  die  Lehrer  brauchen 
keine  Pyschologen  zu  sein,  die  waren  bald  fertig  mit  ihm.  Duck- 
mäuser war  die  Qualifikation,  die  ihm  sein  Wesen  eintrug.  Er 
hat  den  rechten  Namen,  glossierte  der  Oberlehrer  dazu.  Und  es 
war  schließlich  niemand  Schuld  daran,  als  er  —  Gottlob  Schlei- 
cher —  selbst,  wenn  er  sich  immer  mehr  weg  und  herumschleichen 
musste  wie  ein  Aussätziger  und  nur  lustig  sein  konnte,  wenn 
nicht  ein  Schulerbub  oder  ein  Gaul  seinen  Weg  kreuzte. 

Beim  Kaffeetrinken  meldete  ihm  das  Miggeli,  die  Frau  Studer 
habe  ihre  Steuern  scheints  noch  nicht  bezahlt.  Der  Steuerzettel 
stecke  noch  in  der  Türspalte  und  es  sei  jetzt  doch  schon  zwei 
Tage  her,  seit  man  sie  vertragen  habe. 

Gottlob  Schleicher  war  schlechter  Laune.  Seine  Gedanken 
hatten  ihn  gegen  die  Menschen  erbittert.  Das  sei  immer  so, 
meinte  er,  denen,  die  etwas  zum  Versteuern  hätten,  denen  lasse 
man  Zeit  bis  zum  ewigen  Feiertag,  und  den  armen  Keiben,  wenn 
die  nicht  fast  auf  die  Kanzlei  sprängen,  bevor  der  Zettel  komme, 
denen  werde  gepfändet. 

„Es  muss  dich  dann  nicht  wunder  nehmen,  wenn  ich  an 
einem  schönen  Tag  Sozi  werde!" 

Frau  Miggeli  machte  ihre  großen  Frageaugen;  als  ob  sie 
friere,  kreuzte  sie  sich  zusammenkauernd  die  Arme.  Die  drei 
schwarzhaarigen  Mägdlein  sahen  den  Vater  verwirrt  an  und  nur 
im  Zimmerwagen  krähte  das  Jüngste  unentwegt  weiter. 

„Wenn  ich  das  Geld  hätte,  wo  die  Studerin  hat,  die  Alte, 
dann  könnte  mir  meinetwegen  alles  andere  gestohlen  werden!" 

„Das  Zilli  hat  gesagt,"  plauderte  die  Grete,  die  Älteste,  „sie 
habe  gar  nicht  so  viel!" 

„Halts  Maul,  das  weiß  denk  ich  besser!" 

„Aber  Vater  —  Frau  Miggeli  hielt  etwas  auf  gute  Erziehung 
und  hörte  nicht  gern  wenn  Gottlob  grob  kam,  weil  das  leicht 
abfärbe  —  das  kann  doch  das  Zilli  ganz  gut  wissen,  die  geht  doch 
bei  der  Frau  Studer  auf  die  Stör!" 

„Ich  weiß,  was  ich  weiß!"  beharrte  der  Schneider. 

ff.  Dann  saß  er  wieder  auf  seinem  Tisch  und  nähte  Stich  an 
Stich.    Unter  dem  Fenster  aber  saßen  die  drei  schwarzhaarigen 

354 


Mägdlein  und  erzählten  sich  Geschichten  von  der  reichen  Frau 
Studer  und  den  fürchtigen  Sozi. 

Eine  Woche  später  stand  Gottlob  Schleicher  mit  dem  leeren 
schwarzen  Tuch,  in  dem  er  die  Kleidungsstücke  seiner  Kunden 
ablieferte,  unter  seiner  Wohnungstür.  Drei  Stockwerke  unter  ihm 
ging  jemand  durch  den  Hausgang.  Es  war  der  Polizeiwachtmeister 
Brunner.  Ein  böser  Schreck  fuhr  dem  Schneidermeister  in  die 
Kehle.  Er  räusperte  sich  dreimal  kläglich,  dann  blieb  er  wie  ge- 
bannt stehen  und  wartete.  Zwei  Stockwerke  unter  ihm  bei  der 
Frau  Studer  läutete  man ;  läutete  zum  zweiten  und  drittenmal. 
Dann  stieg  der  Wachtmeister  weiter. 

„Jetzt  wird  er  drunten  läuten"  dachte  Schleicher. 

Der  Wachtmeister  stieg  weiter  und  stand  vor  dem  „marchand- 
tailleur". 

„Seit  wann  ist  die  Frau  fort?"  brummte  er  das  Männchen  an. 

Gottlob  Schleicher  knickte  zusammen. 

„Seit  Samstag,  das  heißt  seit  Freitag  oder  auch  Donnerstag." 

„Hm"  schnautzte  der  Wachtmeister  und  es  gelang  ihm  sein 
vom  Steigen  glänzend  erhitztes  Gesicht  in  dunkle  Amtsfalten  zu 
legen,  „hm,  also  fast  eine  ganze  Woche.  Eine  alleinstehende  Frau! 
Da  kann  was  passiert  sein.  Muss  von  Gesetzeswegen  nachsehen 
lassen.  Hm".  Dann  warf  er  einen  musternden  Blick  auf  den 
Schneider  und  ging. 

Der  Schneider  saß  auf  seinem  Tisch  und  sah  durchs  Fenster. 
Der  Regen  fiel  in  Fäden  auf  die  braunen  Bäume  und  zerstäubte 
auf  dem  nassen  Laubenboden.  Fingerhut  und  Scheere,  Nadel  und 
Zwirn  lagen  zwischen  den  Knien  des  Meisters.  Der  dachte  und 
dachte  und  die  Angst,  die  herrische,  die  ihm  in  Augen  und 
Mundwinkeln  hockte,  wuchs  und  wuchs  und  würgte  ihn  und  geis- 
selte  ihn  mit  hundert  Schauern  am  ganzen  Leib. 

Jetzt  kam  das  Gericht.  Oh  sie  konnten  ihm  nichts  anhaben. 
Er  war  doch  der  ehrbare  Schneidermeister  Schleicher.  Ha!  Aber 
der  Duckmäuser  war  er  auch,  und  der,  welcher  den  rechten 
Namen  trug.  Einen  Gaul  hatte  er  scheu  gemacht  aus  Jux!  Aber 
sonst  konnten  sie  ihm  nichts  vorwerfen.  Beweisen  wollte  er  ihnen 
das,  beweisen.  Was  beweisen?  Dass  er  mit  der  alleinstehenden 
Frau   als  der  einzige  im    Hause  verkehrt  hatte,  dass  er  in  ihrer 

355 


Wohnung  gewesen  war,  wo  doch  sonst  niemand  Zutritt  hatte, 
dass  er  Gold  gesehen  hatte  auf  dem  Tisch  der  alten  reichen 
Geizhälsin,  dass  er  das  alles  erlebt,  er  der  arme  Flickschneider 
Schleicher.  Was  sollte  das  beweisen  ?  Nichts  bewies  das,  und  der 
„marchand-tailleur"  saß  im  Zuchthaus,  weil  er  eine  Frau  umge- 
bracht und  beiseite  geschafft  haben  sollte,  und  konnte  nachdenken 
über  seine  Schuld.  Da  half  ihm  kein  Miggeli  darüber  hinweg.  Er 
hörte  die  Buben  fötzeln  und  die  Gäule  wiehern.  Beweisen,  ja 
beweisen!  Seine  arme  Frau  aber,  und  seine  drei  Kinder,  seine 
vier  Kinder,  was  sollten  die  beweisen?  Dass  er  ein  braver  Mann 
und  ein  guter  Vater  war.  Was  bewies  das?  Er  war  ja  ein  Duck- 
mäuser, er  trug  ja  den  rechten  Namen.  Sein  Vater  würde  sich 
im  Grabe  umdrehen  und  sein  Großvater  und  sein  Urgroßvater, 
und  sie  würden  ihm  erscheinen  in  den  langen  Kerkernächten  und 
würden  auf  ihn  zeigen:  Seht  da,  der  von  unserm  Blut,  der  da, 
dem  der  Schneidermeister  nicht  mehr  genug  war,  der  sich  von 
einem  hergelaufenen  fremden  Malergesellen  einen  fremden  Titel 
aufschwatzen  ließ!  Seht  ihr  ihn  da,  so  weit  ist  es  mit  ihm  ge- 
kommen! Und  er,  was  konnte  er  dagegen  vorbringen?  Dass 
er  keinen  Unterschied  mache  zwischen  arm  und  reich.  Bah,  das 
würde  ihm  keiner  glauben,  das  glaubte  er  ja  selber  nicht.  Er 
flickte  doch  auch  die  Mannshosen  anders  als  die  Herrenhosen. 
Er,  der  Gottlob  Schleicher  mit  den  aufrührerischen  Gedanken! 
Hatte  er  nicht  schon  oft  gedacht  und  gesagt,  Sozi  wolle  er 
werden!  Beweisen?  Er  konnte  nichts  beweisen. 

Der  Schweiß  ging  ihm  über  die  Wangen  und  seine  Hände 
zitterten.  Aber  so  schnell  verloren  geben  wollte  er  sich  nicht. 
Wehren  wollte  er  sich.  So  schnell  sollten  sie  ihm's  nicht  an- 
merken, dass  es  nichts  zu  beweisen  gab.  Lachen  wollte  er. 
Lachen!  So  .  .  .  ganz  gut  ging's!  Weh  tat's!  Aber  es  ging!  So. 
Und  laut  reden.  Allerhand  Zeug!  Auch  von  der  Frau  Studer.  Ja, 
nur  nicht  merken  lassen  wie  wehrlos  er  war.  Und  singen  auch! 
Warum  sollte  er  nicht  singen?  Er  hatte  doch  früher  auch  ge- 
sungen. In  der  Schule  und  die  paar  Wochen  um  seine  Hochzeit 
herum  im  gemischten  Chor.  Was  wollte  er  denn  jetzt  singen? 
Ein  lustiges  Lied,  ein  ganz  lustiges,  dass  sie  nichts  merkten,  gar 
nichts.    Aber  was  für  eins.    Es  fiel  ihm  kein  Lied  ein.     Das  war 

356 


sonderbar.  Vorher  hatte  er  doch  auch  lustige  Lieder  gewusst.  So 
sang  er  halt  ein  ernstes.  Was  sollte  er  da  singen?  Ein  vater- 
ländisches Lied.  Und  er  sang:  „Bei  Sempach  der  kleinen 
Stadt  .  .  .  und  sang  weiter  und  es  kümmerte  ihn  nicht,  dass  er 
mit  der  zweiten  Strophe  anhub,  und  allerlei  Flickwerk  aus  den 
übrigen  Strophen  herbei  holte;  er  sang:  „Wir  singen  heut  ein 
heilig  Lied  .  .  ."  laut  und  keck  zuerst,  dann  nachdenklich  und 
zart  und  schrecklich  traurig  zuletzt. 

Seine  Frau,  das  Miggeli,  war  unter  die  Türe  getreten  und 
stierte  ihn  mit  großen  Augen  an.  Die  drei  Ältesten  drückten  sich 
in  die  Rockfalten  der  Mutter  und  kicherten  und  das  Jüngste  lag 
im  Zimmerwagen  und  krähte.  Er,  Gottlob  Schleicher,  sah  nichts, 
hörte  nichts  und  sang:  „erhaltet  mir  Weib  und  Kind  .  .  ."  und 
zuletzt  flüsterte  er  nur  noch  und  es  war  kein  Ton  höher  als  der 
andere,  keiner  länger  als  der  andere  „die  eurer  Hut  empfohlen 
sind  .  .  ."  Frau  Schleicher  fuhr  sich  mit  dem  Handrücken  über 
die  Augen  und  ging  auf  ihren  Mann  zu: 

„Gottlob,"  sagte  sie  zärtlich,  „bist  du  krank?" 
Der    Schneidermeister    Schleicher   sah   auf  seine   Frau    und 
sah   auf   seine   Kinder  und   murmelte:    „in  kurzem  bringt  euch 
blutig  rot.  .  ."  —  „Gottlob,  Gottlob  ist  dir  nicht  wohl?" 

Da  besann  sich  Gottlob  Schleicher  auf  seinen  Gesang  und 
warum  er  singen  wollte.  Nein,  auch  sie  sollten  nichts  merken, 
auch  sie  nicht,  und  laut  und  keck  wiederholte  er:  „in  kurzem 
bringt  euch  blutig  rot  .  .  ." 

Da  warf  das  Schluchzen  Frau  Miggeli  auf  einen  Stuhl  und 
die  drei  Mägdlein  mit  den  schwarzen  Haaren  legten  sich  um  sie 
und  fingen  zu  weinen  an.  Draußen  fiel  der  Regen  in  grauen 
Fäden  in  die  braunen  Äste.  Ein  Bächlein  ging  von  der  Lauben- 
tür bis  zum  Tisch,  auf  dem  Gottlob  Schleicher  saß,  mit  Augen, 
in  denen  wie  ein  schwarzes  Feuer  die  Angst  wuchs,  und  sang: 
„ein  Eidgenoss  das  Morgenbrot  ..."  Jetzt  fasste  Frau  Miggeli 
ihren  Mann  mit  zitternden  Händen  an,  und  lehnte  ihren  Kopf  an 
den  seinen. 

„Gottlob,  du  sollst  so  nicht  tun!  Ich  hab  Angst  und  die 
Kleinen  haben  Angst  und  wir  wissen  nicht,  warum  du  so  bist. 
Gottlob  gelt!" 

357 


Da  erwachte  der  Schneider  aus  seiner  Verlassenheit  und 
legte  einen  Arm  um  seine  Frau  und  sah  auf  seine  drei  Mägdlein 
und  schwieg. 

Draußen  fiel  der  Regen.  Von  der  Laubentür  her  rann  ein 
Bächlein  zum  Tisch  des  Meisters.  Niemand  sah  das  Rinnsal,  als 
die  kleine  Line,  die  sich  mit  ihren  Füßen  darin  zu  spielen  machte 
und  nasse  Spuren  durch  das  ganze  Stübchen  verschleppte.  Da 
kam  in  Frau  Miggeii  wieder  die  Erziehungspflicht  oben  auf.  Mit 
einem  energischen  Ruck  stellte  sie  ihre  Zweitälteste  vor  die  Türe. 
Der  böse  Zauber  war  gebrochen.  Das  Geschrei  der  Line  und 
das  Kreischen  des  Jüngsten  läuteten  den  Alltagzustand  wieder  ein. 
Der  Schneidermeister  Gottlob  Schleicher  fuhr  sich  mit  einer 
scheuen  Bewegung  über  Stirn  und  Hinterkopf:  dann  zog  er  eine 
Armlänge  Zwirn  von  der  Spule  und  nähte  Stich  neben  Stich. 

Am  Nachmittag  grüßte  er  im  Hauptgang  die  Frau  Studer  mit 
einem  verlegenen  Seitenblick.  Am  Abend  aber  trank  er  im  „Moh- 
ren" am  Tisch  des  Polizeiwachtmeisters  Brunner  einen  Halben 
Letztjährigen  und  es  machte  ihm  keine  Gedanken,  dass  ihn  der 
Gestrenge  forschend  musterte,  als  er  nachfüllen  ließ. 

QDD 

FRÜHE,  ZWISCHEN  NACHT  UND  TAG  ... 

Frühe,  zwischen  Nacht  und  Tag 
Hört'  ich  eine  Amsel  singen. 
Was  kann  wohl  das  Jauchzen  bringen  ? 
Ob  der  Frühling  kommen  mag? 

Alle  Hügel  waren  grau, 
Nur  ein  matter  gelber  Schimmer 
Glitt  vom  Hügelrand  durchs  Zimmer 
Und  hielt  eine  erste  Schau. 

Und  auf  allen  Wegen  lag 
Jauchzend  eines  Liedes  Klingen.  — 
Eine  Amsel  hört'  ich  singen 
Frühe,  zwischen  Nacht  und  Tag. 


R.  J.  LANG 


DDO 


358 


VIKTOR  HEHN 

II. 

Als  romantisch-schwärmerischer  Wallfahrer  ist  der  sechsund- 
zwanzigjährige  Viktor  Hehn  zum  erstenmal  durch  das  gelobte 
Land  gepilgert,  für  jeden  Eindruck  äußerst  empfindlich,  aber  doch 
schon  erfüllt  von  dem  Drang,  überall  das  Walten  ewiger  Kräfte 
zu  erlauschen.  Viermal  ist  der  Petersburger  Hofrat  nach  dem 
Süden  gezogen,  und  was  ihm  Italien  ward,  das  hat  er  in  seinem 
Buch  über  Italien,  dem  1844  als  eine  Art  Objektivierungsversuch 
der  Tagebuchnotizen  eine  feine  Skizze  „Über  die  Physiognomie 
der  italienischen  Landschaft"  vorausgegangen  war,  in  klassisch 
schöner,  plastischer  Sprache  bekannt.  An  alle  deutschen  Lands- 
leute, die  hungern  und  dürsten  nach  wahrer  Kultur,  wendet  sich 
das  Buch,  an  die  Menschen,  die 

.  .  .  das  Bedürfnis  fühlen,  ein  Ganzes  zu  werden  und  wahre  Menschlichkeit 
in  sich  zu  entwickeln,  die  endlich,  um  das  letztere  zu  erreichen,  aus  der 
Dürre  der  Technik  und  Mechanik,  des  gemeinen  Verstandes  und  groben 
Nutzens,  gern  zu  Kunst  und  Altertum,  zu  der  Naturgestalt  und  uralten  Kultur 
des  Südens  wie  zu  einem   reinen  Bildungs-  und  Lebensquell  flüchten,  .  .  . 

aber  es  stellt  sich  zugleich  bewaffnet  mit  der  scharfen  Klinge  der 
Satire  als  Tempelhüter  an  die  Pforte,  um  dem  Unberufenen  den 
Eintritt  zu  wehren.  Den  Eilfertigen  vor  allem,  die  in  einem  hasti- 
gen Flug  Italiens  Wunder  zu  erhaschen  wähnen,  ruft  Hehn  ein 
gebieterisches  Apage!  entgegen.  Mancherlei  hat  der  Italienfahrer 
dringend  nötig:  jugendfrische,  durstige  Sinne,  eine  gründliche 
humanistische  Vorbildung  und  Zeit,  viel,  viel  Zeit,  ein  volles  Jahr 
zum  mindesten,  denn  wer  dem  Lande  gerecht  werden  will,  braucht 
alle  vier  Jahreszeiten,  und  die  gemächliche  Fahrt  im  Vetturino 
bietet  weit  höheren  Genuss  als  das  atemlose  Dahinrasen  im  Eisen- 
bahnzug mit  der  vorgespannten,  rauchhustenden  Lokomotive,  der 
„fernen.ffremden,  amerikanischen  Erfindung".  Wurden  ungestümen 
Eindringling  empfängt  Italien  mit  einem  Heer  von  Unannehmlich- 
keiten, mit  lärmenden  Portiers,  unverdaulichen  Speisen,  mogelnden 
Krämern,  zudringlichen  Bettlern,  mit  Stechmücken,  sengendem 
Sonnenbrand  und  bitterkalten  Frühlingsnächten. 

Auch  die  Natur  enthüllt  ihre  Reize  nur  dem  ernstlich  Suchen- 
den. Wer  von  den  Alpen  mit  ihren  grünen  Tälern  und  giganti- 
schen   Felsmassiven,    den    sprühenden   Wasserfällen    und    stillen 

359 


Wäldern  und  blauen  Seen  in  die  Poebene  hinabsteigt  und  da 
^gesteigerte  nordische  Natur"  zu  finden  hofft,  wird  sich  bald  ent- 
täuscht nach  Norden  zurückwenden :  weite,  schmachtende  Ebenen, 
durchzogen  von  wasserleeren  Flussbetten,  dehnen  sich  vor  ihm 
aus,  zu  beiden  Seiten  der  mehlweißen  Landstraße  brechen  be- 
stäubte Stachelkräuter  aus  Mauern  und  Felsritzen,  abgebrochene 
Agaven,  triste  Ölbäume,  zerzauste  Pinien  beleben  notdürftig  die 
Hänge  welliger  Hügel.  Aber  gerade  in  dieser  scheinbaren  Öde 
und  Armut  der  Landschaft  erkennt  der  verständige  Gast  die  „Fülle 
der  wirkenden  Natur,  die  bis  zu  reiner  und  ganzer  Darstellung 
ihrer  selbst  gelangte".  Die  Schweizer  Landschaft  „versperrt  sich 
selbst",  die  norddeutsche  Ebene,  „verliert  sich  ins  Vage",  in  Italien 
dagegen  erscheint 

.  .  .  alles  eigensinnig  Maßlose  in  seinen  Umrissen  von  einer  versöhnenden 
Hand  oder  einem  immanenten  Prinzip  sich  selbst  beherrschender  Schönheit 
vertilgt  und  zur  Grazie  zurückgeführt.  .  . 

Da  sind  Inhalt  und  Form  vollkommen  versöhnt;  die  ganze  Natur 
ist  ein  harmonisches  Kunstwerk,  in  dem  das  Innere  vollkommen 
im  Äußern  aufgegangen  ist.  Wie  der  italienischen  Kunst  die  Dar- 
stellung der  menschlichen  Gestalt  und  Tat  besser  gelang  als  die 
der  Natur,  so  ist  auch  die  italienische  Landschaft  eher  plastisch- 
architektonisch als  lyrisch-musikalisch; 

.  .  .  sie  reicht  nie  in  leerer  Sehnsucht  über  die  Wirklichkeit  hinaus;  mit 
der  stillen  Gleichgültigkeit  eines  antiken  Marmorbildes  ruht  sie  selbstge- 
nugsam  über  den  Tiefen  ihres  unendlichen  Inhalts.  .  . 

Wie  ein  gewaltiges  plastisches  Bild  liegt  sie  vor  dem  Auge  da, 
das  sehen  gelernt  hat,  und  verzichtet  gleichmütig  auf  jegliche 
Ergänzung  und  Steigerung  durch  die  nachschaffende  Phantasie. 

Wie  die  Natur  drückt  auch  die  Architektur  „ruhiges  Dasein" 
aus;  statt  der  steilen  Giebel  und  spitzen  Türmchen,  womit  die 
deutschen  Häuser  „unruhig  zum  Himmel  fliegen",  krönt  die  itali- 
enische Villa  ein  flaches  Dach  mit  zierlicher  Bailustrade  oder 
würdevoller  Kuppel,  und  während  im  Norden  plumpe  Pfeiler  die 
Wände  mühsam  stützen,  ruht  hier  das  Dach  auf  schlanken,  heitern 
Säulen.  Was  die  südeuropäische  Vegetation  vorgedacht,  das 
dichtet  das  italienische  Landhaus  architektonisch  um,  und  so  um- 
gibt es  mit  dem  kunstvoll  angelegten  Park  den  Besitzer  „in  stillen, 
reinen  Umrissen  wie  eine  humanisierte,  ideale  Natur". 

360 


Die  klare  innere  Harmonie,  die  die  Landschaft  ausdrückt,  ist 
auch  dem  Itahener  eigen;  in  seiner  Gestalt  hat  die  ihn  auszeich- 
nende „Geistes-  und  Empfindungsfülle  volles,  sinnliches  Form- 
dasein gewonnen".  Der  Nordländer  ist  massiv,  langsam,  unge- 
lenk; selbst  die  gewöhnlichen  Gebärden,  die  die  Rede  begleiten, 
erscheinen  als  mühevolle  Überwindung  der  Schwere  —  am  Italiener 
dagegen  ist  alles  Form,  und  auch  der  Geringste  erscheint  im 
edlen  Anstand  seiner  Haltung  und  Bewegung  als  der  Erbe  der 
Alten:  der  Hirtenknabe,  der,  auf  seinen  Stab  gestützt,  sinnend  in 
die  Ferne  schaut,  die  Bäuerin,  die  den  Korb  mit  dem  Säugling 
in  würdevoller  Grazie  auf  dem  Kopf  balanciert,  der  trotzige  Bur- 
sche, der  sich  grätschbeinig,  beide  Hände  in  den  Gürtel  gesteckt, 
mitten  auf  der  Straße  aufpflanzt  —  selbst  der  Bettler  „stellt  sich 
da  als  ein  König  im  Elend  dar".  Dabei  bleibt  der  Italiener  aber 
doch  stets  eine  runde,  ganze  Persönlichkeit;  das  deutsche  Philister- 
tum, die  Geistesstumpfheit  der  „phantasielosen  und  wohlmeinenden 
Söhne  der  Gewohnheit"  ist  seinem  Wesen  durchaus  fremd,  und 
«benso  sinkt  er  niemals  durch  Amt  oder  Beschäftigung  zum 
„bloßen  Fragment  herab,  das  nichts  enthält,  als  was  das  ihm  auf- 
gedrückte Berufszeichen  sagt".  Aber  der  Italiener  lungert  doch 
so  gerne  tatlos  auf  Straßen  und  Plätzen  umher  und  schläft  am 
hellichten  Tag  auf  den  Steinfliesen  vor  dem  Kirchenportal  I  Ge- 
wiss —  er  ist  eben  auf  der  Straße  faul,  der  Deutsche  dagegen 
vergisst  in  seiner  Entrüstung,  wie  manche  Stunde  er  zu  Hause 
„in  der  Gemächlichkeit  des  Schlafrocks  mit  wenig  Witz  und  viel 
Behagen  verdehnt".  Und  darf  man  sich  wirklich  so  sehr  darüber 
entsetzen,  dass  die  angeborene  Pfiffigkeit  den  Italiener  reizt,  aus  der 
schwerfälligen  Trägheit  des  Nordländers  Nutzen  zu  ziehen? 

Freilich,  ganz  blind  ist  Viktor  Hehn  für  die  Schwächen  des 
italienischen  Nationalcharakters  durchaus  nicht.  Zugegeben:  der 
Italiener  zeigt  im  Verkehr  mit  den  Tieren  eine  entschiedene  Nei- 
gung zur  Grausamkeit,  aber  den  Grund  dafür  findet  Hehn  in  der 
ererbten  antiken  Sinnesart,  die  noch  kein  sentimentales  Verhältnis 
des  Menschen  zum  Tier  kennt;  er  hat  kein  besonderes  Talent 
für  die  Behaglichkeit  des  Familienlebens,  aber  das  Leben  des 
Südländers  spielt  sich  eben  zum  größten  Teil  draußen  im  Freien 
ab.  Immerhin  könnte  die  Freude  der  Italiener  an  äußerlichem 
Pomp,  der  „deklamatorische  Kothurn",  die  politica  spettacolosa  — 

361 


der  politischen  und  wirtschaftlichen  Entwicklung  des  Landes  ver- 
hängnisvoll werden ;  das  geeinte  Italien  wird  erst  beweisen  müssen, 
dass  es  neben  verfrühtem  Siegesjubel  auch  die  „mannhafte,  ernste, 
wortkarge,  zähe,  dauernde,  immer  streitbare  Tugend  kennt,  die 
allein  den  realen  Forderungen  des  Tages  gewachsen  ist". 

Die  Nachtseiten  der  italienischen  Volksseele  zeigen  sich  am 
deutlichsten  bei  den  Sizilianern,  und  zwar  besonders  bei  den  Be- 
wohnern des  westlichen  Sizilien,  das  wohl  von  Afrika  aus  besiedelt 
worden  ist.  Sizilien,  ein  halb  barbarisches  Land,  das  kein  acht- 
zehntes Jahrhundert  gehabt  hat,  sondern  geradewegs  aus  dem 
Mittelalter  kam,  ist  für  die  Freiheiten,  die  der  moderne  Staat  dem 
Einzelnen  einräumt,  einfach  nicht  reif;  die  Pressfreiheit  hat  einen 
Schwall  von  Revolverblättchen  gezeitigt,  die  der  Menge  törichten 
Tyrannenhass  einimpfen  und  sich  daneben  doch  vor  der  allmäch- 
tigen Maffia  ducken,  das  Strafgesetzbuch  ist  zu  milde,  der  Geld- 
verkehr infolge  der  wirtschaftlichen  Freiheit  unglaublich  leichtfertig, 
und  die  Eisenbahnen  vermögen  diese  Schäden  so  wenig  zu  heben 
wie  die  pilzartig  emporschießenden  Schulen,  die  nach  Hehns  An- 
sicht der  Überlieferung  und  der  Rasse  gegenüber  ohnmächtig  sind. 
Was  dem  Lande  not  täte,  wäre  ein  straffes,  gerechtes  absolutisti- 
sches Regiment. 

Die  Insel  selbst  allerdings,  die  Goethe  den  Schlüssel  zu  allem 
nannte,  ist  auch  Hehn  erst  Italien;  das  sind  sie,  „die  Berge,  die 
Linien  des  Südens,  dies  die  kristallene  Luft,  das  energische, 
alle  Dinge  in  einen  zitternden  Schleier  hüllende  Licht". 
Selbst  die  vegetationslose  Natur  ist  in  ihrer  Erstarrung  klassisch 
schön;  das  „edel  schöne  Medusenantlitz"  trägt  hier  auch  die 
ganze  Landschaft,  und  schauend,  nicht  mehr  bloß  ahnend,  erfasst 
der  Wanderer  das  Wesen  des  griechischen  Altertums,  das  die 
strengen,  maßvollen  Linien  des  altdorischen  Tempelstils  schuf 
und  die  Furcht  vor  den  Göttern  predigte. 

Das  ist  das  Eigenartige  an  Viktor  Hehns  Naturbetrachtung: 
nicht  auf  das  Malerische,  das  Tableau  kommt  es  ihm  an;  das 
Landschaftsbild  spricht  zu  diesem  ausgesprochen  episch  empfin- 
denden Geist  erst  durch  die  große  geschichtliche  Vergangenheit, 
von  der  es  dem  Kundigen  erzählt.  Hehns  „Kulturpflanzen  und 
Haustiere"  leisten  den  Nachweis,  dass  die  für  unser  Empfinden 
typische   Natur  Italiens   ihren    heutigen  Charkter   wesentlich   erst 

362 


durch  die  kulturelle  Tätigkeit  des  Menschen  in  der  Übergangszeit 
vom  Altertum  zum  Mittelalter  gewonnen  habe; 

...  die  Natur  gab  Polhöhe,  Formation  des  Bodens,  geographische  Lage; 
das  übrige  ist  ein  Kern  der  bauenden,  säenden,  einführenden,  ausrottenden, 
ordnenden,  veredelnden  Kultur,  .  .  . 

und  in  keinem  Land  Ist  die  harmonische  Durchdringung  von 
Natur  und  Kultur  so  glatt  gelungen  wie  in  Italien.  Italien  ist 
Natur,  veredelt  durch  Kultur  und  dadurch  zur  wahren  Natur  ge- 
worden. Nicht  mit  dem  farbendurstigen  Auge  des  Malers,  das 
hier,  wie  Ihm  scheint,  wenig  Fesselndes  fände,  schaut  Hehn  von 
der  Höhe  der  Villa  Mellini  auf  die  ewige  Stadt  herab ;  doch  er 
fühlt  alle  Schauer  der  Jahrtausende  um  die  sieben  Hügel  wehen, 
und  andächtig  staunend  findet  er  den  Wurzelboden  der  eignen 
Existenz  unter  den  Ruinen  der  Kaiserstadt.  Gerade  so  wie  Goethes 
Wanderer  —  er  hat  das  Gedicht  selbst  meisterhaft  analysiert  — 
wird  ihm  Italien  darum  besonders  teuer,  well  ihn  überall  die 
Spuren  ordnender  .Menschenhand,  die  Reste  heiliger  Vergangen- 
heit von  dem  bildenden  Geist  auf  die  Knie  niederzwingen:  ein 
moosbewachsener  Architrav,  eine  halbverwischte  Inschrift  auf 
ausgelaufener  Marmorplatte,  oder  gar  die  Trümmer  eines  heitern 
Tempelchens,  mit  Epheu  bekleidet,  und  daran  angeklebt  die  dürf- 
tige Hütte,  die  Herberge  gesunden,  einfältigen  Lebens.  —  Ein 
ähnliches  Bild  fängt  —  bei  Andersen,  den  Hehn  kaum  gekannt 
hat  —  der  romantische  Maler  im  dänischen  Glebelstübchen  auf, 
wie  ihm  der  Mond  von  Rom  erzählt,  von  dem  armseligen  Lehm- 
haus zwischen  den  geborstenen  Marmorsäulen  des  Kapitols  und 
dem  kleinen,  barfüßigen  Mädchen,  das  weinend  vor  den  Scherben 
des  Wasserkruges  steht  und  die  Hand  nicht  nach  der  am  Bind- 
faden hängenden  Hasenpfote  auszustrecken  wagt,  dem  Glocken- 
zug der  Kaiserburg! 

Unsichtbar  begleitet  Hehn  auf  allen  seinen  Fahrten  durch  das 
gelobte  Land  der  Geist  des  größten  Italienpilgers  aller  Zeiten, 
dem  selbst  der  unliebenswürdige  Heine  mit  dem  bewundernden 
Worte  huldigte:  „Die  Natur  wolle  wissen,  wie  sie  aussah,  und 
sie  erschuf  Goethe";  Mignons  Lied  gibt  die  Melodie,  die  das 
Werk  Viktor  Hehns  mannigfach  variert  und  zur  gewaltigen  Sym- 
phonie ausspinnt. 


363 


III. 

„Sein  Leben  gestaltete  sich  ihm  in  letzter  Linie  zu  einem 
Aufgehen  in  Goethe,"  so  bezeichnet  Theodor  Schiemann  Ziel  und 
Grenze  von  Viktor  Hehns  Entwicklung.  Doch  das  „Aufgehen  in 
Goethe"  ist  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  Hehn  die  eigne  Per- 
sönlichkeit der  größern,  fremden  vollständig  geopfert  hätte;  auf 
ihn  könnte  gemünzt  sein,  was  die  erste  Epistel  sagt: 

.  .  .  liest  doch  nur  jeder 
Aus  dem  Buch  sich  heraus,  und  ist  er  gewaltig,  so  liest  er 
In  das  Buch  sich  hinein,  amalgamiert  sich  das  Fremde  .  .  . 

Zu  einem  Eckermann  II  war  Viktor  Hehn  zu  bedeutend.  Ebenso 
predigt  keines  seiner  Bücher  blinden  Goethe-Kultus;  von  Anfang  an 
scheidet  er  den  Goethe  der  Sesenheimer  Lieder  und  der  Iphigenie 
scharf  von  der  alternden  Exzellenz,  die  im  zweiten  Teil  des  Faust 
der  erschlaffenden  Schöpferkraft  einige  mühsame  Einfälle  abtrotzt 
und  im  west- östlichen  Diwan  eine  herbstliche  Spätblüte  treibt. 
Ein  Gang  vom  Äquator  zum  Erdpol  veranschaulicht  dem  künf- 
tigen Verfasser  der  „Kulturpflanzen"  Goethes  Entwicklung: 

Dort  in  der  Glut  der  Jugend  die  üppigste  Vegetation,  oft  im  Erzeu- 
gungsdrang über  die  Form  hinauswachsend;  dann  im  Mannesalter  die  ge- 
mäßigte Zone  reiner  Bildung,  sittlichen  Menschengefühis,  tief  müden  Ernstes; 
endh'ch,  je  weiter  vorrückend,  desto  mehr  werden  die  Gewächse  einförmiger, 
halten  sich  niedriger  am  Boden,  und  die  Farben  erlöschen. 

Hehns  Goethe  ist  fast  ausschließlich  der  Apollo  Trippeis  oder  Tisch- 
beins Wanderer:  der  Goethe  der  italienischen  Reise  und  der  Dich- 
tungen, die  die  Sonne  Italiens  mit  vollem  Glanz  oder  doch  mit  einem 
letzten  Scheideblick  durchwärmt.  Neben  dem  einen  Zentralgestirn 
verblassen  für  ihn  alle  die  größern  und  kleinern  Lichter  voll- 
ständig: Schiller,  dessen  Pathos  ihn  anfänglich  berauscht,  rückt 
mit  den  Jahren  mehr  und  mehr  in  die  Ferne:  er  ist  dem  Gereiften 
zu  abstrakt,  zu  konstruiert,  zu  wenig  organisch;  die  Romantik 
will  lediglich  „überwundenen  Dunkelmächten"  wieder  zum  Sieg 
verhelfen,  und  die  Dichtung  der  Jahrhundertmitte  zeigt  Deutsch- 
land auf  dem  Wege,  die  errungenen  ästhetischen  Werte  im  Getöse 
des  politischen  Lebens  einzubüßen.  Wenn  auch  die  eine  oder 
andere  Stimme  zu  aufhorchendem  Stillstehn  lockt  —  der  Ver- 
ständige kehrt  doch  immer  wieder  zu  der  Stelle  zurück,  wo  Goethe 
singt,  der  Goethe  der  Iphigenie,  der  Hymnen,  des  Liedes  von 
Hermann  und  Dorothea. 

364 


Viktor  Hehn  begnügt  sich  nicht  mit  einem  rein  persönlichen 
Verhähnis  zu  Goethe;  auch  an  ihn  tritt  er  nicht  in  letzter  Linie 
als  Historiker  heran.  Weitausschauend,  großzügig  wie  auf  dem 
Gebiet  der  Kulturgeschichte  ist  Hehn  auch  als  Literarhistoriker; 
bloße  Belesenheit  —  so  führt  er  in  seinem  aufschlussreichen  Auf- 
satz „Goethe  und  das  Publikum"  aus  —  vermag  die  notwendige 
eigene  Lebenserfahrung  niemals  zu  ersetzen,  und  die  junge  Goethe- 
Philologie  verliert  über  der  ängstlichen  Fürsorge  für  allerlei 
orthographischen  Kleinkram  und  dergleichen  die  Persönlichkeit 
des  Dichters  aus  dem  Auge.  Wie  jede  andere  Erscheinung  ist 
Goethe  für  Hehn  ein  Glied,  und  zwar  das  letzte,  höchste  Glied 
einer  Entwicklungsreihe;  er  ist  als  Mensch  genau  das  selbe  was 
Italien  als  Landschaft:  die  von  neuem  Gegenwart  gewordene 
antike  Kultur.  Nach  dem  Erlöschen  des  Altertums  gab  es  keinen 
ganzen,  schönen  und  gesunden  Menschen  mehr  —  Augustin 
war  für  den  Protestanten  Hehn,  wenn  er  ihn  überhaupt  näher 
kannte,  vielleicht  ein  schöner,  aber  keinesfalls  ein  gesunder 
Mensch  —  bis  der  Humanismus,  dem  Hehn  1866  einen  fein- 
sinnigen Aufsatz  gewidmet  hat,  die  Antike  zu  neuem  Leben  weckte. 
Das  Mittelalter,  das  den  Fünfundzwanzigjährigen  im  Weihrauch- 
dampf des  Kölner  Domes  berauscht  hatte,  ist  dem  Abgeklärten  für 
die  Erde  und  den  Menschen  eine  „ungeheure  Unterbrechung  des 
stetigen  Kulturganges",  eine  Zeit  vollständiger  kultureller  Dürre, 
eine  schwere  Krankheit; 

...  ein  längeres  Verweilen  in  Kunst  und  Poesie  des  Mittelalters  ist  be- 
ängstigend wie  der  Fackelqualm  einer  Tropfsteinhöhle,  und  man  atmet 
wieder  auf,  man  begrüßt  den  Tag,  wenn  man  zu  den  Griechen  sich  flüchtet 
und  dort,  im  Scheine  der  Sonne,  mit  befreundeten  Gestalten  ewiger  Men- 
schenwahrheit verkehren  darf. 

Der  „Zeugungsmoment  für  die  neuere  Kultur"  waren  jene  wenigen 
Wochen,  da  Petrarca  in  Avignon  andächtig  zu  Füßen  des  vaga- 
bundierenden griechisch-calabresischen  Mönches  von  der  Regel  des 
heiligen  Basilius  saß  und  etwelche  dürftige  Kenntnisse  der  griechi- 
schen Sprache  erhaschte,  die  ihn  nach  seinem  eigenen  Geständ- 
nis wie  durch  eine  Spalte  einige  Augenblicke  das  ersehnte  Licht 
sehen  ließen.  Aber  der  Humanismus  wurde  durch  seitliche  Strö- 
mungen vom  geraden  Weg  abgetrieben:  lutherische  Dogmatlk, 
„in  keinem  Punkte  freisinniger,  in  mehf  als  einem  naturwidriger 

365 


als  die  katholische",  und  gedankenarme  philologische  Schnüffelei 
entfremdeten  den  modernen  Menschenden  Idealen  der  antiken  Welt. 
Erst  das  große  achtzehnte  Jahrhundert  brachte  den  Deutschen 
durch  Goethe  die  Erfüllung  der  humanistischen  Zukunftshoffnung: 
„die  innere  Freiheit  und  Schönheit  des  Gemütes". 

In  Italien  ist  Goethe  zum  Bewusstsein  seiner  selbst  erwacht; 
aber  Italien  hat  Goethe   nicht  geschaffen:   es   hat   nur  ins  Licht 
der  reinen  Form  gehoben,  was  die  südwestdeutsche  Heimat,  das 
Volk,  dem  er  entstammte,  in  ihn  gelegt  hatte,    Dass  der  Kultur- 
wert   einer    menschlichen    Gesellschaft    durch    anthropologische 
Faktoren  bestimmt  sein  müsse,  das  war  Hehn  bei  der  Musterung 
des  sizilischen  Völkerchaos  aufgedämmert;   der  erste  Aufsatz  der 
„Gedanken  über  Goethe"  unternimmt  als  früher  Vorläufer  einer 
in  unsern  Tagen  erscheinenden  Literaturgeschichte  der  deutschen 
Stämme  und  Landschaften  weitausholend  das  Wagnis,    diese  Be- 
trachtungsweise auch  für  das  Studium  der  dichterischen  Persön- 
lichkeit fruchtbar  zu  machen.  Nur  vom  heitern  Südwesten  Deutsch- 
lands, nicht  vom  starren,  düstern  Nordosten  konnte  der  Genius 
ausgehen,    durch    den   „nach    so   langer  Verödung   der   auf   der 
Nation  liegende  Bann  sich  lösen"  sollte  —  weder  scharfer  kriti- 
scher Verstand,    noch  heldenmütige  Mannestat  war  da  vonnöten, 
sondern  „die  Naturkraft   der    Phantasie    und    der   Adel    und    die 
Schönheit   der   Form".    Scharf  standen   sich    um    die  Mitte   des 
achtzehnten    Jahrhunderts    der    Norden    und    Süden    gegenüber. 
Preußen    war   ein  Militär-    und    Beamtenstaat   geworden,    dessen 
komplizierte  Maschinerie  tadellos  funktionierte;  aber  einen  großen 
Dichter  konnte  dieses  unendlich   praktische  Staatswesen  ebenso- 
wenig hervorbringen  wie  Österreich,  wo  ein  fanatisches  Priester- 
tum  die  reichen  poetischen  Kräfte  des  Volkes  ertötete.     Im  süd- 
westlichen   Mitteldeutschland     dagegen     herrschte     Individualität, 
Wachstum,  Geistesfreiheit,  gut  bürgerliche  Behaglichkeit,  beschau- 
liche Sitteneinfalt;   aus  dem   nahen  Frankreich  kam,  wohl  empi- 
fangen,  die  zierliche  Kleidermode  herübergetänzelt,  und  der  Gott 
des  Weines  und  der  rauschenden  Fröhlichkeit  fand  hier  willigere 
Verehrer  als  Hermann  der  Cherusker.     Das  Schwert  zu  führen 
war   dieses   vergnügte  Völklein   allerdings   nicht   tauglich  —  der 
wehrhafte  Vogt  des  Nordens  schmiedete  später  dem  neuen  Reich 
die  Form,  aber  der  Südwesten  gab  ihm  den  humanen,  idealen  In- 

366 


halt  und  führte  das  politisch  abseits  stehende  Österreich  durch 
die  Literatur  dem  geistigen  Organismus  wieder  zu. 

Goethe  wurzelt  mit  seinem  ganzen  Wesen  in  der  fränkischen 
Heimat.  „Alle  Dichtungen  Goethes,"  sagt  Hehn  an  einer  be- 
rühmten Stelle  seiner  Schrift  über  .Hermann  und  Dorothea'  (S.  61) 
„sind  nur  später  aufschlagende  Blüten  seines  Main-  und  Rhein- 
aufenthaltes" ;  dem  Weimarer  Hofmann  ist  zu  Mute  wie  der  Linde, 
der  man  Äste  und  Gipfel  weggeschnitten,  dass  sie  neuen  Trieb 
kriege  (8.  Nov.  1777  an  Frau  von  Stein):  die  alten  Zweige  ver- 
dorren, der  neue  Trieb  bringt  Iphigenie,  Tasso,  Wilhelm  Meister, 
Hermann  und  Dorothea,  aber  stets  erfüllt  ihn  „die  Sehnsucht  nach 
der  Gunst  eines  sommerlichen  Himmels  und  einer  weicheren 
Landschaft"  — 

Warmes  Lüftchen,  weh'  heran, 
Wehe  uns  entgegen, 
Denn  du  hast  uns  wohl  getan 
Auf  den  Jugendwegen ! 

singt  eine  von  Riemer  den  Faust-Paralipomena  eingefügte  Strophe. 

Goethe  ist  das  Kind  eines  naturfrohen  Stammes;  daraus  er- 
klärt sich  seine  Naturphantasie,  die  Hehn  in  den  „Gedanken  über 
Goethe"  mit  feinster  Einfühlung  untersucht,  und  vor  allem  seine 
Neigung, 

...  in  idealen  Umrissen  die  beharrende  Naturgestalt  unseres  Geschlechtes, 
die  substantiellen  Lebensformen,  in  deren  Schöße  das  Subjekt  noch  uner- 
schlossen  ruht  .  .  . 

in  der  Dichtung  zu  bannen.  Die  menschliche  Gesellschaft  bleibt 
trotz  mannigfacher  äußerer  Schiebungen  „für  den,  der  das  Erste 
und  Allgemeine,  die  göttliche  Idee  schaut,  immer  ähnlich,  gleich- 
artig, ja  die  selbe",  und  die  ewigen,  typischen  Formen  des  mensch- 
lichen Daseins,  denen  er  mit  besonderer  Liebe  überall  nachspürt, 
findet  Hehn  in  Goethes  Schöpfungen  auf  Schritt  und  Tritt  in 
idealer  Läuterung  dargestellt:  das  Idyll  „Hermann  und  Dorothea" 
ist  ein  Hohelied  auf  die  Naturformen  des  Menschenlebens,  in 
der  ort-  und  zeitlosen,  rein  typischen  und  doch  wundervoll  an- 
schaulichen Elegie  „Alexis  und  Dora"  spiegelt  sich  nur  Ewig- 
menschliches, und  der  schwermütige  Wanderer  erwacht  im  Ge- 
spräch mit  der  Bäuerin  unter  den  Ulmen  aus  wertherischer  Ver- 
träumtheit zum  Bewusstsein,   dass   nur  die   alt-neue   Einfalt  des 

367 


menschlichen  Zusammenlebens  die  innere  Ruhe  sichere.  In  der 
Gegenwart  freilich,  seufzt  Hehn,  herrscht  statt  dessen  der  nervöse, 
mechanische  Amerii<anismus:  die  Eisenbahn  vernichtet  den  letzten 
Rest  heimatlicher  Gefühle,  der  Demokratismus  räumt  das  Haus 
aus,  statt  das  Erbe  der  Väter  zu  achten  und  zu  mehren,  die  Ma- 
schine verrichtet  die  Arbeit  der  menschlichen  Hand,  die  Frau  weiß 
mit  der  Spindel  nichts  mehr  anzufangen,  und  statt  wie  früher  mit 
der  Laute  singend  durch  den  Wald  zu  wandeln,  sitzt  das  Mädchen 
am  Klavier,  „einem  hässlichen,  unförmlichen  Kasten,  und  kehrt 
uns  den  Rücken". 

Doch  Goethe  ist  für  Hehn  nicht  bloß  der  objektivste  Dichter 

—  „die  innere  Unendlichkeit  des  Subjektes  hat  sich  aufgetan  und 
läutert  sich  zu  Schönheit  und  Adel",  und  Goethes  gereinigter 
Subjektivismus  offenbart  sich  nirgends  so  frei  wie  in  seiner  Lyrik, 
Wie  die  Charaktere  in  „Hermann  und  Dorothea"  Typen  und 
Individuen  zugleich  sind,  so  ist  Goethes  Lyrik  subjektiv  und  ob- 
jektiv: sie  ist  Goethes  Leben,  aber  zugleich  umspannt  sie  die 
Empfindungswelten  aller  Menschen,  so  dass  jeder  einzelne  in  ihr 
sein  eigenes  Erleben  zu  finden  glaubt  —  „nur  deutlicher  gestaltet 
und  milder  beleuchtet  und  aus  dem  trüben  Druck  der  Gegenwart 
in  die  besänftigende  Ferne  der  Phantasie  versetzt."  Goethes 
Dichtung  ist  wie  der  Mensch  —  Viktor  Hehns  Goethe!  —  reine 
organische  Natur;  das  Vulkanische,  Explosive  ist  ihr  fremd,  wie 
es  dem  Naturforscher  als  unästhetisch  zuwider  war.  Sie  ist  ideal, 
das  heißt,  sie  will  nie  für  bare  Wirklichkeit  gelten;  auch  „Dichtung 
und  Wahrheit"  ist  als  geschichtliches  Dokument  nur  dem  zugäng- 
lich, der  den  Weg  des  Dichters  vom  Tatsächlichen  zum  Idealen 
zurückzugehen  versteht;  Reales  und  Ideales  durchdringen  sich,  so 
dass  sich  nicht  entscheiden  lässt,  welches  von  beiden  mächtiger  ist. 

—  Zur  Innern  Harmonie  kommt  die  Melodik  der  Form,  für  die  Hehn 
ein  äußerst  feines  Ohr  hatte:  Goethes  Lieder  sind  nicht  auf  dem 
Papier  entstanden,  sie  sind  in  der  Seele  gesungen.  Reiche  Emp- 
findung birgt  auch  das  Volkslied,  aber  es  findet  den  adäquaten 
Ausdruck  nicht,  und  der  gute  Gedanke  geht  daher  oft  unter  der 
Roheit  der  Form  zugrunde. 

Still  und  klar  ist  für  Viktor  Hehn  Goethes  Lyrik;  das  romanti- 
sche Zwielicht  ist  ihr  ebenso  fremd  wie  die  unirdische  Sternen- 
sehnsucht Jean  Pauls  oder  der  geräuschvolle  Wortreichtum   und 

368 


die  mühsame,  nicht  vollständig  in  Form  umgesetzte  Reflexion 
von  Schillers  Gedankendichtung.  Erkältende  Reflexion  hat  im 
Bunde  mit  Kritik,  Reaktion,  Formlosigkeit  in  der  ersten  Hälfte 
des  neunzehnten  Jahrhunders  die  deutsche  Lyrik  zersetzt,  und 
selbst  die  Jungen  —  Hehn  schrieb  das  im  Jahr  1848!  —  ver- 
mögen das  misshandelte  deutsche  Lied  nicht  mehr  zu  erwecken: 
weder  der  frivole  Heine,  der  jede  feinere  Stimmung  selbst  immer 
wieder  roh  vernichtet,  noch  der  „stille  und  sinnvolle  Eduard 
Mörike",  ein  einsamer,  „ländlicher  Buchfink",  noch  der  „phantasie- 
reiche Gottfried  Keller". 

An  dieser  Überzeugung  hat  Hehn  zeit  seines  Lebens  festge- 
halten. Goethe  bleibt  für  ihn  der  deutsche  Dichter;  Goethes 
Dichtung  allein  ist  für  ihn  Natur,  Kunst,  Inhalt  und  Form  in 
harmonischer  Durchdringung.  Goethe  ist  ihm  die  wahre  Erfüllung 
des  hellenischen  Ideals:  Naturwesen  und  geistiges  Wesen  sind 
eins,  das  Sinnliche  ist  nicht  brutal  verdrängt,  sondern  es  erscheint 
„zur  Schönheit  verklärt  und  in  freiem  Bunde  mit  dem  Sittlichen" 
—  da  hat  der  Mensch  mit  seiner  Qual  Seelenlust  und  Sinnen- 
genuss  noch  nicht  feindlich  geschieden.  —  Süddeutsche  Wirklich- 
keitsfreude, geläutert  durch  den  „großartigen  Ernst  der  antiken 
Ethik"  und  die  „alles  ausgleichende  Ruhe"  der  Spinozistischen 
Weltanschauung,  genialer  Schöpferdrang,  über  den  Resten  heiliger 
Vergangenheit  zurückgeführt  zum   Frieden   der  Form  —  das  ist 

Viktor  Hehns  Goethe. 

*  ♦ 

* 

Italien  und  Goethe!  das  sind  die  einzigen  Säulen,  worauf 
die  geistige  Existenz  des  gereiften  Hehn  ruht.  Langsam  ist  im 
Lauf  der  Jahre  alles  andere  von  ihm  herabgeglitten;  die  jugend- 
liche Begeisterung  für  das  romantische  Mittelalter,  für  Frankreich, 
für  den  Konstitutionalismus  ist  verrauscht,  und  grollend  wendet 
er  der  Gegenwart  den  Rücken,  die  ihn  geräuschvoll  umbrandet. 
Über  ein  Jahrhundert  hinweg  reicht  er  J.  J.  Winckelmann  die  Hand: 
die  edle  Einfah  und  stille  Größe  der  Antike,  wie  sie  sich  seinem 
Auge  darstellt,  schließt  alle  wahre  Kultur  in  sich.  Nur  Goethe 
hat  die  innere  Harmonie  des  antiken  Menschen  wieder  erreicht; 
er  ist  ihm  der  Weg  und  die  Wahrheit  und  das  Leben;  jeglicher 
Bildung  unserer  Zeit  weist  sein  Werk  und  seine  Entwicklung 
das  Ziel. 

369 


Wo  Goethes  Iphigenie  schon  ist,  dort  liegt  das  Ziel  der  Altertums- 
studien, zu  dem  ihre  gelehrten  Forschungen  nur  Mittel  sind:  das  Altertum, 
seine  humane  Einheit  und  Kalokagathie  (das  Schön-  und  Gutsein)  für  unser 
zwar  vertieftes,  aber  auch  unseliges  und  zerrissenes  Leben  wieder  zu 
gewinnen. 

Eng  scheint  der  Kreis  zu  sein,  in  den  sich  Viktor  Hehns 
ganzes  Dasein  zurückzieht;  das  Heute  hat  keinen  Raum  darin, 
aber  dafür  liegen  Jahrtausende  offen  vor  seinem  Blick,  und  seine 
Brust  fasst  den  ganzen  überschwänglichen  Reichtum  des  Menschen- 
herzens. —  Wer,  wie  Viktor  Hehn,  in  Goethes  Welt  oder  wenig- 
stens in  der  größten  ihrer  Provinzen  Heimatrecht  erworben,  der 
darf  sich  den  Luxus  jenes  durchgeistigten  zeitlosen  Epikuräismus 
leisten,  dem  der  selbe  Goethe  die  Melodie  seines  Verses  geliehen : 

Selig,  wer  sich  vor  der  Welt 

Ohne  Hass  verschließt, 

Einen  Freund  am  Busen  hält 

Und  mit  dem  genießt, 

Was,  von  Menschen  nicht  gewusst, 

Oder  nicht  bedacht. 

Durch  das  Labyrinth  der  Brust 

Wandelt  in  der  Nacht. 

ZÜRICH  MAX  ZOLLINGER 

DDO 


DIE  INTERNATIONALE  KUNST- 
AUSSTELLUNG IN  MÜNCHEN 

Schwer  ist  es,  in  die  drei  ein  halb  tausend  Kunstwerke,  die 
dieses  Jahr  im  Münchener  Glaspalast  ausgestellt  sind,  Sinn  und 
Ordnung  zu  bringen;  Erinnerungen  und  Eindrücke  jagen  sich 
wild  und  wollen  sich  nicht  kristallisieren.  Nur  eine  dieser  Erinne- 
rungen überwiegt:  dass  man  jedesmal  diesen  Bazar  unbefriedigt 
verließ,  mit  dem  Bedürfnis  nach  einem  starken  Eindruck.  Und 
den  fand  man  am  ehesten  noch  beim  Kunsthändler;  bei  Heine- 
mann vor  dem  segnenden  Christus  von  Eduard  Manet,  bei  Thann- 
hauser  vor  „Le  meunier,  son  fils  et  Täne"  von  Hodler  und  ein 
paar  Leibl-Bildnissen. 


370 


Nicht  nur  für  den  Schweizer,  sondern  für  jeden,  der  die 
Entwici<lung  moderner  Kunst  mit  Aufmeil<samkeit  verfolgt,  dürften 
die  beiden  Schweizer  Säle  am  anziehendsten  wirken.  Wie  denn 
überhaupt  dies  ein  Jahr  der  Ankündigung  von  Reife  und  Aner- 
kennung für  unsere  junge  Schweizer  Malerei  bedeutet.  In  den 
Blauen  Büchern  des  Verlags  Karl  Robert  Langewiesche  hat  Hans 
Graber  einen  Band  über  „Schweizer  Maler"  herausgegeben,  der 
der  deutschen  Kulturwelt  in  billiger  Volksausgabe  gegen  hundert 
Werke  von  Schweizer  Malern  in  guter  Reproduktion  vorführt.  In 
Wiesbaden  hängt  gegenwärtig  eine  sehr  fein  zusammengestellte 
Ausstellung  von  Schweizern  und  auf  der  Leipziger  Jahressausteilung 
(im  Innern  der  nur  lau  zu  empfehlenden  internationalen  Bau- 
fachausstellung) sind  die  Schweizer  besser  und  zahlreicher  ver- 
treten als  irgend  ein  Teil  Deutschlands  oder  ein  ausländischer  Staat. 

In  dieser  Zeit  des  beginnenden  Erfolges  wird  nun  nicht  im 
Ausland  sondern  im  eigenen  Lande  gegen  diese  junge  Schweizer 
Kunst  Sturm  gelaufen ;  in  allen  möglichen  Blättern  und  Blättchen, 
aber  immer  von  Luzern  aus.  Es  soll  der  Anschein  erweckt  werden, 
es  sei  eine  große  Zahl  von  Gegnern  vorhanden;  es  stecken  aber 
immer  die  selben  dahinter,  die  Luzerner  J.  C.  Kaufmann  und 
H.  Bachmann.  Diese  Leute  möchten  sich  als  „Schule"  hinstellen, 
die  man  vernachlässige;  es  wird  sich  aber  auf  der  ganzen  Welt 
kein  angesehener  Meister  irgend  einer  Schule  finden,  der  die  Bilder 
dieser  beiden  nicht  für  minderwertig  und  dilettantenhaft  er- 
klärt; es  handelt  sich  hier  überhaupt  nicht  um  Künstler,  sondern 
um  Leute,  die  bei  ausländischen  Gesandten  gegen  die  neue 
Schweizer  Kunst  intrigieren  müssen,  um  für  ihre  Ware  Absatz  zu 
suchen.  Vor  jeder  guten  Kunst  ist  ihnen  bange;  darum  stänkern 
sie  auch  gegen  das  ganz  vorzügliche  Wandbild,  das  P.  T.  Robert 
für  eine  neue  Luzerner  Kirche  gemalt  hat  und  schreien  nach 
dessen  Entfernung.  Die  Hetze  richtet  sich  besonders  gegen  Hodler, 
und  da  man  keine  überzeugenden  Gründe  gegen  seine  Kunst 
vorzubringen  weiß,  verdächtigt  man  in  edelster  Weise  seinen 
Charakter.  Näher  sich  mit  diesen  Leuten  einzulassen  hat  keinen 
Zweck;  es  lag  mir  nur  daran,  festzustellen,  dass  es  sich  hier  nicht 
um  zwei  verschiedene  Auffassungen  der  Kunst  handelt,  sondern 
um  nicht  mehr  als  das  Bellen  von  Hunden,  wenn  der  Mond  auf- 
geht; dabei  bellt  ja  der  Mond  nicht  dawider  und  auch  der  Nacht- 

371 


Wächter  als  Vertreter  der  staatlichen  Ordnung  braucht  sich  nicht 
zu  beunruhigen. 

In  München  also  sind  die  Schweizer  gut  vertreten,  aber 
immerhin  nicht  so  gut  wie  sie  es  sein  könnten.  Mancher  unserer 
ersten  Künstler,  von  dem  man  in  den  letzten  Jahren  ausgezeich- 
nete Werke  sah,  hat  dort  nur  ein  paar  schlecht  gerahmte  Zufalls- 
bildchen hängen,  die  ihn  nicht  zur  Geltung  bringen.  Es  wäre 
ein  Leichtes  gewesen,  lauter  Bilder  von  wirklicher  Durschlags- 
kraft in  München  zu  vereinigen.  Das  Verfahren  der  Kunstkom- 
mission bei  der  Zusammenstellung  der  Ausstellung  trägt  wohl  die 
Schuld  daran,  dass  es  nicht  gelang.  Wenn  man  die  Künstler  um 
Einsendung  von  Bildern  ersucht,  läuft  man  immer  Gefahr,  dass 
sie  eher  schicken,  was  sie  zu  verkaufen  hoffen,  als  was  das  Land 
gut  repräsentiert.  Würden  sich  die  Mitglieder  der  Kunstkom- 
mission bei  unsern  Ausstellungen  im  Lande,  bei  Atelierbesuchen 
und  bei  Kunsthändlern  aufschreiben,  was  Bestes  bei  uns  gemalt 
wird,  und  daraus  ganz  im  Stillen  die  Auswahl  treffen,  so  würde 
man  niemand  durch  Rückweisung  verletzen,  würde  nicht  gewär- 
tigen, dass  eigenartige  Künstler,  wie  hier  Blanchet  und  Augusto 
Giacometti,  gar  nicht  vertreten  sind,  und  dabei  die  Unsumme 
Geldes  sparen,  die  mit  Umhersenden  von  Kunstwerken  im  ganzen 
Lande  verloren  geht.  Eine  solche  Vertretung  der  Schweiz  könnte 
von  lange  her  vorbereitet  sein  und  würde  die  Zufälligkeiten  des 
heutigen  Verfahrens  ausschalten ;  nur  so  wäre  die  Möglichkeit  ge- 
boten, wirklich  das  Beste  vom  Besten,  nicht  nur  aus  der  letzten 
Ernte,  sondern  aus  dem  Schaffen  einer  Reihe  von  Jahren  zusam- 
menzubringen. Die  andern  Staaten  verfahren  jedenfalls  nicht  so 
zimperlich  wie  wir;  manche  haben  ihre  besten  Bilder  von  der  Inter- 
nationalen in  Rom  ohne  Zaudern  wieder  in  München  aufgehängt. 
Der  Künstler  möge  aber  bedenken,  wenn  er  auf  einer  solchen 
Ausstellung  gar  nicht  oder  nicht  durch  das  Bild,  das  er  gerade 
gerne  verkaufen  möchte,  vertreten  ist,  dass  es  sich  hier  nicht  um 
seine  Person,  sondern  um  eine  möglichst  gute  Vertretung  des 
Kunstschaffens  der  Schweiz  handelt,  und  dass  es  sein  mittelbarer 
großer  Vorteil  ist,  wenn  das  allgemeine  Urteil  über  deren  Kunst 
gut  ausfällt. 

-:      Einen  Teil   des  ersparten  Geldes  —  es  ist  ja   nur  ein  Teil 
dazu  erforderlich  —  verwende  man  zur  bessern  Toilette  der  Bilder. 

372 


Es  ist  einfach  betrübend,  was  für  vorzügliche  Bilder  ihre  Wirkung 
dadurch  einbüßen,  dass  sie  statt  mit  einem  schmückenden  und 
zusammenfassenden  Rahmen  mit  den  landesüblichen  vier  Gips- 
latten zusammengezimmert  sind.  Dass  unsere  Zollverhältnisse 
für  Rahmen  unserem  Kunstmarkt  und  unserer  Kunst  fast  den 
Hals  abdrehen,  betrifft  ja  gerade  die  Ausstellungen  im  Ausland 
am  wenigsten;  da  könnte  man  irgendwo  draußen  eine  Anzahl 
guter  Rahmen  aufstapeln  und  jeweils  für  die  internationalen  Aus- 
stellungen wieder  verwenden.  Jedenfalls  beweist  gerade  die  Wies- 
badener Ausstellung,  die  vorher  einen  Tag  im  Kunstsalon  Wolfs- 
berg in  Zürich  sichtbar  war,  dass  auch  von  Malern  zweiten  Ranges 
manche  Bilder,  die  einem  in  ihren  Gipslatten  gerade  recht  für  eine 
kleine  bürgerliche  Stube  vorkamen,  in  einem  schön  profilierten 
Rahmen,  je  nach  der  Art  des  Bildes  auch  unter  Glas,  sich  nun  plötzlich 
für  ein  raffiniertes  Prunkgemach  bestimmt  zeigten.  Unsere 
Künstler  sollen  dem  Ausland  nicht  als  brave  Maler  aber  arme 
und  etwas  unzivilisierte  Teufel  erscheinen;  eine  gewisse  Literatur 
tut  soviel  dafür,  uns  als  ein  Volk  von  Käsebauern  zu  zeichnen, 
dass  wenigstens  das  äußere  Gewand  unserer  Kunstausstellungen 
bei  einem  denkenden  Betrachter  das  Gefühl  erwecken  sollte,  es 
gebe  bei  uns  noch  andere  Leute  als  Sennen  und  Hotelwirte,  es 
gebe  eine  schweizerische  Kultur.  Trotzdem  die  Münchener  Aus- 
stellung nicht  schlecht  und  namentlich  nicht  zu  eng  gehängt  ist: 
Gehe  hin  zu  dem  Österreicher  und  lerne  von  ihm,  wie  man  eine 
Kunstschau  einrichtet! 

Die  deutschen  Zeitungen  und  die  oberflächlichen  Ausstellungs- 
besucher behaupten  natürlich  um  die  Wette,  die  Schweizer  Künstler 
seien  alle  Planeten,  die  sich  um  die  Sonne  Hodler  drehen.  Was 
aber  unsere  Maler  vereinigt,  ist  im  Grunde  nur  die  Verschieden- 
heit von  allen  offiziellen  Schulen,  die  bei  den  internationalen 
Ausstellungen  ja  immer  vorwiegen.  Und  dann  bilden  die  helle 
Farbenskala,  das  Streben  nach  einfacher,  großer  Komposition  und 
die  Abwesenheit  alles  Genrehaften  ein  geistiges  Band  unter  den 
Schweizern.  Wenn  aber  ein  Künstler  nicht  so  viel  von  Hodler 
gelernt  hätte,  so  täte  er  mir  wirklich  leid.  Im  übrigen  aber  ist  die 
Schweiz  das  Land  des  ausgesprochenen  Individualismus;  kein 
anderes  kommt  ihr  darin  gleich.  Wo  ist  das  Land,  das  heute 
so  viel  ausgesprochene  Künstlertypen,  die  von  jeder  Angleichung, 

373 


jedem  Kompromiss  frei  sind,  aufzuweisen  hat,  wie  wir  mit  Hodler, 
Amiet,  den  beiden  Giacometti,  Buri,  Trachsel,  P.  T.  Robert,  Vallet, 
Boß,  Blanchet,  de  Meuron,  Forestier,  Bieler,  Hugonnet,  Emmen- 
egger,  Itschner,  Meyer-Basel,  Lehmann?  Gruppen  haben  wir  nur 
zwei,  die  eine  gewisse  Ähnh'chkeit  unter  sich  haben,  die  Berner 
mit  Cardinaux  an  der  Spitze  und  Prochaska,  Senn,  Brack,  Geiger 
und  andern  im  Gefolge,  die  jungen  Basler  mit  Barth  als  Führer 
und  H.  Müller,  Fiechter  und  Numa  Donze  als  Begleitern.  Aber 
da  auch  auf  der  ganzen  Linie  eigene  Art,  eigene  Gesichter,  neue 
und  persönliche  Probleme. 

Gerade  diese  persönliche  Art  lässt  in  einer  großen  Kunst- 
schau die  Bilder  der  Schweizer  erfrischend  wie  ein  Trunk  kühlen 
Wassers  an  einem  heißen  Tage  wirken.  Ein  Glück  für  uns,  dass 
es  heute  einen  Kubismus  und  Futurismus  gibt,  die  mit  ihrer  Pflege 
des  Absonderlichen  allem,  was  früher  als  absonderlich  erschien, 
den  Stempel  des  Vernünftigen  und  Maßvollen  aufgedrückt  haben. 
Dadurch  ist  unsere  Kunst  im  Urteil  der  Leute  der  mittleren  Linie 
nahe  gerückt,  ohne  dass  sie  eine  Konzession  zu  machen  brauchte. 

Auch  die  Bildhauerei  der  Schweiz  erscheint  in  München  aller 
Ehren  wert.  Als  bedeutendste  Persönlichkeit  zeigt  sich  hier  der 
kurz  vor  Eröffnung  der  Ausstellung  in  München,  wo  er  zur  Auf- 
stellung seiner  Werke  verweilte,  verstorbene  Rodo  von  Nieder- 
häusern. Er  war  ein  Schüler  Rodins  und  strebte  wie  dieser  nicht 
nach  einem  starr  architektonischen  Steinstil,  sondern  nach  Aus- 
druck seelischen  Lebens  in  einem  dehnbaren  Stoff,  der  die  un- 
mittelbare Wirkung  der  Hand  zeigt.  Er  war  voll  großer  Pläne 
und  ist  mitten  aus  den  kühnsten  Entwürfen  herausgerissen  wor- 
den. Der  bedeutendste  davon  war  ein  Tempel  der  Melancholie,  dessen 
Fragmente  die  drei  Steinreliefs  in  München,  Adam  und  Eva, 
Melancholie  und  Das  verlorene  Paradies  sind.  Namentlich  der 
Kopf  Luzifers,  in  der  seltsamsten  Mischung  teuflischer  und  engel- 
hafter Züge  gehalten,  ist  von  einem  so  berückenden  Ausdruck, 
dass  man  ohne  Scheu  Michelangelo  zum  Vergleich  heranziehen 
darf.  Heulen  möchte  man  vor  diesen  Werken,  wenn  man  be- 
denkt, dass  von  einem  solchen  Künstler  kein  Denkmal  eine  Stadt 
der  Schweiz  schmückt,  während  die  trostlose  Mittelmäßigkeit 
unter  offiziellem  Schutz  überall  eine  Stelle  fand,  um  ihre  Eier 
hinzulegen.  —  Auch  Zimmermann  ist  durch  seine  schreitende  Frau 

374 


vorzüglich,  Haller  dagegen,  dem  er  sich  sichtlich  nähert,  gar 
nicht  vertreten.  Von  Albert  Angst  sind  die  prächtige  Darstellung 
einer  Mutter  mit  Kinder  und  Der  erste  Schritt  schon  von  frühe- 
ren Ausstellungen  her  in  bester  Erinnerung. 

Wer  sich  auch  um  schweizerische  Graphik  kümmert,  muss 
sich  im  zweiten  Stock  durch  zwei  Säle  mit  gemeinstem  inter- 
nationalem Kitt  durchschlagen,  dem  keine  Jury  geblüht  zu  haben 
scheint,  und  findet  sie  dann,  untermischt  mit  Erzeugnissen,  die 
wenig  zu  ihr  passen,  in  dem  verborgensten  Gelass  der  ganzen 
Ausstellung.  Hier  sind  namentlich  die  Lithographien  und  Lino- 
leumschnitte von  Otto  Baumberger  aus  Zürich  als  gelungene  Ver- 
suche eines  neuen  starken  graphischen  Stils  zu  verzeichnen.  Da- 
neben Karl  Hänny,  Marie  Stiefel,  Franz  Gehri :  wie  bei  der  Malerei, 
so  viel  Namen,  so  viel  eigene  Typen. 


Die  alte  gute  Malkultur  mit  ihrer  stetigen  Entwicklung  ohne 
Rückschlag  zeigen  wiederum  die  Franzosen.  Und  zwar  sind  sie  dies- 
mal weniger  durch  glatte  Akademiker  und  Ausstellungsreißer  ver- 
treten als  andere  Jahre.  Degas  und  Renoir,  diejenigen  unter 
den  Impressionisten,  die  von  jeher  am  wenigsten  in  die  impres- 
sionistische Formel  passten,  zeigen  in  großen  Kohlenzeichnungen 
ihre  Beherrschung  von  Form  und  Komposition.  Daneben  kommt 
besonders  die  Gruppe  zur  Geltung,  die  sich  um  unsern  Lands- 
mann Vallotton  schart  und  die  von  den  Genannten  geübten  Grund- 
sätze weiter  ausbildet:  Vuillard,  Bonnard,  Prinet,  Marquet,  Andre. 
Die  zahlreichsten  Bilder  weisen  der  glänzende,  mondäne  Kolorist 
Lucien  Simon  und  der  Karikaturenzeichner  Forain  auf  mit  allerlei 
flotten,  präzis  charakterisierten  Momentaufnahmen  mit  Pinsel  und 
Stift.  Wären  alle  Säle  wie  die  der  Franzosen,  es  wäre  ein  Genuss, 
sich  in  der  Ausstellung  aufzuhalten. 

Die  deutsche  Malerei  bedeutet  für  München  natürlich  die 
Münchener  Malerei,  und  es  wäre  kein  Zweifel,  dass  dabei  etwas 
recht  Gutes  herauskommen  könnte,  wenn  man  sich  alle  Mittel- 
mäßigen und  Schlechtem  scharf  vom  Leibe  hielte.  Defregger  und 
Gabriel  Max  —  man  weiß  bei  diesen  Leuten  nie  recht,  ob  sie 
leben  oder  tot  sind  —  dürften  sich  längst  auf  ihren  Lorbeeren 

375 


ausruhen;  ob  Papperitz  einmal  gute  Bilder  gemalt  hat,  weiß  ich 
nicht,  jedenfalls  gehören  die  auf  der  Ausstellung  nicht  dazu.  Eine 
tanzende  Salome  von  Ritzberger  gehört  an  eine  Marktbude  und 
nicht  in  eine  Kunstausstellung  gehängt;  Wimmer,  Rienäcker,  Raupp, 
der  Katzen-Adam,  Langenmantel  machen  alle  einen  recht  problem- 
losen und  langweiligen  Eindruck.  Allzuleicht  ist  man  in  München 
von  künstlerischen  Dingen  befriedigt,  allzuleicht  werden  dort  talen- 
tierte Leute  zu  Bilderfabrikanten;  man  denke  nur  an  die  ganze 
verhockte  und  aussichtslose  Gruppe,  die  sich  um  die  Zeitschrift 
Jugend  und  den  Kunstsalon  Brackl  schart;  man  denke  an  gewisse 
Schweizer,  die  in  München  zu  raschen  Erfolgen  und  dann  zu 
rascher  Bedeutungslosigkeit  sanken;  man  denke,  wie  Stuck  und 
Habermann,  die  einst  Großes  versprachen,  schon  lang  dürre  Äste 
geworden  sind,  während  französische  Meister  in  hohem  Greisen- 
alter stets  wieder  einen  neuen  Lenz  und  neue  Sprossen  aufzeigen. 
Junge  Maler,  die  zu  ihrer  Ausbildung  nach  München  reisen  wollen, 
sollten  sich  das  vorher  gründlich  überlegen ;  jedenfalls  sollten  sie 
dieser  betrübenden  Tatsachen  stets  eingedenk  sein. 

Damit  sei  nicht  gesagt,  dass  es  in  München  an  tüchtigen 
Künstlern  fehle.  Die  Landschaften  von  Toni  Stadler  sind  stets 
ein  Hochgenuss  für  Feinschmecker  mit  ihrem  Anschein  von  Pa- 
tina; Albert  von  Keller  ist  besonders  in  seinen  Studien  von  einer 
farbigen  Eleganz,  die  an  gute  Franzosen  gemahnt;  Josse  Goossens 
malt  die  lustigen  Farbenflecken  auf  seinen  Festwiesen  mit  ent- 
zückender Frische;  Hermann  Gröber  ist  der  Akademieprofessor 
mit  dem  vollendeten  Können.  Und  so  ist  noch  sehr  viel  Gutes 
bei  diesen  Münchnern  zu  finden  —  die  religiösen  Bilder  von  Karl 
Caspar  möchte  ich  nicht  unerwähnt  lassen,  auch  nicht  den  braven 
Leibl  -  Imitator  Walter  Thor,  auch  nicht  Julius  Hess,  der  Karl 
Schuch  so  viel  Gutes  abgeschaut  hat.  Und  obwohl  Schwabing 
und  alles,  was  nach  Kunstrevolution  riecht,  aus  dem  Glaspalast 
streng  ausgeschlossen  ist  (ä  propos:  die  Juryfreie,  die  gerade 
daneben  liegt,  ist,  abgesehen  von  ein  paar  Bildern  eines  ge- 
wissen H.  Stenner,  das  Markl  Eintritt  nicht  wert),  zeigt  sich 
in  Carl  Schwalbach  mit  seinen  sichern  Kompositionen,  die 
zwar  Greco-  und  Cezannestudien  nicht  verleugnen  können,  und 
in  Leopold  Durm  die  Hoffnung  auf  eine  Erneuerung  auch  des 
offiziellen  Münchener  Kunstlebens.   (Merke  wohl:  die  Münchener 

376 


Künstlervereine:  Genossenschaft,  Sezession,  Luipoldgruppe  und 
wie  sie  alle  heißen,  scharen  sich  heute  nicht  mehr  um  Grundsatz 
und  Glauben,  sondern  alle  umfassen  Kitscher  und  Könner  ver- 
schiedenster Richtung.) 

Die  übrigen  Völker  des  Kontinents  zeigen  sich  wie  auf  allen 
internationalen  Ausstellungen:  die  Holländer  und  Belgier  weise 
und  vernünftig,  die  Ungarn  und  Russen  oft  von  naturwüchsigem 
Gewittertemperament,  die  Italiener  von  eleganter  Weichheit,  die 
Schweden  oft  als  prachtvolle  Porträtisten.  Aber  fast  alle  Völker 
haben  die  Gepflogenheit,  jene  Kunst,  die  man  auf  einer  inter- 
nationalen Ausstellung  gerade  gern  sehen  möchte,  wohlweislich 
zu  Hause  zu  lassen. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 

□  DD 

LE  SALON  GENEVOIS 

On  a  longtemps  reproche  ä  la  peinture  sulsse  de  cultiver  trop  exclu- 
sivement,  avec  le  paysage,  le  paysage  alpestre  surtout,  cette  forme  de  sen- 
sibilite  qui  unit,  en  les  affadissant,  l'amour  de  la  nature  et  le  culte  de  la 
patrie.  „Les  Alpes  sont  ä  nous"  disaient  les  peintres  en  multipliant  sans 
se  lasser  les  cimes  de  neige  et  les  pics  sourcilleux.  Et  les  membres  des 
Clubs  alpins  comprenaient  tous  la  peinture. 

Le  temps  est  bien  passe  de  cet  helvetisme  superficiel;  nos  jeunes 
peintres  d'aujourd'hui,  peut-etre  plus  directement  influences  par  Paris  et 
par  Munich,  se  livrent  sans  retenue  aux  jeux  les  plus  oses  de  la  ligne  et 
de  la  couleur.  Foin  du  tableau,  du  sujet!  La  peinture  sera  decorative  ou 
ne  sera  pas.  Pour  beaucoup  d'entre  eux,  assurement,  cette  evolution  n'a 
ete  qu'un  changement  de  servitude.  Faute  d'une  discipline  acceptee,  d'un 
dessein  bien  arrete,  ils  se  perdent  dans  les  recherches  deliquescentes,  et, 
pour  avoir  lu  Baudelaire,  ils  se  decouvrent  un  esprit  capable  de  toutes  les  auda- 
ces.  De  lä  cette  crise  de  sensualite,  cette  ivresse  artificielle,  dont  ceux  qui 
possedent  vraiment  quelque  richesse  Interieure  sortiront  fortifies  et  as- 
souplis. 

L'exposition  des  peintres  genevois  au  musee  Rath  nous  renseigne 
assez  exactement  sur  cet  etat  d'esprit,  car,  ä  cote  de  quelques  artistes 
complets,  qui  suivent  leur  chemin  solitaire,  ä  cote  des  impuissants  qui  ne 
nous  apportent  que  des  redites,  eile  fait  une  place  convenable  aux  jeunes, 
aux  temperaments  en  voie  d'organisation. 

De  la  toile  vierge,  prete  ä  recevoir  l'oeuvre,  des  couleurs,  tout  le  cla- 
vierdes  couleurs  aux  infinies  ressources  et,  autourde  soi,  les  aspects  innom- 
brables  de  la  vie  pour  feconder  l'imagination  creatrice:  qui  ne  voudrait 
etre  peintre?  Oui,  mais,  des  les  premiers  pas,  les  angoisses  du  talent  qui 
cherche  sa  voie,  s'empetre  dans  le  maquis  des  formules  enseignees,  cher- 

377 


che,  dans  le  chaos  des  v^rites  contradictoires,  la  verite  qui  provisoirement 
le  soutlendra  et  desespere  de  trouver  Jamals  l'accent  juste  et  personnel 
qui  traduira  sans  equivoque  une  impression  intimement  ressentie.  Voilä  le 
drame  des  artistes  en  formation.  On  ne  saurait  des  lors  s'etonner  de  I'in- 
quietude  qui  visiblement  les  tourmente.  Cette  inquietude  est  plus  atta- 
chante  pour  le  spectateur  que  la  petite  habilete  satisfaite  qui  met  en  valeur 
—  en  valeurs  negociables  —  les  recettes  consacrees  par  un  long  usage. 

Que  cette  impatience  d'etre  soi  les  incline  ä  rechercher  l'etrange  et 
l'inattendu,  rien  de  plus  naturel  encore.  Seul  l'artiste  accompli  se  sentira 
la  force  de  transposer  en  beaute  les  spectacles  les  plus  familiers  de  la 
vie.  Ainsi  s'explique  la  predilection  des  Barraud,  des  Buchet,  des  Bressler 
pour  les  creatures  inquietantes  qui  peuplent  leurs  tableaux.  Mais  on  ne 
saurait  nier  les  qualites  dont  ils  fönt  preuve  dans  leurs  recherches. 

M.  Gustave  Barraud  interprete  avec  une  singuliere  habilete  les  aspects 
les  plus  imprevus  de  la  beaute  feminine.  Son  frere  Maurice  a  trouve  dans 
les  cabarets  de  nuit  la  matlere  d'observations  perspicaces.  Plus  forme  dejä, 
plus  conscient  de  ses  forces,  M.  Gustave  Buchet  detalUe,  en  des  pages 
bien  construites  et  d'un  coloris  pimente,  les  charmes  insolltes  de  ses  mo- 
deles.  M.  Emile  Bressler,  faute  d'un  peu  de  mesure  et  de  goüt,  apparait 
comme  un  caricaturiste  fourvoye  dans  les  recherches  decoratives.  Ses  com- 
positions,  d'un  caractere  bien  personnel  cependant,  manquent  d'unite.  Un 
temperament  de  premier  ordre  s'affirme  dans  les  figures  tourmentees  et 
les  dessins  curieusement  traites  de  M.  Th.  Bosshardt,  tandis  que  M.  Lucien 
Jaggi,  moins  obsede  par  la  hantise  de  l'inconnu,  se  Signale  par  des  essais 
d'une  juvenile  et  reposante  fraicheur. 

Apres  cette  courte  visite  aux  recrues,  passons  ä  ceux  de  leurs  atnes 
dont  les  envois  nous  paraissent  constituer  le  principal  attrait  de  cette  expo- 
sition.  Voici  deux  „fleuristes",  Hugonnet  et  Forestier,  deux  temperaments 
tres  proches  mais  deux  manieres  bien  differentes.  Decorateur  avant  tout, 
M.  Aloys  Hugonnet  compose  des  ensembles  d'une  savante  et  somptueuse 
harmonie.  Sa  peinture  est  un  hymne  ä  la  joie.  11  excelle  ä  mettre  en  valeur, 
par  un  ensemble  d'accords  precieux  et  justes,  la  chair  vivante  des  roses, 
le  joyeux  eclat  des  capucines  et  toutes  les  fleurs  de  tous  les  jardins.  L'art 
de  M.  Henry  Forestier,  moins  exterieur  peut-etre,  mais  non  moins  affine, 
tend  au  tableau  plus  qu'au  morceau  decoratif.  II  faut,  ä  y  reflechir,  une 
indeniable  maitrise  pour  se  permettre  une  teile  simplicite  de  moyens,  pour 
faire  d'un  bouquet  detaille  fleur  apres  fleur,  avec  application,  une  compo- 
sition  d'un  charme  tres  personnel  et  tres  prenant. 

M.  Abraham  Hermenjat  n'a  que  deux  tableaux  minuscules,  mais  oii 
l'on  retrouve  cette  vision  penetrante  et  reflechie,  ce  sens  profond  de  la 
beaute  qui  caracterisent  le  peintre  d'Aubonne.  Giovanni  Giacometti  expose 
deux  paysages  d'hiver  intensement  expressifs  et  des  paysans  hauts  en  cou- 
leur  qui  ne  fönt  pas  oublier  ses  oeuvres  precedentes. 

M.  Alexandre  Perrier  ne  descend  guere  de  la  petite  vallee  de  Savoie 
oü,  depuis  je  ne  sais  combien  de  temps,  il  a  plante  son  chevalet.  Et  rien 
ne  demontre  mieux  que  sa  peinture  la  vanite  des  voyages.  Un  artiste  sen- 
sible aux  variations  infinies  des  Saisons  et  des  heures  pourra,  sans  se 
repeter  jamais,  passer  sa  vie  devant  le  meme  horizon.  C'est  ainsi  que  le 
Praz  de  Lys,  sejour  d'election  de  M.  Perrier,  lui  a  inspire  tant  d'oeuvres 
fortes  et  seduisantes,  dont  la  variete  est  l'indice  d'une  sensibilite  exquise, 

378 


mürie  dans  la  contemplation  solitaire.  Au  moyen  de  petites  touches  effi- 
l^es,  qui  se  juxtaposent  et  s'entrecroisent  comme  les  fils  d'un  tissu,  M.  Per- 
rier  sait  rendre  les  nuances  les  plus  rares,  les  jeux  de  lumiere  les  plus 
subtils,  tout  ce  qui  passe  et  tout  ce  qui  vibre,  et  aussi  la  solide  architec- 
ture  d'un  paysage.  Une  impression  profonde  de  paix  et  de  force  vivante 
se  degage  de  sa  „Foret  un  soir  d'ete",  oeuvre  definitive  et  complete  d'un 
pur  artiste  en  pleine  possession  de  ses  moyens.  Ce  n'est  pas  une  foret, 
c'est  „la  foret"  qu'il  evoque,  avec  son  mystere  sacre  et  sa  poesie.  D'autres 
aspects  de  ce  talent  si  puissant  et  si  personnel  nous  sont  reveles  par  deux 
„visions  de  montagne"  d'une  noble  serenite. 

Les  paysages  de  M.  Henri  Duvoisin,  les  compositions  aimablement 
alanguies  de  M.  Otto  Vautier,  les  paysages  solidement  etablis  de  M.  Eugene 
Martin,  les  tableaux  de  MM.  Sylvestre,  Cacheux,  de  Traz,  W.  Muller, 
Ed.  Vallet,  sans  parier  du  tres  beau  portrait  de  femme,  vu  dejä  ä  Neu- 
chätel,  par  quoi  Hodler  fait  acte  de  presence,  tels  sont  encore  les  envois 
qui  nous  paraissent  donner  ä  cette  exposition  un  sens  et  un  caractere. 

L'exposition  posthume  des  oeuvres  de  P,  Pignolat,  le  bon  peintre  de 
la  campagne  genevoise,  a  ete  sans  doute  une  revelation  pour  la  plupart 
des  visiteurs.  Certes,  le  doux  Pignolat  ignorait  avec  serenite  les  recherches 
sans  peur,  les  violences  du  temps  present.  11  peignait  avec  amour  de  petits 
paysages  fins  et  lumineux.  Et  son  oeuvre  a  beaucoup  de  charme,  une  par- 
faite  distinction.  En  reunissant  sous  un  meme  toit  ses  peintures  et  Celles 
des  artistes  d'aujourd'hui,  les  organisateurs  de  l'exposition  ont  voulu  sans 
doute,  avec  infiniment  de  raison,  donner  ä  entendre  que  la  verite,  en  art, 
revet  les  apparences  les  plus  diverses,  que  les  formules  ne  sont  rien,  que 
toute  oeuvre  sincere  et  riebe  de  quelque  emotion  personnelle  merite  notre 
respect. 

Parmi  les  sculptures,  assez  nombreuses  et  fort  inegales  de  valeur, 
rien  ii'approche  en  perfection  les  figures  emouvantes  de  M.  Rodo  de  Nie- 
derhäusern. Le  torse  de  femme  intitule  „Offrande  ä  Bacchus"  est  un  mor- 
ceau  palpitant  de  vie,  d'une  souplesse  et  d'un  elan  magnifiques. 

LAUSANNE  PAUL  PERRET 

ana 
VOLLSTÄNDIGE  GESAMT-AUSQABEN 

Was  versteht  man  darunter?  Sämtliche  Werke  eines  Dichters  oder 
unverkürzte  einzelne  Werke?  Die  erstere  Auffassung  war  wohl  bisher  die 
allgemeine.    Hesse  in  Leipzig  belehrt  uns  aber  eines  andern. 

Dem  Weihnachtskatalog  der  schweizerischen  Buchhändler  ist  ein  Ver- 
zeichnis von  Hesses  Klassiker-Ausgaben  beigeheftet.  Ein  Stern  vor  dem 
Verfassernamen  sagt,  dass  des  Dichters  Werke  in  einer  vollständigen  Gesamt- 
Ausgabe  vorliegen.  Mein  Auge  fiel  gleich  auf  den  besternten,  von  Zoozmann 
übersetzten  und  herausgegebenen  „Dante".  Der  „ganze"  Dante  in  einem  Band 
für  Fr.  2.70.  Das  schien  mir  unerhört;  in  einer  enggedruckten  Florentiner- 
ausgabe umfasst  Alighieris  Werk  vier  umfangreiche  Bände.  In  einer  Buch- 
handlung verlangte  ich  Hesses*Dante  zur  Ansicht;  er  enthält  „Die  göttliche 
Komödie"  und  „Das  neue  Leben."    Wo  steht  aber  Dantes  „Canzoniere"? 

379 


Wo  seine  große  Schrift  „Das  Gastmahl"  (convito),  wo  sind  die  Abhandlungen 
über  die  Monarchie  und  die  Vulgärsprache:  wo  die  zahlreichen  kleineren 
Arbeiten  des  meist  genannten  Italieners?  Ich  finde  sie  nicht  in  der  obigen 
Ausgabe.  Wie  konnte  sie  also  der  Verlag  als  vollständige  Gesamt-Ausgabe 
bezeichnen?  Ich  weiß  es  nicht  und  möchte  auch  nicht  die  Ehrlichkeit  des 
Verlages  bezweifeln.  Man  erzählt  sich,  das  gründliche  deutsche  Volk  liebe 
Gesamtausgaben. 

Es  ist  möglich,  dass  sich  Richard  Zoozmann  in  einer  Vorrede  über 
den  von  mir  hier  gestreiften  Punkt  äußert;  vielleicht  ist  er  sogar  der  Mei- 
nung, Dantes  übrige  Werke  seien  veraltet  und  gehören  nicht  mehr  in  eine 
moderne  Ausgabe.  Obwohl  ich  Leute  kenne,  die  sich  auch  an  den  „opere 
minori"  des  Italieners  aufrichtig  erfreuen,  so  würde  ich  dem  Übersetzer 
nicht  Unrecht  geben.  Die  wenigen  Liebhaber  sollen  sich  alte  oder  Einzel- 
Drucke  anschaffen.  Aber  gilt  das,  was  eben  über  Dante  gesagt  wurde, 
nicht  auch  für  unsere  Klassiker?  (Es  muss  bemerkt  werden,  dass  deren 
Zahl  immer  größer  wird.  Die  deutsche  Dichtung  ist  einzig  in  der  Welt- 
literatur; sie  zählt  an  die  sechzig  Klassiker  und  diese  zum  mindesten 
dürfen  in  keinem  deutschen  Hause  fehlen.)  Da  stehen  diese  Klassiker  im 
Salon  oder  im  Studierzimmer  in  friedlicher  Harmonie,  sämtlich  gleich  ein- 
gebunden, in  schön  säuberlichen  oder  mit  dickem  Aschenstaub  belegten 
Bücherkästen,  und  von  Zeit  zu  Zeit  sagt  uns  das  Gewissen,  dass  ganz 
Goethe  ganz  Schiller,  ganz  ...  zu  den  Klassikern  gehören;  wir  durchblät- 
tern ein  paar  Bände  und  werden  zu  unserer  großen  Genugtuung  wieder 
daran  erinnert,  dass  Goethe  eine  Farbenlehre,  viele  Fragmente  und  einen 
Brief  geschrieben  hat,  in  dem  er  einen  Knaben  warnt,  Kastanien  zu  werfen, 
denn  dadurch  seien  schon  viele  Unglücksfälle  passiert.  Im  Ernst:  mit  den 
Gesamtausgaben  wird  ein  arger  Luxus  getrieben.  Wir  besitzen  die  Klassiker, 
aber  lesen  wir  sie  auch?  Ich  habe  schon  mancherorts  beobachtet:  Gesamt- 
ausgaben durchblättert  man  gleich  nach  dem  Ankauf,  liest  ein  paar  Stücke 
und  lässt  alles  übrige  unbenutzt.  Wäre  es  nicht  vernünftiger,  sich  die  Werke 
—  selbst  die  Klassiker  —  einzeln  anzuschaffen,  eben  gerade,  wenn  sie 
einen  interessieren?  Damit  würde  viel  Platz  gespart.  Man  würde  eine 
weniger  umfangreiche  Bibliothek  besitzen,  aber  für  das  so  gewonnene  Geld 
vielleicht  etwas  mehr  auf  die  gute  Ausstattung  der  Bücher  halten  können, 
damit  sie  einen  auch  äußerlich  erfreuen.  Freilich  könnte  dann  die  Privat- 
bibliothek keine  Serie  von  hundert  gleich  hohen,  gleich  breiten,  gleich 
gebundenen  und  gleich  vergilbten  Büchern  mehr  aufweisen,  aber  schließlich 
ist  ja  der  Bücherkasten  kein  Zivilstandsbureau,  das  mit  einer  endlosen 
Zahl  Schachteln  gleichen  Formates  ausgestattet  sein  muss. 

Ich  meine:  erstens  ein  Verlag  sollte  keines  Dichters  Werk  als  Gesamt- 
ausgabe ankündigen,  wenn  sie  es  nicht  ist,  und  zweitens  die  Gesamtaus- 
gaben sind  von  recht  minimem  Wert,  da  sie  weder  zum  eigentlichen  Ver- 
ständnis der  Kunst,  noch  besonders  zur  Freude  daran  viel  beitragen. 

An  den  Deutschlehrern  ist  es,  den  Modewahn  der  Gesamtsausgaben 
bei  den  Schülern  auszurotten  und  sie  nicht  noch  gar,  wie  es  oft  geschieht, 
wenn  sie  sie  nicht  besitzen,  als  Kunstbarbaren  hinzustellen. 

ZÜRICH  BERTHOLD  FENIGSTEIN 


D  a  D 

380 


SCHAUSPIELABENDE 

Die  künstlerische  Ausbeute  der  letzten  Schauspielaufführungen  unseres 
Theaters  hieß  Herodes  und  Mariamne.  Nicht  der  großen  Bühne  als  ein 
prunkreiches  historisches  Drama  —  wie  ich  das  einmal  in  Mannheim  erlebte, 
als  Hagemann  noch  die  Regie  führte  —  wurde  die  Tragödie  Hebbels  über- 
lassen, sondern  der  kleinen  Schauspielbühne  im  Pfauen.  Und  für  den,  dem 
das  Seelische  dieses  Werkes  das  bestimmend  Wertvolle  bedeutet,  ergab 
sich  keine  Enttäuschung.  Ich  wüsste  nicht,  was  man  im  Ernst  entbehrt 
hätte  in  dieser  einer  vereinfachten  und  dabei  doch  keineswegs  ärmlich 
wirkenden  Inszenierung  anvertrauten  Aufführung.  Das  Einzige,  was  man 
vermisste,  und  was  mit  der  Ausdehnung  der  Bühne  und  der  Ausstattung 
rein  nichts  zu  schaffen  hat,  war,  dass  die  Schauspielkräfte  nicht  durchgehend 
reichten  für  die  Höhe  der  hier  an  die  Charakterisierungskunst  gestellten 
Aufgabe.  Ein  Glück  war  wenigstens,  dass  für  die  Mariamne  eine  vollgültige 
Vertreterin  zur  Verfügung  stand.  Und  so  resultierte  doch,  namentlich  in 
den  letzten  zwei  Akten,  ein  ungewöhnlich  tiefer,  nachhaltiger  Eindruck. 

Im  Revolutionsjahr  1848  ist  die  Tragödie  in  Wien  zu  Ende  gediehen. 
Im  Oktober  dieses  Jahres,  während  die  Schreckenstage  über  Wien  herein- 
fluteten, hat  Hebbel  den  fünften  Akt  zum  großen  Teil  auf  der  Straße  ge- 
dichtet, ein  Beweis  von  der  ungeheuren  Innern  Konzentration  des  Dichters, 
die  auch  den  furchtbarsten  äußern  Geschehnissen  standhielt. 

Als  Hebbel  den  Stoff  bei  Josephus,  dem  Geschichtschreiber  der  Juden, 
fand,  schreckte  er  ihn  anfangs  ab;  „aber  —  wie  er  an  Rötscher  in  Berlin 
Ende  1847  schrieb  —  aus  ganz  andern  Gründen,  als  woraus  dies  sonst  wohl 
der  Fall  ist.  Er  schien  mir  schon  zu  vollendet,  zu  abgerundet  in  sich,  um 
dem  Künstler  auch  nur  noch  so  viel  Arbeit  zu  geben,  als  nötig  ist,  wenn 
er  sich  begeistern  soll,  er  schien  mir  geradezu  eine  derjenigen  Tragödien 
zu  sein,  wie  sie,  obwohl  sparsam,  in  vollendeter  Gestalt  ohne  Beihilfe  des 
Dichters  der  historische  Geist  selbst  hervorbringt.  Nahebei  besehen  fand 
ich  das  freilich  etwas  anders."  Er  weist  dann  an  einem  Beispiel  nach,  wie 
die  psychologische  Motivierung  vom  Dichter  doch  durchaus  neu  zu  gestalten 
war,  damit  der  überzeugende  Eindruck  der  Wahrheit  sich  ergebe.  Und  er 
fährt  fort:  „ich  will  in  diesem  Stück  durchaus  nichts  abhängig  machen  von 
Stimmungen  und  Entschlüssen,  die  nur  auch  relativ  begründet  in  den  Cha- 
rakteren und  den  Verhältnissen,  so,  aber  auch  anders  sein  könnten ;  es  soll 
sich  zu  dem,  was  sich  darin  ereignet,  ein  jeder,  der  Mensch  ist,  bekennen 
müssen,  selbst  zu  dem  Entschluss  des  Herodes,  aus  dem  alles  entspringt. . . 
Ich  sage:  ich  will!    Wie  weit  ich  kann,  wird  sich  zeigen." 

Das  war  Ende  1847.  Das  Wollen  wurde  im  folgenden  Jahre  zum 
Können  in  einem  bewundernswerten  Grade.  Jener  Entschluss  des  Herodes, 
aus  dem  die  ganze  Tragödie  entspringt,  besteht,  wie  man  weiß,  darin,  dass 
Herodes,  als  er,  angeklagt  wegen  der  Beseitigung  seines  Schwagers  Aristo- 
bolus  (mit  dem,  wie  es  in  dem  großartigen  Kapitel  „König  Herodes"  in 
Wellhausens  Israelitischer  und  jüdischer  Geschichte  heißt,  die  Kameraden 
so  lange  Untertauchen  im  Bad  spielten,  bis  er  erstickt  war),  zu  Antonius 
entboten  wird,  seine  Gattin  Mariamne  unters  Schwert  stellt,  das  heißt  Be- 
fehl gibt,  sie  zu  töten,  so  bald  die  sichere  Nachricht  von  seinem  eigenen 
Tode  in  Jerusalem  eingetroffen  sei.  Er  tut  dies,  weil  ihm  der  Gedanke 
unerträglich  ist,  Mariamne,  die  er  mit  eifersüchtiger  Sinnenliebe  liebt,  könnte 

381 


unter  Umständen  in  die  Hände  des  Römers  fallen,  könnte  mit  ihrer  Schön- 
heit einen  andern  beglücken.  Dass  sich  Mariamne  zu  einer  solchen  neuen 
Verbindung  niemals  hergeben  würde:  das  ist's,  was  er  von  vornherein  an- 
zunehmen nicht  über  sich  bringt.  Und  damit  frevelt  er  an  seinem  Weibe, 
frevelt  er  am  Höchsten,  was  sie  besitzt:  an  ihrer  Liebe,  dem  Urgrund  ihres 
Wesens.  Gewiss:  er  hat,  von  seinem  egoistischen  Denken  aus.  Gründe  zu 
solchem  Misstrauen.  Hat  er  nicht  eben  Mariamnens  Bruder  Aristobolus, 
den  dessen  ehrsüchtige  Mutter  Alexandra  in  zweifelhafte  politische  Machi- 
nationen gegen  Herodes  hineingetrieben  hat,  aus  der  Welt  schaffen  lassen? 
Weiß  er  nicht,  dass  Alexandra,  seine  Schwiegermutter,  beständig  bei  Kleo- 
patra  und  Antonius  gegen  ihn  hetzt  und  keine  Gelegenheit  versäumt,  um 
auch  ihre  Tochter  gegen  den  Gatten  aufzustacheln  ?  Wird  Mariamne  unter 
diesen  Umständen  auch  über  seinen  Tod  hinaus  ihm  Treue  halten  ?  Lauter 
Erwägungen,  die  diesem  an  Treue  und  Glauben  längst  irre  gewordenen 
Machthaber  nahe  genug  liegen  müssen.  Aber  der  politische  Rechner  hat 
dabei  eben  einen  Faktor,  den  entscheidenden,  völlig  übersehen:  dass  seines 
Weibes  Liebe  stärker  ist  als  alle  Versuchungen,  die  von  ihm  sie  abtrünnig 
machen  könnten ;  dass  es  Eine  gibt,  die  ihm  alles  verzeiht,  was  sie  auch 
gegen  ihn  auf  dem  Herzen  haben  mag,  weil  ihre  Liebe  zu  ihm  all  das 
Dunkle  in  seinem  Bilde  auslöscht,  nur  das  Lichte  sieht,  an  das  sie  glaubt 
und  ohne  das  ihr  das  Leben  nichts  bedeuten  würde.  Und  nun  entdeckt 
sie,  dass  dieser  Glaube  ein  irriger  war.  „Das  ist  ein  Frevel,  wie's  noch 
keinen  gab."    „Du  hast  in  mir  die  Menschheit  geschändet." 

Freilich,  Herodes  kann  geltend  machen,  Mariamne  hätte  ihm  bei  seinem 
Weggang  nur  den  Schwur  zu  leisten  brauchen,  dass  sie  seinen  Tod  nicht 
überleben  werde,  und  er  würde  diesen  Blutbefehl  gegen  sie  nicht  hinter- 
lassen haben.  Aber  in  ihrem  weiblichen  Stolz  hat  sich  Mariamne  dazu 
nicht  herbeigelassen.  Wenn  Herodes  ihr  das  nicht  selber  zutraut,  auch  ohne 
ausdrücklichen  Schwur  ihrerseits,  dann  ist  eben  sein  Verhältnis  zu  ihr  nicht 
was  es  sein  sollte;  dann  ist  sie  „ihm  nur  ein  Ding  und  weiter  nichts". 

So  schlecht  hat  seine  Liebe  die  erste  Probe  bestanden.  Aber  vielleicht 
geschah  es  nur  in  Verblendung;  vielleicht  ließen  sich  doch  noch  mildernde 
Umstände  für  sein  Verhalten  finden?  Das  wird  sich  sofort  erweisen.  Denn 
wieder  ruft  Herodes  seine  Pflicht  von  Jerusalem  fort:  bei  Actium  wird  der 
Entscheidungskampf  zwischen  Antonius  und  Octavian  ausgefochten  werden 
und  da  soll  Herodes  als  Verbündeter  des  Antonius  mittun.  „Jetzt,  werd'  ich's 
seh'n,  ob's  bloß  ein  Fieber  war,  das  Fieber  der  gereizten  Leidenschaft,  das 
ihn  verwirrte,  oder  ob  sich  mir  in  klarer  Tat  sein  Innerstes  verriet!  Jetzt 
werd'  ich's  sehn !"  So  rechnet  Mariamne,  und  sie  preist  das  Geschick,  den 
Ewigen :  „Du  tatest,  was  Du  nie  noch  tatst.  Du  wälztest  das  Rad  der  Zeit 
zurück :  es  steht  noch  einmal,  wie  es  vorher  stand ;  lass  ihn  anders  denn 
jetzt  handeln,  so  vergess'  ich,  was  geschehn;  vergess'  es  so,  als  hätte  er 
im  Fieber  mit  seinem  Schwert  mir  einen  Todesstreich  versetzt  und  mich 
genesend  selbst  verbunden."  Aber  Mariamnens  Hoffnung  geht  nicht  in  Er- 
füllung. Ein  zweitesmal  stellt  Herodes  die  Gattin  unters  Schwert.  Und 
wiederum  wird  Mariamne  der  geheime  Blutbefehl  offenbar.  „So  ist  das 
Ende  da!  ...  Die  Vergangenheit  löst,  wie  die  Zukunft,  sich  in  nichts  mir 
aufl  Ich  hatte  nichts,  ich  habe  nichts,  ich  werde  nichts  haben!  War  denn 
je  ein  Mensch  so  arm!"  Und  nun  täuscht  sie  zu  furchtbarer  Strafe  den 
König.    Die  Kunde  kam,  er  sei  gefallen.    Ist  sie  wahr,  ist  sie  falsch:  Mari- 

382 


amneweiß  es  nicht  genau;  aber  ihr  ahnendes  Herz  sagt  ihr:  Herodes  kommt 
zurück.  Nun  soll  er  sie  so  treffen,  wie  er  in  seinem  Argwohn  sie  sich  ge- 
dacht hat  nach  seinem  Ende,  wenn  er  den  gewaltsamen  Tod  nicht  über  sie 
verhängt  hätte.  Ein  Freudenfest  trifft  der  heimgekehrte  Herodes  in  seinem 
Palast,  und  er  vernimmt:  Mariamne  habe  auf  dem  Fest  getanzt,  das  sie  zu 
Ehren  seines  Todes  angeordnet.  Nun  verwirrt  sich  sein  ganzes  Denken. 
Die  Zusammenhänge  vermag  sein  brennend  eifersüchtiger  Geist  nicht  zu 
durchschauen.  Nichts  andres  kann  er  sich  denken,  als  dass  die  Gattin  ihn 
bereits  mit  einem  Andern,  dem  Hüter  des  Geheimnisses,  betrogen  habe. 
Und  den  Tod  verhängt  er  über  Mariamne.  Sie  aber  hat  ihre  Rache  zur 
Hand.  Sie  sorgt  dafür,  dass  er  nach  ihrem  Ende  den  wahren  Sachver- 
halt erfahre  .  .  . 

In  dieser  erstaunlichen  Weise  hat  Hebbel  seinen  Stoff  psychologisch 
fundamentiert.  Und  so  viel  geistvolle  Zeitschilderung  er  an  die  ganze  Um- 
welt des  Herodes  gewandt  hat;  so  genial  der  Gedanke  war,  vor  dem  in 
seiner  tiefsten  Seele  unheilbar  Verwundeten  am  Schluss  die  Gestalt  des  in 
die  Welt  gebornen  Messias  erscheinen  zu  lassen  als  den  König  einer  neuen 
Welt,  einer  reinem,  höhern:  das,  was  uns  aus  der  Tragödie  als  das  Ent- 
scheidende, als  das  im  Grund  einzig  Ergreifende,  Erschütternde  entgegentritt, 
das  ist  dieses  Drama  der  in  ihrem  unbeschreiblichen,  unschätzbaren  Wert 
nicht  erkannten,  nicht  gewürdigten  weiblichen  Liebe.  Das  Nora-Drama  hat 
uns  den  Blick  erst  recht  erschlossen  für  das  Problem  in  Herodes  und  Mari- 
amne.   Auch  Mariamne  hat  das  Wunderbare  nicht  erleben  dürfen. 


Kurze  Zeit  nach  dieser  Tragödie  Hebbels  hatten  wir,  ebenfalls  auf 
der  Pfauentheaterbühne,  eine  Uraufführung  zweier  Einakter.  Der  in  Zürich 
lebende  Schriftsteller  5.  Markus  hatte  den  Versuch  gemacht,  zwei  aus  dem 
alten  Testament  uns  geläufige  Erzählungen :  die  vom  keuschen  Joseph,  der 
im  Haus  des  Potiphar  von  dessen  Weib  versucht  wird,  der  Versuchung  aber 
siegreich  widersteht;  und  die  vom  Frevel  des  David  an  Uria,  dem  der  König 
sein  Weib  Bathseba  wegkapert  und  den  er  dann  auf  einen  tödlichen  Posten 
im  Krieg  stellen  lässt  —  psychologisch  neu  zu  motivieren.  Er  machte  aus 
dem  Potiphar  den  tragischen  Helden  des  ersten  Stückes :  er,  der  alte  Kriegs- 
mann, sieht  seine  junge  Gattin  aus  seiner  Hand  in  die  des  jungen  Joseph, 
der  in  seinem  Hause  zu  Ansehen  und  Einfluss  emporgediehen  ist,  hinüber- 
gleiten und  vermag  gegen  dieses  Naturgesetz,  dass  Jugend  zu  Jugend  sich 
hingezogen  fühlt,  nicht  aufzukommen ;  und  wie  er  vollends  inne  geworden 
ist,  dass  Joseph  in  seiner  Edelträchtigkeit  sich  der  Liebe  zu  dem  Weibe  seines 
Brotherrn  zu  erwehren  sucht  und  so  die  beiden  jungen  Menschen  unglück- 
lich werden  würden,  da  ist  er  so  generös,  sich  selbst  aus  dem  Wege  zu 
schaffen  und  den  zwei  Liebenden  die  Bahn  frei  zu  machen ;  sie  sollen  glück- 
lich werden.  Von  seiner  neuen  psychologischen  Umrechung  der  Geschichte 
vom  keuschen  Joseph  vermag  uns  freilich  Markus  keineswegs  zu  überzeugen, 
und  der  alte  Selbstmörder  aus  Edelsinn  will  uns  mehr  komisch  als  tragisch 
vorkommen. 

Der  zweite  Einakter  ist  Bathseba  betitelt.  Aus  dem  Uria,  ihrem  Gatten, 
macht  sie  sich  nicht  sehr  viel,  und  der  Übergang  aufs  Lager  des  schönen 
Königs  bereitet  ihr  keine  sonderlichen  Gewissensbisse.  Aber  nicht  sowohl 
der  Prophet  Nathan  (aus  dem  Markus  einen  herrschsüchtigen  Priester  macht, 

383 


der  das  Adulterium  Davids  zwar  als  solches  missbilligen  muss,  es  aber  zu 
einem  neuen  Mittel  macht,  den  König  in  seiner  Hand  zu  behalten),  als  der 
Uria  selbst  versalzt  dem  galanten  königlichen  Gattenräuber  seine  Liebes- 
freude, indem  er  (an  Stelle  des  Nathan  in  der  dramatischen  Erzählung  des 
Königsbuches)  dem  Herrscher  seinen  ganzen  Abscheu  ins  Gesicht  wirft  und 
ihn,  indem  er  mit  klarem  Bewusstsein  in  den  Kampf  geht,  aus  dem  es  keine 
Rückkehr  gibt,  den  stechenden,  nie  schweigenden  Gewissensbissen  über 
seine  Schlechtigkeit  überantwortet.  Der  Titel  Uria  wäre  daher  der  passen- 
dere gewesen.  Bathseba  bleibt  ganz  blass  und  schemenhaft  in  dem  Stücke. 
Auch  hier  ist  der  dichterische  Gewinn  der  neuen  Fassung  eines  alten  Stoffes 
kein  großer  und  bleibender.  An  Hebbels  Herodes-  und  Gyges-Tragödie  ist 
zu  ersehen,  wie  ein  Dichter  und  ein  Seelenkundiger  in  einer  Person  in 
solchen  Geschichten  aus  einer  Welt,  die  nicht  die  unserige  ist,  Ewigkeits- 
züge zu  entdecken  und  für  uns  lebendig  und  ergreifend  herauszugestalten 
vermag. 

ZÜRICH  H.  TROG 

DDD 

KURZE  ANZEIGEN 

Es  ist  immer  erfreulich,  wenn  sich  einer  für  eine  reine  Aussprache 
des  Deutschen  an  Schweizer  Schulen  ins  Zeugt  legt,  wie  Dr.  OTTO 
SEILER  in  der  kürzlich  im  Verlag  Huber  in  Frauenfeld  erschienenen 
Schrift  Lautwissenschaft  und  Deutsche  Aussprache  in  der  Schule,  die  ein- 
leitend zusammenfasst,  was  zu  diesem  Zwecke  schon  alles  in  der  Schweiz 
geschehen  ist  und  wie  wenig  es  gefruchtet  hat.  Bei  dem  sachlichen  Teil 
möchte  ich,  so  sehr  ich  sonst  damit  einverstanden  bin,  zwei  Einwendungen 
machen.  Erstens  missfällt  mir  das  immer  wiederkehrende  Wort  „gefällig". 
Rein  soll  die  Aussprache  sein,  gewiss;  es  kann  aber  zu  großen  Wider- 
sprüchen mit  der  Person  des  Sprechenden  und  dem  Zweck  der  Rede 
führen,  wenn  eine  erzwungene  Gefälligkeit  erstrebt  wird.  Hinter  dem  Wort 
lauert  süßlich,  geziert,  naturwidrig.  Und  dann  möchte  ich  noch  sagen,  dass 
die  dreimal  heilige  Phonetik,  so  hoch  ich  sie  schätze,  nicht  das  Wichtigste 
ist.  Ich  mache  mir  gar  nichts  draus,  ob  einer  das  e  der  Endsilben  „als 
ö-ähnlichen  Mischlaut"  spricht  und  finde  ein  dumpfes  a  oder  ä  eine  läss- 
liche  Sünde.  Gesündigt  wird  bei  uns  zumeist  gegen  den  Rhythmus  einer 
guten  Prosa.  Der  lendenlahme,  leierkastenhafte,  stoßweise  und  sprutzige 
Rhythmus,  viel  eher  als  die  fehlerhafte  Aussprache  gewisser  Laute,  bringt 
es  mit  sich,  dass  der  Schweizer  an  seinem  Hochdeutsch  eine  schlechte 
Waffe  besitzt,  mit  der  er  von  Anfang  an  geschlagen  ist,  wenn  er  sich  im 
mündlichen  Verkehr  mit  einem  gewandten  Norddeutschen  messen  soll.  Hier 
hätte  vor  allem  der  Unterricht  des  Deutschlehrers  einzusetzen,  und  wenn 
er's  sonst  nicht  fertig  bringt,  soll  er  sich  einen  Phonographen  anschaffen  mit 
guten  deutschen  Sprachproben,  wie  man  sie  in  Frankreich  zum  Deutsch- 
unterricht verwendet.  Wir  habens  noch  nötiger  als  die  Franzosen. 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

384 


GESANG  VOM  BERGE 

Der  Du  die  Berge  bewegst  und  die  fernen  Meere, 
Selber  im  Berg  und  im  Wind  und  im  tiefen  Meer, 
Auf  weißen  Gletschern  schimmerst,  auf  meinen  Händen, 
im  selig  Blauen  wohnst  und  in  schaurigen  Schlünden 
Unwandelbarer,  Vielgestaltiger,  treu  im  Wechsel, 
Den  wir  heute  ahnen  und  morgen  nicht. 
Erschauernd  fühl'  ich  Dich  hier  oben 
Mit  überquellenden  Augen. 


Der  Du  in  Dir  bist  und  nie  außer  Dir, 

Selig  in  Deiner  Gestalt  in  lauter  Stille  kreisest. 

Der  Du  selber  gesetzt  bist  zum  Kampfe  wider  Dich  selbst. 

Um  nicht  zu  erstarren  in  Deinem  Glück, 

Freund  Dir  und  Feind,  Erhalter,  Zerstörer,  Erneu'rer, 

Leben  und  Tod  und  Lust  und  Leid  und  Trauerlust, 

Honig  aus  allen  Waben, 

Dir  ein  buntes  Kampfspiel  ohn'  anderes  Ziel  als  Dich, 

Deines  Atems  verspüre  ich  einen  Hauch. 


385 


Der  Du  Dir  Gleichnisse  schaffst, 

Die  da  im  Blauen  schweben  und  schillern, 

Die  auf  der  Matte  blühn  und  wie  kleine  Sonnen  strahlen, 

Die  da  Städte  bauen  und  wieder  zerstören  und  bauen, 

Wesen  wie  wir,  die  wir  Dich  in  uns  tragen. 

Wie  das  Türmchen  am  Turme  den  Turm; 

Der  Du  nichts  bilden  kannst,  worin  du  nicht  bist, 

Wie  wir  nichts  aus  uns  bilden,  das  nicht  unseres  Wesens  ist, 

Der  Du  uns  wachsen  lässt,  uns  freuen  und  leiden  und  in 

Dir  sterben. 
Dir  ein  nötiges  Spiel,  uns  eine  heilige  Not; 

Der  Du  die  Sonne  drehst  und  die  Erd'  und  die  Sterne  nach 

gold'nem  Gesetz, 
Selbst  in  der  Sonne,  im  Stern,  gehorsam  Deinem  Gesetz; 

Goldene  Mitte  Du, 

Der  Du  Dich  ewig  um  Dich  selber  drehst  in  Seligkeit 

Und  Deine  Welten  um  Dich  kreisen  lassest, 

Der  Du  von  Ewigkeit  bist  ohn'  Anfang  und  Ende, 

Der  Du  auf  allen  Leuchtern  brennst,  die  Dir  leuchten, 

In  allen  Rädern  sausest,  die  Dir  sausen, 

Feiern  will  ich  Dich  mit  meinem  Leben  und  Werk, 

Ich,  der  Dir  gleicht  wie  das  Blättlein  am  Baume  dem  Baum, 

Dich,  der  in  mir  ist  wie  der  Baum  im  Blatt. 

Nennen  will  ich  Dich  mit  frommen  Lippen  ohne  Namen, 

Lebendiges,  zu  groß  für  Worte  aus  unserem  Mund, 

Dass  alle,  alle,  die  in  Dir  erschauern, 

Sich  die  Eimer  reichen  und  Hammer  und  Kelle, 

Einen  Bau  zu  bauen  ohn'  Grundriss  und  Stein, 

Darin  ihre  Herzen  lebendig  brennen  in  Deinem  Atem 

Und  ihre  Einsamkeit  im  gemeinsamen  Reigen  strahlt, 

Wie  der  Stern  in  den  Sternen  und  alle  Sterne  in  Dir. 

EMANUEL  VON  BODMAN 

ana 


336 


DER  LEDERHANDLER 

VON  FELIX  MOESCHLIN 

Sein  Wunsch  war  nicht  übertrieben.  Bis  zu  seinem  fünfzig- 
sten Jahre  wollte  er  fleißig  arbeiten,  dann  aber  seine  Lederhand- 
lung verkaufen,  sich  irgendwo  zur  Ruhe  setzen  und  das  Leben 
genießen. 

Und  weil  er  sich  das  getreulich  und  ausdauernd  wünschte, 
auch  alle  Abschweifungen  vom  Wege  des  soliden  Lederhandels 
sorgsam  vermied,  so  wurde  sein  Ideal  zur  erhofften  Zeit  ange- 
nehme Wirklichkeit. 

Es  kam  der  denkwürdige  Tag,  wo  er  zum  letztenmal  in  sein 
Geschäft  ging.  Er  tat  es  mit  angemessener  Feierlichkeit  und 
Würde.  Und  er  arbeitete  an  seinem  Schreibpulte  wie  gewöhnlich, 
stand  hinter  dem  Ladentische  und  machte  seinen  üblichen  Gang 
durchs  Magazin,  wo  er  sich  auch  in  der  dunkelsten  Nacht  zu- 
rechtgefunden hätte. 

Das  alles  war  nun  verkauft  und  sollte  morgen  einem  andern 
gehören. 

Er  konnte  es  nicht  verhindern,  dass  ihm  ein  paar  Tränen  in 
die  Augen  schössen,  als  er  am  Abend  die  Ladentüre  etwas  lang- 
samer und  umständlicher  als  sonst  hinter  sich  zumachte. 

Aber  dann  dachte  er  daran,  dass  er  von  nun  an  das  Leben 
genießen  werde,  und  wischte  mit  einer  resoluten  Armbewegung 
die  Tränen  aus  den  Augen  auf  den  Rockärmel,  wo  sie  noch  eine 
kurze  Weile  lang  glänzten  und  dann  in  die  Wolle  hineindunkelten. 

Damit  war  die  trübselige  Anwandlung  vorüber,  und  fröhlich 
schritt  er  auf  die  Straße  hinaus.  Und  als  er  an  der  nächsten 
Ecke  einem  hübschen  Mädchen  begegnete,  lachte  er  ihm  ins 
Gesicht. 

Nicht  als  ob  er  damit  etwas  Besonderes  gemeint  hätte,  das 
war  nicht  seine  Art;  er  hatte  bloß  ganz  unschuldig  dem  Bedürf- 
nisse nachgegeben,  einen  Menschen  anzulächeln,  weil  er  sich  so 
glücklich  fühlte. 

Denn  nun  war  er  ja  ein  freier  Mann,  der  so  viel  Geld  auf 
der  Sparbank  hatte,  dass  er  nicht  mehr  zu  arbeiten  brauchte  und 
zu  jeder  Zeit,  wann  und  wo  es  ihm  gerade  beliebte,  etwas  ganz 

387 


anderes  im  Sinne  haben  durfte  als  immer  nur  Leder:  Sohlleder, 
Oberleder,  Rossleder,  Kalbleder,  Schweinsleder,  Juchtenleder, 
Waschleder,  Lackleder,  Glaceleder,  Chevreaux,  Maroquin  und 
Saffian!     Gott  sei  Dank,  nun  war  er  sie  los! 

Den  Abend  verlebte  er  wie  gewöhnlich.  Er  aß,  was  ihm  die 
Haushälterin  auf  den  Tisch  stellte.  Dann  las  er,  was  ihm  sein 
Leibblatt  vorzusetzen  für  gut  fand.  Und  um  halb  zehn  legte  er 
sich  in  sein  einschläfiges  Bett,  zuerst  fünf  Minuten  lang  auf  die 
linke  und  dann  definitiv  auf  die  rechte  Seite,  wie  es  seine  Ge- 
wohnheit war  seit  vielen  langen  Jahren. 

Als  er  am  andern  Morgen  erwachte,  war  es  schon  halb  acht. 
Er  erschrak.  Um  acht  Uhr  musste  er  ja  im  Geschäft  sein!  Er 
sprang  aus  dem  Bett  wie  ein  Junger  und  schlüpfte  in  die  Unter- 
hosen. 

Aber  dann  fiel  es  ihm  auf  einmal  ein,  dass  er  sein  Geschäft 
verkauft  hatte  und  dass  er  von  nun  an  nichts  anderes  mehr  zu 
tun  hatte  als  sein  Leben  zu  genießen. 

Da  zog  er  die  Unterhosen  wieder  aus  und  kroch  ins  Bett 
zurück.    Heute  wollte  er  einmal  recht  tüchtig  ausschlafen. 

Aber  der  Schlummer  wollte  nicht  kommen,  obwohl  er  sich 
zuerst  auf  die  linke,  dann  auf  die  rechte  Seite  und  schließlich 
gar  auf  den  Rücken  legte. 

Nach  einer  halben  Stunde  hatte  er  Kopfschmerzen.  Da  stand 
er  notgedrungen  auf,  kleidete  sich  an  und  trank  seinen  Kaffee. 

Was  nun? 

Das  Leben  genießen!  versteht  sich. 

Aber  wie? 

Er  versuchte  sich  klar  zu  machen,  was  er  sich  seit  Jahren 
unter  Lebensgenuss  vorgestellt  hatte.  Aber  das  war  nicht  so  leicht. 
Er  entdeckte  auf  einmal,  dass  er  sich  nichts  bestimmtes  vorge- 
stellt hatte. 

Vom  Lebensgenüsse  wusste  er  nicht  mehr  als  vom  Himmel, 
hauptsächlich,  dass  er  etwas  Schönes  sein  müsse.  Aber  was? 
Jedenfalls  etwas,  das  nicht  mit  seinem  Geschäfte  zusammenhing. 
Denn  er  hatte  ja  sein  Geschäft  verkauft,  um  das  Leben  genießen 
zu  können.  Er  hatte  nicht  geahnt,  dass  dies  so  viel  Kopfzer- 
brechen verursachen  werde. 

388 


Aber  er  warf  die  Flinte  noch  nicht  ins  Korn,  Aller  Anfang 
ist  schwer,  man  darf  sich  dadurch  nicht  entmutigen  lassen.  Hatte 
er  nicht  von  dem  und  jenem  gehört,  dass  er  das  Leben  genieße? 
Doch!  Er  brauchte  also  bloß  zu  leben  wie  die,  dann  ging  sein 
Wunsch  in  Erfüllung. 

Der  Eine  hatte  die  feinsten  Weine  getrunken  und  die  teuer- 
sten Zigarren  geraucht. 

Aha,  da  haben  wir's  ja!  Schreiben  wir's  auf:  feine  Weine, 
teure  Zigarren. 

Ein  Anderer  hatte  stets  ein  junges,  hübsches  Mädchen  am 
Arm,  jeden  Tag  ein  anderes.  Schreiben  wir's  auf :  hübsche,  junge 
Mädchen ! 

Ein  Dritter  las  Bücher,  beschaute  Bilder,  hörte  Konzerte, 
ging  in's  Theater.  Schreibens  wir's  auf:  Bücher,  Bilder,  Konzerte, 
Theater ! 

Ein  Vierter  lag  den  lieben,  langen  Tag  auf  einer  Wiese  und 
schaute  in  den  Himmel.  Schreiben  wir's  auf:  Auf-einer-Wiese- 
liegen,  in-den-Himmel-schauen! 

Ein  Fünfter  reiste  in  der  halben  Welt  herum.  Schreiben  wir's 
auf:  Reisen! 

Nun  war's  genug:  Weine,  Zigarren,  Mädchen,  Bücher,  Bilder, 
Konzerte,  Theater,  Wiesen,  Himmel,  Reisen   .  .  . 

Und  er  versuchte  die  verschiedenen  Rezepte,  eines  nach 
dem  andern. 

Aber  die  Weine  verursachten  ihm  Kopfschmerzen,  und  die 
Zigarren  machten  ihm  übel. 

Und  von  den  Mädchen  zog  er  sich  bald  wieder  zurück,  denn 
sie  stellten  gar  hohe  Forderungen  in  allen  möglichen  Beziehungen 
und  störten  sogar  seine  Nachtruhe. 

Über  den  Büchern  aber  schlief  er  ein,  Bilder  waren  ihm 
völlig  gleichgültig,  in  den  Konzerten  langweilte  er  sich  zu  Tode 
und  im  Theater  fand  er,  es  sei  schade  für  das  Geld. 

Auf  der  Wiese  holte  er  sich  Rheumatismus,  und  der  Himmel 
tat  ihm  in  den  Augen  weh. 

Und  als  er  reiste,  fand  er,  es  sei  überall  wie  zu  Hause! 

Mit  seinem  Lebensgenüsse  war  es  sehr  schlecht  bestellt.  Er 
bekam  schlaflose  Nächte.  Von  denen  hatte  er  früher  nichts 
gewusst. 

389 


Ach,  warum  hatte  er  sein  Geschäft  verkauft,  wie  schön  war 
es  gewesen,  mit  Leder  zu  handeln.  Weine  und  Zigarren  und  junge 
Mädchen  waren  rein  nichts  dagegen. 

Und  er  ermannte  sich  und  ging  zum  neuen  Geschäftsinhaber 
und  fragte  ihn,  ob  er  die  Lederhandiung  zurückkaufen  dürfe.  Aber 
davon  wollte  der  andere  nichts  wissen.  Ob  er  vielleicht  einen 
Platz  für  ihn  habe?  Nein!  Auch  dann  nicht,  wenn  er  keinen 
Lohn  fordre? 

Da  zeigte  sich  der  neue  Besitzer  entgegenkommend  und  über- 
wies ihm  die  Stelle  eines  Magazinverwalters.  Der  Fünfzigjährige 
dankte  aus  vollem  Herzen. 

Und  nun  ist  er  wieder  bei  seinem  Sohlleder,  Oberleder,  Ross- 
leder, Kalbleder,  Schweinsleder,  Juchtenleder,  Waschleder,  Lack- 
leder, Glaceleder,  Chevreaux,  Maroquin  und  Saffian  und  arbeitet 
von  acht  Uhr  morgens  bis  sechs  Uhr  abends.  Lohn  erhält  er 
nicht. 

Aber  er  genießt  das  Leben! 

DD  a 

LIEDER 

Im  Frühling  sangen  frohe  Burschen, 
Wenn  sie  talein,  talauswärts  schritten. 
Ein  Lachen  in  den  jungen  Augen, 
Die  nie  am  Weh  der  Erde  litten. 

Im  Sommer  sangen  schöne  Mädchen, 
Wenn  sie  auf  Matten  tief  sich  bückten 
Und  mit  den  schmalen  weißen  Händen 
Die  schweren  roten  Blumen  pflückten.  — 

Die  Tage  und  die  Blumen  welkten. 
So  wusste  ich:  der  Herbst  kommt  wieder. 
Da  hab  ich  vor  mir  hergesungen 
Die  Burschen-  und  die  Mädchenlieder. 

HANS  ROELLl 

ODD 

390 


VEREINFACHUNG 

DER 

STAATSVERWALTUNG  UND  ERLEICHTERUNG 
DER  STAATSLASTEN 

(Fortsetzung) 

Ein  anderes  Beispiel  bieten  die  Kontroll-Einrichtungen.  Über 
einem  Arbeiter  steht  ein  Kontrolleur  und  über  diesem  vielleicht  ein 
Oberkontrolleur  und  so  fort,  die  alle  nichts  zu  tun  haben,  als 
sich  gegenseitig  zu  beaufsichtigen  —  eine  Einrichtung,  die  sicher- 
lich unproduktiv  ist  und  sich  gelegentlich  auch  nutzlos  erweist. 
Nehmen  wir  das  Inspektorat  unserer  Notariate.  Trotz  seiner  Auf- 
sicht wieder  ein  neuester  Fall  von  einem  ungetreuen  Notar!  Wieviel 
unfehlbarer  und  für  den  Staat  sicherer  wäre  es,  die  Notare  zu 
einem  Verbände  zusammenzuschließen,  der  seine  Mitglieder  selbst 
kontrollierte  und  für  sie  verantwortlich  wäre.  Die  Kontrolle 
würde  jedenfalls  lieber  ertragen,  wäre  sachkundiger,  vertraut  auch 
mit  den  Abwegen  des  Amtes,  die  für  einen  außer  demselben 
stehenden  Funktionär  ein  Mysterium  sind,  und  die  Einrichtung 
würde  den  Risiken  auch  deshalb  viel  mehr  vorbeugen,  weil  das 
Verantwortlichkeitsgefühl  gegen  Seinesgleichen  weit  stärker  ist  als 
gegen  den  Staat,  der  eigentlich  ein  bloßes  Phantom  darstellt,  und 
dem  es  nicht  besser  geht,  als  dem  lieben  Gott,  gegen  den  alle 
Welt  sündigen  zu  dürfen  glaubt.  Wenn  aber  der  Verband,  um 
die  Garantie  zu  übernehmen,  eine  Risikoprämie  verlangte,  so  wäre 
diese  bald    in    einer  Erhöhung  der  Besoldung  gefunden. 

Aber,  wird  man  einwenden,  damit  würden  die  Ausgaben  ja  nur 
vermehrt,  statt  vermindert.  Dem  ließe  sich  hinwieder  leicht  helfen 
durch  eine  Progression  der  Gebühren,  die  auch  sonst  am  Platze 
wäre.  Eine  solche  würde  nicht  nur  auf  dieser  Seite  den  Ausgleich 
bringen,  sondern  im  allgemeinen  zur  Vermehrung  der  Einnahmen 
beitragen,  so  gut  wie  die  Progression  bei  den  Steuern,  und  noch 
unfehlbarer,  insofern  als  sich,  anders  als  bei  den  Steuern,  das 
Pflichtige  Objekt,  die  betreffende  Transaktion,  nicht  defraudieren 
lässt.  Bei  den  Notariaten  ließe  sich  zugleich  auch  noch  eine  zweite 
Progression  (und  doppelte  Progression  kennen  wir  schon  bei  der 
Erbschaftssteuer)  anbringen,  nämlich  die  Progression  für  den  bloßen 

391 


Handel  mit  Gütern,  die  Güterschlächterei  oder  Hofmetzgerei,  ein 
Mittel,  wohl  wirksamer  noch  als  das  Verbot  oder  der  Auf- 
schub des  Wiederverkaufes,  und  jedenfalls  einträglicher  für  den 
Staat. —  Das  Gleiche  gilt  noch  von  andern  Kontroll-Einrichtungen, 
und  vielleicht  hülfe  auch  das  gleiche  Mittel,  bis  zu  den  Tram- 
kontrolleuren hinunter. 

Im  einzelnen  sollten  die  Beamtungen  darauf  durchgangen 
werden,  was  jede  effektiv  für  die  Bewältigung  der  vom  Staat  über- 
nommenen Aufgaben  leistet.  Auch  beim  Gemeinwesen  wie  in 
einem  privaten  Betrieb  kommt  es  ja  nicht  nur  darauf  an,  dass 
der  Mann  seine  Zeit  im  Bureau  absitze,  dass  möglichst  viel  Tinte  und 
Papier  verbraucht  werde,  sondern  dass  die  Geschäfte  rasch  und 
gut  erledigt  werden  —  und  je  weniger  Personal  es  dazu  braucht, 
um  so  besser  nicht  nur  für  die  Sache,  sondern  um  so  billiger  auch 
für  den  Staat.  Die  Mühle  soll  nicht  leer  gehen ;  sie  soll  nicht  bloß 
klappern,  sondern  Mehl  geben,  in  dieser  Beziehung  scheint  es 
gelegentlich  an  einer  geschäftskundigen  oder  durchgreifenden  Kon- 
trolle zu  fehlen.  Man  kennt  die  Besuche  der  Mitglieder  der  kan- 
tonsrätlichen  Geschäftsprüfungs-Kommission  auf  den  Regierungs- 
bureaux.  Es  werden  alle  möglichen  Bücher  aufgeschlagen  und 
Akten  eingesehen,  ob  alles  sauber  gehalten  und  schön  geschrieben 
sei,  statt  dass  nur  einige  wenige  Stichproben,  aber  gründlich  vor- 
genommen würden,  und  zwar  speziell  darauf,  wie  die  Geschäfte 
sachlich  und  wirksam  gefördert  würden.  Es  zeigte  sich  mitunter 
vielleicht  ein  anderes  Bild,  und  die  Abhilfe  ergäbe  sich  von  selbst. 

Jedenfalls  sollte  man  keine  neue  Anstellung  schaffen  ohne  gewis- 
senhafte Prüfung,  ob  auf  dem  betreffenden  Bureau  nicht  mit  dem 
vorhandenen  Personal  auszukommen  wäre,  wenn  alle  unnütze 
Schreiberei  und  Tintenverschwendung  unterbliebe  und  statt  dessen 
nur  nützliche  Arbeit  geleistet  würde.  Schon  ein  Personenwechsel 
hält  schwer,  und  das  ist  nur  recht  und  billig  gegen  den  bisherigen 
Inhaber  der  Stelle,  so  lange  er  seine  Pflicht  tut.  Aber  ein  neuer 
Posten  ist  noch  schwerer  abzuschaffen,  nachdem  er  einmal  auf- 
gestellt ist;  es  richtet  sich  sofort  alles  darnach  ein  und  umgibt 
ihn  mit  dem  Schutze  der  Unentbehrlichkeit,  den  die  bisherigen 
genossen.  Auf  einer  gewissen  Abteilung  wurde  die  Bureauarbeit 
vor  noch  nicht  gar  langer  Zeit  von  ganzen  drei  Mann  besorgt; 
seither  sind  es  deren  vier-  oder  fünfmal    mehr,    ohne   dass   sich 

392 


füglich  sagen  ließe,  die  Geschäfte  hätten  sich  auch  um  so  viel 
vermehrt.  Es  sollte  überhaupt  nicht  alles  sofort  zu  einer  eigenen 
Beamtung  gemacht,  sondern  mit  den  bisherigen  oder  sonst  sich 
bietenden  Kräften  auszukommen  gesucht  werden.  —  Eine  bureau- 
kratische  Erfindung  neuester  Mache  ist  der  Amtsvormund.  Die 
Aufgabe  hätte  sich  wohl  auf  die  Waisenväter  verteilen  oder  auf 
die  Patrone  eines  freiwilligen  Armenvereins  übertragen  lassen  und 
wäre  von  diesen  als  im  Leben  stehenden  und  darin  gar  ergrauten 
Männern  auch  in  menschen-  und  sachkundigerer  Weise  verwaltet 
worden,  anstatt  dass  nun  die  Ärmsten  der  Armen,  arme  Waisen, 
wie  die  Nummern  einer  Zellenaiistalt  in  der  Qeschäftsliste  einer 
neuen  Sammelstelle  figurieren.     Bureaukratie  und  kein  Ende  ! 

Der  Schweizer  genießt  den  Ruf,  der  praktischte  Mann  zu 
sein,  insofern  er  alles  beim  rechten  Zipfel  anfasse,  wo  es  nötig 
und  wie  es  zweckmäßig  erscheint.  Das  mag  für  das  private  Ge- 
schäftsleben gültig  sein;  das  Gemeinwesen  aber  hat  sich  dieses 
Lob   erst  noch   und  vielleicht  mehr  als  anderwärts  zu  verdienen. 

Nun  die  Löhnung.  Der  Kantonsrat  hat  es  in  kluger  Weise 
verstanden,  die  Festsetzung  der  Besoldungen  dem  Volke  zu  ent- 
ziehen und  auf  die  Behörden  zu  übertragen.  Zuerst  wurde  die 
Verfassungsbestimmung,  wonach  die  Besoldung  der  Regierungs- 
beamten vom  Gesetz  zu  bestimmen  war,  beseitigt ;  dadurch  erhielt 
die  Gesetzgebung  freie  Hand,  ihrerseits  die  Festsetzung  der  be- 
züglichen Besoldungen  auf  den  Beschluss-  oder  Verordnungsweg 
zu  weisen,  und  das  ist  dann  geschehen:  für  Regierungsrat  und 
Obergericht  setzte  der  Kantonsrat  selbst  die  Besoldungen  fest,  für 
die  Subalternbeamtungen  überließ  er  es  den  beiden  andern  Be- 
hörden. So  war  man  ganz  unter  sich,  und  da  schob  sich  eines  aus 
dem  andern  heraus  wie  die  Teile  eines  Fernrohrs.  Die  Beiseite- 
schiebung des  Volkes  mochte  allerdings  kaum  zu  umgehen  sein, 
wenn  die  Besoldungen  mit  der  Zeit  und  den  Lebensbedürfnissen 
Schritt  halten  sollten;  nur  hätte  vielleicht  der  Bengel  nicht  auf 
einmal  so  in  die  Höhe  geworfen  und  nicht  die  Verwaltungs-  und 
Gerichtsbeamten  so  einseitig  und  unter  sich  wieder  so  ungleich 
berücksichtigt  werden  sollen. 

Wenn  zwar  die  leitenden  Behörden  am  meisten  bedacht  wurden, 
so  erschien  das  insofern  ganz  am  Platze,  als  die  frühere  Besol- 
dung für  eine  oberste  Landesbehörde  wirklich   unter  dem   Strich 

393 


gestanden  und  gerade  sie  den  Anlass  zur  Neuerung  gegeben  hatte. 
Es  erhielten  aber  teilweise  auch  die  Sei^retäre  und  Schreiber,  ohne 
besondere  Leutenot  oder  erhöhtes  Verdienst,  von  heut  auf  mor- 
gen ganze  Tausende  von  Franken  mehr;  es  war  eben  noch  die 
Zeit,  wo  der  Staatssäcl<el  es  hatte  und  vermochte.  Anderseits  trat 
zwischen  Staatsbeamten  und  Lehrerpersonal  ein  Verhältnis  ein, 
wie  es  früher  unbekannt  war.  Die  Besoldungen  von  Professoren 
sogar  blieben  zurück  hinter  denjenigen  von  Sekretären,  ja  von 
bloßen  Kanzleischreibern,  über  die  übrigens  auch  ihre  Chefs  sich 
vielfach  nicht  erheben,  werden  sie  doch  noch  meistens  einfach 
aus  Kanzlisten  rekrutiert,  im  ganzen  ist  das  Kanzleipersonal 
von  dem  großen  Goldregen  verhältnismäßig  am  meisten  befeuchtet 
worden,  wenn  die  Art  seiner  Arbeitsleistung  berücksichtigt  und 
namentlich  seine  Besoldung  mit  privaten  Anstellungen  verglichen 
wird,  über  die  weit  hinauszugehen  dem  Staat  um  so  weniger  er- 
laubt ist,  als  er  aus  der  gleichen  Quelle  schöpfen  muss.  Um  alles 
gleich  zu  machen,  werden  die  VolksschuHehrer  den  Professoren 
schließlich  gleichgestellt,  und  daher  scheint  das  neueste  Defizit 
hauptsächlich  zu  stammen.  Es  widerspricht  das  zwar  nicht  nur 
der  Natur  und  lähmt  das  Vorwärtsstreben,  sondern  erdrückt  am 
Ende  den  Staat;  aber  es  gehört  zur  Mode  und  dient  der  Popu- 
larität. Es  fehlt  nur  noch  der  Titel,  der  übrigens  nichts  kostet; 
Turn-  und  Schreiblehrer  haben  ihn  bereits. 

Gegen  das  Kanzleipersonal  schneidet  von  jeher  auch  die 
Polizeimannschaft  schlecht  ab.  Alle  Tugenden  des  Aristoteles  und 
noch  ein  paar  dazu  werden  vom  Polizeimann  gefordert,  die 
strengsten  Anforderungen  an  die  Leistungsfähigkeit  bringt  sein 
Dienst  mit  sich,  wie  denn  auch  Krankheit  und  Sterblichkeit  beim 
Korps  außerordentlich  groß  sind,  und  doch  ist  er  immer  noch 
der  schlechtest  bezahlte  Funktionär  des  Gemeinwesens.  Das  ist 
einfach  unbegreiflich,  und  die  Gerechtigkeit  verlangt,  dass  dieses 
Verhältnis  baldigst  und  gründlichst  geändert  werde.  Wir  können 
diejenigen,  denen  wir  unsere  Sicherheit  anvertrauen,  nicht  genug 
in  Ehren  halten,  tüchtige  Leute  vorausgesetzt,  —  und  etwas  anderes 
darf  nicht  angenommen  werden  öder  wäre  dann  Schuld  des  Ge- 
meinwesens selbst  —  und  darnach  sind  die  Dienste  auch  halbwegs 
zu  honorieren.  Aber  wie  kärglich  wieder  ist  die  Aufbesserung  in 
einer   neuesten   bezüglichen    Vorlage   zugemessen,   offenbar   mit 

394 


Rücksicht  auf  die  derzeitige  Finanzlage  und  nicht  in  gerechtem 
Vergleich  weder  mit  dem  Dienst  der  Leute,  noch  mit  der  Besol- 
dung anderer  Beamtenklassen. 

Ähnlich  ist  das  Verhältnis  der  Staatsarbeiter  zum  Kanzlei- 
personal. Auch  sie  gelten  für  weniger  und  sind  schlechter  bezahlt, 
während  selbst  ein  Straßenkehrer,  der  seinen  Besen  tüchtig  zu 
handhaben  versteht,  eine  größere  Kunst  beweist  und  auch  nütz- 
lichere Arbeit  liefert  als  ein  Kopist,  |der  nicht  mehr  als  den  Feder- 
halter zu  führen  vermag,  in  der  Privatwirtschaft,  die  zu  rechnen 
und  abzuschätzen  versteht,  ist  das  Verhältnis  denn  auch  eher 
umgekehrt;  die  bloßen  Schreiber  sind  so  ziemlich  die  schlechtest 
besoldeten  Angestellten,  worüber  sich  nur  wundert,  wer  das  richtige 
Maß  für  den  verschiedenen  Wert  der  einen  und  der  andern  Art 
Arbeit  verloren  hat.  Daher  denn  auch  das  Überlaufen  offener 
Staatskopistenstellen  mit  Bewerbern  aus  Privatbureaux.  Aber  auch 
der  Staat  hat  keinen  Anlass,  die  unproduktive  Arbeit  der  Schreib- 
stuben durch  höhere  Löhne  zu  bevorzugen,  will  er  nicht  der 
Handarbeit  und  damit  auch  dem  Handwerk  Abbruch  tun.  Das 
tröstliche  Wort:  „Handwerk  hat  einen  goldenen  Boden",  sollte 
vor  allem  er  gelten  lassen. 

Es  soll  überhaupt  keine  Besoldungsordnung  aufgestellt  werden 
ohne  Berücksichtigung  der  übrigen,  um  auch  diese  nötigenfalls 
entsprechend  und  zugleich  zu  ändern,  und  noch  weniger  soll  eine 
einzelne  Stelle  oder  Person  außer  dem  Rahmen  begünstigt  werden, 
sonst  gerät  schließlich  alles  außer  Maß  und  Verhältnis. 

Eine  Zugabe  zu  den  Besoldungen  bilden  die  Pensionen.  Aber 
solche  kommen  bei  uns  von  Staatswegen  nur  für  Beamte  und 
bis  jetzt  auch  nur  für  zwei  oder  drei  Klassen  vor:  für  Polizei, 
für  Lehrer  und  Geistliche. 

Für  die  Polizei  sind  Pensionen  am  ehesten  gerechtfertigt, 
und  zwar  aus  dem  gleichen  Grunde  wie  beim  Militär,  wegen  der 
damit  verbundenen  Gefahr  des  Dienstes  für  Leib  und  Leben;  jader 
Polizeidienst  ist  noch  gefährlicher  als  der  Militärdienst,  so  lange 
wir  im  Frieden  leben  und  unter  die  blinden  Patronen  keine  scharfen 
geraten.  Bei  Lehrern  und  Geistlichen  sagt  man,  der  Beruf  sei 
Lebensberuf;  aber  bei  andern  öffentlichen  Stellen  ist  es  das  Amt 
unter  Umständen  auch,  und  anderseits  sind  die  Kenntnisse  des  Lehrers, 
wie  die  anderer  Berufe  und   noch  mehr,  anderweitig  verwertbar, 

395 


wie  ja  auch  die  Lehrer  gelegentlich  noch  anderes  nebenbei  über- 
nehmen. Die  Pension  ist  aber  für  Lehrer  gar  nicht  deswegen, 
sondern  zur  Ergänzung  der  früher  unzureichenden  Besoldung 
eingeführt  worden,  ein  Grund,  der  heute  wohl  nicht  mehr  zutrifft. 
Jedenfalls  gilt  es  heute  nicht  mehr,  dadurch  einem  Lehrermangel 
abzuhelfen.  Die  Verhältnisse  der  zivilen  Funktionäre  gleichen 
sich  also  nachgerade  aus.  Es  ist  denn  in  andern  Kantonen  die 
Wohltat  der  Pension  bereits  auf  die  Beamten  überhaupt  ausge- 
dehnt worden. 

Warum  aber  sollten  die  öffentlichen  Betriebe  in  dieser  Be- 
ziehung günstiger  gestellt  sein  als  die  Privatwirtschaften?  Es  ist, 
meinen  wir,  Pflicht  des  Staates,  auf  eine  Volksversicherung  so 
gut  wie  auf  Beamtenversicherung  Bedacht  zu  nehmen,  und  unter 
gleicher  Beteiligung  seinerseits.  Er  bezahlt  seine  Angestellten  wie 
ein  Privatgeschäft  die  seinigen;  in  welchem  Maß  Privatfirmen  das 
tun  sollten,  gehört  auf  ein  anderes  Blatt  und  macht  zum  Teil 
die  große  Arbeiterfrage  aus.  Für  das  weitere  haben  die  Ange- 
stellten da  wie  dort,  beim  Staat  so  gut  wie  bei  Privaten,  in  erster 
Linie  selbst  zu  sorgen,  und  so  auch  für  die  Versicherung  in  alten 
und  kranken  Tagen.  Es  soll  vom  Staat  keine  Beamtenversiche- 
rung aus  sich  eingerichtet  werden,  und  so  auch  keine  Volks- 
versicherung. Aber  wie  der  Staat  die  Bildung  von  Beamtenver- 
sicherungen fördert  und  ihren  Bestand  durch  seine  Unterstützung 
sichert,  so  sollte  er  auch  zur  Bildung  von  Volksversicherungs- 
verbänden aufmuntern,  indem  er  dafür  staatliche  Unterstützung 
in  Aussicht  stellt.  Es  geht  über  die  Aufgabe  des  Staates  hinaus, 
sich  selbst  als  Versicherungsunternehmer  aufzutun,  und  ander- 
seits ist  es  finanzwirtschaftlich  kaum  statthaft,  große  Summen 
auf  einen  Stock  zu  schlagen,  bevor  Verwendung  dafür  da  ist, 
während  die  Staatsverwaltung  an  Defiziten  laboriert  und  das 
Volk  um  so  mehr  in  Kontribution  gesetzt  werden  muss.  Der 
Kanton  Zürich  hat  1911  ein  Gesetz  für  eine  kantonale  Invalidi- 
tätsversicherung beschlossen  und  dafür  einen  Fonds  angelegt,  der 
sich  mit  Ende  des  genannten  Jahres  auf  über  anderthalb  Millio- 
nen belief.  Damit  begab  man  sich  auf  eine  Bahn,  die  entweder 
noch  lange  für  das  Volk  fruchtlos  bleiben  oder  dann  erdrückende 
Folgen  für  den  Staat  haben  kann. 

Statt  dessen  hätte  man  die  Bildung  entsprechender  Verbände 

396 


vorsehen  und  gleich  mit  ihrer  Einrichtung  die  staath'che  Unter- 
stützung beginnen  sollen.  Der  eine  Verband  würde  dem  andern 
gerufen  und  so  die  Volksversicherung  einen  Gang  genommen 
haben,  dem  der  Staat  zu  folgen  vermocht  hätte.  So  hätte  man 
bereits  etwas  davon,  und  wer  schnell  gibt,  gibt  doppelt.  Es  ist 
grundfalsch,  demoralisierend  für  das  Volk  und  ruinös  für  den 
Staat,  immer  alles  von  diesem  zu  erwarten,  statt  zunächst 
die  Kräfte  der  Einzelnen  nach  ihrer  Leistungsfähigkeit  zusam- 
menzufassen und  den  Staat  erst  und  nur  insoweit  anzuspan- 
nen, als  jene  nicht  ausreichen.  Übrigens  geht  diese  Betrach- 
tung bereits  über  das  Beamtentum  hinaus  und  auf  das  Gebiet 
der  Wohlfahrtspflege  hinüber,  die  an  anderer  Stelle  noch  zu  be- 
rühren ist. 

Zum  Schluss  des  Abschnittes  noch  ein  Wort  von  der  be- 
strittensten  Beamtung,  dem  Bezirksrat,  dem  Mittelglied  zwischen 
Zentral-  und  Lokalverwaltung.  Die  wenigsten  Kantone  erlauben 
sich  diesen  Luxus,  nicht  größer  als  die  meisten  überhaupt  sind  — 
und  auch  größere  als  der  Kanton  Zürich  kommen  ohne  ihn  aus. 
Im  Kanton  Zürich  selbst  ist  der  Bezirksrat  eine  neuere  Erfindung. 
Zunächst  gab  es  nur  ein  Oberwaisenamt  im  Bezirk,  eingeführt 
1803,  das  dann  1831  zum  Bezirksrat  erweitert  wurde,  und  zwar 
wohlverstanden,  hauptsächlich  um  als  erste  Instanz  in  Verwaltungs- 
streitigkeiten zu  dienen,  der  rechtsstaatlichen  Idee  Ludwig  Kellers 
zulieb,  die  Treppeninstanz  des  Zivil prozesses  auf  das  Verwaltungs- 
streitverfahren zu  übertragen.  Abgesehen  davon,  dass  dieser  mehr- 
stufige Instanzenzug  auch  in  der  Rechtspflege  ein  zweifelhaftes 
Volksglück  ist,  hat  er  sich  bei  der  Verwaltung  jedenfalls  nicht 
bewährt.  Gerade  in  dieser  Beziehung  ist  der  Bezirksrat  heute  da^ 
fünfte  Rad  am  Wagen,  insofern  als  er  kaum  einen  erheblichen 
Entscheid  fällt,  der  nicht  an  den  Regierungsrat  weiter  gezogen 
würde,  so  dass  diesem  dadurch  nichts  erspart  bleibt.  Um  ihn 
zu  beschäftigen  sind  ihm  dann  noch  weitere  Kompetenzen  zu- 
geteilt worden,  statt  dass  er  umgekehrt,  sobald  sich  seine  eigent- 
liche Aufgabe  als  überflüssig  erwies,  überhaupt  abgeschafft  worden 
wäre.  Auch  die  Bezirke  sind  erst  1831  von  früheren  5  auf  11 
vermehrt  worden. 

Als   man  dann   1901    an  die  Revision  der  Bezirksbehörden 
ging  und  es  sich  fragte,  ob  die  Bezirksräte  nicht  überhaupt  abzu- 

39T 


schaffen  oder  wenigstens  die  Zahl  der  Bezirke  zu  vermindern  sei, 
wurde  die  Frage  damit  beantwortet,  dass  man  die  früheren  Tag- 
gelder durch  fixe  Besoldungen  ersetzte.  Damit  hat  man  nicht 
nur  diese  von  jeher  auf  der  Überzähiigenliste  stehende  Beamtung 
noch  mehr  befestigt,  sondern  auch  wider  den  Grundsatz  ge- 
sündigt, dass  nicht-ständige  Beamtungen,  wie  es  der  Bezirksrat 
bis  zum  Umfallen  ist,  keine  fixen  Besoldungen,  sondern  bloß 
Taggelder  erhalten  sollen  —  beides  wieder  auf  Unkosten  des 
Staates.  Und  die  Besoldungen  sind  dazu  noch  so  angesetzt  wor- 
den, dass  ein  Herr  Bezirksrat  einmal  erklärte,  eigentlich  nicht  zu 
wissen,  wofür  er  seine  Besoldung  beziehe.  Seither  jedoch  ist  diese 
abermals  erhöht  worden. 

Wenn  es  denn  schon  wegen  der  Bezirksgerichte  Bezirke 
geben  soll,  so  dürften  für  die  Verwaltung  gelegentlich  versammelte 
Abordnungen  der  Gemeinden  zur  Besprechung  der  Interessen 
des  Bezirkes,  also  Bezirkskonferenzen  vollständig  ausreichen,  für 
die  es  gar  kein  Taggeld  brauchte  oder  für  die  die  Gemeinden  auf- 
kommen sollten.  Warum  keine  Ehrenämter  mehr?  warum  sollte 
der  Bürger  nicht  auch  noch  etwas  für  das  Gemeinwesen  tun  und 
mit  der  Ehre  davon  sich  begnügen?  Namentlich  für  nur  ge- 
legentliche und  wenig  Zeit  in  Anspruch  nehmende  oder  auf  eine 
beliebige  Zeit  verlegbare  Amtshandlungen.  Sonst  kommt  man 
noch  dazu,  den  Bürger  für  seinen  Gang  zur  Urne  zu  bezahlen, 
was  übrigens  auch  schon  vorgeschlagen  worden  ist.  Statt  dessen 
für  alles  Bezahlung  und  gleich  fixe  Besoldung,  und  diese  noch 
möglichst  hoch!  Kein  Wunder,  wenn  unter  der  Last  der  Staat 
und  unter  dem  Staat  schließlich  der  Steuerzahler  erdrückt  wird. 
Freier,  leichter! 

III. 

Wenden  wir  uns  den  gesetzgebenden  Organen  und  ihrer 
Tätigkeit  zu,  so  stehen  in  erster  Linie  die  politischen  Volksrechte. 
Sie  sind  ein  teuer  Gut,  nicht  nur  weil  sich  in  ihnen  die  Demo- 
kratie ausspricht,  sondern  sie  kosten  Geld  und  sollten  daher  um 
so  weniger  unnütz,  üppig  oder  leichtfertig  gebraucht  werden. 
Und  wenn  sie  gar  noch  den  Überdruss  des  Volkes  selbst  er- 
wecken, wie  gelegentlich  geklagt  wird,  so  ist  es  daran  jedenfalls 
zuviel.  Eine  Volksabstimmung  kostet  den  Kanton  rund  7000  Fr. 

398 


Es  lohnt  sich  also  schon,  ihre  Zahl  möglichst  zu  beschränken, 
ungerechnet  den  Vorteil,  der  Unlust  daran  zu  begegnen,  ihre 
Bedeutung  und  die  Beteiligung  dabei  zu  erhöhen.  Besser  als  die 
Stimmberechtigten  durch  Strafgelder  zur  Urne  zu  treiben  ist  es, 
die  Gänge  zur  Abstimmung  zu  vermindern;  der  Appetit  wird 
dann  schon  kommen.  Wenn  in  einem  Jahr,  wie  es  auch  schon 
vorgekommen  ist,  vier  oder  fünf  Mal  das  Volk  zur  Abstimmung 
gerufen  wird,  so  ist  das  neben  den  vielen  Wahlen  und  Gemeinde- 
abstimmungen allerdings  viel,  und  wenn  auf  eine  Abstimmung 
schon  nach  drei  Monaten  oder  gar  schon  im  folgenden  Monat 
eine  andere  folgt,  so  erscheinen  sie  etwas  zu  rasch  aufeinander. 

Die  Verfassung  setzt  ein  Frühjahrs-  und  ein  Herbstreferen- 
dum fest,  und  darnach  ließen  sich  die  Vorlagen  einrichten;  diese 
beiden  Abstimmungszeiten  könnten  zu  einer  Art  von  Lands- 
gemeindetagen erhoben  werden;  sie  bezeichneten  die  ordentlichen 
Referenda,  außer  denen  es  nur  ganz  außerordentlicherweise  zu 
einer  Abstimmung  käme.  An  die  kantonalen  Abstimmungen 
schlössen  sich  dann  verständigerweise  die  Gemeindereferenda,  wie 
es  übrigens  bereits  zu  geschehen  pflegt,  und  eine  Ausnahme  in 
der  Verlegung  jener  träte  nur  ein,  wenn  eidgenössische  Abstim- 
mungen einfielen,  nach  denen  sich  die  kantonalen  ihrerseits  zu 
richten  hätten.  Aber  so  wie  es  ist,  gehen  ordentliche  und  außer- 
ordentliche kantonale  Abstimmungen  unterschiedslos  durchein- 
ander. Es  gilt  zwar  als  politische  Klugheit,  gelegentlich  zwei  Ab- 
stimmungen zu  trennen,  um  nicht  die  eine  Vorlage  durch  die 
andere  zu  Fall  zu  bringen;  aber  man  kann  auch  zu  gewunden 
und  zu  wenig  gerade  vorgehen;  das  Volk  merkt  dann  leicht  die 
Absicht  und  wird  verstimmt. 

Überhaupt  klagt  man  über  die  Gesetzgebungssucht  des  mo- 
dernen Volksstaates;  sie  liegt  aber  weniger  am  Volk,  als  an  den 
gesetzgebenden  Behörden.  Das  Volk  hat  bei  uns  ja  wohl  auch 
das  Recht,  Gesetze  aufs  Tapet  zu  bringen,  und  hat  dafür  nicht 
nur  einen,  sondern  gar  vier  Wege:  Einzelinitiative,  Behördenini- 
tiative, Gemeindeinitiative  und  dazu  erst  noch  die  eigentliche 
Volksinitiative,  die  Kollektiv-  oder  Masseninitiative  von  5000 
Unterschriften.  Die  drei  ersten  kommen  sonst  nirgends  vor  und 
sind  auch  zu  viel,  schaden  aber  wenig,  weil  sie  fast  nicht  ge- 
braucht werden.    Und  von   der  Masseninitiative  könnte  es  sich 

399 


fragen,  ob  nicht  die  Zahl  der  Initianten  bei  nächster  Gelegenheit 
erhöht  werden  sollte,  und  zwar  nicht  nur  um  das,  was  sie  seit 
Erlass  der  Verfassung  durch  Vermehrung  der  Stimmberechtigten 
verhältnismäßig  gesunken  ist,  sondern  noch  weiter,  um  sie  mehr 
zu  beschränken,  als  es  von  Anfang  der  Fall  war.  Je  höher  die 
Zahl,  um  so  weniger  wird  die  Initiative  für  alle  Einfälle  miss- 
braucht, und  um  so  größer  ist  auch  die  Wahrscheinlichkeit,  dass 
sie  von  der  Mehrheit  der  Stimmberechtigten  angenommen  werde 
und  nicht  nutzlos  vergeudet  sei.  Aber  auch  der  Gebrauch  der 
Masseninitiative  ist  schon  so  nicht  allzuhäufig.  Übrigens  hat  sie 
schon  gutes  gebracht,  wie  die  Abschaffung  der  Schuldenschreiber, 
dieser  Fronvögte  des  Volkes,  und  die  Einrichtung  der  Korrektions- 
anstalten, eines  fast  gleich  den  Gefängnissen  unentbehrlichen  Insti- 
tutes, und  was  von  der  Steuerfußinitiative  in  Wahrheit  zu  halten 
war,  haben  wir  oben  gesagt.  Der  Rest  der  Gesetzgebung  liegt  bei  der 
gesetzgebenden  Behörde,  und  damit  kommen  wir  zum  Kantonsrat. 

Die  Zahl  einmal  der  Kantonsratsmitglieder  ist  entschieden  zu 
groß.  Es  ist  zwar  im  Lauf  von  bald  einem  halben  Jahrhundert 
geglückt,  die  ursprüngliche  Verhältniszahl  von  1200  (ein  Mitglied 
auf  1200  Seelen)  in  zwei  Malen  je  etwas  zu  erhöhen:  1878  auf 
1500  und  endlich  1911,  nach  langem  und  zähem  Widerstand 
des  Kantonsrates  selbst,  auf  1800.  Infolge  der  Initiative  Walder 
ist  1894  auch  die  Repräsentationsbasis  geändert  worden,  indem 
seither  die  Vertretung  nicht  mehr  nach  Seelen  oder  Einwohnern 
schlechthin,  sondern  bloß  nach  Schweizerbürgern  bemessen  wird, 
und  damit  ist  wiederum  die  Vertreterzahl  vermindert  worden. 

Aber  die  Zahl  ist  immer  noch  zu  groß,  mit  Rücksicht  darauf, 
dass  die  Haupttätigkeit  des  Kantonsrates,  die  Gesetzgebung,  seit 
1869  auf  das  Volk  übergegangen  ist,  und  er  nur  noch  eine  vor- 
beratende Kommission  darstellt.  Die  von  früheren  Jahrhunderten 
hergebrachten  „Zweihundert"  haben  mit  dem  Übergang  zur  rei- 
nen Demokratie  ihre  Bedeutung  verloren,  und  schon  1869 
wurden  sie  nur  als  ein  Mittel  in  die  neue  Verfassung  hinüber- 
genommen, um  dieser  desto  eher  zur  Annahme  zu  verhelfen. 
Die  Verhältniszahl  war  also  eine  Art  Übergangsbestimmung,  wie 
es  deren  noch  andere  in  der  Verfassung  gibt,  ohne  dass  sie 
als  solche  erkannt  wären  und  also  inzwischen  ihre  Aufhebung 
oder  Änderung  gefunden  hätten. 

400 


Eine  zu  große  Zahl  von  Beamten  geht  aber  hier  wie  auf 
andern  Seiten  der  Staatsverwaltung  ins  Geld;  beim  Kantonsrat 
nicht  nur  weil  Überzählige  zu  bezahlen  sind,  sondern  auch  weil 
je  größer  die  Zahl,  um  so  schleppender  und  länger  die  Verhand- 
lungen sind,  und  bei  einer  allzu  fruchtbaren  Gesetzesproduktion  will 
die  Ausgabenvermehrung  nicht  enden.  Es  fehlte  nur  noch,  dass 
wegen  der  Überzähligen  ein  neues  und  größeres  Rathaus  gebaut 
würde  und  man  damit  den  Architekten  in  die  Hände  fiele;  was 
diese   kosten,   weiß  man  schon  aus  der  Renovation  des  alten  ^). 

Wenn  am  Ende  der  größeren  Zahl  eine  um  so  bessere 
Fühlung  mit  dem  Volke,  das  schließlich  über  die  Gesetze  zu 
entscheiden  hat,  und  damit  ein  um  so  sicherer  Gang  der  Gesetz- 
gebung zu  verdanken  wäre;  aber  nicht  einmal  das  ist  der  Fall, 
nach  den  vielen  vom  Volk  oft  gegen  alles  Erwarten  der  Behörde 
verworfenen  Gesetzen  zu  schließen.  Die  Mitglieder  scheinen  viel- 
mal die  Stimmung  der  von  ihnen  vertretenen  Kreise  nicht  zu 
kennen  oder  vor  ihr  nichtgehörig  zu  warnen,  was  zum  mindesten 
ihre  Aufgabe  wäre,  und  also  auch  in  dieser  Beziehung  nicht 
mehr  zu  leisten  als  eine  engere  Kommission,  auf  die  die  Behörde 
zu  beschränken  sich  daher  um  so  mehr  rechtfertigte. 

Was  sodann  die  Zusammensetzung  betrifft,  so  war  das  Mittel 
der  Inititiative  Walder,  wodurch  die  Ausländer,  die  von  jeher  und 
ohnehin  von  der  Vertretung  im  Rat  ausgeschlossen  sind,  auch 
von  der  zu  vertretenden  Bevölkerung  abgeschnitten  wurden,  ja 
wohl  grundsätzlich  falsch.  Für  die  Ausländer  werden  die  bürger- 
lichen Gesetze  nicht  weniger  als  für  die  Inländer  erlassen,  wie 
sie  denn  auch  wie  diese  den  Gesetzen  zu  gehorchen,  die  gleichen 
Steuern  zu  bezahlen  haben  und  anderseits  auch  zum  schweize- 
rischen Wohlstand  beitragen.  Aber  der  Zweck  der  Initiative,  eine 
Verminderung  der   städtischen   Vertretungen  oder  vielmehr  eine 


1)  Diese  Renovation,  die  aus  einem  allgemeinen  zürcherischen  Reno- 
vationsfieber entspringt,  war  nicht  nur  das  überflüssigste,  sondern  das  un- 
künstlerischte  Ding  der  Welt;  die  schöne  Patina  gehörte  zum  Stadtbild, 
dieabgewalmten  neuen  Lukarnen  widersprechen  direkt  des  Absicht  der  alten 
Architekten,  und  wie  man  die  alten  Dachtraufen  geändert  hat,  ist  für  jeden 
Menschen  mit  künstlerischem  Feingefühl  einfach  unverständlich.  Es  ist 
wirklich  tragisch,  dass,  wenn  unser  Staat  einmal  für  künstlerische  Zwecke 
Geld  springen  lassen  will,  statt  Kunst  gerade  Unkunst  und  tolle  Ver- 
schwendung herausschaut.  a.  b. 

401 


verhältnismäßig  stärkere  Vertretung  der  Landschaft  herbeizu- 
führen, erschien  ganz  berechtigt.  Es  handelt  sich  nicht  nur  um 
die  Interessen  der  Bevölkerung,  sondern  auch  des  Landes,  des 
Gebietes,  und  darnach  soll  die  Vertretung  bemessen  und  verteilt 
werden. 

Wenn  ein  hoher  Kantonsrat  zwar  sonst  nicht  mit  einer 
Gendarmerie  verglichen  werden  darf,  noch  weniger  von  ihr  wird 
lernen  wollen,  so  gibt  sie  doch  in  dieser  Beziehung  das  Beispiel: 
richtig  organisiert  wird  sie  nicht  nur  nach  der  Zahl  der  Bevölke- 
rung, sondern  auch  nach  dem  Umfang  des  Gebietes  bestellt,  das 
sie  ebenso  gut  wie  jene  zu  überwachen  hat.  Nur  fehlt  es  noch 
an  einer  Formel  für  die  Verhältniszahl,  die  beide  Faktoren  zu- 
gleich berücksichtigte,  wenn  sie  sich  überhaupt  auffinden  lässt 
und  nicht  zur  Quadratur  des  Zirkels  gehört.  Aber  ist  nur  der 
Grundgedanke  richtig,  so  wird  bei  der  Ausführung  das  Gefühl 
zum  Richtigen  helfen,  wie  es  zum  Beispiel  im  Steuerrecht  bei 
der  Bestimmung  der  Progressionskurve  geschah. 

Ob  nicht  eine  Vertretung  nach  den  lebenden  Interessen 
von  Ständen  oder  Berufsklassen  das  Richtigere  wäre  statt  nach 
toten  geographischen  Kreisen,  soll  nur  eine  Frage  sein,  die 
auch  schon  und  vielfach  gestellt  worden  ist.  Jedenfalls  kennt  der 
Kanton  keinen  Ausschluss  eines  Standes,  auch  der  Geistlichen 
nicht,  die  ja  im  Kanton  ganz  ungefährlich  sind.  Hingegen  leidet 
der  Rat  an  einem  Übermaß  von  Advokaten,  die  mit  ihrer  Unbe- 
fangenheit und  Mundfertigkeit  den  Rat  beherrschen.  Die  Advo- 
katen aber  sind  die  unproduktivste  und  am  Volk  am  meisten 
zehrende  Klasse  und  daher  zu  wirklich  fruchtbarer  Arbeit  für 
das  Volk  am  wenigsten  geeignet.  Selbst  da,  wo  sie  für  die  Be- 
ratung am  unentbehrlichsten  erscheinen,  bei  Gegenständen  der 
Rechtsordnung,  stehen  ihre  Interessen  einem  volksmäßigen  Recht, 
einem  einfachen  und  klaren  materiellen  Recht  und  einer  schnellen 
und  billigen  Rechtspflege,  schlechterdings  entgegen.  Um  so  mehr 
dürfte  ihre  Vertretung  auf  den  Prozentsatz  ihres  Standes  beschränkt 
und  dafür  die  andern  Vertretungsgruppen  desto  mehr  verstärkt 
werden.  Was  an  juristischen  Kenntnissen  im  Rate  nötig  ist,  könn- 
ten auch  sonstige  Vertreter  dieser  Wissenschaft,  Gelehrte  und 
Beamte,  deren  es  noch  genug  gibt,  bieten. 

(Fortsetzung  folgt) 
402 


ZUR  SPARKASSENFRAGE 

Die  letzten  Jahre  haben  uns  allerlei  Überraschungen  im  Bank- 
wesen gebracht.  Dass  eine  Sparkasseneinlage  nicht  so  ohne 
weiteres  sicher  aufgehoben  ist,  diese  bittere  Erfahrung  haben  viele 
kleine  Leute  machen  müssen.  Sie  haben  sie  gemacht  in  Aadorf, 
Eschlikon,  Biel,  Saignelegier,  Kloten,  Herzogenbuchsee  usw.  Die 
Lehre,  die  man  aus  den  betrübenden  Vorkommnissen  zog,  war 
die:  in  Kantonen,  wo  keine  eigentlichen  Sparkassengesetze  be- 
stehen, muss  entweder  ein  solches  Gesetz  geschaffen  werden  oder 
dann  eine  regelmäßige  Kontrolle  durch  einen  sogenannten  Re- 
visionsverband einsetzen.  Der  Kanton  Bern  zog  die  Konsequenz 
aus  den  misslichen  Erfahrungen  in  seinem  Wirtschaftsgebiet.  Kaum 
hat  sich  der  letztes  Jahr  konstituierte  Revisionsverband  an  die 
Arbeit  gemacht,  zeigen  sich  bei  der  Spar-  und  Kreditkasse  Burg- 
dorf Unterschlagungen,  die  auf  34  Jahre  zurückgehen  und  die 
kein  Revisor  je  entdeckte.  Der  Fall  in  Burgdorf  ist  aber  durch 
die  neuesten  Vorfälle  in  Bremgarten  in  den  Schatten  gestellt 
worden.  Die  mit  der  Untersuchung  betrauten  Instanzen  erklären 
rundweg,  die  Unordnung  sei  dort  so  groß,  die  Buchhaltung  der- 
art im  Rückstande,  dass  eine  „längere  Untersuchung"  —  für  ein 
kleines  Landinstitut!  —  nötig  sei,  um  Ordnung  in  die  Sache  zu 
bringen.  Es  muss  befürchtet  werden,  dass  auch  die  Spargelder 
und  Obligationen  von  der  Katastrophe  betroffen  werden.  Und  da 
erhebt  sich  denn  gleich  die  Frage:  wie  kommt  es  denn  überhaupt, 
dass  Spargelder  solchen  Gefahren  ausgesetzt  sind,  dass  sie  in 
riskanten  Geschäften  Anlage  finden?  Es  muss  dabei  von  folgen- 
dem ausgegangen  werden :  Die  meisten  Sparkassen  verdanken  bei 
uns  der  gemeinnützigen  Initiative  ihr  Entstehen.  Trotzdem  das 
Sparkassenwesen  bald  mehr  als  anderthalb  Jahrhundert  zurückreicht, 
ist  die  Erkenntnis  von  dessen  volkswirtschaftlicher  Bedeutung  spät 
gereift.  Ein  erster  Kenner  der  Materie,  M.  Seidel  in  München, 
hat  uns  in  seinen  Ausführungen  gezeigt,  dass  noch  Mitte  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  die  „Times"  in  England  und  der 
„National"  in  Frankreich  gegen  die  Sparkassen  Partei  genommen 
haben.  Man  hat  den  Anstalten  den  Vorwurf  gemacht,  dass  sie 
die  Ansprüche  der  Einleger  vermehren,  ohne  dass  die  gemachten 
Ersparnisse  groß  genug  wären,  dieselben  aus  ihrer  bisherigen  Lage 

403 


herauszureißen;  dass  sie  den  Individualismus  fördern,  indem  sie 
die  Bande  von  Schuldner  und  Gläubiger  lockern  und  auflösen. 
Diese  Anschauungen  haben  sich  überlebt.  Heute  wird  das  Sparen 
als  eine  unentbehrliche  Tugend  und  ein  wichtiges  Heilmittel  gegen 
die  sozialen  Schäden  angesehen. 

in  dieser  Hinsicht  ist  zwar  eine  Überschätzung  leicht  möglich, 
denn  die  Zufälligkeiten  des  wirtschaftlichen  Lebens  treffen  die 
Arbeiterklasse  weit  härter  und  nötigen  sie  häufiger  zum  Aufbrauchen 
zurückgelegter  Ersparnisse.  Seidel  schreibt  über  Deutschland,  das 
Sparen  und  die  Beförderung  des  Sparsinnes  erscheine  als  wirk- 
sames Mittel,  um  der  Ausbreitung  der  Sozialdemokratie  entgegen 
zu  wirken.  Schon  die  Übung  im  Sparen  und  der  Besitz  von  Er- 
sparnissen übe  auf  das  sparende  Individuum  einen  günstigen  Ein- 
fluss  aus  und  bewahre  es  vor  kommunistischen  Ideen. 

Auch  ein  Teil  der  Sozialdemokratie  ist  von  der  Ansicht  zu- 
rückgekommen, das  Sparen  habe  für  sie  keinen  Wert  wegen  der 
Kleinheit  der  Beträge,  die  noch  im  günstigen  Falle  auf  die  Seite 
gelegt  werden  können.  Der  Ausspruch  einer  internationalen 
Arbeiterversammlung  in  Marseille:  „L'ouvrier  qui  epargne  est  un 
traitre"  wird  nicht  mehr  so  ohne  weiteres  anerkannt.  Soeben 
erklärt  Edmund  Fischer  in  den  Sozialistischen  Monatsheften 
(Heft  11,  Jahrgang  1913),  es  wäre  ganz  sinnlos  und  unverständ- 
lich, wenn  sich  die  Sozialdemokratie  heute  noch  gegen  die  Be- 
strebungen richten  wollte,  die  darauf  hinzielen,  es  den  Arbeitern 
in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  schon  so  wohnlich  und  angenehm 
wie  nur  möglich  zu  machen.  Die  im  eigenen  Häuschen  wohnen- 
den Arbeiter  mit  kleiner  Kinderzahl  würden  sich  als  die  besten 
Kämpfer  für  den  Sozialismus  erweisen.  (?) 

Auch  in  der  Schweiz  hat  sich  das  Sparkassenwesen  unter  der 
Herrschaft  der  freien  Konkurrenz  anders  gestaltet,  als  es  in  der 
ursprünglichen  Absicht  der  Schöpfer  dieser  Institution  lag.  Die 
philantropischen  Gesichtspunkte  sind  immer  mehr  zurückgetreten, 
der  Erwerbszweck  ist  in  den  Vordergrund  gerückt. 

Mit  Recht  betonte  im  Jahr  1901  der  Bericht  des  Schweizeri- 
schen Handels-  und  Industrievereins,  dass  man  unter  der  Herr- 
schaft der  freien  Konkurrenz  den  eigentlichen  Zweck  der  Spar- 
anstalten vielfach  aus  den  Augen  verloren  habe.  Weitaus  der 
größte  Teil  der  gesamten  Spargelder  fließt  heutzutage  jenen  Insti- 

404 


tuten  zu,  welche  alle  Spareinlagen  einfach  als  Betriebsmittel 
betrachten  und  verwenden,  bestimmt,  ihren  Inhabern  einen 
möglichst  großen  Gewinn  abzuwerfen.  Es  sind  dies  große  Bank- 
institute, Kantonalbanken,  sodann  die  Spar-  und  Leihkassen,  denen 
die  Spargelder  neben  den  Obligationen  und  Kontokorrent-Kredi- 
toren einen  Teil  des  Betriebskapitals  für  das  Darleihensgeschäft 
liefern.  Bis  in  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  lag  das 
Handelsbankgeschäft  auch  in  der  Schweiz  fast  ausschließlich  in 
Privathänden;  die  Institute  der  Jahre  1810  bis  1850  sind  zu  86 
Prozent  Sparkassen  gewesen,  in  der  Absicht  gegründet,  dem 
kleinen  Geldbesitzer  einen  sichern  Aufbewahrungsort  neben  mäßiger 
Rendite  zu  bieten. 

Heute  fallen  die  eigentlichen  Sparkassen,  die  von  Genossen- 
schaften oder  von  gemeinnützigen  Männern  fundiert  und  zum 
großen  Teil  auch  von  solchen  verwaltet  wurden,  weniger  ins  Ge- 
wicht. Diese  gemeinnützigen  Kassen,  die  schließlich  doch  auch 
mit  ihren  Spargeldern  Geschäfte  machen  müssen,  vor  allem 
Hypothekargeschäfte,  haben  sich  überlebt.  Nach  den  heute  im 
Bankwesen  herrschenden  Ansichten  verlangt  man  von  den  Insti- 
tuten, die  fremden  Kredit  heranziehen,  ein  eigenes  Kapital,  nicht 
nur  einen  Reservefond,  wie  ihn  die  meisten  dieser  auf  gemein- 
nütziger Basis  ausweisen  als  alleiniges  Eigenkapital.  Ob  der 
Gewinn  aus  dem  Geschäftsbetrieb  als  Dividende  verteilt  oder  in  n 
den  Reservefond  fließt,  kommt  für  die  Sicherheit  der  bei  dem 
Institute  angelegten  fremden  Gelder  nicht  in  Betracht. 

Der  frühere  Banknoteninspektor  Scherer  stellte  schlankweg 
für  sämtliche  Sparkassen  ein  Minimalerfordernis  an  eigenem 
Kapital  von  zehn  Prozent  der  Spareinlagen  auf;  andere  hielten 
jegliche  bureaukratische  Schabionisierung  für  widersinnig.  Nach 
dem  oben  erwähnten  Bericht  des  Schweizerischen  Handels- 
und Industrievereins  wurde  gegen  den  Vorschlag  wohl  mit  Recht 
eingewendet,  es  komme  darauf  an,  welche  Art  Geschäfte  eine 
Sparkasse  (im  weitesten  Sinne  des  Wortes)  betreibe,  ob  sie  viel 
Kontokorrent-Verkehr  habe,  oder  gar  ungedeckten  Kredit  gebe, 
ob  sie  in  der  Belehnung  von  Grundeigentum  einen  weiteren 
Spielraum  habe,  oder  ob  sie  zum  Beispiel  streng  an  das  Erfor- 
dernis eines  doppelten  Unterpfandes  gebunden  sei. 

405 


Die  Spareinlagen  als  fremde  Betriebsmittel  spielen  namentlich 
bei  den  Kantonalbanken  mit  den  Leihkassen  eine  große  Rolle. 
Es  gibt  Institute,  bei  denen  sie  bis  zu  dreißig  und  mehr  Prozent 
der  Bilanzsumme  ausmachen.  Die  gesonderte  Geschäftsführung 
und  die  Ausscheidung  einer  SpezialSicherheit  —  nach  dem  st.  galli- 
schen Gesetz  beträgt  die  vorgeschriebene  Deckung  der  Sparkassen- 
einlagen 110  7«  —  wird  nur  da  vorgenommen,  wo  das  Gesetz 
dazu  zwingt.  Würde  diese  Sicherheit  ohne  weiteres  geleistet,  so 
wären  die  meisten  Klagepunkte  gegen  das  moderne  Sparkassen- 
wesen aus  der  Welt  geschafft.  Den  Handelsbanken  passt  eine 
derartige  Sicherheitsleistung  nicht  in  ihren  Geschäftsbetrieb. 

Der  um  die  Regelung  des  Sparkassenwesens  hochverdiente 
verstorbene  Kantonstatistiker  E.  Naef  nennt  vier  Formen  der  Ein- 
mischung des  Staates  in  das  Sparkassenwesen :  1.  Der  Kanton  oder 
die  Gemeinde  ist  Selbstgründer  und  Verwalter  der  Sparinstitute. 
2.  Der  Kanton  oder  die  Gemeinde  gewährt  den  Sparkassen  die 
staatliche  oder  kommunale  Haftung.  3.  Der  Kanton  stellt  die  Kassen 
unter  besondere  Aufsichtgesetze.  4.  Der  Kanton  beschränkt  sich 
auf  die  allgemeinen  Vorschriften  betreffend  die  juristischen  Per- 
sonen. Nach  den  Feststellungen  Naefs  ist  in  der  Schweiz  bei 
der  Natur  der  Sparkassen  als  im  öffentlichen  Interesse  errichteten 
Anstalten  die  Teilnahme  des  Staates  (Kantone)  und  der  Gemein- 
den im  Gegensatz  zu  anderen  Ländern  eine  sehr  beschränkte; 
sie  erstreckt  sich  kaum  über  zwölf  Prozent  aller  Kassen.  Auch 
als  Anstalten  des  öffentlichen  Rechts  ist  bis  jetzt  nur  ausnahms- 
weise deren  Errichtung  von  staatlicher  Genehmigung  abhängig. 
Diese  Feststellungen  verdienen  bei  der  Würdigung  unseres  ein- 
heimischen Sparkassenwesens  ganz  besonders  beachtet  zu  werden. 

Eigentliche  Sparkassengesetze  bestehen  unseres  Wissens  bisher 
nur  in  zwei  Kantonen  zu  Recht:  in  Freiburg  (1862)  und  St.  Gal- 
len (1892).  Verschiedene  Kantone,  so  Zürich  und  Luzern,  sind 
auf  dem  Wege  zu  einer  solchen  Gesetzgebung.  Im  Jahre  1899 
wurde  in  Zürich  ein  entsprechender  Entwurf  abgelehnt.  Im  Zürcher 
Kantonsrate  forderte  der  jetzige  Bundesrat  Forrer  als  Minimum 
von  dem  Gesetze:  „jährliche  und  öffentliche  Rechnungslegung  und 
ein  gewisses  Verhältnis  zwischen  Einlagen  und  Deckung." 

Das  St.  gallische  Gesetz  fordert  die  Deckung  des  Gesamt- 
einlagekapitals  durch   solide   Werttitel ;   für  zehn   Prozent   dieses 

406 


Sparkapitals  muss  eine  weitere  unbezahlte  Sicherheit  (Aktien- 
kapital und  Reservefond)  vorhanden  sein.  Verlangt  wird  besondere 
Buchführung  und  Lostrennung  des  Sparkassengeschäftes  von  jedem 
andern.  Der  Artikel  4  des  Gesetzes  bestimmt:  „Die  für  die  Spar- 
kassengarantie angewiesenen  Titel  haften  in  erster  Linie  den  Spar- 
kasseneinlegern für  ihre  Guthaben." 

Die  St.  gallische  Kantonalbank  ist  dem  Gesetze  nicht  unter- 
stellt, weil  für  sie  Staatsgarantie  besteht.  Inwieweit  eine  solche  in 
den  einzelnen  Kantonen  sich  erstreckt,  —  auf  das  Dotationska- 
pital oder  auch  auf  die  Gesamtengagements  —  ist  heute  wohl 
noch  eine  nicht  absolut  geklärte  Frage. 

Fallen  denn,  so  wird  man  fragen,  die  Depositen  und  Obli- 
gationen ebenfalls  unter  eine  gesetzliche  Bestimmung?  Darüber 
besteht  unseres  Wissens  in  keinem  Kanton  eine  Vorschrift;  unsere 
eidgenössische  und  unsere  kantonale  Gesetzgebung  hat  sich 
bisher  nur  zweierlei  Transaktionen  angenommen :  des  Banknoten- 
geschäftes (jetzt  Monopol  der  Schweizerischen  Nationalbank)  und 
des  Sparkassengeschäftes.  Würde  bei  uns  der  Pfandbrief  sich  im 
Verkehr  eingebürgert  haben,  so  lägen  die  Dinge  wesentlich 
günstiger.  Das  Schweizerische  Zivilgesetzbuch  sieht  in  den  Art. 
916  bis  919  dieses  Instrument  vor.  Darnach  können  die  von  den 
zuständigen  kantonalen  Behörden  bezeichneten  Anstalten  für  den 
Grundpfandverkehr  Pfandbriefe  ausgeben  mit  Pfandrecht  an  den 
ihnen  gehörenden  Grundpfandtiteln  und  an  anderen,  ihrem  ordent- 
lichen Geschäftskreis  entspringenden  Forderungen.  Diese  Pfand- 
briefe haben  die  Eigentümlichkeit,  dass  sie  für  den  Gläubiger 
unkündbar  sind.  Die  Bundesgesetzgebung  hat  bisher  die  Bedin- 
gungen, unter  denen  die  Ausgabe  solcher  Pfandbriefe  erfolgen 
darf,  noch  nicht  festgesetzt  und  auch  noch  nicht  über  die  Ein- 
richtungen solcher  Anstalten  legiferiert.  Es  ist  zu  wünschen,  dass 
man  mit  tunlicher  Schnelligkeit  an  die  Ausführung  dieser  grund- 
sätzlichen Bestimmungen  gehe.  Das  deutsche  Hypothekenbank- 
gesetz vom  13.  Juli  1899  enthält  in  den  Paragraphen  29  ff  Be- 
stimmungen über  den  Treuhändler.  Bei  jeder  Bank  ist  ein  solches 
Organ  zu  bestellen.  Der  Treuhändler  hat  nach  dem  Wortlaut  des 
Gesetzes  darauf  zu  achten,  dass  die  vorschriftmäßige  Deckung 
für  die  Hypothekenpfandbriefe  jederzeit  vorhanden  ist;  er  hat  dar- 
auf zu  achten,  dass  die  zur  Deckung  der  Hypothekenpfandbriefe 

407 


bestimmten  Hypotheken  gemäß  den  Vorschriften  des  Gesetzes 
in  das  Hypothekenregister  eingetragen  werden. 

Es  ist  so  gut  wie  sicher,  dass  mit  der  Einführung  des  auf 
eine  gesetzhche  Grundlage  sich  stützenden  Pfandbriefes  die  Aus- 
<l,  gäbe  von  Obligationen  in  der  zur  Zeit  herrschenden  Weise  fort- 
•  gefahren  wird.     Die  Bedenken,  die  vom  Standpunkte  des  mittel- 

ständischen Kredites  aus  gegen  die  zu  schaffende  Postsparkasse 
erhoben  werden,  lassen  deutlich  erkennen,  dass  die  Banken,  welche 
zur  Deckung  dieses  Kreditbedarfes  in  Frage  kommen,  auch  in 
Zukunft  nach  wie  vor  in  den  Kassaobligationen  einen  großen 
Bestandteil  der  fremden  Betriebsmittel  erblicken. 

Was  muss  geschehen?  Es  ist  bei  jedem  Zusammenbruch 
gesagt  worden:  die  Banken,  welche  Spargelder,  Depositen,  Obliga- 
tionengelder annehmen,  müssen  ihre  Gelder  bankmäßig  verwenden. 
Die  kleineren  Institute  leiden  unter  der  Konkurrenz  der  Mittel 
banken  und  Großbanken.  Daran  ist  nun  einmal  nichts  zu  ändern ; 
der  Zug  ins  Große,  zur  Konzentration  liegt  im  Charakter  unserer 
Zeit.  Er  äußert  sich  nicht  im  Bankwesen  allein,  sondern  noch 
viel  mächtiger  in  der  Industrie  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
auch  im  Handel.  Es  muss  eine  wirksamere  Kontrolle  einsetzen, 
sei  es  durch  einen  Revisionsverband  oder  durch  den  Staat,  soweit 
das  Sparkassengeschäft  in  Frage  kommt.  Die  zweite  Lösung  wird 
aus  den  vorhin  angegebenen  Gründen  eine  Halbheit  bleiben,  weil 
sie  nur  die  Spareinlagen  erfasst.  Werden  die  Bedingungen  für  die 
Banken  zu  sehr  durch  den  Staatseingriff  erschwert,  so  ist  die 
Folge  die:  es  wird  Zuflucht  zu  anderen  Formen  genommen. 
Man  nennt  das  Kind  anders,  statt  Spareinlagen  Depositen.  Und 
vor  allem  werden  die  Kassaobligationen  namentlich  bei  solchen 
Instituten  noch  mehr  zunehmen,  die  nur  schwache  eigene  Mittel 
besitzen.  Staatliche  Sicherstellung  der  Spareinlagen  und  im  übrigen 
Kontrolle  durch  einen  Revisionsverband,  das  sollte  die  Forderung 
sein.  Damit  wäre  beiden  geholfen:  den  Sparkassen-  und  Obliga- 
tionengläubigern. 

Die  Debatten  in  unseren  kantonalen  Parlamenten  bringen  in 
den  seltensten  Fällen  wirtschaftliche  Probleme  der  Lösung  erheb- 
lich näher.  Was  jeweilen  zum  Thema  gesprochen  wird,  über- 
schreitet kaum  den  Rahmen  einer  manchmal  wohl  interessanten 
subjektiven  Betrachtungsweise  und  erhebt  sich  selten  auf.  ein  Ni- 

408 


veau,  das  demjenigen,  der  die  Probleme  berufsmäßig  verfolgt, 
einigen  Respei<t  einflössen  könnte.  Wir  haben  in  unserem  Lande 
bis  in  die  letzten  fünfzehn  Jahre  wirtschaftliche  Fragen  allzu 
stiefmütterlich  behandelt;  die  ältere  Schule,  von  einigen  bedeu- 
tenden Köpfen  abgesehen,  lebt  noch  immer  in  dem  Wahne,  derlei 
Probleme  lassen  sich  so  ganz  nebenbei  lösen.  Es  ist  hohe  Zeit, 
dass  unser  legislativer  Apparat  von  den  Gesetzen  des  logischen, 
ökonomischen  Denkens  durchdrungen  und  der  geistlose  bureau- 
kratische  Formelkram  endgültig  verabschiedet  wird. 

Das  Sparkassenwesen  bedarf  also  einer  gründlichen  Reform; 
in  jenen  Kantonen,  wo  keine  Schutzgesetze  bestehen,  müssen  sie 
geschaffen  werden;  unabhängig  von  der  Staatskontrolle  sollte  die- 
jenige eines  Revisionsverbandes  über  den  ganzen  Geschäftsbetrieb 
bestehen. 

Der  Ruf  nach  einem  eidgenössischen  Sparkassengesetz  will 
heute  nur  heißen:  es  bleibt  für  manche  Jahre  beim  alten.  Wie 
unbeweglich  ist  der  Bund,  wenn  es  sich  um  den  Ausbau  der 
wirtschaftlichen  Gesetzgebung  handelt!  Und  wie  rasche  Arbeit 
wird  im  Vergleich  dazu  in  anderen  Ländern,  namentlich  in  Deutsch- 
land geleistet.  Wenige  Monate,  nachdem  die  Wertzuwachssteuer 
von  einigen  Gruppen  der  Linken  vorgeschlagen  wurde,  lag  auch 
schon  das  fertige  Projekt  vor.  Bei  der  Schwerfälligkeit  unserer 
politischen  Maschinerie  muss  man  leider  Gottes  immer  mit  Jahren 
rechnen.  Was  für  ein  Schneckentempo  schlägt  man  beispielsweise 
bei  der  eidgenössischen  Gewerbegesetzgebung  ein.  Vor  Jahren 
haben  wir  schon  über  den  Verfassungsgrundsatz  abgestimmt;  und 
trotzdem:  von  einer  Gesetzesvorlage  heute  noch  keine  Spur. 
Bis  der  Bund  ihn  schützt,  kann  noch  mancher  arme  Teufel  um 
seine  Spargroschen  kommen.  Die  Vorgänge  der  letzten  Jahre 
gebieten,  dass  wenigstens  vorläufig  auf  kantonalem  Wege  die 
Spareinleger  geschützt  werden. 

ZÜRICH  PAUL  GYGAX 


•*«»ä»^ 


409 


L  ESPRIT  POLITIQUE  CHEZ 
LES    eCRIVAINS    FRAN^AIS 

AU  COMMENCEMENT   DU  XX^  SIEGLE^) 

II  y  a  ä  l'heure  actuelle,  dans  la  pensee  publique  et  dans 
le  monde  litteraire  en  France,  une  suractivite  qui  confine  ä  l'agi- 
tation.  Cela  ne  va  pas  sans  malaise.  C'est  un  de  ces  malaises 
genereux  gräce  auxquels,  periodiquement,  s'atteste  et  se  renou- 
velle  la  vitalite  d'un  peuple.  Le  tourment,  pour  cela,  n'en  est  que 
plus  vif,  car  ii  est  plein  de  hätes  et  d'impatiences. 

Ce  malaise  vient,  pour  une  bonne  part,  du  trouble  qui 
existe  entre  l'esprit  politique  et  l'esprit  litteraire. 

L'esprit  politique,  c'est  le  sens  eveille  des  necessites  de  la 
vie  en  commun  et  des  aises  ä  y  introduire,  au  profit  des  rela- 
tions  du  pouvoir  et  des  individus,  au  profit  de  la  liberte  et  de 
l'agrement  des  individus. 

L'esprit  litteraire,  c'est  un  certain  don  de  l'esprit  et  du  lan- 
gage  individuel,  projete,  avec  quelque  chose  d'eternel,  sur  tout 
ce  qui  est  autour,  sur  cette  vie  en  commun,  sur  ce  pouvoir,  sur 
ces  autres  individus  ä  proximite. 

L'esprit  litteraire  et  l'esprit  politique  ont,  on  le  voit,  des  rap- 
ports  naturels  et  une  communaute  d'objet.  Et  l'esprit  litteraire, 
par  sa  vigueur  divinatoire  et  expressive,  doit  evidemment  rendre 
de  grands  Services  ä  l'esprit  politique. 

Eh  bien,  aujourd'hui,  apres  tant  de  siecles  et  tant  de  col- 
laboration,  on  n'est  plus  sur  que  l'esprit  litteraire  et  l'esprit 
politique  aient  lieu  de  demeurer  etroitement  unis.  On  decouvre, 
entre  eux,  des  meprises,  des  abus  de  confiance  si  j'ose  dire,  des 
substitutions,  des  equivoques. 

Dernierement,  je  causais  avec  un  homme  occupant  une  place 
eminente  dans  la  politique,  et  il  me  disait:  „En  France,  on  ignore 
encore  ce  que  c'est  que  l'esprit  politique." 


*)   Texte   d'une  Conference  falte  ä  Zürich,  ä  la  Societe  Wissen  und 
Leben,  le  19  mai  1913. 

410 


Ce  n'est,  cependant,  pas  iaute  d'avoir  fait  de  la  politique  ? 
11  faut  donc  admettre,  sans  doute,  que,  plus  d'une  fois,  quand 
on  croyait  cultiver  l'esprit  politique,  on  cultivait  davantage  encore 
Fesprit  litteraire;  on  s'imaginait  faire  de  la  politique;  on  faisait^ 
d'une  fa^on  deguis^e,  de  la  litterature. 

La  vie  politique  ne  veut  plus  etre  de  la  litterature;  l'esprit 
politique  ne  veut  plus  dependre  de  l'esprit  litteraire  et,  recipro- 
quement,  l'esprit  litteraire  est  las  de  tous  les  sacrifices  qu'il  a 
consentis  ä  l'esprit  politique. 

Voilä  le  fait,  voilä  !e  debat. 

C'est  aux  environs  de  1900  que  ce  debat  prit,  pour  les  jeu- 
nes  ecrivains  entrant  alors  dans  la  vie  litteraire,  une  valeur  dra- 
matique  et  la  forme  d'un  cas  de  conscience  douloureux. 

A  la  faveur  d'une  cause  passionnante,  la  litterature  s'etait  re- 
jetee,  une  fois  de  plus,  au  Service  de  la  politique.  Dans  un  sens 
ou  dans  l'autre,  peu  importe. 

Lesjeunes  ecrivains  suivirent  le  mouvement.  Or,  l'effervescence 
passee,  que  vit-on?  On  vit  des  deboires  apparaitre,  pele-mele, 
de  tous  cotes,  et  des  rancunes  se  manifester  sans  menagements. 
Les  politiques  suspectaient  les  intentions  des  litterateurs;  les  litte- 
rateurs  en  voulaient  aux  politiques  de  les  avoir  amenes  ä  des 
ingratitudes  litteraires,  ä  des  partis-pris  de  l'esprit  litteraire,  par 
zele  pour  teile  ou  teile  forme  de  l'esprit  politique. 

Politiques  et  litterateurs  n'etaient  pas  convaincus  de  s'etre 
utilement  assistes,  bien  au  contraire.  lls  regrettaient  presque  cette 
mutuelle  assistance  qui,  pourtant,  avait  ete  enthousiaste. 

Le  mal,  la  gene  ainsi  reveles  n'ont  fait  que  grandir. 

Mais  quel  avait  donc  ete  le  passe  de  ces  relations  de  la  lit- 
terature et  de  la  politique,  quelle  avait  donc  ete  la  nature  de  ces 
Mens  si  fermes,  de  ces  Souvenirs  communs  si  tenaces  et,  sans 
doute,  si  beaux  pour  que,  brusquement,  se  determinät  un  pareil 
desarroi,  une  pareille  fatigue?  Et  quelle  est  la  cause  lointaine  ä 
iaquelle  on  peut  attribuer  cette  espece  de  desaveu  que  la  lit- 
terature et  la  politique  s'infligent  mutuellement  ? 

II  s'agit  de  choses  assez  complexes  dont  l'analyse  n'est  pas 
commode. 

La  vie  politique  se  partage,  dans  l'histoire  de  France,  en 
periodes  de  soumission  et  de  silence,  et  en  periodes  de  delibe- 

411 


rations  et  de  discussions.  Les  unes  et  les  autres  s'entremelent; 
mais  il  y  en  a  toujours  une  qui  enveloppe  et  domine  l'autre. 
Pendant  que  I'une  est  l'habitude,  l'autre  n'est  que  l'exception. 

L'histolre  de  France  se  dispose  ainsi  en  deux  vastes  versants, 
le  versant  absolutiste  avec  des  alternatives  fugitives  de  vie  poii- 
tique  deiiberante,  et  ie  versant  d'examen  et  de  deiiberation  avec 
des  alternatives  d'absolutisme. 

Or,  l'esprit  politique  et  l'esprit  litteraire  s'etant  continuelle- 
ment  soutenus  et  aides,  ayant  eu  tendance  ä  converger  vers  le 
meme  objet,  on  supposerait  volontiers  entre  eux  un  parallelisme 
rigoureux.  On  se  figurerait  qu'ils  ne  partagent  leur  objet  com- 
mun  qu'en  parfaite  connaissance  de  cause,  qu'en  pleine  lumiere. 

Eh  bien,  pas  du  tout. 

En  France,  la  litterature  et  la  politique  ont  toujours  ete  in- 
times, meme  quand  la  politique  semblait  n'avoir  aucune  raison 
d'etre  et  ne  pouvait  esperer  aucune  consecration  pratique.  En 
France,  l'esprit  litteraire,  sans  amoindrir  ses  propres  facultes  ni 
son  jeu  fastueux  et  plein  de  caprice,  a  toujours  eu  tendance  ä 
anticiper  sur  l'esprit  politique. 

II  est  arrive  que  l'art  litteraire  fran(;ais,  au  milieu  de  l'obeis- 
sance  politique,  a  admirablement  degourdi,  en  sourdine,  l'esprit 
politique.  11  est  arrive  aussi  qu'au  milieu  de  la  liberte  poli- 
tique, et  pour  mieux  servir  la  liberte  politique,  l'art  litteraire  s'est, 
ä  quelque  degre,  paralyse  lui-meme.  II  est  arrive,  enfin,  que,  se 
sentant  parfois  trop  enchafne  ä  la  politique,  il  a  eu  des  degoüts 
de  l'esprit  politique,  au  point  de  le  repudier  tout  entier,  au  point 
de  rechercher  d'avares  et  merveilleuses  griseries  de  style.  Cela 
fait  une  destinee  assez  tourmentee,  qui  ne  manque  pas  de  con- 
tradictions. 

Donc  trois  aspects,  trois  formes  des  rapports  de  la  litterature 
et  de  la  politique: 

Un  aspect  combat!!  et  passionne  oü  la  politique  s'empare 
violemment  de  la  litterature,  oü  la  litterature  sert  de  toute  sa  force, 
de  toute  son  äme,  la  politique. 

Un  aspect  schismatique  oü  elles  se  boudent,  oü  elles  se  de- 
fient  I'une  de  l'autre. 

412 


Un  troisjeme  aspect  enfin,  plus  subtil,  plus  flexible  oü,  sans 
se  rendre  compte  qu'elles  vivent  cote  ä  cote,  elles  se  poussent 
secretement  l'une  l'autre,  au  gre  d'une  sorte  de  promenade  con- 
fidentielle;  et  c'est  alors  que  la  litterature,  avec  des  airs  inno- 
cents,  usurpe  une  terrible  clairvoyance,  et  possede,  ä  l'egard  de  la 
politique,  d'admirables  energies. 

Et  dans  quelles  proportions,  ces  trois  aspects? 

S'il  est  vrai  qu'un  esprit  politique,  arme  de  la  force  parti- 
culiere  que  procure  l'esprit  litteraire,  circule,  discret  et  tout  puis- 
sant,  ä  l'instant  oü  l'etat  de  la  vie  politique  ne  leur  permet  au- 
cune  collaboration  reelle,  cela  ne  peut  donc  avoir  eu  lieu  qu'au 
temps  de  la  monarchie,  c'est-ä-dire  pendant  pres  de  six  siecles 
sur  neuf. 

Et,  s'il  est  vrai  que  la  litterature  et  la  politique  se  soient 
associees,  accouplees  avec  une  fougue  de  propagande  melee  ä 
des  sursauts  d'impatience  mutuelle,  ä  de  jalouses  reprises  de  soi- 
meme,  cela  n'a  eu  lieu  que  pendant  deux  siecles  ä  peine. 

Rien  n'est  plus  net,  rien  n'est  plus  angoissant: 

Quand  il  y  a  entre  la  litterature  et  la  politique  cette  Har- 
monie spacieuse,  ingenue  et  comme  irresponsable  que  j'ai  dite, 
c'est  que  le  regime  politique  est  clos,  contraignant,  c'est  que  la 
vie  politique  n'a  pas  de  voix  ni  guere  de  conscience  et  c'est  le 
cas  des  regimes  absolus,  9'a  ete  le  cas  de  six  siecles  de  mo- 
narchie. 

Quand,  au  contraire,  il  y  a  entre  la  litterature  et  la  politique 
une  Cooperation  plus  active,  qui  souvent  altere  ou  irrite  la  pre- 
miere  au  profit  de  la  seconde,  c'est  que  le  regime  politique  est 
ouvert,  aere,  c'est  que  la  vie  politique  parle,  discute,  au  besoin 
vocifere,  et  c'est  le  cas  des  regimes  de  debat  et  9'a  ete  le 
cas  des  XVIII«   et  XIX^  siecles. 

A  etat  politique  precaire,  ä  vie  politique  soumise,  litterature 
epanouie  de  bien-etre  et  de  liberte  politique  sous-entendue.  A  etat 
politique  plus  hospitalier,  ä  vie  politique  plus  libre,  litterature 
vouee  ä  des  besognes  politiques  eclatantes,  mais  limitees,  mais 
momentanees  qui  lui  causent,  ä  d'autres  moments,  des  haut-le 
Corps  et  de  la  repulsion. 

Voilä  quelle  est  la  position  de  l'art  litteraire  fran^ais  vis-ä- 
vis  de  l'esprit  politique. 

413 


Comparez-Ia  ä  celle  de  l'art  litteraire  d'autres  pays,  de  l'art 
d'Allemagne,  d'ltalie,  de  Russie,  vous  apercevez  la  difference. 
Comme  c'est  moins  simple,  comme  c'est  plus  ditficile  ä  reduire 
en  formules  distinctes,  n'est-ce-pas! 

Dans  les  autres  pays,  les  deux  phases  de  zele  politique 
et  de  repugnance  politique,  nous  les  decouvrons  selon  des  peri- 
peties  et  des  mesures  diverses.  Et  puls  cela  se  borne  lä.  Ou  les 
ecrivains  tont  de  la  politique;  ou  ils  n'en  fönt  pas.  Ou  ils  sont 
tout  ä  l'esprit  litteraire;  ou  ils  sont  tout  ä  l'esprit  politique.  Mais 
cette  troisieme  physionomie,  celle  qui  constitue  Toriginalite  la 
plus  saisissante  de  l'art  litteraire  fran<;ais,  cette  sorte  de  soin  poli- 
tique detache,  cet  individualisme  ä  la  fois  jaloux  de  lui-meme  et 
empresse,  sans  s'en  donner  l'air,  ä  la  vie  publique,  c'est  cela  qui 
nous  intrigue  et  nous  surprend. 

Et  vous  comprenez,  ä  present,  qu'il  y  ait  eu  lä,  des  l'origine, 
des  motifs  de  confusions,  d'ombrages,  d'inegalites  dans  l'avance- 
ment  ideal,  entre  ecrivains  et  politiques,  et  qu'ä  la  longue  ils 
aient  du  aboutir  ä  un  conflit  ou,  si  vous  preferez,  ä  un  desequi- 
libre  grave.  Nous  y  viendrons  tout  ä  l'heure. 

Mais  je  veux  vous  inviter  ä  toucher  ces  considerations  de 
plus  pres,  ä  les  verifier  en  embrassant  aussi  brievement  que  pos- 
sible  le  spectacle  de  ces  conjonctures  compliquees. 

Depuis  le  fin  fond  du  Moyen-Age  jusqu'ä  l'epoque  pre-revo- 
lutionnaire,  cet  esprit  politique  sous-jacent  ä  l'esprit  litteraire  se 
deploie   avec   une   audace  et  une  variete   admirabies. 

Au  travers  des  vicissitudes  de  l'histoire  des  rois,  triomphant 
des  divergences  amenees  par  la  Renaissance  et  par  la  Reforme, 
on  voit,  en  France,  cet  esprit  de  litterature  ä  echos  politiques  se 
conserver  parfaitement  aise,  parfaitement  autonome.  On  le  re- 
trouve  partout.  11  unit  les  trouveres  ä  Ronsard,  les  chroniqueurs 
ä  Rabelais,  puis  Ronsard  et  Rabelais  ä  Moliere,  ä  La  Fontaine, 
ä  Racine,  ä  Bossuet  meme  et  ä  Fenelon.  En  verite  rien  n'y  a 
fait,  rien  ne  l'a  gene.  Ni  les  effroyables  soubresauts  de  la  feo- 
dalite  ameutee  contre  les  rois,  ni  les  represailles  des  rois,  ni  les 
invasions  etrangeres  n'ont  compromis,  n'ont  embarrasse  l'epan- 
chement  de  cette  verve  primesautiere  et  en  apparence  frivole, 
habile,  au  demeurant,  ä  d'elegantes  morsures  et  hardie  avec  des 

414 


mines  negligentes.  C'est  une  evasion  continuelle  de  libre  pensee 
et  de  libre  parier.  Les  farces,  les  romans,  les  fahles,  les  satires, 
les  comedies,  les  tragedies,  coup  sur  coup,  s'emploient,  ä  qui 
mieux  mieux,  ä  elargir  le  rayonnement  aimable  de  ce  feu.  Que 
de  Charme,  que  de  docilite!  Mais  que  de  fievre,  bien  qu'impal- 
pable,  mais  que  d'ambitions  de  !a  raison,  bien  que  muettes  et 
adroitement  souriantes;  mais  que  d'insoumission  de  la  raison, 
bien   que   sa   soumission   paraisse  sans  reproche! 

La  religion  sert  heureusement  ces  menues  revolutions  inte- 
rieures  de  l'esprit  poütique,  dont  la  litterature  se  fait  l'artisan. 
La  religion  aggrave  l'absolutisme  politique,  ä  coup  sür;  d'une 
realite  simplement  exterieure  eile  en  fait  une  realite  confession- 
nelle.  Elle  la  scelle  dans  les  ämes  comme  la  marque  meme  de 
Dieu. 

Seulement,  dans  son  zele  de  penetration  psychologique,  il 
se  trouve  que  la  religion  se  place  sur  le  terrain  de  la  litterature, 
use  des  finesses  de  la  litterature,  et  Ton  assiste  alors  ä  ce  phe- 
nomene  extraordinaire  que  l'esprit  de  la  litterature,  tout  impregne, 
tout  oint  de  sens  politique,  s'insinue  dans  la  religion,  la  pare, 
Tillumine,  et  que  la  religion  succombe  ä  la  rosee  de  raison,  ä  la 
fraicheur  d'aurore  qui,  par  la  litterature,  s'exhale  dejä  de  toute 
la  pensee  fran(;aise.  Le  dogmatisme  catholique  romain  se  dissout 
au  contact  des  levres  des  fees  romanes.  Les  rois  eux-memes 
refusent  son  appui.  De  lä  ce  qu'on  a  appele  plus  tard  le  galli- 
canisme  de  TEglise  de  France.  Quel  plus  convaincant  temoignage 
du  singulier  ressort  d'esprit  politique  qui  se  cachait  sous  les  di- 
vertissements  de  l'esprit  litteraire  en  vogue? 

Cettte  action  detournee  s'affirma  du  temps  de  Philippe  le 
Bei  et  des  Valois:  temps  de  politique  cruelle  certes,  plantureux 
et  allegre  en  meme  temps,  dans  lesquels  s'epanouissent  les  chan- 
sons  de  gestes,  s'epanouissent  les  fabliaux,  s'epanouissent  les  lais 
et  les  sirventesi 

Et  il  en  fut  ainsi  jusqu'au  premier  tiers  du  XVI II«  siecle. 
Bien  entendu,  il  ne  s'agit  point  d'une  route  toute  droite, 
toute  unie.  II  y  eut  des  periodes  de  discussion  dans  la  politique; 
et,  par  suite,  des  periodes  ou  d'assujettissement  politique  ou  de 
reclusion  litteraire  dans  la  litterature.  Mais,  ce  sont  des  exceptions. 
Une  des  plus  remarquables,  ä  titre  d'exemple,  est  celle  qui  ca- 

415 


racterisa  le  moment  de  la  Regence  et  de  la  Fronde,  On  fronde 
dans  la  vie  politique.  Eh  bien,  la  litterature,  precisement,  ne 
fronde  plus  du  tout.  Elle  s'essaie  ä  de  la  politique  doctrinaire, 
ce  qui  est  tout  autre  chose.  Elle  s'enferme,  surtout,  dans  la  litte- 
rature pure,  dans  l'art  pour  l'art.  L'hötel  de  Rambouillet  fleurit. 
11  en  part  les  amplifications  solennelles  du  Prince  de  Balzac,  et 
les  jeux  de  style  de  Voiture. 

Poursuivons.  A  partir  du  XVIli«  siecle,  l'ordonnance  generale 
des  lettres  est  renversee;  ce  qui  etait  exception  devient  habitude, 
ce  qui  etait  habitude  devient  exception. 

Que  se  passe-t-il,  en  effet  dans  l'histoire?  Autour  de  la 
monarchie  montent  de  grands  chuchotements  qui  ne  vont  pas 
tarder  ä  se  changer  en  voix,  puis  en  cris.  Et  aussitöt  que  se 
passe-t-il  en  litterature?  La  litterature  commence  ä  se  livrer, 
avec  abnegation,  ä  la  pratique  de  la  raison  des  choses  dont 
l'Encyclopedie  va  etre  le  monument.  La  litterature  commence  ä 
songer  aux  intentions  positives  de  la  politique,  ä  les  exprimer» 
Et  la  voici  qui  tantot  s'y  consacre  exclusivement,  tantöt  se  voue, 
par  reaction,  ä  une  retraite  ombrageuse.  Deux  faces  du  meme 
phenomene;  deux  consequences  de  l'emprise  politique.  De  toutes 
fa90ns,  c'en  est  fini  de  cette  delicate  mesure  d'esprit  politique 
par  laquelle  la  litterature  reussissait,  si  opportunement,  ä  presider^ 
en  n'en  ayant  pas  l'air,  ä  la  politique  et  ä  la  religion. 

Cette  transformation  comprend  des  degres:  on  voit  d'abord 
la  litterature  garder  ses  formes  gracieuses,  sa  fantaisie,  ses  ima- 
ginations:  la  politique  se  contente  de  s'y  introduire,  au  moyen- 
d'allusions,  d'allegories,  de  digressions.  C'est  Voltaire  avec  ses 
Contes.  C'est  J.-J.  Rousseau,  avec  ses  traites  impetueux,  avec 
ses  enseignements  lyriques.  Ou  bien,  par  lassitude,  la  litterature 
s'enfonce  dans  un  egoisme  intraitable;  eile  s'adonne  au  roma- 
nesque,  ä  l'amour  pour  l'amour,  au  sentiment  pour  le  sentiment. 

J.-J.  Rousseau  cumule  les  deux  penchants.  Le  Cotitrat  social; 
la  Nouvelle  Helolse. 

Puis  la  pression  de  la  politique  sur  la  litterature  augmente. 
Aux  paraboles  succedent  les  programmes.  Chaque  ecrivain,  de 
plus  en  plus,  s'emprisonne  dans  un  esprit  politique  systematique; 
chaque  ecrivain  s'ecarte,  de  plus  en  plus,  du  libre  esprit  politique 

416 


flottant  d'autrefois.  Diderot  est  le  modele  genial  de  la  metamor- 
phose.  Le  premier  il  dresse  la  litterature  ä  traiter  de  tous  sujets, 
ä  s'acclimater  ä  tous  venants,  ä  epouser  chaque  passion  sans 
lendemain;  bref  il  menage  le  passage  entre  la  litterature  et  la 
gazette;  de  ses  soucis  eternels  il  conduit  la  litterature  au  jour 
le  jour,  au  journalisme. 

Jusque  dans  la  forme,  la  servitude  nouvelle  de  la  litterature 
se  reflete.  On  nous  dit  qu'au  XVI 11^  siede  le  style  se  libere. 
Est-ce  bien  sür?  N'y  a-t-il  pas  plus  de  liberte  dans  le  style  perio- 
dique,  ample,  maitre  de  ses  inflexions,  de  ses  reliefs  et  de  ses 
tournants,  que  dans  le  style  courant  et  successif  qui  est  con- 
tractu, qui  distribue  rapidement  des  idees,  qui  se  presse,  qui 
s'affaire?  Amusez-vous  ä  mettre  en  parallele,  ä  cet  egard,  Mon- 
tesquieu, meme  celui  des  Lettres  persanes,  et  Bossuet,  meme  celui 
des  Oraisons  funebres!  Comparez  Beaumarchais  ä  Moliere! 
Comme  en  eux  le  politique  et  le  litterateur  se  contrarient! 
Comme  leur  joie  et  leur  aisance  sont  inegales!  Les  enthousias- 
mes  impatients  de  Tun  fönt  tort  aux  delices  savantes  et  nuancees 
de  l'autre. 

Et,  ä  mesure  que  les  temps  avancent,  d'autres  entraves  se 
revelent.  La  politique  n'entre  plus  seulement  dans  la  litterature, 
comme  sa  voyageuse  la  plus  fidele ;  eile  se  l'approprie,  eile  l'ha- 
bille,  eile  lui  impose  ses  couleurs  et  ses  manieres.  Autrement 
dit,  la  litterature  adopte  les  moeurs  politiques.  C'est  lä  un  des 
traits  essentiels  du  romantisme.  Le  romantisme  est  lyrisme,  sans 
doute.  Mais  il  est  encore  plus:  eloquence. 

Le  genie  de  Hugo  est  autant  d'un  orateur  que  d'un  poete. 
Par  la  surabondance,  la  redite,  le  grossissement,  il  vise  ä  une 
vulgarisation  qui  ne  recule  pas  devant  la  vulgarite.  II  s'institue 
d'ailleurs  bientöt  homme  politique:  sa  gloire  s'en  nourrit.  Cha- 
teaubriand, Lamartine  l'avaient  dejä  precede  dans  cette  voie. 

Lorsque  les  ecrivains  romantiques  ne  sont  pas  hommes  po- 
litiques, ils  sont,  du  moins,  journalistes  avec  passion.  Theophile 
Qauthier  aime  ecrire  ses  feuilletons  au  grondement  des  presses. 
On  considere  la  carriere  litteraire  comme  une  branche  de  l'action. 

Grande  epoque,  epoque  d'immense  essor  civil!  Mais,  pour 
plaire  aux  dieux  de  la  cite,  les  ecrivains  deposent  leur  indepen- 
dance  hautaine,  et,  corps  et  äme,  sacrifient  l'esprit,   l'ideal  mul- 

417 


tiple  propre  ä  la  litterature,  ä  I'acharnement  d'une  propagande  de 
qualite  politique,  ä  la  recherche  d'un  succes  volontiers  banal 
et  oü  la  litterature  et  la  politique  forment  un  assemblage  sans 
purete. 

De  jour  en  jour,  cette  Situation  va  se  generalisant.  De  jour 
en  jour,  l'etreinte  de  la  litterature  et  de  la  politique  se  resserre. 
Et  dans  cette  etreinte,  la  litterature,  tour  ä  tour  s'abandonne 
toute  entiere  et  se  refuse  toute  entiere. 

Chez  un  meme  auteur,  les  deux  attitudes  alternent.  Hugo 
ecrit  des  romans  oü  se  cötoient  le  positivisme  politique  le  plus 
crüment  passager  et  le  plus  militant,  et  le  romanesque  litte- 
raire  le  plus  effrene,  le  plus  dedaigneux  de  la  vraisemblance 
sociale.  Cest  ce  qu'on  avait  dejä  trouve  chez  J.-J.  Rousseau; 
c'est  ce  qu'on  trouve  chez  Georges  Sand  et  chez  Balzac. 

Puis  voici  d'autres  varietes. 

Sur  le  romantisme  en  vers  se  greffe  le  Parnasse;  sur  le  roman- 
tisme  en  prose  se  greffe  le  Naturalisme.  Ils  vont  apporter  des 
raffinements  ä  la  resistance  de  la  litterature  ä  la  politique,  ce 
qui  est  une  fa^on  d'en  plus  nettement  souligner  l'indomptable 
contagion. 

Les  poetes  s'enferment  dans  le  culte  du  style:  ils  ne  sont 
plus  seulement  stylistes,  ils  sont  stylites.  Leconte  de  Lisle  leur 
apprend  le  chant  froid  et  immobile,  dans  le  desert,  sur  un  style 
de  marbre. 

Les  prosateurs  s'ingenient  ä  decrire,  par  le  menu,  avec  des 
enjolivures  de  sensations,  ce  qui  est  ä  portee  de  leurs  mains  et 
de  leurs  yeux.  Huysmans  et  les  Goncourt  inventent  „l'ecriture 
d'artiste".  Et  si,  chez  la  plupart,  l'obsession  du  roman  balzacien 
persiste,  ils  en  accompagnent  l'exaltation  mi-politique  mi-roma- 
nesque  d'une  espece  de  fatigue,  d'un  desir  d'oisivete  qui  les  attarde 
ä  des  analyses  rares,  dans  un  inalterable  pessimisme:  ainsi  firent 
Flaubert  et  Daudet. 

PARIS  HENRI  HERTZ 

(A  suivre) 

DOD 

418 


DIE  URSPRÜNGE  DER  POESIE 

Welches  ist  die  älteste  Dichtungsart?  ich  verfolge  das  Pro- 
blem zunächst  historisch  bis  R.  Wagner  und  gebe  erst  zum 
Schluss  meine  eigene  Meinung.  Der  Renaissance  fiel  Poesie  mit 
Theologie  zusammen^).  Auf  ihrer  Poetik  fußend  sagt  deswegen 
Ronsard  ^) : 

^  .  .  la  poesie  n'etait  au  premier  äge  qu'une  th^ologie  alJegorique,  pour 
faire  entrer  au  cerveau  des  hommes  grossiers,  par  fables  plaisantes  et 
<;olorees,  les  secrets  qu'ils  ne  pouvaient  comprendre,  quand  trop  ouverte- 
ment  on  leur  decouvrait  la  verite. 

Ihm  folgt  Opitz,  und  in  dieser  Richtung  liegen  auch  die 
Darstellungen  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  die  in  der  didakti- 
schen Absicht  die  Ursprünge  der  Poesie  suchen  und  sonach 
eigentlich  die  Didaktik,  dieses  sonst  so  stiefmütterlich  behandelte 
Gebiet  der  Dichtkunst,  an  den  Anfang  der  Entwicklung  stellen. 
5o  Condiilac^): 

Es  ist  nicht  schwer  sich  vorzustellen,  auf  welchem  Wege  die  Poesie 
eine  Kunst  geworden  ist.  Als  die  Menschen  die  vom  Zufall  im  Gespräch 
herbeigeführten  einheitlichen  und  regelmäßigen  Tonfälle  bemerkt  hatten, 
wurden  die  durch  die  Ungleichheit  der  Silben  bewirkten  verschiedenen 
Bewegungen  und  der  angenehme  Eindruck  gewisser  Modulationen  der 
Stimme  die  Vorbilder  für  Rhythmus  und  Harmonie,  denen  sie  nach  und 
nach  sämtliche  Regeln  ihrer  Verskunst  entnahmen.  Musik  und  Poesie 
sind  also  naturgemäß  gleichzeitig  entstanden.  Diese  beiden  Künste  ver- 
banden sich  mit  der  Gebärde,  die  älter  als  beide  war,  die  man  den  Tanz 
nennt.  Wonach  wir  vermuten  dürfen,  dass  man  zu  allen  Zeiten,  bei  allen 
Völkern  irgend  eine  Art  Tanz,  Musik  und  Poesie  finden  könnte  .  .  .  Die 
enge  Verbindung  dieser  Künste  bei  ihrer  Geburt  ist  der  wahre  Grund 
dafür,  dass  sie  bei  den  Alten  unter  einem  gemeinsamen  Namen  begriffen 
wurden.  Bei  ihnen  umfasst  der  Ausdruck  „Musik"  nicht  nur  die  Kunst,  die 
er  in  unserer  Sprache  bezeichnet,  sondern  auch  die  der  Gebärde,  des 
Tanzes,  der  Poesie  und  der  Deklamation  .  .  .  Man  sieht  leicht,  welches 
der  Zweck  der  ältesten  Dichtungen  war.  Als  die  Gesellschaften  gegründet 
wurden,  konnten  die  Menschen  sich  noch  nicht  mit  den  Gegenständen  des 
'bloßen  Vergnügens  beschäftigen,  die  Bedürfnisse,  die  sie  sich  zu  vereinigen 
genötigt  hatten,  begrenzten  ihren  Gesichtskreis  auf  das,  was  ihnen  nützlich 


^)  K.  Borinski,  Die  Poetik  der  Renaissance.  Berlin  1886.  S.  65. 

2)  Chr.  W.  Berghoeffer,  Martin  Opitz'  Buch  von  der  deutschen  Poeterei. 
Frankf.  a./M.  1888.  S.  86  f. 

^)  Condillac,  Essai  sur  l'origine  des  conoissances  humaines.  §  69  bis 
"72.  Oeuvres  1,  p.  350  ff.  Paris  1798.  Der  Essai  erschien  zuerst  in  zwei  Bän- 
den 1746  und  1754  in  Amsterdam. 

419 


oder  notwendig  sein  mochte.  Poesie  und  Musik  wurden  also  nur  gepflegt, 
um  Religion  und  Gesetze  kennen  zu  lehren  und  um  das  Andenken  der 
großen  Männer  und  der  Dienste,  die  sie  der  Gesellschaft  geleistet  hatten, 
zu  bewahren. 

Aber  sieht  hier  nicht  Condillac  vielmehr  gleich  verschiedenen 
noch  zu  besprechenden  Theoretikern  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts den  Ursprung  der  Poesie  in  der  sogenannten  chorischen 
Lyrik?  Ja  und  nein.  Den  Ursprung  der  Dichtung  wohl,  aber  nicht 
den  der  Dichtkunst  als  Kunst;  den  glaubt  er  erst  dort  erblicken 
zu  dürfen,  wo  sich  didaktische  Tendenzen  ihrer  bemächtigen. 
Deutlicher  wird  diese  Meinung  in  dem  von  ihm  stark  abhängigen 
Sulzer*): 

Der  Ursprung  der  Dichtkunst  ist  unmittelbar  in  der  Natur  des 
Menschen  zu  suchen.  Jedes  Volk,  das  sich  zu  irgend  einer  Kultur  der  Ver- 
nunft und  der  Empfindungen  heraufzuschwingen  gewusst,  hat  seine  Dichter 
gehabt,  die  keinen  andern  Beruf,  keine  andre  Veranlassung  gehabt,  was 
sie  stärker  als  andre  gedacht  und  empfunden,  unter  sinnlichen  Bildern  und 
in  harmonischen  Reden  ihnen  vorzustellen,  als  die  Begierde,  die  jede  edle 
Seele  fühlt,  andern  das  Gute,  davon  sie  durchdrungen  ist,  mitzuteilen  .  .  . 
Sobald  dieser  erste  Keim  der  Dichtkunst  die  Menschen  auf  die  Mittel, 
nützliche  Wahrheiten  durch  einen  angenehmen  Vortrag  auszubreiten,  auf- 
merksam gemacht  hatte,  entdeckten  sie  auch,  dass  außer  dem  gut  abge- 
messenen Fall  der  Worte  die  gute  Einkleidung,  der  feurige  Ausdruck  der 
Gedanken  und  lebhafte  Bilder  eine  ähnliche  Wirkung  tun,  und  so  wurde 
nach  und  nach  die  poetische  Sprache  entdeckt  und  gebildet.  Vermutlich 
sind  die  ersten  poetischen  Versuche  überall  bloß  einzelne  Verse,  wie  unsere 
meisten  Sprichwörter,  oder  kurze  aus  zwei  oder  drei  Versen  bestehende 
Sätze  gewesen.  Als  die  Kunst  zunahm,  erfand  man  Mittel,  durch  Allegorien 
und  Fabeln  das  Volk  zu  lehren  .  .  .  Die  wahre  Geschichte  der  Dichtkunst 
nur  von  einem  einzigen  Volke  wäre  ohne  Zweifel  zugleich  die  Geschichte 
dieser  Kunst  bei  jeder  andern  Nation,  und  gewiss  ein  wichtiger  Teil  der 
allgemeinen  Geschichte  des  menschlichen  Genies:  aber  sie  fehlt  überall. 
Am  meisten  weiß  man  von  dieser  Geschichte,  in  so  fern  sie  die  Griechen 
betrifft  .  .  .  Die  erste  Zeit,  von  welcher  alle  Nachrichten  fehlen,  ist  die, 
darin  sie  angefangen  hat  aufzukeimen,  da  ihre  Werke  Sittensprüche,  oder 
auch  sehr  kurze  Äußerungen  einer  aufwallenden  Leidenschaft  gewesen,  die 
tanzend  gesungen  wurden.  In  dieser  Zeit  war  sie  noch  keine  Kunst;  wer 
etwa  bei  einer  Versammlung  ein  außerordentliches  Feuer  der  Einbildungs- 
kraft fühlte,  der  reizte  die  andern  zu  unförmlichem  Gesang  und  Tanz,  bei 
welchen  der  Gegenstand  der  Leidenschaft  mit  hüpfenden  Worten  angezeigt 
wurde.  So  äußern  sich  gegenwärtig  bei  den  noch  nicht  gesitteten  Völkern 
in  Canada  die  ersten  Versuche  in  Musik,  Tanz  und  Poesie  .  .  .  Das  lyri- 
sche  scheint   natürlicher   Weise  die  älteste  Gattung  zu  sein,  da  es  durch 


^)  Johann   George  Sulzer,   Allgemeine    Theorie  der  schönen  Künste. 
Neue  vermehrte  Auflage.  Leipzig  1786.  I.  433  f.  Artikel  ^Dichtkunst". 

420 


den  Ausbruch  der  Leidenschaften  verursacht  worden,  und  die  Lustbar- 
keit, die  jedes  wilde  Volk  nach  einem  glücklichen  Streite  anstellt,  können 
auch  Spuren  der  nachher  entstandenen  epischen   Poesie  gezeiget  haben. 

Sulzers  Buch  war  bereits  anfangs  der  siebziger  Jahre,  da 
es  erschien,  veraltet,  wie  am  deutlichsten  aus  Mercks  vernichten- 
der Kritik  in  den  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen  des  Jahres  1772 
zu  ersehen  ist.  Ja  bereits  im  Jahre  1730  hatte  der  vielverlästerte 
Gottsched  in  seiner  Kritischen  Dichtkunst  auf  einem  weit  fort- 
geschritteneren Standpunkte  gestanden.  Er  erörtert  die  sich  schon 
bei  Scaliger  findende  Theorie  von  der  Entstehung  des  mensch- 
lichen Gesanges  durch  Nachahmung  der  Vögel,  vergleiche  dessen 
Poeticae  1,4,  besonders  aber  die  Epistel  an  seinen  Sohn^): 

Klar  ist  es,  dass  mit  den  Anfängen  der  Natur  zugleich  der  Gesang 
entstanden  ist.  So  sehr,  dass  die  Pythagoräer  sogar  den  Blumen  Lieder 
zuschreiben,  in  denen  sie  die  Sonne,  andere,  in  denen  sie  Mond  und  Sterne 
verherrlichen.  Wir  sehen  alle  Vögel  meistens,  manche  das  ganze  Jahr  hin- 
durch zwitschern. 

Das  ist  aber  auch  das  einzige,  was  er  Scaliger  verdankt,  und 
es  ist  unrecht,  seine  weit  vorauseilenden  Betrachtungen,  in  denen 
er  viel  vernünftiger  als  die  im  Banne  der  Aristotelischen  Mimesis 
stehenden  Batteux^)  oder  Cesarotti^),  die  auch  die  Lyrik  unter 
das  Joch  dieses  auf  sie  gar  nicht  anwendbaren  Begriffs  spannen 
wollen,  sie  als  die  effusive  von  der  epischen  als  der  imitativen 
Kunst  säuberlich  trennt,  in  denen  er  den  Irrtum  Scherers*),  auch 
bei  der  Lyrik  das  Publikum  als  maßgebenden  Faktor  einzuführen, 
klug  vermeidet  und  der  primitiven  Lyrik  das  moralische  Zöpfchen 
energisch  abschneidet  —  es  ist  unrecht,  diese  auf  die  unklaren 
und  unter  einander  widerspruchsvollen  Ausführungen  Scaligers 
zurückführen  zu  wollen^): 

Allein  der  Mensch  würde  gesungen  haben,  wenn  er  gleich  keine  Vögel 
in  der  Welt  gefunden  hätte.  Lehret  uns  nicht  die  Natur,  all  unsre  Gemüts- 
bewegungen durch  einen  gewissen  Ton  der  Sprache  ausdrücken?    Was  ist 

1)  Julii  CcBsaris  Scaligeri  Poetices  libri  Septem.  Editio  secunda.  Apud 
Petrum  Santandreanum  MDLXXXl. 

2)  Manfred  Schenker,  Charles  Batteux  und  seine  Nachahmungstheorie 
in  Deutschland.  Leipzig  1908.  S.  30.  36. 

3)  Cesarotti,  Abhandlung  über  den  Ursprung  und  Fortgang  der  Poesie. 
Neue  Bibl.  d.  schönen  Wissensch.  u.  freyen  Künste.  Leipz.  1766,  II,  1  ff. 

*)  F.  B.  Gummere,  The  Beginning  of  Poetry.  New-York  1908,  p.  349. 
^)  F.  Braitmaier,  Gesch.  d.  poet.   Theorie  u.  Kritik  v.  d.   Discursen 
d.  Maler  bis  auf  Lessing.  Frauenfeld  1888.  S.  96  ff. 

421 


das  Weinen  der  Kinder  anders  als  ein  Klagelied?  .  .  .  Die  Gesänge  sind 
dergestalt  die  älteste  Gattung  der  Gedichte  und  die  ersten  Poeten  sind 
Liederdichter  gewesen  .  .  .  Wann  sich  ein  munterer  Kopf  von  gutem  Na- 
turelle bei  der  Mahlzeit  oder  durch  einen  starken  Trunk  das  Blut  erhitzt 
und  die  Lebensgeister  rege  gemacht  hatte,  so  hub  er  etwa  an,  vor  Freude 
zu  singen  und  sein  Vergnügen  auch  durch  gewisse  dabei  ausgesprochene 
Worte  zu  bezeigen  .  .  .  Ein  verliebter  Schäfer,  dem  bei  der  Langweile  auf 
dem  Felde,  wo  er  seine  Herden  weidete,  die  Gegenwart  einer  angenehmen 
Schäferin  das  Herz  rührte  und  das  Gemüt  in  Wallung  versetzte,  bemühte 
sich  nach  dem  Muster  der  Vögel  ihr  etwas  vorzusingen  und  bei  einer  lieb- 
lichen Melodie  zugleich  seine  Liebe  zu  erklären  .  .  .  Die  allerersten  Sänger 
ungekünstelter  Lieder  haben  nach  der  damaligen  Einfalt  der  Zeiten  wohl 
nichts  anders  im  Sinne  gehabt,  als  wie  sie  ihren  Affekt  auf  eine  angenehme 
Art  ausdrücken  wollten,  so  dass  dieselben  auch  in  andern  eine  gewisse 
Gemütsbewegung  erwecken  möchten.  Ein  Saufbruder  machte  den  andern 
lustig,  ein  Betrübter  lockte  dem  andern  Tränen  aus,  ein  Liebhaber  gewann 
das  Herz  seiner  Geliebten  etc.  Die  Sache  ist  leicht  zu  begreifen,  weil  sie 
in  der  Natur  des  Menschen  ihren  Grund  hat  und  noch  täglich  durch  die 
Erfahrung  bestätigt  wird. 

Die  Auffassung  der  Poesie  als  einer  Art  Theologie  legte  es 
nahe,  wenn  man  nur  einmal  von  didaktischen  Tendenzen  absehen 
wollte,  in  der  religiösen  Lyrik  die  ursprünglichste  Dichtung  zu 
sehen.  Milton  lässt  zu  Anfang  seines  Paradise  lost  die  ersten  Eltern 
einen  Lobgesang  auf  Gott  anstimmen,  in  den  er  den  148sten 
Psalm  hineinverarbeitet.  Darauf  beruft  sich  Lowth^),  wenn  er 
die  Ode  für  die  ursprünglichste  aller  Dichtungsarten  erklärt: 

Offen  genug  trägt  die  Ode  ihren  Ursprung  zur  Schau;  geboren  ist  sie 
zuerst  aus  den  freudigsten  und  stärksten  Affekten  der  menschlichen  Seele^ 
der  Freude,  der  Liebe,  der  Bewunderung.  Wenn  wir  uns  den  ersterschaffe- 
nen Menschen  denken,  wie  ihn  uns  die  heiligen  Schriften  zeigen,  mit  voll- 
endeter Fähigkeit  der  Vernunft  und  der  Sprache  begabt,  seiner  selbst  und 
Gottes  bewusst,  einen  nicht  unwürdigen  Beschauer  dieser  überherrlichen 
Weltschöpfung  des  Himmels  und  der  Erden,  können  wir  glauben,  dass  sein 
Herz  nicht  bei  diesem  Anblick  warm  geworden  sei,  sodass  er  von  der  Glut 
seiner  eigenen  Gefühle  hingerissen  von  selbst  sich  in  das  Lob  des  Schöpfers 
ergoss,  und  zu  jenem  Schwung  der  Rede,  jenem  Jubel  der  Stimme  sich 
erhitzte,  welche  aus  solchen  Seelenbewegungen  fast  notwendig  folgen?  .  .  . 
Gewiss  haben  wir  von  jenem  ersten  und  vollkommenen  Zustande  des 
Menschen  keinen  rechten  Begriff,  wenn  wir  ihm  nicht  auch  einen  bestimmten 
Besitz  der  Dichtkunst  zugestehen,  mittels  deren  er  die  frommen  Empfindun- 
gen gegen  Gott  und  die  heilige  Glut  der  Religion  in  Gesang  und  Hymnen 
würdig  zum  Ausdruck  brachte. 


')  Roberti  Lowth,  De  sacra  poesi  Hebraeorum.  Notas  et  epimelra 
adjecit  J.  D.  Michaelis.  Editio  secunda.  Goettingae  1770.  p.  499.  Michaelis 
hatte  das  Buch  schon  1757  in  Deutschland  eingeführt,  erschienen  war  es 
zuerst  1753  in  Oxford. 

422 


Weit  näher  unserer  modernen  Auffassung  steht  ein  anderer 
Engländer  des  achtzehnten  Jahrhunaerts,  der  große  National- 
ökonom Adam  Smith  ^).  Er  hat  sicher  in  England  Vorläufer  2), 
die  ich  aber  gegenwärtig  nicht  nachweisen  kann: 

Nach  den  Vergnügungen,  die  aus  der  Befriedigung  leiblicher  Bedürf- 
nisse entstehen,  scheinen  keine  dem  Menschen  natürlicher  als  Musik  und 
Tanz  .  .  .  Die  menschliche  Stimme  ist  wohl  von  Natur  aus,  wie  sie  immer 
das  beste  alle  musikalischen  Instrumente  ist,  auch  das  erste  und  früheste 
gewesen:  Im  Singen  oder  in  ihren  ersten  Versuchen  des  Gesanges  ver- 
wendete sie  wohl  Töne,  so  ähnlich  als  möglich  denen,  deren  sie  gewohnt 
war;  das  heißt  sie  verwendete  wohl  Worte  von  einer  oder  der  andern  Art, 
nur  so  dass  sie  sie  in  Tempo  und  Rhythmus  aussprach,  und  gewöhnlich  in 
melodiöserer  Art,  als  in  gemeiner  Rede  Brauch  gewesen  war.  Diese  Worte 
aber  brauchten  nicht  und  hatten  wahrscheinlich  noch  längere  Zeit  keinen 
Sinn,  sondern  mochten  den  Silben  gleichen,  die  wir  im  sinnlosen  Refrain 
gebrauchen,  dem  derry-derrydown  unserer  Volksballaden,  und  mochten  nur 
der  Stimme  als  Hilfe  dienen,  um  Klänge  zu  bilden,  die  sich  zu  melodischer 
Modulation  eignen  und  zur  Verlängerung  und  Verkürzung  nach  dem  Zeit- 
maße der  Melodie.  Diese  rohe  Form  vokaler  Musik  war,  wie  es  die  ein- 
fachste und  leichteste  ist,  sowohl  auch  die  erste  und  älteste.  Im  Verlaufe 
der  Zeiten  musste  es  geschehen,  dass  an  Stelle  dieser  bedeutungslosen  und 
sozusagen  musikalischen  Worte  solche  untergeschoben  wurden,  die  einen 
Sinn  ausdrückten,  und  deren  Aussprache  ebenso  genau  mit  dem  Rhythmus 
und  der  Melodie  übereinstimmten,  als  jene  „musikalischen"  Worte  es  früher 
getan  hatten.    Dies  ist  der  Ursprung  des  Verses  oder  der  Poesie  .  .  . 

Der  Vers  musste  natürlich  irgend  einen  Sinn  ausdrücken,  der  zu 
der  ernsten  oder  heiteren,  fröhlichen  oder  traurigen  Laune  der  Melodie 
zu  der  er  gesungen  ward,  passte;  mit  dieser  Melodie  gewissermaßen  ge- 
mischt und  vereint  musste  er  Sinn  und  Inhalt  dem  zu  geben  scheinen, 
was  an  sich  augenscheinlich  keinen  hatte.  Ein  pantomimischer  Tanz  mag 
manchmal  dem  gleichen  Zweck  entsprechen  und  mag,  irgendein  Liebes- 
oder Kriegsabenteuer  darstellend,  Sinn  und  Inhalt  der  Musik  zu  geben 
scheinen,  die  sonst  offenbar  keinen  hätte.  Ja,  es  ist  natürlicher,  die  Ereig- 
nisse des  gemeinen  Lebens  durch  Geste  und  Bewegung  mimisch  darzu- 
stellen, als  sie  durch  Vers  oder  Poesie  auszudrücken  ...  So  mag  der 
pantomimische  Tanz  der  Musik  einen  deutlichen  Sinn  und  Inhalt  zu  geben 


^)  On  the  nature  of  the  imitation  which  takes  place  in  wfiat  are  cal- 
led  the  imitative  arts.  Essays  philosophical  and  literary,  die  1795  aus  dem 
Nachlass  herausgegeben  wurden. 

2)  Sicher  gehört  zu  diesen  seinen  Vorgängern  Brown:  A  dissertation 
on  the  rise,  union,  the  progressions,  separations  and  corruptions  of  poetry 
and  music.  London  1763.  Ich  schließe  das  nicht  nur  aus  dem  Titel,  sondern 
mehr  noch  aus  der  Inhaltsangabe  bei  Finsler,  Homer  in  der  Neuzeit. 
Leipzig  1912,  S.  365  ff.  und  aus  der  Polemik  Herders  in  seinem  Ursprung 
der  Sprache.  Übrigens  jst  das  Buch  nicht  so  unbeachtet  geblieben,  wie 
Finsler  meint,  da  es  im  nächsten  Jahre  eine  zweite  Auflage  erlebte  und 
1763  und  64  zwei  Schriften  erschienen,  die  sich  mit  ihm  polemisch  ausr 
einandersetzten,  deren  Titel  man  bei  Sulzer  a.  a.  O.  S.  440  findet. 

423 


gedient  haben  viele  Menschenalter  vor  der  Erfindung  oder  wenigstens  vor 
dem  allgemeinen  Gebrauche  der  Poesie  .  .  .  Von  diesen  drei  Schwester- 
künsten, die  ursprünglich  vielleicht  immer  zusammen  gingen  und  zu  allen 
Zeiten  gerne  zusammen  gehen,  können  zwei  gesondert  existieren,  die  dritte 
aber  kann  es  nicht  ...  Es  ist  die  Instrumentalmusik,  die  am  besten  allein 
existieren  kann.  Vokale  Musik,  obwohl  sie  aus  Klängen,  die  keinen  be- 
stimmten Sinn  noch  Inhalt  haben,  bestehen  kann  und  oft  besteht,  ruft  doch 
von  Natur  aus  nach  der  Unterstützung  durch  die  Poesie  .  .  .  Die  Worte 
können  die  Situation  einer  einzelnen  Person  ausdrücken  und  drücken  sie 
gewöhnlich  aus,  und  alle  die  Empfindungen  und  Leidenschaften,  die  sie  als 
Folge  dieser  Situation  fühlt.  Ein  fröhlicher  Gesell  gibt  der  Freude  Raum 
und  dem  Frohsinn,  zu  denen  Wein,  Festesfeier  und  gute  Gesellschaft  ihn 
begeistern.  Ein  Liebhaber  klagt  oder  hofft  oder  fürchtet  oder  zweifelt  .  .  . 
Eine  Person  in  glücklichen  Umständen  dankt  für  die  Güte  oder  eine  im 
Unglück  fleht  um  Gnade  oder  Vergebung  zu  jener  unsichtbaren  Macht,  zu 
der  sie  emporschaut  als  zu  dem  Lenker  aller  Geschicke  des  menschlichen 
Lebens.  Die  Situation  mag  nicht  nur  eine  sondern  zwei,  drei  und  mehr 
Personen  umfassen ;  sie  mag  in  ihnen  allen  ähnliche  oder  entgegengesetzte 
Gefühle  wachrufen  etc. 

Vielleicht  mit  dem  Engländer  aus  einer  gleichen  Quelle^) 
schöpfend  kommt  A.  W.  Schlegel  in  seinen  „Briefen  über  Poesie, 
Silbenmaß  und  Sprache"  unsern  modernen  Anschauungen  merk- 
würdig nahe^): 

In  ihrem  Ursprünge  macht  Poesie  mit  Musik  und  Tanz  ein  unteilbares 
Ganzes  aus.  Der  Tanz  hat  in  allen  seinen  Gestalten,  von  der  einfachsten 
Natur  bis  zu  den  sinnreichsten  Erweiterungen  der  Kunst,  vom  Freuden- 
sprunge des  Wilden  bis  zum  Noverrischen  Ballet,  nie  die  Begleitung  der 
Musik  entbehren  gelernt.  Dagegen  bestehen  jetzt  Musik  und  Poesie  ganz 
unabhängig  von  einander:  ihre  Werke  bilden  sich  vereinzelt  in  den  Seelen 
verschiedener,  oft  sich  missverstehender  Künstler  und  müssen  absichtlich 
darauf  gerichtet  werden,  durch  die  Täuschung  des  Vortrags  wieder  eins 
zu  werden. 

Poesie  entstand  gemeinschaftlich  mit  Musik  und  Tanz  und  das  Silben- 
maß war  das  sinnliche  Band  ihrer  Vereinigung  mit  den  verschwisterten 
Künsten.  Auch  nachdem  sie  von  ihnen  getrennt  ist,  muss  sie  immer  noch 
Gesang  und  gleichsam  Tanz  in  die  Rede  zu  bringen  suchen,  wenn  sie  noch 
dem  dichtenden  Vermögen  angehören  und  nicht  bloß  Übung  des  Ver- 
standes sein  will. 

Nun  zum  Ursprung  der  Poesie,  worauf  ich  mit  all  meinen  Betrach- 
tungen hinzielte.  Historisch  wissen  wir  davon  ebensowenig  als  vom  Ur- 
sprung der  Sprache  ...  die  sinnlichen  Gegenstände  lebten  und  bewegten 


1)  Die  „Briefe"  sind  1795  erschienen,  also  im  gleichen  Jahre  mit  den 
posthumen  Essais,  so  dass  an  einen  direkten  Zusammenhang  nicht  gedacht 
werden  kann.  Vielleicht  ist  diese  gemeinsame  Quelle  eben  jenes  mir  leider 
nicht  zugängliche  Buch  von  Brown,  auf  dessen  vielversprechenden  Titel  ich 
oben  hingewiesen  habe. 

2)  Sämtliche  Werke  hg.  v.  Böcking  VII.  Leipzig  1846.  S.  103,  108,  121. 

424 


sich  in  ihr  und  das  Herz  bewegte  sich  mit  allen.  Dies  ist  es,  was  man 
oft  gesagt  hat,  und  was  doch  nur  in  gewissem  Sinne  wahr  ist:  Poesie  und 
Musii<  sei  von  Anfang  an  da  gewesen  und  gleich  alt  mit  der  Sprache. 

Dagegen  polemisiert  er  nun:  jene  mit  der  Sprache  gleich 
alte  Poesie  und  Musik  haben  noch  keinen  Takt  gehabt  und  erst 
mit  diesem  seien  sie  zu  Künsten  geworden.  Der  Gedanke  einer 
vorkünstlerischen  Periode  der  Poesie  ist  uns  schon  oben  begegnet: 
hier  liegt  ein  fruchtbarer  Keim  in  dem  Gedanken  der  ataktischen 
Musik,  den  Schlegel  auch  weiter  unten  geistreich  ausführt^): 

Allerdings  lässt  sich  an  eine  Musik  von  Instrumenten  ohne  Takt  gar 
nicht  denken,  auch  die  von  Instrumenten  begleitete  Stimme  ist  durchaus 
an  die  Beobachtung  desselben  gebunden ;  aber  wenn  sie  sich  ganz  allein 
hören  lässt,  so  darf  sie  in  diesem  Stücke  ihre  natürliche  Freiheit  wieder 
geltend  machen  und  darin  auch  neben  dem  künstlichen  Reichtum  musikali- 
scher Zusammensetzung  gefallen  wollen.  Du  siehst,  ich  rede  vom  Rezitativ, 
das  besonders  in  der  italienischen  Oper  eine  so  schöne  Stelle  einnimmt, 
und  dem  man  doch  den  Namen  eines  Gesanges  nicht  versagen  kann. 

Wüsste  man  nicht  historisch  das  Gegenteil,  so  könnte  man  leicht  auf 
den  Gedanken  geraten,  das  Zeitmaß  gehöre  unter  die  späteren  Erfindungen, 
der  Gesang  habe,  solange  nur  wirkliche  Leidenschaft  ihn  eingab,  in  dithy- 
rambischer Freiheit  geschwärmt,  und  erst  als  er  zum  ergötzenden  Spiele 
geworden,  habe  man  den  Mangel  jenes  ursprünglichen  Nachdrucks  durch 
einen  kunstmäßigen  Reiz  zu  ersetzen  gesucht.  Aber  die  Beobachter  wilder 
Völker  rühmen  einstimmig  die  bewundernswürdige  Genauigkeit  im  Takt, 
womit  sie  ihre  Gesänge  und  Tänze  aufführen. 

Du  wirst  bemerkt  haben,  liebe  Freundin,  dass  ich  im  Gange  aller 
obigen  Betrachtungen  zwei  Sätze  ohne  Beweis  und  stillschweigend  zum 
Grunde  gelegt  habe,  weil  sie  mir  von  selbst  einzuleuchten  schienen.  Erstlich: 
Poesie  sei  ursprünglich  von  der  Art  gewesen,  die  man  in  der  Kunstsprache 
lyrisch  nennt.  Zweitens:  man  habe  sie  immer  unvorbereitet  nach  der  Ein- 
gebung des  Augenblicks  gesungen,  mit  einem  Ausdruck,  der  uns  Deutschen 
wie  die  Sache  selbst  fremd  ist,  „improvisiert".  Was  jenes  betrifft,  so  er- 
innere ich  hier  nur  mit  wenigen  Worten,  dass  dem  empfindenden  Wesen 
sein  eigener  Zustand  der  nächste  ist,  dass  der  Geist  die  Dinge  zuerst  in 
ihrer  Beziehung  auf  diesen  wahrnimmt,  und  schon  zu  einer  sehr  hellen 
Besonnenheit  gediehen  sein  muss,  um  seine  Betrachtung  derselben,  wenn 
ich  so  sagen  darf,  ganz  aus  sich  heraus  zu  stellen.  Durch  welche  Veran- 
lassungen und  auf  welchen  Wegen  die  andern  Gattungen,  die  in  der 
lyrischen  eingewickelt  lagen,  sich  in  der  Folge  von  ihr  gesondert,  erzähle 
ich  dir  ein  anderes  Mal. 

Dieses  „andere  Mal"  ist,  so  viel  ich  weiß,  nie  gekommen. 
Auch  nicht  in  seinen  Berliner  Vorlesungen  vom  Jahre  1801 2). 
Dort  hatte  er  die  Tanzkunst  als  eine  Kombination  der  simultanen 


»)  Ebenda  S.  124,  132,  152. 

2)  Seufferts  Neudrucke  17,  S.  119. 


425 


und  sukzessiven,  der  bildenden  und  musikalischen  Künste  hinge- 
stellt, fährt  aber  dann  fort: 

In  der  obigen  Reihe  haben  wir  die  Tanzkunst  als  eine  Kombination 
betrachtet.  Allein  die  Einheit  ist  überall  im  Menschen  früher  als  die  Tren- 
nung, und  so  mussten  sich  anfangs  die  drei  Arten  des  natürlichen  Ausdrucks, 
durch  Geberden,  durch  Töne  und  durch  Worte  notwendig  beisammen  finden. 
Leidenschaften  riefen  ihn  in  seiner  größten  Energie  hervor,  und  sofern  er 
ihnen  angehörte,  war  er  unwillkürlich.  Der  Mensch  prägte  ihm  aber  da- 
durch seinen  Charakter  der  Freiheit  auf,  dass  er  die  wilden  Ausbrüche  an 
eine  selbst  gegebene  Regel  band.  Diese  war  für  die  Geberden,  die  Töne 
und  die  Worte  eine  und  dieselbe:  das  Zeitmaß,  der  Takt,  der  Rhythmus. 
Bei  vielen  Nationen  finden  wir  sie  noch  in  dieser  unzertrennlichen  Ver- 
bindung .  .  .,  oder  richtiger  zu  reden,  in  dieser  einzigen  Urkunst  liegt  der 
Keim  des  ganzen  vielästigen  Baumes  beschlossen,  zu  welchem  sich  nach- 
her die  schöne  Kunst  entwickelt  hat. 

Wir  wollen  versuchen,  die  Poesie  genetisch  zu  erklären  .  .  .  Wir  handeln 
also  zunächst  von  der  Naturpoesie,  dann  der  Kunstpoesie.  Erst  bei  der 
letzten  tritt  die  Scheidung  in  Gattungen  ein,  oder  vielmehr  diese  Scheidung 
bezeichnet  eben  den  Anfangspunkt  derselben. 

Die  Entstehung  der  Dichtungsarten  aus  dem  Gesamtkunst- 
werk ist  aber  auch  in  diesen  Vorlesungen  nirgends  dargestellt 
worden. 

A.  W.  Schlegels  Theorie  war  damals  veraltet,  um  heute  wieder 
modern  zu  sein.  Denn  1765  und  1767  hatte  sich  in  zwei  Briefen 
an  Herder  der  Magus  vom  Norden  für  die  Priorität  des  Epos 
ausgesprochen  ^) : 

fivdoc;,  Fabel  und  Erfindung,  scheint  mir  immer  dem  iräBoq  und  Schwung 
der  Empfindungen  vorauszugehn. 

Epos  und  Fabel  ist  der  Anfang  und  außerdem  nichts  als  Ode  und 
Gesang. 

So  schreibt  denn  Herder  2): 

So  schritt  die  Sage,  als  eine  Tochter  des  Gedächtnisses  weiter,  bis 
sie  Kunst  ward,  und  diese  Kunst  hieß  Dichtkunst.  Das  rohe  Gold  ward 
geprägt,  und  die  Sage  selbst  war's,  die  diese  Prägekunst  aufbrachte.  Jeder 
Erzähler  nämlich  will  gut  erzählen,  und  da  er  als  Unterrichter  der  Weisere 
ist,  so  will  er  auch  seinen  Unterricht  angenehm,  dauerhaft,  lebhaft,  kurz 
auf  die  vollkommenste  Weise  einprägen.  Hiermit  war  die  Dichtkunst  erfunden. 

So  groß  ist  bald  die  Autorität  der  Lehre  von  dem  größern 
Alter  des  Epos,  dass  auch  Schelling'),  obwohl  sie  ihm  nicht  in 
sein  System  passt,  sie  als  erwiesen  annimmt : 

*)  Rudolf  Unger,  Hamann  und  die  Aufklärung.    Jena  1911.  I,  271. 
2)  Über  Bild,  Dichtung  und  Fabel.    1787. 
»)  Philosophie  der  Kunst.    Werke  V,  639. 

426 


Wenn  wir  in  der  Abhandlung  der  verschiedenen  Dichtungen  der  natür- 
hchen  oder  historischen  Ordnung  folgen  wollten,  so  würden  wir  von  dem 
Epos  als  der  natürlichen  Identität  ausgehen  und  von  da  zur  lyrischen  und 
dramatischen  Dichtkunst  fortgehen  müssen.  Allein  da  wir  uns  hier  ganz 
nach  der  wissenschaftlichen  Ordnung  zu  richten  haben,  und  da  nach  der 
bereits  vorgezeichneten  Ordnung  der  Potenzen  die  der  Besonderheit  oder 
Differenz  die  erste,  die  der  Identität  die  zweite,  und  das,  worin  Einheit 
und  Differenz,  allgemeines  und  besonderes  selbst  eins  sind,  die  dritte  ist^ 
so  werden  wir  auch  hier  dieser  Stufenfolge  treu  bleiben  und  machen  daher 
den  Anfang  mit  der  lyrischen  Kunst. 

So  sind  es  denn  wohl  auch  „wissenschaftliche"  und  nicht 
„historische"  Gründe,  die  Bouterwek^)  veranlassen,  mit  der  Lyrik 
statt  mit  der  Epik  zu  beginnen. 

Hegel  hingegen  schickte  sich  die  Stellung  des  Epos  an  die 
Spitze  vorzüglich  in  sein  System^): 

Ein  dritter  Punkt  endlich,  worüber  wir  noch  in  Rücksicht  auf  den  all- 
gemeinen Charakter  der  lyrischen  Poesie  zu  sprechen  haben,  betrifft  die 
allgemeine  Stufe  des  Bewusstseins  und  der  Bildung,  aus  welcher  das  ein- 
zelne Gedicht  hervorgeht.  Auch  in  dieser  Beziehung  nimmt  die  Lyrik  einen 
der  epischen  Poesie  entgegengesetzten  Standpunkt  ein.  Wenn  wir  nämlich, 
für  die  Blütezeit  des  eigentlichen  Epos  einen  im  Ganzen  noch  unentwickelten, 
zur  Prosa  der  Wirklichkeit  noch  nicht  herangereiften  Zustand  forderten, 
so  sind  umgekehrt  der  Lyrik  solche  Zeiten  günstig,  die  schon  eine  mehr 
oder  weniger  fertig  gewordene  Ordnung  der  Lebensverhältnisse  herausge- 
stellt haben,  indem  erst  in  solchen  Tagen  der  einzelne  Mensch  sich  dieser 
Außenwelt  gegenüber  in  sich  selbst  reflektiert  und  sich  aus  ihr  heraus  zu 
einer  selbständigen  Totalität  des  Empfindens  und  Vorstellens  abfließt. 

Hegels  Einfluss  hat  die  Theorie  wohl  einen  großen  Teil  ihrer 
Dauerhaftigkeit  zu  verdanken:  darum  spricht  Usener^)  von  „der 
alten  durch  Hegel  uns  eingeprägten  Vorstellung,  dass  im  Anfang 
die  erzählende  Form,  das  Epos,  stehe".  Von  ihm  beeinflusst  ist 
jedenfalls  auch  Wackernagel  in  seinem  Aufsatze  „die  epische 
Poesie"^): 

Es  ist  eine  weit  verbreitete  Behauptung,  dass  man  als  die  älteste 
Gattung  der  Poesie  die  Lyrik  zu  erkennen  habe;  denn  dem  Menschen  liege 
nichts  näher  als  sein  Ich,  und  nichts  könne  ihn  eher  und  leichter  zu  poeti- 
scher Produktion  reizen  als  seine  Empfindungen :  mithin  sei  die  lyrische 
Poesie  als  die  Poesie  des  Ichs  und  des  Gefühls  auch  die  älteste.  Diese 
Behauptung  hat  viel  verleitenden  Schein,  dennoch  ist  sie  ein  lediglich  aus 


^)  Ästhetik.    Göttingen  1825. 

2)  Vorlesungen  über  die  Ästhetik.    Werke  X,  3,  434. 

3)  Der  Stoff  des  griechischen  Epos.  Kleine  Schriften  IV,  217. 

*)  Schweizerisches  Museum  für  historische  Wissenschaften.  1837,  S.34L 

427 


der  Luft  gegriffenes  Theorem,  und  von  aller  Einsicht  in  die  Literaturge- 
schichte, von  aller  Einsicht  in  das  eigentliche  Wesen  der  Poesie  verlassen. 
So  wie  man  sich  nach  historischer  Begründung  umtut,  und  so  wie  man 
nur  einigermaßen  bedenkt,  was  denn  Poesie  überhaupt  solle  und  wolle, 
so  ergibt  sich  vielmehr  und  bleibt  die  Lehre  bestehen,  dass  die  epische 
Poesie  die  älteste  und  dass  alle  Poesie  nur  episch  gewesen  sei. 

Aus  dem  Aufsatz  ging  es  in  die  „Poetik"  des  selben  Autors 
über  und  in  so  und  so  viele  andere  Schulpoetiken. 

Selbst  A.  W.  Schlegels  Bruder  wusste  mit  dessen  zitierten 
Briefen  nichts  anzufangen.  Er  behauptet  i)  ihnen  zum  Trotz  das 
höhere  Alter  des  Epos  auf  Grund  der  schon  mehrfach  erwähnten 
Scheidung  von  Dichtung  und  Dichtkunst.  Man  glaubt  sich  in  die 
schwärzesten  Zeiten  der  Aufklärung  versetzt,  bevor  die  hohe 
Kunst  der  Naturpoesie  entdeckt  worden  war.  Er  spricht  von 
der  Fähigkeit 

eine  Leidenschaft  in  gemessenen  Lauten  und  Bewegungen  unwillkürlich 
auszudrücken.  Mit  dieser  niedrigsten  Gattung,  welche  nur  den  Keim  zur 
künftigen  lyrischen  Kunst  enthält,  fängt  die  Poesie  überall  an  und  bleibt 
auch  auf  der  untersten,  bloß  vorbereitenden  Stufe  ihrer  Entwicklung  dabei 
stehen.  Streng  genommen  sind  es  nur  gestaltlose  Regungen  der  poetischen 
Anlage,  Vorübungen  der  Poesie,  die  eigentliche  Poesie  ist  noch  gar  nicht 
vorhanden;  denn  was  nur  zur  Befriedigung  eines  Bedürfnisses  dient,  gehört 
nicht  ins  Gebiet  der  schönen  Kunst. 

Näher  an  August  Wilhelm  steht  Schleiermacher  ^),  der  zu 
seiner  Unterscheidung  zwischen  kunstmäßig  und  kunstlos  sich  wie 
dieser  mit  der  Einführung  des  Rhythmus  begnügt,  mit  der  Grün- 
dung auf  den  Begriff  der  Bewegung  aber  von  Herder^)  abhängig 
scheint  : 

So  wollen  wir  uns  denn  zunächst  halten  an  eine  alte  Rede,  die  sich 
aber  auch  im  Munde  der  neueren  Meister  wiederholt,  dass  alle  Kunst  ent- 
springt aus  der  Begeisterung,  aus  lebhafter  Bewegung  der  innersten  Gemüts- 
und Geisteskräfte  .  .  .  Nun  können  wir  wohl  Freude  und  Schmerz,  ohne 
nach  Inhalt  und  Veranlassung  besonders  zu  fragen,  ohne  weiteres  als  solche 
auch  zu  der  innersten  Quelle  des  Lebens  durchdringende  Erregungen  auf- 
stellen. Beide  haben  ihre  entsprechenden  Äußerungen  im  Ton  und  in  den 
willkürlichen  leiblichen  Bewegungen.    Aber  freilich,   wie   die   ausgelassene 


^)  Geschichte  der  Poesie  der  Griechen  und  Römer.  1798.  Prosaische 
Jugendschriften  hg.  v.  J.  Minor,  S.  248. 

2)  Über  den  Umfang  des  Begriffs  der  Kunst  in  Beziehung  auf  die 
Theorie  derselben.  Gelesen  in  der  preußischen  Akademie  am  U.  Aug.  1831. 

8)  Die  Lyra.  Von  der  Natur  und  Wirkung  der  lyrischen  Dichtkunst 
1795.    Aus  dem  zweiten  Bande  der  Terpsichore. 

428 


Freude  springt  und  sich  in  kreisenden  Bewegungen  ermüdet,  wie  sie  um- 
armend an  sich  reißt  und  fahren  lässt,  wie  sie  halb  artikulierte  Töne  bunt 
durcheinander  in  mancherlei  Höhe  und  Tiefe  ausstößt,  und  wie  ebenso  ohne 
Maß  und  Regel  auch  der  Schmerz  seufzt  und  schreit,  sich  in  kläglichen 
Windungen  umherwirft  und  so  die  Tonleiter  auf-  und  abläuft  und  alle  ba- 
rocksten willkürlichsten  Bewegungen  am  häufigsten  wiederholt:  so  ist  bei 
diesen  Äußerungen  an  ein  Kunstwerk  nicht  unmittelbar  zu  denken.  Und 
doch  sind  das  unleugbar  die  Naturanfänge  zweier  Künste,  das  Kunstlose  zu 
Tanz  und  Gesang  als  dem  Kunstmäßigen,  zwei  Künste,  aus  denen  sich  doch 
die  größeren  Gebiete  der  Mimik  und  der  Musik  nur  durch  natürliche  Er- 
weiterungen entwickelt  haben.  Was  ist  nun  der  spezifische  Unterschied 
zwischen  dem  Kunstmäßigen  und  Kunstlosen  ?  Dies  unstreitig,  dass  die 
rohen  und  ungeschlacht  wechselnden  Bewegungen  unter  Maß  und  Regel 
gebracht  werden  .  .  .  Und  dieses  ist  der  tiefere  ursprüngliche  Sinn  der  Formel, 
dass  die  Leidenschaften  oder  vielmehr  die  leidenschaftlichen  Zustände  ge- 
mäßigt werden  durch  die  Künste. 

Nur  einige  Dichter  stehen  auf  einem  A.  W.  Schlegels  ver- 
wandten Standpunkt,  der  von  den  Theoretikern  verachtet  wurde. 
So  Jean  Paul^): 

Die  Lyra  geht,  da  Empfindung  überhaupt  die  Mutter  und  der  Zunder- 
funke aller  Dichtung  ist,  eigentlich  allen  Dichtformen  voraus,  als  das  ge- 
staltlose Prometheusfeuer,  welches  Gestalten  gliedert  und  belebt.  Wirkt 
dieses  lyrische  Feuer  allein,  außerhalb  den  beiden  Formen  oder  Körpern 
Epos  und  Drama,  so  nimmt  die  freifliegende  Flamme,  wie  jede  körperliche, 
keine  umschriebene  feste  Gestalt  an,  sondern  lodert  und  flattert  als  Ode, 
Dithyrambus,  Elegie. 

Ein  fruchtbarer  Gedanke,  der  uns  heute  wieder  sehr  nahe 
liegt:  alle  Poesie  Äußerung  der  Persönlichkeit,  also  eigentlich 
immer  Lyrik,  nur  manchmal  in  die  ursprünglich  fremde  Form 
der  naturnachahmenden  Gattungen  von  Epos  und  Drama  gefasst. 

Über  das  auch  von  A.  W.  Schlegel  angeschlagene  Thema  von 
der  im  Tanze  enthaltenen  bildenden  Kunst  phantasiert  der  tief- 
gründige Novalis  2): 

Plastik,  Musik  und  Poesie  verhalten  sich  wie  Epos,  Lyra  und  Drama. 
Es  sind  unzertrennliche  Elemente,  die  in  jedem  freien  Kunstwesen  zusammen 
und  nur  nach  Beschaffenheit  in  verschiedenen  Verhältnissen  geeinigt  sind. 

Auf  Goethes  Betrachtung  und  Auslegung  der  Ballade  vom 
vertriebenen  und  zurückkehrenden  Grafen^)  macht  mich  Maync 
aufmerksam : 


1)  Vorschule  der  Ästhetik  1804.    XIll.  Programm. 

2)  Sämtliche  Werke,  hg.  von  C.  Meißner.    111,  32. 

3)  Weimarer  Ausgabe,  XLl,  1.  S.  223  f. 


429 


Das  Geheimnisvolle  der  Ballade  enspringt  aus  der  Vortragsweise.  Der 
Sänger  nämlich  hat  seinen  prägnanten  Gegenstand,  seine  Figuren,  deren 
Taten  und  Bewegung  so  tief  im  Sinn,  dass  er  nicht  weiß,  wie  er  ihn  ans 
Tageslicht  fördern  will.  Er  bedient  sich  daher  aller  drei  Grundarten  der 
Poesie,  um  zunächst  auszudrücken,  was  die  Einbildungskraft  erregen,  den 
<jeist  beschäftigen  soll;  er  kann  lyrisch,  episch,  dramatisch  beginnen,  und, 
nach  Belieben  die  Form  wechselnd,  fortfahren,  zum  Ende  hineilen,  oder  es 
weit  hinausschieben  .  .  .  Übrigens  ließe  sich  an  einer  Auswahl  solcher  Ge- 
dichte die  ganze  Poetik  gar  wohl  vortragen,  weil  hier  die  Elemente  noch 
nicht  getrennt,  sondern  wie  in  einem  lebendigen  Ur-Ei  zusammen  sind,  das 
»nur  bebrütet  werden  darf,  um  als  herrlichstes  Phänomen  auf  Goldflügeln 
in  die  Lüfte  zu  steigen. 

Einer  der  letzten  bedeutenden  Theoretiker,  der  an  der  Priorität 
des  Epos  festhält,  ist  der  Hegelianer  Vischer^).  Auch  ihm  ge- 
lingt es  nur  durch  die  bekannte  Unterscheidung  einer  kunstlosen 
und  kunstmäßigen  Periode: 

Hier  ist  noch  das  Nötige  zur  Rechtfertigung  der  Stelle  zu  sagen,  die 
dem  Lyrischen  gegeben  ist.  Es  scheint  der  Zeit  und  dem  Begriffe  nach, 
oder,  wenn  man  will,  der  Zeit  nach,  weil  dem  Begriffenach,  viel  mehr  das 
Erste  zu  sein,  denn  die  Poesie  ist  die  enge  Nachbarin  der  Musik,  kommt 
aus  ihr  und  schickt  sich  an,  aus  der  Innerlichkeit  der  Empfindung  die  Welt 
der  Objekte  wieder  zu  erschließen  und  auszubreiten ;  ihr  Wesen  ist  die 
Entfaltung  der  innerlich  verarbeiteten  Welt;  daher  waren  lyrische  Ergießun- 
gen der  unmittelbaren  Empfindung  notwendig  überall  die  ersten  Äußerungen 
der  dichterischen  Phantasie.  Ein  Interesse  der  bloßen  logischen  Konse- 
quenz, die  Kategorie  der  Objektivität  um  jeden  Preis  voranzustellen,  wäre 
nur  eine  Verirrung  der  Abstraktion  .  .  .  Allein  genauer  betrachtet,  verhält 
sich  die  Sache  anders:  die  ältesten  Lieder  waren  überall  objektiven  Inhalts, 
priesen  Götter  und  Menschen;  freilich  in  lyrischem  Tone,  und  man  kann 
insofern  sagen,  es  liege  hier  eine  noch  unentwickelte  Einheit  des  Lyri- 
schen vor,  allein  es  war  keine  Einheit,  die  ein  Gleichgewicht  enthielt, 
vielmehr  das  objektive  epische  Element  herrschte  und  gestaltete  sich 
zuerst  weiter  zu  bestimmten  Formen,  zu  Heldenliedern,  die  dann  zu 
Epen  zusammenwuchsen,  während  das  Subjektive,  Lyrische  noch  lange 
Zeit  viel  zu  unentwickelt  blieb,  um  als  entschiedene  Form  in  das  Licht 
der  Geschichte  der  Poesie  herauszutreten,  vielmehr  die  späte  Reife  der 
Bildung  abwarten  musste  .  .  .  Historisch  und  psychologisch  hat  den 
Beweis  für  den  Vorgang  des  Epischen  Wackernagel  geführt  .  .  .  Demnach 
behält  jener  Begriff  einer  ursprünglichen,  unentwickelten  Einheit  des  Lyri- 
schen und  Epischen  in  den  ältesten  erzählenden  Liedern  seine  relative 
Richtigkeit;  jenes  war  im  Keime  vorhanden,  musste  dann  diesem  den  Vor- 
tritt lassen,  nahm  aber,  als  es  selbst  an  die  Reihe  der  Entwicklung  kam, 
die  Form  wieder  auf,  in  der  es  einst  neben  dem  Epischen  geschlummert 
hatte,  und  gab  ihr  wirklich  lyrische  Gestalt. 


>)  Ästhetik.    III,  2,  5.    Stuttgart  1857.    S.  1262. 
430 


Der  Vorgang  des  Epischen  wird  hier  eigenth'ch  nur  mehr  zag- 
haft festgehalten;  das  älteste  ist  die  Chorlyrik,  die  als  „objektive" 
Lyrik  bezeichnet  wird,  welcher  Begriff  noch  lange  die  Erkenntnis 
der  Geschichte  unserer  mittelhochdeutschen  Lyrik  verdunkeln 
sollte.  Dieser  Begriff  der  „objektiven"  Lyrik  war  deswegen  so 
schädlich,  weil  man  darunter  zweierlei  verstand,  erstens  wie 
Vischer  die  nur  lyrisch  gefärbte  aber  imitative  Darstellung  der 
Außenwelt,  eines  äußern  Geschehnisses,  —  und  die  Beschränkung 
der  primitiven  Lyrik  auf  diese  Art  ist  durchaus  nicht  nachweisbar, 
ja  direkt  unwahrscheinlich  —  zweitens  aber  eine  „wenig  subjek- 
tive", das  heißt  wenig  individuelle,  nicht  Individual-  sondern  Ge- 
meinschaftsgefühle ausdrückende,  massenpsychologische,  wenig 
differenzierte,  und  insofern  ist  die  Unterscheidung  zweifellos 
richtig.  So  weit  kann  man  Vischer  und  Wackernagel  das  Psy- 
chologische zugeben;  dass  dieser  aber  auch  historisch  den  zeit- 
lichen Vorgang  des  Epos  nachgewiesen  habe,  war  damals  nicht 
mehr  den  Erkenntnissen  der  Zeit  entsprechend.  Denn  das  wusste 
man  damals  schon,  dass  weder  die  griechischen  noch  die  indi- 
schen Epen  die  ältest  überlieferten  Dichtungen  seien.  Im  Jahre 
1837,  als  Wackernagel  seinen  Aufsatz  veröffentlichte,  konnte  man 
noch  meinen,  auf  der  Basis  von  Geschichte,  Mythologie  und 
Philosophie  den  Nachweis  für  die  Priorität  des  Epos  erbringen 
zu  können;  denn  obwohl  der  Engländer  Jones  schon  im  letzten 
Jahrzehnt  des  achtzehnten  Jahrhunderts  einen  Hymnus  des  Rig- 
veda  übersetzt  hatte,  war  es  doch  noch  lange  nicht  bekannt, 
dass  man  es  hier  mit  der  ältesten  poetischen  Urkunde  der  weißen 
Rasse  zu  tun  habe. 

BERN  S.  SINGER 


431 


AUS  ILSE  FRAPANS  WERDEZEIT 

Der  25.  Mai  1881  brachte  mit  der  zweihundertsten  Wiederkehr 
von  Calderons  Todestag  die  universale  Huldigung  desjenigen 
spanischen  Dichters,  der  im  Urteil  seiner  Heimat  wie  des  gesamten 
Auslandes  als  der  größte  gilt  —  nach  Goethe  „dasjenige  Genie, 
das  zugleich  den  größten  Verstand  hatte".  Seiner  Stellung  in  der 
vergleichenden  Literaturgeschichte  und  speziell  zu  Deutschland  ge- 
dachte der  Festartikel  von  Max  Koch^)  mit  der  Anerkennung 
Calderons  als  höchsten  literarischen  Ausdrucks  seines  Volkes  in 
einer  gegebenen  Zeit  —  „wenn  uns  auch  die  Poesie  Calderons 
fremd  und  kaum  verständlich  geworden  ist".  Um  so  mehr 
konnte  die  Berliner  Preisausschreibung  für  die  königlich  spanische 
Akademie,  die  übrigens  beinahe  zu  spät  erfolgte,  nur  für  Dichter 
von  Erfolg  sein,  deren  vornehmstes  Streben  es  von  jeher  gewesen, 
das  Fremde  ins  Deutsche  hineinzuarbeiten.  Zur  Beurteilung  der 
160  eingegangenen  deutschen  Bewerbungen  hatte  der  spanische 
Gesandte,  Graf  Benomar,  Paul  Lindau  als  ersten  Preisrichter  er- 
nannt und  auf  dessen  Vorschlag  Berthold  Auerbach  und  Heinrich 
Kruse  beigezogen.  Ihr  einstimmiges  Urteil  fiel  auf  das  unter  dem 
Motto  „Nord  und  Süd"  eingereichte  Stanzengedicht,  das  in  neun 
Strophen  eine  mit  treffender  Charakteristik  aufs  beste  gelungene 
Überschau  der  Hauptwerke  des  großen  Spaniers  enthielt.  Sein 
Verfasser  war  der  damals  in  Zürich -Hottingen  wohnhafte  Dichter 
und  Übersetzer  Edmund  Dorer  (1831 — 90  2),  der  den  Preis  — 
bestehend  in  einer  goldenen  Medaille  im  Werte  von  Fr.  500  und 
einem  Ehrendiplom  —  schon  durch  seine  frühere  Wirksamkeit 
verdient  hätte.  Als  gründlicher  Kenner  Calderons  wie  der  spani- 
schen Poesie  überhaupt  hatte  Dorer  in  seinen  Gedichtsammlungen 
„Bunte  Blätter"^),  „Cancionero",  „Granatblüten"*)  die  schönsten 
Pflanzen  aus  dem  Liedergarten  des  Südens  in  sein  Land  versetzt 
und  sich  damit  die  Anerkennung  der  allgemein  Gebildeten   wie 


1)  „Calderon  in  Deutschland"  in  der  Wochenschrift  für  das  Leben  des 
deutschen  Volkes  in  Staat,  Wissenschaft  und  Kunst:  „Im  neuen  Reich". 
Leipzig,  Hirzel  1881,  Nr.  21. 

2)  Ein  ausführliches,  auf  Grund  des  handschriftlichen  Nachlasses  ge- 
arbeitetes Bild  seines  Lebens  und  Schaffens  erscheint  binnen  Monatsfrist 
bei  Huber  und  Cie.,  in  Frauenfeld. 

3)  Leipzig,  T.  O.  Weigel  1878.    *)  Beide  ebenda  1879. 

432 


der  speziellen  Fachgelehrten  erworben.  Nunmehr  suchte  der  Be- 
richterstatter des  Madrider  „Imparcial"  nicht  allein  durch  eine 
(Prosa.)  Übertragung  das  Originalgedicht  Dorers  den  Lesern  der 
mit  über  f41  000  Exemplaren  bedeutendsten  spanischen  Zeitung 
zum  Verständnis  zu  bringen,  sondern  erklärte  dasselbe  als  die 
beste  unter  allen  dem  Wetteifer  der  Nationen  erblühten  Huldi- 
gungen Calderons,  die  jbei  der  [Feier  zur  Veröffentlichung  ge- 
kommen seien. 

Die  Mitteilung  von  der  Zuerkennung  des  Preises  an  Edmund 
Dorer  machte  in  den  letzten  Aprilwochen  des  y übel jah res J'die 
Runde  durch  Deutschlands  gesamte  Presse;  auf  diesem  Wege  ge- 
langte sie  auch  zur  Kenntnis  der  damals  dreißigjährigen  Dichterin 
Ilse  Frapan,  welche  unter  ihrem  Mädchennamen  Elisa  Therese 
Levien  ein  Lehramt  an  der  Volksschule  ihrer  Heimatstadt  Ham- 
burg bekleidete.  War  schon  in  früher  Jugend  die  allseitige  Aus- 
bildung dieser  Frau  von  keiner  Seite  irgend  einem  Zwang  unter- 
worfen gewesen,  so  gestattete  ihr  eine  beneidenswerte  Freiheit 
des  Lebens  auch  jetzt  noch,  sich  ruhig  allen  heitern  und  schönen 
Eindrücken  zu  überlassen.  Ihre  Mußezeit  konnte  sie  darum  aus- 
giebig zum  Studium  fremder  Sprachen  und  Literaturen  verwenden 
—  in  Betätigung  einer  frühzeitig  entwickelten  Liebe,  aus  welcher 
das  folgende  Schreiben  an  den  bekränzten  Calderonsänger  ohne 
weiteres  verständlich  ist. 

Hbg.  24/4  81 
Verehrter  Herr  Doctor  ! 
Verzeihen  Sie  zuvörderst,  dass  eine  Unbekannte  es  wagt,  Sie  mit 
einigen  Zeilen  zu  belästigen;  aber  sie  denkt  sich,  diese  Unbekannte,  dass 
Sie  an  diesem  Tage  froh  gestimmt  sind,  und  da  ist  man  ja  zur  Güte  ge- 
neigt! —  Ich  läse  gar  zu  gern  ihre  preisgekrönte  Dichtung,  erstlich  aus 
Interesse  für  Caldeion,  dann  aus  Teilnahme  für  die  Feier  und  endlich  — 
aus  einem  persönlichen  Interesse  für  die  Preisbewerbung  überhaupt! 

Vielleicht  haben  Sie  die  Freundlichkeit,  der  dreisten  Schreiberin  dieser 
Zeilen,  die  Ihnen  übrigens  herzlich  Glück  wünscht  unbekannter  Weise,  in 
einem  kurzen  Wörtchen  anzuzeigen,  wie  oder  wo  und  wann  Ihr  Gedicht  im 
Druck  erscheinen  wird,  und  wie  sie  diesen  ihren  Herzenswunsch  befriedi- 
gen könnte !  ? ! 

Mit  aller  Hochachtung 

Ilse  Levien. 
Hamburg.  Neustr.  Fuhlentwiete  32.  I.^) 

1)  Neustädterstraße  —  Fuhlentwiete  ist  der  zwischen  den  Alsterbecken 
und  den  Eibehäfen  gelegene  Stadtteil  Hamburgs. 

433 


Dorers  liebenswürdiger  Natur  blieb  eine  Ablehnung  der  so 
bescheiden-herzlich  vorgetragenen  Bitte  versagt,  wenn  er  auch  mit 
seinem  strengsten  Kritiker^)  darin  einig  ging,  dass  die  Architek- 
tonik seines  Gedichtes  viel  zu  wünschen  übrig  lasse  und  nirgends 
aus  einem  originellen  Grundgedanken  hervorgegangen  erscheine. 
Anderseits  liegt  im  Urteil  eines  andern  Kenners^)  („wem  solches 
zu  schreiben  vergönnt  worden,  den  hat  die  Muse  nicht  nur  für 
diese  Gelegenheit  geküsst")  die  Erklärung  für  den  gemeinsamen 
Boden,  auf  dem  die  Vereinigung  von  „Nord  und  Süd"  —  der 
bald  darauf  geschlossene  Freundschaftsbund  der  angehenden 
Dichterin  mit  dem  auf  dem  Höhepunkt  seines  Könnens  angelangten 
Sänger  —  hat  geschehen  können.  Die  Befestigung  dieser  Be- 
ziehungen erfolgte  mit  dem  ersten  Schreiben  Dorers  an  seine 
Verehrerin,  der  er  das  indessen  überall  durch  die  Presse  verbrei- 
tete Preisgedicht  ^)  übersandte  —  in  des  Dichters  Heimat  war  es 
J.  V.  Widmann,  der  dem  Autor  seine  Freude  nicht  verhehlte,  „die 
Dichtung  im  Vaterland  weiter  verbreiten  zu  helfen".   Else  Levien 

dankte  mit  folgenden  Worten: 

Hbg.  8/6.  81. 
Sehr  geehrter  Herr  Doctor! 

Sie  haben  mir  mit  der  Erfüllung  Ihres  freundlichen  Versprechens  eine 
ordentliche  Pfingstfreude  bereitet,  und  ich  danke  Ihnen  herzlich  dafür! 

Sie  können  sich  denken,  wie  ich  mit  Ihrem  schönen  Gedicht  zu  allen 
Freunden  und  Geistesverwandten  gelaufen  bin,  es  war  doch  auch  noch 
ganz  etwas  Besonderes,  es  so  ganz  unmittelbar  aus  der  Hand  zu  erhalten, 
die  es  geschrieben ! 

Die  Prämierung  Ihrer  Arbeit  widerlegt  Ihr  eigenes  bescheidenes  Urteil 
und  findet  die  herzlichste  Zustimmung  bei  allen,  die  sie  lesen ;  ich  kann 
mir  nicht  denken,  dass  es  möglich  wäre,  in  so  wenigen  Worten  eine  schärfere 
Charakteristik  des  Dichters  und  seines  Landes  zu  geben. 

Was  werden  Sie  aber  nun  sagen,  wenn  ich  so  unbescheiden  bin,  Ihnen 
gleichfalls  Verse  zuzuwenden  und  noch  dazu  gedruckte?  Urteilen  Sie  nicht 
zu  hart,  aber  loben  Sie  erst  recht  nicht;  ich  weiß  sehr  wohl,  wie  gut  das, 
was  ich  darin  sage,  eigentlich  auf  jeden  großen  Dichter  passt  —  der  Enthu- 
siasmus tut's  eben  nicht  allein ! 

Mit  aller  Hochachtung  Ihre 

Ilse  Levien. 

^)  Hugo  Schuchardt  in  einer  Artikelserie  „Neueste  deutsche  Calderon- 
Literatur",  in  der  Beilage  zur  AUgem.  Zeitung  1881,  Nr.  193,  198/99, 
200,  216. 

2)  Des  finnischen  Literarhistorikers  und  Philosophen  Wilhelm  Bolin 
in  einem  Brief  an  Dorer  vom  21. /23.  Juli  1881. 

3)  „An  Calderon  zum  25.  Mai  1881";  später  im  Druck  von  S.  Schott- 
laender  in  Breslau  erschienen. 

434 


Dem  Schreiben  lagen  die  Strophen  bei,  welche  die  Calderon- 
Begeisterte  zwar  veröffentlicht,  aber  nicht  zur  Konkurrenz  anzu- 
melden sich  getraut  hatte,  da  sie,  auf  wenig  gründliche  Kenntnis 
der  Werke  des  Besungenen  fußend,  mehr  nur  instinktiv  ahnend 
hatte  dichten  können.  Das  seltene  Poem,  das  vom  „Hamburger 
Fremdenblatt"  an  leitender  Stelle^)  aufgenommen  worden  ist, 
hat  folgenden  Wortlaut: 

ZUM  ZWEIHUNDERTJÄHRIGEN  TODESTAGE  CALDERONS 

25.  Mai  1881. 

Von  einem  Helden  hast  Du  uns  berichtet, 
Den  das  Geschick  in  Bande  hart  geschlagen; 
Doch  aufwärts  stets  das  treue  Aug'  gerichtet, 
Bezwang  er  selbst  die  schwersten  Erdenplagen; 
Der  Leib  zerbrach,  der  Geist  blieb  unvernichtet. 
Und  als  die  Seele  himmelan  getragen, 
Führt'  der  verklärte  Schatten  seine  Krieger 
Den  Weg  des  Ruhms  und  blieb  im  Tod  noch  Sieger. 

So  stehst  Du  heut'  vor  uns,  erhab'ner  Geist, 
Als  trügest  selber  Du  Fernandos  Züge; 
Wer  sich,  wie  Du,  im  Glücke  standhaft  weist, 
Wo  ist  das  Leid,  das  ihn  zu  Boden  schlüge? 
Als  ob  Du  kaum  von  uns  geschieden  seist 
Aus  dieser  Welt  voll  Schein  und  Ungenüge, 
Zeigst  Du  der  neuen  Welt  und  ihren  Söhnen 
Den  Pfad  des  ewig  GüUigen  und  Schönen. 

Das  Leben  ist  ein  Traum,  aus  Nacht  geboren, 
Hinschleicht's  im  Dunkel,  dunkel  zu  versinken; 
Was  lebt,  ist  schon  dem  Leben  halb  verloren; 
Die  Blumen,  die  des  Morgens  Strahlen  trinken, 
Hat  schon  am  Mittag  sich  der  Tod  erkoren; 
Die  Früchte,  die  Genuss  und  Labung  winken, 
Wie  Sodomsäpfel  wandeln  sie  beim  Raube 
Durch  seine  Hand  zu  Asche  sich  und  Staube. 

Und  doch,  umdrängt  von  Erdenqual  und  Not, 
Sterblicher  Mensch,  ringsum  Vergänglichkeiten, 
Gelang's  ihm,  aus  dem  allgemeinen  Tod 
Sich  ew'ge  Güter  rettend  zu  erstreiten; 
Leuchtsterne  unserm  Wandel,  wahres  Brot 
Des  Lebens  sind  sie  gleich  zu  allen  Zeiten, 
Die,  wie  Geschlechter  auf  Geschlechter  sterben, 
Sich  von  Geschlechtern  zu  Geschlecht  vererben. 


1)  1881,  Nr.  120  (25.  Mai  1881),  zweite  Beilage. 


435 


Zwar  nimmer  wird  die  Menge  dazu  taugen, 
Es  zu  bewahren,  das  geweihte  Pfand, 
Am  Boden  haftend  mit  des  Leibes  Augen, 
Wann  hat  sie  je  die  Wahrheit  selbst  erkannt? 
Nur  Einz'ie  sind's,  die  ihre  Strahlen  saugen. 
Nur  Einz'ie,  die  kein  Irrtum  abgewandt; 
Doch  wehe  jenen,  die  dem  Volke  spenden 
Unreinen  Herzens,  mit  befleckten  Händen. 

Du  warst  der  Reinsten  einer,  wie  geschaffen 
Zu  einem  Führer  in  der  Geister  Reich  1 
Hoch  war  Dein  Sinn  und  edel  Deine  Waffen, 
Wer  ist  wie  Du  an  Glut  und  Inbrunst  reich? 
Nicht  Ruhmesglanz  macht'  Deine  Kraft  erschlaffen. 
Getreu  Dir  selbst,  bliebst  Du  Dir  selber  gleich. 
Und  was  Du  Unvergängliches  gesungen, 
Das  hat  die  Mit-  und  Nachwelt  längst  bezwungen! 

Ein  Priester,  deutest  Du  des  Glaubens  Wort, 

Als  der  Alltäglichkeit  verworr'nen  Zeichen; 

Ein  Kämpfer,  fichtst  Du  für  der  Ehre  Hort 

Und  eilst,  dem  Helden  selbst  den  Kranz  zu  reichen; 

Ein  Dichter,  weißt  Du  in  der  Schönheit  Port 

Den  Streit  von  Traum  und  Wahrheit  auszugleichen: 

Da  muss  des  Lebens  Gang  sich  schön  vollenden. 

Wo  solche  Sterne  Schutz  und  Kräfte  spenden. 

Du  hast  Dir  selber  eine  Welt  gegründet; 
Wohl  ist  sie  weit  und  herrlich,  diese  Welt! 
Und  hast  mit  kunstgeweihter  Hand  entzündet 
Die  ew'ge  Lampe,  die  den  Bau  erhellt; 
Und  Wunderbilder,  lebensvoll  gerundet, 
Auf  die  ein  Strahl  des  Zauberlichtes  fällt, 
Und  bunte  Schatten  ziehn  dort  ihre  Bahnen  — 
Viel  zeigst  Du  uns  und  lassest  mehr  noch  ahnen. 

So  ward  denn  Deine  tiefste  Sehnsucht  wahr: 
Du  lebst  unsterblich,  nun,  da  sie  gefallen 
Des  Leibes  Fessel:  unverfälscht  und  klar 
Seh  ich  Dein  Bildnis  durch  die  Zeiten  wallen; 
Was  Deines  Volkes  stolze  Habe  war, 
Ein  Gut  der  Menschheit  ist's  und  eigen  allen : 
Und  was  uns  heut'  begeistert  und  erhoben, 
Ist  Hauch  der  Ewigkeit,  ein  Hauch  von  oben ! 

ILSE  LEVIEN 

Mittlerweile  hatte  Edmund  Dorer  seinem  Festgedicht  einige 
schöne  Strophen  hinzugefügt  und  das  Ganze  als  zweite,  erweiterte 
Ausgabe  bei  seinem  Verleger,  Wilhelm  Friedrich  in  Leipzig,  noch 

436 


im  gleichen  Jahre  erscheinen  lassen^).  Wohl  durfte  die  Kritilc 
die  Elastizität  des  Geistes  bewundern,  denn  auch  so  liest  sich 
alles  wie  das  Ergebnis  einer  einheitlichen  Begeisterung.  Der  ein- 
stimmigen Anerkennung  durch  die  Öffentlichkeit  schließt  sich  das 
Urteil  Ilse  Leviens  an: 

Wandsbeck.  Hamburgerstraße  3,  10/8.  81 

Hochverehrter  Herr  Doctor! 

Mit  der  lebhaften  Freude  empfing  ich  gestern  Abend  Ihre  liebens- 
würdigen Zeilen  und  Ihr  schönes  Gedicht;  doppelt  überrascht  und  erfreut 
hat  mich  Ihre  Sendung,  da  ich  schon  fürchtete,  mir  durch  meine  schlechten 
Verse  Ihr  Missfallen  zugezogen  zu  haben  ;  denn  der  Brief,  von  dem  Sie  mir 
schreiben,  ist  leider  gar  nicht  in  meine  Hände  gelangt!  Ich  hoffe  indes, 
die  Post  wird  ihn  mir  noch  herausgeben,  ich  werde  sofort  Jagd  auf  mein 
Eigentum  machen!  Vielleicht,  dass  er  wegen  eines  Irrtums  in  der  Haus- 
nummer (52  statt  32)  zurückgegangen  ist,  was  übrigens  auch  ein  Wunder 
wäre,  da  der  gestrige  Brief  die  nämliche  Adresse,  und  zwar  mit  Blaustift 
geändert,  zeigt. 

In  jedem  Fall  danke  ich  Ihnen,  verehrter  Herr  Doctor,  aufs  herzlichste, 
für  damals  und  heut;  was  werden  Sie  von  mir  gedacht  haben,  dass  ich 
Ihre  Zeilen  unbeantwortet  ließ! 

Und  jetzt  zu  Ihrem  erweiterten  Gedicht!  Ich  kannte  es  noch  nicht 
in  dieser  Gestalt  und  finde  die  Idee,  es  zu  vervollständigen,  und  die  Art, 
wie  dies  geschehen  ist,  ganz  vortrefflich.  Durchaus  harmonisch  fügen  sich 
die  neuen  Verse  den  übrigen  an  und  sind,  meine  ich,  in  jeder  Hinsicht  als 
ein  Gewinn  für  die  Dichtung  zu  betrachten.  Wer  den  spanischen  Dichter 
kennt,  wird  freudig  zustimmen  bei  dieser  Heraufbeschwörung  seiner  schön- 
sten und  charakteristischsten  Gestalten  —  wer  ihn  nicht  kennt,  wird  durch 
solche  direkte  Hinweise  am  ehesten  dazu  veranlasst  werden,  ihn  selbst 
zu  lesen. 

Noch  einmal,  ich  sage  Ihnen  innigen  Dank,  dass  Sie  an  mich  gedacht 
und  mir  die  Bekanntschaft  mit  dieser  neuen  Fassung  Ihrer  Dichtung  in  so 
gütiger  Weise  selbst  vermittelt  haben. 
Mit  größter  Hochachtung 

Ihre  ergebene 

Ilse  Levien. 

Dorers  Dankgefühl  äußerte  sich  in  einer  der  Absenderin  selbst 
hochwillkommenen  bereitwilligen  Kritik  ihres  Poems,  wobei  er 
gewohnt  war,  einen  sehr  deutlichen  Maßstab  für  die  Beurteilung 
von  Schrift  und  Mensch  aufzustellen,  nicht  allein  sich  in  seiner 
verneinenden  Kraft  zu  zeigen,  sondern  durch  positive  Ratschläge 
klärend  und  fördernd  zu  wirken.  Nach  gegenseitiger  Ausgleichung 
der  Kräfte,   wie  sie  dem   brieflichen  Verkehr  beider  entspringen 


^)  An  Calderon,  zum  zweihundertjährigen  Todesgedächtnis  am  25.  Mai 
1881.    Gedicht  von  Edmund  Dorer.    Zweite,  erweiterte  Ausgabe. 

437. 


musste,  durfte  Dorer  es  auch  wagen,  sie  tätig  in  das  große  Weri< 
eingreifen  zu  lassen,  das  den  Spanier  und  seine  Kultur  den  Deut- 
schen näher  bringen  sollte.  Es  galt  die  Sammlung  „Beiträge  zur 
Calderon-Literatur"  i),  ein  Verzeichnis  sämtlicher  deutscher  Auf- 
sätze, Abhandlungen  und  Gedichte,  zur  Calderon-Feier  in  Deutsch- 
land, Österreich  und  der  Schweiz  erschienen,  und  damit  die  ab- 
schließende Ergänzung  seiner  großen  bibliographischen  Übersicht 
der  „Calderon-Literatur  in  Deutschland"  2).  Der  Anhang  stellt  die 
später  erschienenen  Schriften  zur  Calderon-Literatur  zusammen 
und  fügt  einige  Nachträge  zur  frühern  Übersicht  bei.  Dass  sich 
der  Verfasser  der  Bibliographie,  wie  der  nachstehende  Brief  zeigt, 
zur  Beschaffung  des  Materials  allseitig  umgetan,  musste  auch  von 
der  Fachwissenschaft  als  verdienstlich  anerkannt  werden,  wenn 
auch  die  Ausführung  zeigte,  wie  schwierig  es  war,  dass  eine 
Person  auf  zwei  so  verschiedenen  Gebieten  —  Dichtkunst  und 
Sammelarbeit  —  den  Preis  erringen  konnte. 

Hamb.  23/8.  81. 
Hochverehrter  Herr  Doctor! 

Ihr  lieber  langer  Brief  vom  13.  Juni  ist  nun  richtig  in  meine  Hände 
gelangt,  ich  bin  sehr  froh  darüber  und  danke  Ihnen  nachträglich  noch  sehr, 
dass  Sie  meiner  kleinen  Arbeit  eine  so   eingehende  Besprechung  widmen. 

Was  nun  die  Umstellung  der  Strophen  betrifft,  so  gefällt  mir  Ihre  An- 
ordnung ganz  vorzüglich ;  ich  sehe  ein  und  tat  es  eigentlich  auch  vorher 
schon,  dass  die  beiden  ersten  Strophen  für  eine  Introduktion  (die  sie  ur- 
sprünglich vorstellen  sollten !)  zu  lang  sind,  und  bin  überzeugt,  dass  Sie  ihnen 
eine  viel  passendere  Stelle  angewiesen  haben,  da  auf  diese  Weise  die  Ok- 
taven zusammenbleiben,  die  direkt  an  den  Dichter  gerichtet  sind. 

Auch  Ihre  Änderungen  finde  ich  begründet,  zum  großen  Teile  wenig- 
stens. In  Strophe  I.  kommen  bei  mir  Geist,  Seele,  Schatten  etwas  dicht 
aufeinander;  ich  sage  also  lieber  mit  Ihnen: 

Die  Ketten  fielen,  die  er  lang  getragen, 
Und  der  Veri<lärte  führte  seine  Krieger  .  .  . 

In  der  sonst  allgemein  gehaltenen  Str.  III.  störte  mich  das  „seine  Hand" 
auch  schon  —  „der  gier'gen  Hand"  ist  gewiss  besser,  obgleich  das  an  und 
für  sich  nicht  schöne  Wort  durch  das  Apostroph  nicht  eben  schöner  wird; 
aber  ich  glaube,  das  ist  unvermeidlich. 

Wenn  Sie  in  Str.  V.  Einz'le  zu  hart  finden,  könnte  man  es  nicht  durch 
Wen'ge  ersetzen?  Mir  scheint  das  einfacher,  als  wenn  man  sagt:  Wieselten 
sind  etc.,  wo  doch  immerhin  ein  Wort  ausgelassen  werden  muss.  Dagegen 
halte  ich  unreine  Gabe  statt  unreinen  Herzens  in  derselben  Strophe  für 
verständlicher  und  daher  auch  für  besser. 


*)  Dresden,  Lehmann'sche  Buchdruckerei  1884,  47  Seiten. 
2)  Leipzig,  W.  Friedrich  1881. 


438 


Mit  der  Änderung  für  Str.  VIII. 

Zum  Lichte  führst  du  uns  auf  gold'nen  Bahnen 

weiß  ich  indes  leider  nicht  recht  etwas  anzufangen,  da  die  3  Verse: 

Und  Wunderbilder,  lebensvoll  gerundet, 
Auf  die  ein  Strahl  des  Zauberlichtes  fällt, 
Und  bunte  Schatten  ziehn  dort  ihre  Bahnen 

doch  zusammengehören  und  einzeln  nicht  verständlich  sind.  Vielleicht 
sagen  Sie  mir  noch  einmal  Ihre  Meinung  darüber. 

Meine  Freude  über  die  Berücksichtigung  meiner  Verse  in  der  Biblio- 
graphie habe  ich  Ihnen  schon  in  meinem  vorigen  Brief  ausgesprochen  und 
kann  Ihnen  meinen  herzlichsten  Dank  dafür  heute  nur  wiederholen. 

Was  ich  von  Festartikeln  in  hiesigen  Zeitschriften  auftreiben  kann, 
erhalten  Sie  gleichzeitig  mit  diesem  Briefe);  der  in  den  „Hamburger  Nach- 
richten" 2)  stammt  aus  der  Feder  des  ausgezeichneten  Kritikers  und  Kenners 
Kapellmeister  F.  A.  Riccius.  Die  „Hamburger  Reform"  3)  brachte  ein  Ge- 
dicht zum  25.  Mai,  das  Sie  als  Curiosum  gewiss  auch  amüsieren  würde. 
Im  „Fremdenblatt"  stand  eine  kurze  biographische  Skizze  unmittelbar  unter 
meinen  Versen,  als  eine  Art  Erklärung! 

Da  Sie,  verehrtester  Herr  Doctor,  mir  so  freundlich  schreiben,  wage 
ich  auch,  Ihnen  zu  erzählen,  dass  ich  einige  Novellen  auf  dem  Gewissen 
habe,  —  auf  die  Gefahr  hin,  Sie  damit  sehr  wenig  zu  interessieren!  Eine 
davon,  die  erste,  ist  im  Anfang  dieses  Jahres  meuchlings  gedruckt  worden, 
und  noch  dazu  in  einem  jüdischen  Wochenblatt*),  dem  ein  übereifriger  Be- 
kannter sie  ohne  mein  Wissen  eingeschickt  hatte. 

Die  Geschichte  hat  mir  aber  dennoch  den  größten  Spass  gemacht, 
obgleich  meine  arme  kleine  Novelle  von  Druckfehlern  wimmelt;  es  fängt 
schon  mit  meinem  Namen  an,  Vor-  und  Zuname  sind  völlig  verkehrt 
gedruckt. 

Theodor  Storm^)  hat  einiges  von  mir  gelesen  und  —  gelobt,  ebenso 
Wilhelm  Raabe^),  der  mir  noch  in  seinem  gestrigen  Brief  einen  „verständigen 
Redakteur"  wünscht,  und  wünscht,  dass  ihm  meine  Sachen  zur  richtigen 
Stunde  in  die  Hände  fallen  mögen ! 

Aber  drucken  will  sie  keiner  H)—  Ich  habe  mir  schon  ein  extra  Fach 
für  „abschlägige  Bescheide"  eingerichtet,  und  ich  finde,  dass  es  sich  unge- 
heuer schnell  füllt!    Das  verdirbt  mir  aber  das  Vergnügen  am  Produzieren 


1)  Siehe  „Beiträge  zur  Cald.-Lit.",  Seite  41. 

2)  25.  Mai  1881,  Nr.  123. 

3)  25.  Mai  1881,  Nr.  123,  Calderon,  zum  zweihundertjährigen  Todestag 
des  Dichters.    Ein  Gedicht  von  Harbert  Harberts. 

*)  ?—  solche  Zeitschriften  schössen  gerade  damals  in  Deutschland  und 
speziell  in  Hamburg  wie  Pilze  aus  dem  Boden. 

5)  Ein  Jahr  zuvor  (1880)  waren  Storms  Gedichte  in  sechster  Auflage 
erschienen.    Vgl.  über  ihn  Ilse  Frapans  Roman  „Erich  Hetebrink". 

6)  der  damals  eben  mit  seinem  „Hörn  von  Wanza"  einen  beispiellosen 
Erfolg  errungen  hatte. 

')  Noch  der  in  seinem  fünften  Jahrgang  1883  in  veränderter  Form  er- 
schienene Deutsche  Literatur-Kalender  Jos.  Kürschners  weiß  von  der  Schrift- 
stellerin Ilse  Levien  keine  Buchwerke  zu  verzeichnen. 

339 


keineswegs,  schlecht  hat  es  niemand  genannt,  nur  immer  „ungeeignet",  und 
was  heißt  das  eigentlich? 

Bitte,  seien  Sie  mir  nicht  böse,  dass  ich  Ihnen  soviel  vorgeschwatzt 
habe,  es  ist  mir  so  in  die  Feder  gekommen!    Vielleicht  wünschen  Sie  mir 
auch  „Glück  zum  Handwerk!"  wie  Raabe  — ich  kann  viel  davon  gebrauchen! 
Mit  herzlicher  Hochachtung 

ihre  ergebene 

Ilse  Levien. 

Der  schon  hier  zu  Tage  tretende  Qrundzug  im  Schaffen  der 
Dichterin  ist  das  rastlose  Vorwärtsdrängen  und  Hinaufstürmen 
zum  Gipfel,  das  sie  noch  ein  Vierteljahrhundert  später  die  Welt 
so  neu  wie  jeden  Tag  sehen  und  sprechen  lässt:  „Mein  Bestes 
h'egt  noch  vor  mir."  Und  an  diesem  überreich  erfüllten  Leben 
nimmt  nun  auch  Edmund  Dorer  teil;  mit  Storm  und  Raabe  tritt 
er  in  die  Reihe  der  „erlauchten  Geister,  die  dem  Neuling  vorge- 
geleuchtet".  Ja,  wenn  die  gereifte  Schriftstellerin  in  ihrer  auto- 
biographischen Skizze,  worin  sie  kurz  vor  ihrem  Tode  ihr  Leben 
im  Spiegel  überblickt,  bekennt,  von  einem  Storm,  Raabe  und 
später  von  F.  Th.  Vischer,  Paul  Heyse  und  andern  überall  ge- 
führt, gefördert,  gehoben,  befreundet  worden  zu  sein,  so  darf 
auch  Dorer  einen  Teil  ihres  Lobes  beanspruchen:  „Mein  ganzes 
Leben  ist  ein  Dank  an  euch."  So  bezeugt  sie  es  ihm^)  mit  ihren 
großen,  feinen  Schriftzügen  selber: 

Hamburg  30/8  81. 
O  fröhlicher  Tag,  o  freundliche  Zeit, 
Wo's  bunte,  goldene  Früchte  schneit. 
Zwei  schöne  Früchte  an  einem  Zweig, 
Da  halt  ich  sie  nun  und  bin  so  reich! 
Wie  würzig  ihr  Duft,  wie  echt  ihr  Gehalt, 
Die  Form  wie  edel  und  die  Gestalt ! 
Wo  kamen  sie  her?    Ei  nun,  vom  Baum, 
Dem  ewig  grünen  im  Weltenraum, 
Der  am  Zeiten  Born,  mit  der  Menschheit  Geist 
Die  unvergänglichen  Wurzeln  speist. 
Der  sich  in  tausend  Blättlein  regt, 
Der  Blüten  und  Früchte  trug  und  trägt ; 
Da  wachsen  sie  hoch  am  frischen  Ast, 
Unter  Sterne  Geflimmer  und  Sonnenglast. 
Wer  brach  sie  mir?    Eine  gütige  Hand, 
Die  der  Fremden  dachte  im  fernen  Land ; 
Die  gerne  erfreut  und  freundlich  gibt. 
Weil  sie  die  glücklichen  Menschen  liebt ; 

^)  Anlässlich  der  Übersendung  der  beiden  eingangs  erwähnten  Gedicht- 
sammlungen „Cancionero"  und  „Granatblüten". 

440 


Die  brach  die  Früchte  golden  und  jung, 
Zur  Labung  mir  und  Erinnerung. 
Wie  kann  ich  danken?    Ich  weiß  es  nicht; 
Die  tiefste  Freude  am  stillsten  spricht! 
Doch  mein'  ich,  noch  weiß  es  nicht  alle  Welt, 
Wie  köstlichen  Samen  die  Frucht  enthält! 
Viel  ruhen  noch  eng  im  geschlossenen  Haus, 
Die  will  ich  pflanzen  und  säen  aus; 
Und  Blumen  werden  draus  erblüh'n. 
Auch  bunt  wie  die  Früchte  und  Zweige  grün, 
Zum  Schmuck  für  das  Haupt,  zum  Strauß  für  die  Hand, 
Die  die  herrlichen  Früchte  gepflückt  und  gesandt!        ilse  levien 
ZÜRICH  H.  SCHOLLENBERQER 

nna 

LAIENGEDANKEN  ÜBER 
EINE  QELEHRTENBIBEL 

Es  ist  ein  altes  Recht  des  Protestanten,  dass  er  nicht  die 
Theologen  unter  sich  ausmachen  lässt,  was  in  erster  Linie  ihn 
angeht.  Darum  nehme  ich  mir  heraus,  ein  Wort  zur  Zürcher 
Bibelfrage  zu  sagen ;  vor  einem  Pfarrer  habe  ich  dabei  den  Vorteil, 
dass  mir  schwerlich  einer  dogmatische  Voreingenommenheit  vor- 
werfen wird.  Ich  schätze  jedoch  die  Gefahr,  missverstanden  zu 
werden,  nicht  gering;  denn  ich  fühle  wohl,  dass  wir  junges  Ge- 
schlecht um  ein  Menschenalter  von  unsern  Bibelverdolmetschern 
getrennt  sind.  Die  sind  offenbar  stolz  darauf,  an  einer  unerhört 
fortschrittlichen  Tat  mitzuwirken.  Doch  steckt,  wie  mir  scheinen 
will,  ihr  ganzes  Denken  so  tief  im  vergangenen  Jahrhundert,  dass 
die  neue  Bibel  bei  ihrem  Erscheinen  leicht  veraltet  sein  könnte 
und  niemand  zu  locken  vermöchte,  nach  ihr  zu  greifen. 

Die  Wissenschaft  reizt  uns  heute  nicht  mehr  allein,  und  wo 
wir  immerzu  Fortschritt,  Fortschritt  rufen  hören,  werden  wir  leicht 
verstimmt.  Wohl  glauben  wir  an  den  Fortschritt  der  Wissenschaft 
und  Technik,  wie  alles  Verstandesmäßigen;  aber  wo  gefühls- 
mäßiger Ausdruck  in  Frage  steht,  wie  bei  Religion  und  Kunst, 
da  gibt  es  keinen  Fortschritt,  sondern  immer  wieder  höchste  Werte, 
die  einander  nicht  überholen  und  übertrumpfen.  Wissenschaftliche 
Werke  werden  überholt,  künstlerische,  wenn  sie  es  in  hohem 
Grade  sind,  nie.  Der  gefühlsmäßige  Ausdruck  der  Kultur  und  sein 
Hauptmittel,  die  Sprache,  ändern  sich  wohl,  entwickeln  sich  aber 

441 


nicht  im  Sinne  der  Wissenschaft;  und  so  gut  Homer,  Shakes- 
peare und  Goethe  zu  ihrer  Zeit  und  gestern  gleich  hohe  Kunst- 
werke waren,  so  unabänderh'ch  ist  der  Wert  der  Lutherbibel. 

So  weit  sie  als  Kunstwerk  zu  gelten  hat,  natürlich.  Wenn 
sie  textlich  heute  noch  stimmte,  wäre  das  ein  schlimmes  Zeichen 
für  vierhundert  Jahre  theologischer  Forschung.  (Zugegeben,  dass 
sich  in  dem  Prachtbau  der  Lutherbibel  auch  langweilige  Korridore 
und  öde  Nebenräume  finden.)  Wäre  nun  aber  eine  wissenschaft- 
lich einwandfreie  Übersetzung,  die  genau  den  Sinn  des  Urtextes 
wiedergäbe,  das  höchste  Wünschbare?  Für  unsere  Bibelübersetzer 
scheint  es  so  zu  sein.  Mit  der  Genauigkeit  ist  aber  bei  diesem  Werk 
erst  der  halbe  Weg  zurückgelegt.  Erst  dann  ist  das  Ziel  erreicht, 
wenn  auch  die  Wirkung  des  Urtextes  herausgebracht  wird.  Wenn 
man  gutes  Hebräisch  mit  schlechtem  Deutsch  wiedergibt,  wie  zum 
Beispiel  im  siebenten  Psalm  mit  den  Worten  „und  macht  er  seine 
Pfeile  zu  brennenden",  so  kann  ich,  obwohl  ich  kein  Hebräisch 
verstehe,  ruhig  sagen:  die  Übersetzung  ist  falsch;  denn  es  ist  gute 
Sprachmünze  in  schlechte  gewechselt  worden.  Und  wenn  in  dem 
Psalmvers  „Viel  sind  die  Schmerzen  derer,  die  andern  Göttern  nach- 
eilen" das  Wort  „andern"  in  halben  eckigen  Klammern  und 
das  nächste  Wort  in  ganzen  eckigen  Klammern  steht,  so  ist  die 
Übersetzung  falsch;  denn  was  Worte  einer  religiösen  Dichtung 
waren,  stellt  sich  nun  wie  eine  chemische  Formel  dar  und  er- 
weckt in  uns  ähnliche  Gefühle  wie  eine  chemische  Formel.  Und 
wenn  bei  Jesaja  von  Terebinthen  die  Rede  ist,  so  konnten  sich  die 
alten  Hebräer  ein  Bild  dabei  machen,  bei  unsern  Zürcher  Bauern 
wird  der  Name  aber  nur  eine  Leere  im  Gehirn  zurücklassen; 
Luther,  der  hier  kühn  die  heimische  Eiche  hinsetzt,  dolmetscht 
für  das  Gemüt  wahrer.  Wer  also  dichterisch  übersetzt,  erweist 
einem  Buch,  das  zur  Seele  reden  soll,  die  größere  Treue,  als 
wer  es  gelehrt  übersetzt.  Und  das  muss  Luther  jeder  lassen:  er 
hat  Kraft  mit  Kraft,  Holdseligkeit  mit  Holdseligkeit,  feierliche 
Töne  mit  feierlichen  Tönen,  er  hat  ein  großes  Dichtwerk  mit 
einem  großen  Dichtwerk  verdolmetscht.  Mit  Dogmatik  hat  das 
aber  nichts  zu  tun. 

Darum  kann  auch  Luthers  Sprache  nie  veralten,  so  lange 
deutsch  gesprochen  wird.  Jeder,  der  fühlt,  dass  sein  sprachlicher 
Ausdruck  sich  nicht  verflauen  und  abwetzen  darf,  greift  zur  Luther- 

442 


bibel  als  zum  lebendigen  Urquell  deutscher  Prosa.  Stets  hat 
Luther  das  treffende,  das  farbige,  das  körperliche  Wort  gefunden. 
Dass  man  heute  noch  vom  Gichtbrüchigen  reden  könne,  kann 
nur  einem  Gelehrten  unfassbar  sein,  der  nie  um  künstlerische 
Wiedergabe,  um  großen  Stil  gerungen  hat;  wie  blöde,  schemen- 
haft ist  daneben  der  Gichtkranke,  oder  die  herbe  Frucht  neben 
den  Heerlingen!  Unerreicht  ist  die  Sprache  Luthers  besonders 
in  ihrem  Rhythmus,  und  auch  da  wieder  am  höchsten  an  den 
lyrischen  Stellen  der  Psalmen,  des  Hohen  Liedes,  Hiobs,  des  Weih- 
nachts-  und  Passionsevangeliums.  Hier  hat  die  Zürcher  Bibel- 
kommission Wortklaubereien  und  schulmäßiger  Sprachrichtigkeit 
zuliebe  Schönheiten  geopfert,  die  keiner,  der  da  Ohren  hat  zu 
hören,  missen  möchte.  Wie  Orgelton  klingt  das  Lutherwort  „Was 
ist  der  Mensch,  dass  du  sein  gedenkest";  mit  zwei  Federstrichen 
duckt  die  Kommission  den  feierlichen  Schritt  „dass  du  seiner  ge- 
denkst", und  wenn  sie  dann  „das  Menschenkind"  hinsetzt,  wo  es 
hieß  „und  des  Menschen  Kind,  dass  du  dich  sein  (nicht  seiner!) 
annimmst",  so  erzeugt  sie  dadurch  eine  jener  langen  Ketten  von 
Senkungen,  die  das  sichere  Anzeichen  für  eine  schlechte  Prosa 
sind.  Und  dafür  könnte  man  aus  jedem  zweiten  oder  dritten 
Psalmvers  der  Proben  ein  warnendes  Exempel  ableiten.  Luthers 
Sprache  veraltet?  Hat  sie  darum  Friedrich  Nietzsche  als  Vorbild 
genommen,  als  er  ein  Buch  von  großem  Stil,  von  hehrer  Feier- 
lichkeit schreiben  wollte? 

Das  bewusst  Unkünstlerische  der  vorliegenden  Übersetzungs- 
proben, in  das  auch  nie  aus  dem  Unbewussten  heraus  ein  dich- 
terischer Wert  sich  verirrt  hat,  ist  wohl  der  unmittelbare  Ausfluss  der 
ganz  und  gar  verstandesmäßig  gewordenen,  bei  Freisinnigen  und 
Orthodoxen  gleich  verstandesmäßig  gewordenen  Religion.  Das 
dogmatische  Gezänk  ist  aber  den  Laien  längst  ein  Greuel  und 
wird  es  immer  mehr  werden;  dass  die  Bibel  durch  eine  neue^ 
bloß  wissenschaftliche  Übersetzung  ohne  poetische  Werte  erst 
recht  ein  Arsenal  für  überflüssige  Streitigkeiten  werde,  dafür  ist 
sie  wenigstens  den  Laien  zu  gut.  Haben  die  Herren  Theologen 
sich  nicht  vor  die  Brust  geschlagen,  als  die  Lehre  von  der  Un- 
geschichtlichkeit  Christi  weite  Kreise  erfasste?  Das  Kraut  ist  in 
ihrem  Garten  und  aus  ihrer  Saat  gewachsen,  wenn  sie  auch 
heute    noch    so    sehr   über    Unkraut   schreien.    Verinnerlichung. 

44a 


wollen  wir  heute,  nicht  Veräußerlichung.  Und  Verinnerlichung 
ohne  Kunstmittel  ist  ein  Unding;  ich  möchte  den  Theologen 
sehen,  dessen  Predigt  wie  ein  Oratorium  Bachs,  wie  der  Wellen- 
gang gotischer  Gewölbe  das  Herz  mit  sich  risse. 

Wem  soll  denn  die  neue  Bibel  dienen?  Den  Seminarien  der 
theologischen  Fakultät,  wie  der  „Freund"  dem  Lateinschüler  dient? 
Haben  Übersetzungen  wie  „und  macht  er  seine  Pfeile  zu  bren- 
nenden", haben  Verballhornungen  des  Gebets  des  Herrn  „Unser 
Brot  für  morgen  gib  uns  heute",  wo  dann  in  der  Fußnote  steht, 
sachlich  würde  die  alte  Übersetzung  zwar  passen  .  .  .  ,  haben 
all  die  kleinen  Neuerungen,  die  nicht  einen  bessern  Sinn,  sondern 
nur  eine  peinlichere  Anlehnung  an  die  fremde  Sprachform  geben, 
irgend  einen  Zweck  in  einer  Bibel  für  den  einfachen  Mann  oder  für 
den  Gebildeten,  der  sich  nichts  aus  theologischem  Kleinkram  macht? 

Die  Bibel,  die  dem  Laien  in  die  Seele  reden  soll,  die  Bibel, 
die  ihrem  Urbild  treu  sein  will,  muss  eine  Dichtung,  ein  großes 
Kunstwerk  sein;  eine  Gelehrtenbibel  meinethalben  für  die  Theo- 
logen, eine  schöne  Bibel  fürs  Volk.  Und  da  nun  seit  dem  Be- 
stehen der  Welt  noch  nie  eine  Kommission  ein  Kunstwerk  ge- 
schaffen hat  und  die  einzige  deutsche  Bibel,  der  dichterischer 
Wert  zukommt,  die  Luthers  ist,  wird  man  sich  eben  an  Luthers 
Stil  und  Luthers  Rhythmen  halten  müssen.  Geschaffen  hat  eine 
Kommission  noch  kein  Kunstwerk,  wohl  aber  geflickt,  und  dabei 
ist  es  nicht  immer  schlecht  herausgekommen.  Wo  also  die  Über- 
setzung Luthers  falsch  oder  unklar  ist,  wo  sie  aus  seiner  Dog- 
matik  und  nicht  aus  seinem  Herzen  kommt,  dort  soll  gebessert 
werden.  Aber  nur  dort,  nicht  wegen  Haarspaltereien  und  philo- 
logischen Süchten,  die  den  Inhalt  der  christlichen  Lehre  um 
keinen  Deut  ändern.  Und  wo  man  ändert,  da  sei  es  mit  künst- 
lerischem Gewissen,  da  sage  man  sich:  in  der  Wortwahl,  im  Ge- 
fühlswert, im  Rhythmus  nicht  schlechter  als  Luther!  Dann  nur 
wird  es  möglich  sein,  eine  Bibel  zu  schaffen,  die  eine  Kulturtat 
ist,  die  man  in  jedem  Hause  gern  hat  als  Quelle  von  Schönheit, 
von    innerer   Kraft,   von    Erbauung   und   Lebensbereicherung. 

Vollends  als  ein  Geschlecht,  das  den  Anschluss  an  den 
Nachwuchs  verpasst  hat,  zeigen  sich  die  Zürcher  Bibelübersetzer 
bei  all  den  vorgewiesenen  Proben  für  die  Druckeinrichtung.    Da 

444 


muss  man  sich  fragen:  haben  diese  Gelehrten  nie  mit  offenen 
Augen  ein  schönes  altes  Buch  gesehen,  wie  sie  bis  zur  Mitte 
des  letzten  Jahrhunderts  die  Regel  waren ;  ist  ihnen  von  der  ganzen 
neuen  Buchkunst,  wie  sie  seit  mehr  als  zehn  Jahren  blüht,  nichts 
zu  Gesicht  gekommen,  kein  Buch  aus  dem  Inselverlag,  keines 
von  Diederichs,  keins  von  den  ungezählten  andern?  Haben  sie 
die  Kunde  nicht  vernommen,  dass  man  heute  viel  mehr  Bücher 
kauft,  weil  jeder  gern  besitzt,  was  seinem  Haus  zum  Schmuck 
gereicht,  während  es  bei  den  Büchern  des  letzten  Geschlechts 
ja  ganz  gleichgültig  war,  ob  man  sie  sich  lieh    oder  anschaffte? 

Gerade  bei  einer  Bibel  ist  es  wichtig,  dass  sie  wie  ein  Kunst- 
werk aussehe.  Einmal  gewinnt  so  der  Gefühlswert  des  Gelesenen ; 
sonntägliche  Stimmung,  die  der  Laie  in  der  Bibel  sucht,  ist  bei 
diesen  ganz  und  gar  werktäglichen  Druckproben  ausgeschlossen. 
(Eine  Warnung:  wenn  der  Druck  gut  ist,  fallen  Verstöße  gegen 
den  Sprachstil  viel  leichter  und  viel  schwerer  ins  Bewusstsein.) 
Und  dann  wünscht  man  doch,  dass  der  Laie  die  Zürcher  Bibel 
lieber  kaufe  und  schenke  als  die  Lutherbibel;  das  tut  er  aber  nur, 
wenn  man  ihm  ein  schönes  Buch  bietet ;  auch  der  Theologe  hat 
die  Pflicht,  an  der  Geschmacksbildung  des  Volkes  mitzuwirken. 
Und  wo  man  fragt:  wie  bringen  wir  den  Gebildeten  wieder  zum 
Bibellesen,  da  muss  eine  Antwort  lauten:  unter  anderm  durch 
ihre  äußere  Schönheit.  Die  kostet  übrigens  keinen  roten  Rappen 
mehr  als  die  Hässlichkeit. 

Damit  wir  uns  verstehen,  ein  Vorschlag.  Man  wähle  das 
Format  der  „Brücke",  das  sich  schon  als  künftiges  Weltformat 
aber  auch  sonst  empfiehlt.  Dazu  eine  gute  Fraktur  alten  oder 
neuen  Schnitts,  sagen  wir  die  Goethefraktur.  Der  einspaltige  Text 
sei  von  einer  Linie  in  der  Dicke  der  Schattenstriche  umrahmt; 
das  Auge  soll  ihm  in  ruhigem  Schritt  folgen  können,  nicht  in 
einem  Hindernisrennen  über  Ziffern  und  Klammern;  der  Inhalt 
der  Klammern  werde  mit  dem  Text  verwebt.  Außer  der  Linie: 
auf  der  Außenseite  des  Buches  (des  bequemen  Nachschlagens 
wegen)  die  Versziffern,  auf  der  Innenseite  (der  Laie  hätte  sie  am 
liebsten  ganz  weg,  aber  sie  stören  dort  am  wenigsten)  die  Parallel- 
stellen; beide  in  einer  schmalen  Antiqua,  die  mit  großer  Sorgfalt 
zu  wählen  ist.  Wo  Zweifel  über  die  Trennung  der  Verse  ent- 
stehen kann,  ein  schräger  Haarstrich,   nicht  die  hässliche  Marke 

445 


in  einer  der  Druckproben.  Alle  Fußnoten  am  Ende  des  Bandes. 
Keine  prosaisclien  Untertitel  (Weheruf  über  soziale  Misstände,  bei 
Jesaja!),  kein  großes  A,  altes  Testament,  großes  B,  neues  Testa- 
ment.    Gelehrtenbibel,  Gelehrtenbibel! 

An  der  Peterskirche  in  Zürich  steht  ein  schlichter  Stein  mit 
der  Inschrift:  Ruhestätte  J.  C.  Lavaters;  durch  schöne  Umrisslinie 
und  Schrift  und  gute  Aufteilung  der  Fläche  ist  er  ein  reines  Kunst- 
werk. Das  ist  Kultur.  Dorthin  kam  ein  Pedant  und  fügte  zwei 
Zeilen  hinzu,  geboren  den  .  .  .  gestorben  den  .  .  .  Die  gute  Auf- 
teilung der  Fläche,  das  Kunstwerk  ist  zerstört.   Das  ist  Unkultur. 

Wenn  der  Kanton  Zürich  die  Überlieferung  hoch  hält,  eine  zeit- 
gemäße Bibel  zu  führen,  so  ist  das  Kultur.  Wenn  man  das  aber 
«inseitig  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt  auffasst  und  Werte, 
die  andere  in  Übersetzungs-  und  Buchkunst  geschaffen  haben, 
kühl  hintansetzt,  so  ist  das  Unkultur.  Wir  Laien  dürfen  aber  ver- 
langen, dass  eine  Bibel,  die  unser  Land  repräsentiert,  nicht  nur 
«in  Bild  unserer  theologischen  Wissenschaft,  sondern  unseres 
Kulturstandes  sei. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 

D  D  D 

DISCORSO  TENUTO  A  LUGANO 

Cari  concittadini, 

II  Männerchor  di  Zurigo,  grato  alle  autoritä  ed  alla  cittadinanza  di 
Lugano  deü'  invito  gentile  e  dell'  accoglienza  festosa,  ha  voluto  che  un  figlio 
della  Svizzera  francese  parlasse  questa  sera  in  nome  degliZurigani.  Ed  io  ho 
accettato  l'incarico  ben  volontier!,  non  solo  come  un  onore,  ma  pure  perche 
esso  contribuiva  a  dare  a  questa  nostra  riunione  un  carattere  quasi  simbo- 
lico  deir  unitä  svizzera.  A  questo  proposito,  comincerö  con  un  ricordo  perso- 
nale, che  fu  per  me  una  esperienza  proficua.  Ventidue  anni  fa,  andando  per  la 
prima  volta  a  Roma  per  un  anno  di  studi,  mi  fermai  mezza  giornata  a  Lu- 
gano. Non  sapevo  allora  due  parole  d'italiano,  ignoravo  i  costumi  meri- 
dionali;  nelle  strade  della  cittä,  persino  davantl  al  lago,  ebb!  11  sentimento 
doloroso  della  solitudine;  verso  mezzogiorno,  spinto  dalla  fame,  entrai  nel 
Caffe  Federale  colla  speranza  di  trovarvi  qualche  cameriere  intendente  delle 
lingue  federali.  Ma  anche  11  dovetti  usare  il  linguaggio  internazionale  dei 
^esti,  e  ripartil  verso  Milano  pleno  di  malinconia.  Perö,  giunto  a  Chiasso, 
proprio  alla  frontiera,  quanto  mi  divenne  cara  questa  terra  ticinese,  come 
la  sentii  terra  svizzera!  Quel  giorno  non  ebbi  l'animo  di  proseguire;  mi 
fermai  a  Chiasso,  per  dormire  un'  altra  volta  sul  suolo  natlo.  Mi  accorsi 
allora  che  le  frontiere  vere  non  sono  quelle  piü  apparenti  delle  lingue,  ma 
quest'  altre,  piü  profonde,  dell'  ideale  politico  et  delle  istituzioni  comuni 
conquistate  dalla  volontä  e  dal  sacrificio  di  tutti. 

Certo,  la  diversitä  delle  lingue  costituisce  per  noi  Svizzeri  una  grave 
difficohä  e,  nello  stesso  tempo,  una  vera  ricchezza  intellettuale  e  morale. 

446 


Si  tratta  di  superare  la  difficoltä,  senza  diminuire  la  ricchezza.  Problema 
arduo!  Ma  senza  problemi,  la  vita  dell' individuo  e  delle  nazioni  perderebbe 
molto  del  suo  pregio.  Altre  nazioni  Hanno  altri  problemi  che  si  risolvono 
colla  forza  e  coi  cannoni ;  noi  abbiamo,  e  siamone  lieti,  un  problema  di 
civiltä,  da  risolvere  colla  buona  volontä,  colla  mente  e  col  cuore.  La  buona 
volontä  esiste  in  noi  tutti;  mancano  spesso  le  occasioni  ed  i  mezzi  prati- 
ci  per  tradurla  in  azione.  Bisogna  provocare  addirittura  queste  occasioni 
propizie,  ed  aumentare  fra  noi  il  numero  delle  relazioni  personal!. 

Pochi  mesi  fa,  tre  Ticinesi,  i  signori  Bertoni,  Mariani  e  Tosetti  ven- 
nero  a  Zurigo,  e,  in  una  serata  che  fu  per  molti  Zurigani  una  rivelazione, 
iniziarono  quest'  opera  di  affiatamento  superiore  a  tutti  gli  interessi  regio- 
nali  ed  a  tutti  i  partiti  politici.  Un  risultato  di  quella  serata  e  la  gita  del 
Männerchor  a  Lugano  .  .  . 

Per  conquistare  i  vostri  cuori,  il  Männerchor  ha  scelto  il  mezzo  che 
meglio  si  adatta  al  suo  programma  ed  alla  vostra  individualitä;  egli  scende 
dalla  montagna  e  se  ne  viene  al  vostro  lago  ceruleo  sulla  strada  maestra 
deir  arte,  della  musica. 

Inno  d'amore,  d'amore  lieto  o  disperato,  inno  alla  natura,  natura  splen- 
dente  di  sole  o  folgorante  di  lampi,  inno  di  guerra  o  inno  al  lavoro,  ben 
poco  c'importano  le  parole  tedesche,  francesi,  italiane,  ladine,  se  tutte  queste 
melodie  create  da  maestri  nostri,  cantate  da  voci  nostre,  se  tutta  questa 
forza  e  tutto  questo  impeto  convergono,  in  un'armonia  suprema,  verso  la 
patria,  verso  la  rosa  bellissima  del  poeta  che  fiorisce,  dai  monti  fino  ai 
laghi,  il  giardino  di  Liberia  affidato  alla  nostra  virtü! 

Vi  abbiamo  parlato  questa  sera  il  linguaggio  dell' arte,  perche,  nella 
collaborazione  di  tante  forze  elvetiche,  il  Ticino  rappresenta  piü  particolar- 
mente  il  genio  artistico.  Senza  nominare,  fra  i  morti,  i  grandi  che  onorarono 
il  paese  al  di  lä  delle  nostre  frontiere,  mi  rivolgo  al  presente,  al  domani, 
ai  vivi,  giä  ricchi  di  opere  e  ricchi  pure  di  salde  speranze. 

Ricordo  brevemente  aicuni  nomi  soltanto ;  gli  scultori  Chiattone,  Vas- 
salli,  Pereda,  la  scultrice  Isella  che  affermerä  latinamente  nella  Repubblica 
Argentina  un  doppio  trionfo  dell'arte  svizzera  e  della  causa  femminile. 
Ricordo  i  pittori  Edoardo  Berta,  Luigi  Rossi,  Barzaghi-Cattaneo,  Pietro 
Chiesa  e  Ferragutti,  che  danno  la  forma  ed  i  colori  ad  un  mondo  di  im- 
pressioni  e  di  sentimenti,  mentre  il  poeta  Francesco  Chiesa,  nei  suoi  versi 
robusti  et  densi  di  pensiero,  ci  revela  l'anima  segreta  delle  cose  e  lo 
slancio  dell'  umanitä  verso  il  „gran  mar  della  vita",  che  „rispecchia  l'ordine 
dei  cieli". 

Oltre  all'  opera  cosciente  di.'questi  artisti,  c'e  ancora  il  lavoro  secolare 
e  quasi  anonimo  che  si  manifesta  nella  vostra  architettura,  nelle  chiese, 
nei  palazzi  comunali,  nelle  case  private,  tradizione  architettonica  che  agisce 
anche  al  di  lä  del  Gottardo,  e  che  dovrebbe  agire  di  piü  ancora,  nei  Ticino 
ed  altrove,  ed  estendersi  ai  fabbricati  delle  Industrie  moderne.  Perciö  mi 
auguro  che  la  vostra  Societä  per  la  protezione  dei  siti  si  ricoUeghi  alla 
Societä  svizzera,  se  non  come  sezione,  almeno  come  socia,  di  modo  che 
ne  risulti  uno  scambio  di  idee  e  di  aiuto  materiale. 

C'e  di  piü:  le  qualitä  che  ammiiiamo  nei  vostri  artisti,  nella  vostra 
architettura,  non  sono  fenomeni  isolati ;  sono  il  risultato  di  una  vecchia  col- 
tura,  ben  superiore  alla  scienza  dei  pedanti,  e  si  ritrovano  dovunque  nella 
vostra  vita  giornaliera:  nei  modo  di  vestire,  nelle  mosse  come  nei  concetti 

447 


della  vita  ammiriamo  ed  invidiamo  non  solo  1'  eleganza,  la  finezza,  il  gusto 
sicuro,  ma  sopratutto  la  bella  semplicitä  che  risulta  dalla  natura  ingentilita. 

Dalla  gran  madre  della  civiltä  europea,  dall'Italia,  voi  serbate  fedel- 
mente  un  retaggio  necessario  alla  nostra  vita  svizzera,  che  ha,  come  ra- 
gione  di  essere,  l'ambizione  di  realizzare  praticamente  il  sogno  di  tanti 
pensatori:  l'armonia  delle  individualitä.  Diversi  gli  uni  dagli  altri,  eppure 
affratellati  dallo  stesso  ideale  di  libertä  politica,  di  solidarietä  sociale  e  di 
dignitä  umana,  noi  tendiamo,  come  le  quattro  voci  di  un  coro,  per  vie 
diverse  verso  una  cima  unica. 

In  una  serata  come  questa,  la  cima  ci  appare  chiaramente.  Tal  volta 
perö  le  nubi  della  vita  politica  o  degli  interessi  materiali  la  nascondono  agli 
occhi.  Agisca  allora,  o  concittadini,  il  ricordo  durevole  delle  ore  di  sole  e 
di  pace.  Agisca  allora  la  fede,  piü  forte  di  qualunque  rancore.  Giacche 
appena  usciti  da  un  grave  dibattimento  andiamo  incontro  adaltre  lotte  piü 
gravi  ancora,  affermiamo  altamente  il  principio  della  vera  repubblica:  „la 
lotta,  si;  il  rancore,  maü". 

Darö  precisamente  in  esempio  l'attitudine  del  consigliere  federale  Motta 
durante  la  discussione  sulla  convenzione  del  Gottardo.  lo,  avversario  della  con- 
venzione,  ho  ammirato,  nella  risposta  del  consigliere  Motta,  la  chiarezza 
stringente  e  pure  amichevole,  e  gli  sono  grato  della  gentilezza  usata  verso 
di  noi.  Si  parla  in  un  modo  inesatto,  quando  si  dice  che  il  signore  Motta  rap- 
presenta  nel  Consiglio  Federale  il  Canton  Ticino  ed  un  partito  di  minoranza ; 
il  vero  h  che  questo  partito  e  questo  Cantone  hanno  dato  il  Motta  alla 
patria  intera.  Egli  rappresenta,  non  interessi  special!,  ma  bensi  la  coltura 
iatina  al  servizio  dell' ideale  nostro. 

Voglio  terminare  come  ho  cominciato,  con  un  ricordo  personale.  Nel 
1891,  quando  traversai  per  la  prima  volta  il  Canton  Ticino,  vidi  alla  stazione 
di  Giubiasco  una  giovane  donna,  di  cui  la  bellezza  mi  colpl.  Essa  mi  ap- 
parve,  in  questo  breve  minuto  di  fermata,  come  la  prima  realizzazione  del 
sogno  d'amore  sognato  da  noi  tutti  a  vent'anni.  Oggi,  questa  bella  scono- 
sciuta  e  invecchiata  come  lo  studente  che  l'ammirava  .  .  .  Figli,  rughe,  ca- 
pelli  grigi  .  .  .  Rimane  intatta  nel  ricordo  l'apparizione  fulgurante  di  gio- 
ventü  e  s'ingrandisce  fino  al  simbolo.  No,  per  invecchiare  di  una  donna, 
questa  bellezza  non  e  sfuggita ;  essa  e  sparsa  sul  paese  intero ;  essa  ci  ha 
salutati  oggi  dai  bianchi  campanili  e  dalle  bandiere  sventolanti,  ci  ha  ineb- 
briati  colla  verde  allegria  dei  vigneti,  col  profumo  dei  fieni  maturi,  ci  ha 
sorriso  nei  fiori  gettati  dai  balconi,  ci  ha  preso  il  cuore  cogli  occhioni  dei 
vostri  figli. 

Noi,  venuti  da  Zurigo,  malgrado  le  nostre  faccie  teutoniche,  portiamo 
nel  petto  un  desiderio  di  luce,  di  gioia  al  quäle  ha  corrisposto  la  vostra 
fraterna  accoglienza.  Grazie,  in  nome  di  noi  tutti,  a  voi  tutti,  autoritä  e 
cittadini  ticinesi.  Possa  l'armonia  di  questa  sera  vibrare  a  lungo  nei  cuori 
nostri  e  suscitare  opere  feconde ;  possa  l'arte,  maestra  di  civiltä,  per  opera 
del  Ticino,  ingentilire  vieppiü  la  nostra  vita  svizzera,  ed  incoronare  di  luce 
l'amore  che  tutti  portiamo  alla  madre  comune,  alla  Repubblica  Elvetica. 

lo  alzo  il  mio  bicchiere  al  Canton  Ticino,  figlio  fedele  di  quella  madre, 
e  giovane  rappresentante  di  un' antica  coltura  nella  sintesi  svizzera! 

E.  BOVET 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

448 


E.  VERSTRAETEN 


L'ART  EN  BELGIQUE 


E.  VERSTRAETEN 


ZUR  EISENBAHNPOLITISCHEN 
LAGE  IM  WESTEN  UND  OSTEN 

Die  eisenbahnpolitische  Lage  der  Schweiz  ist  in  den  letzten 
Wochen  durch  zwei  Vori<ommnisse  wesentlich  beeinflusst  worden : 
durch  den  Eintritt  von  Herrn  Calonder  in  den  Bundesrat  und 
durch  die  Eröffnung  der  Lötschbergbahn.  Beide  werden  auch  auf 
die  Lösung  der  Ostalpenbahnfrage  eine  gewichtige  Wirkung 
ausüben. 

Letztes  Frühjahr^)  wurden  hier  die  Betrachtungen  über  die 
Annahme  des  Gotthard Vertrages  mit  dem  Hinweis  abgeschlossen, 
dass  sich  während  der  Gotthardvertragsdebatte  das  kommende 
Gewitter  in  der  Ostalpenbahnfrage  mit  aller  Deutlichkeit  ange- 
kündigt habe;  wie  ein  Hoffnungsstern  habe  zwar  das  Wort 
Calonders  geleuchtet: 

Nun  ist  doch  klar  und  wird  durch  die  Geschichte  des  Gotthardver- 
trages  deutlich  bewiesen:  wenn  wir  nach  außen  eine  kräftige,  zielbewusste 
und  umsichtige  Eisenbahnpolitik  betreiben  wollen,  müssen  wir  nach  innen 
einig  sein  und  die  regionalen  Gegensätze  überbrücken.  Wir  dürfen  nicht 
mehr  in  die  Lage  kommen,  infolge  von  innern  Zwistigkeiten  schnell  ein 
Angebot  des  Aaslandes  anzunehmen,  um  die  Sache  zum  Abschluss  zu 
bringen,  trotzdem  nicht  alle  Punkte  der  internationalen  Beziehungen  genau 
abgeklärt  und  im  Vertrag  genau  geregelt  sind. 

Der  Mann,  der  dieses  schöne  Wort  gesprochen  hat,  ist  heute 
Bundesrat.  Bei  aller  Anerkennung  seiner  persönlichen  Verdienste 
werden  alle,  denen  es  an  einer  zweckmäßigen  Entwicklung  unseres 

1)  Wissen  und  Leben  B.XII.  S.  134, 194,260.  (l.u.lS.Mai,  I.Juni  1913). 

449 


Verkehrswesens  gelegen  ist,  ein  gewisses  ängstliches  Gefühl  nicht 
dabei  unterdrücken  können,  dass  nunmehr  die  einstigen  Vor- 
sitzenden sowohl  des  st.  gallischen  als  des  bündnerischen  Splügen- 
komitees  im  Bundesrat  sitzen.  Das  hat  zwar  nicht  viel  zu  sagen, 
so  lange  man  nicht  darnach  trachtet,  den  endgültigen  Entscheid 
in  der  Ostalpenbahnfrage  dem  Volke  zu  entreißen,  zunächst  durch 
Gewährung  einer  Konzession  nach  dem  Plan  eines  bündner 
National-  und  Regierungsrates,  der  bei  der  Gotthardvertragsdebatte 
gesagt  hat: 

Der  Bund  mag,  wenn  er  will,  den  Splügen  selber  bauen;  wenn  aber 
etwa  die  Absicht  bestände,  mit  Bundesgesetz  und  Referendum,  mit  VolkS' 
abstimmung,  wie  auch  schon  gedroht  worden  ist,  unsere  Rechte  auf  eine 
Splügenbahn  zu  vernichten,  so  müssen  wir  dagegen  Protest  erheben.  Art.  3 
des  Eisenbahngesetzes  von  1872  und  der  Kompromiss  von  1878  bestehen 
auch  für  das  Volk. 

Wird  vom  Bundesrat  der  Bau  durch  den  Bund  beantragt  und 
von  den  Räten  beschlossen,  so  entsteht  eben  ein  ^unAtsgesetz, 
und  es  gibt  einen  ehrlichen,  offenen  Kampf.  Und  wenn  die  Räte 
sich  nicht  auf  eine  annehmbare  Bahnführung  einigen,  muss  das 
Volk  selbst  die  Verantwortung  für  den  Entscheid  übernehmen. 

Beantragt  der  Bundesrat  aber  die  Konzessionserteilung  für 
Splügen  und  Greina  oder  für  den  Splügen  allein,  so  kann  man 
den  endgültigen  Entscheid  des  Volkes  nur  noch  durch  eine  Initiative 
herbeiführen,  die   auf  den  Staatsbau  von  Alpenbahnen   hinzielt. 

In  weiten  Kreisen  des  Volkes  herrscht  heute  die  Ansicht, 
nach  den  Erfahrungen,  die  man  bei  der  Beratung  des  Gotthard- 
vertrages  gemacht  habe,  dürfe  der  endgültige  Entscheid  über  eine 
Frage,  die  an  Wichtigkeit  die  des  Gotthardvertrages  weit  übertrifft, 
nicht  einem  Parlament  überlassen  werden,  in  dem  regionale  Rück- 
sichten eine  so  ausschlaggebende  Rolle  gespielt  haben  wie  bei  der 
Genehmigung  des  Gotthardvertrags. 

Unmittelbare  Anzeichen  dafür,  dass  eine  Volksbewegung  not- 
wendig sein  wird,  scheinen  heute  nicht  zu  bestehen.  Wie  verlautet, 
soll  im  Bundesrat  die  Mehrheit  für  den  Staatsbau  sein.  Im 
Ständerat  hat  sich  beim  Geschäftsbericht  der  Bundesbahnen  der 
Referent,  Herr  Geel  von  St.  Gallen,  für  den  Staatsbau  erklärt,  wie 
vorher  Herr  Hirter  im  Nationalrat.  Dass  die  sozialdemokratische 
Fraktion  sich  schon  längst  grundsätzlich  für  den  Staatsbau  aus- 

450 


gesprochen  hat,  ist  bekannt.  Jedenfalls  würde  der  Bundesrat  bei 
einer  Konzessionserteilung  schon  in  den  Räten  auf  einen  starken 
Widerstand  stoßen,  vom  Volke  gar  nicht  zu  reden. 

Über  die  Bahnführung,  die  zunächst  mit  dem  Grundsatz  des 
Staatsbaus  nichts  zu  tun  hat,  hat  sich  bis  jetzt  nur  Herr  Forrer 
als  Bundesrat  für  den  Splügen  öffentlich  festgelegt.  Die  bisherige 
Haltung  Calonders  ist  bekannt,  aber  die  Billigkeit  verlangt,  dass 
man  ruhig  abwarte,  wie  er  sein  als  Ständerat  gegebenes  Wort 
als  Bundesrat  einlösen  wird ;  seine  bisherigen  Äußerungen  in  der 
Ostalpenfrage  geben  niemand  ein  Recht,  an  seinen  guten  Treuen 
zu  zweifeln.  Sein  Standpunkt  wurde  übrigens  in  der  Fraktions- 
versammlung der  radikal-demokratischen  Partei  erläutert: 

Wir  glauben  nicht,  dass  der  Splügen  eine  Gefahr  für  das  Vaterland 
sei,  und  sind  der  Überzeugung,  dass,  wenn  er  konzessioniert  wird,  es  dem 
Bund  gelingt,  mit  Italien  einen  Staatsvertrag  abzuschließen,  bei  dem  alle 
Interessen  des  Vaterlandes  gewahrt  sind.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung 
treten  wir  für  den  Splügen  ein.  Sollte  es  sich  bei  näherer  Prüfung  zeigen, 
dass  der  Splügen  wirklich  mit  den  Interessen  des  Vaterlandes  nicht  ver- 
einbar ist,  so  sind  wir  Bündner  die  letzten,  die  ihn  wünschen  oder  gar 
verlangen.  Das  haben  wir  schon  mehrfach  erklärt,  und  gerade  Herr  Calonder 
hat  die  Gelegenheit  wahrgenommen,  sich  in  unzweideutigster  Weise  hier- 
über auszusprechen. 

Das  stimmt   mit   frühern  Aussagen   des   neuen   Bundesrates 

überein,   der  allerdings  stets  verlangt  hat,  dass  man  wenigstens 

das  „Recht  auf  den  Splügen"   anerkenne.     Ein   solches  gibt  es 

aber  nicht,  sondern  nur  ein  Recht  auf  eine  Ostalpenbahn  ^). 


Eine  vollkommen  neue  Lage  brachte  auch  die  Eröffnung  der 
Lötschbergbahn  mit  sich.  Was  man  vor  fünfzehn  Jahren  un- 
gläubig belächelt  hat,  ist  heute  Tatsache  geworden:  die  Durch- 
bohrung des  Lötschbergs   und  die  Erstellung  einer  direkten  Ver- 

1)  Vergleiche  „Wissen  und  Leben",  X.  Bd.,  S.  769  f.  Der  Bund  wird 
nach  Art.  3  des  Eisenbahngesetzes  von  1872  „den  Bestrebungen  im  Osten, 
Zentrum  und  Westen  der  schweizerischen  Alpen,  die  Verkehrsverbindungen 
mit  Italien  and  dem  Mittelländischen  Meere  zu  verbessern,  möglichste 
Förderung  angedeihen"  lassen.  Artikel  49  des  Rückkaufgesetzes  behandelt 
die  finanzielle  Seite.  Nationalrat  Forrer,  der  jetzige  Bundesrat,  hat  übrigens 
seinerzeit  bei  der  Beratung  einer  solchen  Gesetzbestimmung  förmlich  und 
ausführlich  festgestellt,  ohne  dass  jemand  widersprochen  hätte,  dass  unter 
einer  Ostalpenbahn  auch  eine  Linie  verstanden  werden  könne,  die  durch 
das  Tessin  führe. 

451 


bindung  zwischen  dem  Kanton  Bern  und  dem  Wallis.  Im  Juni 
hat  ein  Sonderzug  die  Mitglieder  der  Bundesversammlung  nach 
Brig  geführt,  damit  sie  dieses  neueste  Wunder  der  Technik  be- 
sichtigen und  würdigen,  das  bernische  Tatkraft  und  Ausdauer 
zu  vollbringen  vermocht  haben. 

Der  Bau  wurde  nicht  überall  gern  gesehen,  anfänglich  be- 
sonders nicht  bei  den  Bundesbahnen.  Das  ist  erklärlich,  wenn 
man  bedenkt,  dass  die  Strecke  Antwerpen-Straßburg-Basel-Mailand 
976  Kilometer,  Antwerpen- Ecouvier- Beifort -Münster- Grenchen- 
Mailand  dagegen  nur  973  Kilometer  misst.  Der  Unterschied  ist 
ja  unbedeutend,  wird  aber  zugunsten  des  Lötschbergs  durch  ver- 
schiedene Abkürzungen  vergrößert,  die  noch  bei  Beifort  und  bei 
Bern  (Wylerfeld)  geplant  sind.  Für  die  Strecke  Beifort -Mailand 
rechnet  man  für  den  Gotthard  (Belfort-Mülhausen-Basel-Chiasso- 
Mailand)  455  Kilometer;  für  den  Simplon  (Belfort-Delle-Delsberg- 
Münster  -  Lengnau  -  Biel  -  Bern  [Wyler]-Scherzligen  -  Frutigen  -Brig- 
Iselle-Mailand)  405  Kilometer.  Davon  fallen  auf  die  französische 
Ostbahn  14,4  Kilometer,  auf  die  Bundesbahnen  rund  147  Kilo- 
meter über  Münster-Grenchen  und  173  Kilometer  über  Sonceboz. 
Der  Lötschberg  ist  also  für  die  Strecke  Belfort-Mailand  dem  Gott- 
hard um  etwa  50  Kilometer  überlegen. 

Hieraus  geht  nicht  nur  die  nationale,  sondern  auch  die  inter- 
nationale Bedeutung  der  Bahn  ohne  weiteres  hervor.  Allerdings 
fehlt  es  ihr  noch  fast  durchgängig  an  der  Doppelspur,  und  es 
mag  sein,  dass  ihre  größere  Kürze  durch  die  bessere  Bahnanlage 
der  Gotthardbahn  tatsächlich  ausgeglichen  wird. 

Die  Lötschbergbahn  durfte  auf  Grund  des  Tarifgesetzes  (Art.  21) 
eine  billige  Verkehrsteilung  beanspruchen,  ohne  die  sie  schwerlich 
gedeihen  könnte.    Der  Artikel  lautet: 

Wenn  für  Transporte  von  oder  nach  den  Bundesbahnen  die  kürzeste 
Route  ganz  oder  teilweise  über  eine  nicht  zu  den  Bundesbahnen  gehörende 
schweizerische  Bahnstrecke  führt,  so  kann,  wenn  diese  geeignete  Betriebs- 
verhältnisse und  ein  gleichartiges  Tarifsystem  hat,  über  dieselbe  die  Bildung 
direkter  Tarife  und  eine  billige  Teilung  des  Verkehrs  beansprucht  werden, 
letzteres,  so  weit  dadurch  wichtige  Interessen  der  Bundesbahnen  nicht  ver- 
letzt werden.  Die  Distanzen  berechnen  sich  hierbei  nach  den  wirklichen 
Entfernungen  mit  Ausnahme  von  Bahnstrecken,  für  welche  erhöhte  Taxen 
erhoben  werden ;  für  solche  Strecken  kommt  ein  entsprechender  Distanz- 
zuschlag in  Ansatz. 

452 


Diese  Verkehrsteilung  verdani<t  die  Lötschbergbahn  der  Eisen- 
bahnverstaatlichung und  der  durch  sie  geschaffenen  Gesetzgebung; 
ohne  den  Rückhalt,  den  man  von  den  Bundesbahnen  glaubte 
erwarten  zu  dürfen,  wäre  die  Lötschbergbahn  schwerlich  ausge- 
führt worden.  Die  Prophezeiungen,  die  Eisenbahnverstaatlichung 
hindere  die  Ausführung  der  Lötschbergbahn,  waren  also  unrichtig; 
das  liegt  heute  klar  zu  Tage.  Für  die  Dauer  wäre  die  Last  für 
den  Kanton  Bern  viel  zu  groß  gewesen.  Man  rechnete  von  An- 
fang auf  eine  Verkehrsteilung  und  auf  die  spätere  Übernahme  der 
Linie  durch  den  Bund,  allerdings  nicht  ohne  schwere  finanzielle 
Opfer  für  den  Kanton  Bern. 

Der  durch  die  Verkehrsteilung  herbeigeführte  Ausfall  in  den 
Einnahmen  der  Schweizerischen  Bundesbahnen  wird  auf  andert- 
halb Millionen  Franken  für  den  Personenverkehr  und  auf  zwei 
Millionen  Franken  für  den  Güterverkehr  veranschlagt.  Es  wird 
sich  zeigen,  in  wiefern  diese  Berechnung  der  Wirklichkeit  ent- 
spricht. Die  Einbuße  dürfte  für  die  Bundesbahnen  nicht  uner- 
träglich sein ;  denn  dass  der  Gotthardverkehr  einigermaßen  über- 
bürdet ist,  kann  nicht  bestritten  werden. 

Ob  die  Bundesbahnen  später  die  Berner  Alpenbahn  auch  als 
Eigentum  werden  tragen  können,  hängt  ganz  wesentlich  von  der 
Art  der  Ausführung  der  Ostalpenbahn  ab,  die  ebenfalls  stark  vom 
Gotthard  zehren  wird.  Die  Unklarheit,  die  da  heute  herrscht,  recht- 
fertigt es,  wenn   viele  nicht  ohne  Sorge  in  die  Zukunft  blicken. 

im  Ständerat  ist  es  zu  bedeutsamen  Erörterungen  von  Eisen- 
bahnfragen gekommen,  die  die  Alpenbahnfragen  der  West-  und 
Ostschweiz  beeinflussen  werden.  Ständerat  Winiger  mahnte  für 
die  zweite  Etappe  der  Verstaatlichung  zu  großer  Vorsicht: 

Das  Vorgehen  des  Bundes  in  vorliegender  Angelegenheit  kann  uns  in 
eine  fatale  Situation  bringen.  Gutsituierte  Bahnen  werden  sich  nicht  zum 
Rückkaufe  melden,  sondern  nur  mühselige  und  beladene.  Gehen  wir  in 
dieser  zweiten  Etappe  der  Rückkaufsaktion  mit  aller  Vorsicht  zu  Werke. 
Wir  haben  bei  der  Verstaatlichung  der  Hauptbahnen  einen  Rechnungsfehler 
von  annähernd  einer  halben  Milliarde  gemacht  und  der  gemeine  Mann 
wurde  im  Glauben  gelassen,  dass  die  Amortisation  der  Kaufsumme  aus  den 
Rechnungsergebnissen  durchgeführt  werden  könne.  Ich  empfehle  Ihnen,  im 
weitern  Vorgehen  etwas  zu  bremsen.  Ich  behalte  mir  vor,  die  Revision  der 
Artikel  3  und  4  des  Rückkaufsgesetzes  auf  dem  Motionswege  anzuregen. 

Vor  dem  Rückkauf  hatten  wir  eine  Staatsschuld  von  70  Mil- 
lionen oder  22  Franken  auf  den  Kopf;  Ende  1912  betrug  sie  für 

453 


feste  Anleihen  der  Bundesverwaltung  116  Millionen,  für  die  Bundes- 
bahnen mit  Einschluss  der  Kassascheine  rund  1474  Millionen. 
Die  Staatsschuld  des  Bundes  für  Verwaltung  und  Eisenbahnen 
beträgt  somit  gegen  1600  Millionen.  Mit  den  Fehlbeträgen  der 
Pensions-  und  Hilfskasse  und  schwebenden  Schulden  kommt  man 
auf  mindenstens  1650  Millionen  für  Bundesverwaltung  und  Bundes- 
bahnen oder  465  Fr.  auf  den  Kopf.  Es  ist  eine  Fiktion,  bloß 
von  einer  Bundesschuld  von  116  Millionen  zu  reden  statt,  wie 
andere  Staaten  es  tun,  die  Eisenbahnschuld  mitzurechnen. 

Bei  den  an  die  Schweiz  grenzenden  Staaten  sind  die  Schuld- 
verhältnisse folgende  (in  Millionen  Franken): 

Jahr  Staatsschuld,  wovon  Eisenbahnschuld     Staatschuld  per  Kopf 


Bayern 

1911 

3300 

2572 

435 

Baden 

1911 

— 

666 

317 

Württemberg 

1911 

760 

722 

312 

Preußen 

1911 

11,913 

— 

293 

Österreich 

1910 

12,753 

3259 

447 

Italien 

1911 

12,630 

— 

365 

Frankreich 

1911 

34,520 

870 

Belgien  hatte  1911  3,87  Milliarden  Schulden  oder  545  Franken 
auf  den  Kopf.  Die  nordischen  Staaten  Dänemark,  Schweden, 
Norwegen  haben  alle  weniger  als  200  Franken  auf  den  Kopf,  Groß- 
britanien  410  Franken  (18,72  Milliarden  1910  auf  1911),  Russland 
(1910/11)   bloß  147  Franken,   Griechenland   (1910)  304  Franken. 

Die  Schweiz  hat  unter  allen  Umständen  die  zweifelhafte  Ehre, 
zü  den  höchst  verschuldeten  Staaten  Europas  und  der  Welt  über- 
haupt zu  gehören;  die  außereuropäischen  Staaten  —  Japan  mit 
101  Franken  bei  6892  Millionen,  die  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  mit  47  Franken  bei  4802  Millionen  —  stehen  günsti- 
ger da.  Günstig  sind  die  Schuldverhältnisse  der  Schweiz  im  Ver- 
gleich zu  andern  Staaten  insofern,  als  der  Schuld  zu  mehr  als 
neun  Zehnteln  produktive  Werte  gegenüber  stehen.  Aber  die  Schuld 
Ist  immerhin  da  und  unsere  erste  Politik  muss  auf  eine  leichte 
und  konstante  Verzinsung  gerichtet  sein,  ohne  dass  man  die 
Leistungen  für  den  Verkehr  einschränken  muss. 

Die  Lage  der  Dinge  hat  sich  dadurch  bei  uns  vollkommen 
geändert.    Während  die  Schweiz  vor  der  Verstaatlichung  die  ge- 

454 


ringste  Verschuldung  von  allen  Staaten  Europas  hatte,  wird  sie 
heute  darin  nur  noch  von  Frankreich  und  Portugal  und  etwa 
noch  von  Belgien  und  Bayern  übertroffen.  Natürlich  ist  für 
diese  Schuld,  besonders  die  Eisenbahnschuld  oder  doch  für  den 
größten  Teil  ein  Gegenwert  da.  Aber  wenn  sich  dieser  Gegen- 
wert auf  die  Dauer  nicht  mehr  genügend  verzinsen  sollte,  so 
müsste  naturgemäß  der  Landeskredit  darunter  leiden. 

Gefährlich  ist  dabei,  dass  der  größte  Teil  der  Schuld  im 
Ausland,  besonders  in  Frankreich,  untergebracht  ist,  dem  die 
Schweiz  über  eine  Milliarde  schuldet.  Früher  konnte  es  uns 
ziemlich  einerlei  sein,  was  man  im  Ausland  über  den  Wert  der 
schweizerischen  Eisenbahnpapiere  dachte.  Heute  nicht  mehr.  Von 
dieser  Meinung  hängt  der  Kredit  des  Landes  ab. 

Der  erste  Zielpunkt  in  unserer  Alpenbahnpolitik  muss 
somit  die  Wahrung  des  finanziellen  Gleichgewichtes  der  Bundes- 
bahnen sein;  von  ihm  hängt  der  Kredit  des  ganzen  Landes  ab. 

Diese  unerlässliche  Wahrung  des  finanziellen  Gleichgewichtes 
der  Bundesbahnen  ist  keine  einfache  und  selbstverständliche  Sache. 
Mit  Einrechnung  der  gesetzlich  verlangten  Amortisation  hat  sich 
die  Anlage  der  Schweizerischen  Bundesbahnen  in  den  letzten 
Jahren  mit  bloß  3,5%  verzinst,  also  nicht  genügend,  um  Reser- 
ven anzulegen.  Die  Amortisation  ist  notwendig,  weil  sonst  die 
Zinsenlast  infolge  der  jährlichen  Steigerung  des  Baukontos  ins 
Ungeheuerliche  wachsen  würde.  —  Die  französischen  Bahnen  fallen 
Mitte  der  fünfziger  Jahre  dem  Staate  gratis  anheim.  Auf  jenen 
Moment  werden  sie  uns  viel  zu  kämpfen  geben  und  wir  müssen 
uns  [heute  schon  rüsten.  Die  Lage  der  Bundesbahnen  ist  also 
keineswegs  glänzend,  und  es  hilft  uns  wenig,  dass  auch  die  uns 
benachbarten  Staatsbahnen  alle  zu  kämpfen  haben. 

Schon  während  der  Rückkaufskampagne  ist  betont  worden, 
wie  unrichtig  die  Behauptung  sei,  die  Schweiz  werde  die  Schuld 
für  die  zu  kaufenden  Bahnen  bis  Mitte  dieses  Jahrhunderts  getilgt 
haben.  Man  hat  mit  Recht  gesagt,  dass  sich  neben  der  alten 
sofort  eine  neue  Schuld  durch  die  notwendig  werdenden  Bauten 
bilden  werde,  und  so  ist  es  gekommen.  Daran  ist  jetzt  nichts 
zu  ändern. 

455 


Das  geht  aus  folgendem  hervor: 

Eisenbahnschuld  Mill.  Fr. 

1904  Schweizerische  Bundesbahnen  975,6 

Gotthardbahn  131,4 

1107,0 
1912  Schweizerische  Bundesbahnen  1474,4 

Steigerung  367,4 

für   deren   Tilgung    bis    1912    erst    58  Millionen    geäufnet    sind. 

Also  in  acht  Jahren  hat  sich  die  Schuld  der  Bundesbahnen 
um  300  Millionen  vermehrt,  ohne  dass  eine  neue  Bahn  gekauft 
worden  wäre  oder  abgesehen  von  der  Rickenbahn  neue  Bahn- 
bauten von  Belang  erstellt  worden  wären.  Die  Bauausgaben  be- 
ziehen sich  hauptsächlich  auf  Bahnhöfe  und  Doppelgeleise.  Man 
muss  somit  auch  ohne  besondere  Vorkommnisse  eine  konstante 
Steigerung  der  Schuld  annehmen. 

Es  ist  alle  Aussicht  vorhanden,  dass  diese  Schuld  noch  weiter 
steigen  werde.  Der  Rückkauf  des  Genfer  Bahnhofs  und  die  Ver- 
bindung der  beiden  Bahnhöfe  wird  60  bis  70  Millionen  Franken 
betragen.  Die  Lötschbergbahn  wird  früher  oder  später  die  Schuld 
um  über  130  Millionen  Franken  vermehren,  die  Elektrifizierung 
der  Gotthardbahn  wird  weitere  100  Millionen  verschlingen.  Es 
ist  also  dafür  gesorgt,  dass  die  neue  Bauschuld  trotz  aller  Ab- 
schreibungen bis  Mitte  des  Jahrhunderts  nicht  unter  einer  Milliarde 
stehen  wird.  Höchstens  fragt  es  sich,  wie  viel  mehr  sie  betragen 
werde. 

Das  mahnt  zum  Aufsehen  und  gestattet  nicht,  in  beliebiger 
Weise  über  die  Bundesbahnen  zu  verfügen,  die  Bauschuld  ohne 
Not  zu  vermehren  und  die  Rendite  durch  Anhängen  von  unein- 
träglichen Bahnen  herunterzudrücken.  Denn  es  ist  auch  bei 
normalen  Verhältnissen  ausgeschlossen,  dass  man  mit  der 
Amortisation  nachkomme.  Wir  werden  für  alle  Zeiten  mit  einer 
Milliardenschuld  rechnen  müssen. 


Auch  wenn  es  gelingen  sollte,  die  alte  Schuld  durch  ununter- 
brochene Abschreibung  zu  tilgen,  so  wird  bis  Mitte  des  Jahr- 
hunderts, also  gerade  wenn  Frankreich  die  wichtigsten  Bahnen 
gratis  zufallen  werden,  eine  neue  Schuld  vorhanden  sein,  die  der 
alten  wohl  ebenbürtig  sein  dürfte.  Wir  werden  dann  auf  alle  Fälle 
in  einer  ungünstigeren    Lage   sein   als   die   Nachbarstaaten.    Die 

456 


Schweiz  hat  somit  allen  Anlass,  die  Baurechnung  nicht  mehr  als 
nötig  zu  erhöhen,  sei  es,  dass  man  so  viel  als  möglich  den  Be- 
trieb selbst  belastet  auf  die  Gefahr  hin,  dass  die  Erträgnisse 
weniger  glänzend  aussehen,  sei  es,  dass  die  weitere  Ausdehnung 
der  Verstaatlichung  sehr  vorsichtig  betrieben  werde.  Hier  bietet  das 
Rückkaufsgesetz  wenig  Garantien,  wie  Ständerat  Winiger  andeutete, 
dessen  Artikel  3  die  Bundesversammlung  ermächtigte,  nach  Be- 
lieben „dermalen"  bestehende  Bahnen  aufzukaufen,  ohne  dass  ein 
dem  Referendum  unterstelltes  Bundesgesetz  dazu  notwendig  ge- 
wesen wäre.  Allerdings  müssen  diese  Bahnen  dem  Artikel  1 
entsprechen;  sie  müssen  „wegen  ihrer  volkswirtschaftlichen  und 
militärischen  Bedeutung  den  Interessen  der  Eidgenossenschaft  oder 
eines  größeren  Teiles  derselben  dienen"  und  ihre  Erwerbung  soll 
„ohne  unverhältnismäßige  Opfer"  erreichbar  sein. 

Werden  diese  Bedingungen  nicht  erfüllt,  so  kann  auch  eine 
„dermalen",  das  heißt  am  17.  Oktober  1897  bestehende  Bahn 
nur  durch  Bundesgesetz  mit  Referendumsklausel  käuflich  erworben 
werden,  wie  dies  auch  beim  Bau  einer  neuen  Linie  verlangt  wird. 

Immerhin  ist  zu  sagen,  dass  weder  die  Berner  Alpenbahn 
noch  andere  seit  dem  17.  Oktober  1897  gebaute  Bahnen,  wie 
die  Bodensee-Toggenburgbahn,  durch  bloßen  Beschluss  der  Bundes- 
versammlung verstaatlicht  werden  können,  sondern  nur  „dermalen'' 
bestehende  Bahnen,  die  den  in  Artikel  1  vorgesehenen  Bedin- 
gungen entsprechen,  also  die  Jura-Neuchätelois-,  die  Tößtal-, 
die  Südost-,  die  Emmentalbahn.  Für  die  Verstaatlichung  aller 
seither  entstandenen  Bahnen  bedarf  es  eines  Bundesgesetzes.  Die 
Verstaatlichung  wird  dadurch  für  die  betreffenden  Kantone  nicht 
erleichtert,  denn  solchen  Gesetzen  kann  man  nicht  einfach  die 
Dringlichkeitsklausel  anhängen.  Diese  Fragen  werden  somit 
möglicherweise  nicht  nur  die  Bundesversammlung,  sondern  das 
ganze  Land  bewegen. 

Von  Bedeutung  für  den  Rückkauf  der  Lötschbergbahn  sind  auch 
die  Erklärungen  von  Bundesrat  Forrer  und  Ständeratspräsident 
Kunz  in  der  Junisession,  wonach  er  in  nicht  allzu  großer  Ferne 
zu  stehen  scheint.  Herr  Forrer  bemerkte,  wenn  einmal  zum  Rück- 
kauf der  Berner  Alpenbahn  geschritten  werde,  so  müsse  dieser 
Rückkauf  auf  der  Grundlage  des  Ertragswertes  erfolgen ;  um  diesen 
zu  ermitteln,  werden  die  Ergebnisse  einer  Reihe  von  Jahren  nötig 

457 


sein.  Und  Herr  Kunz  erklärte,  wir  würden  kaum  in  das  Jahr 
1923  eintreten,  ohne  dass  die  Linien  der  Berner  Alpenbahn- 
Gesellschaft  den  Bundesbahnen  einverleibt  wären.  Die  Verhand- 
lungen über  den  Rückkauf  würden  in  jedem  Falle  vorher  einsetzen. 

Auch  die  vom  Ständerat  beschlossene  Zusammenlegung  der 
Konzession  der  1923  rückkaufbaren  Thunerseebahn  mit  der  erst 
1943  fälligen  Berner  Aipenbahnkonzession  bedeutet  eine  entschie- 
dene Verstärkung  der  Position  der  Berner  Alpenbahn  für  den 
Rückkauf.  Da  der  Bundesrat  selbst  von  jeher  auf  Zusammen- 
legung von  Konzessionen  in  solchen  Fällen  gedrungen  hat,  hätte 
es  fast  einer  Plackerei  gleichgesehen,  sie  nicht  zu  bewilligen. 

Dass  der  Bund  sich  für  den  Rückkauf  der  Berner  Alpenbahn 
wenigstens  moralisch  verpflichtet  hat,  steht  fest,  erstens  durch  die 
Bedingungen  für  die  Subvention  von  sechs  Millionen  und  vor 
allem  durch  die  betreffende  bundesrätliche  Botschaft.  Zeitpunkt 
und  Erwerbsart  sind  dort  nicht  bestimmt: 

Wir  haben  dargetan,  dass  dieses  Unternehmen  den  Charakter  eines 
großen  gemeinnützigen  Werkes  beanspruchen  kann,  indem  es  dazu  be- 
stimmt ist,  unserm  Lande  einen  Teil  des  Transitverkehrs  von  Norden  nach 
Süden  und  in  umgekehrter  Richtung  zu  sichern  und  zu  erhalten. 

Wir  haben  nachgewiesen,  dass  die  Lötschbergbahn  eine  wichtige  Zu- 
fahrtslinie zum  Simplon  bildet  und  mächtig  dazu  beitragen  wird,  diese 
große  Verbindungsbahn  zu  ihrer  vollen  Bedeutung  zu  bringen. 

Wir  haben  auch  betont,  dass  sie  die  Handelsbeziehungen  eines  großen 
Teils  der  Innerschweiz,  namentlich  des  Kantons  Bern,  erleichtern  und  för- 
dern und  auf  diese  Weise  einen  günstigen  Einfluss  auf  das  wirtschaftliche 
Leben  mehrerer  Kantone  ausüben  wird.  Es  hat  somit  ein  beträchtlicher 
Teil  unseres  Landes  ein  Interesse  an  ihrem  Zustandekommen. 

Wir  haben  auch  ihre  Bedeutung  in  militärischer  Beziehung  nach- 
gewiesen. 

Sicher  ist,  dass  die  Ausführung  der  erwähnten  Bedingungen 
mindesten  zehn  Millionen  mehr  als  vorgesehen  gekostet  hat  und 
dass  der  Kanton  Bern  dem  Bund  in  dieser  oder  jener  Form  die 
Rechnung  dafür  vorlegen  wird.  Darauf  wurde  schon  im  berni- 
schen Großen  Rat  mit  aller  Deutlichkeit  angespielt. 

Bei  der  Lötschbergfahrt  der  Bundesversammlung  hat  in  Thun 
der  Verwaltungsratspräsident  der  Bundesbahnen  bereits  auf  das 
Brautpaar  „Bundesbahnen  und  Lötschberg"  angestoßen  und  alle 
Festredner  ließen  die  Hoffnung  auf  baldigen  Rückkauf  durchblicken. 
Nationalratspräsident  Spahn  antwortete  dem  bernischen  Regierungs- 

458 


Präsidenten  Scheurer  und  gebrauchte  dabei  folgende  bemerkens- 
werte Wendungen: 

Man  befand  sich  gegenüber  dem  Alpenprojekt  der  Berner  in  einem 
doppelten  Irrtum.  Man  rechnete  nicht  mit  der  Energie  der  Berner,  die  nicht 
loslassen,  wenn  sie  an  der  Ausführung  eines  großen  Gedankens  sind.  Und 
der  zweite  Irrtum  bestand  darin,  dass  man  glaubte,  es  zulassen  zu  sollen, 
dass  die  Lötschbergbahn  als  Privatbahn  gebaut  werde.  Allein  es  wäre  un- 
gerecht, deswegen  Vorwürfe  zu  erheben  gegen  die  Männer,  die  damals  an 
der  Spitze  des  schweizerischen  Eisenbahnwesens  standen.  Sie  haben  in 
guten  Treuen  gehandelt.  Vergesse  man  nicht,  dass  sich  damals  die  Eisen- 
bahnverstaatlichung mit  ihren  großen  Aufgaben  in  den  Vordergrund  drängte ; 
da  ist  es  wohl  begreiflich,  wenn  der  Ruf  eines  einzelnen  eidgenössischen 
Standes  nicht  sofort  erhört  wurde.  Beide  Irrtümer  werden  korrigiert 
werden.  Der  erste  ist  es  bereits,  und  der  zweite  wird  es  in  absehbarer  Zeit 
sein.  Wenn  heute  dem  Wunsche  Ausdruck  gegeben  worden  ist,  es  möchten 
die  bernische  und  eidgenössische  Eisenbahnpolitik  Hand  in  Hand  gehen, 
so  ist  dieser  Wunsch  bei  den  übrigen  Eidgenossen  nicht  schwächer  als  bei 
den  Bernern. 

Der  Drang  des  Kantons  Bern,  die  schwere  Last  abzuladen, 
erklärt  sich  aus  der  ganzen  Sachlage.  Ende  1912  hatte  der  Kanton 
nicht  weniger  als  50,9  Millionen  Franken  in  Eisenbahnaktien 
stecken,  wovon  weitaus  der  größte  Teil  ertragslos.  17,5  Millionen 
davon  liegen  im  Lötschberg.  Dazu  kommt  die  Zinsengarantie  von 
42  Millionen  Franken  für  die  Berner  Alpenbahn  und  wenigstens 
die  moralische  Verantwortung  für  etwaige  Fehlbeträge  gegenüber 
Aktionären  und  Obligationären. 

Mit  der  Verstaatlichung  der  Lötschbergbahn  muss  man  nach 
allem,  was  geht  und  gegangen  ist,  auf  alle  Fälle  rechnen,  ob  sie 
nun  etwas  früher  oder  später  zurückgekauft  wird.  Darüber  scheint 
man  sich  auch  im  Bundesrat  ziemlich  klar  zu  sein. 

Diese  Schwierigkeiten  häufen  sich  dadurch,  dass  man  in 
St.  Gallen  auf  die  gleichzeitige  Verstaatlichung  der  Bodensee- 
Toggenb argbahn  hofft,  die  den  Kanton  in  gleicher  Weise  wie 
der  Lötschberg  die  Berner  belastet.  Die  Zinsengarantie  beträgt 
jetzt  18,2  Millionen  und  die  Beteiligung  in  Aktien  6,25  Millionen, 
was  zusammen  eine  Verpflichtung  von  24,45  Millionen  ausmacht. 

Der  Rückkauf  der  Berner  Alpenbahn  wird  früher  oder  später 
eine  schwere  Last  für  die  Bundesbahnen  sein.  Alle  in  Frage 
stehehenden  Linien  Spiez-Brig,  Scherzligen- Thun,  Münster-Leng- 
nau  stellen  zusammen  ein  Baukapital  von  etwa  160  Millionen 
dar.    Dazu   wird   wahrscheinlich   die    direkte    Verbindung   Bern- 

459 


Neuenburg  mit  10  Millionen  kommen,  die  als  Privatbahn  nach 
Verstaatlichung  der  Jura-Neuchäteloisbahn  keinen  rechten  Sinn 
mehr  hat.  Würde  man  noch  die  Bodensee-Toggenburgbahn  dazu 
nehmen,  so  käme  man  auf  eine  Summe  von  mindestens  200 
Millionen  Franken. 

Es  wird  vor  allem  die  Frage  entstehen:  Wie  können  die 
Bundesbahnen  die  Übernahme  von  200  Millionen  voraussichtlich 
auf  Längere  Zeit  wenig  abträglicher  Bahnwerte  aushalten? 

Maßgebend  für  die  Beurteilung  der  heutigen  Lage  ist  vor 
allem  die  Höhe  der  Staatsschuld  und  der  bisherige  Ertrag  der 
Bundesbahnen. 

Dass  nach  dieser  Richtung  die  Lage  der  Dinge  ernst  ist,  geht 
aus  unsern  Ausführungen  über  die  Verschuldung  der  Schweiz 
hervor.  Noch  schwieriger  wird  sie  durch  eine  Lösung  der  Ost- 
alpenbahnfrage, die  den  Ertrag  nicht  nur  der  Gotthard-,  sondern 
auch  der  Berner  Alpenbahn  beeinträchtigen  würde.  Davon  soll 
das  nächste  Mal  die  Rede  sein. 

BERN  J.  STEIGER 

(Schluss  folgt.) 

D  D  D 

DAS  JUBILÄUM 

Von  FRITZ  MÜLLER 

Gestern  war  ich  bei  einem  Jubiläum.  Ich  weiß  nicht  mehr,  war's  ein 
silbernes  oder  ein  goldenes  oder  nur  ein  kupfernes.  So  was  vergisst  sich 
leicht  nach  Mitternacht.  Aber  von  einem  „eminenten,  bedeutungsvollen 
Vereine,  dessen  Wirksamkeit  mit  ehernem  Griffel  in  das  Buch  der  Geschichte 
eingegraben  ist",  war  es  ein  Jubiläum,  das  weiß  ich  noch  ganz  gewiss. 
Denn  von  dreizehn  Rednern  haben  es  zwölf  wörtlich  so  gesagt.  Der  drei- 
zehnte ist  stecken  geblieben  und  hat  dann  von  hinten  angefangen.  Dabei 
ist  der  dreizehnte  „eherne  Griffel"  unter  den  Tisch  gefallen.  Leider,  leider. 
Aber  ich  habe  ihn  aufgehoben.  Es  war  einer  zu  zwei  Rappen  mit  einem 
billigen  Goldpapier  um  den  dünnen  zylindrischen  Körper.  Auf  der  Schiefer- 
tafel von  unserm  kleinen  Hansi  hab'  ich  ihn  probiert.  Aber  geschrieben 
hat  er  nicht.  Es  war  ein  sogenannter  Buttergriffel.  Und  Buttergriffel 
schreiben  nur  auf  nachgiebiger  schwarzer  Pappe,  nicht  auf  hartem  Schiefer. 

Sonst  ging  alles  wie  am  Schnürchen  in  dem  Jubiläum.  Ganz  pro- 
grammgemäß ward  alles  wirklich  Gute,  was  vom  Schweigen  lebt,  zerredet, 
zerlobt  und  zerpriesen,  dass  es  nicht  der  Mühe  lohnte,  eine  Feder  anzu- 
setzen, aber,  aber  .  .  . 

460 


Der  Redner  Nummer  sieben  wurde  blass  und  bibbrig  lange  vorher, 
ehe  er  an  der  Reihe  war.  Ich  saß  neben  ihm.  Mit  dem  Fußwippen  fing 
es  an.  Erst  wippte  er  gemäßigt.  Beim  zweiten  Toast  aber  schon  ging  er 
in  einen  Generalmarsch  über.  Beim  dritten  zitterten  die  Teller  auf  dem 
Tische,  beim  vierten  brach  der  kalte  Schweiß  aus  und  beim  fünften  schafften 
sie  den  Fieberkranken  in  die  Garderobe.  Dort  kochte  ihm  die  Kleiderfrau 
Kamillentee.    Inzwischen  bibberte  das  Komitee. 

„Ein  Königreich  für  einen  Ersatzredner !" 

Da  erwischten  sie  mich.  Ich  hätte  .  .  .  und  ich  müsste  .  .  .  und  es 
sei  einfach  eine  Ehrenpflicht  von  mir  .  .  .  unvergängliches  Verdienst  .  .  . 
heißer  Dank  .  .  .  und  also  abgemacht. 

Und  da  hatte  ich  schon  einen  Zettel  in  der  Hand.    Darauf  stand : 

Nummer  1.  Der  Präsident  des  Festkomitees  auf  die  Gäste.  Begrüßung  — 
Bedankung  —  Bewirtung  —  eherner  Griffel  —  und  so  weiter. 

Nummer  2.  Vertreter  der  Gäste  auf  das  Präsidium  des  Vereins.  Bedankung  — 
Belobung  —  Berühmung  —  eherner  Griffel  —  und  so  weiter. 

Nummer  3.  Das  Präsidium  des  Vereins  auf  die  Idee  des  Vereins.  Befruch- 
tung —  Betätigung  —  Beglaubigung  —  eherner  Griffel  —  und 
so  weiter. 

Nummer  4.  Die  Idee  des  Vereins  auf    —    —    —    —    —    ____ 

Bei  Nummer  5  hatten  sie  also  Nummer  7  in  die  Garderobe  getragen 
und  mich  zwischen  der  Toilette  und  dem  Saaleingang  zum  Ersatzmann  ge- 
presst.  Es  gab  ein  großes  Durcheinander.  Die  ganze  Toastmaschinerie 
schien  aus  den  Fugen  zu  gehen.  Und  da  schoben  sie  mich  schon  auf  die 
Rednertribüne.  Ich  muss  sagen,  der  Zettel  in  meiner  Hand  fing  auch  zu 
bibbern  an,  als  ich  die  Stufen  hinaufstieg.  Ich  aber  bibberte  nicht,  sondern 
toastete  laut  Programm: 

Der  Vertreter  des  Vertreters   der  verbündeten  Vereine.    Be- 
dankung —  Berufung  —  Beruhigung  —  Befriedigung  —  eherner  .  .  . 

Auf  einmal  sah  ich  den  Präsidenten  unter  mir  ein  verzweiflungsvolles 
Gesicht  zu  mir  heraufmachen. 

„Nummer  sssieben,  sssie — benl"  zischte  er  mir  zu. 

Aber  da  war  ich  mit  meinem  ehernen  Griffel  schon  fertig,  bekam  ein 
dröhnendes  Bravo,  dass  es  durch  die  Halle  brauste  und  stieg,  stolz  wie  ein 
Gockel,  wenn  auch  nur  wie  ein  Vertretungsgockel,  die  Rednertribüne 
herunter. 

Unten  zischte  der  Präsident  weiter: 

„Mensch,  um  Gotteswillen,  Mensch,  Sie  haben  den  Toast  Nummer  8 
gesprochen.  Für  eine  Rede  haben  Sie  sich  bedankt,  die  noch  gar  nicht 
gehahen  worden  ist,  Sie  —  Sie  .  .  ." 

Wie  durch  einen  Nebel  hörte  ich  sein  Zischen. 

„Das  ist  mir  wurscht,"  sagte  ich  heroisch. 

Und  dem  Publikum  war's  auch  wurscht.  Denn  es  hat's  keiner  gemerkt. 

DOD 

461 


VEREINFACHUNG 

DER 

STAATSVERWALTUNG  UND  ERLEICHTERUNG 
DER  STAATSLASTEN 

(Fortsetzung) 

Endlich  die  vielen  oder  langen  Sessionen.  Abgesehen  von 
der  Schwatzhaftigkeit,  die  jedem  Parlament  seit  den  Zeiten  des 
römischen  Senates  mehr  oder  weniger  anhaftet,  liegt  es  zum  einen 
Teil  an  der  Überzahl  der  Mitglieder,  von  der  bereits  die  Rede 
war,  zum  andern  aber  am  Modus  der  Gesetzgebung.  Das  ist 
der  tiefere  Grund,  und  davon  ist  noch  zu  sprechen. 

Vor  allem  hat  man  sich  stets  den  Unterschied  zwischen  Ge- 
setz und  Verordnung  vor  Augen  zu  halten ;  diese  wäre  ganz  dem 
Regierungsrat  zu  überlassen.  Aber  der  zürcherische  Kantonsrat 
ist  —  offenbar  um,  was  er  an  Gesetzgebungsrecht  dem  Volk  hat 
abgeben  müssen,  sich  von  der  andern  Seite  zuzulegen  —  auf  die 
Manie  verfallen,  die  Verordnungen  unter  seine  Kompetenz  zu 
ziehen.  Abgesehen  davon,  dass  dies  dem  Grundsatz  der  Gewalten- 
trennung zuwider  und  insofern  inkonstitutionell  ist,  verliert  der 
Kantonsrat  gelegentlich  eine  schöne  Zeit  damit.  Es  sei  beispiels- 
weise an  die  Wirtschaftsverordnung,  Feuerpolizeiverordnung,  Auto- 
und  Veloverordnung  mit  ihren  großen  Zahlen  von  Paragraphen 
erinnert.  Wenn  in  solchen  Verordnungen  Bestimmungen  mit 
Gesetzescharakter  vorkommen,  so  sind  sie  herauszunehmen  und 
für  sich  zu  einem  Gesetz  zusammenzufassen;  alles  andere  aber 
ist  dem  Regierungsrat  vorzubehalten. 

Also  nur  die  eigentliche  Gesetzgebung  gehört  zur  Domäne 
des  Kantonsrates.  Mit  neuen  Gesetzen  aber  dürfte  man  etwas 
vorsichtiger  sein,  um  nicht  so  viele  Zurückweisungen  durch  das 
Volk  zu  erfahren  und  damit  Zeit  und  Geld,  die  darauf  verwendet 
worden  sind,  nutzlos  zu  verlieren.  Der  schönsten  Gesetzesidee 
muss  schlechterdings  und  von  vornherein  entsagt  werden,  wenn 
keine  sichere  Aussicht  vorhanden  ist,  damit  im  Volk  durchzu- 
dringen ;  auch  ist  dieser  für  sie  durch  Versammlungen  und  Presse 
erst  vorzubereiten  und  zu  gewinnen.  Zum  bloßen  Experimentieren 
ist  das  Volk   zu   gut   und  Zeit   und  Geld   zu  kostbar,    und  jede 

462 


Zurückweisung  ist  eine  Niederlage  der  Behörde  und  zugleich  ein 
Zeugnis  für  ihre  geringe  Fühlung  mit  dem  Volke.  In  dieser  Be- 
ziehung gerade  sollten  sich  die  Mitglieder  der  Behörde  als  Ver- 
treter des  Volkes  zeigen,  sonst  sind  sie  es  gar  nicht,  und  wenn 
sie  auch  zur  Ausarbeitung  eines  Gesetzes  nicht  beizutragen  ver- 
mögen, so  sollten  sie  doch  wenigstens  die  Stimmungen  und  An- 
sichten ihrer  Kreise  kennen  und  dafür  auftreten.  Vermeiden  lassen 
sich  Rückstöße  wohl  nicht  ganz,  aber  vermindern.  Das  Gleiche 
gilt  bei  jeder  einzelnen  Bestimmung  eines  Gesetzes,  um  nicht 
wegen  Einzelheiten  das  Ganze  zu  gefährden.  Überhaupt  mehr 
Fühlung  mit  dem  Volk;  dadurch  wird  die  Gesetzesarbeit  nicht  nur 
mehr  gesichert,  sondern  auch  volkstümlicher,  was  heute  auch 
sonst  als  ein  erstrebenswerter  Vorzug  der  Gesetzgebung  gilt. 

Auch  sollen  im  Gesetz  keine  Ausführungsbestimmungen  auf- 
genommen werden,  welche  Sache  der  Verordnung,  des  Reglements 
sind,  Kenntnisnahme  und  Verständlichkeit  des  Gesetzes  jedoch  er- 
schweren und  dessen  Annahme  gefährden.  In  dieser  Beziehung 
sind  besonders  jene  „Einfälle"  zu  fürchten,  an  denen  namentlich 
die  Advokaten  reich  sind,  so  unfruchtbar  ihre  Arbeit  sonst  ist. 
Auf  solche  zu  verzichten  gehört  zur  Tugend  der  Selbstverleugnung, 
die  über  dem  Bestreben,  sich  wichtig  zu  machen,  steht.  Wie  oft 
ist  nicht  schon  durch  solche  Einfälle  ein  Gesetzeswerk  verpfuscht 
worden,  das  eben  wie  ein  Kunstwerk  Stil  haben  soll  und  nur 
stilvolle  Änderungen  erträgt. 

Ja,  es  sollen  in  ein  Gesetz  nicht  einmal  alle  Bestimmungen 
eigentlichen  gesetzgeberischen  Charakters,  die  sich  zur  Sache  er- 
denken ließen,  aufgenommen  werden,  sondern  nur  die  Hauptgrund- 
sätze. Allen  Fällen  lässt  sich  ja  gesetzlich  nicht  begegnen,  es 
wird  immer  noch  des  Arbitriums  der  anwendenden  Behörden,  die 
dadurch  nur  um  so  freier  und  selbständiger  werden,  bedürfen; 
dafür  wird  das  Gesetz  für  das  Volk  um  so  verständlicher  und 
damit  annehmbarer  und  von  um  so  längerem  Bestand,  weil  es 
kleineren  Verschiebungen  der  Ansichten  und  Bedürfnisse  immer 
noch  Raum  lässt.  Ein  klassisches  Muster  dieser  Art  ist  das  alte 
Polytechnikumsgesetz  vom  Jahre  1854;  wie  manche  Verordnung 
und  wie  verschiedenen  Sinnes  hat  sich  ihm  einfügen  lassen!  Es 
ist  heute  noch  gültig,  so  zu  sagen  bis  auf  den  Titel  —  schade 
übrigens  um  den  großzügigen  Namen  „Polytechnikum" ! 

463 


Man  sollte  sich  bei  der  Beratung  eines  Gesetzes  nicht  darauf 
besinnen,  was  sich  alles  noch  hineinbringen  ließe,  sondern  gerade 
umgekehrt,  was  man  ohne  Unsicherheit  für  die  Vollziehung  aus 
dem  Gesetze  weglassen  könnte!  Anderseits  sind  bloße  Blankett- 
gesetze,  wie  das  eidgenössische  Lebensmittelgesetz  eines  ist,  wo- 
durch das  Volk  eine  Katze  im  Sack  kauft,  nicht  erlaubt  und  eine 
Täuschung  des  Volkes.    Alles  mit  Maß! 

Im  übrigen  ist  es  der  Fehler  unserer  modernen  Gesetzgebung, 
nicht  nur  dass  zu  viel  Gesetze  fabriziert,  sondern  dass  diese 
auch  zu  lang  ausgesponnen  werden.  Beides  aber  läuft  ins  Geld, 
und  wenn  dann  noch  ein  Gesetz  bachab  geschickt  wird,  so  ist 
gar  alles  verloren.  Man  vergleiche  mit  dem  alten,  noch  von 
Ludwig  Keller  herrührenden  Expropriationsgesetz  das  heutige,  nun 
auch  schon  ein  Menschenalter  alte  Gesetz  über  die  Abtretung  von 
Privatrechten,  und  von  einem  neuesten  wäre  nach  dem  Zuge  der 
Zeit  zu  fürchten,   dass  es  noch   länger  und  umständlicher  würde. 

Mit  der  Revision  der  Gesetze  verhält  es  sich  desgleichen.  Es 
soll  nur  im  nötigen  Fall  und  nur  das  Nötigste  revidiert  werden. 
Namentlich  sind  Partialrevisionen  zu  vermeiden,  das  Flicken  und 
Flecken  an  Gesetzen,  wodurch  nur  ein  einzelner  Abschnitt  oder  gar 
nur  ein  einzelner  Paragraph  geändert  wird.  So  lange  es  irgend 
geht,  soll  man  sich  statt  dessen  mit  einer  Auslegung  des  Gesetzes, 
extensiver  oder  restriktiver  Art,  behelfen;  dafür  gerade  ist  die 
Interpretationskunst  da,  die  dadurch  auch  ihre  besondere  Aus- 
bildung erhält. 

Das  Festhalten  am  Gesetz  hat  aber  an  und  für  sich  einen 
doppelten  Vorteil.  Einmal  stärkt  es  die  Eigenschaft,  dass  man 
sich  nach  dem  richtet  und  in  das  schickt,  was  da  und  gegeben 
ist,  nicht  alle  Regentage  nach  etwas  anderem  verlangt,  und  das 
ist  Tugend,  Charakter;  man  kann  es  im  privaten  Leben  auch 
nicht  immer  haben  wie  man  will,  sondern  muss  sich  in  vieles 
fügen  lernen,  was  einem  nicht  passt.  Sodann  wird  man  sich  bei 
neuen  Gesetzen  um  so  mehr  in  acht  nehmen,  sie  nicht  bloß  für 
den  Tag  zu  erlassen,  sondern  sie  auch  für  andere  Fälle  weit 
genug  zu  machen. 

Also  nicht  immer  dieses  Rütteln  und  Schütteln  am  Bau  der 
Gesetzgebung,  oder  dieses  stetige  Anhängen  und  Ankleistern  von 
neuen  Gesetzen  und  Gesetzlein.    Dafür  soll  die  Gesetzgebung  im 

464 


ganzen  möglichst  gleichmäßig  fortgebildet  und  entwickelt  werden, 
nicht  so,  dass  neben  Partien  jugendlichen  und  gar  künftigen  Stils 
noch  alte,  verfallene  Mauern  stehen  gelassen  werden,  wie  etwa 
ein  Armen-  oder  ein  Medizinalgesetz,  die  nicht  nur  einer  um  viele 
Jahrzehnte  zurückliegenden  Zeit,  sondern  auch  einem  vergangenen 
und  überwundenen  Zeitalter  und  Zeitgeist  angehören.  Aber  dazu 
braucht  es  der  Einsicht  nicht  nur  in  sein  Departement  und  des 
Interesses  dafür  —  sonst  wird  die  Departementseinteilung  zum 
Bureausystem  und  zur  Bureaukratie  — ,  sondern  der  Übersicht  über 
und  des  Interesses  für  das  Ganze.  Oder  dann  ist  zu  dessen  Wah- 
rung eine  besondere,  die  Direktionen  überschauendeStelle  zu  schaf- 
fen. Dazu  erschiene  das  Regierungspräsidium  geeignet,  wenn  es 
darnach  gestaltet  würde,  statt  bloß  Vorsitz  im  Kollegium  zu  sein. 
Was  aber  vom  Bau  der  Gesetzgebung  gilt,  gilt  um  so  mehr 
von  deren  Fundament,  der  Verfassung:  an  sie  soll  um  so  weniger 
gerührt  werden.  Aber  damit  wird  es  nachgerade  so  leicht  als  mit 
der  gewöhnlichen  Gesetzgebung  genommen,  und  hier  ist  der  Bund 
mit  dem  Beispiel  vorangegangen.  Die  jüngste  Partialrevision  der 
Bundesverfassung  —  es  ist  die  sechszehnte,  Irrtum  vorbehalten  — 
erscheint  sogar  bei  dem  dehnbaren  Sinne  von  „Seuchen"  im  bis- 
herigen Artikel  69  vollständig  überflüssig,  wenn  man  bedenkt, 
dass  der  Bund  sich  schon  ganz  andere  Ausdehnungen  seiner  Gesetz- 
gebungs  kompetenz  erlaubt  hat.  Eine  Abstimmung  aber  kostet 
den  Bund  gar  30000  Franken.  Doch  genug.  Kurz,  es  soll  auch 
in  die  Gesetzgebung  ein  ruhigerer  und  größerer  Zug  kommen; 
auch  der  moderne  Staat  leidet  an  Neurasthenie. 

Einen  zweiten  Hauptgegenstand  der  Kompetenz  des  Kantons- 
rates bilden  Budget,  Rechnung  und  Rechenschaftsbericht.  Von 
allen  dreien  wäre  zu  verlangen,  dass  sie  rechtzeitig  vorgelegt 
würden ;  einmal  muss  die  Arbeit  ja  doch  getan  werden,  und  dass 
sie  rechtzeitig  erfolge,  ist  nur  ein  Gebot,  wie  es  für  jede  andere 
Arbeit  auch  gilt.  Und  zwar  sind  der  Natur  der  Sache  nach  Rech- 
nung und  Rechenschaftsbericht  alsbald  nach  Schluss  des  Jahres, 
also  im  Frühjahr  des  folgenden  abzulegen,  und  ist  das  Budget  so 
zeitig  aufzustellen,  dass  es  noch  vor  Beginn  des  Budgetjahres  be- 
schlossen werden  kann,  also  im  Spätherbst  des  Vorjahres.  Das 
erscheint   an   sich   nur   als   eine   formale   Forderung;   aber  eine 

465 


Schlamperei  in  dieser  Beziehung  wirkt  in  gleichem  Sinn  auch  auf 
den  übrigen  Geschäftsbetrieb  ein  und  lässt  jedenfalls  unliebsame 
Schlüsse  auf  ihn  zu.  Ein  Muster  könnte  am  Bund  genommen 
werden,  der  hier  wirklich  untadelig  arbeitet,  und  doch  ist  sein 
Arbeitsfeld  größer.  Aber  im  Kanton  ist  es  nachgerade  Gewohn- 
heit geworden,  alle  Vorlagen  um  ein  halbes  Jahr  und  noch  länger 
zu  verspäten,  die  Rechnung  und  den  Rechenschaftsbericht  im 
Herbst  oder  gar  erst  im  zweiten  Jahr,  wenn  schon  die  neuen 
Vorlagen  erfolgen  sollten,  zu  erstatten  und  das  Budget  zu 
beschließen,  nachdem  seine  Kredite  längst  angebraucht  sind. 

Das  Budget  von  heute  erscheint  immer  mehr  dazu  bestimmt, 
überschritten  zu  werden.  Wenn  es  sich  um  einen  Vorschlag  auf 
drei,  vier  oder  noch  mehr  Jahre  hinaus,  wie  es  anderwärts  wirk- 
lich schon  vorkam,  handelte,  ließe  sich  eine  Verrechnung  in  diesem 
oder  jenem  Punkt  eher  begreifen ;  aber  nicht  bei  einem  bloß  ein- 
jährigen Budget,  wie  es  kürzer  nicht  gedacht  werden  kann.  Dazu 
kommt  der  Eindruck,  dass  die  Unterbudgetierung  gelegentlich 
weniger  an  einem  Irrtum  oder  Mangel  an  Voraussicht  liege,  als 
an  der  Absicht,  überhaupt  Kredit  zu  bekommen,  um  sich  dann 
die  Mehrausgaben  durch  Nachtragskredit  genehmigen  zu  lassen, 
die  Unlust  der  Kreditierung  also  gewissermaßen  zu  verteilen. 
Aber  man  muss  froh  sein,  wenn  für  Kreditüberschreitungen  über- 
haupt Nachtragskredite  verlangt  werden,  und  nicht,  so  viel  es 
auch  kosten  mag,  darauf  losbezahlt  wird,  wie  es  bei  den  Neu- 
bauten von  Kantonsschule  und  Technikum  Winterthur  in  die 
Hunderttausende  hinauf  geschah.  Neuestens  wieder  ein  Nachtrags- 
kreditbegehren von  fast  anderthalb  Millionen  1  und  man  sehe  sich 
die  Begründungen  an,  die  vielfach  gar  keine  sind.  „Die  Maler- 
arbeiten am  Hauptgebäude,  mit  2500  Franken  budgetiert,  machten 
allein  4500  Franken  mehr  aus,  als  vorgesehen  war"  usw. 

Dann  der  Rechenschaftsbericht.  Es  wird  von  jeher  über 
dessen  Umfang  geklagt,  und  immer  nimmt  er  mehr  zu.  Der 
neueste,  erst  vom  Jahr  1911,  umfasst  an  die  800  Seiten ;  derjenige 
des  Bundes  vom  gleichen  Jahr  —  merke  wohl:  in  der  Zeit  vom 
31.  Januar  bis  10.  April  1912  erschienen  —  dagegen  keine  700. 
Wenn  man  schon  darauf  ausginge,  ihn  möglichst  lang  zu  machen, 
könnten  kaum  mehr  Kleinigkeiten  und  Nichtigkeiten  aufgenommen 
werden.     Es  wird  registriert,  was  an  Geschäften  einging,  ja  wie 

466 


viele  Schreiben  einliefen,  wie  viel  Verfügungen  getroffen  wurden, 
wie  viele  Personen  kamen  und  gingen,  wie  viel  Besucher  ein 
Bureau  hatte,  wie  viel  Geschäfte  erledigt  wurden  oder  als  Pen- 
denzen  verblieben  usw.  usw.,  alles  genau  nach  Nummern,  und 
nach  Aktennummern  zählt  die  Bureaukratie.  „Die  bisherige  Kanz- 
listin  III.  Klasse  (mit  Namen  so  und  so  —  geboren  und  getauft?) 
wurde  in  die  II.  Klasse  befördert",  oder:  „Der  Korridor  vor  den 
betreffenden  Zimmern  wurde  durch  eine  besondere  Tür  abge- 
schlossen", oder:  „Am  Geleise  wurde  ein  Kohlenlagerraum  an- 
gelegt, zementiert  und  mit  Zementsockeln  eingegrenzt" ;  Sätze  von 
dieser  Wichtigkeit  finden  sich  zu  Hunderten  und  sind  ihrerseits 
eine  Probe  von  dem  Geiste,  mit  dem  das  Ganze  durchtränkt  ist. 

Dadurch  wird  der  Bericht  nicht  nur  lang,  sondern  auch  lang- 
weilig, fast  so  geistreich  wie  der  Jahresbericht  des  politischen 
Jahrbuches  der  Schweiz  seit  Hiltys  Abgang.  Statt  ein  Staats- 
handbuch auch  für  den  Referendumsbürger  zu  werden,  wird  er 
wohl  kaum  von  den  Kantonsräten  gelesen,  an  die  er  gerichtet  ist, 
und  wird  selbst  für  jene,  welche  ihn  von  Kommissions  wegen  not- 
gedrungen zu  durchgehen  haben,  eine  säuerliche  Lektüre  sein. 
Die  Ausgaben  zum  Amtsblatt  sind  auch  gar  nicht  zum  Aufschneiden 
gemacht,  sonst  fallen  sie  auseinander.  —  Und,  wohlverstanden, 
wirkte  ein  durchaus  gehaltvoller  Bericht  nicht  nur  nach  außen, 
sondern  auf  die  Verwaltung  selbst  zurück;  sie  würde  besser  er- 
kennen, was  wirklich  erheblich  ist,  und  sich  eher  bestreben,  ihre 
Tätigkeit  darauf  zu  konzentrieren.  Dazu  müssten  die  Berichte  der 
einzelnen  Direktionen  durchgeseigt  werden,  und  wie  wäre  es, 
wenn  die  Staatskanzlei  diese  Aufgabe  übernähme?  Das  wäre 
einmal  eine  geistvolle  Beschäftigung  für  sie  und  ein  Verdienst 
um  Staat  und  Volk.  Wenn  sie  dann  auch  der  Neuausgabe  der 
Gesetze  und  der  „Wegleitung  durch  die  Gesetze  und  Verordnungen" 
sich  annähme,  so  würde  sie  sich  ein  weiteres  hinzu  erwerben 
und  den  Ruhm  des  Begründers  dieser  Arbeiten  auf  ihr  Haupt 
sammeln.  Eine  klare,  handliche  Gesetzestafel  war  schon  ein  Be- 
dürfnis für  das  römische  Volk,  das  deswegen  auf  den  heiligen 
Berg  auszog;  wie  viel  mehr  für  den  heutigen  Referendumsbürger. 

Von  der  Sammelstelle  des  Rechenschaftsberichtes  sollten 
ferner  die  einzelnen  Direktionsberichte  nach  der  offiziellen 
Reihenfolge  der  Direktionen  und  stets  nach  der  offiziellen  Reihen- 

467 


folge  gleich  geordnet  werden,  statt  wie  bisher  willkürlich  je 
nach  dem  Abschluss  auf  einer  Direktion,  der  so  eine  Note  für 
Promptheit  oder  umgekehrt  ausstellt  wird. 

Was  vom  Rechenschaftsbericht,  gilt  auch  vom  Textteil  des 
Amtsblattes.  Wie  viel  kürzer  und  übersichtlicher  könnte  er  sein! 
Dem  Inhalt  ginge  jedenfalls  nichts  ab,  wenn  schon  nicht  die  ge- 
ringfügigste Publikation  vom  Direktor  signiert  und  vom  Sekretär 
kontrasigniert  wäre,  wie  eine  Haupt-  und  Staatsaktion  des  deut- 
schen Kaisers  und  seines  Reichskanzlers;  wir  würden  es  auch 
so  der  Publikation  aufs  Wort  glauben,  dass  sie  authentisch  ist. 
Aber  auch  dem  Inhalt  einer  Bekanntmachung  würde  es  wohl 
kaum  schaden,  wenn  er  gelegentlich  gekürzt  würde.  Wir  denken 
hier  beispielsweise  an  die  Ausschreibung  von  Wahlen.  Wozu  die 
Wiederholung  all  der  gesetzlichen  Bestimmungen  über  das  Wahl- 
verfahren? Es  genügt  wohl,  den  Gegenstand  und  die  Zeit  der 
Wahl  anzukündigen;  die  Wähler  und  die  Wahlbureaux  werden 
dann  schon  wissen,  was  sie  zu  tun  haben,  sind  doch  die  Vor- 
schriften bereits  in  und  mit  dem  Gesetz  oder  der  Verordnung 
publiziert  worden;  der  Bürger  ist  also  gehalten,  sie  zu  kennen. 
Auch  die  Beilage  der  eidgenössischen  Gesetzessammlung  zum 
Amtsblatt  bekommt  der  Staat  wohl  nicht  gratis,  und  sie  dürfte 
doch  neben  dem  Bundesblatt  nicht  unentbehrlich  sein.  Aber 
Amtsblatt  und  Rechenschaftsbericht  sind  ja  nur  Beispiele,  wie  all 
das  viel  kürzer  und  billiger  gemacht  werden  könnte.  Straffer, 
strammer,  das  ist  das  Losungswort,  das  für  die  Staatsverwaltung 
allgemein  ausgegeben  werden  sollte.  — 

Dass  der  Kantonsrat  Diäten  bezieht,  versteht  sich  für  eine 
Demokratie  heute  sozusagen  von  selbst.  Zwar  bestanden  sie 
unter  der  dreißiger  Verfassung  noch  nicht,  und  erst  durch  die 
neunundsechziger  Verfassung  wurde  unter  hartem  Kampfe  ein 
„mäßiges  Taggeld"  eingeführt,  um  den  Angehörigen  jedes  Standes 
den  Eintritt  in  den  Rat  zu  ermöglichen,  also  gerade  aus  dem 
Grunde,  auf  den  das  Diätensystem  überhaupt  gestützt  wird.  Darüber 
ist  also  nicht  weiter  zu  reden,  es  handelt  sich  nur  um  das  Maß. 
Das  Taggeld  betrug  vier  Franken,  bis  es  1909  durch  die  neue 
Geschäftsordnung  auf  sechs  Franken  erhöht  wurde.  Auch  dagegen 
lässt  sich  kaum  etwas  einwenden,  sofern  der  Mann  sein  Mandat 
erfüllt,  an  den  Beratungen  mitwirkt  oder  mindestens  den  Rat  über 

468 


Stimmung  und  Bedürfnis  seines  Kreises  aufklärt,  um  unnütze  Be- 
schlüsse und  damit  Kosten  zu  vermeiden,  und  es  nicht  bloß  als 
willkommene  Gelegenheit  benutzt,  auf  staatliche  Kosten  seinen 
Geschäften  oder  Zerstreuungen  nachzugehen.  Aber  doch  ist  nicht 
zu  vergessen,  dass,  wenn  die  Erhöhung  auch  an  sich  nicht  er- 
heblich erscheint,  ihre  Bedeutung  zunimmt  mit  dem  Anreiz, 
die  Geschäfte  in  die  Länge  zu  ziehen,  und  mit  dem  Widerstand, 
die  Zahl  des  Rates  zu  vermindern.  Das  kleinere  Taggeld  erschien 
also  doppelt  und  dreifach  vorteilhaft  für  den  Staat  und  war  auch 
für  den  Einzelnen  und  den  Kreis  so  lange  kein  Unrecht,  als  die 
Vertretungsmöglichkeit  nicht  darunter  litt,  wovon  nie  etwas  laut 
wurde.  Kantonsräte  haben  sich,  wie  andere  Beamte,  noch  immer 
gefunden.  Aber  nachdem  alle  Beamten  das  große  Los  gezogen 
hatten,  war  der  Kantonsrat  schließlich,  als  er  sein  Taggeld  erhöhte, 
noch  der  brave  Mann,  der  an  sich  selbst  zuletzt  gedacht  hat. 


IV. 

In  der  Verwaltung  besteht  der  Hauptteil  des  Staatslebens,  und 
daher  kommt  es  hauptsächlich  auf  sie  an,  wie  dieses  kreist  und 
pulsiert;  von  ihr  ist  vor  allem  eine  zweckmäßige  Staatstätigkeit 
zu  erwarten.  Mit  je  geringern  Mitteln  der  gleiche  Erfolg  erreicht 
wird,  je  größer  der  Erfolg  bei  gleichen  Mitteln  ist,  um  so  sach- 
gemäßer erscheint  sie.  Wo  genug  ist,  kann  ein  Schwein 
hausen,  lautet  das  derbe  Volkswort.  Für  den  Staat  gilt  es  als 
Kunst,  die  Volkskräfte  tunlichst  zu  schonen  und  doch  das  Volks- 
wohl bestmöglichst  zu  pflegen.  Dazu  gehört,  einerseits  dass  die 
Staatstätigkeit  am  ersten  und  am  meisten  da  einsetze,  wo  es  am 
nötigsten  erscheint,  und  dass  anderseits  zur  Aufgabe  das  Volk 
selbst,  die  Interessentenkreise,  in  bestehenden  oder  zu  schaffenden 
Verbänden  herangezogen  werde.  Diese  sind,  weil  an  der  Auf- 
gabe direkt  interessiert,  dafür  auch  geeigneter,  erfüllen  sie  inten- 
siver und  sachkundiger,  während  Staatsbeamte  daran  eben  nur 
das  Interesse  von  Angestellten  haben  und  darnach  arbeiten. 

Es  muss  davon  abgesehen  werden,  jegliches  durch  den  Staat 
selbst  besorgen  zu  lassen  und  für  alles  Staatsbureaux  einzurichten. 
Das  bewirkt  nur  eine  neue  und  immer  größere  Bureaukratie,  die 

469 


den  Staat  nicht  nur  mehr  belastet,  sondern  auch  weiter  vom  Voli<e 
entfernt,  weniger  volkstümh'ch  macht.  Dergestalt  entwickelt  sich 
die  neueste  Staatsverwaltung  und  scheint  in  dieser  Richtung  be- 
reits zu  weit  gegangen  zu  sein.  Es  handelt  sich  also  darum,  ein- 
zulenken und  mählich  einen  etwas  andern  Weg  einzuschlagen. 
Aber  die  Staatsverwaltung  ist  viel  zu  vielseitig,  als  dass  hier  ein 
eingehender  Plan  ihrer  Tätigkeit  aufgestellt  werden  könnte;  das 
müsste  die  Aufgabe  einer  andern  Darstellung  sein.  Es  können 
hier  nur  ein  paar  Grundzüge  gegeben  werden,  und  für  diese  ist 
der  alte  machiavellistische  Grundsatz  wegleitend,  dass  immer  wieder 
zu  den  Anfängen,  auf  die  erste  Anlage  des  Staates  zurückgegangen 
werden  müsse,  damit  man  sich  auf  seine  wahre  und  rechte  Auf- 
gabe besinne.  Es  bedarf  keiner  völligen  Umkehr,  sondern  nur 
einer  kleinen  Wendung,  einer  Verschiebung  des  Richtungspunktes, 
um  aus  der  Sackgasse,  in  die  der  Staat  gerät,  herauszukommen 
und  ins  Freie  und  Lichte  zu  gelangen,  wo  es  dem  Staat  wieder 
leichter  wird  und  auch  das  Volk  sich  besser  fühlt. 

Jedenfalls  sollte  die  Demokratie  sich  mehr  mit  der  Verwal- 
tung befassen,  statt  immer  nur  der  Vermehrung  und  Verbesserung 
von  politischen  Volksrechten  nachzusinnen.  Von  der  rechtlichen 
Demokratie  soll  sie  einmal  zur  wirtschaftlichen  Demokratie  über- 
gehen, zur  sozialen  Demokratie,  womit  allerdings  nicht  die  pro- 
grammatische Sozialdemokratie  gemeint  ist,  die  in  das  Gegenteil 
aller  wahren  Demokratie  umschlägt.  Politische  Rechte  hat  das 
Volk  bei  uns  genug,  und  sie  werden  ihm  selbst  nachgerade  zu 
viel.  Aber  immer  kommen  unsere  Politiker  auf  sie  zurück  und 
nicht  über  sie  hinaus.  Nun  steht  wieder  die  Proportionalwahl 
auf  der  Tagesordnung,  zu  deren  Freunden  man  gehören  mag, 
ohne  sich  zu  verhehlen,  dass  das  Volk  davon  schließlich  nicht 
gegessen  hat. 

Wesentlich  für  das  Volk  ist  also  die  Verwaltung,  jedoch  nicht 
im  Sinne  des  Polizeireglementes.  Mit  polizeilichen  Geboten  und 
Verboten  ist  dem  Volk  auch  nicht  geholfen ;  wir  fallen  damit 
nur  in  das  alte  väterliche  Regiment  zurück  und  haben  zu  wenig 
Freiheit  mehr.  Dass  man  sich  des  Staubes  und  Gestankes  der 
Automobile  zu  erwehren  sucht,  ist  ganz  am  Platz  und  gehört 
zum  Leben  und  Atmen;  aber  so   weit  es  dazu  nicht  nötig  ist, 

470 


sollte  mit  der  Polizei,   eben   im   Interesse  der  menschlichen  und 
bürgerlichen  Freiheit,  etwas  mehr  zurückgehalten  werden. 

Wir  denken  hier  an  das  durchgefallene  Medizinalgesetz;  schon 
dieser  Durchfall  zeugt  von  der  gleichen  Stimmung  im  Volke. 
Gewiss  ist  unser  Medizinalgesetz  veraltet  und  bedarf  der  Erneue- 
rung, aber  in  einem  andern  Sinn.  Auch  wir  sind  nicht  unbe- 
dingt für  Freigabe  der  ärztlichen  Praxis,  obschon  sich  andere 
Kantone  und  sogar  das  große  Deutsche  Reich,  das  sonst  nicht 
als  wildes  Land  verschrieen  ist,  dabei  ganz  wohl  befinden  und  dort 
auch  nicht  mehr  Leute  zu  Tode  kuriert  werden  als  bei  uns. 
Aber  damit  ist  denn  doch  nicht  gesagt,  dass  das  Medizinalwesen 
noch  zünftiger  und  zopfiger  gemacht  werden  müsse,  als  es  schon 
unter  dem  bisherigen  Patentsystem  ist.  Wohl  konnte  die  Volks- 
initiative für  arzneilose  Heilweise  im  Jahr  1904  unter  Aufbietung 
der  ärztlichen  Heerscharen  und  ihrer  Gefolgschaften  niederge- 
stimmt werden.  Als  „heillose  Arzneiweise"  war  sie  verlacht  wor- 
den, ohne  dass  man  bedachte,  wie  dieser  Spott  gerade  die  Arznei- 
kunst traf,  die  allerdings  vielfach  „heillos"  ist.  Aber  als  dann 
der  Ring  der  Medizinmänner  noch  enger  gezogen  werden  sollte, 
hat  ihn  das  Volk  gesprengt.  Die  Wahrheit  ist  eben,  dass  das 
beste  an  der  neueren  Heilkunde,  die  Packungen  und  Waschungen, 
die  Wasser-,  Luft-,  Licht-,  Sonnen-  und  Schlammbäder  usw.  usw., 
von  den  medizinischen  Zöllnern  und  Sündern  kommt,  über  die 
von  den  Pharisäern  der  Kaste  vornehm  der  Stab  gebrochen  wurde. 
Und  wenn  Ärzte  und  Behörden  es  vergaßen  oder  nicht  gelten 
lassen  wollten,  das  Volk  hat  sich  dessen  erinnert  und  sich  dafür 
dankbar  gezeigt.  Wie  konnte  man  im  vordersten  Kanton  der 
Eidgenossenschaft  so  dem  Kastengeist  erliegen  und  die  Stimmung 
des  Volkes  so  sehr  verkennen? 

Also  mehr  positive  Staatstätigkeit.  Diese  drückt  sich  am 
augenfälligsten  in  den  Staatsbauten  aus;  aber  gerade  darin  heißt 
es  vorsichtig  sein,  weil  sie  am  allermeisten  ins  Geld  laufen.  Und 
zwar  vorsichtig  in  zwei  Beziehungen.  Vor  allem  soll  sich  der 
Staat  (und  auch  eine  Gemeinde  kann  sich  das  merken),  bevor  er 
eine  Anstalt  dieser  oder  jener  Art  errichtet,  wohl  besinnen,  ob 
ihre  Bestimmung  auch  wirklich  in  seiner  Aufgabe  liege.  Wir 
meinen,  das  Gemeinwesen  sei,  wie  es  nicht  von  vornherein  für 
jeden  Einzelnen,  sondern  nur  für  das  Volk  im  Ganzen  zu  sorgen 

471 


hat,  auch  nicht  dazu  da,  vor  einen  Jeden  hin  ein  Haus  und  eine 
Werkstätte  mit  allen  Bequemh'chkeiten  zu  stellen,  sondern  nur  die 
zudienenden  Anstalten  zu  errichten,  deren  alle  gleicherweise  be- 
dürfen und  die  auch  allen  gleicherweise  dienen. 

Wo  die  Einzelnen  für  sich  zu  schwach  sind,  sollen  sie  sich 
zusammenschließen;  sie  aufzumuntern  und  ihnen  unter  die  Arme 
zu  greifen,  so  weit  es  fehlt,  dazu  scheint  allerdings  das  Gemein- 
wesen bestimmt,  wenn  es  mehr  als  die  formelle  Aufgabe  des  Ver- 
bandes haben  soll.  Aber  weiter  zu  gehen,  die  Privatwirtschaft 
selbst  zu  übernehmen,  ist  nicht  seine  Sache,  wird  von  ihm  auch 
am  schlechtesten  oder  teuersten  besorgt  und  macht  die  Leute 
nur  unselbständig  und  faul.  Die  Privatinitiative  ist  für  den  Kultur- 
fortschritt gar  nicht  zu  entbehren,  sie  soll  vom  Staat  nur  in  die 
richtigen  Wege  geleitet  und  nötigenfalls  unterstützt  werden.  Wer 
denkt  da  nicht  an  die  Spekulation  mit  dem  Friesenberg  und  andern 
Quartieren,  in  die  sich  die  Stadt  Zürich  leichthin  eingelassen  hat, 
um  sich  ganz  unnötige  und  unverantwortliche  Schulden  aufzu- 
laden? Allen  kann  so  doch  nicht  geholfen  werden,  und  es  sind 
nur  einige  Wenige,  die  davon  Nutzen  haben.  Besser  wäre  eine 
bloße  Nachhilfe,  die  dafür  auf  allen  Punkten  einsetzte  und  allen 
in  gleicher  Lage  zu  gut  käme.  Die  Überschau,  der  große 
Blick  fehlt ! 

So  weit  aber  der  Staat  Bauten  errichtet,  hat  er  dabei  nicht 
weniger  ökonomisch  zu  verfahren  als  ein  guter  Hausvater.  Ja, 
noch  mehr;  wenn  ein  Privater  unhaushälterisch  loszieht  und  sich 
ruiniert,  so  tut  er  es  auf  eigene  Rechnung  und  Gefahr;  der  Staat 
aber  verbraucht  dabei  fremdes  Geld,  das  Geld  des  Volkes.  Das 
kann  er  sich  nicht  genug  vor  Augen  halten.  Mit  einem  nach- 
träglichen Dank  an  das  Volk  für  das  viele  Geld  ist  es  nicht  getan ; 
der  beste  Dank  ist,  es  mit  dem  Ausgeben  von  vornherein  und 
Stetsfort  streng  zu  nehmen. 

Dazu  gehört  vor  allem  ein  verbindlicher  Baudevis.  Was  nützt 
es,  einen  Voranschlag  aufzustellen,  wenn  es  hinterher  Hundert- 
tausende oder  Millionen  mehr  kostet?  Voranschläge  sind  keine 
bloße  Schreibübung,  sondern  sollen  die  Verantwortlichkeit  des 
Bauübernehmers  begründen,  alles  Vorgesehene  in  vorgesehener 
Qualität  zum   vereinbarten   Preise   zu   erstellen.     Mehrzahlungen 

472 


sind  durchaus  auszuschließen,  außer  im  Falle  höherer  Gewalt 
oder  wo  sonst  das  Recht  des  Werkvertrages  dazu  absolut  ver- 
pflichtet. Zu  diesem  Zwecke  ist  aber  der  Bauplan  so  genau  aus- 
zuarbeiten, dass  Mehrleistungen  vermieden  werden,  die  erfahrungs- 
gemäß um  so  teurer  bezahlt  werden  müssen  und  an  denen  ge- 
rade sich  die  Unterbieter  zu  erholen  pflegen.  Es  würde  dann 
auch  mit  den  Offerten  genauer  genommen  und  so  ein  Haupt- 
schaden des  Submissionswesens  gehoben ;  der  Staat  bekäme  festen 
Boden  unter  die  Füße;  er  wüsste,  woran  er  wäre.  Dass  er  aber 
selbst  keine  zu  genauen  und  vollständigen  Vorausberechnungen 
wünscht,  um  für  die  Minderanschläge  eher  Kredite  zu  erlangen, 
das  anzunehmen  ist  gar  nicht  erlaubt;  es  wäre  ja  geradezu 
unehrlich. 

Um  aber  zu  verhindern,  dass  bei  Bauten,  wo  die  Arbeiten 
an  verschiedene  Übernehmer  verteilt  werden,  der  eine  die  Schuld 
an  der  Unvollständigkeit  oder  Verspätung  dem  andern  zuschiebe, 
sollen  die  Übernehmer  verpflichtet  werden,  sich  zu  einem  Syndikat 
zu  vereinigen,  das  für  den  ganzen  Bau  dem  Staat  verantwortlich 
wäre.  Dieser  könnte  sich  dann  auf  eine  fortlaufende  bloße  Kon- 
trolle des  Baues  beschränken,  sich  die  Einrichtung  einer  besondern 
Bauleitung  schenken  und  damit  wieder  Kosten  sparen. 

All  das  wäre  immerhin  zu  erwägen.  Jedenfalls  muss  es  mit 
den  ungezählten  Mehrkrediten  einmal  aufhören,  soll  der  Staat 
nicht  noch  ein  anderes  Gut  einbüßen,  seinen  guten  Ruf  und  Kredit. 
Aber  das  Volk  selbst  ist  ja  so  gutmütig,  dass  sogar  die  über 
die  Referendumssumme  weit  hinausgehenden  Mehrforderungen 
immer  wieder  und  unbesehen  bewilligt  werden.  Vor  allem  aber 
fällt  das  wieder  bei  dem  vielberufenen  Gemeindewesen  auf,  wo 
noch  nie  ein  Kredit  vom  Volk  zurückgewiesen  worden  ist.  Was 
Wunder,  wenn  man  es  da  mit  den  Baurechnungen  und  anderem 
immer  leichter  nimmt  und  immer  mehr  und  größere  Nachtrags- 
kredite verlangt?    Quousque  tandem? 


Im  übrigen  besteht  die  positive  Verwaltungstätigkeit  in  der 
Wohlfahrtspflege  und  diese  sollte  sich  mehr  bloß  mit  dem  Not- 
wendigen befassen ;  für  dieses  aber  mehr  leisten  als  bisher.  Dazu 
rechnen  wir  einerseits  die  Sorge  für  die  Armen  und  Notleidenden 

473 


und    anderseits    eine   größere   Berücksichtigung    der    Landschaft 
gegenüber  der  Stadt. 

Hier  kommt  zunächst  das  Armenwesen  in  Betracht,  Dass 
das  Armengesetz  wie  das  Medizinalgesetz  rückständig  ist,  nicht 
nur  alt,  sondern  veraltet,  haben  wir  bereits  bemerkt  und  ist  auch 
allgemein  längst  anerkannt.  Das  Erste  schiene,  einmal  mit  dem 
verrotteten  Bürgerprinzip  abzufahren,  wodurch  der  inhumane, 
kostspielige  Armenschub  und  die  unwürdige  Markterei  um  Men- 
schennotdurft zwischen  Wohnort  und  Bürgerort  aufgehoben 
würde.  Das  wäre  nur  die  Kappung  des  verdorrtesten  Zweiges  des 
Bürgergemeinderechtes,  und  wenn  dieses  selbst  aufgegeben  würde, 
um  so  besser.  Es  genügte  dazu  sozusagen  der  Satz,  dass 
jeder,  der  sich  an  einem  Orte  niederlässt,  dadurch  Bürger  des 
Ortes  werde.  Damit  würde  nur  ein  altes  gutes  Recht  wieder 
hergestellt  und  die  Mahnung  Machiavellis,  zu  den  Anfängen  zurück- 
zukehren, erfüllt.  Die  Bürgergemeinde  verdient  es  auch  gar  nicht, 
so  sehr  geschont  zu  werden;  ist  sie  doch  in  Wahrheit  ein  Gebilde 
der  Reaktion,  des  engherzigen  Abschlusses  der  alten  Ortseinwohner 
gegen  neue  Zuzüger,  und  eine  Verknöcherung  des  Einwohner- 
prinzips. Zum  früheren  Rechte  zurückzukehren,  wäre  also  ein 
Fortschritt  und  um  so  mehr  gerechtfertigt,  als  sich  das  Bürger- 
prinzip mit  dem  seither  so  gewaltig  gesteigerten  Verkehr  und 
Wechsel  der  Wohnsitze  nicht  mehr  verträgt.  Übrigens  gibt  es  im 
Kanton  Zürich  bereits  keinen  Bürgergemeindeverband  mehr,  sondern 
man  ist  Bürger  der  politischen  Gemeinde  des  Bürgerortes,  und 
so  handelte  es  sich  nur  noch  darum,  diesen  in  den  Wohnort 
aufgehen  zu  lassen  und  so  den  Rückschritt  Schritt  für  Schritt 
zurück  zu  nehmen,  um  zum  Fortschritt  zu  gelangen.  Natürlich 
könnte  das  nur  für  die  Kantonsbürger  gelten,  so  lange  es  in 
andern  Kantonen  nicht  auch  so  gemacht  würde,  bis  es  schließ- 
lich nur  noch  ein  Schweizerbürgerrecht  gäbe.  Aber  der  Kanton 
muss  in  diesem  Falle  vorangehen,  damit  wir  zu  einem  gemein- 
samen schweizerischen  Rechte  gelangen,  und  es  würde  der  ruhigen 
Entwicklung  nicht  dienlich  sein,  wollte  man  umgekehrt  vorgehen 
und  gleich  das  Heil  vom  Bund  erwarten. 

(Fortsetzung  folgt.) 
DDD 

474 


L'ESPRIT  POLITIQUE  CHEZ 
LES   ßCRIVAlNS   FRAN^AIS 

AU  COMMENCEMENT   DU  XX^  SiECLE 

(Suite  et  fin) 

Teile  est  la  seconde  ere  de  la  litterature  fraiKjaise.  Encore 
une  fois,  eile  ne  forme  pas  un  seul  bloc;  eile  ne  manche  pas  d'un 
seul  jet.  Ce  qui  distingue  l'ere  precedente  n'en  est  pas  banni. 
Mais  ce  n'est  plus  qu'accident. 

Par  exemple,  Andre  Chenier  emerge  au  plus  fort  de  la  litte- 
rature revolutionnaire ;  par  exemple  Gerard  de  Nerval  et  Stend- 
hal emergent  au  plus  fort  du  romantisme,  les  uns  et  les  autres 
abondant,  ä  la  maniere  de  naguere,  en  allusions  incisives,  les 
uns  et  les  autres  etant  penetres  d'une  exquise  lucidite,  d'une  en- 
tiere  liberte  spirituelle,  qui  rayonnent  avec  profit  sur  la  politi- 
que.  Eclairs  fugitifs,  lueurs  vite  effacees  et  que,  sur  le  mo- 
ment,  la  gloire,  occupee  d'autres  predilections,  n'a  pas  eu  le  loi- 
sir  de  recueillir! 

En  resume,  vous  le  voyez,  quand  nous  atteignons  aux  raci- 
nes  les  plus  proches,  aux  antecedents  les  plus  directs  de  la  litte- 
rature actuelle,  nous  avons  parcouru  six  siecles  durant  lesquels 
l'esprit  politique  et  l'esprit  litteraire  se  sont  maries,  apparies  Se- 
lon une  formule  —  peut-on  appeler  cela:  formule?  —  selon  un 
don  plutot  de  liberte  et  de  fecondite  spirituelles,  unique  au 
monde,  et  dans  les  conditions  politiques  les  plus  desolantes;  et 
nous  en  avons  parcouru  deux  durant  lesquels  la  vie  politique  a 
ete  ardenle  et  magnifique,  mais  oü  l'esprit  politique  a  absorbe 
l'esprit  litteraire,  ou  l'a  epouvante,  le  privant,  dans  les  deux  cas, 
de  sa  vivace  et  enigmatique  vertu  politique  originale. 

Au  bout  de  cette  longue  route,  il  devait  fatalement  se  poser 
diverses  questions;  eile  se  posent,  aujourd'hui: 

On  se  demande  si  cette  voie  commune  oü  politique  et  litte- 
rature marchent  de  conserve,  depuis  deux  siecles,  comme  des 
soeurs  quelquefois  ennemies,  ne  conduit  pas  ä  une  impasse. 

475 


On  se  demande,  si  indefiniment,  l'esprit  politique  et  l'esprit 
litteraire  peuvent  se  regier  Tun  sur  l'autre;  si  d'une  part  l'esprit 
litteraire  qui  a,  de  si  loin,  devance  et  annonce  l'esprit  politique, 
peut  s'astreindre  indefiniment  ä  epouser  les  etapes  de  son  evo- 
lution,  ä  present  qu'il  est  mür  et  developpe;  si,  d'autre  part, 
l'esprit  politique,  auquel  correspond  desormais  une  realite  vivante 
et  pratique,  a  interet  indefiniment  ä  se  laisser  suggestionner  par 
l'image  que  l'esprit  litteraire,  non  sans  nuages,  non  sans  chimeres, 
lui  fournit  de  lui-meme. 

On  se  demande,  enfin,  si,  faisant  appel  de  nouveau  ä  cette 
faculte  d'anticipation  insensible  dont  j'ai  essaye  de  decrire  l'his- 
toire,  l'esprit  litteraire  n'est  pas  destine,  dans  l'ordre  politique,  ä 
preparer  autre  chose  que  ce  qui  l'a  Interesse  jusqu'ici,  ä  prevoir, 
ä  predire,  ä  explorer  un  autre  esprit  politique  encore  balbutiant 
et  plus  vaste  que  celui  qui,  maintenant,  l'accable. 

C'est  la  reponse  ä  ces  diverses  questions  qui,  depuis  bientöt 
vingt  ans,  trouble  le  monde  des  lettres,  et,  plus  que  jamais,  pre- 
sentement,  l'agite  et  l'enfievre. 

Remettez-vous  en  face  du  probleme  tel  qu'il  nous  apparut. 
Concevez  ce  que  c'est  pour  des  hommes  tout  portes  par  leurs 
Souvenirs  et  leur  heredite,  tout  incites  par  les  circonstances  ä 
aimer  la  vie  publique,  ä  en  admettre  et  en  exiger  les  debats,  ä 
etre  curieux  de  politique  et,  ä  l'occasion,  de  combat  politique, 
concevez  ce  que  c'est  pour  les  fils  de  trois  revolutions,  lors- 
qu'ils  sont  ecrivains,  d'affectionner  litterairement  la  monarchie  que 
politiquement  ils  detestent,  car  que  de  latitudes,  meme  politique- 
ment,  eile  a  laissees  ä  la  litterature,  —  et  litterairement  de  detester 
le  regime  de  discussion  que  politiquement  ils  affectionnent,  car 
que  de  sujetions  dont,  meme  litterairement,  il  a  frappe  la  litte- 
rature. La  liberte  ne  leur  parait  pas  toute  dater  des  regimes  de 
liberte,  et  la  contrainte  ne  leur  parait  pas  toute  remonter  aux 
regimes  de  contrainte. 

Sous  un  pareil  faix  d'incertitude,  dans  quel  sens  chercher 
ä  alleger  l'amalgame  desormais  etouffant  de  la  politique  et  de  la 
litterature?  On  tente  surtout  des  combinaisons. 

Mais  dejä,  comme  vous  allez  voir,  des  indications  lumineu- 
ses  se  sont  fait  jour. 

476 


En  reprenant  au  point  oü  nous  en  sommes  restes,  nous 
voyons  jaillir  tout  d'un  coup  du  Parnasse  et  du  Naturalisme, 
quelque  chose  de  neuf,  de  bien  plus  delie  et  de  bien  plus  repose: 
c'est  le  symbolisme. 

Aupres  des  esprits  superficiels,  aupres  aussi  des  iniiombra- 
bles  descendants  du  romantisme  qui  battent  monnaie  avec  ses 
somptueuses  redondances,  aupres  des  parnassiens  et  des  natu- 
ralistes,  le  symbolisme  fut  suspect  et  assez  vite  discredite.  Les 
symbolistes  eprouverent  un  äcre  plaisir  ä  s'en  vanter:  leur  in- 
fortune  n'avait  d'egale  que  leur  meprisante  insouciance. 

Pourtant,  ce  mouvement  litteraire,  on  doit  meme  dire  ce 
mouvement  moral,  etait  gros  d'intuitions  inattendues. 

„Art  pour  Art",  „tour  d'ivoire"  a-t-on  dit?  Pas  plus  que 
le  Parnasse,  pas  plus  que  le  naturalisme  et  meme,  ä  mon  sens, 
beaucoup  moins.  II  y  a  eu  des  abstracteurs  de  quintessence  dans 
le  symbolisme.  Ils  se  surnommaient  avec  affectation  „decadents" 
et  le  public  leur  renvoyait  le  sobriquet  comme  une  Insulte. 
Quand  la  mode  s'empara  du  symbolisme,  cette  espece  emplit  les 
salons  et  les  cabarets  litteraires. 

N'empeche  que  le  symbolisme  qui  ne  fut  point  une  ecole, 
qui  fut  meme  hostile  ä  tout  esprit  d'ecole,  offrit  avant  tout 
l'image  du  genereux  dessein  de  vivre  plus  en  paix  avec  la  mul- 
tiplicite  des  choses,  plus  loin  des  considerations  de  doctrine  et 
de  sentiment,  plus  en  intimite  avec  les  resonnances  et  les  decou- 
vertes  capricieuses  qui  habitent  la  reverie  personnelle,  la  reliant 
aux  promesses,  aux  possibilites  sans  nombre,  eparses  ä  travers 
les  endroits  et  les  jours. 

Par  lä  le  symbolisme  reprenait  pied,  avec  calme,  dans  la 
jouisssance  de  la  cite;  gräce  ä  lui,  ä  travers  lui,  l'esprit  politique 
recouvrait  son  tact  rapide,  son  etincellement  elastique,  residant 
en  des  intuitions  entremelees  plus  qu'en  des  raisonnements  dis- 
tincts. 

Ainsi,  du  symbolisme  sortait  une  clarte  nouvelle,  une  libe- 
ration  savoureuse.  Un  beau  jour,  de  ce  buisson  dont  le  public 
redoutait  l'approche  touffue  et  les  epines  ardentes,  des  paroles 
fleurirent  qui  rappelaient  la  verve  des  trouveres. 

Verlaine,  Jules  Laforgue,  Arthur  Rimbaud,  Mallarme,  artistes 
compliques,  certes,  mais  en  qui  renaissait  miraculeusement  une 

477 


frugalite  primitive,  une  fratcheur  sauvage  et  cet  esprit  politique, 
diffus,  malicieux,  entreprenant,  inherent  au  prestige  des  plus  heiles 
Oeuvres  litteraires  de  France! 

Pour   ma   part,   lorsque  je  lis  tel   poeme   de  Rimbaud:  La 
Chanson  de  la  plus  Haute  Tour, 

Oisive  jeunesse 

A  tout  asservie, 

Par  delicatesse 

J'ai  perdu  ma  vie. 

Ah!  que  le  temps  vienne 

Ou  les  Coeurs  s'eprennentl  .  .  . 

ou  tel  de  Laforgue:  L' Hiver  qui  vient: 

Blocus  sentimental!    Messageries  du  Levant! 
Oh,  tombee  de  la  pluie!    Oh!  tombee  de  la  nuit! 
Oh:  le  vent: 

La  Toussaint,  la  Noel  et  la  Nouvelle  annee, 
Oh!  dans  les  bruines  toutes  mes  cheminees! 

On  ne  peut  plus  s'asseoir,  tous  les  bancs  sont  mouilles 
Crois-moi,  c'est  bien  fini  jusqu'ä  l'ann^e  prochaine, 
Tous  les  bancs  sont  mouilles,  tant  les  bois  sont  rouilles 
Et  tant  les  cors  ont  fait  ton  ton,  ont  fait  ton  taine. 


je  ne  puis  me  defendre  d'y  recueillir  une  emotion  qui,  en  faisant 
fraterniser  mon  temps  et  mon  coeur  avec  des  temps  recules, 
apaise  l'alarme  dont  je  vous  ai  parle  et  me  rend  presumable  la 
guerison  de  la  contradiction  existant  entre  l'esprit  litteraire  et 
l'esprit  politique. 

Le  plus  instructif  de  ces  genies  est  Mallarme  chez  qui  se 
revele  toute  la  contenance  du  symbolisme  avec  ses  parois  orfe- 
vrees,  sur  lesquelles  sont  graves  les  signes  d'un  langage  quelque- 
fois  sibyllin;  mais,  au  dedans,  que  le  breuvage  est  limplde  et 
enivrant,  philtre  digne  de  Ronsard! 

Pendant  pres  de  vingt  ans,  ces  etonnants  esprits  furent  me- 
connus  et  meme  bafoues.  A  present,  au  seuil  du  XX^  siecle,  on 
ne  doute  plus  qu'ils  n'aient  ete  des  precurseurs  et  leur  patronage 
commence  ä  s'eriger  au  dessus  du  monde  des  lettres. 

Vers  le  meme  moment  que  prenait  corps  le  symbolisme, 
d'autres  manifestations  de  la  pensee  attestaient  le  meme  besoin 
de  reduire  le  conflit  de  l'esprit  politique  et  de  l'esprit  litteraire. 

478 


Deux  Oeuvres  s'imposaient,  celle  de  Renan  et  celle  de  Taine. 
Litterairement,  Renan  et  Taine  avaient  une  vive  inclination  pour 
les  choses  anciennes.  Avec  son  esprit  de  persiflage  caressant, 
Renan  ne  se  gena  pas  de  narguer  aimablement  les  nouveautes. 
II  en  etait  une,  pourtant,  lui-meme,  et  des  plus  surprenantes. 

En  lui  comme  chez  les  symboiistes,  mais  d'une  fa^on  bien 
plus  accusee,  bien  plus  frappante  pour  l'opinion  (car  il  etait 
Historien  et  prisait  fort  les  questions  politiques,  car  il  etait  pro- 
fesseur,  savant  et  critique),  se  determina  la  volonte  de  rester  atta- 
che  ä  la  vie  generale,  mais  sans  s'y  enchainer,  et  de  rendre  ä 
Tesprit  litteraire  le  priviiege  de  butiner  l'esprit  politique,  d'en  ex- 
traire,  en  un  fantasque  envol,  un  certain  miel  intellectuel,  ä  la 
saveur  fugitive. 

On  lui  a  reproche  d'avoir  ete  surtout  un  ensorcelant  publi- 
ciste  d'idees  serieuses,  d'avoir  accentue  l'absorption  de  l'ideal  par 
la  coutume  accommodante  et  journaliere  de  l'esprit  politique.  Je 
trouve  qu'il  a  fait  plutot  le  contraire,  qu'il  a  enleve  l'ideal  aux 
griffes  du  dogmatisme  politique  pratique,  et,  moyennant  une  flui- 
dite  poetique,  dangereuse,  je  le  reconnais,  en  certains  sujets,  l'a 
confie  de  nouveau  aux  mobiles  enquetes  de  l'esprit  litteraire.  Re- 
nan fut  l'incorrigible,  l'infatigable  trouvere  du  monde  de  la 
science,  de  la  societe  qui  naissait  ou  devait  nattre  de  la  science. 
II  attira  tout  pour  le  refondre  dans  la  litterature,  jusqu'ä  la  chi- 
mie,  et  son  ami  Berthelot,  cedant  ä  ses  instances,  plus  d'une 
fois,  le  suivit  dans  ce  chemin  diapre  et  ondoyant. 

Quant  ä  Taine,  c'etait  l'inverse.  II  avait  le  dogmatisme  et  la 
partialite  politiques  dans  le  sang;  son  histoire  de  la  Revolution 
est  un  abandon  de  la  methode  historique  aux  stratagemes  de 
l'esprit  politique.  Cependant,  il  a  de  telles  gräces,  de  telles  nuan- 
ces  de  narrateur,  que  la  verite  se  retablit  sur  l'erreur  comme  la 
mousse  se  met  sur  le  rocher,  et  que  l'on  s'asseoit,  malgre  tout, 
avec  securite,  dans  ces  bocages  litteraires  oii  les  duretes  de  l'esprit 
politique  se  tamisent. 

Puis-je  mieux  vous  procurer  le  sentiment  de  cette  elevation 
nouvelle  de  l'esprit  litteraire  au  dessus  de  l'esprit  politique,  et  des 
efforts  et  de  la  curiosite  complexe  et  balbutiante  qui  en  resulte- 
rent,  qu'en  vous  rappelant  la  fameuse  Friere  sur  lAcropole  de 
Renan : 

479 


O  noblesse!  o  beaute  simple  et  vraie!  de'esse  dont  le  culte  signifie 
raison  et  sagesse,  ioi  dont  le  temple  est  une  legon  eternelle  de  conscience 
et  de  sincerite,  j'arrive  tard  au  seuil  de  tes  mysteres;  j'apporte  ä  ton 
autel  beaucoup  de  remords.  Pour  te  trouver,  il  m'a  fallu  des  recherches 
infinies.  L'initiation  que  tu  confe'rais  ä  l'Athe'nien  naissant  par  un  sou- 
rire,  je  Vai  conqulse  ä  force  de  reflexions,  au  prix  de  longs  e/forts. 

Je  suis  ne,  de'esse  aux  yeux  bleus,  de  parents  barbares,  chez  les  Cim- 
meriens  bons  et  vertueux  qui  habitent  au  bord  d'une  mer  sombre,  heris- 
see  de  rochers,  toujours  battue  par  les  orages  .  .  .  Les  nuages  y  parais- 
sent  Sans  couleur  et  la  joie  meme  y  est  un  peu  triste;  mais  des  fontaines 
d'eau  froide  y  sortent  du  rocher  et  les  yeux  des  jeunes  filles  y  sont 
comme  ces  vertes  fontaines  oii,  sur  des  fonds  d'herbes  ondule'es,  se  mire 
le  ciel  .  .  . 

Des  pretres  d'un  culte  etranger,  venu  des  Syriens  de  Palestine,  pri- 
rent  soin  de  m'e'lever.  Ces  pretres  etaient  sages  et  saints.  Ils  m'apprirent 
les  longues  histoires  de  Cronos  qui  a  cree  le  monde  et  de  son  fils  qui 
a,  dit-on,  accompli  un  voyage  sur  la  terre.  Leurs  temples  sont  trois  fois 
hauts  comme  le  tien,  ö  Eurythmie,  et  semblables  ä  des  forets ;  seulement 
ils  ne  sont  pas  solides;  ils  tombent  en  ruine  au  bout  de  cinq  ou  six  cents 
ans;  ce  sont  des  fantaisies  de  barbares  qui  s'imaginent  qu'on  peut  faire 
quelque  chose  de  bien  en  dehors  des  regles  que  tu  as  tracees  ä  tes  ins- 
pires,  6  Raison.  Mais  ces  temples  me  plaisaient;  je  n'avais  pas  etudie 
ton  art  divin ;  fy  trouvais  Dieu.  On  y  chantait  des  cantiques  dont  je  me 
souviens  encore:  „Salut,  e'toile  de  la  mer  ..."  ...  Tiens  de'esse,  quand 
je  me  rappeile  ces  chants,  mon  cceur  se  fond,  je  deviens  presque  apostat. 
Pardonne-moi  ce  ridicule;  tu  ne  peux  te  figurer  le  charme  que  les  magi- 
ciens  barbares  ont  mis  dans  ces  vers  et  combien  il  m'en  coute  de  suivre 
la  raison  toute  nue  .  .  ." 

Par  le  symbolisme,  par  Renan  et  Taine,  il  apparut  donc  que 
l'art  litteraire  fran^ais  s'enhardissait  ä  reviser  et  peut-etre  ä  re- 
constituer  sa  contexture,  et  s'appliquait  ä  un  autre  equilibre,  ä 
d'autres  proportions   de   l'esprit  litteraire  et  de  l'esprit  politique. 

Mais  ces  aper^us  ne  s'imposerent  pas  tout  seuls,  loin  de  lä. 
Sources  voilees  et  ambigues,  sources  propices  ä  des  malentendus. 

De  Renan,  de  son  esprit  ä  la  fois  scientifique,  politique  et 
litteraire,  qu'est-il  derive?  11  est  derive  M.  Barres,  et  il  est  derive 
M.  Anatole  France.  11  est  derive  aussi,  sans  doute,  par  commu- 
nication  avec  le  naturalisme,  Emile  Zola. 

De  Taine  il  est  sorti  M.  Bourget,  cet  augure  ä  deux  visages, 
ce  Janus  qui,  pendant  la  premiere  moitie  de  sa  vie,  a  regarde 
l'avenir  ä  travers  un  monocle,  qui  passe  la  seconde  ä  regarder 
le  passe  ä  travers  une  loupe. 

M.  Barres,  M.  Anatole  France,  Emile  Zola?  Jouer  un  role 
politique  precis,  determine,  les  a  hantes.     Ils  s'y  sont  consacres 

480 


de  leur  mieux.  Qu'ils  ont  eu  de  mal,  toutefois,  les  deux  premiers 
surtout,  ä  adapter  ä  cette  mission  uniforme  les  rares  scrupules 
de  leur  esprit  litteraire  avide  et  susceptible !  M.  Barres  et  M.  Ana- 
tole  France  sont  forces  de  se  desobliger,  de  par  la  politique; 
mais  ils  ont  bien  des  mitoyennetes,  de  par  la  litterature.  Et  pour 
ceux  qui  les  etudient,  que  d'embarras.  On  en  est  ä  s'interroger 
pour  savoir  s'il  n'y  a  pas  en  somme  plus  d'aliment  meme  poli- 
tique dans  l'esprit  litteraire  de  M.  Barres  que  dans  l'esprit  poli- 
tique de  M.  France! 

Ce  qui  prit  racine  dans  le  symbolisme  ne  fut  pas  moins  de- 
concertant. 

On  Vit  surgir  du  symbolisme  des  ecrivains  ä  la  maniere  de 
M.  Henri  de  Regnier  qui,  poetes  altiers,  pencherent  peu  ä  peu, 
neanmoins,  ä  des  romans  presque  satiriques  dans  le  goüt  du 
XVIII^  siecle  et  non  exempts  de  l'espoir  de  resonner  sur  l'esprit 
public. 

II  en  germa  egalement  des  oeuvres  de  foi  comme  celle  de 
M.  Paul  Claudel,  tres  eloignees  de  l'action  sur  la  foule  par  leur 
qualite  litteraire,  mais  dont  l'insistance  tranchante  denonce  pour- 
tant  un  certain  appetit  de  proselytisme. 

Enfin,  d'autres  fils  du  symbolisme  eurent  le  sort  de  M.  Paul 
Adam  que  la  profusion  encyclopedique  a  envahi  et  qui  cepen- 
dant,  pour  s'en  servir  et  la  vulgariser,  a  peine  ä  surmonter  un 
esprit  litteraire  que  la  demonstration  toute  droite,  toute  claire  ne 
contente  point. 

Cette  fois,  vraiment,  on  ne  sait  que  penser.  L'imbroglio  de 
l'esprit  politique  et  de  l'esprii;  litteraire  semble  inextricable.  Aucune 
eclosion  imposante.  Les  ecrivains  se  perdent  dans  leur  labyrinthe 
interieur.  L'opinion  les  deprave  et  les  devoie  davantage.  Ils  lui 
fönt  des  concessions  de  politique  grossiere  ou  de  litterature  trop 
facile.  L'opinion,  qui  consomme  de  plus  en  plus  de  litterature  et 
aussi  de  politique,  et  dont  le  journalisme  est  devenu  l'aliment 
ordinaire,  prefere,  en  definitive,  ä  ces  tenebreux  tätonnements 
le  solide  et  nourrissant  partage  romantique:  ou  tout  ä  la  po- 
litique, ou  tout  ä  la  litterature.  Une  ä  une,  les  oeuvres  de  re- 
cherche  subtiles  sont  ensevelies  par  l'ombre. 

C'est  pour  cela,  je  pense,  que  les  ecrivains  plus  jeunes  et 
plus  pratiques,  ceux  de  vingt-cinq  ans,  ont  decidement  pris  en 

481 


horreur  l'unisson  plein  de  promesses  dont  les  symbolistes,  puis 
Renan  et  Taine,  puis  les  descendants  des  uns  et  des  autres  leur 
avaient  fourni  le  laborieux  exemple.  Ils  ont  voulu  revenir  ä  ce 
qu'ils  appellent  la  simplicite,  c'est-ä-dire  au  romantisme,  avec  son 
double  cours,  le  cours  de  litterature  exclusive,  romanesque  ou 
stylisee,  et  le  cours  de  litterature  purement  politique. 

Malheureusement,  cette  simplification,  eile  non  plus,  n'est 
plus  possible,  si  tant  est  que  Ton  veuille  se  targuer  de  quelque 
nouveaute.  Des  causes  profondes  interviennent  pour  s'y  opposer. 

La  vie  politique  s'accompagne,  desormais,  d'une  coutume 
positive,  au  jour  le  jour.  La  politique  acquiert  son  langage  ä 
eile,  langage  d'affaires  plutöt  que  d'idees.  Elle  ne  prete  plus  guere 
aux  propheties  orageuses  pour  lesquelles  les  litterateurs  lui  ont 
ete  de  si  puissants  auxiliaires.  La  politique  litteraire,  pour  tout 
dire,  se  meurt,  remplacee  par  la  science  sociale.  On  peut  donc 
dire  que  la  litterature  purement  politique  est  fermee  aux  ecrivai  ns 
Mais  la  litterature  exclusive  ne  Test  pas  moins  et  pour  les  me- 
mes  raisons.  Aussi  bien,  en  se  calmant,  en  prenant  une  tournure 
administrative,  peu  favorable  aux  bons  Offices  de  la  litterature, 
l'esprit  politique,  par  contre,  s'est  repandu;  il  est  entre  dans  les 
usages.  La  vie  politique,  la  vie  collective  fait  davantage  partie  de 
la  vie  de  chacun.  On  ne  peut  s'en  abstraire.  L'individualisme  des 
litterateurs  en  eprouve  l'invincible  attrait. 

Faute  de  perseverer  dans  les  avenues  percees  par  leurs  de- 
vanciers  immediats,  faute  egalement  de  pouvoir  retourner  ä  la 
simplicite  de  l'art  pour  l'art  ou  ä  celle  de  l'art  pour  la  politique, 
qu'ont-ils  donc  fait,  ces  jeunes  gens? 

Ils  ont  du  se  rabattre  sur  des  artifices;  ils  ont  du  renoncer 
ä  leur  naturel.  Cest  le  spectacle  auquel  nous  assistons. 

C'est  la  raison  de  tant  d'enquetes,  de  tant  de  manifestes,  de 
tant  d'ecoles  dont  le  bruit  etouffe  la  voix  et  deforme  la  signifi- 
cation  des  ouvrages. 

Dans  ses  donnees  reelles,  dans  ses  conditions  positives,  la 
politique  ne  suffit  plus  ä  employer  la  litterature?  Soit!  Qu'on 
forge,  alors,  une  politique  imaginaire,  plus  appropriee  aux  ampli- 
fications  litteraires.  Cette  politique  factice  ne  peut  etre  que  reac- 
tionnaire  pour  mieux  entretenir  la  melancolie,  le  romanesque  litte- 
raire ou  revolutionnaire,  pour  ramener  les  declamations  de  l'ideo- 

482 


logie.  De  lä  les  conversions  catholiques,  napoleoniennes  et  bour- 
boniennes  qui  fönt  explosion  de  toutes  parts,  de  lä  le  goüt  du 
patriotisme  chamarre  et  de  la  guerre,  de  lä  l'esperance  de  la 
revolution.  Revues  de  combat  royalistes,  socialistes,  anarchistes, 
levent  et  essaiment  sans  treve. 

De  meme,  la  litterature  pure  ne  suffit  plus  ä  des  esprits 
plonges  au  milieu  d'une  vie  politique  diffuse  qui  les  impregne? 
Soit!  Qu'on  forge  alors  une  litterature  enduite  de  faux-semblants 
politiques.  De  lä  la  litterature  dite  sociale  ou  scientifique  ou 
scientiste:  romans  sociaux,  etudes  sociales,  etudes  regionales, 
poemes  sociaux,  poemes  populaires,  poemes  scientifiques.  De  lä, 
aussi,  une  litterature  composee  de  raretes  psychologiques,  et  de 
pedantesques  arcanes,  litterature  individualiste  au  premier  chef  et 
qui  ne  differe  guere  ou  du  naturalisme  ou  du  parnasse,  surgeons 
derniers  du  romantisme,  mais  qui  s'escorte  de  tout  un  appareil 
critique,  de  declarations  ä  la  mode  politique,  destines  ä  faire 
Illusion,  ä  masquer  ses  exercices  surannes,  ä  la  montrer  bonne 
ä  une  action  et  accueillante  ä  la  foule.  Cette  parade,  toute  exte- 
rieure,  se  rehausse  de  noms  d'ecoles  retentissants :  unanimisme, 
paroxisme,  futurisme,  impulsionisme.  Pourvu  qu'on  donne  l'im- 
pression  de  former  masse  sur  le  dehors,  tous  les  subterfuges 
sont  bons;  les  denominations  anciennes,  elles-memes,  dans  ce 
but,  rajeunissent:  il  y  a  un  nouveau  traditionalisme,  et  un  nou- 
veau  classicisme.  On  a,  par  suite  du  meme  travers,  la  manie  de 
parier  sans  cesse  de  la  vie,  de  s'autoriser  uniquement  de  la  vie, 
de  mettre  ce  mot  partout,  d'agrafer  ce  mirage  rassurant  de  poli- 
tique ä  l'entree  de  tous  les  livres. 

Et  cet  ensemble  de  ruses  litteraires  fait  un  tapage  heroique: 
on  nous  affirme  que  c'est  une  renaissance. 

Non.cen'est  pas  encore  une  renaissance.  Comme  vous  l'avez 
pu  voir,  c'est  meme  une  regression  reiativement  au  symbolisme  et 
aux  Oeuvres  du  meme  temps.  Et  est-ce  davantage  une  renaissance 
que  les  imitations  de  Tolstoi",  d'Ibsen,  de  Whitmann  qui  soutien- 
nent  et  sustentent  ces  tentatives  embarrassees? 

Mais  si  la  renaissance  est  retardee,  eile  n'en  couve  pas 
moins.  C'est  de  la  sentir  couver  qui  repand,  en  depit  des  Haines 
et  des  expedients,  tant  de  confiance,  tant  d'amour  dans  les  lettres, 

483 


ä  l'heure  actuelle,  et  qui  rend  belles  des  solitudes  obscures  et 
qui  les  rend  patientes. 

Quand  on  a  vu  six  siecles  de  politique  recluse  former  une 
litterature  emplie  de  lucidite  politique,  et  par  lä  preparer  une  vie 
politique  ouverte  ä  laquelle  la  litterature,  ensuite,  s'est  sacrifiee, 
quand  on  a  constate  un  aussi  parfait  enchainement,  quand  on 
s'est  persuade  que,  gräce  ä  ce  jeu  de  balance  continuel  entre  les 
lettres  et  la  politique,  jamais,  en  France,  l'exercice  de  la  liberte 
d'esprit  n'a  cesse,  et  que,  pour  cela,  le  peuple  de  France  s'est 
le  mieux  assoupli  ä  la  vie  politique  et  ä  la  vie  individuelle,  tout 
ensemble,  comment  douterait-on  que  des  satietes  et  des  sursauts 
qui  marquent  les  debuts  du  XX^  siecle,  ne  dussent  resulter  une 
Harmonie,  une  bienfaisance  nouvelles? 

Peut-etre,  detournee  de  la  politique  nationale  assise  ä  present 
et  specialisee,  la  litterature  fran^aise  va-t-elle,  au  gre  de  ses  insi- 
nuations  espiegles  et  inquietes  dont  le  charme,  les  symbolistes 
et  Renan  l'ont  prouve,  n'est  pas  perdu,  aborder  le  domaine  en- 
core  neuf  de  l'esprit  politique  international,  et  tendre  de  ce  cöte 
des  previsions  seduisantes? 

Elle  a  parcouru  dejä  par  trois  fois  et  avec  aisance  la  courbe 
que  M.  Bovet  a  si  lumineusement  demelee  et  dessinee.  Par  trois 
fois  eile  a  gravi  le  lyrisme,  chemine  l'epopee,  surmonte  les  ca- 
hots  du  drame. 

Tous  les  symptömes  s'accordent  ä  nous  annoncer  un  nou- 
veau  depart,  au  profit  d'un  esprit  politique  encore  plus  vaste, 
encore  plus  universel.  Les  troupes  s'assemblent;  le  rendez-vous 
est  tumultueux.  Le  carrefour  est  encombre  de  vanites.  Mais 
l'ordre  viendra,  l'ordre  et  l'elan,  avec  leur  gräce  mesuree,  et 
leur  modestie  qu'anime  un  songe  desinvolte  et  obstine. 

PARIS  HENRI  HERTZ 


DOD 


484 


DIE  URSPRÜNGE  DER  POESIE 

(Schluss) 

Erst  durch  die  Indische  Altertumskunde  von  Lassen,  deren 
erster  Band  1844  erschien,  kam  dieses  hohe  Alter  des  Rigveda 
zum  allgemeinen  Bewusstsein,  und  Müllenhoff,  der  noch  1845 
in  'seinen  „Märchen,  Sagen,  etc.,  aus  Schleswig-Holstein"  nur 
schüchtern  die  niederdeutschen  Balladen  mit  den  Homerischen 
Hymnen  verglichen  hatte,  wies  nun  1847  in  seinem  für  unsere 
moderne  Auffassung  grundlegenden  Universitätsprogramm  De  an- 
tiquissima  poesia  chorica  auf  diese  älteste  Urkunde  hin.  Anti- 
qucsslmum  enim  omnium  poesis  genus  haud  düble  illud  est, 
quod  choricum  dicitur,  eine  Gattung,  die  die  elementa  ei  initia 
der  epischen,  lyrischen  und  dramatischen  Dichtkunst  in  sich  be- 
griffe, aus  der  diese  bei  den  Indern,  Griechen  und  Germanen 
quasi  e  communi  radice  efflorescerent.  Er  verweist  dann  auf  den 
germanischen  Ausdruck  leich  als  Bezeichnung  für  diese  älteste 
Dichtgattung  und  sieht  als  ihren  ältesten  Stoff  den  Mythus  an, 
der  nicht  durch  einzelne  Sänger  besungen,  sondern  an  den  Festen 
der  Götter  in  Liedern  gefeiert  wurde,  die  zugleich  cantata  et  acta 
sunt.  Vor  dem  vierten  oder  fünften  Jahrhundert  habe  es  keine 
eigentlich  epische  Poesie  gegeben,  das  Zeugnis  über  Arminius 
wird  weggedeutet.  Die  Art  der  chorischen  Betätigung  ist  dreifach : 
pompa,  saltatio  et  ludus,  von  denen  die  pompa  die  älteste  und 
einfachste  gewesen  sei.  Aus  diesem  feierlichen  Schreiten  erklärt 
er  dann  später  in  seiner  Schrift  De  carmine  Wessofontano  im 
Jahre  1861  den  Viervierteltakt  der  indogermanischen  Metrik,  im 
selben  Jahre,  als  Westphal  im  neunten  Bande  der  Kuhnschen 
Zeitschrift  dieselbe  auf  andern  Grundlagen  rekonstruieren  wollte. 
Indem  Müllenhoff  in  der  religiösen  Lyrik  das  älteste  Erzeugnis 
menschlicher  Dichtkunst  zu  finden  glaubte,  ist  er  auf  großen  Um- 
wegen zu  der  alten  Lowthschen  Theorie  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts zurückgekehrt.  Richtig  fasst  Scherer  ^)  in  seiner  Ge- 
dächtnisrede auf  Müllenhoff  den  Inhalt  von  dessen  beiden  ge- 
nannten Schriften  dahin  zusammen, 


^)  Kleine  Schriften  zur  altdeutschen  Philologie.  Berlin  1893.  S.  140. 

485 


,  .  .  dass  die  älteste  germanische  Poesie  im  Wesentlichen  strophischer 
Chorgesang  gewesen  sei  und  die  Keime  der  epischen,  der  lyrischen  und 
der  dramatischen  Dichtung  unentwickelt,  aber  entwicklungsfähig  in  sich 
enthalten  habe.  Er  zeigte,  wie  hieraus  eine  gemischte  Form,  Prosa  mit  ein- 
gefügten Versen  und  zuletzt  das  Epos  mit  fortlaufenden,  nicht  strophisch 
gegliederten  Langzeilen  hervorging. 

Die  größte  Verbreitung  und  eine  direkte  Wirkung  auf  die 
Entwicklung  der  Kunst  haben  nun  diese  Theorien  durch  einen 
germanistisch  immer  stark  interessierten  großen  Künstler,  Richard 
Wagner,  gefunden.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  er  die 
Müllenhoffschen  Aufsätze  gekannt  hat.  Bereits  in  einigen,  wohl 
dem  Jahre  1849  zuzuschreibenden  Aufzeichnungen i)  schreibt  er: 

Das  natürliche  Kunstwerk  wuchs  aus  dem  Tanze  und  der  Musik  ver- 
möge der  Sprache  bis  zum  Drama  .  .  .  Nach  der  Trennung  der  Künste 
kommen  wir  schließlich  zu  dem  Resultat,  dass  zum  Beispiel  ein  Literat 
ein  Schauspiel  schreibt  und  über  den  Schauspieler  disponiert  wie  über  ein 
Werkzeug,  wie  der  Bildhauer  über  den  Ton  und  Stein  .  .  .  Jedes  will  alles 
für  sich  allein.  L  Die  menschliche  Kunst:  Tanz,  Musik,  Dichtkunst,  ihre 
Untrennbarkeit.  Wachstum  der  einen  aus  der  andern,  dennoch  Gleichzeitig- 
keit, Gleichdenkbarkeit  aller,  am  frühesten  vereint  in  der  Lyrik:  am  ver- 
ständlichsten im  Drama  .  .  .  Hilfsmittel  des  Dramas:  Architektur  (Deko- 
ration), Bildhauerei,  Malerei  .  .  .  Trennung  der  Kunstelemente,  egoistische 
Entwicklung  derselben  .  .  .  Die  Musik  auf  der  Grenzscheide  zwischen 
Tanz  und  Sprache,  Empfindung  und  Gedanke:  sie  vermittelt  beide  in  der 
antiken  Lyrik,  wo  das  Lied,  das  gesungene  Wort  zugleich  den  Tanz  be- 
feuerte und  Maß  gab.  Tanz  und  Lied,  Rhythmus  und  Melodie:  so  steht  sie 
verbindend  und  zugleich  abhängig  zwischen  den  äußersten  Fähigkeiten  des 
Menschen,  der  sinnlichen  Empfindung  und  dem  geistigen  Denken.  Das  Meer 
trennt  und  verbindet:  so  die  Musik. 

Jede  Einzelkunst  kann  heute  nichts  Neues  mehr  erfinden,  und  zwar 
nicht  nur  die  bildende  Kunst  allein,  sondern  die  Tanzkunst,  Instrumental- 
kunst und  Dichtkunst  nicht  minder.  Nun  haben  sie  alle  ihre  höchste  Fähig- 
keit entwickelt,  um  im  Gesamtkunstwerk,  im  Drama,  stets  neu  wieder  er- 
finden zu  können. 

Dieses  Gesamtkunstwerk  Wagners  steht  in  einem  gewissen, 
losen  Zusammenhang  mit  dem,  was  den  Romantikern  als  eine 
Art  Ideal  vorschwebte^).  Man  mag  dabei  schon  an  das  Gesell- 
schaftsspiel in  den  Wahlverwandtschaften  erinnern,  in  dem  Luciane 
mit  Musikbegleitung  tanzend  auftritt,  während  zugleich  der  Archi- 
tekt ein  Grabmal  zeichnen  muss,  ein  Spiel,  das  Mörike  in  seinem 
Nolten  nachgeahmt  hat,  es  ausdrücklich  als  ein  Spiel  bezeichnend, 

')  Sämtliche  Schriften  und  Dichtungen.    XII,  263.  271. 
2)  Glöckner,  Studien  zur  romantischen  Psychologie  der  Musik.  Mün- 
chen 1909.  S.  26. 

486 


das  „drei  verschiedene  Künste  auf  sinnreiche  Weise  in  Verbindung 
brachte". 

1850  trat  Wagner  mit  seinen  Gedanken  im  Kunstwerk  der 
Zukunft^)  zum  erstenmal  an  die  Öffenth'chi<eit: 

Jene  drei  künstlerischen  Hauptfähigkeiten  (als  Leibes-,  Gefühls-  und 
Verstandesmensch)  haben  sich  zum  dreieinigen  Ausdrucke  menschlicher 
Kunst  unmittelbar  und  von  selbst  ausgebildet,  und  zwar  im  ursprünglichen, 
urentstandenen  Kunstwerke  der  Lyrik,  sowie  in  dessen  späterer,  bewusst- 
voller,  höchster  Vollendung,  dem  Drama.  Tanzkunst,  Tonkunst  und  Dicht- 
kunst heißen  die  urgebornen  Schwestern,  die  wir  sogleich  da  ihren  Reigen 
schlingen  sehen,  wo  die  Bedingungen  für  die  Erscheinungen  der  Kunst 
überhaupt  entstanden  waren.  Sie  sind  ihrem  Wesen  nach  untrennbar  ohne 
Auflösung  des  Reigens  der  Kunst;  denn  in  diesem  Reigen,  der  die  Bewegung 
der  Kunst  selbst  ist,  sind  sie  durch  schöne  Neigung  und  Liebe  sinnlich  und 
geistig  so  wundervoll  fest  und  lebenbedingend  in  einander  verschlungen, 
dass  jede  einzelne,  aus  dem  Reigen  losgelöst,  leben-  und  bewegungslos  nur 
ein  künstlich  angehauchtes,  erborgtes  Leben  noch  fortführen  kann,  nicht 
wie  im  Dreiverein  selige  Gesetze  gebend,  sondern  zwangvolle  Regeln  für 
mechanische  Bewegung  empfangend. 

Durch  den  Rhythmus  wird  der  Tanz  erst  zur  Kunst. 

Durch  dieses  aufrichtigste,  gegenseitige  Durchdringen,  Erzeugen  und 
Ergänzen  aus  sich  selbst  und  durch  einander  der  einzelnen  Künste  .  .  .  wird 
das  einige  Kunstwerk  der  Lyrik  geboren  ...  Im  Drama,  der  vollendetsten 
Gestalt  der  Lyrik,  entfaltet  jede  der  einzelnen  Künste  ihre  höchste  Fähigkeit. 

Auch  das  wirkliche  Volksepos  war  keineswegs  eine  etwa  nur  rezitierte 
Dichtung:  die  Gesänge  des  Homeros  ...  die  Bruchstücke  der  verloren 
gegangenen  Nibelungenlieder.  Ehe  diese  epischen  Gesänge  zum  Gegen- 
stande solcher  literarischen  Sorge  geworden  waren,  hatten  sie  aber  in  dem 
Volke,  durch  Stimme  und  Gebärde  unterstützt,  als  leiblich  dargestellte 
Kunstwerke  geblüht,  gleichsam  wie  verdichtete,  gefestigte,  lyrische  Gesangs- 
tänze, mit  vorherrschendem  Verweilen  bei  der  Schilderung  der  Handlung 
und  der  Wiederholung  heldenhafter  Dialoge.  Diese  episch-lyrischen  Dar- 
stellungen bilden  das  unverkennbare  Mittelglied  zwischen  der  eigentlich 
ältesten  Lyrik  und  der  Tragödie,  den  normalen  Übergangspunkt  von  jener 
zu  dieser. 

1851  kommt  Wagner  in  seinem  Werke  über  Oper  und 
Drama  wieder  auf  die  gleichen  Probleme  zu  sprechen  und  wieder 
1860  in  seinem  Briefe  über  Zukunftsmusik  2).  Am  schönsten 
und  eindringlichsten  sind  die  Ausführungen  an  letzter  Stelle,  wo 
er  auch  seinen  Begriff  der  „unendlichen  Melodie"  darlegt,  die  er 
nicht  mit  dem  alten  Rezitativ  identifiziert  wissen  will.  Aber  das 
Wesentliche  ist  schon  in  jenen  beiden  ersten  Schriften  gesagt. 


J)  a.  a.  O.  III,  67,  73,  75,  103  f. 

2)  a.  a.  O.  III,  236.  VII,  106,  126,  128  ff. 


487 


Mit  Wagner  will  ich  diesen  Überblick  über  die  Geschichte 
des  Problems  schließen.  Einzelförschungen  haben  ja  seither  viel 
verändert,  aber  die  Prinzipien  sind  durch  Müllenhoff  und  Wagner 
festgelegt  v^orden.  Es  ist  für  mich  die  Möglichkeit  vorhanden,  den 
heutigen  Stand  der  Wissenschaft,  allerdings  in  meiner  individu- 
ellen Auffassung,  klarzulegen. 


Des  Aristoteles  Poetik  hat  einseitig  nur  Epos  und  Drama 
ins  Auge  gefasst.  Der  große  Philosoph  erwähnt  wohl  die  lyri- 
schen Dichtungsarten,  kennt  aber  keinen  gemeinsamen  Namen 
für  sie  und  berücksichtigt  sie  nicht  in  der  Definition.  Auf  die 
Versuche  von  Batteux  und  Nachfolgern,  auch  die  Lyrik  unter  das 
Joch  seiner  Begriffsbestimmung  zu  beugen,  bin  ich  oben  zu  reden 
gekommen.  Sie  mussten  naturgemäß  misslingen.  Das  Richtige 
hat,  wie  erwähnt,  schon  Gottsched  gesehen.  Wir  können  Epos 
und  Drama  als  mimetische  Poesie  zusammenfassen  und  dieser 
innerhalb  der  Dichtkunst  die  Lyrik  entgegenstellen.  Ja,  wollten 
wir  die  Scheidung  in  begriffsstrenger,  unwirklicher  Weise  vollziehen, 
so  müssten  wir  von  zwei  verschiedenen  Künsten  sprechen:  denn 
als  mimetische  schließt  sich  die  episch-dramatische  den  bildenden 
Künsten  an,  während  die  Lyrik  zu  dem  entgegengesetzten  Pole 
unter  den  Künsten,  der  Musik,  strebt.  Die  bildenden  Künste  sind 
ihrer  Natur  nach  naturnachahmend,  visionär,  traumhaft,  apollinisch, 
die  Musik  gefühlbefreiend  und  anregend,  nicht  darstellend,  stofflos, 
rauschgeboren,  dionysisch.  Die  Poesie  liegt  mitten  inne  zwischen 
beiden  Extremen  und  nimmt  teil  an  beiden.  Sie  sinds  natürlich 
in  der  wirklichen  Ausführung  nicht  so  wie  in  der  schematisierenden 
Definition.  Ohne  dionysische  Selbstbefreiung  der  Persönlichkeit 
bleibt  das  Produkt  der  bildenden  Kunst  ein  Wachsfigurenkabinet, 
ja  es  gibt  Zeiten,  in  denen  dieses  dionysische  Element  auch  von 
bildenden  Künstlern  einseitig  betont  wird,  und  ich  erinnere  mich 
selbst  an  das  kühne  Wort  eines  bedeutenden  Malers:  „Was  hat 
die  Kunst  mit  der  Natur  zu  tun?"  Ja,  man  hat  mit  Recht  darauf 
hingewiesen,  dass  neben  oder  sogar  vor  diesem  einfach  natur- 
nachahmenden Streben  sich  ein  anderes  naturüberwindendes  geltend 
mache,  das  die  übermächtig  eindringende,  gefürchtete  Naturgegen- 
ständlichkeit dem  Menschen  zu  unterwerfen  sucht  in  Ornamen- 

488 


tierung  und  Stilisierung  i).  Jedenfalls  hat  man  mit  Recht  darauf 
hingewiesen,  dass  es  sich  in  diesen  Fällen  nicht  immer  und  nicht 
durchaus  um  ein  geringeres  Kunstkönnen,  sondern  vielfach  um 
ein  anders  gerichtetes  Kunstwollen  handelt^).  Nicht  immer  und 
nicht  durchaus:  nur  in  dieser  Einschränkung  werden  wir  allerdings 
den  Satz  gelten  lassen.  Denn  über  beiden,  dem  Wollen  und  dem 
Können,  steht  doch  das  Müssen,  und  wie  der  Mensch  auf  ein 
solches  Kunstmüssen  reagiert,  wird  doch  von  seiner  innerlichen 
Konstitution  wie  von  seiner  Fähigkeit,  ihr  Ausdruck  zu  verleihen, 
abhangen.  Seit  Goethe  uns  den  Begriff  der  Befreiung  durch  die 
Kunst  geläufig  gemacht  hat,  sehen  wir  darin  die  Wohltat  aller 
Kunst:  die  von  außen  auf  uns  übermächtig  eindringende  Natur, 
wie  die  von  innen  unser  Herz  zu  sprengen  drohenden  Gefühle 
werden  durch  sie  überwunden,  die  äußern  Geschehnisse  durch 
bildnerische  oder  episch-dramatische  Nachahmung,  die  Innern 
durch  Aussprechen  der  Gefühle.  Sie  können  in  Worten  und  Tönen, 
sie  können  auch  durch  Gebärden,  vielleicht  auch  durch  Zeichnung 
überwunden  werden;  denn  als  solche  in  Zeichnung  konkreszierte 
Ausdrucksbewegungen  müssen  wir  jenes  Ornament  auffassen,  das 
nicht  in  letzter  Linie  auf  Naturnachahmung  zurückgeht.  Dass 
aber  auch  die  Naturnachahmung  diese  befreiende  Wirkung  hat, 
das  ist  das  Dionysische  in  aller  bildenden  Kunst,  das  ist  das 
Lyrische,  was,  wie  Jean  Paul  richtig  gesehen  hat,  in  aller  Poesie 
steckt.  Und  dass  wir  heute  diesen  lyrischen  Bestandteil  besonders 
unserm  Werturteil  zugrunde  legen,  das  ist  ein  Ausfluss  der  in 
unserer  Zeit  auch  auf  andern  Gebieten  immer  steigenden  Persön- 
lichkeitsbewertung ^). 

Man  pflegt  gerade  in  letzter  Zeit  auch  von  apollinischer  und 
dionysischer  Musik  zu  sprechen.  Unter  der  ersten  versteht  man 
eine  Musik  von  geschlossenen  Formen  und  symmetrischem  Auf- 
bau, die  dem  Ornament  und  damit  der  bildenden  Kunst  näher 
zu  stehen  scheint.  Keine  große  Rolle  spielt  die  eigentlich  mime- 
tische, die  Programmusik.  Die  Musik  aus  der  Nachahmung  der 
Vogelstimmen  herzuleiten,  haben  wir  lange  aufgegeben.  Hingegen 

1)  Worringer,  Abstraktion  und  Einfühlung.  S.Auflage.  München  1911. 

2)  Worringer,  Formprobleme  der  Gothik.    München  1911. 

3)  H.  Gomperz,  Über  Persönlichkeitsbewertung.  Archiv  für  systemat. 
Philosophie  XV,  543  ff. 

489 


liegt  in  jeder  Instrumentalmusik  etwas  Mi  metisch  es;  denn  mag 
sie  auch  gleich  alt  sein  wie  die  Vokalmusik^),  die  menschliche 
Stimme  in  ihren  gefühlsbetonten  Äußerungen  ist  doch  älter  als 
beide.  Natürlich  aber  ist  dieses  Moment  unserem  Bewusstsein 
schon  lange  entschwunden. 

Ganz  anders,  sobald  sich  die  Musik  mit  dem  Wort  verbindet 
und  dadurch  fassbaren,  gedanklich  bestimmten  Inhalt  bekommt. 
Jede  Lyrik,  sobald  sie  sich  über  die  Jean  Paulschen  kleinsten 
Gedichte  von  Ausrufungszeichen  und  Gedankenstrich  erhebt,  ist 
stofflicher,  mimetischer  als  die  reine  Musik.  Und  von  dieser  kaum 
merklichen  Beimischung  mimetischen  Elements  bis  zur  deutlichen 
Einverleibung  des  gefühlsanregenden  Geschehnisses  in  epischer 
Erzählung  oder  dramatischer  Aktion  können  unendlich  viele  Stufen 
durchlaufen  werden.  Ja,  das  älteste  Drama  ist  nichts  anderes 
als  Chorlyrik  mit  Tanz  und  Aktion  verbunden.  Einseitig  ist  es, 
mit  Müllenhoff  und  Wagner  alle  Chorlyrik  auf  den  Tanz  und  die 
„heilige  Handlung"  zurückzuführen,  ebenso  wie  mit  Scherer  im 
erotischen  Tanz^)  oder  mit  den  neuesten  Psychoanalytikern  in 
„unausgelebten  sexuellen  Impulsen"^)  die  Keimzelle  aller  Poesie 
erblicken  zu  wollen.  Die  lyrisch  anregenden  Momente  auch  der 
Urzeit  sind  mannigfaltig  wie  das  Leben.  Auch  hat  Müllenhoff 
ausdrücklicher  als  Wagner  pompa,  saltaüo  und  ludus,  Marsch, 
Tanz  und  Spiel  unterschieden,  während  dieser  allzu  einseitig,  wenn 
er  im  Menuett  und  Scherzo  der  Symphonie  ihren  Urkeim  sehen 
will'^),  seinen  Blick  auf  den  Tanz  gerichtet  hält^).  Vor  allem  ist 
die  pompa,  der  Marsch,  als  gleichberechtigt  zu  betrachten,  und 
dazu  hat  Bücher^)  mit  Recht  noch  das  Arbeitslied  gestellt,  mag 
er  auch  seinerseits  übertreiben,  wenn  er  in  diesem  den  Ursprung 
aller  Dichtkunst  zu  finden  meint. 

Epischer  Inhalt  ist  schon  für  die  älteste  Chorlyrik  zuzugeben, 
weniger  für  die  einsame  Lyrik,   die   naturgemäß   selten   bezeugt, 


1)  G.  Adler,  Der  Stil  in  der  Musik.  I.  Leipzig  1911.  S.  57. 

2)  Poetik.    Berlin  1888.    S.  10,  86. 

3)  H.  Sperber,   Über  den  sexuellen  Ursprung  der  Sprache.  Imago  1. 
*)  a.  a.  ü.  VII,  126. 

5)  G.  Adler,  a.  a.  O.  167. 

^)  Arbeit  und  Rhythmus.  4.  Aufl.    Leipzig  1909. 


490 


doch  von  Burdach  ^)  mit  Recht  für  die  älteste  Zeit  angenommen 
wird,  epische  Mimesis  der  Taten  der  Götter  und  Helden,  Ver- 
storbener und  Lebender,  in  Preis-,  Spott-,  Hochzeits-  und  Toten- 
liedern, neben  rein  gefühlsmäßigen  Ergüssen  der  Freude  und  der 
Trauer,  der  Liebe  und  des  Hasses.  Solche  Balladen  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes  werden  wohl  noch  heute  auf  den  Färöer  und 
anderwärts  getanzt.  Ob  wir  aber  hierin  einen  Überrest  der  alten 
Chorlyrik  zu  erblicken  haben,  nicht  vielmehr  eine  Neuschöpfung, 
das  ist  mehr  als  fraglich,  da  uns  von  Chorlyrik  aus  der  ger- 
manischen Zeit  auch  kein  Restchen  überkommen  ist,  und  Sievers 2) 
gegen  Müllenhoff,  der  die  Form  unserer  Allitterationspoesie 
daraus  ableiten  wollte,  wohl  Recht  behalten  wird,  wenn  er  diese 
vielmehr  auf  das  Rezitativ  zurückführt.  Wenn  Heusler^)  gegen 
diese  Auffassung  die  Harfenbegleitung  anführt,  so  berücksichtigt 
er  nicht  alle  Möglichkeiten:  sie  kann  dem  Gesang  vorangegangen 
oder  gefolgt  sein,  sie  kann  mit  einzelnen  gezupften  Noten  nur  die 
Stäbe  gestützt  haben ;  aber  auch  für  ursprüngliche  primitive  Poly- 
phonie,  die  zwar  später  durch  die  Kirchenmusik  erdrückt  worden 
wäre,  lässt  sich  einiges  anführen*).  Ob,  nicht  in  den  Vers-, 
aber  in  den  Strophenformen  der  altnordischen  Poesie,  in  unsern 
Vierzeilern  und  Kinderliedern  nicht  doch  Nachklänge  jener  alten 
Chorlyrik  zu  finden  seien,  ist  immerhin  der  Erwägung  wert. 

Wenn  das  klassische  Altertum  „als  die  Urväter  und  Fackel- 
träger der  griechischen  Dichtung  Homer  und  Archilochus  auf  Bild- 
werken, Gemmen  usw.  neben  einander  stellt"^),  so  gibt  es  damit 
einer  Ahnung  der  Gleichaltrigkeit  der  epischen  und  lyrischen  Gat- 
tung Ausdruck.  Natürlich  steht  Homer  nicht  am  Anfang  der  Ent- 
wicklung: sein  Vers,  der  Hexameter  ist  ebensowenig  wie  der  Al- 
litterationsvers  der  germanischen  Poesie  aus  dem  lyrischen  Vers 
der  alten  Chorlyrik  hervorgegangen,  sondern  aus  dem  der  Rezi- 
tation.   Wallaschek^)  zeigt  uns,  dass  die  Form  der  von  einem 


^)  Das  volkstümliche  deutsche  Liebeslied.    Zeitschr.  f.  deut.  Altertum. 
XXVII,  343  ff. 

2)  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache    und   Literatur. 
XIII,  135  ff. 

3)  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst.    Leipzig,  1903.    S.  161,  163, 
*)  Hoops,  Reallexikon  der  germanischen  Altertumskunde.  I,  458. 
^)  Nietzsche,  Dir  Geburt  der  Tragödie.  Neue  Ausgabe.  S.  20. 

6)  Anfänge  der  Tonkunst.    S.  30,  49,  208,  213. 

491 


Rezitator  im  sanglich  erhöhten  Sprechton,  vom  Chor  durch  lyrischen 
Gesang  unterbrochenen  Erzählung  eine  bei  Naturvölkern  ungemein 
verbreitete  Art  und  Weise  des  Vortrags  ist: 

Die  Gesänge  (auf  den  Freundschaftsinseln)  zerfallen  in  zwei  Klassen, 
solche,  die  unserem  Rezitativ  ähnlich  sind,  andere  streng  im  Takt  und  mit 
einem  Text  in  Reimen. 

Sowohl  während  des  Rezitatives,  wo  jeder  Sänger  (der  Karok-India- 
ner)  unabhängig  von  dem  andern  die  Geister  anruft  als  in  dem  Choral 
hielten  sie  ausgezeichnet  Takt  .  .  .  Dasselbe  wird  von  den  Viard  oder 
Wiyot  (am  Eel-River)  behauptet.  Wir  finden  den  selben  monotonen  Ge- 
sang, einen  Chor,  dessen  Text  nichts  bedeutet,  während  der  Takt  merk- 
würdig gut  gehalten  wird. 

Ausdrücklich  erwähnt  wird  das  Rezitativ  von  Thomson.  Seine  Zanzi- 
bar-Träger  waren  aufgeweckte  Leute.  Sie  tanzten,  sangen  und  schlugen 
den  Takt  mit  den  Händen.  Daneben  gab  es  Rezitative  und  fröhliches  Jauch- 
zen. Guessfeldt  beschreibt  ein  Fest  zu  Nkondo,  das  aus  Tänzen,  rhythmi- 
schen Gesängen  und  Trommelschlag  bestand.  Während  dessen  erhob  sich 
zeitweise  ein  einzelner  Mann  und  improvisierte  einige  Zeilen,  worauf  der 
Chor  antwortete.  Die  geselligen  und  häuslichen  Lieder  der  Yoruben  und 
Borghus  sind  Rezitative  und  gerade  das  Gegenteil  der  öffentlichen  und 
Nationallieder.  Zu  Katafungi  (in  Westafrika)  hörte  Lander  die  Eingebore- 
nen singen:  „es  schien  etwas  sehr  Komisches  zu  sein,  in  Form  eines  Rezi- 
tativs, und  sie  hielten  Takt,  indem  sie  in  die  Hände  klatschten."  Die  Malayen 
auf  Sumatra  .  .  .  bringen  ihre  Mußestunden  mit  Gesängen  zu  .  .  .  sie 
sind  eine  Art  Rezitativ,  das  bei  ihren  Festen  produziert  wird,  andere  wer- 
den extempore  vorgetragen.  Solche  Extempore-Vorträge  einzelner  Sänger 
kommen  wiederholt  während  einer  Pause  des  streng  taktmäßigen  Chor- 
gesanges vor,  mit  dem  sie  abwechseln. 

Bei  den  Indianern  Nordamerikas  hat  Baker  an  zahlreichen  Musikbei- 
spielen die  Existenz  zweier  verschiedener  Formen  der  Musik  nachgewiesen, 
des  Rezitativs  und  des  taktmäßigen  Chorgesangs. 

Diese  Form  der  durch  lyrischen  Gesang  unterbrochenen  Er- 
zählung ist  auch  noch  im  Mittelalter  die  herschende  Form  der 
irischen  Erzählung  gewesen,  sie  hat  ihre  Parallelen  in  der  antiken 
Menippeischen  Satire,  deren  Vorbild  wir  wohl  die  Form  von 
Boethius  De  consolatlone  philosophiae  zu  danken  haben,  in 
isländischen  Sagas  und  französischer  Chantefable.  Sie  entwickelt 
sich  neu  in  provenzalischen  Troubadourbiographien,  die  die  Er- 
zählung des  Lebens  durch  die  Mitteilung  der  Lieder  unterbrechen, 
denen  sich  Dantes  Vita  nuova  und,  nicht  Prosa,  aber  ein  episches 
Versmaß  durch  die  Lieder  unterbrechend,  auch  der  Frauendienst 
des  Ulrich  von  Lichtenstein  anschließen.  Aber  auch  ein  Versroman 
mit  eingelegten  Liedern  wie  der  Guillaume  de  Dole  und  seine 
Nachfolger,  in  neuerer  Zeit  Scheffels  Trompeter,  Julius  Wolfs  Vers- 

492 


romane  e  tutti  quanti  gehören  hierher,  und  noch  mehr  natürh'ch 
Reisebeschreibungen  ä  la  Thümmei,  die  Prosaromane  mit  Liedern 
wie  Goethes  Wilhelm  Meister  und  die  der  Romantiker  i).  Die- 
selbe wohl  von  Irland  her  beeinflusste  Form  möchte  ich  für  die 
angelsächsischen  Elegien  annehmen,  deren  epische  Prosa  uns 
verloren  gegangen  wäre.  So  haben  der  Schreiber  der  Manessi- 
schen Handschrift  die  Gedichte  Ulrichs  aus  dessen  Frauen- 
dienst,  die  Schreiber  einzelner  Handschriften  des  „Triumphe 
des  Dames^'  die  metrischen  Partien  desselben  herausge- 
schrieben 2).  Denn  es  ist  doch  nicht  anzunehmen,  dass  diese 
angelsächsischen  Elegiendichter  uns  absichtlich  haben  Rätsel  auf- 
geben wollen.  Hingegen  bleiben  die  Rätsel  freilich  Rätsel,  aber 
ihre  Rätselhaftigkeit  wird  doch  erklärlich,  wenn  wir  das  Ausfallen 
eines  erzählenden  Prosatextes  vor  ihnen  annehmen,  der  sich  zu 
ihnen  verhalten  hätte  wie  etwa  die  nordischen  Prosatexte  zu  den 
umrahmten  Eddaliedern  oder  die  Sagas  zu  ihren  Lausavisur.  Der 
zentralen  Stellung,  die  die  irische  Poesie  zwischen  der  nordischen 
und  angelsächsischen  einnimmt,  entspricht  es,  wenn  wir  sie  als 
Quelle  dieser  Form  ansehen,  und  wirklich  wird  wohl  keinem  Un- 
befangenen die  Ähnlichkeit  der  Stimmung  entgehen,  die  zwischen 
diesen  angelsächsischen  Elegien  und  etwa  den  Totenklagen  der 
Derdriu,  der  Crede,  oder  denen  um  Ferdiad^)  oder  mit  den 
spätem  Ossianischen  Gesängen  besteht.  Und  auch  ein  dialogisches 
Gedicht  wie  der  Seefahrer  hat  seine  Analogien  in  den  zahlreichen 
in  die  Prosa  eingelegten  dialogischen  Gedichten  der  alten  Irländer. 
Aber  so  uralt  diese  gemischte  Form  auch  sein  mag,  ur- 
sprünglich ist  sie  gewiss  nicht.  Sie  ist  kombiniert  aus  der  Chor- 
lyrik und  der  zur  musikalischen  Rezitation  gesteigerten  Prosa, 
die  die  originärste  Form  für  die  Erzählung,  für  Sage,  Märchen  und 
Novelle  oder,  besser  gesagt,  Anekdote  gewesen  ist.  Billroth  ^)  hat 


1)  G.  Thurau,  Singen  und  Sagen.  Berlin  1912. 

2)  Brecht,  U.  v.  Lichtenstein  als  Lyriker.  Zeitschr.  f.  deutsch.  Alter- 
tum, 47,  1.  Julia  Kalbfleisch,  Le  triumphe  des  Dames  von  Oliver  de  la 
Marche,  Rostock  1901. 

3)  Thurneysen,  Sagen  aus  dem  alten  Irland.  Berlin  1901.  S.  17  ff., 
102  f.  Kuno  Meyer,  Selections  from  old  Irish  Poetry.  London  1911.  S.  17  f. 
63  ff.  Windisch,  Die  cltirische  Heldensage  Tain  bö  Cüalnge.  Leipzig  1905. 
S.  576  f. 

*)  Wer  ist  musikalisch?  Deutsche  Rundschau  1894.  S.  454  ff. 

493 


diese   Entstehung   des   Gesangs  aus   der  prosaischen   Rede  klar 
dargelegt : 

Und  doch  ist  meiner  Überzeugung  nach  der  Gesang  aus  der  Sprache 
hervorgegangen  .  .  .  Bei  sehr  lautem  Sprechen,  beim  öffentlichen  lauten 
Gebet  der  Priester  erwies  es  sich  als  besonders  wirksam  auf  die  Zuhörer, 
den  Stimmton  bald  zu  heben,  bald  zu  senken;  vielleicht  war  dies  anfangs 
nicht  beabsichtigt  und  ergab  sich  von  selbst  als  Folge  der  Anstrengung  und 
Ermüdung  der  Kehlkopfmuskeln  .  .  .  Stärkere  Betonung  ist  zugleich  un- 
absichtliche Tonerhöhung;  doch  geht  der  Vortragende  auch  oft  bewusst  in 
eine  höhere  Tonlage  über,  der  Redner  benutzt  absichtlich  verschiedene 
Tonhöhen ;  seine  Sprache  ist  neben  der  Klanggebärde  zugleich  Tonsprache. 
Beim  gewöhnlichen  Sprechen  bleiben  wir  etwa  innerhalb  einer  Quint;  beim 
erregten  Sprechen  benützen  wir  wohl  eine  Oktav  .  .  .  Von  einem  der- 
artigen pathethischen  Sprechen  bis  zum  halbsingenden  Rezitieren  ist  ein 
leicht  getaner  Schritt,  schließlich  ein  kaum  wahrnehmbarer  Übergang. 

Billroth  sucht  hier  den  Ursprung  der  Musik  überhaupt,  aber 
diese  ist  aus  zwei  getrennten  Quellgebieten  entsprungen:  auf  der 
einen  Seite  die  Chorlyrik,  dramatische  Aktion  und  Gefühlserguss 
vereinend,  vielfach  mit  epischem  Inhalt  gefüllt,  eng  mit  dem  Tanz 
verbunden,  Vokalmusik  leicht  durch  Instrumente  ablösend,  durch 
die  Verbindung  mit  dem  Tanz  von  vorneherein  nicht  nur  rhyth- 
misch, sondern  auch  taktisch  gegliedert.  Auf  der  andern  Seite 
das  Rezitativ,  leidenschaftlich  gesteigerte  und  dadurch  melodisch 
gewordene  Prosa,  seiner  Natur  nach  ataktisch,  der  Stammvater 
des  epischen  Liedes,  wie  die  Chorlyrik  die  der  Ballade,  mit  dieser 
zusammen  Bestandstück  der  spätem  großen  Epen^). 

Eine  besondere  Stellung  nimmt  der  Zauberspruch  ein-).  Er 
zerfällt  vielfach  in  eine  epische  Einleitung  und  in  die  eigentliche 
magische  Formel.  Die  Einleitung  hat  wohl  die  gewöhnliche  rezi- 
tativische Vortragsform:  feierlichen  Sprechgesang  hat  man's  ge- 
nannt. Die  magische  Formel  aber  zeigt  eine  uralte,  besondere 
Form  des  Vortrags,  das  Raunen,  den  Murmelgesang,  der  uns  da- 
für bei  verschiedenen  Völkern  bezeugt  ist.  Aus  der  epischen 
Einleitung  haben  sich  wenigstens  bei  den  Finnen,  vielleicht  auch 
anderwärts,   epische  Lieder  losgelöst;  der  zweite  Teil  gab  wohl 


1)  Vgl.  darüber  meinen  Vortrag  Die  Wiedergeburt  des  Epos  und  die 
Entstehung  des  neueren  Romans  in  Sprache  und  Dichtung.  11.  Tübingen  1910. 

2)  E.  Schröder,  Über  das  SPELL,  Zeitschr.  f.  deutsches  Altertum.  37, 
257  ff.  Sudhaus,  Lautes  und  leises  Beten.  Archiv  f.  Religionswissenschaft. 
IX,  197  ff.    Kauffmann,  ebenda  XI,  121. 

494 


den  anfangs  wahrscheinlich  prosaischen,  aber  ebenfalls  uralten 
didaktischen  Gattungen  des  Sprichworts  und  des  Rätsels  die 
rhythmische  Form. 

So  steht  hier  durchaus  nichts  Einfaches,  wie  man  so  gerne 
annehmen  möchte,  sondern  etwas  recht  Mannigfaltiges  am  Anfange 
der  Entwicklung,  ein  äußerst  komplizierter  Tatbestand,  den  wir  aus 
den  Überlieferungen  der  Naturvölker  auch  für  die  ursprüngliche 
Poesie  des  alten  Europa  erschließen  dürfen.  Unsere  heutige  Volks- 
poesie dürfen  wir  durchaus  nicht  zur  Rekonstruktion  dieses  Ur- 
zustandes verwenden,  weder  textlich  noch  musikalisch.  Sahen 
wir  doch,  dass  bereits  in  ältester  Zeit  uns  nur  Reste  der  auf  der 
rezitativischen  Poesie  basierenden  Allitterationsdichtung  überliefert 
sind,  während  wir  über  die  Natur  der  alten  Chorlyrik  in  Ermang- 
lung aller  überlieferten  Reste  auf  unsichere  historische  Nachrichten 
und  auf  Rückschlüsse  aus  der  Poesie  der  noch  existierenden 
Naturvölker  angewiesen  sind. 

Die  Urform  des  rezitativischen  germanischen  Verses  ist  der 
zweihebige  Kurzvers,  der  mit  einem  andern  durch  die  Allitteration 
gebunden  ist.  Die  Urform  des  keltischen  Gedichts  ist  die  vier- 
zeilige  Strophe  aus  katalektischen  trochäischen  Tetrametern  be- 
stehend, wohl  schon  vom  Lateinischen  her  beeinflusst,  da  sowohl 
das  bekannte  Soldatenlied  als  der  Hymnus  des  heiligen  Hilarius 
diese  Form  zeigt.  Eine  ältere,  originäre  Form,  die  Verwandtschaft 
mit  deutschen  allitterierenden  und  noch  mehr  mit  altlateinischen 
Versen  hat,  wie  sie  uns  der  alte  Cato  überliefert,  ist  im  ganzen 
selten  angewendet  worden.  Auch  hier  haben  wir  nichts  von  alter 
Chorlyrik,  auch  hier  ist  alles  Überlieferte  Einzelgesang;  abgesehen 
von  jenen  besprochenen  Einlagen  in  die  Prosaerzählungen,  soge- 
nannte Bardengesänge,  Preislieder  bei  Festlichkeiten  und  Toten- 
feiern. Wir  hören  wohl  etwas  über  die  musikalische  Begleitung 
dieser  Lieder  mit  der  Chrotta,  wie  von  der  germanischen  Allittera- 
tionspoesie  mit  der  Harfe,  über  die  Musik  selbst  aber  wissen  wir 
hüben  und  drüben  gar  nichts.  Gewiss  ist  schon  damals  getanzt 
worden,  aber  die  Musik  eines  mittelalterlichen  Tanzes  etwa  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  schlankweg  mit  diesen  verlorenen  volks- 
tümlichen Tänzen  zusammenzustellen  oder  darauf  zurückzuführen, 
halte  ich  für  unerlaubt.  Einen  Passus  aus  einem  Tanzleich  des 
wilden  Alexander  glaube   ich   als  Nachahmung  des  Salve  regina 

495 


zu  erkennen,  wie  Molitor  ^)  in  dem  Marschlied,  das  Walther  für  die 
Kreuzfahrer  gedichtet  hat,  Motive  aus  geistlichen  Gesängen  er- 
kennt. Wenn  die  fränkische  Credo-Weise  mit  einer  niederländi- 
schen Ballade  des  fünfzehnten  Jahrhunderts,  der  Advent-Hymnus 
Conditor  alme  siderum  mit  einem  niederdeutschen  Liede  Ähn- 
lichkeit zeigt"),  so  geht  die  Ballade  auf  die  Sequenz,  das  Lied  auf 
den  Hymnus  zurück,  nicht  umgekehrt.  Dass  in  der  weltlichen  Musik 
des  Mittelalters  wie  der  des  späteren  Volksliedes  ein  gut  Teil  vor- 
christlicher Musik  steckt,  ist  nicht  zu  leugnen,  aber  herausschälen 
lässt  sich  gar  nichts,  denn  christlich  beeinflusst  ist  alles,  musi- 
kalisch wie  textlich. 

Noch  weniger  als  von  der  Lyrik  der  Barbaren  im  Anfang 
des  Mittelalters  wissen  wir  von  der  lebendigen,  gesungenen  Poesie 
der  Kulturvölker  des  Altertums  um  dieselbe  Zeit.  Zwischen  der 
italienischen  und  neugriechischen  Lyrik  und  derjenigen  ihrer  antiken 
Vorfahren  klafft  ein  Spalt,  den  wir  auszufüllen  durchaus  nicht  in 
der  Lage  sind.  Die  heutigen  griechischen  Volkslieder  schließen 
sich  formal  und  in  ihrem  Geiste  an  die  Poesie  der  slawischen 
Nachbarn,  die  italienischen  trotz  aller  vom  vierzehnten  Jahrhundert 
an  auftretenden  Eigenart  an  die  der  übrigen  Romanen  an.  Stoff- 
lich finden  sich  hier  wie  vor  allem  in  den  Volksmärchen  aller- 
hand Berührungen  mit  der  Antike,  aber  formal  in  Text  und  Musik 
nicht  die  geringsten.  Was  der  italienische  oder  griechische  Bauer 
im  früheren  Mittelalter  sang,  wird  uns  wohl  immer  verborgen 
bleiben. 

BERN  S.  SINGER 


1)  Sammelbände  der  internationalen  Musikgesellschaft,  XII,  497. 

2)  A.  Thürlings,   Wie  entstehen  Kirchengesänge?    Sammelbände  der 
internationalen  Musikgesellschaft,  VIII,  476,  478. 


4:  .c-r. 


•^^ 


496 


WESEN  UND  BEDEUTUNG 
DER  NATURDENKMÄLER 

Seit  einer  Reihe  von  Jahren  hat  bei  uns  in  der  Schweiz  eine 
Bewegung  eingesetzt,  die  sich  in  kurzer  Zeit  die  Sympathie  man 
darf  wohl  sagen  aller  Kreise  erobert  hat:  die  Bestrebungen  zum 
Schutze  der  Natur  gegen  die  Übergriffe  des  Menschen. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  der  Mensch  ver- 
ändernd auf  die  ihn  umgebende  Urnatur  einwirkt  und  von  alters 
her  eingewirkt  hat.  Einige  Forscher  gehen  sogar  so  weit,  dass 
sie  auch  das  Aussterben  der  großen  diluvialen  Säugetiere  wie 
Mammut,  Rhinozeros,  Höhlenbär  und  Höhlenlöwe,  Wildpferd  und 
Rentier  dem  Menschen,  das  heißt  dem  Jäger  der  Steinzeit  zur 
Last  legen.  Von  vielen  andern  Vertretern  der  Tierwelt  wissen 
wir  direkt,  dass  sie  der  Raubgier  des  Kulturmenschen  zum  Opfer 
gefallen  sind,  und  es  steht  zu  befürchten,  dass  die  Liste  dieser 
unwiederbringlichen  Verluste  sich  noch  weiterhin  vermehren  werde. 
Nur  ein  Beispiel :  Vor  ungefähr  fünfzig  Jahren  noch  konnte  man 
in  den  Prärien  Nordamerikas  den  donnernden  Hufschlag  von 
Millionen  von  Büffeln  vernehmen;  1889  zählte  man  deren  nur 
noch  635  Stück;  heute  hofft  man  im  Yellowstone  National-Park 
die  letzten  Reste  der  Nachwelt  zu  erhalten. 

Wir  können  aber  unsere  Beispiele  auch  innerhalb  unserer 
Grenzen  finden:  wo  sind  der  Lämmergeier,  der  Steinbock,  der 
Bär?  Verschwunden,  oder  so  zurückgedrängt,  dass  ihr  völliges  Ein- 
gehen nur  eine  Frage  der  Zeit  sein  kann.  Aber  nicht  nur  die 
Tierwelt,  auch  die  Pflanzenwelt  hat  empfindliche  Verluste  zu  ver- 
zeichnen, alle  entstanden  durch  den  Menschen  und  seine  Kultur- 
arbeit. Hier  ist  es  zwar  weniger  der  Rückgang  einzelner  Arten, 
der  sich  in  augenfälliger  Weise  bemerkbar  macht,  als  besonders 
die  Einschränkung  und  Zerstörung  der  natürlichen  Pflanzen- 
gemeinschaften, die  in  ihrer  Gesamtheit  ja  das  natürliche  Land- 
schaftsbild ausmachen.  In  unserm  schweizerischen  Mittellande  sind 
nach  C.  Schröter  rund  3400  Torfmoore  verschwunden  und  in 
Kulturland  umgewandelt  worden.  Im  schweizerischen  Mittellande 
sind  nur  noch  ganz  vereinzelte  und  kleine  Strecken  mit  ursprüng- 
lichen Pflanzenbeständen  bedeckt.  Es  wären  hier  zu  nennen:  die 

497 


wilden,  sich  selbst  überlassenen  Kiesböden  der  Flüsse  mit  dem 
wirren  Buschwerk;  bewaldete,  schwer  zugängliche  Schluchten  und 
Felsgebiete ;  einige  wenige  Torfmoore,  die  noch  nicht  ausgebeutet 
worden  sind,  und  endlich  die  Naturufer  der  Seen.  Aber  auch  für 
diese  Gebiete  scheint  es  nur  eine  Frage  der  Zeit  zu  sein,  wie- 
lange sie  in  ihrer  Ursprünglichkeit  und  Natürlichkeit  belassen 
werden.  Es  muss  demnach  als  völlig  gerechtfertigt  erscheinen,  die 
noch  vorhandenen  Überreste  einer  Urnatur  vor  jedem  weitern 
Eingriff  zu  schützen.  Diese  Überreste  sollen  uns  gleichsam  als 
Dokumente  die  ursprüngliche  Natur  rekonstruieren  helfen;  es  ist 
unter  anderm  auch  für  sie  die  Bezeichnung  „Naturdenkmal"  in 
Anwendung  gekommen,  ein  Wort,  das  von  Alexander  von  Humboldt 
stammt,  heute  in  aller  Munde  geführt,  aber  nicht  von  Jedermann 
richtig  verstanden  wird.  Ich  möchte  deshalb  hier  dem  Wesen  und 
der  Bedeutung  dieser  sogenannten  Naturdenkmäler  etwas  näher 
treten. 

Es  ist  allbekannt,  dass  man  unter  Denkmal  ein  bildliches 
Erinnerungszeichen  versteht,  das  die  Nachwelt  zur  Ehrung  und 
zum  Angedenken  einer  ruhmreichen  Begebenheit  oder  bedeutender 
Persönlichkeiten  errichtet  hat.  Für  unsere  Betrachtung  von  größerer 
Bedeutung  sind  aber  Zusammensetzungen  wie  Kunstdenkmal 
oder  Kulturdenkmal.  Kunstdenkmäler  sind  künstlerisch  hervor- 
ragende Erzeugnisse  eines  früheren  Geschlechts,  die  in  unserer 
heutigen  Zeit  selber  als  Erinnerungszeichen  einer  frühern  Kunst- 
entwicklung dastehen.  Einem  Berner  kann  wohl  kein  treffenderes 
Beispiel  dieser  Art  genannt  werden  als  die  nun  in  so  glücklicher 
Weise  (?  D.  R.)  zur  Geltung  gebrachte  Fassade  des  alten  histo- 
rischen Museums.  —  Lehnen  wir  an  diesen  Begriff  den  des  Natur- 
denkmals an,  so  ergibt  sich  logischerweise,  dass  das  Wort  für 
solche  Naturobjekte  anzuwenden  ist,  die  in  Anbetracht  ihrer  Ver- 
gangenheit und  als  Zeugen  einer  früheren  Entwicklungsepoche 
der  besonderen  Beachtung  für  würdig  befunden  werden. 

Aus  dem  Gesagten  geht  wohl,  so  hoffe  ich,  eines  deutlich 
hervor  und  scheint  mir  vom  Denkmalbegriff  untrennbar  zu  sein, 
das  ist  das  historische,  oder  wenn  man  so  will  Erinnerungsmo- 
ment. Ein  Beispiel  mag  das  veranschaulichen.  Fast  über  die  ganze 
Fläche  unseres  schweizerischen  Mittellandes  verstreut  findet  man 
große  Gesteinsblöcke,    die   den  betreffenden    Örtlichkeiten  fremd 

498 


sind;  ich  meine  die  erratischen  Blöcke,  die  Findlinge.  Von  den 
Geologen  ist  der  sichere  Beweis  erbracht  worden,  dass  diese 
Blöcke  nur  von  einem  Gletscher  aus  dem  Alpengebiet  herab  ge- 
bracht werden  konnten,  und  so  erlaubt  uns  umgekehrt  jeder  Find- 
ling den  Rückschluss  auf  einstige  Anwesenheit  eines  Gletschers 
an  seinem  jetzigen  Standorte;  wir  können  sogar  aus  der  Ver- 
breitung der  Findlinge  auf  die  einstige  Ausdehnung  der  Ver- 
gletscherung schließen.  So  bezeugt  uns  jeder  Findling  die  Eiszeit, 
er  ist  für  uns  ein  Naturdenkmal  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes. 
Überdies  verkörpert  ein  solcher  erratischer  Block  wohl  in 
schönster  Weise  die  sinngemäße  Bedeutung  des  Wortes  Natur- 
denkmal: er  ist  an  sich  schon  von  monumentaler  Wirkung  und 
kann  auch  unserm  zweiten  und  wichtigsten  Postulat,  dem  histo- 
rischen Moment  Genüge  leisten;  denn  wir  müssen  uns  bei  sei- 
nem Anblick  in  jene  ferne  Zeit  zurückdenken,  da  der  größte  Teil 
unseres  Landes  unter  Eisströmen  begraben  lag.  Es  wird  denn 
auch  nicht  von  ungefähr  gewesen  sein,  dass  gerade  ein  solches 
Naturdenkmal,  ein  erratischer  Block  es  war,  der  —  wenigstens  bei 
uns  in  der  Schweiz  —  die  ganze  Naturdenkmalfrage  ins  Rollen 
brachte,  die  Pierre  des  Marmettes  bei  Monthey. 

Sehen  wir  nun  weiterhin  zu,  wie  sich  diese  auf  induktivem 
Wege  gewonnene  Begriffsfassung  zu  der  gebräuchlichen  dedukti- 
ven stellt. 

Nach  Conventz,  einem  der  bekanntesten  Führer  der  Natur- 
schutzbewegung in  Deutschland,  sind  Naturdenkmäler  „charakte- 
ristische Gebilde  der  heimatlichen  Natur,  vornehmlich  solche,  die 
sich  noch  an  ihrer  ursprünglichen  Stelle  befinden  und  von  Ein- 
griffen der  Kultur  nahezu  unberührt  geblieben  sind,  das  heißt 
Teile  der  Landschaft,  Gestaltungen  des  Erdbodens,  Pflanzen-  und 
Tiergemeinschaften,  wie  einzelne  Arten  und  Formen."  „Dieser 
Begriff",  so  bemerkt  er  weiter,  „ist  jedoch  nicht  von  unverän- 
derlicher Form,  sondern  variabel  nach  Zeit,  Örtlichkeit  und  andern 
Umständen." 

Die  Naturdenkmäler  aus  dem  Pflanzenreich  können  nach 
dieser  Begriffsbestimmung  entweder  Pflanzengemeinschaften  oder 
einzelne  Arten  und  Exemplare  sein. 

Als  Naturdenkmäler  der  ersten  Gruppe  werden  alle  ursprüng- 
lichen, unberührten,  auf  natürliche  Weise,  ohne  Zutun  des  Menschen 

499 


entstandenen  Pflanzengemeinschaften  betrachtet,  ferner  solche,  die 
durch  Schönheit  und  Großartigkeit  bemerkenswert,  oder  in  wissen- 
schaftlicher Beziehung  ausgezeichnet  sind. 

Zur  zweiten  Gruppe  gehören  gewisse  Einzelpflanzen,  die 
wegen  ihres  hohen  Alters,  ihrer  vollkommenen  Form,  ihrer  eigen- 
tümlichen Wuchsart  besondere  Beachtung  finden ;  dann  aber 
auch  Arten,  die  für  die  Wissenschaft  von  besonderer  Bedeu- 
tung sind. 

Nach  unserer  eigenen  Begriffsbestimmung  kämen  nun  bloß 
solche  Pflanzenarten  oder  Pflanzengemeinschaften  in  Frage,  die 
wegen  ihrer  Vergangenheit  unsere  Beachtung  verdienen.  Die  zweite 
Fassung  erwähnt  diesen  Punkt  nicht  oder  führt  ihn  höchstens 
unter  der  Bezeichnung  wissenschaftliche  Bedeutung  an.  Sie  legt 
mehr  Gewicht  auf  Ursprünglichkeit,  Alter,  Schönheit,  Wuchsform. 
Damit  aber  verlieren  meines  Erachtens  die  Naturobjekte  dieser 
zweiten  Art  die  Berechtigung,  als  Naturdenkmäler  bezeichnet  zu 
werden,  denn  mit  einem  Denkmalbegriff  ohne  historisches  Mo- 
ment kann  man  sich  schlechterdings  nicht  einverstanden  erklären. 
Soll  für  sie  absolut  ein  Name  in  Anwendung  kommen,  so  er- 
schiene mir  passender,  zu  sagen  Naturschützobjekt.  Das  soll 
durch  einige  Beispiele  deutlicher  werden. 

In  der  Nähe  von  Langnau  im  Emmental  steht  in  einem 
Walde  auf  der  Dürsrüti  eine  Gruppe  ganz  außerordentlich  schöner 
und  mächtiger  Weißtannen,  unter  dem  Namen  Dürsrütitannen 
weithin  als  die  größten  und  schönsten  ihrer  Art  bekannt.  Diese 
Tannen  wurden  nun  als  Naturdenkmäler  bezeichnet  und  man  hat 
bestimmt,  dass  ohne  Not  die  Axt  von  ihnen  fern  bleiben  soll. 
Wie  nun,  wenn  gerade  die  größten  und  schönsten  unter  diesen 
Tannen  zugrunde  gingen  —  und  wäre  es  auch  erst  nach  hundert 
Jahren  —  ließe  sich  das  mit  dem  Denkmalbegriff  vereinbaren? 
—  Oder  wenn  jener  Riese  unter  den  Eichbäumen,  die  Bettler- 
eiche im  Gwatt  bei  Thun,  dem  Sturm  oder  gar  der  Axt  zum  Opfer 
fiele;  wäre  da  die  Welt  um  ein  unwiederbringliches  Naturdenk- 
mal oder  bloß  um  einen  großen,  schönen  Eichbaum  ärmer? 
Der  Verlust  dieser  Eiche  wie  der  Dürsrütitannen  würde  an  unsern 
Ansichten  über  Natur  und  Vorkommen  dieser  Baumarten  kaum 
etwas  ändern;  sie  würden  nur  im  Landschaftsbilde  und  als  her- 
vorragende Beispiele  ihrer  Art  vermisst. 

500 


Diesen  zwei  Fällen,  die  meines  Erachtens  als  Naturschutz- 
objekte, nicht  als  Naturdenkmäler  zu  bezeichnen  sind,  stelle  ich 
ein  Beispiel  gegenüber,  welches  den  Titel  Naturdenkmal  mit  Fug 
und  Recht  führen  darf: 

In  einem  Walde  anderthalb  Stunden  nordöstlich  von  Baden 
im  Aargau  beim  Dorfe  Schneisingen  findet  sich  eine  Kolonie  der 
rostblättrigen  Alpenrose,  mitten  im  schweizerischen  Hügellande, 
in  nur  500  m  Meereshöhe,  30  bis  40  km  von  ihrem  heutigen 
Gebiet  in  den  Alpen  und  im  Jura  entfernt.  Diese  Alpenrosen 
darf  man  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  als  Pflanzen  auffassen, 
die  seit  der  Eiszeit  diesen  Standort  inne  gehabt  haben,  während 
ihre  Schwestern  alle  den  abschmelzenden  Gletschern  in  ihre  ur- 
sprüngliche Heimat,  die  Alpen,  wieder  nachgezogen  sind. 

Würde  diese  Fundstelle,  übrigens  nicht  die  einzige  ihrer  Art, 
aus  irgend  einem  Grunde  eingehen,  oder  wäre  sie  uns  überhaupt 
unbekannt,  so  wären  unsere  Anschauungen  über  die  Alpenflora 
während  der  Eiszeit  und  über  die  eiszeitliche  Flora  und  Vegeta- 
tion überhaupt  einer  wichtigen  Stütze  beraubt.  Die  Parallele  zum 
erratischen  Block  ist  hier  nahezu  vollständig.  Die  Möglichkeit 
aber,  dass  diese  Alpenrosen  eines  schönen  Tages  aus  natürlichen 
Ursachen  (hohes  Alter)  eingehen  werden,  ist  nicht  ohne  weiteres 
zuzugeben,  weil  immerhin  diese  Pflanzen,  besonders  unter  einem 
ihnen  zu  Teil  werdenden  Schutze,  sich  noch  vermehren  können. 
Für  diesen  abnormalen  Standort  bleibt  also  das  Vorkommen  der 
Alpenrose  voraussichtlich  auf  lange  Zeit  gesichert. 

Es  ist  also  ganz  ohne  Bedeutung,  ob  wir  die  Bezeichnung 
Naturdenkmal  für  alte  oder  junge  Exemplare,  für  solche  von 
hervorragender  Schönheit  oder  nur  für  Kümmerformen  anwen- 
den. Der  Begriff  gilt  eben  nicht  dem  Individuum,  sondern  der 
Art  als  solcher.  Anders  bei  den  Dürsrütitannen,  bei  der  Bettler- 
eiche. Deren  Nachkommen  werden  nicht  ohne  weiteres  auch 
Anspruch  auf  besondere  Beachtung  erheben  können,  es  sei  denn, 
dass  auch  sie  sich  durch  besondere  Größe  und  Schönheit  oder 
eigenartigen  Wuchs  auszeichneten. 

Wie  steht  es  nun  mit  den  seltenen  Arten?  Sind  sie  als 
richtige  Naturdenkmäler  aufzufassen  oder  nicht? 

Die  Antwort  wird  ganz  abhängig  sein  von  den  Ursachen, 
welche  das  seltene  Vorkommen  bedingen.    Ohne  hier  grundsätz- 

501 


lieh  auf  das  ganze  sehr  komplexe  Problem  der  Seltenheiten  ein- 
treten zu  wollen,  möchte  ich  die  in  Betracht  fallenden  Arten  zu 
zwei  großen  Gruppen  vereinigen.  Die  Arten  der  ersten  Gruppe  be- 
zeichnen wir  als  relative  Seltenheiten  und  meinen  damit,  dass  diese 
Arten  nur  für  ganz  bestimmte  Gegenden  als  Seltenheiten  anzu- 
sehen sind.  Dies  trifft  zu,  wenn  entweder  die  betreffende  Art  nur 
mit  der  Peripherie  ihres  Verbreitungsgebietes  in  die  zu  betrach- 
tende Gegend  fällt.  Ich  will  für  die  Verhältnisse  unseres  Hügel- 
landes etwa  an  die  stengellose  Schlüsselblume  (Primula  vulgaris) 
oder  an  die  weiße  oder  gemeine  Taubnessel  (Lamium  album) 
erinnern.  Oder  der  Mensch  mit  seiner  Kultur  hat  eine  Pflanzen- 
art nach  und  nach  bis  auf  wenige  vereinzelte  Exemplare  ver- 
drängt, wie  dies  stellenweise  für  viele  Orchideen,  für  Sumpf-  und 
Wasserpflanzen  nachzuweisen  ist. 

Zur  Gruppe  der  absoluten  Seltenheiten  zählen  einmal  die 
sogenannten  Relikte,  die  Überbleibsel  aus  einer  Zeit  mit  anderen 
klimatischen  Verhältnissen,  zu  denen  wohl  die  meisten  der  Alpen- 
pflanzen im  Tieflande  gehören  dürften  —  auch  die  Alpenrosen 
bei  Schneisingen.  Zum  andern  rechnen  wir  hieher  alle  jene  Arten, 
deren  Wohngebiete  durch  irgendwelche  geologische  Ereignisse  zu 
sogenannten  disjunkten  Arealen  zerstückelt  wurden,  wie  die  Zwerg- 
birke (Betula  nana),  der  Zwerghahnenfuss  (Ranunculus  pygmaeus) 
und  andere. 

Welches  nun  auch  die  Ursache  der  Seltenheit  sein  mag,  für 
uns  entsteht  daraus  auf  alle  Fälle  die  Pflicht,  jene  Arten  vor 
weiterem  Zurückgedrängtwerden  und  namentlich  vor  völligem 
Verschwinden  zu  schützen.  Wir  betrachten  sie  demnach  als  Natur- 
schutzobjekte. 

Wie  wir  gesehen  haben,  ist  aber  damit  die  Zugehörigkeit  zu 
den  Naturdenkmälern  noch  nicht  bedingt.  Es  können  dafür  nur 
jene  seltenen  Arten  in  Frage  kommen,  die  als  Zeugen  für  andere 
klimatische  und  geologische  Verhältnisse  während  einer  frühern, 
in  der  Regel  prähistorischen  Zeit  anzusehen  sind.  Nur  so  ist  dem 
historischen  Moment  Genüge  geleistet. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  alle  jene  Eigenschaften  zu- 
sammenfassen, die  wir  als  zum  Wesen  des  Naturdenkmals  ge- 
hörig angeführt  haben. 

502 


Als  Hauptbedingung  nannten  wir  das  historische  Moment, 
demzufolge  eine  Pflanze  oder  Pflanzengemeinschaft  unter  den 
heutigen  Verhältnissen  zu  einem  außergewöhnlichen  Vorkommnis 
wird.  Dann  muss  jedes  Naturdenkmal  eine  Seltenheit  sein,  nicht 
umgekehrt,  und  endlich  ist  es  nicht  das  Individuum  an  sich, 
dem  wir  jene  Bezeichnung  geben,  sondern  die  Art  als  solche, 
weil  nur  diese  etwas  Dauerndes  vorstellt. 

BERN  W.  RYTZ 


D  D  D 


DER  WEG  ZUM  AKT 

Dass  Aktzeichnungen,  wie  sie  in  Kunstschulen  zu  hunderten 
und  aber  hunderten  gefertigt  werden,  halbwegs  geratene  Abschriften 
der  Natur  sein  müssen,  an  denen  man  selten  gönnerhaft  aner- 
kennend, meistens  gründlich  gelangweilt  vorbeigeht,  das  ist  ein 
Irrtum,  von  dem  mich  die  Arbeiten  aus  der  Aktklasse  von  J.  Martin 
an  der  Genfer  Kunstschule  gründlich  geheilt  haben.  Ich  sah  da 
im  Musee  Rath  —  die  Ausstellung  ist  noch  bis  Ende  des  Monats 
geöffnet  —  ein  paar  Blätter,  die  schwerlich  einer  herausfinden 
würde,  wenn  man  sie  unter  anatomische  Studien  Lionardos  mengte, 
daneben  lebensgroße  Akte,  so  stilvoll  und  untadelig,  dass  man 
kaum  weiß,  womit  man  sie  vergleichen  soll.  Mein  Erstaunen 
erreichte  den  höchsten  Grad,  als  ich  erfuhr,  neunzehnjährige  Bur- 
schen hätten  all  das  ohne  einen  helfenden  Strich  des  Lehrers 
gemacht.  Das  unerwartet  schöne  Ziel  erweckte  meine  Neugier 
nach  dem  Weg,  auf  dem  es  erreicht  wurde,  und  ich  erkundigte 
mich  nach  dem  Gang  dieses  neuartigen  und  in  seinen  Ergebnissen 
so  altmeisterlichen  Unterrichts. 

Er  beginnt  nicht  mit  Dozieren  oder  Vorzeichnen,  sondern 
damit,  dass  der  Lehrer  sokratisch  von  den  Schülern  erfragt  (dieses 
Vorgehen  bleibt  stets  der  Kern  des  Unterrichts),  dass  die  Wirbel-' 
säule  der  Träger  aller  unserer  Bewegungen  ist.  Dann  wird  mit 
dem  einzelnen  Wirbel  begonnen,  aber  nicht  mit  einer  photogra- 
phischen Wiedergabe,  sondern  mit  einer  schematischen  Darstel- 
lung alles  dessen,   was  für  seine  Verrichtungen   unerlässlich  ist: 

503 


der  Knochen  wird  in  einen  Maschinenteil  übersetzt  und  mit  Sicht 
von  allen  Seiten,  auch  von  unten,  oben  und  schräg,  gezeichnet, 
bis  sich  der  Schüler  eine  sichere  räumliche  und  zweckbestimmte 
Vorstellung  durch  nachschöpferische  Tätigkeit  erworben  hat.  Das 
nämliche  geschieht  dann  mit  der  ganzen  Wirbelsäule,  mit  dem 
Brustkorb,  mit  dem  unglaublich  verwickelten  Becken,  die  alle 
„auswendig  gelernt"  werden;  hier  tritt  neben  die  Umrisslinie  die 
Beleuchtung,  die  der  Schüler  selbst  so  wählt,  wie  sie  ihm  passt, 
und  die  er  durch  Strichlagen  darstellt,  welche  der  natürlichen  Be- 
wegung der  Form  folgen.  In  gleicher  Weise  werden  dann  die 
Gliedmaßen  behandelt. 

So  dient  der  ganze  erste  Jahreskurs  der  Kenntnis  des 
Knochengerüstes.  Und  das  ist  keine  verlorene  Zeit.  Nicht  nur 
erwirbt  der  Schüler  eine  große  Geschicklichkeit  im  Zeichnen  und 
starkes  räumliches  Vorstellungsvermögen,  beherrscht  er  Ver- 
kürzungen, Schattenwirkung  und  Perspektive;  er  gewinnt  eine 
Einsicht  in  die  Folgerichtigkeit  des  Knochenbaues,  in  die  gegen- 
seitige Bedingtheit  aller  Bewegungen,  wie  sie  auf  anderm  Wege 
kaum  zu  erwerben  ist.  Nicht  auf  dem  Papier  ist  die  Haupt- 
leistung vollbracht  worden,  obwohl  die  flüssige  Art,  wie  später 
das  Skelett  mit  der  Feder  in  Aktskizzen  hineingeschrieben  wird, 
schon  als  äußere  Leistung  unvergleichlich  da  steht,  sondern  im 
Kopfe;  der  erzieherische  Hauptgewinn  ist  das  bewusste  Nach- 
schaffen eines  vom  Großen  bis  ins  Kleinste  zweckmäßigen  Baues. 

Im  nächsten  Jahr  werden  die  Knochen  mit  Muskeln  beklei- 
det, ein  jeder  mit  Unterstreichung  des  Zwecks,  dem  er  dienen 
soll,  hart  und  eckig  herausgearbeitet,  nicht  in  der  fasrigen  Art, 
wie  man  sie  in  Anatomielehrbüchern  findet.  Wird  dann  eine 
Antike  oder  eine  Figur  Michelangelos  lebensgroß  aus  ihrem  un- 
sichtbaren Feder-  und  Räderwerk  auf  dem  Papier  entwickelt,  so 
entsteht  durch  die  strenge  Bedingtheit  aller  Teile  und  durch  die 
Beschränkung  auf  das  Notwendige  ein  ganz  merkwürdiger  Ein- 
druck gebändigter  Größe.  Frei  aus  der  Erinnerung  muss  der 
Schüler  eine  solche  Figur  von  jeder  Seite,  auch  von  oben  dar- 
stellen und  die  vorbereitende  und  folgende  Bewegung  genau  no- 
tieren können,  muss  die  Figur  in  Kompositionen  zeigen,  wo  sie 
mit  Gleichgewichtswerten  zu  wirken  hat.  Das  innerlich  Schauen, 
nicht  das  bloße  Anschauen  bleibt  das  Ziel. 

504 


DER  WEG  ZUM  AKT 

Anatomische  Zergliederung  nach  einer  Zeichnung  Raffaeis. 
(aus  der  Oberklasse). 


DER  WEG  ZUM  AKT 

Zeichnung  nach  dem  Modell,  vor  der  Vollendung. 

In  der  Ecke  Verwendung  in  einer  Komposition  aus  dem  Gedächtnis. 

(aus  der  Oberklasse). 


Um  die  gleichmäßige  Durclibildung  des  Kunstwerl^es  anschau- 
lich zu  machen,  wird  die  gleiche  Figur  neben  einander  in  etwa 
zehn  Zuständen  dargestellt,  zuerst  wie  eine  grobe  Holzpuppe, 
deren  Oberfläche  dann  wie  durch  glatte  Messerschnitte  gleichmäßig 
in  immer  mehr  und  kleinere  Flächen  geteilt  wird,  bis  schließlich 
der  Akt  mit  all  seinen  Muskeln  herausgearbeitet  ist. 

Erst  das  dritte  Jahr  bringt  Studien  nach  dem  lebenden  Modell, 
und  hier  zeigt  sich  gleich  die  sicher  erworbene  Fähigkeit  der 
Schüler,  eine  ermüdende  Stellung  rasch  festzuhalten.  Sie  können 
auch  leicht  ein  ungeeignetes  Modell  so  übersetzen,  wie  es  der 
Zweck  des  Bildes  oder  Bildwerks  erfordert.  Und  dann  sind  bei 
diesen  Akten  alle  Teile,  auch  Hände  und  Füße,  die  man  ja  ge- 
wöhnlich nur  schlapp  andeutet,  mit  vollkommenem  Ausdruck 
wiedergegeben.  Und  keiner  schwimmt  unsicher  in  der  Luft. 

Um  dem  Schüler  klar  zu  machen,  was  ihn  von  alten  Meistern 
trennt,  wird  eine  Zeichnung,  zum  Beispiel  der  Mann,  der  einen 
auf  den  Schultern  trägt  aus  Raffaels  Borgobrand,  mit  der  gleichen 
Gruppe  verglichen,  die  der  Schüler  nach  dem  Modell  lebensgroß 
zeichnet;  so  lernt  er  begreifen,  was  beim  alten  Meister  verstandes- 
mäßig und  was  gefühlsmäßig  ist,  warum  Raffael  die  Stellung, 
seinen  eigenen  Standpunkt,  die  Beleuchtung  gewählt  hat,  alles  an 
Hand  einer  sorgfältigen  Zergliederung  mit  vielen  Skizzen.  Oder 
ein  Schüler  bringt  eine  eigene  Komposition  mit,  die  nun  dadurch  auf 
Herz  und  Nieren  geprüft  wird,  dass  man  die  einzelnen  Akte  nach 
dem  Modell  durchnimmt,  dass  man  das  Knochengerüst  hinein- 
zeichnet und  an  seiner  Hand  das  Gleichgewicht  der  Bewegungen, 
an  Hand  der  Muskeln  das  Gleichgewicht  der  Massen  überprüft. 
So  erwirbt  der  Schüler  in  drei  Jahren  mit  Sicherheit,  was  so 
mancher  in  einem  ganzen  Leben  gar  nicht  beherrschen  lernt. 

Bewunderte  ich  zuerst  die  Ergebnisse  dieser  Schulung,  so 
verehre  ich  nun  noch  mehr  ihren  folgerichtig  durchgebildeten 
Plan.  Denn  es  ist  eine  Schulung,  nichteine  Dressur;  alles  muss 
der  Schüler  aus  sich  selbst  entwickeln,  muss  den  gewiesenen 
Pfad  selber  wandern,  auf  die  Hülfe  des  Lehrers  früh  verzichten 
lernen.  Nicht  zeichnen,  verstehen  lernen  soll  er.  Das  gibt  diesen 
Akstudien  die  Kraft  von  Kunstwerken,  dass  Gedanken  dahinter 
stehen,  selbstgeprüfte  Gedanken,  die  eine  wohlerwogene  Einheit 
bilden.     Und  gerade  weil  dieses  Können   sich  aus   Gedanke  und 

505 


Gefühl,  nicht  aus  bloßer  Fertigkeit  herschreibt,  bewahrt  sich  jeder 
Schüler  seine  eigene  Art  und  Entwicklungsmöglichkeit. 

Der  Lehrer  J.  Martins,  der  Ähnliches,  wenn  auch  nicht  ganz 
so  folgerichtig,  erstrebte,  war  Barthelemy  Menn,  dessen  Name  als 
Hodlers  Meister  und  Führer  erst  seit  wenig  Jahren  bei  uns  be- 
kannt ist  und  über  dessen  gewaltigen  Einfluss  auf  die  Entwicklung 
unserer  Kunst  man  sich  noch  nicht  Rechenschaft  gegeben  hat. 
Wie  Menn  hat  Martin  nie  ausgestellt  und  ist  daher  fast  gar  nicht 
bekannt.  Die  geistige  Vaterschaft  Menns  berechtigt  aber  zu  dem 
Schlüsse,  dass  die  sichere  Methode  Martins  nicht  beim  Aktzeichnen 
stehen  bleibt,  sondern  folgerichtig  auf  das  Figurenmalen  und  selbst 
auf  die  Landschaft  auszubilden  ist.  Jedenfalls  haben  seine  Schüler, 
wohin  sie  sich  künftig  auch  wenden  mögen,  eine  Erweckung  er- 
lebt, die  ihnen  gestattet,  als  Herrscher  und  nicht  als  Sklaven  des 
Akts  zu  schaffen.  Auch  wenn  sie  sich  tektonischen  Künsten  zuwen- 
den sollten,  haben  sie  einen  so  hohen  Begriff  von  Organismus 
erhalten,  dass  sich  ihre  Erfindungsgabe  nie  aufs  Spielerische  und 
Oberflächliche  verirren  wird. 

Eins  fehlt  ja  vor  allem  unsern  jungen  Malern:  das  zur  figür- 
lichen Komposition  unerlässliche  Können.  Und  das  sollten  sie 
nicht  mehr  im  Ausland  suchen,  wo  sie  häufig  auf  ein  Rezept  ein- 
geschult werden.  In  Genf,  wo  ihnen  das  Museum  ungeahnte  Schätze 
bietet,  wo  Martin  dieses  tüchtige  Verfahren  für  das  Aktzeichnen 
eingeführt  hat,  wo  Gillard,nach  der  selben  Ausstellung  zu  schließen, 
vorzügliche  Anweisung  zur  Zergliederung  von  Meisterbildern  gibt, 
kann  sich  jeder  die  Grundlage  erwerben,  die  ihm  not  tut.  Wenn 
man  in  der  Schweiz  einen  entdeckt,  bei  dem  etwas  zu  lernen  ist, 
so  beeile  man  sich :  entdeckt  ihn  das  Ausland,  so  ist  es  zu  spät. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 

DDD 

L'ART  EN  BELGIQUE 

A  Bruxelles  comme  ä  Paris,  le  bon  for(;at  de  la  critique  ou  le  simple 
amateur  de  peinture,  qui  d'octobre  ä  juin  suittoutes  les  expositions,  eprouve 
une  Sorte  d'infinie  lassitude  au  moment  oü  le  printemps  s'epanouit,  dans 
les  jardins,  les  verdures,  au  coeur  frais  de  la  foret.  II  est  comme  hebete. 
II  a  des  yeux  pour  ne  plus  voir  et  des  oreiiles  pour  ne  plus  entendre, 
avec  ses  propres  lamentations,  que  les  reclamations  des  peintres  deman- 
dant  aux  directeurs  de  journaux  que  leur  critique  les  passe  en  revue.  Le 
pauvre  critique  gemit:  „Que  de  toilesl  que  d'huile!  que  d'huile"  ä  la  fa(;on 
du  marechal  Mac-Mahon  qui  ne  trouva  rien  de  mieux  ä  dire  devant  la 
mer  que  cette  profunde  parole :  „Que  d'eau !  que  d'eau !" 

506 


A  Bruxelles,  les  salons  se  succedent  toute  l'annee,  pour  ainsi  dire, 
Sans  Interruption ;  les  salles  d'expositions  s'y  multiplient.  C'est  une  ville  de 
peintres;  c'est  aussi  la  terre  benie  de  l'association,  des  „chochetes"  et  les 
„chochetes"  d'art,  comme  les  autres,  y  sont  legion.  Je  me  suis  laisse  dire 
que  M.  Ray  Nyst,  Tun  de  ceux  qui  longtemps  trainerent  le  beulet  du  cri- 
tique  d'un  salon  ä  l'autre,  s'est  amuse  ä  faire  le  denombrement  des  oeuvres 
exposees  ä  Bruxelles  en  l'espace  de  deux  ans.  II  est  arrive  ä  pres  de 
quarante  milLe.  C'est  effrayant!  Sans  doute,  faut-il  compter  lä-dedans 
non  seulement  des  peintures  et  des  sculptures,  mais  encore  des  des- 
sins,  des  gravures  qui  fönt  vite  nombre. 

II  est  vrai  aussi  qu'en  deux  ans,  certaines  toiles  repassent  bien  des 
fois  devant  les  yeux  du  critique,  allant  d'une  exposition  particuliere  ä  une 
exposition  de  cercle  pour  etre  transportees  ensuite  au  Salon,  participant 
ainsi  ä  une  sorte  de  cortege  de  la  Juive  de  la  peinture.  II  n'importe:  ce 
Chiffre  de  40,000  reste  coquet. 

Et  qu'on  n'oublie  pas  qu'ä  cöte  de  la  capitale,  il  y  a,  en  Belgique,  des 
centres  importants  oü  s'organisent  chaque  annee  des  expositions  qui  ne  le 
cedent,  ni  en  ampleur  ni  en  interet,  ä  celles  de  Bruxelles.  Des  societes 
comme  L'art  contemporain,  ä  Anvers,  VCEuvre  des  artistes,  ä  Liege,  la 
Societe  des  Beaux-Arts,  de  Gand  temoignent  ä  cet  egard  d'une  activite 
remarquable. 

» 
Pour  qui  n'est  pas  astreint  ä  une  critique  detaillee,  au  jour  le  jour, 
de  toute  la  production  picturale,  il  vaut  mieux  voir  ä  son  aise  ces  expo- 
sitions, en  se  laissant  guider  un  peu  par  ses  preferences.  Le  bilan,  ä 
la  fin  d'une  saison,  se  fait  plus  facilement.  Et  combien  souvent,  ä  ce  flä- 
neur  de  la  critique,  les  expositions  particulieres,  oü  le  temperament,  la  sen- 
sibilite  d'artistes  bien  doues  se  revele  sous  toutes  ses  faces,  paraissent 
plus  interessantes  que  les  grands  deballages  annuels  de  toile  peinte,  les 
„decrochez-moi-fa"  du  Grand  Palais  ou  du  Cinquantenaire! 

II  est  ä  Bruxelles,  depuis  quelque  temps,  une  salle  spacieuse,  claire, 
bien  moderne,  amenagee  avec  un  goüt  parfait  et  oü  l'on  a  pu  voir,  cet 
hiver,  quelques  expositions  de  cette  sorte:  c'est  la  Galerie  Georges  Giroux. 
Elle  abrita  d'abord  un  bei  ensemble  d'cEuvres  de  Kees  Van  Dongen,  le 
Hollandais  parisianise  qui  est  Tun  des  plus  puissants  coloristes  syntheti- 
ques  d'aujourd'hui.  Puis  ce  furent  les  dessinateurs  du  Simplicissimus, 
l'admirable  Journal  de  Münich. 

La  Serie  des  expositions  beiges  debuta  par  la  presentation  d'un  choix 
de  jeunes  peintres  d'avant-garde  parmi  lesquels  il  nous  plait  de  tirer  hors 
pairs  des  luministes  comme  Andre  Blandin,  evocateur  des  rues  de  Bruxelles 
et  F.  Verhaegen  qui  nous  restitue  dans  toute  leur  somptuosite,  dans  toute 
leur  animation  les  plus  celebres  fetes  masquees  de  Belgique  et  notamment 
le  Carnaval  de  Binche;  ou  bien  encore  un  artiste  comme  l'Ostendais  Spil- 
laert  dont  les  sobres  compositions  rappellent  un  peu  la  maniere  des  es- 
tampes  japonaises.  Des  expositions  particulieres  sesuccederent:  le  jeune  et 
fougueux  sculpteur  Rik  Wouters,  dont  les  danseuses  sont  animees  d'une 
ivresse  dionysiaque;  Marcel  Jefferys,  peintre  vibrant  de  foules,  de  fetes  pu- 
bliques,  de  rues  ensoleillees,  des  chantiers  formidables  oü  l'on  bouleverse 
Bruxelles,  evocateur  des  vieux sites  charmants  du  coeur  de  Paris;  Louis  The- 

507 


venet,  peintre  delicieusement  naif  d'interieurs  aux  couleurs  un  peu  fanees, 
pleins  de  choses  vieillottes,  sorte  de  Francis  Jammes  de  la  peinture; 
Georges  Lemmen  enfin,  qui,  dans  ses  exquis  portraits  d'enfants,  ses  fleurs, 
ses  Interieurs  et  natures  mortes,  ou  dans  ses  grandes  compositions,  (des 
jeunes  filles  nues,  soupies  et  gracieuses,  dans  de  radieux  paysages  de  la 
Cöte  d'Azur),  s'est  revele  Tun  des  plus  remarquables  peintres  de  l'heure 
presente.  Lemmen  a  herite  des  impressicnnistes  le  goüt  de  la  belle  couleur 
saine  et  franche,  le  souci  des  recherches  luministes.  11  rappelle  parfois 
Renoir  ou  Vuillard,  mais,  comme  un  Maurice  Denis,  un  Theo  van  Ryssel- 
berghe,  un  Albert  Andre,  il  allie  ä  ses  dons  de  coloriste  un  culte  de  la 
forme,  du  dessin  impeccable,  de  la  ligne  harmonieuse  qui  n'est  pas  le 
moindre  charme  de  son  art. 

Dans  le  meme  temps  qu'il  triomphait  ainsi  ä  la  salle  Giroux,  un  pay- 
sagiste  de  sa  generation,  M.  Edmond  Verstraeten,  clöturait  brillamment  la 
Serie  des  expositions  organisees  cet  hiver  au  Cercle  artistique  et  litteraire. 
M.  Verstraeten,  vit  toute  l'annee  au  coeur  du  pays  flamand,  ä  Waes- 
manster.  11  a  constamment  sous  les  yeux  Tun  des  paysages  les  plus  colo- 
res  de  la  terre,  soumis  aux  variations  d'un  des  ciels  les  plus  changeants.  II 
excelle  ä  rendre  le  ciel  vibrant  de  chaleur  de  l'ete,  la  tranquiile  splendeur 
de  la  campagne  „quand  l'air  est  brülant  et  que  pas  une  feuille  ne  bouge", 
ou  bien  encore  il  peint  amoureusement  les  verts  fraichement  laves  des  prai- 
ries,  des  luzernes  apres  l'orage,  les  ombres  bleues  et  violettes,  les  nuages 
aux  bords  argentes,  et  les  sapins  lourds  de  neige  de  l'hiver.  Edmond  Ver- 
straeten est  un  coloriste  ne,  de  la  lignee  de  Claus  et  de  Heymans.  Mais 
lui  aussi,  comme  Lemmen,  a  de  plus  en  plus  le  souci  de  la  forme,  d'un 
dessin  serre.  „La  peinture  impressionniste  n'a  exalte  jusqu'ici  que  la  lu- 
miere,  ecrit-il  dans  un  de  ses  carnets.  Pour  un  art  qui  se  sert  avant  tout 
de  la  couleur  comme  maniere  d'expression,  c'est  beaucoup  et  c'est  beau! 
N'oublions  pas  cependant,  que  la  forme  est  la  soeur  jumelle  de  la  couleur 
et  que  toutes  deux  ne  sont  que  les  servantes  de  l'artiste  createur.  Ceci 
n'a  pas  une  allure  tres  up  to  date,  je  m'en  rends  compte,  mais  c'est  une 
de  ces  verites  qui  traverseront  les  temps  actuels  comme  elles  en  ont  tra- 
verse  beaucoup  d'autres." 

Pour  moi,  ce  qui  me  frappe  et  me  seduit,  dans  l'CEuvre  dejä  consi- 
derable  de  ce  jeune  artiste,  dans  ses  radieuses  evocations  de  l'Edenie 
qu'est  pour  lui  sa  vallee  de  la  Durme,  c'est  qu'il  a  une  vue  d'ensemble, 
synthetique  et  comme  panoramique  du  paysage.  11  ne  se  contente  pas  de 
peindre  comme  tant  d'autres  le  petit  morceau  pittoresque,  le  coup  de  soleil 
sur  une  maisonnette  ou  un  bras  de  riviere. 


C'est  l'honneur  de  Bruxelles  d'avoir  organise  au  cours  de  ces  dix  dernieres 
annees  un  grand  nombre  d'expositions  retrospectives  importantes,  oü  une 
personnalite,  une  ecole,  une  epoque  furent  mises  en  pleine  lumiere.  Coup 
sur  coup,  nous  venons  d'en  voir  deux,  consacrees  ä  des  peintres  de  la  fin  du 
siecle  dernier,  dont  Tun  au  moins  apparaitra  de  plus  en  plus  comme  Tun 
des  novateurs  les  plus  originaux  de  son  temps.  C'est  Henri  Evenepoel  que 
nous  voulons  dire,  ä  qui  la  galerie  Giroux,  avec  le  concours  du  gouverne- 
ment  beige,  des  musees  de  Gand,  Liege,  Bruxelles  et  du  Luxembourg,  a 
rendu  un  hommage  eclatant  et  justifie.   Henri  Evenepoel  (1872 — 1899),  fau- 


508 


che,  comme  le  musicien  wallon  Guillaume  Leken,  par  une  mort  prematuree, 
fut  avec  Toulouse-Lautrec,  Steinlen,  Raffaeli  Fun  des  meilleurs  caracteristes 
qui  aient  rendu  les  sites  et  les  types  du  Paris  moderne,  oü  il  passa  la  plus 
grande  partie  de  sa  vie.  Des  pages  comme  VEspagnol  ä  Paris  (portrait 
du  peintre  Yturrino)  le  Dimanche  au  Bois  de  Boulogne,  la  Foire  des  In- 
valides, le  Moulin-Rouge  sont  ä  la  fois  d'une  verite,  d'un  pittoresque  et 
d'un  style,  d'une  ampleur  decorative  remarquables.  Evenepoel  (que  tous  les 
procedes:  la  peinture  ä  l'huile,  le  pastel,  l'eau-forte  en  couleurs,  etc.  ont 
tente)  a  laisse  aussi  de  delicieuses  Images  d'enfants  et  fut  un  maitre  por- 
traitiste,  dont  certaines  pages  rappellent  les  Alfred  Stevens  des  meilleurs 
jours,  un  orientaliste  dont  certains  paysages  de  Blidah  et  d'Alger  sont 
d'une  finesse  admirable. 

Le  principal  attrait  du  salon  du  Printemps,  qui  fut  visible  jusqu'ä  la 
fin  de  juin,  ä  Bruxelles,  residait  certes  dans  les  salles  consacrees  ä 
Jean  de  Greef  et  ä  Eugene  Smits.  Le  premier,  qui  mourut  en  1894,  est 
un  paysagiste  de  la  lignee  des  robustes  maitres  de  l'Ecole  de  Tervueren, 
notre  Barbizon  beige.  Ses  toiles  evoquant  des  sites  des  environs  de  Bruxel- 
les (Anderghem,  Forest,  Rouge- Clottre,  la  Foret  de  Soignes)  sont  certes 
d'une  peinture  bien  materielle,  bien  exterieure,  sans  envolee,  sans  grand 
style:  mais  quelle  probite!  quelle  verite!  sans  compter  qu'il  y  avait  en  de 
Greef  un  luministe  qui  fut  en  quelque  sorte  un  precurseur.  Quelques  ta- 
bleaux  bien  choisis  d'Eugene  Smits  resument  parfaitement  les  qualites  op- 
posees  du  vieux  maitre  mort  l'an  dernier,  son  idealisme,  la  gräce  et  la  dis- 
tinction  supreme  dont  11  sut  empreindre  la  moindre  de  ses  compositions. 
Parmi  les  peintres  etrangers  qui  exposerent  cette  annee  au  Salon  du  Prin- 
temps, citons:  M.  Joseph  de  Mehoffer,  de  Cracovie;  M.  Aman-Jean  qui  ex- 
posa:  Les  Elements,  grande  decoration  qu'il  a  congue  pour  une  salle  de  la 
Sorbonne  et  dont  le  dessin  parait  parfois  un  peu  lache;  M.  Andre  Dauchez, 
l'anglais  John  Lavery,  le  Hongrois  Lazio,  les  Espagnols  Andre  Sureda  et 
Valentin  de  Zubiaurre  dont  les  groupes  de  paysans  sont  si  expressifs. 

« 
Au  Musee  moderne,  apres  le  21e  salon  de  Pour  l'Art,  oü  triompherent 
surtout  les  sculpteurs  (Victor  Rousseau,  Pierre  Braecke,  Marnix  d'Haeve- 
loose,  etc.)  et  I'ecole  de  peinture  monumentale  (Emile  Fabry,  Ciamberlani, 
Langaskens  etc.),  la  Libre  Fsthetique  consacra  son  salon  aux  peintres  du 
Midi,  ä  ceux  qui  ont  interprete  les  feeries  de  la  Cöte  d'Azur,  les  sites  purs 
et  vastes  de  la  lumineuse  Provence  et  du  Roussillon.  11s  etaient  lä  tous, 
les  glorieux  maitres  de  l'impressionnisme  et  du  neo-impressionnisme,  et  les 
jeunes  peintres  audacieux  qui  sont  l'espoir  de  l'art  fran?ais  et  de  l'art 
beige  actuels:  Albert  Andre,  Louis  Bausil,  Pierre  Bonnard,  Eugene  Bondy, 
Simon  Bussy,  Camoin,  Cezanne,  Lucie  Cousturier,  H.  E.  Gross,  Maurice 
Denis,  Georges  d'Espagnat,  Fornerod,  Othon  Friesz,  Guillaumin,  Francis 
Jourdain,  Pierre  Laprade,  Alfred  Lombard,  Manguin,  Marquet,  Claude  Mo- 
net,  Georges  Morren,  Jean  Peske,  Auguste  Renoir,  Carlos  Reymond, 
K.  X.  Roussel,  Paul  Signac,  Valtat,  Van  den  Eeckhoudt,  Theo  van  Ryssel- 
berghe,  Vincent  van  Gogh  l'hallucinel 


Le  palais  des  Beaux-Arts  de  l'Exposition  universelle  de  Gand  a  ete 
inaugure  le  29  avril.  La  France  y  triomphe  haut  la  main.  Elle  a  fait  lä  un 

509 


effort  magnifique  qui  depasse  encorece  qu'elle  arealise  ä  Bruxelles  en  1910. 
M.  Andre  Saglio,  commissaire  permanent  du  gouvernement  fran^ais  qui  a 
sign^,  du  Pseudonyme  de  Dresa,  des  illustrations,  des  etoffes,  des  papiers 
peints,  des  decors  de  theätre  delicieux,  a  vise  avant  tout  ä  une  presenta- 
tion  oü  se  retrouvent  le  charme  et  le  goüt  traditionnel  de  la  France. 

Les  560  tolles,  les  gravures  et  sculptures  ont  ete  reunies  dans  une 
dizaine  de  salles  d'un  style  ä  la  fois  tres  moderne  et  tres  frangais.  Les 
tentures  de  la  grande  salle  oü  des  roses  se  fondent  exquisement  dans  des 
guirlandes  en  camaieu,  rappellent  les  toiles  de  Jouy.  Les  tentures  des  au- 
tres  salles  rappellent  certains  damas  Louis  XIV.  Les  boiseries  sombres  des 
portes  sont  en  acajou  massif,  de  meme  que  les  meubles  qui  ont  ete  des- 
sines,  executes  expressement  pourl'Exposition  de  Gand  et  dont  les  courbes 
harmonieuses  rappellent  Celles  de  chefs-d'oeuvres  de  I'ebenisterie  fran^aise. 
Sur  le  velum  tamisant  la  lumiere,  un  pochoir  discret:  et  c'est  encore  la 
rose  fran^aise  qui  a  servi  detheme  au  decorateur.  Apres  l'ordonnance  des 
salles  et  la  presentation  des  oeuvres,  il  faut  vanter  l'eclectisme  parfait  qui 
a  preside  au  choix  de  celle-ci:  toutes  les  tendances,  toutes  les  ecoles  sont 
representees.  Depuis  M.  Chabas,  M.  Bonnat  ou  M.  Etcheverry,  jusqu'ä 
Paul  Signac  et  Manzana-Pissaro,  depuis  les  „Artistes  fran^ais"  les  plus 
timores  jusqu'aux  Independants  les  plus  fougueux,  ils  y  sont  tous.  Comme 
dans  la  section  beige,  nombre  d'oeuvres  ont  ete  pretees  par  les  musees 
et  les  grandes  collections  particulieres.  II  y  a  un  Degas:  Repetitlon  de 
danse  qui  est  plus  etonnant  encore  que  les  fameuses  Danseuses  ä  la  barre 
vendues  recemment.  Dans  la  grande  salle,  nous  avons  revu  le  Vallotton 
allegorique  expose  pour  la  premiere  fois  il  y  a  deux  ans  au  Salon  d'au- 
tomne.  On  peut  ne  pas  aimer  la  couleur  de  ce  peintre,  mais  il  y  a  chez 
lui  une  teile  volonte,  des  visees  tellement  nobles  que  son  effort  merite  le 
respect. 

La  section  beige,  eile  aussi,  sera  un  succes.  On  a  voulu,  avec  raison, 
presenter  de  grands  ensembles  des  meilleurs  peintres  beiges,  en  emprun- 
tant  certaines  toiles  aux  Musees  de  Gand  et  de  Bruxelles.  Des  artistes 
comme  Eugene  Laermans,  Victor  Gilsoul,  Auguste  Oleffe  et  toute  TEcole 
gantoise  (Clans,  Baertsoen,  Willaert,  Georges  Buysse,  les  freres  de  Smet, 
Maurice  Sys,  Mmes  Jenny  Montigny  et  Anna  de  Weert,  le  grand  sculpteur 
Georges  Minne)  sont  admirablement  representes.  La  Hollande  et  l'Angle- 
terre  ont,  elles  aussi,  des  sections  speciales  mais  moins  importantes.  II  y 
a  enfin  une  section  internationale  oü  l'on  trouvera  notamment  des  toiles 
süperbes  des  Espagnols  Rusinol  et  Valentin  de  Zubiaurre. 

BRUXELLES  LOUIS  PIERARD 

DDO 

SCHAUSPIELABENDE 

Der  letzte  Schauspielmonat  der  Sommersaison  im  Pfauentheater,  der  Juni, 
brachte  noch  zwei  erwähnenswerte  Abende.  Zunächst  vermittelte  ein  Gast- 
spiel Johanna  Terwins  die  Bekanntschaft  mit  Frank  Wedekinds  „Lulu". 
Gleich  drei  Abende  hinter  einander  gab  man  dieses  Stück,  das  sich  als 
Tragödie  bezeichnet.  Damit  dürfte  das  Bedürfnis  nach  diesem  Drama  be- 
friedigt sein.  Denn  einen  Gewinn  für  die  Bühne  bedeutet  es  nicht;  auch 
keinen   literarisch   wertvollen  Zuwachs  zum  Oeuvre  Wedekinds.    Freilich: 

510 


im  Grunde  handelt  es  sich  ja  auch  nicht  um  etwas  Neues,  sondern  nur  um 
die  neue  Aufmachung  zweier  längst  bekannter  dramatischer  Arbeiten:  des 
„Erdgeist"  und  der  „Büchse  der  Pandora".  Wedekind  nahm  eine  Zusammen- 
schweißung beider  zu  einem  einzigen  fünfaktigen  Drama  vor.  Die  Nähte 
bleiben  aber  teilweise  störend  sichtbar.  Er  schnitt  dem  „Erdgeist"  einen 
—  den  dritten  —  Akt  aus,  und  die  Pandorabüchse  köpfte  er.  Man  erinnert 
sich,  wie  der  „Erdgeist"  schließt:  Lulu  hat  ihren  dritten  (angetrauten)  Mann 
zum  Tode  befördert  (der  erste  stirbt  an  Apoplexie  beim  Anblick  der  in 
flagranti  ertappten  Gattin ;  der  zweite,  der  Maler,  dem  die  Augen  zu  spät 
aufgehen,  an  was  für  Eine  er  geraten  ist,  erhängt  sich ;  der  dritte,  der  Re- 
dakteur Dr.  Schön,  wird  von  Lulu,  man  kann  sagen  in  Notwehr,  erschossen), 
und  über  seine  Leiche  weg  weiß  sie  den  Sohn  des  Toten  (mit  dem  sie, 
wie  so  ziemlich  mit  aller  Männlichkeit,  genau  vertraut  ist)  dazu  zu  bestim- 
men, ihr  zur  Rettung  vor  der  Polizei  zu  verhelfen.  Das  war  ein  Abschluss 
des  Dramas,  der  der  starken  Wirkung  nicht  entbehrt.  Lulu  hat  den  Höhepunkt 
ihrer  fast  naiv  funktionierenden  Frevelhaftigkeit  erklommen.  Wie  sie  den 
Sohn  des  Mannes,  den  sie  eben  gemordet,  herumbringt:  das  ist  eigentlich 
das  sprechendste  Symbol  der  männerbetörenden  Macht  dieses  einzig  und 
allein  aus  der  Geschlechtlichkeit  orientierten  Wesens.  Kaum  einer,  der 
dieses  Drama  „Erdgeist"  (was  für  den  Wedekind-Typus  Erdgeist  ist,  nicht 
für  den  Faust-Typus)  gelesen  oder  im  Theater  gesehen  hat,  wird  nach  dem, 
was  nun  weiter  kommen  werde,  neugierig  gefragt  haben.  Von  diesem 
Ruchlosigkeitszenith  aus  konnte  es  ja  nur  ein  Herabgleiten  geben.  Und 
wirklich:  die  zwei  in  der  „Lulu"  folgenden  Akte  aus  der  (ursprünglich  ohne 
allen  Gedanken  an  die  Aufführbarkeit  niedergeschriebenen,  das  Französische 
wie  das  Englische  in  breitester  Weise  neben  dem  Deutschen  verwendenden) 
„Büchse  der  Pandora"  bringen  nur  noch  die  letzten  Fetzen  dieser  Existenz 
in  kaleidoskopischer  Darstellung:  das  dirnenhafte  Treiben  Lulus  in  Paris, 
das  noch  einen  gewissen  äußern  Glanz  sich  bewahrt  hat,  wenn  auch  die 
Gesellschaft,  in  der  sie  sich  bewegt,  schon  eine  durch  und  durch  schuftige 
und  verfaulte  ist;  und  dann  das  Ende  Lulus  als  Londoner  Straßendirne 
unterster  Sorte  mit  Jack  the  Ripper  als  Urteilsvollstrecker.  Das  Geschehen 
zerflattert  hier  völlig  in  einzelne  Partikel,  in  Momentbilder,  und  die  Fäden, 
die  vom  dritten  zum  vierten  Akt  hinüberführen,  bleiben  so  unsichtbar,  dass 
der  mit  dem  ehemaligen,  jetzt  gekappten  ersten  Akte  der  „Büchse  der  Pan- 
dora" nicht  vertraute  Zuschauer  nur  sehr  schwer,  wenn  überhaupt  sich  zu- 
rechtfindet in  der  neuen  Situation  des  (jetzigen)  vierten  Aktes.  Ist  somit 
der  Gewinn  durch  diese  in  die  trübsten  Perversitäten  und  die  brutalste 
Grässlichkeit  getauchten  letzten  zwei  Akte  ein  ungemein  geringer,  so  ist 
anderseits  der  Verlust  des  ehemaligen  dritten  Aktes  des  „Erdgeist",  der  in 
der  „Lulu"  einfach  geopfert  wurde,  ein  recht  empfindlicher;  enthält  er  doch 
ein  paar  der  eindruckvollsten  Szenen,  vor  allem  die,  wie  Lulu  den  Dr.  Schön 
völlig  in  ihren  Bann  schlägt,  indem  sie  ihm  die  Absage  an  seine  Braut  in 
die  Feder  diktiert. 

Wir  sind  der  Ansicht,  dass  man  späterhin  wieder  auf  den  „Erdgeist"  in 
seiner  ursprünglichen  Gestalt  zurückgreifen  wird  —  dem  Theater  zum  Nutzen, 
dem  Autor  zum  Vorteil.  „Die  Büchse  der  Pandora"  aber  mag  man  ruhig 
im  Stand  eines  Lesedramas  belassen.  Die  Bühne  verliert  nichts  an  diesem 
Werk. 


511 


Einen  recht  interessanten  Versuch  bedeutete  die  Darstellung  einer  An- 
zahl von  Szenen  aus  des  Grafen  von  Gobineau  „Renaissance".  Nicht  dass 
ein  bühnenfähiger  Organismus  zustande  gekommen  wäre;  aber  einzelne 
Dialoge  gewannen  doch  in  der  szenischen  Verkörperung  ein  Leben  von 
ungeahnter  Intensität  und  eigenartigem  geistigem  Reize.  Geschickt  waren 
die  Partien  herausgenommen  und  kombiniert  worden,  welche  die  Persön- 
lichkeiten Savonarolas  und  Michelangelos  zu  beleuchten  und  zu  ergründen 
suchen.  Das  machte  die  zwei  Teile  des  Abends  aus:  der  erste  wickelte  sich  in 
neun,  der  zweite  in  vier  Szenen  ab.  Das  größte  Lob,  das  dem  Experiment 
gezollt  werden  kann,  ist  wohl  das,  dass  die  geschichtlichen  Persönlichkeiten, 
die  in  Aktion  treten  —  neben  dem  Dominikaner  Bußprediger  und  dem  ge- 
waltigen Künstler  die  Päpste  Alexander  VI.  und  Julius  II.,  Lucrezia  Borgia  und 
Machiavelli,  Bramante  und  Raffael,  und  die  edle  Vittoria  Colonna,  des  Pes- 
cara  Witwe  —  dass  sie  im  Rampenlicht  nicht  lächerlich  wurden. 

Viel  Geist  und  reiches  Wissen  stecken  unzweifelhaft  in  diesen  „histo- 
rischen Szenen"  des  merkwürdigen  Franzosen,  den  eine  bewegte  diplo- 
matische Karriere  nach  Bern,  Hannover,  Frankfurt  a.  M.,  Persien,  Athen, 
Rio  de  Janeiro  und  Stockholm  geführt  und  dem  am  Schluss  seines  Lebens 
die  freundschaftliche  Bewunderung  Richard  Wagners  gelächelt  hat,  dem  er 
wenige  Monate  im  Tode  vorausgegangen  ist.  Die  Lektüre  der  „Renaissance" 
hatte  Wagner  für  Gobineau  gewonnen.  Auch  mit  dessen  Rassentheorie  hat 
er  sich  sehr  genau  bekannt  gemacht.  Man  weiß,  wie  Gobineau  im  Kreise 
der  „Bayreuther  Blätter"  ein  gern  gesehener  Gast  war;  weiß,  wie  ehrend 
ihn  H.  St.  Chamberlain,  der  Biograph  Wagners  und  getreue  Gralsritter,  in 
seinen  „Grundlagen"  erwähnt,  wie  fleißig  er  ihn  benützt  hat;  weiß,  dass 
von  der  Begeisterung  Wagners  für  Gobineau  (der  allerdings  zu  der  Parsifal- 
Genuflexion  Wagners  vor  dem  katholisch  ausgestatteten  Christentum  sich 
ablehnend  verhalten  und  darum  die  letzten  Bayreuther  Weihen  nicht  empfan- 
gen hat)  Ludwig  Schemann  angesteckt  worden  ist,  so  dass  er  sein  Leben 
der  Übersetzung  und  der  Verbreitung  von  Gobineaus  Schriften  gewidmet 
hat  und  die  Seele  der  Gobineau-Vereinigung  in  Deutschland  geworden  ist. 
Deutschland  hat  sich  Gobineaus,  der  perfekt  deutsch  sprach  und  schrieb, 
bemächtigt,  während  Frankreich  nur  langsam  und  nicht  ohne  Widerstreben 
die  Bedeutung  des  Grafen  anerkannt  hat.  Man  findet  hiefür  in  dem  Buche 
von  Rob.  Dreyfus  über  Gobineau  recht  interessante  Belege.  Ein  höchst 
wichtiger  Anreger  ist  Gobineau  unter  allen  Umständen  gewesen.  Nietzsche 
hat  ihn  nicht  übersehen.  Seine  Renaissance-Dialoge  mit  ihrem  reichen  Bil- 
dungsgehalt empfahlen  ihn  vor  allem  den  deutschen  Lesern.  Versuche, 
Teile  daraus  auf  die  Bühne  zu  bringen,  gehen  schon  aufs  Jahr  1904  zurück, 
wo  in  Wien  die  Michelangelo-Szenen  ihre  Darstellung  fanden.  Für  gebildete 
Hörer  geht  manch  feiner  Reiz  von  diesen  Gesprächen  aus.  Eigentlich  dra- 
matisches Blut  fließt  nicht  in  ihnen. 

Die  Kunst  Alexander  Moissis  bescherte  zu  Ende  des  Juni  dem  Stadt- 
theater noch  einige  von  begeisterter  Gunst  getragene  Abende.  Dass  der 
Schauspieler  uns  neben  dem  Hamlet  den  Fedja  im  „Lebenden  Leichnam" 
zeigte,  war  der  schönste  Gewinn.  Moissi  hat  dieser  Gestalt  in  ihr  Inner- 
stes gesehen. 

ZÜRICH  H.  TROG 


Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

512 


DREI  RHEINLANDS -ODEN 

Von  HANS  KAESLIN 

AM  BRUNHILDENSTEIN 

Sie  schläft.    Dem  Helm  entgleitet  der  Locken  Prunk, 
Umspielt,  ein  Goldquell,  graulichtes  Felsgezack 
Und  glänzt  im  Abgrund.    Zu  den  Sternen 
Hebt  sich  die  strömende  Glut  der  Flamme. 

Die  steht  gleich  einem  Turm  in  der  blauen  Nacht, 
Auf  ferne  Wälder  breitend  den  fahlen  Schein. 
Vom  stillen  Strom  zur  Nordlandsbrandung 
Trägt  er  die  Mär  von  des  Gottes  Rache. 

KASTELL  IM  WALDE 

Von  Römertritten  dröhnte  der  Boden  hier. 
Von  Wall  zu  Wall  schwang  sich  der  Tuba  Ruf, 
Kommandowort  des  hagern  Kriegers 
Sprengte  des  ehernen  Tores  Flügel. 

Nun  webt  das  Schweigen,  träumend  im  Dämmerwald, 

Die  Zitterfäden  über  den  morschen  Stein. 

Nur  eines  Vogels  leises  Tönen 

Mahnt  uns,  dass  ewig  das  Leben  blühe. 


513 


RHEINISCH  LAND 

Du  schöne  Stadt!    Dem  Fremdling  erschlössest  du 
Der  grauen  Gassen  stolze  Verborgenheit 
Und  wiesest  ihm  der  alten  Brücke 
Stormübertanzendes  Steingefüge. 

Ein  Falter  rührte  zitternden  Flügelschlags 
Des  Prachtportals  gemeißelte  Wappenzier 
Und  hob  sich,  rasch  den  Glanz  der  Schwingen 
Breitend,  empor  zu  des  Domes  Zinnen, 

Der  rötlich  aufragt  über  der  Dächer  Flucht 
Und  überm  Hafen,  wo  sich  am  Bord  von  Stein 
Um  manchen  schwarzen  Kahn  die  Menge 
Tummelt  im  farbigen  Dunst  und  Dämmer. 

Denn  schrägen  Wurfes  über  den  Seidenglanz 
Der  breiten  Woge  gleitet  der  Sonne  Speer, 
Und  mit  der  Rebenblüte  Düften 
Strömt  uns  der  kühlere  Hauch  zu  Tale. 

Beglücktes  Volk!  es  spendet  erwünschtes  Gut 
In  Fülle  dir  die  Erde,  des  Gebens  froh, 
Und  wehrt  mit  mild  erhob'nen  Händen, 
Dass  sich  der  Sorge  Gewölk  dir  nahe. 

Der  Vorzeit  Götter  schweben  vor  deinem  Aug', 
Umbraust  von  herzerschütternder  Töne  Flut. 
Und  in  begeisterter  Gemeine 
Singst  du  die  Größe  des  Vaterlandes. 


514 


Es  weiht  dein  Sinn,  erhabenen  Fluges  kund, 
Was  immer  du  mit  rüstiger  Hand  erschaffst, 
Und  in  gelass'ner  Würde  schreitet, 
Eigenen  Wertes  bewusst,  der  Bürger. 

Du  herrh'ch  Land!     Es  flutet  das  Auge  mir 
Von  deines  Glanzes  Fülle,  es  bebt  das  Herz 
Und  hebt  sich  noch  nach  langen  Tagen, 
Deiner  gedenk,  in  erneuter  Sehnsucht. 

nan 


DIE  HEILIGE  MAGDALENE 

Von  KARL  SAX 

Die  Schwester  Magdalene  war  ein  blühendes,  schöngewach- 
senes Mädchen,  als  sie  in  das  Hospital  Santa  Maria  eintrat.  Sie 
wus.ste  eigentlich  nicht  recht,  wie  sie  eine  fromme  Schwester  und 
Krankenpflegerin  geworden  war.  Ihre  Eltern,  einst  angesehene 
Leute,  waren  verarmt;  die  Mutter  starb  früh,  und  der  Vater, 
dem  man  nach  dem  Rückgang  in  seinen  Geschäften  auch  einen 
schlechten  Lebenswandel  nachredete,  war  vor  sich  selbst  in  ferne 
Lande  entflohen.  Statt  nun  die  Magdalene  zu  verdingen  zog 
es  die  Armenbehörde  der  Gemeinde  vor,  das  Mädchen  seines 
stattlichen  Aussehens  und  seines  ernsten  Betragens  wegen  in  die 
Klosterschule  zu  schicken  und  es  dort  zur  Krankenschwester 
ausbilden  zu  lassen. 

Magdalene  musste  dies  an  sich  geschehen  lassen.  Sie  war 
ja  durch  das  Elend,  das  über  ihre  Familie  hereingebrochen  war 
und  das  sie  als  heranwachsendes  gescheites  Mädchen  miterlebt 
hatte,  ernst  geworden,  und  die  frohen,  erwartungsvollen  Gefühle 
der  Gespielinnen  gleichen  Alters  waren  bei  ihr  unterdrückt  oder 
doch  für  lange  Zeit  auf  die  Seite  geschoben  worden. 

515 


Magdalena  war  wirklich  fromm,  und  der  Zuname  die  Fromme 
war  ihr  von  den  Leuten  weder  aus  Spott  noch  aus  Neid  zugelegt 
worden.  Sie  fühlte  sich  aber  durch  ihre  Frömmigkeit  nicht  be- 
sonders ausgezeichnet,  sondern  dachte  sich  im  Stillen  ein  anderes 
Glück  aus  und  wünschte,  sie  wäre  wie  andere  junge  Mädchen. 
Dieser  Wunsch  steigerte  sich  mit  den  Jahren,  und  als  die  Jung- 
frau die  Schwelle  der  zwanzig  überschritten  hatte,  wurde  er  so 
mächtig,  dass  sie  von  den  Gedanken  der  Sünde  gequält  wurde. 
Die  Schwester  verlor  den  Glanz  der  Augen  und  die  roten  Wangen 
und  betete  inständig  zur  heiligen  Mutter  um  die  Vergebung  ihrer 
sündhaften  Gedanken  und  um  die  Erlösung  von  jeder  Schuld.  Aber 
anstatt  den  Tod  der  Sünde  von  der  Gebenedeiten  zu  erreichen 
und  das  köstliche  Geschenk  der  vergebenden  Gnade  zu  empfan- 
gen, wuchs  in  ihr  das  Gefühl  ihrer  Schuld  und  die  brennende 
Sünde  selbst  mit  jedem  Tag. 

Dem  jungen  Priester,  der  ihr  die  Beichte  abnahm,  konnte  sie  sich 
nicht  anvertrauen.  Einmal,  als  die  Magdalene  wieder  bleich  und 
angstvoll  aussah,  nahm  sie  der  Kaplan  an  der  Hand  und  sagte 
zu  ihr  väterlich,  im  guten  Willen,  dem  Mädchen  über  die  Not,  die 
er  begriffen  hatte,  mit  den  Tröstungen  der  heiligen  Kirche  hin- 
wegzuhelfen: „Liebe  Magdalene,  du  bist  bleich  und  krank,  mehr 
an  der  Seele  als  am  Körper.  Hast  du  mir  etwas  anzuvertrauen?" 
Das  Mädchen  sah  den  geistlichen  Herrn  verstört  an,  hielt  sich 
und  sagte  leise  und  entschlossen:  „Nein,  Herr  Kaplan!"  —  „Keine 
Sünde,  die  der  Schwester  nicht  ansteht,  meine  Liebe?  Sieh,  der 
Heiland  ist  gnädig,  und  seine  Priester  auf  Erden  haben  verstän- 
dige Herzen  und  einen  verzeihenden  Willen.  Wozu  wäre  sonst 
der  Heiland  am  Kreuze  gestorben?"  Und  der  Kaplan  streifte 
wohlwollend  über  die  schwarzen  Haare  der  Schwester. 

Sie  schwieg  und  tastete  nach  einem  Entschluss.  „Nein,  nichts 
von  alledem,  was  Ihr  vermutet,  Herr  Kaplan !  Das  Elend  unserer 
Familie  macht  mich  krank,  das  Schicksal  meines  armen  Vaters. 
Wer  könnte  mir  helfen!" 

Der  geistliche  Herr  war  beleidigt.  Er  hielt  sich  für  unerreich- 
bar in  der  Behandlung  der  menschlichen  Seele  und  hatte  kurz  vor 
dem  Gespräch  mit  der  Schwester  den  Plan,  den  er  mit  ihr  vor 
hatte,  seinen  Amtsbrüdern  mitgeteilt,   indem  er  ihnen  versicherte, 

516 


er  werde  die  schwermütige  Stimmung  der  Jungfrau  heilen;  sie 
müsse  durch  seine  Kunst  gesund  werden;  nun  erschien  er  vor 
seinen  Amtsbrüdern  und  sich  selbst  als  vorlaut.  Das  eine  wie  das 
andere  verdross  ihn  sehr;  denn  die  Seele  des  Kaplans  lebte  nur 
von  seiner  vermeintlichen  Geschicklichkeit  im  Seelsorgeberuf  und 
von  dem  Ansehen,  das  ihm  seine  Erfolge  auf  diesem  Gebiete 
eintrugen.  Da  er  aber  an  sich  selbst  nicht  zweifeln  durfte  —  dazu 
war  er  übrigens  zu  stark  gebaut  —  musste  es  an  der  Schwester 
fehlen,  und  statt  wie  er  vordem  —  seinen  Angriff  auf  sie  geschickt 
vorbereitend,  um  ihr  Zutrauen  zu  gewinnen  —  sie  mit  Auszeich- 
nung behandelt  hatte,  zog  er  nun  seine  Gunst  von  der  Schwester 
sichtlich  zurück  und  verdächtigte  das  Mädchen  eines  strafbaren 
Wandels,  zuerst  vor  sich  selbst  und  dann  vor  den  andern.  Er 
ließ  nun  nichts  unversucht,  die  Magdalene  durch  gewaltsame  Mittel 
zum  Geständnis  der  Sünde  —  die  ihm  übrigens  nicht  sehr  ge- 
wichtig schien  —  zu  bringen.  Um  die  Sünde  selbst  war  es  ihm 
weniger  zu  tun  als  vielmehr  um  das  bloße  Geständnis  der  Sünde, 
oder  besser  gesagt:  um  seine  Gewalt  über  die  Seele  der  Jungfrau, 
die  sich  ihm  ausliefern  sollte.  Er  erachtete  die  Verstocktheit  der 
Schwester  für  sehr  gefährlich  und  hatte  dabei  nicht  unrecht,  wenn 
er  den  Fall,  in  Gedanken  weiter  spinnend,  im  Namen  und  zum 
Heil  der  allerheiligsten  Kirche  ernst  nahm  und  sogar  so  weit 
ging,  den  Abfall  eines  großen  Ketzers  damit  in  Verbindung  zu 
bringen. 

Aber  die  Schwester  Magdalene  blieb  verschlossen,  und  so  oft 
sie  im  Beichtstuhl  vor  dem  geistlichen  Herrn  stand,  bekannte  sie 
nur  die  Sünden,  die  im  Unterlassen  guter  Werke  der  Barmherzig- 
keit bestanden.  Aber  auch  diese  Unterlassungssünden  verschwan- 
den mit  der  Zeit,  so  dass  die  Jungfrau  vor  dem  Kaplan  mit 
leeren  Händen  stand,  wenn  sie  ihm  den  Tribut  in  Form  zerknir- 
schender Schuldgedanken  abliefern  sollte.  Der  Kaplan  wurde 
immer  unzufriedener  mit  der  Schwester,  und  schließlich  hieß  die 
Magdalene  nicht  mehr  die  Fromme,  sondern  die  Heilige.  Diesmal 
aber  lag  in  dem  Namen  Spott  und  Verachtung. 

Die  Schwester  Magdalene  verschloss  sich  nun  aber  auch  vor 
dem  Wohlwollen  der  Menschen,  wurde  einsam  und  ergab  sich 
ganz  dem  Heiland.  Wenn  sie  die  Nachtwache  bei  den  Kranken 
halten  musste,   hatte   sie  ihre  Feierstunde  der  Seele,   wie  sie   es 

517 


nannte.  Um  die  mitternächtige  Stunde,  wenn  sich  auch  der 
Schmerz  der  Kranken  für  einige  Zeit  zur  Ruhe  gelegt  hatte,  stieg 
ein  neues  Reich  zu  ihr  nieder.  In  dem  kleinen  schmucklosen 
Raum  flackerte  das  Kerzenlicht.  Sie  nahm  von  der  Wand  den 
gekreuzigten  Erlöser,  der,  aus  weißem  Alabaster  gebildet,  an  einem 
Kreuz  vom  schwarzem  Marmor  hing.  Sie  betrachtete  den  leidenden 
Gott  und  küsste  mit  den  fiebernden  Lippen  die  Wundmale  des 
Herrn  und  seine  Stirne.  Da  wurde  der  kalte  Stein  bewegt  und 
glühte  unter  ihren  Lippen.  Die  Schwester  fühlte  die  Qual  einer 
unergründlichen  Seligkeit.  Sie  stammelte  unverständliche  Worte. 
„Mein  Herr  und  Heiland,  lass  mich  leiden,  wie  du  littest!  Nimm 
auch  diese  letzte  Sünde  von  mir,  die  letzte  Sehnsucht  nach  der 
Welt!  Du  weißt  es,  ich  gehöre  dir!  Du,  Fürst  der  Seelen,  ver- 
mähle meine  Wünsche  mit  deiner  Liebe,  die  unendlich  ist!  Strafe 
mich,  dass  ich  dich  erkenne!  Herr,  ich  danke  dir,  du  erhörst 
mich,  ich  komme  zu  dir.  —  Sieh  meine  Niedrigkeit!  Bin  ich 
nicht  gering  geachtet,  wie  du,  Herr,  als  du  das  Kreuz  trugst 
nach  Golgatha?  Sieh,  der  Hass  und  die  Verachtung  der  Men- 
schen wälzen  sich  auch  auf  mich!  Lass  mich  sterben,  zu  deiner 
Ehre  .  .  .  ." 

So  waren  die  Gebete  der  Schwester  Magdalene.  Sie  verlor 
nach  und  nach  die  Erinnerung  an  die  Welt  und  tauchte  aus  ihrer 
dunklen  Verworrenheit  empor  wie  die  schneeige  Lilie  aus  dem 
schwarzen  Spiegel  eines  sumpfigen  Gewässers.  Sie  verlor  auch  die 
letzte  Sünde,  um  derentwillen  sie  der  Kaplan  verdächtigte,  und 
lebte  in  der  Welt  wie  eine  Heilige.  Ihr  Antlitz  wurde  bleich  und 
knochig  wie  blendender  Alabaster.  Darüber  legte  sich,  einfach  ge- 
kämmt, das  gewellte  schwarze  Haar.  Die  Gestalt  ihres  Körpers 
glich  einer  wandelnden  Lilie,  und  die  zarten  Finger  strömten  einen 
Duft  aus,  den  die  Leidenden  durstig  einsogen.  Trat  die  Schwester 
in  den  Saal  der  Kranken,  so  war  jeder  Schmerz  gestillt  und  alle 
Augen  glänzten  hoffnungsfreudig,  und  wenn  die  Männer  zur 
heiligen  Muttergottes  beteten,  hatten  sie  das  Bild  der  Schwester 
Magdalene  vor  Augen.  Jeder  suchte  die  Berührung  ihrer  zarten 
Hand  zu  erhaschen;  aber  keiner  getraute  sich,  seine  Empfindung 
einem  andern  zu  offenbaren. 

Der  Kaplan  und  der  Arzt  des  Hauses  hatten  zu  jener  Zeit, 
als   die   Schwester  im  Hospital  Santa  Maria  waltete,  wunderbare 

518 


Erfolge;  aber  zum  großen  Glück  der  Schwester  wurde  keiner  von 
beiden  gewahr,  wem  sie  die  Heilungen  zu  danken  hatten. 

Die  Schwester  war  sich  ihrer  Kraft  zwar  wohl  bewusst, 
schätzte  sich  aber  darum  nicht  höher  als  irgendwen;  denn  sie 
wusste,  dass  sie  für  ihre  Gabe  zum  Teil  den  Menschen,  die  sie 
durch  ihre  Härte  zu  Gott  gedrängt  hatten,  und  zum  Teil  dem 
Heiland,  mit  dem  sie  ihre  Seele  vermählt  hatte,  danken  musste. 
So  lebte  sie  als  eine  Selige  im  Frieden  mit  den  Menschen.  Das  kam 
ihr  aber  verdächtig  vor,  wenn  sie  das  Schicksal  des  heiligsten 
Sohnes  Gottes  betrachtete,  der  doch  mit  Dornen  gekrönt,  verhöhnt 
und  ans  Kreuz  geschlagen  worden  war.  Und  sie  fing  an,  ihren 
Körper  zu  kasteien,  um  auch  durch  diese  Leiden  des  Leibes  vor 
dem  Herrn  angenehm  zu  sein,  damit  sie  ihn  bald  von  Angesicht 
zu  Angesicht  in  seinem  ewigen  Glänze  schauen  könne.  Sie  betete 
mit  bebendem  Munde  zu  dem  Erlöser,  er  möge  sie  bald  von  der 
Erde  zu  sich  in  den  Himmel  nehmen. 

Nachdem  die  Schwester  Magdalene  lange  ihren  Leib  auf  die 
grausamste  Art  gequält  hatte,  schwand  auch  ihre  Schönheit  und 
mit  ihr  langsam  die  segenbringende  Wirkung  auf  die  Kranken. 
Dermaßen  hatte  sich  nun  die  Schwester  ihres  letzten  Ruhmes  auf 
Erden  freiwillig  begeben  und  sich  als  Opfer  des  Heilandes  würdig 
erwiesen.  Als  sie  nach  einer  aufreibenden  Selbstkasteiung  völlig 
erschöpft  und  jeder  schützenden  Hülle  bar  den  fiebernden  Körper 
im  Winter  auf  den  kalten  Steinboden  ihres  eisigen  Zimmers 
fallen  ließ,  erbarmte  sich  der  Heiland  ihrer  Leiden  und  nahm  sie 
nach  einer  heftigen  Krankheit,  deren  Fieber  ihren  Leib  in  zwei 
Tagen  untergrub,  zu  sich,  nachdem  die  Schwester  alle  Seligkeit 
ihrer  Liebe  zum  Herrn  ausgetrunken  hatte. 

Es  war  ein  ergreifender  Leichenzug,  als  man  die  Schwester 
Magdalene  zu  Grabe  trug.  Die  hohe  Geistlichkeit  benützte  die 
Gelegenheit,  vor  dem  Volk  ihre  leuchtende  Pracht  zu  entfalten. 
Der  Kaplan  war  der  einzige,  der  tief  trauerte.  Er  schien  über 
Nacht  bleich  und  eingefallen.  Die  Schwester  hatte  ihn  überwun- 
den. Er  hatte  nur  von  der  Liebe  zu  ihr  gelebt:  als  die  Jungfrau  mit 
den  rosigen  Wangen  des  Mädchens  ins  Hospital  trat,  liebte  er 
ihre  roten  Wangen,  und  als  die  roten  Wangen  zu  bleichen  an- 
fingen, liebte  er  die  bleichen.  Da  er  aber  die  stets  sich  verändernde 

519 


Liebe  der  Schwester  jeweilen  zu  spät  begriff,  i^onnte  er  sie  zu 
ihren  Lebzeiten  nie  so  recht  erfassen  und  ihr  nie  seine  Liebe  ge- 
stehen. Vielleicht  hielt  ihn  auch  die  Überzeugung  zurück,  dass 
dies  von  einem  Priester  niemals  geschehen  dürfe;  denn  er  nahm 
es  mit  seinem  Berufe  ernst. 

Als  nun  aber  die  Schwester  Magdalene  gestorben  und  be- 
graben war,  wuchs  seine  Sehnsucht,  die  nun  durch  die  Leiblich- 
keit des  geliebten  Wesens  nicht  mehr  gehindert  war,  ins  Unerträg- 
liche, und  es  schien  ihm,  er  sei  über  Nacht  für  die  Liebe  zu  der 
Verstorbenen  reif  geworden.  Er  konnte  dem  Trauerzug  nicht 
folgen,  sondern  schloss  sich  in  sein  Zimmer  und  betete  laut  zur 
gebenedeiten  Mutter  Maria,  die  ihm  in  der  Gestalt  der  verschiedenen 
Schwester  erschien.  Von  jener  Stunde  an  wurde  der  Kaplan,  was 
er  vordem  von  sich  gehalten  hatte:  ein  Kündiger  der  Herzen.  So 
heilte  er  viele  Kranke,  und  als  auch  er  den  Stolz  über  den  Glanz 
seiner  Berufung  unter  den  Menschen  überwunden  hatte,  starb  er 
und  folgte  noch  in  jungen  Jahren  der  seligen  Magdalene  ins  Grab. 

Die  Stadt  mit  dem  Krankenhause  Santa  Maria  wurde  fünfzig 
Jahre  nach  dieser  Zeit  ein  berühmter  Wallfahrtsort.  Man  betete 
in  dem  Dom,  der  dort  errichtet  worden  war,  zur  heiligen  Magda- 
lena und  zum  heiligen  Antonius,  Die  Stätte  ward  bekannt  durch 
viele  Wunder,  welche  an  den  Gräbern  der  beiden  Seligen  geschahen, 
die  vielen  als  eine  erneute  Fleischwerdung  jener  großen  Heiligen 
galten.  Kranke  Menschen  aus  der  ganzen  Welt  strömten  dorthin ;  die 
Gasthöfe  der  Stadt  vermochten  oft  die  fremden  Wallfahrer  nicht 
zu  fassen.  Man  zeigte  die  Kleider  und  die  Zimmer  der  beiden 
Seligen;  alles  brachte  man  mit  ihrer  segenstiftenden  Gnade  in 
Verbindung.  Die  Stätte  wurde  zu  einem  greifbaren  Zeichen  der 
unendlichen  Gnade  und  Barmherzigkeit  Gottes,  der  sich  durch 
jene  beiden  unter  den  Menschen  offenbart  hatte,  und  die  Wunder, 
die  dort  geschahen,  waren  wahrhaftig;  denn  die  Menschen  hatten 
einen  greifbaren  Altar  ihres  Gottes,  den  sie  sehen  und  vor  dem 
sie  knien  konnten. 


DOD 


520 


ZUR  EISENBAHNPOLITISCHEN 
LAGE  IM  WESTEN  UND  OSTEN 

(Schluss) 

Für  eine  kleine,  von  lauter  Großmächten  umgebene  Republik 
ist  diese  Verschuldung,  die  als  eine  Folge  der  Eisenbahnverstaat- 
lichung betrachtet  werden  muss,  gar  nicht  unbedenklich.  Da  mehr 
als  neun  Zehntel  davon  für  produktive  Zwecke  gemacht  worden 
sind,  muss  man  sie  auch  nicht  allzu  tragisch  nehmen,  so  lange 
ihre  Verzinsung  aus  den  produktiven  Werken  nicht  nur  als  ge- 
sichert betrachtet  werden  darf,  sondern  noch  für  die  Hebung  des 
Verkehrs  genügend  erübrigen  lässt.  Für  diesen  eigentlichen 
Zweck  der  Verstaatlichung  hat  man  zwar  bis  heute  allerdings 
viel  zu  wenig  getan. 

Die  Einnahmen  aus  dem  Tonnenkilometer  betragen  bei  uns 
immer  noch  7,7  Rappen,  während  sie  im  letzten  Jahrzehnt  in 
Deutschland  von  4,59  auf  4,5  und  in  Frankreich  gar  von  4,69 
auf  4,27  Rappen  gesunken  sind.  Die  Bundesbahnen  haben  also 
unserm  internen  Handel  und  Verkehr  ungefähr  das  Doppelte  für 
Güterfracht  abgenommen  was  andere  Staaten.  Das  beweist  zur 
Genüge,  wie  sehr  die  Schweiz  im  Gütertarifwesen  im  Rückstand 
ist.  Hier  eine  Besserung  eintreten  zu  lassen,  wäre  für  uns  sehr 
wichtig.  Es  bedeutet  dies  einen  weitern  Ansporn,  das  finanzielle 
Gleichgewicht  der  Bundesbahnen  nicht  durch  unrationelle  Erhö- 
hung des  Baukontos  oder  durch  allzugroße  Nachgiebigkeit  gegen- 
über Lohn-  und  andern  Forderungen  zu  gefährden. 

Die  Nebenbahnen  beklagen  sich  schwer,  dass  sie  bei  den  von 
den  Bundesbahnen  bezahlten  Löhnen  nicht  aufkommen  können 
und  die  Bundesbahnbehörden  sagen  ganz  offen,  sie  können  an  den 
Innern  Tarifen  nichts  ändern,  weil  alle  Überschüsse  für  die  An- 
sprüche des  Personals  und  für  Bauten  verwendet  werden  müssten. 
Das  sind  keine  normalen  Verhältnisse.  Die  „großen  wirtschaft- 
lichen Vorteile  der  Verstaatlichung"  sind  noch  lange  nicht  erreicht 
worden,  wie  der  frühere  Präsident  der  Bundesbahnen  in  einem 
interessanten  Überblick  über  den  zehnjährigen  Staatsbetrieb  be- 
hauptet hat.  Die  Förderung  der  Getreideversorgung  durch  eine 
vernünftige  Tarifpolitik  in  Verbindung  mit  dem  Ausbau  der  Rhein- 

521 


Schiffahrt  ist  noch  ein  ungelöstes  Problem  und  wird  nicht  gelöst, 
wenn  nicht  in  der  Eisenbahnpolitik  im  Osten  und  Westen  die 
größte  Vorsicht  beobachtet  wird. 

Diese  keineswegs  harmlose  Sachlage  zwingt  die  Schweiz,  dem 
Baukonto  ihrer  Bahnen  die  größte  Aufmerksamkeit  zu  widmen 
und  ihn  nicht  mehr  als  durchaus  notwendig  durch  Bauten  und 
Ankäufe  zu  belasten.  Die  Verstaatlichung  der  schweizerischen 
Hauptbahnen  wäre  viel  vorteilhafter  für  uns,  wenn  wir  nur  eine 
Alpenbahn,  die  Gotthardlinie,  besäßen.  Dann  könnte  unser  Netz 
ein  so  glänzendes  Geschäft  sein,  dass  wir  der  eidgenössischen 
Staatskasse  auch  bei  ganz  erstklassigem  Betrieb  jährlich  einige 
Millionen  daraus  zuführen  könnten.  Davon  ist  heute  keine  Rede 
mehr.  Schon  Bundesrat  Schenk  soll  gesagt  haben,  ein  Tunnel 
sei  für  die  Schweiz  ein  Segen,  von  dreien  werde  sie  erwürgt. 
Und  ein  hoher  deutscher  Beamter  bemerkte  einem  unserer  füh- 
renden Leute  der  Eisenbahnverwaltung:  „Drei  Alpendurchstiche 
auf  so  kurze  Distanz  zu  errichten,  das  bringen  nur  die  Schwei- 
zer fertig!" 

Psychologisch  ist  die  sich  gegenwärtig  in  der  Ostschweiz 
geltend  machende  Bewegung  verständlich.  Die  Ostschweizer, 
darunter  viele  bisherige  Greinaleute,  sagen  sich:  „Die  Berner  haben 
den  Beweis  geleistet,  was  man  mit  einigem  Vorgehen  erreichen 
kann;  sie  haben  sich  nichts  daraus  gemacht,  eine  Lösung  ihrer 
Alpenbahnfrage  zu  erstreben,  die  dem  Gotthard  bedeutenden  Ab- 
bruch tun  wird:  also  kann  man  auch  uns  keine  Vorwürfe  machen, 
wenn  wir  eine  Lösung  der  Ostalpenbahnfrage  verlangen,  die  der 
Gotthardstrecke  noch  stärkeren  Abbruch  tut".  Dass  die  Ostschweiz 
wie  die  Westschweiz  Anspruch  auf  einen  Teil  des  Gotthard- 
verkehrs  hat,  ist  nicht  zu  bestreiten.  Beide  mussten  Jahr- 
zehnte zu  Gunsten  der  Gotthardregion  zurückstehen,  und  wenn 
diese  heute  Überfluss  hat,  so  ist  eine  angemessene  Teilung  des 
Verkehrs  nach  Westen  und  Osten  nicht  unbillig.  Dieser  Anspruch 
ist  schon  im  Eisenbahngesetz  von  1872  und  zu  Gunsten  der  Ost- 
schweiz wiederum  im  Artikel  49  des  Rückkaufsgesetzes  anerkannt 
worden.  Der  Umstand,  dass  der  Anspruch  gegenüber  der  Ost- 
schweiz einstweilen  nicht  erfüllt  werden  konnte,  hat  dazu  geführt, 
dass  der  Bund,  entgegen  aller  bisherigen  Praxis,  den  Ausbau  der 
Rätischen  Bahnen  mit  dreizehn  Millionen  Franken  unterstützt  hat, 

522 


was  er  bis  zum  heutigen  Tag  noch  gegenüber  keiner  andern 
Nebenbahn  vollbrachte.  Die  Berner  Alpenbahn  hat  eine  Geldhilfe 
von  sechs  Millionen  erhalten,  unter  Bedingungen,  deren  Durch- 
führung etwa  zehn  Millionen  Franken  mehr  als  der  geleistete 
Beitrag  gekostet  hat. 

Die  Verstaatlichung  der  Berner  Alpenbahn,  die  erfolgen  soll, 
sobald  man  weiß,  was  der  Betrieb  abwirft  und  wie  er  sich  finan- 
ziell gestaltet,  wird  voraussichtlich  eine  vorläufig  uneinträgliche 
Vermehrung  unserer  Bauschuld  von  150  bis  160  Millionen  be- 
deuten. Dazu  kommen  die  Bauten  in  Genf  und  am  Gotthard, 
was  alles  in  die  Hunderte  von  Millionen  geht. 

Wir  wollen  nicht  so  schwarz  sehen,  die  Bundesbahnen  könnten 
das  nicht  aushalten;  aber  man  darf  die  Ostalpenbahnfrage  nicht 
in  einer  Weise  durchführen,  die  die  Gotthardstrecke  und  die 
später  zu  kaufenden  Berner  Alpenbahnen  entwertet. 

Es  lässt  sich  nicht  bestreiten:  hätte  sich  die  Ostschweiz  nur 
wenigstens  über  die  Frage  Staatsbau  oder  Konzession  geeinigt, 
einstweilen  ohne  Rücksicht  auf  die  Führung  der  Bahn,  so  wären 
die  Studien  über  die  Ostalpenbahnfrage  jedenfalls  viel  weiter  ge- 
diehen. Dabei  sollte  man  sich  für  den  Staatsbau  entschließen 
und  nicht  einer  Privatgesellschaft  eine  Konzession  erteilen  wollen, 
deren  Erbschaft  wir  dann  später  wie  beim  Lötschberg  antreten 
müssen  und  deren  Hauptaufgabe  sein  wird,  der  Gotthard-  und 
Lötschb ergbahn  so  viel  Verkehr  als   nur  möglich  wegzunehmen. 

Beim  Staatsbau,  ob  Splügen  oder  Greina,  behält  man  wenig- 
stens einigermaßen  das  Messer  in  der  Hand.  Man  kann  einen 
uneinträglichen  Betrieb  einschränken,  man  spricht  beim  Abschluss 
von  Verträgen  mit  dem  Ausland  in  ganz  anderer  Weise  mit  und 
braucht  nicht  Verpflichtungen,  die  eine  Privatgesellschaft  einge- 
gangen hat,  auf  gut  Glück  zu  übernehmen. 

Mit  Recht  wurde  bei  der  Interpellation  im  Zürcher  Stadt- 
rat bemerkt,  man  solle  erst  einmal  jene  Vorfrage,  die  eine  Kardi- 
nalfrage sei,  zum  Entscheide  führen,  ob  die  Ostalpenbahn  von 
Anbeginn  Bundesbahn,  vom  Bunde  gebaut  und  betrieben,  oder 
Privatbahn  zu  sein  habe. 

So  urteilen  heute  alle  nüchtern  denkenden  Leute.  Auch  der 
Bundesrat  wird  sich  einem  grundsätzlichen  Entscheid  nach  dieser 
Richtung  wohl  nicht  mehr  lange  entziehen  können.    Die  Öffent- 

523 


lichkeit  hat  ein  Recht,  nicht  länger  in  der  Ungewissheit  gelassen 
zu  v/erden,  und  es  ist  vollständig  richtig,  wenn  man  allgemein 
auf  einen  Entscheid  über  diese  grundlegende  Frage  drängt. 

So  bald  die  Frage  Staatsbau  oder  Konzession  gelöst  ist,  wird 
man  auch  die  Studien  über  die  Führung  der  Bahn  endlich  wesent- 
lich fördern  können;  bis  heute  ist  man  ja  noch  nicht  zu  ein- 
gehenden Einzelstudien,  sondern  nur  bis  zu  allgemeinen  Berech- 
nungen und  Schätzungen  gediehen.  Immerhin  gestatten  diese 
eine  gewisse  Bewertung  der  bis  jetzt  bestehenden  Ostalpenbahn- 
projekte. 

Gegenüber  der  Behauptung,  die  Berechnungen  der  Bundes- 
bahnen seien  unrichtig  und  viel  zu  pessimistisch,  hält  eine  neue 
in  letzter  Zeit  erschienene  Schrift  des  Greinakomitees  daran  fest, 

a)  dass  es  kein  Recht  auf  den  Splügen,  wohl  aber  ein  solches  auf 
die  Ostalpenbahn  im  allgemeinen  gibt, 

b)  dass  technisch  und  finanziell  die  beste  Lösung  die  Greina  ist, 

c)  dass  Splügen  und  Greina  wirtschaftlich  ungefähr  gleichwertig  sind, 
dass  aber  die  letzte  von  den  Kantonen  St.  Gallen,  Appenzell,  Thur- 
gau.  Schaff  hausen,  Zürich  und  Glarus  mit  Rücksicht  auf  ihre 
innere  Entwicklungsfähigkeit  und  Ausgestaltungsmöglichkeit  (Tödi- 
bahn)  sowie  auf  die  Schiffahrt  bei  weitem  vorzuziehen  ist, 

d)  dass  der  Splügen  auf  die  Bundesbahnen  zugunsten  des  Auslandes, 
speziell  Italiens,  eine  geradezu  ruinöse  Wirkung  ausüben  wird  und 
daher  vom  Bundesbahnstandpunkt  aus  mit  aller  Energie  zu  be- 
kämpfen ist, 

e)  dass  der  Kanton  Tessin  durch  den  Splügen  direkt  und  indirekt 
schwer  geschädigt  wird,  ohne  dass  dieser  dem  Kanton  Grau- 
bünden mehr  Vorteil  brächte  als  die  Greina, 

f)  dass   der  Splügen   politisch  und  militärisch  für  die  Schweiz  eine 

große  Gefahr  bedeutet,  und  endlich 
g)  dass   der   Bau   der   Ostalpenbahn   auf  alle   Fälle   nur  Sache  des 

Bundes  sein  kann. 

Diese  Schrift  klärt  die  riesigen  Unterschiede  zwischen  den 
Schätzungen  der  Bundesbahnen  und  des  Splügenkomitees  auf, 
so  für  die  Verkehrseinbuße  der  Bundesbahnen  beim  tiefern 
Splügentunnel,  die  die  Bundesbahnen  auf  fast  dreizehn  Millionen, 
gegenüber  den  von  den  Bündnern  bewerteten  zweieinhalb  Millionen, 
veranschlagen. 

Es  wird  nun  gezeigt,  dass  man  sich  in  Graubünden  auf  eine 
Reihe  unzutreffender  und  unsicherer  Posten  stützt,  und  durch  eine 
einfache  Rechnung  nachgewiesen,  dass  sich  sogar  auf  den 
von  Herrn    Würmli  selbst   angenommenen    Verkehrsmengen    ein 

524 


Ausfall  von  allermindestens  6  670000  Franken,  und  nicht  bloß  von 
2  400000  Franken  ergeben  würde.  Nun  sind  aber  diese  Verkehrs- 
mengen erheblich  zu  niedrig  berechnet.  Wenn  man  das  Mittel 
zwischen  der  von  den  Bundesbahnen  berechneten  Verkehrseinbuße 
und  dem  auf  Grund  der  Zahlen  Würmlis  ermittelten  Betrag  als  das 
Richtige  annehmen  wollte,  so  ergäbe  sich,  wie  bemerkt  auf  1920 
berechnet,  immerhin  ein  Ausfall,  von  fast  zehn  Millionen.  Es 
scheint  also  kaum  ein  Zweifel  möglich,  dass  die  Berechnungen 
der  Bundesbahnen  viel  eher  richtig  sind  als  jene  Würmlis.  Weitere 
Berechnungen   weisen  dann  auf  eine  besondere  Fehlerquelle  hin: 

Wenn  Würmli  zu  einem  wesentlich  kleineren  Verlust  gekommen  ist, 
so  rührt  dies  hauptsächlich  davon  her,  dass  es  nur  den  Verlust  der  eigent- 
lichen ehemaligen  Gotthardbahn  berechnet  und  angenommen  hat,  die 
Zufahrtstrecken  zum  Gotthard  und  zum  Splügen  werden  sich  gegenseitig 
ungefähr  ausgleichen,  so  dass  von  daher  ein  Ausfall  nicht  zu  erwarten  sei. 
Diese  Annahme  ist  aber  unrichtig  und  wie  gesagt  ein  Hauptgrund  für  die 
viel  zu  niedere  Berechnung  des  Ausfalls. 

Unter  allen  Umständen  weichen  die  Berechnungen  der  Bundes- 
bahnen um  Millionen  von  denen  der  Bündner  ab,  weil  alle  Grundlagen 
verschieden  sind.  Auch  wenn  man  annehmen  will,  dass  der  Ausfall 
von  neun  statt  zwölf  Millionen  nicht  weit  von  der  Wahrheit  sei, 
so  wird  die  Summe  mit  dem  durch  die  Berner  Alpenbahn  be- 
wirkten Ausfall  auf  alle  Fälle  ausreichen,  um  die  Bundesbahnen 
aus  dem  finanziellen  Gleichgewicht  zu  bringen  und  sie  in  eine  ganz 
unmögliche  Verschuldung  hineinzutreiben.  Wie  man  dann  unsere 
enorme  Staatsschuld  noch  richtig  tilgen  will,  ist  nicht  einzusehen, 
und  doch  hängt  davon  der  Kredit  des  Landes  ab. 

Von  einer  Übernahme  der  Berner  Alpenbahn  oder  der  Boden- 
see-Toggenburgbahn  durch  den  Bund  wird  schwerlich  mehr  die 
Rede  sein  können,  wenn  man  durch  eine  unrichtige  Lösung  der 
Ostalpenbahnfrage  die  gesunde  finanzielle  Grundlage  der  Bundes- 
bahnen untergräbt.  So  müsste  sich  also  der  Einfluss  einer  un- 
richtigen Lösung  der  Ostalpenbahnfrage  auf  die  Berner  Alpen- 
bahn gestalten. 

Wir  bestreiten  die  internationale  Bedeutung  der  Splügenbahn 
keineswegs.  Wer  die  jahrhundertealten  Beziehungen  eines  Teils 
von  Graubünden  mit  dem  Veltlin  kennt,  wird  auch  das  Streben 
jener  Gegend  nach  einem  direkten  Ausgang  nach  Italien  begreifen. 
Dieser   Wunsch   wäre   eher   zu    erfüllen,    wenn   uns   nicht   ohne 

525 


eigene  Schuld  Chiavenna  und  damit  der  Südausgang  nach  Italien, 
den  die  Vorfahren  seinerzeit  erobert  hatten,  verloren  gegangen 
wäre.  Es  ist  auch  richtig,  dass  die  Splügenstraße  neben  dem 
Gotthard  den  vornehmsten  Verkehrsweg  früherer  Zeiten  von  Nord 
nach  Süd  darstellte.  Aber  unsere  jetzigen  nationalen  Interessen 
nach  vollzogener  Eisenbahnverstaatlichung  und  die  jetzige  Staats- 
raison  verlangen  gebieterisch  eine  andere  Lösung,  als  sie  vor 
der  Verstaatlichung  vielleicht  möglich  gewesen  wäre,  abgesehen 
von  militärischen  Erwägungen,  wenn  wir  unsere  eisenbahnpolitische 
Unabhängigkeit  nach  dem  Gotthardvertrag  nicht  noch  mehr 
schwächen,  wenn  wir  mit  unserer  ganzen  Staatsbahnwirtschaft 
nicht  Schiffbruch  leiden  und  wenn  wir  dauernd  im  Stand  sein 
wollen,  unsere  enorme  Staatsschuld  zu  verzinsen  und  wenigstens 
teilweise  zu  tilgen,  ohne  den  Verkehr  ungebührlich  zu  belasten. 

Es  ist  ganz  unrichtig,  wenn  man  immer  mit  den  „verbrieften 
Rechten"  kommt,  die  man  verletzen  wolle,  die  ja  nur  für  eine 
Ostalpenbahn  im  allgemeinen  Geltung  haben.  Der  mit  Eisenbahn- 
lasten schwer  beladene  Kanton  St.  Gallen  hat  vollends  keinen 
Anlass,  auf  angebliche  Rechte  zu  pochen,  die  den  Bund  in  die 
Unmöglichkeit  versetzen  müssten,  die  durch  die  Splügenbahn  für 
immer  zu  einer  Lokalbahn  degradierende  Bodensee-Toggenburg- 
bahn  zu  übernehmen. 

Einem  zürcher  Blatt  wurde  vor  kurzem  geschrieben: 

Ob  auch  die  Ostalpenbahn  kommt,  der  Kanton  St.  Gallen  und  teil- 
weise auch  die  Stadt  St.  Gallen  sind  trotzdem  Interessenten  am  Gotthard. 
Wir  fragen :  Soll  etwa  der  Gedanke  der  Fortführung  der  Bodensee-Toggen- 
burgbahn  über  st. gallisches  Gebiet  hinaus  wirklich  begraben  werden?  Will 
St-Gallen,  das  so  viel  Geld  in  diese  Bodensee-Toggenburgbahn  hinein- 
gesteckt hat,  diese  als  halbe  Sackbahn  bestehen  lassen?  Bern  hat  seinen 
Lötschberg  großzügig  als  durchgehende,  groß  angelegte  Verkehrslinie  aus- 
gebaut. Warum  soll  St.  Gallen  nicht  über  seine  Grenzen  hinaussehen  und 
die  Kantone  Schwyz,  Zug  und  Luzern  ins  Interesse  ziehen?  Damit  die 
Bodensee-Toggenburgbahn  nach  Projekt  Grauer-Frei  nach  Zug  zum  An- 
schluss  an  Luzern,  an  die  Berner  Oberland-Lötschbergbahn  und  an  den 
Gotthard  g^aut  wird,  nicht  heute  und  nicht  in  fünf  Jahren,  aber  doch 
einmal  gebaut.  Sieht  man  nicht,  dass  man  damit  die  Bahn  zum  Dr  .  .  . 
hinausziehen  würde?  Für  uns  ist  es  klar,  dass  die  Bodensee-Toggenburg- 
bahn erst  dann  ein  richtiges  und  rentierendes  Vehikel  wird,  wenn  sie  durch- 
gehend und  mit  dem  Zentrum  der  Zentralschweiz  verbunden  ist.  Da  liegen 
auch  die  Interessen,  die  St.  Gallen  zur  neuen  Gotthardvereinigung  ziehen 
sollte,  ganz  unbeschadet  seiner  Stellung  zur  Rhein-Bodenseeschiffahrt  und 

526 


der  Ostalpenbahn.  Wir  sehen  Bern,  Luzern,  Basel  und  Zürich  ihre  Ver- 
kehrspositionen verstärken  —  und  in  St.  Gallen  schläft  man.  Ist's  wahr 
oder  nicht? 

Wenn  zwar  diese  Fortsetzung  der  Bodensee-Toggenburgbahn, 
die  erst  deren  wahre  Bestimmung  erschließt,  über  Zug  gehen 
würde,  wäre  das  das  Ende  der  Südostbahn.  Es  ist  daher  fraglich, 
ob  diese  Linie  je  gebaut  wird;  jedenfalls  nicht  von  den  Bundes- 
bahnen; und  schwerlich  würde  eine  Konzession  dafür  erteilt.  Viel 
natürlicher  wäre  der  Anschluss  an  eine  Qreinabahn.  Diese  Fort- 
setzung nach  Zug  oder  Graubünden  wird  aber  untergraben,  wenn 
die  finanzielle  Grundlage  der  Bundesbahnen  durch  eine  unrichtige 
Lösung  der  Ostalpenbahn  erschüttert  wird. 

Auch  im  Kanton  und  in  der  Stadt  Zürich  wird  man  gut  tun, 
sich  nicht  unbedacht  der  Splügenbewegung  anzuschließen.  Die  effek- 
tive Länge  der  Strecke  Zürich-Mailand  über  den  Gotthard  be- 
trägt 294  Kilometer.  Sollte  je  der  Tödi  gebaut  werden,  so  kann 
sie  um  20  Kilometer  gekürzt  werden,  wenn  man  die  Greinabahn 
von  Olivone  direkt  nach  Castione  und  Bellinzona  führt,  statt  sie 
schon  bei  Biasca  in  die  Gotthardbahn  münden  zu  lassen.  Über 
den  Splügen  wären  es  324  Kilometer,  also  30  Kilometer  mehr 
als  über  den  Gotthard;  und  warum  sich  Zürich  für  alle  Zeit  die 
Möglichkeit  einer  kürzeren  Verbindung  mit  Mailand  abschneiden 
soll,  ist  nicht  einzusehen. 

Die  Aussicht  auf  eine  Randenbahn  geht  Zürich  und  Schaff- 
hausen verloren,  wenn  die  Schweiz  selbst  den  deutschen  Bahnen 
nahe  legt,  so  viel  Verkehr  als  möglich  von  Offenburg  nach  dem 
Bodensee,  an  Singen,  Konstanz  und  Schaffhausen  vorbei,  nach 
Italien  zu  leiten.  Was  diese  Art  von  Ostalpenbahnpolitik  für 
Zürich  für  einen  Zweck  haben  soll,  ist  nicht  einzusehen.  Auch 
wenn  all  diese  Erwägungen  nicht  wären,  so  sollte  man  meinen, 
bei  den  minimen  Vorteilen,  die  der  Splügen  Zürich  zu  bieten 
vermag,  hätte  es  gar  nicht  nötig,  der  verstaatlichten  Gotthard- 
bahn und  damit  den  Bundesbahnen  überhaupt  einen  so  großen 
und  unnötigen  Schaden  zuzufügen,  wie  dies  mit  der  Splügen- 
bahn  der  Fall  wäre. 

* 
Im  Bundesrat  scheint  man  sich  über  den  Ernst  der  Lage  klar 
zu  sein.  Es  soll  die  entschiedene  Tendenz  herrschen,  die  Lösung 

527 


der  Ostalpenbahnfrage  so  weit  als  möglich  hinauszuschieben. 
Man  wolle  erst  die  Wirkungen  des  Gotthardvertrags,  der  Verkehrs- 
teilung mit  der  Berner  Alpenbahn  und,  wie  man  den  Worten  des 
Herrn  Forrer  und  anderer  entnehmen  muss,  des  Rückkaufs  der 
Berner  Alpenbahn  abwarten,  bevor  man  sich  weiter  festlegte.  Man 
spricht  auch  ganz  allgemein  von  Zusicherungen,  die  nach  dieser 
Richtung  während  der  Gotthardvertragskampagne  gemacht  worden 
seien.    Was  daran  wahr  ist,  wissen  wir  nicht. 

Unter  allen  Umständen  ist  die  Luft  in  eisenbahnpolitischen 
Dingen  heute  sehr  schwül,  und  muss  jeden,  dem  an  einer  zweck- 
mäßigen verkehrspolitischen  Entwicklung  der  ganzen  Schweiz  ge- 
legen ist,  mit  großer  Sorge  erfüllen. 

Auf  der  einen  Seite  freut  man  sich,  dass  das  jahrzehntealte 
Sehnen  des  Kantons  Bern,  an  eine  internationale  Bahn  zu  ge- 
langen, endlich  erfüllt  wird  und  dass  die  Simplonbahn  zu  ihrer 
wahren  Bedeutung  kommt.  Die  Berner  haben  seinerzeit  alles 
getan,  um  das  Gotthardprojekt  unter  nicht  geringer  Selbstentsagung 
zu  fördern  und  haben  nun  Anspruch  auf  Gegenrecht.  Aber  wie 
sich  anderseits  die  Rückkaufspläne  der  Berner  und  eine  baldige 
Erfüllung  der  berechtigten  Ansprüche  der  Ostschweizer  ohne 
enorme  Schwächung  der  Bundesbahnen  vereinigen  lassen,  das  ist 
zur  Stunde  vollständig  dunkel. 


Bei  dieser  Sachlage  begreift  man,  wenn  nicht  nur  die  Freunde 
der  Ostalpenbahn,  sondern  alle,  die  für  vernünftige  Entwicklung 
unseres  Eisenbahnwesens  Sinn  haben,  besorgt  werden.  Wie  soll 
der  Bund  noch  eine  weitere  Alpenbahn  bauen  oder  bewilligen 
können,  die  sich  großenteils  wie  der  Lötschberg  vom  bisherigen 
Gotthardverkehr  nähren  muss,  wenn  er  bereits  mit  drei  Alpen- 
bahnen belastet  ist? 

Man  vergegenwärtige  sich  doch  einmal  die  ganze  Lage:  Der 
Bund  im  Besitze  dreier  Alpenbahnen  Gotthard,  Lötschberg-Münster- 
Grenchen,  Simplon,  wovon  zwei  uneinträglich  sind.  Nun  soll  im 
Osten  eine  weitere  erstellt  werden,  welche  (wenigstens  die  Splügen- 
bahn)  drei  andern  Alpenbahnen  des  Bundes  so  viel  Wasser  ab- 
graben wird,  als  nur  möglich  ist,  dadurch,  dass  der  Rheinverkehr 
mit  Umgehung  von  Basel,  Zürich,  Schaffhausen,  Bern  nach  dem 

528 


Bodensee  geleitet  wird.  Der  Splügen  wird  ferner  die  Verkehrs- 
teilung zwischen  Gotthard  und  Ostalpenbahn  auf  itahenischen 
Boden  verlegen,  worüber  sich  jeder  mit  einem  Blick  auf  die  Karte 
Rechenschaft  geben  kann.  Der  deutsche  Rheinverkehr  wird  sich 
nach  dem  Bodensee  hinziehen,  aber  nicht  nach  dem.  schweizerischen 
Ufer,  sondern  vorwiegend  nach  dem  deutschen:  Bregenz-Lindau 
in  erster  Linie  und  nicht  Rorschach  und  Romanshorn  werden  durch 
ihn  große  Stapelplätze.  Die  deutschen  und  österreichischen  Bahnen 
werden  alles  tun,  um  den  Verkehr  bis  Buchs  auf  ihren  Linien  zu 
behalten.  Damit  ist  natürlich  auch  die  Randenbahn,  wie  schon 
bemerkt,  endgültig  erledigt,  so  bald  das  fehlende  Stück  Immen- 
dingen-Ludwigshafen  gebaut  sein  wird. 

Im  Rheintal  und  in  gewissen  Teilen  von  Graubünden,  vor 
allem  in  Chur,  möchte  man  den  ganzen  künftigen  Ostalpenbahn- 
verkehr an  sich  reißen  und  den  andern  Gegenden  der  Ostschweiz, 
dem  Toggenburg  und  Mittelthurgau,  dem  Glarner-  und  einem  Teil 
des  Appenzellerlandes  gar  nichts  oder  so  wenig  wie  möglich 
lassen,  obwohl  diese  Gegenden  so  viel  Einv/ohner  zählen  wie  die 
schweizerische  Splügenzone.  Die  außerhalb  der  Splügenzone  lie- 
genden Gegenden  hoffen  aber,  in  absehbarer  Zeit  durch  den  Tödi 
an  die  Greinabahn  einen  Anschluss  zu  erhalten,  wenn  sie  sich 
auch  darüber  vollständig  klar  sind,  dass  der  große  Güterverkehr 
immer  den  natürlichen  Weg  über  das  Rheintal  einschlagen  wird, 
soweit  dies  die  Konkurrenz  der  österreichischen  und  deutschen 
Staatsbahnen  zulässt.  Wäre  man  sich  darüber  in  der  Ostschweiz 
klar,  so  würden  nicht  die  gleichen  Leute,  die  tapfer  gegen  den 
Gotth ardvertrag  gekämpft  haben,  drei  unkündbare  Staatsverträge 
für  Verkehrsteilung  mit  Italien,  Österreich  und  Deutschland  als 
erstrebenswertes  Ziel  in  Aussicht  stellen.  Was  das  Schweizervolk 
dazu  sagen  würde,  brauchen  wir  nicht  des  nähern  auszuführen. 
Die  Greinabahn  bedingt  keinen  Vertrag  mit  Italien.  Wir  haben 
genug  an  der  Simplondelegation,  die  keineswegs  die  harmlose  Ein- 
richtung ist,  als  die  man  sie  immer  hinzustellen  beliebt.  Da  bei 
der  Greina  die  Verkehrsteilung  von  Süd  nach  Nord  sich  auf 
schweizerischem  Boden  vollzieht,  so  hat  man  viel  größere  Gewähr, 
dass  der  Verkehr  auf  den  schweizerischen  Linien  bleibt,  und 
auch  wirklich  durch  das  Rheintal  geht.  Das  Greinaprojekt  wäre 
weniger  harmlos  für  das  Rheintal,   wenn  es  sich  darum  handeln 

529 


würde,  die  Linie  und  später  die  Tödibahn  durcli  eine  Privatgesell- 
schaft erstellen  zu  lassen.  Da  aber  nur  die  Bundesbahnen  den 
Bau  ausführen  werden,  so  behalten  sie  auch  hier  das  Messer  in 
der  Hand,  insofern  die  Tödibahn  gebaut  werden  sollte;  sie  werden 
nur  den  Verkehr  über  eine  Tödibahn  leiten,  der  naturgemäß  dort- 
hin gehört. 

Die  Greinabahn  ermöglicht  für  die  ganze  Ostschweiz  Anschluss 
an  eine  internationale  Bahn,  der  Splügen  nur  für  einen  Teil  der 
Ostschweiz;  das  ist  das  Ungerechte  an  der  Sache.  Gerade  der 
Lötschberg  beweist,  wie  absurd  es  ist,  der  Greinabahn  den  inter- 
nationalen Charakter  abzusprechen.  Die  Berner  würden  sich 
dafür  bedanken,  wenn  man  ihre  Alpenbahn  zu  einer  bloßen  Zu- 
fahrtsstraße nach  dem  Simplon  degradieren  wollte.  Die  groß- 
artigen Festlichkeiten  nach  der  letzten  Session  der  Bundesver- 
sammlung beweisen,  dass  die  gegenteilige  Auffassung  vorherrscht. 

Die  schweizerische  Eisenbahnpolitik  steht  heute  an  einem 
Scheideweg.  Was  einmal  da  ist:  die  große  Schuldlast  von  1600 
Millionen  und  die  enormen  baulichen  Aufgaben,  lässt  sich  nicht 
wegdisputieren.  Bei  vorsichtigem  Betrieb  der  Bundesbahnen  kön- 
nen diese  Schwierigkeiten  auch  überwunden  werden.  Aber  in  der 
Ostschweiz  und  teilweise  auch  in  Zürich  scheint  man  zum  Teil  ob  dem 
Lötschbergjubel  alle  kühle  Überlegung  verloren  zu  haben,  wenn 
man  meint,  man  könne  die  Baulast  und  die  Eisenbahnschuld  der 
Bundesbahnen  in  den  nächsten  Jahren  um  etwa  vier  bis  fünf- 
hundert Millionen  vermehren  und  trotzdem  eine  Ostalpenbahn 
erzwingen,  die  auf  eine  nicht  wieder  gut  zu  machende  Schwächung 
des  Gotthards  und  des  Lötschbergs  hinausgeht.  Damit  würde 
nicht  nur  die  Rendite  der  Bundesbahnen  gefährdet,  sondern  die 
Lösung  aller  wichtigen  Verkehrsfragen  in  Frage  gestellt,  alles  nur 
wegen  einer  eisenbahnpolitischen  Zwängerei  und  Rechthaberei.  Die 
Entwicklung  von  Graubünden  beruht  auf  dem  Ausbau  der  Räti- 
schen Bahnen  und  erst  ganz  in  zweiter  Linie  im  Bau  einer  Alpen- 
bahn, heiße  sie  wie  sie  wolle;  der  Kanton  St.  Gallen  hat  wahr- 
lich kein  Interesse,  die  Zukunft  seines  Sorgenkindes,  der  Boden- 
see-Toggenburgbahn  durch  eine  fatale  Schwächung  der  Bundes- 
bahnen zu  untergraben,  von  denen  er  später  einmal  den  Rückkauf 
seiner  „Staatsbahn"  erwartet.  Sicher  ist,  dass  wir  heute  nicht 
machen  können  was  wir  wollen.  Die  ungeheuren  Eisenbahnlasten 

530 


im  Osten  und  Südosten  des  Landes,  im  Kanton  Bern  und  in 
Genf,  die  Verpflichtungen  des  Bundes  und  der  Bundesbahnen 
gegenüber  den  Berner  Alpenbahnen  verbieten  eine  leichtfertige 
Lösung  der  Ostalpenbahnfrage. 

Die  Eröffnung  der  Lötschbergbahn  hat  auf  die  Ostschweiz 
nicht  nur  anregend  gewirkt,  sie  hat  auch  durch  das  damit  be- 
wirkte erhöhte  Risiko  der  Bundesbahnen  das  non  possumus  klar 
gemacht,   zunächst    für    die    Erteilung   einer   Splügenkonzession. 

Nichts  hindert  heute  den  Bund,  den  Staatsbetrieb  einer  Ost- 
alpenbahn grundsätzlich  zu  beschließen;  das  kostet  noch  kein 
Geld,  aber  beruhigt  eine  große  Gegend  und  gestattet  die  Anhand- 
nahme  gewissenhafter  Einzelstudien  für  eine  möglichst  nationale 
und  möglichst  zweckmäßige  Lösung  der  Ostalpenbahnfrage,  die 
auch  gleichzeitig  eine  normale  Entwicklung  der  Berner  Alpen- 
bahn gestattet. 

BERN  J.  STEIGER 

DDO 

VEREINFACHUNG 

DER 

STAATSVERWALTUNG  UND  ERLEICHTERUNG 
DER  STAATSLASTEN 

(Fortsetzung) 
Wenn  es  sich  aber  darum  handelt,  wer  am  Wohnort  für  den 
Armen  einzutreten  habe,  so  jedenfalls  nicht  in  erster  Linie  der 
Staat.  Die  Staatsarmenpflege  ist  ein  müßiger  Einfall,  eigentlich 
nur  eine  Ausflucht,  um  der  Hedinger  Initiative  auszuweichen.  Sie 
muss  nicht  nur  um  dem  Staat  Kosten  zu  ersparen  abgewiesen 
werden,  sondern  aus  der  grundsätzlichen  Betrachtung,  dass  gerade 
das  Armenwesen  am  allermeisten  der  Individualisierung  bedarf 
und  daher  am  allerwenigsten  sich  für  staatliche  Behandlung 
eignet;  abgesehen  davon,  dass  diese  überhaupt  zurückzuhalten 
hat,  soll  man  aus  der  Staatsmisere,  dem  zu  viel  Staat,  heraus- 
kommen. „Russland  ist  groß  und  der  Zar  ist  weit",  und  so  ist 
es  auch  mit  dem  Staat  dem  Armen  gegenüber;  der  Staat  steht 
viel  zu  hoch  und  zu  weit  ab  vom  Armen,  um  dessen  Pflege 
übernehmen  zu  können.    Oder  dann  bedarf  er  gleichwohl  aller 

531 


bisherigen  Zwischenorgane,  die  aber  nicht  mehr  so  öl^onomisch 
verfahren  werden,  weil  es  nicht  auf  ihre  Kosten  geht.  Der  Ver- 
such mit  ihr  ist  auch  schon  in  Preußen  (preußisches  Landrecht) 
und  in  Bayern  gemacht,  aber  wieder  aufgegeben  worden,  in 
Preußen  eigenth'ch  bevor  er  gemacht  war.  Lasse  man  sich  von 
andern  belehren;  es  ist  doch  nicht  nötig,  dass  man  sich  immer 
selbst  die  Finger  verbrenne.  Also  lokale  Pflege,  wie  bisher,  nur 
nach  anderm  Ortsprinzip. 

Aber  wer  hat  sie  am  Ort  zu  übernehmen?  Auch  nicht  die 
Gemeinde,  so  lange  es  freiwillige  Vereine  gibt,  die  sich  dieser 
Pflege  und  zwar  in  unparteiischer  und  ausreichender  Weise  widmen. 
Dabei  denken  wir  allerdings  nicht  an  Vereine,  die  dafür  ein 
größeres  und  teureres  Beamtenpersonal  unterhalten  als  irgend  ein 
Gemeinwesen,  sondern  an  freie  und  Ehrenämter  im  Dienste  der 
Charitas.  Sogar  die  Heilsarmee  hat  größere  Verdienste  um  die 
öffentliche  Wohltätigkeit,  kann  von  dieser  nicht  mehr  entbehrt 
werden  und  muss  schließlich  dem  Gemeinwesen  noch  den  polizei- 
lichen Fahndungsdienst  versehen  helfen.  Es  war  entschieden 
falsch,  über  solche  Vereine  hinweg  eine  amtliche  Armenpflege 
einzurichten  und  damit  schließlich  zu  einer  bureaukratischen  Be- 
handlung des  für  sie  am  allerungeeignetesten  Zweiges  der  Wohl- 
fahrtspflege zu  gelangen.  Ja,  man  muss  wieder  zur  Bildung  von 
Armenvereinen  zurückkehren,  um  diese  Aufgabe  besorgen  zu 
lassen.  Das  ist  nicht  ohne  Beispiel;  der  Kanton  Freiburg  hat, 
nachdem  er  zur  Gemeindearmenpflege  übergegangen  war,  von 
Gesetzes  wegen  wieder  das  System  der  freiwilligen  Armenpflege 
in  den  Vordergrund  gestellt,  und  zwar  nicht  nur  weil  die  amtliche 
Armenpflege  zu  teuer  kam,  sondern  auch  schlechter  arbeitete. 

Eine  freiwillige  Pflege,  die  halbwegs  ihren  Zweck  erfüllt,  ist 
in  jeder  Beziehung  vorzuziehen:  sie  richtet  sich  mehr  nach  den 
Umständen  und  Bedürfnissen  des  einzelnen  Falles;  sie  ist  für  den 
Armen  weniger  bedrückend  und  beschämend,  weil  verschwiegener 
als  eine  amtliche  Armenpflege,  und  der  Arme  fühlt  sich  dabei  als 
Mensch  unter  Seinesgleichen  und  nicht  bloß  als  Gegenstand  oder 
Opfer  einer  fremden,  kalten  und  nur  zu  oft  widerwilligen  Sorge; 
sie  ist  auch  billiger,  da  mancher  von  seinem  Überfluss  hergibt, 
was  für  die  Hebung  oder  Linderung  der  Not  des  andern  unter 
Umständen   vollkommen   ausreicht,   und,   was  vom  größten  Wert 

532 


für  die  Mitglieder  selbst  und  die  Gemeindegenossen  überhaupt 
ist,  sie  erzieht  zum  Altruismus,  zur  Teilnahme  an  der  Sorge  der 
Armen  und  Unglücklichen,  statt  sie  dem  künstlichen,  gefühllosen 
Gemeinwesen  zu  überlassen.  Und  ein  solcher  Verein  erfüllt 
natürlich  seine  Aufgabe  um  so  besser,  ist  um  so  kräftiger  und 
tätiger,  je  mehr  Mitglieder  ihm  angehören;  die  ganze  Gemeinde 
gewissermaßen  soll  Einen  Verein  bilden,  um  sich  gegenseitig,  wo 
es  not  tut,  zu  helfen,  so  dass  sich  davon  auszuschließen  als  selbst- 
süchtig und  unehrenhaft  erschiene  und  ein  edler  Wetteifer  unter 
den  Mitgliedern  nach  Maßgabe  ihrer  Kraft  und  Zeit  im  Kampf 
gegen  Not  und  Unglück  einträte.  Alle  für  Einen;  dadurch  werden 
auch  alle  einander  näher  gebracht,  und  nur  das  ist  wahrhaft  de- 
mokratisch. Dabei  kann  sich  die  Gemeinde  auf  die  Aufsicht  und 
Nachhilfe  beschränken,  um  nur  nötigenfalls  mit  obrigkeitlichen 
Mitteln,  dem  Befehlsrecht,  Polizeirecht  und  Steuerrecht,  einzu- 
greifen. Umso  weniger  braucht  es  den  Staat,  der  über  beiden 
steht,  und  nur  für  das  richtige  Ineinandergreifen  und  Zusammen- 
arbeiten der  beiden  vor  ihm  stehenden  Organe  zu  sorgen  hat. 
Das  ist  eine  ganz  andere  und  die  allein  richtige  Stellung  des 
Staates,  in  diesem  Zweige  der  öffentlichen  Wohlfahrt  wie  in 
andern,  leichter  und  billiger  für  ihn,  und  freier  und  segensreicher 
für  die  gemeindlichen  und  individuellen  Kräfte,  die  er  in  sich 
birgt. 

Eine  solche  Armenpflege  beschränkt  sich  ihrer  Natur  nach 
auch  nicht  auf  die  eigentlichen  Almosengenössigen.  Schon  der 
Makel  dieses  Namens  fällt  dahin.  Es  entsteht  kein  gelehrter  und 
sublimer  Streit  über  das,  was  almosengenössig  sei,  um  die  Hilfe 
nur  denjenigen  zuzuwenden,  die  gerade  die  Voraussetzung  dieses 
Begriffes  erfüllen.  Vielmehr  wird  überall  geholfen  oder  zu  helfen 
gesucht,  wo  und  soweit  es  not  tut.  Es  kann  eine  Person  oder 
eine  Familie,  die  nicht  zu  den  dauernd  Unterstützungsbedürftigen 
gehört,  momentan  Mangel  leiden;  dem  soll  abgeholfen  werden, 
ohne  lange  zu  fragen,  ob  der  Name  wirklich  zur  Liste  der  zu 
Unterstützenden  gehört.  Je  bälder  das  Loch  zugestopft  wird,  um 
so  weniger  zerfällt  das  ganze  Haus,  und  eine  baldige  und  aus- 
reichende Abhilfe  eines  vorübergehenden  Notstandes  ist  geeignet, 
einem  Falle  dauernder  Unterstützungsbedürftigkeit  vorzubeugen 
und  so  größere  und  bleibende  Ausgaben  zu  ersparen.    So  bildet 

533 


diese  Art  Armenpflege  den  richtigen  Übergang  zu  der  andern 
Sorge  für  Arme  und  Notleidende,  der  Sorge  für  das  Proletariat, 
der  Sozialpolitik.  Das  amtliche  Armenwesen  ist  in  solchen  Ruf 
gekommen,  dass  ihm  die  Sozialpolitik  eigentlich  entgegengestellt 
wird,  um  es  zu  unterdrücken  und  zu  beseitigen.  Die  Armenpflege 
wird  aber  nie  ganz  entbehrlich  sein;  in  der  besten  der  Welten 
wird  es  immer  noch  Fälle  der  Not  geben.  Statt  sich  abzustoßen 
sollten  beide  in  einander  eingreifen;  die  Armenpflege,  um  zu 
halten  und  zu  stützen,  was  die  Sozialpolitik  noch  nicht  aus  aller 
Not  zu  erlösen  vermag;  die  Sozialpolitik,  um  der  Armenpflege 
die  Sorge  mehr  und  mehr  abzunehmen  und  sie  schließlich  ent- 
behrlich zu  machen. 

Für  die  Sozialpolitik  handelt  es  sich  darum,  das  Proletariat, 
das  heißt  die  große  Masse  des  Volkes,  die,  um  leben  zu  können, 
täglich  auf  ihre  Arbeit  angewiesen  ist,  nicht  in  die  Klasse  der 
Pauperi,  der  Almosengenössigen,  die  fremder  Unterstützung  be- 
dürfen, versinken  zu  lassen,  sondern  ihre  Lebenslage  zu  erleich- 
tern und  zu  verbessern,  sie  möglichst  selbständig  und  unab- 
hängig zu  machen.  Gewiss  soll  sie  wie  die  Armenpflege  Gegen- 
stand der  Aufmerksamkeit  des  Staates  und  Gemeinswesen  sein; 
steht  doch  das  Wohl  der  großen  Masse  der  Bevölkerung  auf  dem 
Spiel,  nach  dem  sich  das  des  Staates  selbst  bestimmt.  Damit  ist 
aber  wie  bei  der  Armenpflege  wieder  durchaus  nicht  gesagt,  dass 
die  Sorge  dafür  ausschließlich  oder  auch  nur  in  erster  Linie  Sache 
des  Staates  sei ;  das  Gemeinwesen  hat  nur  darauf  zu  sehen,  dass 
es  an  dieser  Sorge  nicht  fehle. 

Der  Staat  hat  im  ersten  Überschwang  seines  Mitgefühls  für 
das  Proletariat  zunächst  die  mancherlei  Unentgeltlichkeiten  obrig- 
keitlicher Leistungen  wie  für  Unterricht  und  Beerdigung  eingeführt. 
Aber  diese  Unentgeltlichkeiten  haben  nicht  nur  ihre  Grenze,  in- 
dem die  obrigkeitlichen  Leistungen  sich  denn  doch  nicht  auf  alle 
Lebensäußerungen  erstrecken,  sondern  sie  liegen  dem  Gemein- 
wesen auch  viel  zu  teuer  an  und  sind  denn  seither  auch  nicht 
vermehrt  worden.  Vor  allem  aber  schießen  sie  über  das  Ziel 
hinaus,  indem  sie  auch  den  Wohlhabenden  und  Reichen  zukom- 
men, die  solche  Leistungen  sehr  wohl  zu  vergüten  in  der  Lage 
wären;  insofern  macht  das  Gemeinwesen  noch  Geschenke,  was 
gewiss  ein  Überfluss  ist,   namentlich   wenn   es  selbst  in  Defiziten 

534 


und  Schulden  steckt.  Statt  der  Unentgeltlichkeiten  wäre  ein  pro- 
gressives Gebührensystem  vorzuziehen,  das  gestattete,  auf  Kosten 
der  Vermöglichen  die  andern  um  so  mehr  freizuhalten,  ohne  aber 
auch  ihnen  (abgesehen  von  den  Unterstützungsbedürftigen,  für 
die  allein  die  Unentgeltlichkeit  gerechtfertigt  ist)  die  Leistung 
völlig  zu  schenken.  Geschenke  machen  Bettler,  und  der  rechte 
Proletarier  will  auch  gar  nichts  geschenkt  haben;  nur  soll  er 
nicht  über  seine  Leistungsfähigkeit  hinaus  bezahlen  müssen.  Die 
Unentgeltlichkeiten  haben  also  auch  noch  eine  demoralisierende 
Wirkung,  während  ein  rationelles  Gebührensystem,  außer  dass  es 
dem  Staat  das  ihm  so  Nötige  zurückgibt,  dem  Einzelnen  das 
Gefühl  der  Selbständigkeit  verleiht  und  ihn  dadurch  hebt  und 
kräftigt. 

Die  Hauptsache  aber  beim  Proletariat  bildet  das  Arbeiter- 
verhältnis, und  so  erscheint  dieses  auch  als  der  Hauptgegenstand 
der  Sozialpolitik.  Einerseits  handelt  es  sich  darum,  dass  der 
Arbeiter,  solange  er  in  Arbeit  steht,  vor  Lebens-  und  Gesund- 
heitsgefährdung und  vor  ökonomischer  Ausbeutung  geschützt 
werde;  anderseits  ist  gegen  den  Ausfall  an  Arbeit  oder  Arbeits- 
verdienst, wodurch  er  seinen  Unterhalt  verlöre  und  der  Unter- 
stützung anheimfiele,  Vorsorge  zu  treffen. 

Das  erste  besorgt  die  Arbeiterschutzgesetzgebung,  speziell 
das  Fabrikgesetz,  und  zwar  ohne  weitere  Kosten  für  den  Staat 
als  die  jeder  Gesetzgebung  und  ihrer  Vollziehung  und  auf  ge- 
rechte Unkosten  desjenigen,  der  aus  der  Arbeit  den  meisten  Vor- 
teil zieht,  des  Arbeitsherrn.  Als  der  Kern  ist  ja  wohl  der  Maxi- 
malarbeitstag angesehen;  dieser  aber  ist  nur  das  Symptom  einer 
falschen  Richtung.  Es  kann  doch  im  Interesse  des  Kulturfort- 
schrittes sozusagen  nicht  genug  gearbeitet  werden  und  jedem 
rechten  Menschen  ist  auch  keine  Arbeit  zu  viel;  nur  wäre  dafür 
zu  sorgen,  dass  alle  den  ganzen  Lohn  für  ihre  Arbeit  erhielten. 
Auch  durch  die  ganze  Arbeiterschutzgesetzgebung  ist  dieser  Zweck 
noch  nicht  erreicht  worden,  der  die  große  Arbeiterfrage  ausmacht. 

Die  Sorge  bei  Ausfall  an  Arbeit  oder  Arbeitsverdienst,  die 
eigentliche  Arbeiterfürsorge  mit  Arbeitslosenversicherung,  Kranken- 
und  Unfallversicherung,  Invaliditäts-  und  Altersversicherung,  hat 
der  Staat  anderseits  ohne  weiteres  auf  sich  selbst  nehmen  zu 
müssen    geglaubt,   und    hat  sich   damit,  soweit  er  die  Idee  ver- 

535 


wirklicht  hat,  riesige  Lasten  aufgebürdet  oder  steht  im  Begriff, 
es  zu  tun.  Das  ist  der  Staatssoziahsmus,  und  den  hat  Bismarck 
in  Mode  gebracht.  Er  hat  sich  aber  dabei,  wohlgemerkt,  weniger 
von  einem  Mitgefühl  für  das  Proletariat,  als  vielmehr  vom  Streben 
leiten  lassen,  dem  Sozialismus  ein  Paroli  zu  bieten.  Der  Staats- 
sozialismus hat  denn  auch  alle  Nachteile  an  sich,  die  schon  an 
der  früheren  Form  des  direkten  Eingriffes  des  Staates  zugunsten 
des  Proletariates  und  auch  an  der  unmittelbaren  amtlichen  Armen- 
pflege festzustellen  waren:  immense  Kosten  für  das  Gemein- 
wesen und  doch  eine  schlechte,  weil  schablonenhafte,  bureau- 
kratische  Besorgung,  und  über  alledem  eine  Verweichlichung  und 
Demoralisierung  des  Volkes,  die  darin  liegt,  dass  man  es  ge- 
wöhnt, alles  vom  Staat  zu  erwarten.  Statt  dass  jeder  sich  zu- 
nächst und  möglichst  selbst  zu  helfen  sucht  und  dass  der  Staat 
diese  Privatinitiative  fördert  und  bei  ihr  einsetzt,  um  erst  und 
nur  in  dem  Maße  nachzuhelfen,  wann  und  soweit  es  nicht 
anders  geht. 

Das  Mittel  aber  für  eine  ausgiebige  Privatinitiative  bietet  das 
Genossenschaftswesen.  Die  Genossenschaften  sind  denkbar  für 
alle  möglichen  Lebensäußerungen  und  Bedürfnisse,  und  ihr  Recht 
und  ihre  Einrichtung  sind  bekannt  genug,  um  überall  zur  An- 
wendung gebracht  werden  zu  können ;  darüber  ist  hier  nicht 
weiter  zu  reden.  Speziell  zum  Zwecke  der  Hebung  und  Stärkung 
des  Proletariates  ist  es  ausgebildet  worden  und  hat  namentlich 
in  England  eine  vorbildliche  Gestalt  und  Ausbreitung  gewonnen. 
Statt  sich  also  ohne  weiteres  selbst  vorzuschieben  und  dann  so 
unzulängliche  Arbeit  zu  liefern,  lasse  der  Staat  die  Genossen- 
schaften vorgehen,  muntere  zur  Bildung  auf,  wo  es  daran  fehlt 
und  helfe  nach,  soweit  es  nötig  ist;  dann  hat  er  seine  Aufgabe 
erfüllt,  besser  als  auf  dem  andern  Wege,  und  was  für  ihn  die 
Hauptsache  ist,  er  behält  freien  Kopf  und  freie  Hand.  Die 
zürcherische  Verfassung,  Art.  23,  hat  unsern  Staat  noch  speziell 
auf  dieses  Mittel  verwiesen,  ja  es  ihm  zur  Pflicht  gemacht; 
mache  er  die  Vorschrift  doch  einmal  zur  Tat,  und  er  wird  sehen, 
dass  nicht  nur  denen,  für  die  er  sorgen  will,  damit  am  besten 
geholfen  ist,  sondern  auch  ihm  selbst  und  seiner  Not;  er  wird 
ja  sonst  noch  selbst  zum  Proletarier  und  Almosengenössigen, 
bis  alles  zusammen  im  gleichen  Elend  steckt.  Er  muss  nur  plan- 

536 


mäßig  vorgehen,  und  er  wird,  je  mehr  er  das  Genossenschafts- 
wesen zur  Entfaltung  bringt,  sich  mähh'g  um  so  mehr  erleichtert 
fühlen.  Eine  nähere  Wegleitung  wird  es  hier  nicht  brauchen,  die 
ist  ihm  schon  oft  und  viel  genug  gegeben  worden.  Und  vielleicht 
gelangt  dann  der  Staat  einmal  dazu,  nicht  nur  den  Zusammen- 
schluss  von  Arbeitern  unter  sich  zur  Stärkung  und  Kräftigung 
des  Proletariates  zu  fördern,  sondern  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer zu  Genossenschaften,  Produktivgenossenschaften  zu  ver- 
einigen, die  sie  ja  tatsächlich  bereits  darstellen.  Dann  wird 
durch  die  Genossenschaft  auch  Arbeit  und  Gewinn  gerecht  ver- 
teilt werden  und  damit  nicht  nur  die  Not  des  Proletariates,  son- 
dern das  Proletariat  selbst  beseitigt  und  die  große  soziale  Frage 
gelöst  sein. 

Nun  noch  zur  Landschaft.  Neben  den  Armen  und  Not- 
leidenden ist  diese  mehr  als  bisher  zu  berücksichtigen.  Wir  sagen 
nicht  speziell  „Landwirtschaft",  obschon  diese,  was  von  vorne- 
herein zuzugeben  ist,  den  Hauptteil  der  Interessen  der  Landschaft 
bildet;  neben  ihr  gibt  es  aber  noch  andere  landschaftliche  Ver- 
hältnisse, auch  Industrien  und  Geschäfte  der  Landschaft,  die  von 
der  besonderen  Sorge  für  die  Landschaft  Nutzen  zu  ziehen  das 
Bedürfnis  und  das  Recht  haben.  Diese  Sorge  hat  zum  Gegen- 
stand, einerseits  einen  größern  Ausgleich  zwischen  Stadt  und  Land 
herbeizuführen  (äußere  Landschaftspolitik)  und  anderseits  die 
Interessen  der  Landschaft  selbst  (innere  Landschaftspolitik)  mehr 
zu  pflegen. 

Die  äußere  Landschaftspolitik  besteht  vor  allem  in  einer  mög- 
lichst guten  Verbindung  von  Stadt  und  Land,  um  den  Verkehr 
zwischen  beiden  zu  erleichtern  und  zu  heben.  Dazu  dienen  die 
Verkehrsanstalten,  vor  allem  die  Straßen,  weiter  die  Posten  und 
die  verbesserten  Straßen,  wie  sie  heißen,  die  Eisenbahnen.  Solcher 
Anstalten  zwischen  Stadt  und  Land  können  gewissermaßen  nicht 
genug  sein,  so  lange  sie  nicht  unnötiger-  oder  unnützerweise  dem 
Lande  kulturfähiges  Gebiet  entziehen.  Jedenfalls  kommt  es  dafür 
nicht  auf  die  Kosten  an,  die  kaum  besser  angelegt  werden  können. 
Es  ist  aber  erst  jüngst  von  maßgebender  Stelle  aus  erklärt  worden, 
wir  hätten  nur  zu  viel  Straßen,  ein  Ausspruch,  der  vom  Kosten- 
punkte ausgeht  und  daher  nicht  wohl  motiviert  erscheint.  Das 
Sparen   ist   schon    recht,   und    unsere  ganze  Abhandlung    richtet 

537 


sich  darauf,  aber  es  soll  nicht  gerade  auf  Kosten  des  Landes 
geschehen. 

Eine  Vermahnung  dieser  Art  hätte  eher  die  Hauptstadt  nötig, 
die  sich  auch  in  dieser  Beziehung  schwer  übernimmt  und  über- 
lastet. Die  Ingenieure  sind  für  ein  Gemeinwesen  was  die  Archi- 
tekten, und  statt  sie  nur  zur  Ausführung  der  nötig  oder  wenigstens 
nützlich  befundenen  Anstalten  zu  gebrauchen,  überlässt  man  ihnen 
die  ganze  Leitung  in  diesem  so  kostspieligen  Zweig.  Die  Straßen 
kosten  Geld,  doppelt  und  dreifach,  nicht  nur  positiv  für  Anlage 
und  Unterhalt,  sondern  auch  negativ  dadurch,  dass,  was  vom 
Privateigentum  das  Straßengebiet  verschlingt,  für  Steuern  und 
andere  öffentliche  Auflagen  verloren  ist.  Jede  vorzeitige  oder 
übermäßige  Straßenanlage  ist  eine  insofern  unnötige  und  schwere 
öffentliche  Belastung.  Und  wie  viele  „Zukunftsstraßen"  werden 
nicht  in  Zürich  gebaut,  auf  denen  zurzeit  und  noch  lange  hin 
Gras  wächst  (sogenannte  Außersihlerstraßen);  und  dann  alles  wie 
Heerstraßen  so  breit,  im  Winter  schneidend  kalt  und  im  Sommer 
schattenlos  heiß;  nur  in  der  Innern  Stadt  kann  man  sich  noch  im 
Sommer  vor  der  Hitze  und  im  Winter  vor  der  Kälte  retten.  Wir 
wünschen  zwar  die  alten  engen  Anlagen  der  befestigten  Städte 
nicht  gerade  zurück,  aber  alles,  auch  die  Frei-  und  Breitlegung, 
hat  seine  Grenzen.  Über  die  Stellung  der  Trams  zu  den  Straßen 
wäre  noch  besonders  zu  reden.  Nicht  zu  sprechen  von  den  ewi- 
gen Schürfungen  und  Erdbewegungen  in  den  Straßen.  Als  ein 
Pariser  Gamin  gefragt  wurde,  warum  das  Trottoir  aufgebrochen 
werde,  meinte  er:  „Cest  parce  qu'un  monsieur  y  a  perdu  deux 
sous;"  das  heißt  um  nichts  und  aber  nichts. 

Mag  die  Stadt  übrigens  auch  in  dieser  Beziehung  wirtschaften 
wie  sie  will,  der  Staat  jedenfalls  soll  sein  Geld  dafür  behalten, 
um  es  eher  der  so  nötigen  Verbindung  der  Landschaft  unter  sich 
und  mit  der  Stadt  zuzuwenden.  Auch  die  Automobilsteuer,  bei 
deren  Beratung  die  Straßenfrage  aufgeworfen  worden  ist,  gehört 
dem  Lande  und  nicht  der  Stadt.  Sie  ist  laut  ihrer  Begründung 
bestimmt,  die  infolge  der  außergewöhnlichen  Inanspruchnahme 
des  Straßennetzes  durch  den  Automobilverkehr  dem  Staate  ent- 
stehenden Ausgaben  zu  kompensieren,  und  das  geht  auf  das  Land; 
abgesehen  davon,  dass,  wie  von  den  Landvertretern  selbst  betont 
worden  ist,  das  Land  unter  dem  Automobilverkehr  mehr  zu  leiden 

538 


hat  als  die  Stadt,  wo  schon  die  Fahr-  und  Qeschwindigl<eitsverbote 
gerade  den  Gefahren  und  Schädh'chkeiten  des  Automobilverkehrs, 
denen  das  Land  ausgesetzt  ist,  vorbeugen.  Nichtsdestoweniger 
die  Hälfte  der  ganzen  Gebühren  für  die  Städte  zu  beanspruchen 
machte  der  Bescheidenheit  der  städtischen  Vertreter  nichts. 

Im  übrigen  hat  die  äußere  Landschaftspolitik  eine  doppelte 
Richtung:  einerseits  soll  der  sogenannten  Abwanderung  (missver- 
ständlich auch  Binnenwanderung  genannt),  das  heißt  dem  Zug 
oder  der  Flucht  vom  Land  in  die  Stadt  entgegengewirkt  werden; 
anderseits  ist  aber  auch  der  Verkehr  nach  dem  Lande  zu  heben 
und  zu  diesem  Zweck  dessen  Anziehungskraft  zu  verstärken. 
Beide  Arten  von  Maßnahmen  beeinflussen  freilich  einander:  was 
den  Zug  nach  der  Stadt  hemmt,  erhöht  das  Beharren  auf  dem 
Land  oder  gar  den  Zuzug  nach  diesem,  und  umgekehrt;  aber  die 
Maßnahmen  lassen  sich  doch  darnach  scheiden,  je  nachdem  sie 
das  eine  oder  das  andere  zum  ersten  und  eigentlichen  Zwecke 
haben.  In  der  ersten  Richtung  wirkt  die  Abwanderungs-  oder  viel- 
mehr Anti-Abwanderungspolitik.  Dass  die  übermäßige  Zuwanderung 
nach  den  Städten  verkehrt  und  verderblich  ist,  steht  fest.  Ver- 
kehrt für  den  Einzelnen,  indem  die  Hoffnung  auf  Besserstellung 
in  der  Stadt  vielfach  eine  Chimäre  ist,  die  ihn  erst  recht  der 
Arbeits-  und  Verdienstlosigkeit  und  damit  dem  Elend  überliefert; 
verderblich  aber  für  das  Gemeinwesen  nach  beiden  Seiten,  nach 
Stadt  und  Land:  die  Stadt  wird  mit  müßigen  und  gefährlichen 
Elementen  überfüllt  und  das  Land  von  den  nötigen  Arbeitskräften 
entblößt.  Dem  entgegenzuwirken  erscheint  also  nicht  nur  durch- 
aus gerechtfertigt,  sondern  dringend  geboten.  Aber  wie?  Unsere 
Sozialpolitiker  stehen  vor  dieser  Frage  wie  am  Berg.  Prinzipiell 
ist  die  Antwort  einfach:  die  besondere  Attraktion  der  Städte  zu 
schwächen  oder  zu  brechen.  Wie  das  geschieht,  richtet  sich 
darnach,  was  alles  als  solche  Attraktion  zu  betrachten  ist.  Jeden- 
falls soll  der  Staat  nicht  noch  sein  gutes  Geld  ausgeben,  um  die 
Gelegenheiten  der  Anziehung  zu  verstärken  oder  zu  vermehren, 
und  dazu  gehören  spezifisch  städtische  Veranstaltungen,  das  heißt 
solche,  die  nicht  wohl  dem  ganzen  Staatswesen  und  also  auch 
dem  Lande  dienen  können,  wie  Theater,  Konzerte,  Kunstsalons, 
Museen,  Lesezirkel  etc.  Dann  auch  eine  ein-  und  durchgreifende 
Beschränkung   polizeilicher  Bewilligungen  für  Wirtschaften,    Ver- 

539 


gnügungslokale  und  -anlasse  etc.  Jedenfalls  sollten  einmal  alle 
irgendwie  dubiosen  Geschäfte  dieser  Art,  Animierkneipen,  ver- 
schwiegene Tabakläden,  ausgekehrt  werden,  wie  der  Augias-Stall 
mit  dem  Besen  des  Herkules.  Also  nicht  aus  kalvinistischer 
Sittenstrenge,  sondern  im  wohlverstandenen  Interesse  einer  ge- 
sunden Politik;  aber  auch  etwas  mehr  puritanischer  Geist  schiene 
in  der  Stadt  Zwingiis  nicht  unangebracht.  Die  Stadt  wird  wohl 
auf  ihre  Eigenschaft  als  Großstadt  nicht  so  eifersüchtig  sein,  um 
den  Abschaum  einer  solchen  noch  in  Schutz  zu  nehmen.  Staat 
und  Gemeinde  könnten  sich  einiges  an  Polizei,  Justiz  und  Ge- 
fängnissen ersparen.  Weiter:  Verweisung  von  Fabrikgeschäften  und 
ähnlichem  aus  der  Stadt  durch  Baugesetz  oder  Gewerbegesetz; 
sie  gehören  auch  nicht  in  dicht  bevölkerte  Wohnplätze,  und  zwar 
nicht  nur  die  sicherheitsgefährlichen,  sondern  auch  die  gesund- 
heitschädlichen und  lärmenden  Betriebe. 

Anderseits  ist  aber  auch  der  Zug  aufs  Land  zu  fördern.  Das 
geschieht  schon  durch  jene  Verweisung  privater  Geschäfte  aus 
der  Stadt,  indem  sie  das  zugehörige  Betriebspersonal  aufs  Land 
mit  sich  ziehen.  Vielleicht  dürfte  die  Anlage  von  weitern  Ge- 
schäften auf  dem  Lande  begünstigt  werden  durch  Ermäßigung 
von  Gebühren  und  Steuern,  billige  Überlassung  von  Staats-  oder 
Gemeindeland.  Es  bliebe  der  Stadt  noch  genug.  Aber  auch 
der  Staat  selbst  soll  bei  seinen  Anstalten  und  Veranstaltungen 
das  Land  besser  berücksichtigen.  Es  war  bei  Beratung  der  heu- 
tigen Verfassung  beantragt  worden,  die  Kantonsratssitzungen  ab- 
wechselnd auf  dem  Lande  abzuhalten;  schade  um  die  Idee,  aber 
gerade  die  Landvertreter  wollten  nicht,  sie  kommen  auch  lieber 
in  die  Stadt  .  .  .  Auch  wären  die  Messen  und  Märkte  zu  beleben 
und  dafür  der  Hausierhandel  abzustellen,  der  das  Land  nur  ab- 
grast und  zudem  das  Bettler-  und  Stromertum  groß  zieht.  Weiter 
schiene  eine  größere  Dezentralisation  der  Staatsanstalten  angezeigt, 
und  zwar  im  Interesse  nicht  nur  der  Landschaft,  sondern  des 
Staates  selbst.  Statt  sie  auf  einem  Platze  und  vorzugsweise  in 
der  Hauptstadt  und  auf  Kosten  des  Staates  zu  konzentrieren, 
könnten  sie  über  das  Land,  wenigstens  auf  die  bedeutendsten 
Bezirkshauptorte  oder  sonstige  große  Landgemeinden  verteilt 
werden,  und  diese  würden  sich  gewiss  mit  Rücksicht  auf  die  er- 
höhte Nachfrage  nach  landwirtschaftlichen,  industriellen  und  andern 

540 


Erzeugnissen,  den  vermehrten  Verkehr,  den  sie  dadurch  gewännen, 
zur  Beteihgung  an  den  Kosten  bereit  finden  lassen.  Au:h  die 
weitere  Umgebung  des  gewählten  Ortes  hätte  davon  Vortc" ;  sie 
stände  in  näherer  Verbindung  mit  der  betreffenden  Staatsanstalt 
und  hätte  ihren  Gewinn  an  der  erhöhten  Gewerbstätigkeit.  So 
bildeten  sich  eine  Anzahl  kleinerer  Zentren  im  Lande,  statt  dass 
alles  der  einen  und  einzigen  Hauptstadt  zufällt  und  zuläuft. 

In  den  Städten  gibt  es  Waisenhäuser  mit  mustergültiger  Ein- 
richtung und  von  großem  Ruf;  was  aber  hat  das  Land  in  dieser 
Art?  Wie  verschieden  ist  darnach  die  Behandlung  der  armen 
Waisen,  die  doch  für  ihre  Herkunft  nichts  können.  Ähnliche  An- 
stalten auch  auf  dem  Lande  zu  errichten  schiene  ein  dringendes 
Bedürfnis,  zu  dessen  Befriedigung  das  Land  aufzumuntern  eine 
Staatshilfe  segensvoll  angewendet  wäre.  Auch  die  Kranken-  und 
Versorgungsanstalten  des  Staates,  statt  in  der  Stadt  immer  mehr 
erweitert  und  vergrößert  zu  werden  und  den  Staat  allein  zu  be- 
lasten, so  dass  er  ihrer  in  jeder  Hinsicht,  aus  Raum-  und  Geld- 
not, bald  nicht  mehr  Meister  wird,  ließen  sich  auf  das  Land  ver- 
teilen. Wie  das  Kasernensystem  durch  das  sogenannte  Pavillon- 
system überwunden  worden  ist,  so  brauchte  es  nur  einen  Schritt 
weiter,  um  zu  dem  hier  gemeinten  System  zu  gelangen,  das  sich 
Landschaftssystem  nennen  könnte.  Dass  die  Konzentration  eines 
Betriebes  billiger  sei,  ist  ein  Satz,  dessen  Wahrheit  sehr  bald  ihre 
Grenze  hat,  von  der  an  umgekehrt  alles  teurer  wird,  durch  bureau- 
kratisch  vermehrtes  Personal,  durch  vermehrte  Nachfrage  nach  allen 
Einzelheiten  des  ganzen  Bedarfes.  Überall  bewirkt  eben  die  Über- 
treibung das  Gegenteil.  Und  wenn  es  sich  speziell  um  eine  An- 
stalt in  der  Stadt  handelt,  so  kommen  dazu  noch  die  teureren 
städtischen  Preise  für  alles  und  jedes:  für  Grund  und  Boden, 
Bauten,  Personal,  Lebensmittel  etc.  Man  sehe  sich  nur  die  Staats- 
rechnungen darauf  an,  und  man  wird  bald  inne,  dass  man  es  auf 
dem  Lande  billiger  haben  könnte.  Dazu  für  die  Bedürftigen  der 
Vorteil  größerer  Nähe  dieser  Staatsanstalten,  die  schließlich  allen 
gleicherweise  zugut  kommen  sollen;  weiter  der  hilf- und  bildungs- 
reiche Einfluss  auf  eine  nähere  und  weitere  Umgebung. 

Ähnliches  gilt  von  der  Irrenanstalt,  die  nachgerade  zu  einem 
Pferch  ersten  Ranges  geworden  ist,  in  den  man  mit  dem  Gefühl 
eintritt,   als   ginge   es   in  jene  Welt,  wo  es  heißt:    Lasciate   ogni 

541 


speranza !  Je  konzentrischer  und  daher  größer  alle  diese  Anstalten, 
um  so  mehr  muss  natürlich  auch  die  Individualisierung  der  Be- 
handlung, die  den  guten  und  raschen  Erfolg  bedingt,  darangegeben 
werden,  und  um  so  mehr  wachsen  wieder  die  Kosten  oder  wer- 
den gar  nutzlos. 

Auch  mit  der  kantonalen  Strafanstalt  ist  es  so  eine  Sache; 
sie  steht  zwar  nicht  mehr  mitten  in  der  Stadt,  bildet  aber  den 
Gipfel  der  Zentralisation.  Sie  gilt  wohl  als  Muster  eines  Baues 
dieser  Art  und  des  Qefängnissystems  überhaupt;  aber  der  Kanton  ist 
zu  klein,  um  ohne  Überanstrengung  Allerweltsinstitute  zu  schaffen, 
und  wenn  er  es  anders  ebenso  gut  und  billiger  habe  konnte,  so 
war  das  trotz  geringeren  Ruhmes  vorzuziehen.  Ja,  wenn  die 
Nachbarkantone  sich  daran  hätten  beteiligen  lassen!  So  aber 
hätten  für  die  leichteren  Straffälle  wohl  gewisse  Bezirksgefängnisse 
ausgebaut  werden  können,  die  sich  auch  auf  einfachere  Weise 
wieder  erweitern  ließen.  Die  zentrale  Anstalt  hätte  sich  dann 
darauf  beschränken  können,  die  eigentlichen  Kapitalverbrecher 
und  daneben  etwa  noch  den  Abhub  der  benachbarten  Groß- 
stadt aufzunehmen. 

Endlich  ein  Wort  über  die  Kantonsschule.  Was  hat  diese 
den  Kanton  Geld  gekostet,  und  doch  wird  sie  für  den  Andrang 
bald  wieder  zu  klein  sein.  Diesem  aber  durch  Beschränkung  der 
Zulassungsbedingungen  zu  wehren,  erscheint  verkehrt;  die  Mittel- 
schulen als  Anstalten  allgemeiner  Bildung  sollen  dem  freien  Zu- 
gang durchaus  offen  stehen.  Hätte  sich  nicht  die  Mittelschule 
teilen  lassen,  um  die  untern  Klassen  dem  Lande,  etwa  den  haupt- 
sächlichsten Bezirkshauptorten  zu  übergeben?  Der  Staat  hätte 
sich  die  Hälfte  der  Kosten  und  mehr  ersparen  können  und  dazu 
die  übrigen  Interessen  erst  noch  besser  gefördert.  Für  die  Stadt 
Zürich  hätte  dann  wohl  die  alte,  so  frei  thronende  und  impo- 
sante Kantonsschule  ausgereicht,  und  an  den  Mittelschulen  des 
Landes  würde  dieses,  um  sie  zu  bekommen,  gewiss  gerne  mitge- 
tragen haben.  Die  Eltern  hätten  die  Jüngern  Schüler  noch  mehr 
bei  sich,  wüssten  sie  besser  geschützt,  weniger  großstädtischen 
Verführungen  ausgesetzt,  und  die  Unterbringung  würde  ihnen 
leichter  und  billiger.  Anderseits  gewänne  das  Land  nicht  nur  jene 
materiellen  Vorteile,  von  denen  bereits  die  Rede  war,  sondern 
nähme  auch  Teil  an  der  geistigen  Anregung  und  Bildung,  die  von 

542 


höheren  Schulanstahen  auszustrahlen  pflegt;  der  Segen  dieser 
Bildung  würde  sich  gleichmäßiger  über  Stadt  und  Land  ausbreiten 
und  damit  nicht  nur  dem  Lande,  sondern  dem  Staat  im  ganzen 
dienen.  Die  Einrichtung  wäre  kein  Experiment;  sie  besteht  be- 
reits in  den  Bezirksschulen  von  Aargau  und  St,  Gallen,  und  diese 
haben  sich  in  einer  Weise  bewährt,  die  ihren  bleibenden  Bestand 
verbürgt  und  sie  zu  vorbildlichen  Schulanstalten  erhoben  hat. 

Statt  dessen  sollen  nun  sogar  die  Stadtschulen  von  Winterthur 
kantonal  werden !  Sie  bleiben  ja  wohl  an  der  Stelle,  aber  sie  sollen 
auf  den  Kanton  übergehen,  und  die  Stadt  selbst  will  sie  ihm  an- 
hängen. Winterthur,  das  auf  seine  städtischen  Mittelschulen  so 
eifersüchtig  und  so  stolz  war,  und  mit  Recht,  nicht  nur  deshalb, 
weil  sie  immer  in  hohem  Rufe  standen,  sondern  weil  es  seine 
eigenen,  Winterthurs  Schulen  waren.  Was  würden  die  Geilfus 
und  Dändliker  (Johann  Jakob  D.)  dazu  sagen?  Die  Welt  kehrt 
sich  um.    Oh,  über  diese  Allesverstaatlichung! 

Von  der  Universität  ist  hier  nicht  zu  reden;  sie  lässt  sich 
als  solche  nicht  dezentralisieren.  Aber  ob  sie  sich  nicht  zur  eid- 
genössischen hätte  erheben  lassen?  Die  Kosten  wären  ja  wohl 
nicht  größer  gewesen,  und  wenn  auch,  das  Volk  hätte  dafür  ge- 
wiss das  Plus  noch  gerne  übernommen,  und  übrigens  hätte  ihr 
zugelegt  werden  können,  was  an  der  Kantonsschule  zu  ersparen 
war.  Aber  dazu  hätte  die  bauliche  Verbindung  mit  dem  Poly- 
technikum nicht  gelöst  werden  dürfen;  diese  Verbindung  hätte 
sich  gegenteils  benutzen  lassen,  um  die  andere,  die  mit  der  Eid- 
genossenschaft, herbeizuführen.  Der  Versuch  wenigstens  wäre 
des  Schweißes  der  Edeln  wert  gewesen  und  hätte  Zürich  den 
Vorwurf  einer  spätem  Generation  erspart,  die  letzte  Gelegenheit, 
zu  der  ihm  von  Rechts  wegen  gebührenden  Eidgenössischen  Uni- 
versität zu  gelangen,  verpasst  zu  haben.  Statt  dass  die  Universität 
nun  auf  immer  für  sich  getrennt  und  dazu  auf  dem  schiefen  Hang 
steht,  würde  sich  in  Fortsetzung  des  Semperschen  klassischen 
Baues  und  auf  der  gleichen  Ebene  die  eidgenössische  Universität 
neben  ihrer  Schwesteranstalt,  dem  Polytechnikum  erheben:  Poly- 
technicum  et  Universitas  Helvetiae!  Die  größte  Anstalt  der  Welt! 
Aber  ach,  die  Eidgenössische  Universität  —  ein  Traum! 

(Schluss  folgt) 
D  D  D 

543 


ELTERN  UND  KINDER 

Wir  entnehmen  dieses  Kapitel  dem  soeben  im  Verlag  Julius  Klink- 
hardt  in  Leipzig  erschienenen  Buche  von  Oskar  PWsXqx  Die  psychanalytische 
Methode^  eine  erfahrungswissenschaftlich-systematische  Darstellung  (Band  1 
des  „Pädagogium",  einer  Methodensammlung  für  Erziehung  und  Unterricht; 
unter  Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  Meumann  herausgegeben  von  Dr.  Oskar 
Messmer.  Verlag  von  Julius  Klinkhardt,  Leipzig  1913.  Preis  11  M.).  Die 
heiß  umstrittene  psychanalytische  Methode,  ursprünglich  ein  Verfahren  zur 
Heilung  neurotischer  Krankheiten,  ist  in  diesem  Buche  als  wichtige  Beihilfe 
für  Erziehung  und  Nacherziehung  geschildert.  Wer  bis  heute  von  dieser 
neuartigen  Psychologie  abgeschreckt  worden  ist,  suche  sich,  bevor  er  aus 
der  missverstandenen  Technik  falsche  Schlüsse  zieht,  zuerst  mit  den  Er- 
gebnissen vertraut  zu  machen,  wie  sie  in  den  Schlusskapiteln  des  Buches, 
niedergelegt  sind.  Neben  den  hier  wiedergegebenen  Ausführungen  wäre 
besonders  auf  das  Kapitel  Autorität  und  Freiheit,  Askese  und  Entlastung 
hinzuweisen,  das  die  Gefahren  einer  vor  kurzem  gepredigten  Erziehungs- 
weise klarlegt.  —  Eine  eingehende  Besprechung  des  Buches  soll  in  einem 
unserer  nächsten  Hefte  folgen.  Einige  nur  Eingeführten  verständliche  Fach- 
ausdrücke wurden  im  Folgenden  durch  allgemeines  Sprachgut  umschrieben. 


Die  psychanalytische  Pädagogik  legt  großes  Gewicht  auf  die 
Prophylaxe.  Sie  hilft  uns  eine  Menge  von  Elend  vermeiden,  das 
heute  auch  von  sonst  tüchtigen  Erziehern  ahnungslos  verschuldet 
wird.  Die  Wichtigkeit  der  Vorbeugung  sei  denn  auch  bei  der 
elterlichen  Erziehung  betont. 

Wir  hörten,  dass  die  Einstellung  auf  die  Eltern  für  das  Kind 
sehr  oft  lebenslänglich  die  Einstellung  auf  die  Menschen  überhaupt 
und  das  Leben  bestimmt.  Fast  in  jedem  Zögling,  der  den  Lehrer 
hasst,  in  manchem  Anarchisten  und  Religionshasser  entdecken  wir 
einen  verkappten  Feind  seines  Vaters.  Solche  Revolutionäre  machen 
sich  nichts  daraus,  selbst  unterzugehen,  wenn  nur  ihr  Hass  auf 
seine  Rechnung  kommt.  Mancher  Don  Juan  kann  nur  deshalb  bloß 
'K]'i'.:,Kt  Bruchteile  seiner  Liebe  verschenken,  weil  sie  noch  in  der 
Kindheit  und  an  der  Mutter  haftet. 

« 
In  erster  Linie  ist  von  den  Eltern  zu  verlangen,  das  sie  dem 
Zärtlichkeits-  und  Geltungsbedürfnis  ihrer  Kinder  Rechnung  tragen 
und  es  in  vernünftiger  Weise  befriedigen.  Ich  brauche  in  dieser 
Hinsicht  keine  nagelneuen  Dinge  zu  sagen,  glaube  aber  durch  die 
Berufung  auf  unsre  Untersuchungen  der  alten  Forderung  neues  Ge- 
wicht verleihen  zu  können.  Wird  das  Kind  allzu  zärtlich  und  respekt- 

544 


voll  behandelt,  so  wird  es  von  ernsten  Gefahren  bedroht:  die  Be- 
gehrlichkeit erwacht  bis  zu  einem  deutlich  sexuell  charakterisier- 
ten Grade.  Die  Bindung  an  die  Eltern  wird  allzu  groß,  wenn  ohne 
Anstrengung  die  süßesten  Liebkosungen  verabfolgt  werden.  Prallt 
das  Kind  mit  der  rauhen  Außenwelt  zusammen,  so  flüchtet  es  sich 
erschreckt  ins  häusliche  Kinderparadies  zurück  und  verschafft  sich 
durch  Neubelebung  der  einstigen  Kinderfreuden  autistische  (auf 
sich  selbst  konzentrierte,  gesundem  Lebenswirken  entfremdende) 
Lust.    Wir  wissen,  dass  hier  eine  Hauptquelle  der  Neurose  liegt. 

Besonders  wenn  das  Kind  ohne  wertvolle  Leistung  bei  Krank- 
heit mit  Zärtlichkeit  und  Anerkennung  überhäuft  wird,  gerät  es 
in  ernste  Gefahr,  durch  neurotische  Leiden  jene  süßen  Genüsse 
unbewusst  zu  erschleichen.  Wir  hörten  von  Bettnässern,  die  Vater 
und  Mutter  sich  gefügig  machen ;  wir  könnten  aber  auch  eine 
große  Menge  anderer  Erpresser  nennen.  Allzu  weiche  Eltern,  die 
den  Kindern  das  Beste  geben,  ohne  auf  Gegenleistungen  von 
ihrer  Seite  zu  dringen,  verpfuschen  ihnen  leicht  das  Leben. 

Fast  noch  schlimmer  wirkt  jedoch  die  Verweigerung  der 
Zärtlichkeit  und  Anerkennung.  Das  Kind  muss  sein  Liebesbedürf- 
nis in  der  Wirklichkeit  unterbringen  lernen.  Auch  die  Liebe  ist, 
wie  Freud  in  einer  unveröffentlichten  Analyse  sagt,  eine  Kunst, 
die  gelernt  werden  muss.  Wird  das  Kind  zurückgestoßen,  bezeugt 
man  ihm  keine  Teilnahme,  hört  man  seine  Wünsche  und  Geständ- 
nisse nicht  an,  so  entsteht  eine  Verdrängung.  Das  Kind  muss  die 
schon  infolge  der  Nahrungsaufnahme  und  Körperpflege  der  Mutter 
zugewandte  Liebe  ihr  wieder  entziehen,  und  wenn  nicht  ein  neuer 
Gefühlsträger,  zum  Beispiel  eine  Großmutter  oder  ein  Lehrer, 
bereitsteht,  so  wird  Introversion  (Flucht  in  sich  selbst  wie  in  ein 
Schneckenhaus)  die  Wirkung  der  erotischen  Abstoßung  bilden. 
Wir  wissen,  dass  damit  die  Gefahr  des  Lebensüberdrusses,  des 
Menschenhasses,  der  Verschlossenheit  und  Verschrobenheit  nahe 
rückt;  die  sittliche  Entwicklung,  die  Entfaltung  der  Persönlichkeits- 
würde und  Nächstenliebe  ist  ernstlich  gefährdet.  Sollen  der 
Menschheit  die  vielen  sadistisch  gerichteten  Lehrer,  Offiziere  und 
Staatsanwälte,  die  übelwollenden  Vorgesetzten,  die  grämlichen 
Lebensphilosophen  erspart  bleiben,  so  muss  die  Erziehung  den 
Geist  des  Wohlwollens  stärker  zur  Geltung  bringen. 


545 


Besonders  dafür  haben  die  Eltern  zu  sorgen,  dass  kein  Minder- 
wertigkeitsgefühl aufkomme.  Nicht  nur  das  Gefühl  körperlicher 
Benachteiligung  ist  zu  vermeiden,  sondern  ebenso  sehr,  ja  noch 
vorsichtiger  das  der  unverbesserlichen  intellektuellen  und  mora- 
lischen Indignität.  Gewiss  ist  auch  der  Glaube  an  die  vollauf  ge- 
nügende Körperlichkeit  nötig.  Besteht  eine  Organminderwertig- 
keit, so  zeige  man  dem  Kinde  die  Möglichkeit  von  Kompensa- 
tionen. Die  Knaben  bevorzuge  man  nicht  vor  den  Mädchen,  damit 
nicht  ein  „männlicher  Protest"  bei  diesen  den  Weg  in  die  Neurose  ein- 
schlage (Suffragetten,  aber  auch  gewöhnliche  Neurosen).  Schlechte 
Schüler  sollen  auf  die  wichtigere  Zensur  des  späteren  Lebens, 
aber  auch  auf  den  hohen  Wert  des  pflichtmäßigen  Lernens  hin- 
gewiesen werden.  Hat  sich  einmal  ein  Minderwertigkeitsgefühl 
gebildet,  so  pflegt  es  ungeheuer  viel  intellektuelle  Kraft  zu  absor- 
bieren, an  die  Stelle  erquickender  Lustzufuhr  unproduktive  Angst 
zu  setzen,  das  freudige  Spiel  freier  Interessen  an  ein  sklavisches, 
qualvolles  Sichhetzen  zu  tauschen.  Mancher  Vater,  der  den 
schwächer  oder  anders  begabten,  bereits  unter  Verdrängung  und 
Fixierung  leidenden  Sohn  durch  den  Hinweis  auf  die  eignen  Leis- 
tungen anfeuern  will,  stößt  ihn  in  schwere  seelische  Not  und 
entwendet  ihm  ein  enormes  Quantum  nützlicher  Seelenkräfte.  So 
kommt  es,  dass  angeblich  Schwachbegabte  Schüler,  die  durch  solche 
Leiden  in  Arbeitshemmungen  getrieben  worden  waren,  nach 
der  Analyse  sich   als  tüchtige  Leute  im  Unterricht  herausstellten. 

Auch  die  Anerkennung  soll  von  der  billigerweise  zu  erwarten- 
den Leistung  abhängig  gemacht  und  ja  nicht  verschwendet  wer- 
den. Freud  legt  mit  Recht  großes  Gewicht  darauf,  dass  der  Zug  der 
Ichtriebe  der  Eroberung  der  Wirklichkeit  dienstbar  gemacht  werde. 
„Die  Erziehung  kann  ohne  Bedenken  als  Anregung  zur  Über- 
windung des  Lustprinzips,  zur  Ersetzung  desselben  durch  das 
Realitätsprinzip  beschrieben  werden;  sie  will  also  jenem  das  Ich 
betreffenden  Entwicklungsprozess  (von  Lust-  zum  Realitätsprinzip) 
eine  Nachhilfe  bieten,  bedient  sich  zu  diesem  Zweck  der  Liebes- 
prämien von  Seiten  der  Erzieher  und  schlägt  darum  fehl,  wenn 
das  verwöhnte  Kind  glaubt,  dass  es  diese  Liebe  ohnedies  besitzt 
und  ihrer  unter  keinen  Umständen  verlustig  werden  kann." 

Damit  das  Kind  in  ein  normales  Verhältnis  zu  Vater  und 
Mutter  geraten  könne,   müssen  beide  untereinander  in  harmoni- 

546 


schem  Verhältnis  stehen.  Freud  bemerkt:  „Die  von  ihrem  Manne 
unbefriedigte  Frau  ist  als  Mutter  überzärtlich  und  überschwänglich 
gegen  das  Kind,  auf  das  sie  ihr  Liebesbedürfnis  überträgt,  und  weckt 
in  ihm  oft  sexuelle  Frühreife.  Das  schlechte  Einverständnis 
zwischen  den  Eltern  reizt  dann  das  Gefühlsleben  des  Kindes  auf, 
lässt  es  im  zartesten  Alter  Liebe,  Hass  und  Eifersucht  intensiv 
empfinden.  —  Die  strenge  Erziehung,  die  keinerlei  Betätigung  des 
so  früh  geweckten  Sexuallebens  duldet,  stellt  die  unterdrückende 
Macht  bei,  und  dieser  Konflikt  in  diesem  Alter  enthält  alles,  was 
es  zur  Verursachung  der  lebenslangen  Nervosität  bedarf."  Ebenso 
häufig  ist  wohl  der  andere  Fall,  dass  eine  Frau  die  Kinder  des 
ungeliebten  Mannes  gleichfalls  verabscheut.  Will  sie  dann  pflicht- 
gemäß ihre  Abneigung  bekämpfen,  so  verfällt  sie  in  die  Gegen- 
reaktion einer  Übererziehung,  die  erst  recht  in  die  Neurose  treibt. 
In  solchen  Situationen  sollten  die  Kinder  Fremden  zur  Erziehung 
übergeben  werden.  Freud  vertritt  nach  mündlicher  Erklärung 
den  Gedanken,  eine  durch  Wegnahme  von  zur  Erziehung  un- 
tauglichen .Eltern  entstandene  Neurose  sei  weniger  schlimm  als 
eine  gänzlich  verfehlte  Erziehung. 


Höchst  wichtig  ist  sodann  der  Gesichtspunkt  der  stufenweisen 
Ablösung  von  den  Eltern.  Weise  Eltern  erziehen  ihre  Kinder 
nicht  mit  mehr  Zwang,  als  zur  Aneignung  gesunder  Lebens- 
gewohnheiten unbedingt  nötig  ist.  Sie  wissen,  dass  nicht  gehor- 
same, sondern  gute  Kinder  das  Ziel  der  Erziehung  bilden.  Sie 
wollen  daher  nicht  überschätzt  werden  und  hüten  sich  davor, 
Furcht  vor  ihrer  Person  als  herrschende  Stimmung  aufkommen 
zu  lassen.  Sie  gewähren  ihren  Kindern  so  viel  Spielraum  als 
möglich  und  lockern  mehr  und  mehr  die  Zügel.  Wer  den  infer- 
nalischen Grimm  unzähliger  Neurotiker  gesehen  hat,  die  bereit 
sind,  sich  selbst  zu  vernichten,  nur  um  den  Vater  zu  quälen,  der 
weiß,  dass  diese  Sätze  keine  Selbstverständlichkeit  ausdrücken, 
sondern  ein  Ideal,  von  dessen  Verwirklichung  wir  meistens  sehr 
weit  entfernt  sind.  Bleibt  die  durch  Jesus  einmal  ums  andre  ge- 
forderte Loslösung  von  den  Eltern  um  der  höheren  Rücksicht 
willen  aus,  so  tritt  Stillstand  und  Rückschritt  ein.  Auch  die  hoch- 

547 


begabten  Juden  und  Chinesen  blieben  jahrhundertelang  am  Vater 
hängen  und  erlebten  eine  Verknöcherung  ihrer  Kultur. 

Nur  aus  der  stufenweisen  Entlassung  aus  dem  Abhängigkeits- 
verhältnis geht  jene  höhere,  freie  Pietät  hervor,  die  dem  Vater  die 
Liebe  des  Kindes  schenkt  und  eine  Segensquelle  für  beide  bildet. 

Zu  solcher  Erziehung  gelangen  jedoch  nur  Eltern,  die  selbst 
von  Komplextücken  (unbewusste  Vorstellungen,  die  krankhaft 
den  Willen  beherrschen)  frei  sind.  Die  Fehler  der  Kinder  sind 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  ein  Spiegel  der  Elternfehler.  Nur 
der  innerlich  freie,  erzogene  Mensch  kann  richtig  erziehen.  Für 
jeden  andern  ist  auch  die  ideale  pädagogische  Anleitung  nur  von 
bescheidenem  Werte. 

ZÜRICH  OSKAR  PFISTER 

D  D  D 

AUF  MUTTERS  ARM 

„Ja,  das  ist  wunderschön 

Auf  Mutters  Arm  durch  die  Zimmer  gehn 

Und  alles  beachten 

Und  gut  zu  betrachten. 

Aber  heute  —  was  ist  denn  das? 

In  einem  hohen  glänzenden  Glas, 

Da  sieht  man  lachend  in  einer  Stuben 

Meine  Mutter  mit  einem  Buben! 

Er  patscht  ihr  wahrhaftig  ins  Gesicht, 

Der  dreiste  Wicht, 

Und  stößt  mit  dem  Köpfchen 

Just  wie  ein  Böckchen, 

Und  nun,  fürwahr, 

Lacht  er  noch  gar 

Und  tut  —  als  sei  die  da  — 

Seine  Mama! 

Und  kneift  ihre  Wange, 

Der  kleine  Range. 

Du! 

Lass  mein  Mütterchen  in  Ruh ! 

Die  da 

Ist  meine  Mama! 

Patsch,  patsch!    Di-di  da-da!" 

JOHANNA  SIEBEL 
D  □  D 

548 


ROMAIN  ROLLAND 

Dans  la  belle  etude  psychologique  et  litteraire  qu'il  consacre 
ä  M.  Romain  Rolland  i),  M.  Paul  Seippel  definit  avec  une  justesse 
singuliere  la  loyaute  intellectuelle  de  ce  clair  esprit.  „11  s'affilie 
ä  la  plus  noble  lignee  fran^aise,  ä  celle  de  Port-Royal." 

La  singularite  de  ce  jugement  applique  ä  un  romancier,  un 
dramaturge  et  un  Historien  contemporain  n'est  qu'apparente.  II 
suffit  de  relire  le  chapitre  de  Grandeur  et  misere  de  L'homme. 
11  semble  resumer  les  recherches  de  cette  haute  intelligence,  si 
passionnee  de  verite,  si  libre  ä  la  proclamer.  Et  ce  mot  de 
Pascal  eclaire  Jean-Christophe  et  les  Vies  hero'iques:  „A  mesure 
qu'on  a  plus  de  lumiere,  on  decouvre  plus  de  grandeur  et  plus 
de  bassesse  dans  rhomme." 

Dans  une  epoque  de  decouragement  et  de  doute,  ce  fut 
l'inestimable  merite  de  Romain  Rolland  de  relever  les  preoccu- 
pations  d'une  generation  demoralisee  en  lui  rappelant  les  grands 
exemples  du  passe.  Ils  sont  les  gages  les  plus  sürs  de  l'avenir. 
Mais  en  exaltant  cette  dignite  de  l'homme,  qui  est  la  pensee,  il 
n'a  pas  detourne  les  yeux  de  la  mediocrite  oü  se  complait  le 
grand  nombre.  II  n'en  a  pas  souri.  II  l'a  flageilee  avec  l'amere 
violence  d'une  sensibilite  blessee,  qui  crie  de  douleur  et  d'indi- 
gnation.  II  n'est  pas  de  ceux  pour  qui  le  hasard  de  l'accident 
est  la  realite  des  realites.  Pour  les  classiques,  les  idees  generales 
n'etaient  pas  de  banales  verites  mais  la  somme  des  experiences. 
Par  cette  predilection  pour  les  speculations  abstraites,  et  les  pro- 
blemes  qui  depassent  les  preoccupations  immediates,  Romain 
Rolland  s'apparente  aux  esprits  universels  qui  ont  toujours  ete 
une  des  gloires  de  la  France. 

Nul  livre  ne  vient  mieux  ä  son  heure  que  cette  etude  sur 
l'homme  auquel  l'Academie  fran(;aise  a  rendu  un  si  juste  hom- 
mage.  Ce  prix  n'etait  que  la  consecration  officielle  d'une  oeuvre 
que  les  lettres  de  tous  pays  mettent  ä  la  place  d'honneur.  Le 
livre  de  M.  Seippel,  ecrit  par  un  ami,  est  le  premier  ä  donner 
le  fil  conducteur  parmi  l'abondance  d'idees  qui  caracterise  Romain 


1)  Paul  Seippel,   Romain  Rolland.   L'homme  et  l'ceuvre.   Paris,  OUen- 
dorff.  1913. 

549 


Rolland.  II  penetre  avec  tact  dans  la  vie  d'un  homme  qui  met 
autant  de  soin  ä  la  proteger  contre  l'indiscretion,  que  d'autres 
ä  l'etaler.  C'est  un  portrait  fait  avec  Sympathie.  L'eloge  clair- 
voyant  est  plus  rare  que  cette  recherche  des  faiblesses  et  des 
tares,  communement  confondue  avec  la  critique. 

M.  Paul  Seippel  se  vante  d'avoir  ete  l'annonciateur  de  Jean- 
Christophe.  Si  ce  droit  de  priorite  lui  est  peut-etre  conteste,  son 
etude  est  la  premiere  ä  resumer  l'oeuvre  dejä  considerable  de 
Romain  Rolland.  Elle  montre  les  grandes  influences  qui  agirent 
sur  sa  pensee  et  sur  sa  vie:  le  milieu  familial,  l'Ecole  Normale, 
l'universite,  la  musique,  Tolstoi.  Romain  Rolland  doit  ä  son 
origine  nivernaise  cette  gräce  du  langage  et  cette  clarte  d'intelli- 
gence,  cette  delicatesse  d'analyse  bien  fran^aise.  La  discipline 
universitaire,  l'histoire  qu'il  prefera  ä  la  Philosophie  pour  echap- 
per  ä  l'idealisme  officiel,  ont  imprime  ä  cet  esprit  le  mepris  d'une 
Observation  superficielle,  le  sens  des  grandes  lignes  et  des  gene- 
ralites  hardies.  Olivier  complete  Jean  Christophe,  dirige  son 
action  passionnee,  lui  prete  requilibre  de  sa  raison  claire  et  dega- 
gee  des  contingences.  C'est  le  libre  esprit  ä  cote  de  l'intuition, 
Eusebius  et  Florestan,  pour  reprendre  une  Image  de  musicien 
chere  ä  Romain  Rolland. 

On  ne  dira  jamais  assez  l'influence  de  la  musique  sur  la 
generation  qui  est  actuellement  dans  l'eclat  de  sa  force.  Ce  fut 
une  Sorte  de  religion  pour  des  esprits  egalement  las  d'un  posi- 
tivisme  resigne  et  d'une  croyance  ruinee.  Le  plus  mystique  des 
arts,  et  le  plus  abstrait,  s'adresse  directement  au  coeur.  II  est 
curieux  de  noter  la  place  que  prirent  dejä  ä  l'epoque  de  la 
Plei'ade,  puis  des  Encyclopedistes,  les  discussions  musicales.  La 
musique  est  le  dernier  asile  d'une  sensibilite  exquise,  et  qui 
cherche  son  expression  dans  la  solitude.  Elle  a  domine  en  France 
les  dernieres  annees  du  dix-neuvieme  siecle. 

La  musique  occupe  une  place  importante  dans  la  vie  de 
Romain  Rolland,  si  bien  qu'il  put  hesiter  au  debut  entre  les 
deux  carrieres.  Wagner  ne  seduisait-il  pas  alors  tous  les  esprits 
par  cette  union  de  la  parole  et  du  chant,  la  plus  forte  expres- 
sion du  lyrisme?  Romain  Rolland,  tres  remarquable  executant,  se 
contenta  d'appliquer,  ä  l'etude  des  maitres,  les  methodes  peu 
usitees  alors  en  France  pour  la  musique.     Sa  these  fut  une  his- 

550 


toire  de  l'opera  Italien,  des  ses  origines.  II  a  trace  des  maitres 
des  portraits  definitifs,  d'une  rare  profondeur  psychologique, 
jugeant  avec  la  meme  impartialite,  et  la  meme  penetration,  les 
grands  artistes  d'aujourd'hui,  et  ceux  d'autrefois.  Ce  ne  sont 
pas  de  simples  critiques  musicales,  ces  Essais  qui  traitent 
du  coeur  meme  de  notre  civilisation.  La  Vie  de  Beethoven  est 
peut-etre  l'expression  la  plus  haute  et  la  plus  nouvelle  de  cette 
religion  de  la  beaute  par  la  souffrance.  C'est  par  cette  oeuvre  si 
emouvante,  d'un  accent  si  fort  et  si  dechirant,  que  les  premiers 
admirateurs  de  Romain  Rolland  ont  penetre  dans  sa  pensee  in- 
time, et  lui  ont  accorde  cette  confiance  qui  n'a  fait  que  s'accroTtre 
avec  l'harmonieux  developpement  de  son  talent  createur.  Jean- 
Christophe  pouvait  paraitre. 

On  comprend  quelle  fut,  sur  cette  generation  eprise  d'art, 
l'impression  produite  par  les  paradoxes  de  Tolstoi.  La  beaute 
rayonnante,  l'intelligence  du  grand  ecrivain,  ce  realisme  humain 
qui  montre  l'äme  au  travers  du  geste  et  de  la  parole,  avait  rallie 
autour  de  lui  tous  les  esprits  ecoeures  par  un  materialisme  indi- 
gent  et  tyrannique.  Les  cruelles  boutades  de  l'apötre  de  Jasnaia 
Polania,  denon(;ant  comme  Jean-Jacques  le  crime  de  la  civilisation, 
bouleversaient  le  dernier  refuge  d'un  idealisme  blesse:  l'art.  Elles 
exciterent  l'indignation  des  uns,  la  tristesse  des  autres.  Romain 
Rolland  ecrivit  ä  Tolstoi  pour  lui  exprimer  ses  incertitudes.  La 
reponse  de  Tolstoi  etait  „un  veritable  traite  d'esthetique  et  de 
morale,  une  ebauche  de  Qu'est-ce  que  l'art?"'  Elle  indiquait, 
comme  seul  remede  au  mensonge  de  l'art  moderne,  le  retour 
au  peuple,  ä  son  art  ingenu  et  vrai.  L'art  doit  exprimer  les  sen- 
timents  de  tous.  II  doit  contenir  la  conscience  religieuse  d'une 
epoque.  Le  peuple,  n'est-ce  pas  le  coeur  humain?  Cette  con- 
ception,  Romain  Rolland  devait  la  faire  sienne. 

Elle  apparait  dans  ses  premiers  drames,  reunis  plus  tard 
sous  le  titre  de  Theätre  de  la  Revolution  et  des  Tragedies  de  la 
Foi.  Elle  est  longuement,  eloquemment  developpee  dans  son 
etude  plus  complete  sur  le  Theätre  du  Peuple.  Elle  a  ouvert  de 
larges  horizons,  trop  lointains  peut-etre,  pour  une  generation  qui 
s'est  arretee  en  route.  Et  ces  regles  genereuses  ont  ete  peu 
suivies.  C'etait  I'epoque  oü  la  jeunesse  inteliectuelle  croyait  aux 
universites  populaires  et  ä  un  pur  socialisme.  II  y  eut  de  lourds 

551 


mecomptes,  et  les  desillusions  que  la  politique  et  l'histoire  in- 
fligent  ä  la  presomption  humaine.  Mais  la  valeur  d'une  cause 
ne  se  juge  point  ä  son  echec  ou  ä  sa  reussite.  Le  retour  au 
peuple  fut  dejä  fecond  comme,  naguere,   le   retour  ä  la  nature. 

C'etaient  les  bases  de  cette  cEuvre  oü  Romain  Rolland  s'est 
exprime  tout  entier:  Jean-Christophe.  Les  dix  volumes  ont  paru 
dans  un  espace  de  huit  ans,  suscitant  un  interet  toujours  gran- 
dissant.  11  faut  se  souvenir  quelles  passions  soulevait  ce  genie 
impulsif,  bousculant,  avec  la  joyeuse  temerite  d'un  jeune  Siegfried, 
les  gardiens  de  la  civilisation  moderne.  Un  ecrivain  fran^ais  choi- 
sissant  un  musicien  allemand  pour  faire  le  proces  de  son  pays, 
et  de  l'Europe  entiere,  quelle  audace  singuliere!  On  croyait  re- 
trouver  dans  Jean-Christophe  les  traits  de  Beethoven,  de  Wagner, 
de  Wolff,  comme  de  Haendel  et  de  Glück.  C'etait,  en  realite, 
une  Synthese  si  forte  de  tous  ces  martyrs  du  gönie,  qu'elle  a 
cree  un  type. 

Romain  Rolland  ne  blessait  pas  seulement  les  Conventions 
de  son  milieu  et  de  son  pays,  mais  il  attaquait  de  front  les 
puissances  contemporaines,  la  bourgeoisie,  la  finance,  la  presse, 
les  universitaires  et  les  artistes,  l'hypocrisie  politique  et  religieuse. 
Je  me  souviens  qu'il  s'etonnait  lui-meme  de  dechainer,  par  sa 
calme  sincerite,  de  si  violentes  coleres.  II  voulait  ouvrir  les 
fenetres  pour  donner  de  l'air  ä  cette  chambre  de  malade,  ou  ä 
ce  bureau  d'affaire,  oü  etouffait  la  pensee.  On  l'accusait  de  bri- 
ser les  vitres.  II  avait  denonce  le  mal  de  l'Allemagne  pratique 
et  sentimentale,  voilant  sous  une  vertu  de  parade  un  feroce 
egoVsme,  dans  l'orgueil  delirant  de  sa  force  et  de  son  luxe  de 
parvenu.  II  montrait  Paris  epuise  par  sa  vie  forcenee,  sa  soif 
d'idees  et  de  jouissances,  inquiet,  surmene,  ballotte  comme  la 
nef  symbolique  par  les  courants  opposes,  foire  ouverte  ä  tous 
les  bateleurs  de  la  politique,  de  la  finance  et  de  l'art.  Mais  parmi 
les  appetits  brutaux,  les  etres  purs  et  desinteresses  n'etaient  point 
souilles  par  cette  boue.  Le  sourire  trop  clairvoyant  d'Olivier  re- 
pondait  aux  eclats  de  fureur  ou  de  joie  du  Huron  germanique. 
A  cöte  de  ces  deux  figures,  l'une  si  loyale,  si  simplement  heroi- 
que,  l'autre  passionnee  et  vehemente,  se  nouent  les  destinees  des 
personnages  secondaires.  Chacun  represente  une  opinion,  une 
classe   sociale,   un  etre  humain   qui  pense  et  qui  souffre.     11  en 

552 


est  qui  restent  des  amis,  d'autres  que  Ton  a  connus.  II  est  des 
pages  de  ce  livre  que  Ton  a  vecues,  qui  restent  comme  les 
deuils  de  notre  propre  vie.  Peu  de  romans,  depuis  l'apparition 
pathetique  de  Resurrection,  ont  ete  accueillis,  non  seulement  en 
France,  mais  en  Europe,  avec  autant  d'emotion  et  de  Sympathie. 

Cette  Oeuvre  vivait  avec  l'auteur  (eile  faiilit  meme  etre 
brusquement  arretee  par  l'accident  stupide  qui  mit  les  jours  de 
Romain  Roiland  en  danger.)  Elle  etait  le  reflet  de  ses  preoccu- 
pations.  Elle  exprimait  par  lä  les  sentiments  de  tous  ceux  qui 
n'avaient  pas  abdique  leur  dignite  d'homme  devant  l'attristante 
mediocrite  contemporaine.  On  sentait  l'äme  d'un  homme  au 
travers  de  cette  oeuvre  puissante  et  inegale,  un  grand  souffle 
d'amour  pour  les  humbles  et  d'indignation  contre  tous  les  men- 
songes  sociaux,  contre  toutes  les  tyrannies  et  toutes  les  lächetes. 
Parfois  le  roman  semblait  s'arreter  pour  laisser  l'auteur  epancher 
sa  colere  ou  son  esperance  dans  des  pages  lyriques,  ou  une 
digression  d'histoire  et  de  philosophie.  C'etaient  de  singuliers 
dialogues  entre  Christophe  et  son  Ombre,  une  meditation  d'Olivier, 
analogues  aux  parentheses  des  moralistes  anglais,  ou  ä  certaines 
conversations  des  personnages  de  Dostoiewsky.  Une  liberte  ab- 
solue  de  jugement,  un  amer  souci  de  verite  rendaient  ces  pauses 
aussi  captivantes  que  l'action,  toujours  forte  et  nombreuse  comme 
le  cours  irregulier  d'un  fleuve. 

II  est  facile  de  reprocher  ä  ce  roman  sa  longueur  demesuree. 
II  est  peu  d'oeuvres  auxquelles  on  puisse,  de  nos  jours,  adresser 
une  pareille  critique.  La  tradition  etait  en  quelque  sorte  renouee 
avec  ces  etudes  fortes  et  justes  de  la  vie  humaine,  qu'on  appelait 
autrefois  un  roman.  Ce  roman  peut  etre  l'epopee  d'une  race,  d'un 
peuple  ou  d'une  epoque  aussi  bien  que  celle  de  l'individu.  II  en  est 
dans  l'histoire  litteraire  de  grands  exemples.  L'episode  de  Manon 
ne  doit  pas  faire  oublier  l'ensemble  des  Memoires  d'un  homme 
de  qualite.  Les  grands  romanciers  anglais  Richardson,  Fielding, 
plus  pres  de  nous  Thackeray  et  Dickens  ont  consacre  des  volu- 
mes  ä  depeindre  avec  minutie  les  evenements  d'une  famille  ou 
d'un  etre  humain.  On  a  cite  aussi  les  Miserables.  Mais  n'y  a-t-il 
pas  une  analogie  plus  evidente  avec  les  romanciers  russes,  la 
Guerre  et  la  Paix,  surtout?  II  ne  faut  point  oublier  que  Jean- 
Christophe  est  une  sorte  de  Journal  intime,  et  cette  association 

553 


de  la  vie  reelle  ä  une  realite  plus  generale  et  reconstituee  par 
le  genie  createur,  lui  donne  une  grande  force,  comme  ä  Dichtung 
und  Wahrheit.  L'auteur  a  d'ailleurs  Tintention  de  condenser  plus 
tard  cette  oeuvre  si  diverse  et  si  touffue;  teile  quelle,  eile  a  sou- 
vent  l'accent  unique  des  Confessions. 

II  faut  en  lire  la  tres  complete  analyse  que  M.  Seippel  en 
donne  dans  son  livre.  Elle  occupe,  avec  raison,  la  moitie  du 
volume.  Jean-Christophe,  c'est  la  pensee  toute  entiere  de  Romain 
Rolland,  du  moins  de  ces  dernieres  annees.  Le  roman  qu'il  pre- 
pare  revelera  une  forme  nouvelle  de  cet  esprit  qui  ne  se  repose 
jamais,  surtout  apres  la  victoire.  Dejä  les  derniers  livres  de  Jean- 
Christophe  sonnaient  comme  un  choeur  d'esperance  et  de  foi  en 
l'avenir.  11s  refletaient  cette  confiance  en  elle-meme  qu'a  retrou- 
vee  la  France.  Reprenant  l'idee  d'Empedocle,  dont  il  fit  jadis  le 
sujet  d'un  de  ses  drames  inedits,  Romain  Rolland  a  montre 
l'harmonie  de  l'amour  et  de  la  haine,  les  deux  forces  qui  me- 
nent  le  monde,  et  se  disputent  le  coeur  des  hommes.  L'une  et 
l'autre  sont  fecondes  lorsqu'elles  sont  actives. 

M.  Paul  Seippel  a  fort  habilement  eclaire,  par  des  fragments 
de  lettres  personnelles,  l'evolution  de  l'auteur  de  Jean-Christophe, 
son  ascension  souvent  douloureuse  sur  les  sommets  du  libre 
esprit  et  du  renoncement  supreme.  II  a  porte  en  lui  cet  ideal 
des  grands  solitaires,  cette  foi  dans  le  coeur  humain  qui  possede 
en  lui  son  Dieu.  II  a  aime  la  vie,  pour  ses  souffrances,  parce 
qu'elle  est  l'acheminement  vers  la  joie. 

„Ni  la  tristesse  d'une  äme  noble  que  la  vie  brutale  a  frois- 
see,  ni  la  claire  vision  de  vilenies  humaines,  ni  meme  le  gene- 
reux  pardon  des  offenses,  ne  sont  le  dernier  mot  de  Romain 
Rolland.  Pour  lui,  comme  pour  Beethoven,  la  vie  n'est  que  la 
route  ardue  qui  doit  conduire  ä  la  joie"  0- 

M.  Paul  Seippel  est  de  ceux  qui  n'ont  point  hele  le  bon 
passeur  en  vain.  Saint  Christophe,  tenant  en  sa  main  le  rameau 
qui  verdoye,  l'a  fait  toucher,  ä  travers  le  fleuve  boueux,  ä  la 
rive  des  pensees  genereuses.  Et  ce  livre  est  l'obole  de  son  amitie 
et  de  sa  reconnaissance. 


1)  Paul  Seippel,  Romain  Rolland,  p.  246. 

RENE  MORAX 

DD  □ 

554 


DIE  ZIELE  DER  ÄRZTLICHEN 
SEELENFORSCHUNG 

Ein  Überblick  über  die  historische  Entwicklung  eines  Lehr- 
faches wird  stets  förderiich  sein,  wenn  man  sich  über  die  Rich- 
tungsiinien  in  der  nächsten  Zukunft  klar  zu  werden  sucht. 

Die  Erforschung  der  Störungen  des  Seelenlebens  hing,  wie  die 
Entwicklung  anderer  Zweige  der  Medizin,  eng  mit  dem  Auf-  und 
Niedergehen  der  menschlichen  Erkenntnis  in  verschiedenen  Kultur- 
epochen zusammen.  Der  große  Kliniker  des  klassischen  Alter- 
tums, Hippokrates,  sprach  schon  mit  bewundernswerter  Klarheit 
aus,  dass  Geisteskrankheiten  Gehirnleiden  seien,  und  dass  die 
Seele  ihren  Sitz  im  Gehirn  habe.  Dieser  rein  naturwissenschaft- 
lichen Auffassung  trat  aber  einerseits  die  philosophische,  ander- 
seits die  dogmatische  gegenüber.  Schon  Plato  und  Aristoteles 
veriießen  den  Boden  der  reinen  Beobachtung  und  bereicherten 
uns  mit  Gedankengängen  mehr  spekulativer  Richtung,  die  aber 
die  psychiatrische  Forschung  nicht  wesentlich  fördern  konnten. 
Im  Mittelalter  und  noch  weit  darüber  hinaus  benutzte  die  Kirche 
die  Geisteskranken  vielfach,  um  durch  sie  den  Wunder-  und 
Besessenheitsglauben  aufrecht  zu  erhalten  und  durch  diese  mysti- 
schen Vorstellungen  ein  willkommenes  Mittel  zur  Festigung  ihrer 
Macht  zu  haben.  So  bedurfte  es  mehr  wie  zweier  Jahrtausende, 
bis  zu  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  die  Wissenschaft  unter 
Vorantritt  von  Esquirol  den  alten  hippokratischen  Standpunkt 
wieder  erreichen  konnte.  Um  nicht  mit  zu  viel  Hochmut  auf 
kurzvergangene  Zeiten  der  Entwicklung  zurückzublicken,  ist  es  gut, 
sich  daran  zu  erinnern,  dass  heute  noch,  auch  in  Mitteleuropa, 
Teufelaustreibungen  zur  Heilung  von  Geisteskranken  versucht 
werden;  ja  es  gibt  noch  ganze  Krankenhäuser,  in  denen  solche 
Patienten  von  den  geistlichen  Leitern  unter  dem  Gesichtspunkt 
behandelt  werden,  dass  ihr  Leiden  die  Folge  von  Sünden  sein 
müsse.  Und  anderseits  vertrat  ein  so  vorurteilsloser  Denker  wie 
Kant  noch  den  Standpunkt,  dass  für  die  Beurteilung  krankhafter 
Geisteszustände  der  Philosoph   besser  geeignet  sei  wie  der  Arzt. 

Wenn  auch  der  Gebildete  heute  die  Erkenntnis  besitzt,  dass 
Geisteskrankheiten    anderen    körperiichen     Störungen    durchaus 

555 


parallel  zu  setzen  sind,  so  wurzelt  doch  in  den  meisten  von  uns, 
zum  mindesten  unbewusst,  noch  ein  Teil  jener  alten  abergläubi- 
schen Vorstellungen;  während  man  irgend  eine  andere  ärztliche 
Diagnose  verhältnismäßig  sachlich  und  kühl  aufnimmt,  betrachtet 
man  die  Feststellung  einer  seelischen  Störung  als  eine  Schande 
und  wehrt  sich  möglichst  dagegen.  Da  man  aber  das  Vorkommen 
geistiger  Störungen  in  den  extremen  Fällen  nicht  wohl  abstreiten 
kann,  so  sucht  man  eine  künstlich  scharfe  Grenze  zwischen  geisti- 
ger Gesundheit  und  Krankheit  zu  ziehen,  die  es  in  Wirklichkeit 
nicht  gibt;  wer  jenseits  davon  ist,  der  gehört  hinter  die  Mauern 
der  Irrenanstalt;  dort  soll  auch  das  Feld  des  Psychiaters  sein,  und 
wenn  dieser  es  doch  wagt,  einmal  aus  diesem  engen  Wirkungs- 
kreis herauszukommen,  so  wird  sein  Urteil  von  vornherein  von 
der  Großzahl  der  Menschen  damit  abgetan,  dass  er  ja  natürlich 
infolge  seiner  Gewohnheit  alle  Menschen  für  mehr  oder  weniger 
verrückt  ansehe. 

Die  Pflege  Geisteskranker  in  besonders  hierfür  eingerichteten 
und  ärztlich  geleiteten  Anstalten  wurde  in  unsern  Ländern  in 
größerem  Maße  in  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
eingeführt.  Die  genaue  Beobachtung  krankhafter  Geisteszustände 
seit  dieser  Zeit,  unter  Ausschaltung  der  Annahme  irgend  welcher 
mitwirkender  übersinnlicher  Kräfte,  ergab  nun  ein  großes  psycho- 
logisches Tatsachenmaterial.  Zu  einem  wesentlichen  Teil  von 
dieser  psychiatrischen  Seelenforschung  ging  die  Entwicklung  einer 
erst  wenige  Jahrzehnte  alten  Disziplin  aus,  die  als  Fortsetzung 
der  alten  philosophischen  Psychologie  sucht,  mit  den  Regeln  der 
exakten  Naturwissenschaften  eine  Physiologie  der  Psyche  zu 
schaffen.  Logischerweise  musste  diese  experimentelle  Psychologie 
mit  der  Untersuchung  der  einfachsten  psychischen  Mechanismen 
beginnen;  es  dürfte  noch  langer  Zeit  und  der  Auffindung  neuer 
Methoden  bedürfen,  um  auf  diesem  Wege,  so  weit  dies  überhaupt 
möglich  ist,  den  höchsten,  komplexesten  psychischen  Erscheinungen 
näher  treten  zu  können,  mit  denen  gerade  der  Arzt  so  häufig  zu 
tun  hat.  Während  die  physiologische  Psychologie  damit  beginnt, 
die  elementarsten  seelischen  Erscheinungen  zu  durchforschen  und 
sie  in  ihrem  Aufbau  zu  zergliedern,  ergründet  der  medizinische 
Zweig  der  Psychologie  durch  Beobachtung  und  Zergliederung  des 
Seelenlebens  in  seiner  Gesamtheit  die   komplizierteren   Erschei- 

556 


nungen.  Ein  Gegensatz  zwischen  diesen  beiden  Richtungen  darf 
nicht  angenommen  werden.  Beide  Forschungsarten  sind  natur- 
wissenschaftliche Lehrzweige,  wenn  auch  bei  der  medizinischen 
die  Nachprüfung  durch  das  Experiment  einstweilen  oft  noch  nicht 
mögh'ch  ist  und  so  Fehlschlüsse  leichter  mitunter  laufen  können. 
Es  ist  nicht  vorauszusehen  und  nicht  ohne  weiteres  wahrschein- 
lich, dass  die  Methoden  der  rein  experimentellen  Untersuchung 
imstande  sein  werden,  die  höchsten  psychischen  Erscheinungen 
klar  zu  stellen.  Sollte  das  doch  möglich  sein,  so  wird  einst  der 
Tag  kommen,  wo  sich  die  medizinische  und  die  spezifisch  experi- 
mentell-psychologische Forschungsrichtung  treffen  und  ineinander 
aufgehen  werden.  Bis  dahin  werden  sie  sich  in  wertvoller  Weise 
ergänzen.  Im  folgenden  sollen  einige  Ziele  der  ärztlichen 
Seelenforschung  ins  Auge  gefasst  werden,  so  weit  dies  in  Kürze 
möglich  ist. 

Wie  schon  betont,  ist  die  medizinische  Psychologie  heraus- 
gewachsen aus  der  Beobachtung  krankhafter  Geisteszustände.  Der 
Geistesgestörte  gibt  dem  Arzte  Einblicke  in  die  Tiefen  des  seeli- 
schen Geschehens,  die  beim  Gesunden  nur  äußerst  schwer  zu 
erlangen  sind.  So  gelingt  es  bei  ihm  zum  Beispiel,  Aufschlüsse 
über  den  Ablauf  der  intellektuellen  Funktionen,  über  den  Zu- 
sammenhang dieser  mit  dem  Affektleben,  und  dann  speziell  wieder 
über  gesonderte  Störungen  des  Gemütslebens  zu  erhalten,  die 
auch  von  der  größten  Bedeutung  für  die  Kenntnis  der  entsprechen- 
den Funktionen  beim  Gesunden  sind.  Die  Abgrenzung  klarer 
klinischer  Krankheitsformen  ist  selbstverständlich,  wie  in  anderen 
Zweigen  der  Heilkunde,  eine  der  Hauptaufgaben  der  psychiatri- 
schen Forschung.  Um  sie  zu  fördern,  muss  mit  der  Beobachtung 
am  Krankenbett  die  anatomische  Zergliederung  des  Gehirns  und 
des  übrigen  Nervensystems  Hand  in  Hand  gehen. 

So  sieht  man  in  der  Tat,  dass  auf  der  einen  Seite  die  Psychi- 
atrie auf  die  psychologische  Wissenschaft  befruchtend  und  zum 
Teil  richtunggebend  einwirkt,  während  auf  der  andern  Seite  be- 
deutende Irrenärzte  wieder  die  Fundamente  für  unsere  anatomi- 
schen Kenntnisse  geliefert  haben.  Je  weiter  die  Forschung  hier 
fortschreitet,  desto  häufiger  werden  die  Berührungspunkte  der 
anatomischen  und  der  psychologisch-klinischen  Betrachtungsweisen 
sein.    So  wie  die  Verhältnisse  heute  liegen,  muss  es  aber  doch 

557 


als  wahrscheinlich  bezeichnet  werden,  dass  es  eine  Reihe  von  rein 
funktionellen  Störungen  des  Gehirns  gibt,  bei  denen  uns  auch 
das  feinste  Mikroskop  im  Stiche  lassen  wird  und  in  deren  Er- 
forschung wir  allein  auf  die  psychologische  Betrachtungsweise 
angewiesen  sein  werden. 

Hierher  gehören  vor  allem  jene  zahlreichen  Grenzfälle  zwi- 
schen geistiger  Gesundheit  und  Krankheit,  bei  denen,  meist  auf 
dem  Boden  einer  vererbten  Anlage,  die  Gleichgewichtslage  zwischen 
Intellekt  und  Gefühlsleben  verschoben  oder  zu  labil  ist.  Die  Be- 
kanntschaft mit  dieser  Art  von  Kranken  macht  der  Psychiater  in 
ausgiebigem  Maße  in  seiner  Tätigkeit  als  gerichtlicher  Sachver- 
ständiger. Es  sind  ja  gerade  gewisse  Klassen  von  seelisch  halt- 
losen Individuen,  die  beständig  mit  dem  Strafgesetz  in  Konflikt 
kommen  und  die  auch  dem  Anhänger  unseres  jetzigen  Strafsystems 
immer  mehr  beweisen  mussten,  dass  die  Annahme  eines  freien 
aber  bösen  Willens  weder  zur  Besserung  noch  zur  Sicherung  der 
Gesellschaft  führe.  Hier  wurde  nun  der  ärztliche  Psychologe  zu 
Rate  gezogen,  und  er  konnte,  auf  seinen  Erfahrungen  an  den 
ausgesprochen  Geisteskranken  fußend,  rein  praktisch  beweisen, 
wie  wenig  die  Annahme  einer  freien  Willensbestimmung  nach  der 
alten  Auffassung  den  wirklichen  Verhältnissen  entspreche.  Wenn 
man  zum  Beispiel  den  Entwurf  unseres  schweizerischen  Strafge- 
setzbuches betrachtet,  so  springt  dieser  große  Fortschritt  ohne 
weiteres  in  die  Augen.  Der  rechtsbrechende  Mensch  wird  hier 
nicht  mehr  nur  nach  der  schematisch  festgelegten  „Schuld"  beur- 
teilt, die  er  auf  sich  lud,  sondern  der  Richter  muss  in  die  Motive 
und  in  die  ganze  geistige  Verfassung  des  Betreffenden  sich  ein- 
leben, um  darnach,  mit  feiner  Hand  abwägend,  die  geeignetste 
Mischung  von  Sühne,  die  zur  Besserung  führt,  und  von  Schutz- 
maßregel für  die  Gesellschaft  zu  finden.  Das  Prinzip  der  Ver- 
urteilung auf  unbestimmte  Zeit  setzt  an  die  Stelle  der  zufälligen 
Verschuldung  die  Berücksichtigung  der  sozialen  Gefährlichkeit; 
es  mag  praktisch  schwer  durchführbar  sein  und  deshalb  einstweilen 
wohl  erst  für  die  verzweifelten  Fälle,  wie  zum  Beispiel  die  immer 
wieder  rückfälligen  schweren  Verbrecher,  Anwendung  finden ;  aber 
schon  seine  Aufstellung  bedeutet  einen  Sieg  der  psychologischen 
Auffassung.  Wenn  heute  eine  große  Zahl  Juristen  Schulter  an 
Schulter  mit  den  Psychiatern  für  die  Durchsetzung  dieser  neuen 

558 


Ideen  kämpfen,  so  ist  das  ein  erfreuender  Beweis  dafür,  dass  die 
Wahrheit  stets  stärl<er  ist  als  alte  Dogmen  und  dass  auch  in  ihr 
die  einzig  wirkliche  Zweckmäßigkeit  liegen  muss. 

Häufig  hört  man  die  Ansicht,  die  Zuziehung  eines  Psychiaters 
zu  der  gerichtlichen  Beurteilung  eines  Angeschuldigten  habe  einzig 
die  Folge,  dass  der  Betreffende  nicht  die  Konsequenzen  für  seine 
strafbaren  Handlungen  zu  tragen  habe.  In  Wirklichkeit  ist  meist 
das  Gegenteil  der  Fall,  denn  der  unzurechnungsfähig  erklärte  und 
als  gemeingefährlich  internierte  Kranke  ist  für  seine  eigenen 
Interessen  gewöhnlich  schlimmer  daran  wie  der  Verurteilte.  Die 
forensische  Psychologie  erstrebt,  dass  jeder,  ob  gesund  oder  krank, 
die  Folgen  seiner  antisozialen  Handlungen  zu  tragen  habe;  sie 
verlangt  aber,  dass  diese  Folgen  der  Psyche  des  Betreffenden  und 
insbesondere  ihrer  Beziehung  zur  Sicherheit  der  Gesellschaft 
zweckmäßig  angepasst  seien.  Wo  heute  Widersinnigkeiten  in 
dieser  Richtung  vorkommen,  da  liegt  meist  nicht  ein  Fehler  des 
Experten  oder  des  Richters  vor,  sondern  eine  Unvollständigkeit 
der  Gesetzgebung  oder  der  bestehenden  Anstalten,  an  deren  Re- 
formierung in  dem  angegebenen  Sinne  mitzuarbeiten  wir  alle  das 
größte  Interesse  haben. 

Auch  bei  der  Bewertung  der  Zeugenaussagen  und  sonst  auf  dem 
Gebiete  des  Zivilrechts  spielt  die  exakte  psychologische  Betrach- 
tungsweise eine  immer  wichtigere  Rolle.  Es  würde  zu  weit  führen, 
hier  auf  diese  einzelnen  Disziplinen  einzugehen.  Ihre  von  Jahr  zu 
Jahr  allseitig  mehr  anerkannte  Wichtigkeit  ist  ein  Zeichen  ihrer 
großen  sozialen  Bedeutung. 

Das  Hauptinteresse  des  Arztes  wird  sich  aber  nicht  auf  die 
formellen  und  juristischen  Fragen,  sondern  darauf  richten,  ob 
durch  diese  Methoden  zur  Heilung  und  Verhütung  geistiger  Stö- 
rungen beigetragen  werden  kann.  Eine  wesentliche  Aufgabe  be- 
steht hier  in  der  Abgrenzung  bestimmter  Krankheitsbilder  bei 
den  ausgesprochenen  Psychosen.  Nur  dadurch  wird  es  möglich, 
einigermaßen  genau  den  künftigen  Verlauf  eines  Krankheitsbildes 
vorauszusagen,  was  wegen  der  sozialen  Konsequenzen  gerade  bei 
Geisteskranken  besonders  wichtig  ist. 

Die  genauere  Erforschung  der  Erblichkeit  geistiger  Störungen 
hat  uns  gezeigt,  dass  eine  familiäre  Belastung  mit  den  verschie- 
denen Arten  psychischer  Abweichungen  so  gut  wie  nichts  sagt; 

559 


mit  anderen  Worten  ausgedrückt  heißt  das :  wenn  wir  die  verschiede- 
nen Arten  der  erblichen  Belastung  nicht  auseinanderhalten,  so 
ist  der  geistig  Gesunde  sozusagen  ebenso  stark  „belastet"  wie 
der  geistig  Kranke.  Anders  verhält  es  sich,  sowie  es  uns  ge- 
lingt, die  einzelnen  Arten  der  Störung  auseinander  zu  halten  und 
das  Vorkommen  gleichartiger  psychotischer  Zustände  nachzu- 
weisen. Es  scheint  nach  den  neuesten  Forschungen,  dass  sich 
auf  dem  Boden  einer  solchen  genauen  klinischen  Einteilung,  zu 
der  die  psychologische  Durchforschung  einstweilen  noch  unbedingt 
nötig  ist,  eine  exakte  Erblichkeitslehre  auch  für  die  Geistes- 
störungen wird  aufstellen  lassen.  Wenn  uns  das  gelingt,  so  kön- 
nen wir  die  ihre  Nachkommenschaft  voraussichtlich  besonders 
stark  belastenden  Individuen  zu  ihrem  und  der  Gesellschaft  Nutzen 
aus  der  Fortpflanzungsreihe  ausschalten  und  damit  Wesentliches 
zur  Verhütung  geistiger  Störungen  beitragen^). 

Die  klinische  Forschung  hat  ergeben,  dass  auch  in  gewissen 
Fällen  schwerer  geistiger  Störungen  seelische  Konflikte  den  Aus- 
bruch der  Krankheit  oder  wenigstens  den  eines  Schubes  der- 
selben auslösen  können.  Ich  denke  hier  besonders  an  die  über- 
aus häufigen  Fälle  von  Jugendirresein  (mit  dem  Fachausdruck 
Dementia  Praecox  oder  besser  Schizophrenie  benannt.)  Die  psy- 
chologische Vertiefung  in  den  einzelnen  Fall  wie  in  das  Wesen 
einer  ganzen  Krankheitsgruppe  kann  es  ermöglichen,  manchem 
folgenschweren  Konflikte  vorzubeugen  oder  wenigstens  so  früh- 
zeitig eine  sichere  Diagnose  zu  stellen,  dass  schweres  Unglück 
für  den  Kranken  selbst  wie  besonders  auch  für  seine  Umgebung 
verhütet  werden  kann.  Wie  häufig  zum  Beispiel  kommt  es  vor, 
dass  Ehen  unglücklich  sind  und  der  eine  leistungsfähige  Teil  und 
die  Entwicklung  der  Kinder  gehemmt  wird,  nur  weil  man  nicht 
sieht,  dass  die  Ursache  der  Disharmonie  in  einer  verkannten 
psychischen  Störung  des  andern  Teils  ihre  Ursache  hat.  Selbst 
wenn  eine  Heilung  in  dem  betreffenden  Falle  nicht  möglich  ist, 
so  genügt  oft  schon  die  Erkenntnis,  warum  die  Verhältnisse  un- 
haltbar geworden  sind,  um  sie  in  der  einen  oder  andern  Weise 
erträglich  zu  gestalten. 

^)  Siehe:  Die  Nordamerikanischen  Gesetze  gegen  die  Vererbung  von 
Verbrecfien  und  Geistesstörung  und  deren  Anwendung,  von  Dr.  Hans  W. 
Maier,  und  Kastration  und  Sterilisation  von  Geisteskranken  in  der  Schweiz, 
von  Dr.  Emil  Oberholzer,  Halle,  Marhold,  1911. 

560 


Die  größte  praktische  Bedeutung  aber  hat  die  ärzth'ch -psycho- 
logische Forschung  für  diejenigen  Krankheitsfälle,  bei  denen  die 
abnormen  Erscheinungen,  auf  der  Basis  einer  angebornen  Dispo- 
sition, im  wesentlichen  durch  seelische  Konflikte  hervorgerufen 
werden.  Man  hat  diese  Art  von  Krankheiten,  im  Gegensatz  zu 
den  Geisteskrankheiten  im  engeren  Sinne,  als  Psychoneurosen 
bezeichnet;  sie  treten  am  häufigsten  unter  der  Form  von  Hysterie, 
Zwangs-  und  Angstzuständen  auf.  Es  sind  Leiden,  die  nicht  zu 
schweren  organischen  Störungen  im  Zentralnervensystem,  zu  irgend 
einer  Art  von  Verblödung  führen,  sondern  die  sich  speziell  auf 
dem  Gebiete  der  Gefühle,  der  Affektivität,  abspielen.  Es  ist 
ohne  weiteres  zuzugeben,  dass  die  ererbte  Anlage  auch  bei  diesen 
Störungen  eine  große  Rolle  spielt.  Äußere  Einwirkungen,  die  bei 
dem  einen  Menschen  psychoneurotische  Störungen  hervorrufen, 
verlaufen  bei  dem  andern  ohne  irgendwelche  krankhaften  Folgen. 
Gerade  die  so  wichtige  seelische  Durchforschung  des  gesunden 
Menschen  ergibt  nun  aber,  dass  auch  bei  ihm  im  unbewusst 
bleibenden  Teil  der  Psyche,  oder  im  Traum,  bei  Ermüdung, 
beim  Einschlafen  oder  ähnlichen  Zuständen  die  gleichen  eigen- 
tümlichen Mechanismen  vorkommen.  Zwischen  den  psychischen 
Abläufen  beim  Gesunden  und  beim  Psychoneurotiker  scheinen 
nach  dem  heutigen  Stand  der  Beobachtung  im  wesentlichen  quan- 
titative und  nur  nebensächlichere  qualitative  Unterschiede  zu  be- 
stehen. 

ZÜRICH  (Burghölzli)  HANS  W.  MAIER 

(Schluss  folgt.) 

D  □  D 

LE  DERNIER  ROMAN  DE  M.  C.-F.  RAMUZ 

LA  VIE  DE  SAMUEL  BELET 

Le  roman  contemporain  en  France  est  extremement  riebe  en  oeuvres 
remarquables,  et  cependant  la  France  ne  possede  pas  un  nombre  tres  con- 
siderable  de  romanciers  authentiques.  La  forme  „roman"  sert  ä  etiqueter 
beaucoup  d'CEuvres,  qui  ne  sont  point  romanesques,  au  sens  propre  du 
mot  —  c'est-ä-dire  epiques,  puisque  le  roman  est  la  replique  moderne  de 
l'epopee,  —  mais  dramatiques  ou  lyriques.  En  outre  beaucoup  de  romans, 
et  des  meilleurs  et  des  plus  justement  apprecies,  ne  sont  point  des  romans, 
mais  des  contes  etendus  et  tires  en  longueur,  comme  on  dit  dans  le  lan- 
gage  des  redactions.  Dans  une  etude  fort  penetrante  qu'il  a  publice  recem- 

561 


ment  sur  le  Roman,  M.  Jean  Müller  remarquait  que  le  roman  dramatique 
—  celui  par  exemple  d'Andre  Gide  ou  de  Claude  Farrere,  si  dissembla- 
bles  que  soient  ces  deux  ecrivains  —  deviendrait  inutile,  et  partant  rare,  le 
jour  oü  la  scene,  debarrassee  de  la  production  industrielle  qui  l'encombre 
serait  rendue  au  veritable  theätre,  au  grand  theätre  enfin,  dont  la  raison 
est  l'etude  des  conflits.  De  lä  beaucoup  de  romans  qui  ne  sont  point,  ä 
proprement  parier,  des  romans,  mais  des  pieces  traitees  sous  la  forme 
exterieure  et  livresque  du  roman.  L'homme  qui  assassina  de  M.  Farrere 
est  con(;u  et  construit  comme  une  piece  —  de  lä  son  adaptation  scenique 
si  facile  —  et  beaucoup  d'autres  romans  comme  la  Porte  etroite  ou  Isa- 
belle d'A.  Gide  sont,  de  meme,  des  pieces.  D'autres  romans  sont  des  con- 
tes,  comme  les  romans  de  M.  Anatole  France  ou  ceux  de  M.  de  Regnier; 
d'autres  romans  enfin,  comme  ceux  de  Mme  Colette  Willy  ou  de  M^e  Lucie 
Delarue-Mardrus  sont  des  effusions  lyriques.  Parmi  tant  d'auteurs  de  ro- 
mans, je  ne  vois  guere,  en  France,  que  MM.  Paul  Adam  ou  Rosny  aine 
qui  soient  de  veritables,  et  meme,  de  grands  romanciers.  Encore  une  fois, 
je  ne  parle  pas  de  la  valeur  intrinseque  des  oeuvres,  mais  de  leur  interet 
purement  epico-romanesque. 

Or,  apres  avoir  lu  le  dernier  roman  de  M.  C.-F.  Ramuz,  on  voit  sans 
difficulte  que  la  Vie  de  Samuel  Belet  n'est  ni  un  conte,  ni  une  piece,  ni 
un  volume  d'effusions  lyriques,  mais  un  roman,  au  sens  veritable  du  mot, 
et  que  son  auteur,  est  un  veritable  romancier.  Mieux  encore,  M.  Ramuz 
possede  sans  conteste  un  des  plus  vigoureux  temperaments  de  romancier 
que  les  lettres  fran^aises  aient  connus  depuis  longtemps.  Bien  entendu, 
ii  s'agit  ici  uniquement  de  la  forme  de  son  talent  d'ecrivain  et  non  point 
de  la  matiere  qu'il  a  traitee,  ni  de  ses  sources  d'inspiration. 


M.  Ramuz  a  mis  le  recit  dans  la  bouche  de  Samuel  Belet.  Au  soir  de 
ses  jours,  alors  qu'il  tend  ses  filets  sur  le  lac,  Samuel  a  l'idee  d'ecrire 
l'histoire  de  sa  vie:  „Pourquoi  t'en  tirerais-tu  plus  mal  qu'un  autre,  apres 
tout?"  pense-t-il.  Et  des  que  son  travail  est  termine,  il  va  ä  la  mercerie, 
achete  des  cahiers  d'ecole,  une  bouteille  d'encre,  des  plumes,  et  il  se 
met  ä  ecrire.  Au  commencement  ga  ne  va  pas  tout  seul:  „ä  la  place  de 
reculer,  je  m'arc-boutais  contra  les  mots,  poussant  dessus  de  toutes  mes 
forces;  il  a  bien  fallu  qu'ils  finissent  par  ceder."  Et  Samuel  Belet,  arrive 
au  bout  de  son  histoire,  et  sans  craindre  d'etre  oublie,  peut  attendre  la  mort 
„qu'il  sent  venir  par  derriere." 

Jean-Louis  Samuel  Belet  est  ne  ä  Praz-Dessus,  le  24  juillet  1840, 
d'Urbain  Belet,  agriculteur  et  de  Jenny  Gottret,  sa  femme.  Ä  dix  ans  il 
perd  son  pere,  et  ä  quinze  ans  sa  mere.  Julien  Belet,  son  oncle  et  tuteur 
le  „place"  ä  la  Maladiere,  la  grosse  ferme  de  M.  David  Barbaz,  ä  Verna- 
min.  M.  David  Barbaz  est  le  plus  riebe  proprietaire  de  la  commune.  II 
possede  septante  et  quelques  poses,  vingt  vaches,  quatre  bceufs  et  trois 
chevaux,  et  Samuel  est  tres  intimide  lorsque  son  oncle  le  conduit  ä  la 
ferme.  11  y  fait  son  apprentissage  de  la  vie.  Mais  M.  Loup,  un  ancien 
regent,  veut  le  faire  etudier.  II  lui  prete  des  livres,  et  tous  les  quinze  jours, 
le  dimanche,  lui  donne  une  le?on.  Samuel  prend  goüt  ä  l'etude;  il  devien- 
dra  regent.    Bientöt  M.  Loup  l'envoie  ä  Roche,  pour  etre  commis  chez  un 


562 


notaire.  La  vie  est  moins  dure,  le  metier  est  plus  facile,  et  il  a  du  temps 
pour  lire  et  travailler.  M.  Loup  lui  obtiendra  une  bourse  ä  l'Ecole  Nor- 
male de  Lausanne.  Mais  ä  ce  moment  de  sa  vie  un  grand  amour  lui  fait 
perdre  la  tete.  Melanie,  une  jolie  fille,  deluree  et  insouciante,  et  qu'il  aime 
avec  passion,  l'abandonne  pour  Jordan  de  la  Baumette.  II  revient  alors  ä 
sa  premiere  vie;  il  ne  sera  jamais  regent.  11  erre  ä  travers  le  pays,  travaille 
de  ferme  en  ferme,  et  un  jour  passe  le  lac.  La  commence  une  nouvelle 
Periode  de  sa  vie  qui  va  durer  sept  annees.  En  Savoie  il  rencontre  Du- 
borgel,  le  charpentier  avec  lequel  il  se  lie  d'amitie.  Ils  travailleront  ensem- 
ble  desormais,  car  Samuel  a  appris  le  metier  de  son  ami.  Un  jour  les  deux 
hommes  partent  ä  pied  pour  Paris.  11s  parcourent  la  terre  de  France.  „De 
longues  files  de  peupliers  dessinaient  sur  le  ciel  la  courbe  de  route  que 
l'on  ne  voyait  pas,  ou  bien  s'en  allaient  toutes  droites  se  perdre  peu  ä 
peu  dans  la  brume  et  l'eloignement.  Par  ci,  par  lä,  la  tour  d'une  cathe- 
drale  indiquait  de  tres  loin  la  place  d'une  ville.  11  y  eut  de  nouveau  des 
fleuves,  et  entre  eux  des  canaux  avec  des  chemins  de  halage  sur  lesquels 
lentement  des  chevaux  s'en  allaient,  tirant  un  grand  bateau  tout  plat.  Et 
un  homme  marchait  ä  cöte  du  cheval,  le  fouet  jete  autour  des  epaules." 
11s  arrivent  ä  Paris,  et  Samuel  fait  la  decouverte  de  la  grande  ville.  Dubor- 
gel,  de  son  cöte,  frequente  les  clubs  socialistes  et  fait  de  la  politique.  II 
ne  reussit  pas,  cependant,  ä  convaincre  le  pensif  Vaudois.  Un  soir,  une 
explication  definitive  les  separe  ä  jamais,  et  Samuel  est  de  nouveau  seul 
dans  le  monde.  Peu  de  temps  apres  survient  la  ,,guerre  de  septante". 
Samuel  rentre  au  pays,  et  trouve  du  travail  chez  M.  Guignard,  le  proprietaire 
des  Chantiers  de  la  Veveyse.  11  prend  pension  h.  la  rue  du  Marche,  chez 
la  veuve  Louisa  Chabloz,  originaire  du  Pays  d'En-Haut.  Louisa  est  travailleuse, 
douce  et  bonne,  et  Samuel  ne  tarde  pas  ä  venir  ä  eile.  Ils  se  marient,  par 
un  beau  jour  du  mois  de  mai.  La  pension  de  Louisa  prospere,  et  Samuel 
devient  contremaitre.  Tout  irait  pour  le  mieux,  s'il  n'y  avait  l'enfant  que 
Louisa  a  eu  de  son  premier  mariage.  Louisa  se  doit  ä  son  mari  et  ä  son 
enfant;  or  ces  deux  etres,  qui  lui  sont  egalement  chers,  ne  s'aiment  pas. 
Elle  en  souffre,  en  devient  malade,  et  ne  tarde  pas  ä  en  mourir.  Samuel 
reste  seul  avec  le  fils  de  sa  femme,  pour  lequel  il  se  sent  pris,  brusque- 
ment,  d'une  immense  tendresse  Tout  ce  qu'il  y  a  en  lui  de  bonte  etd'amour, 
il  le  lui  donne.  Mais  l'enfant  ne  voit  rien.  II  reste  taciturne  et  ferme,  et 
il  meurt  lui  aussi,  six  mois  apres  sa  mere. 

Samuel  est  de  nouveau  seul.  N'ayant  plus  rien  ä  faire  dans  la  ville  oü 
moururent  les  deux  etres  qu'il  aimait,  il  vend  sa  petite  maison,  et  s'en 
va,  ä  pied  comme  jadis,  sur  la  route  du  lac.  Sans  s'en  rendre  compte, 
il  retourne  vers  les  lieux  oü  il  vecut  sa  jeunesse,  oü  il  souffrit  de  son 
grand  amour.  II  s'arrete  au  tournant  de  la  route  et  reconnatt  la  terre 
familiere.  II  songe  ä  sa  vie,  ä  la  misere  des  choses,  et  des  sanglots  lui 
montent  ä  la  gorge.  II  entre  ä  I'auberge  et  demande  ä  boire.  A  la  table 
voisine,  un  homme  est  assis,  miserable  et  accable.  Cet  homme,  Samuel  le 
reconnait.  C'est  le  mari  de  Melanie,  c'est  Jordan  de  la  Baumette,  celui 
qu'on  lui  a  prefere  jadis,  Les  deux  hommes  refont  connaissance  et  boivent 
jusqu'au  soir.  Ils  parlent  du  passe,  des  hommes  qu'ils  ont  connus,  et  dont 
Samuel  demande  des  nouvelles.  Ils  parlent  enfin  de  Melanie.  Puis  Jordan 
a  une  idee,  une   idee  d'ivrogne: 

563 


„Viens   voir  Melanie,   dit-il  ä  Samuel,   eile  n'est   plus  bien  belle."    Samuel  accepte: 
„C'est  qu'elle  etait  belle  autrefois!    Ah!  le  joli  cou  qu'elle  avait!    et  quelles  jouesi" 
Je  m'apergus  qu'il  ne  riait  plus.    Je  n'en  continuai  pas  moins: 

—  Et  des  bras  durs,  tu  sais!  .  .  . 
11  me  demanda: 

—  Qu'est-ce  que  tu  dis? 
Mais  j'etais  lance. 

—  Une  peau  comme  de  la  soie!  Et  quelle  bouche,  quelle  bouche!  Et  le  goüt  de 
miel  que  sa  bouche  avait  .  .  . 

11  repeta: 

—  Tu  dis? 

Et  comme  il  se  dötachait  en  noir  sur  la  fenetre  gclairäe,  je  vis  qu'il  levait  son  fouet. 
J'avais  fini   par  trouver  l'essieu:  je  voulus   reculer,  mais  mon  pied  restait  en  l'air; 
et  la  jument  impatiente  ayant  fait  un  bon  en  avant,  je  roulai  dans  la  poussiäre. 

Apres  s'etre  releve,  Samuel  s'assied  pour  reprendre  ses  sens,  puis  il 
reflechit:  „Tu  as  quarante-deux  ans,  Samuel.  Tu  as  peut-etre  encore 
bien  des  annees  ä  vivre.  Comment  vas-tu  les  vivre!''  U  decide  alors  de 
s'associer  avec  le  vieux  Ringet,  le  pecheur,  qui  habite  une  petite  maison, 
sur  la  rive  du  lac.  Desormais  ils  tendront  ensemble  leur  filets.  11  repare  la 
maison,  achete  une  peniche  neuve.  Le  pere  Finget  meurt,  et  Samuel  est 
definitivement  seul,  son  aide  venant  travailler  quand  il  lui  platt. 

Qu'importe  maintenant  ä  Samuel  la  succession  des  jours  et  des  nuits; 
que  lui  importent  les  choses  de  la  vie  quotidienne?  "Car  tout  est  con- 
fondu,  la  distance  en  allee  et  le  temps  supprime:  il  n'y  a  plus  ni  mort  ni 
vie;  il  n'y  a  plus  que  cette  grande  image  du  monde  dans  quoi  tout  est 
contenu,  et  rien  n'en  sort  jamais  et  rien  n'y  est  detruit,  c'est  un  degre  de 
plus,  il  faut  encore  le  franchir;  mais  on  voit  devant  soi  se  lever  ce  visage, 
et  c'est  le  visage  de  Dieu.  Lui  aussi  j'ai  appris  ä  l'aimer  et  ä  le  connattre ; 
je  sais  qu'il  est  tout  et  qu'il  est  partout!  .  .  .  Quand  je  rame  dans  mon 
bateau  c'est  en  lui  que  je  m'avance;  quand  j'aborde  ä  la  rive  c'est  ä  lui 
que  j'aborde;  il  est  en  haut,  en  bas,  ä  droite,  ä  gauche.  11  est  ici,  il  est 
lä-bas;  il  est  cet  arbre,  il  est  la  montagne;  le  lac  n'est  qu'un  morceau  de 
lui,  le  soleil  un  morceau  de  lui,  et  tout  n'est  qu'un  morceau  de  lui,  jusqu'ä 
la  navette  ä  filet  tombee,  jusqu'au  caillou  que  la  vague  arrondit." 


Apres  avoir  lu  Samuel  Belet,  j'ai  relu  Aline  et  les  Circonstances  de 
la  vie  et  Atme  Fache,  puis  j'ai  relu  ä  nouveau  Samuel  Betet.  J'ai  vu  nettement 
ä  quel  point  ces  romans  se  tenaient  entre  eux,  se  suivaient,  s'enchainaient, 
formaient  un  tout,  mais  j'ai  vu  aussi  combien  de  livre  en  livre,  le  talent 
de  M.  Ramuz  s'epurait,  se  debarrassait  de  tout  l'inutile,  et  combien  son 
expression  tendait  ä  la  simplicite,  ä  la  justesse,  ä  Videntite'  absolue  avec  le 
sujet.  On  ne  peut  retrancher  de  la  Vie  de  Samuel  Belet  ni  une  ligne,  ni 
un  mot.  Samuel  raconte  sa  vie  dans  les  termes  meme  dont  un  Samuel 
Belet,  parlant  ä  vous  ou  ä  moi,  se  serait  servi.  Dans  les  romans  prece- 
dents,  il  y  avait,  malgre  tout,  quelques  taches,  et  parfois  l'on  sentait  le 
procede,  ou  si  l'on  veut,  la  moniere  voulue  et  forcee.  Tel  paysage,  teile 
Vision,  teile  pensee  etait  trop  de  l'auteur.  Ici,  ce  n'est  jamais  le  cas.  Et 
c'est  ce  que  je  voulais  dire  en  parlant  de  l'identite  absolue  de  l'expression 
avec  le  sujet.  En  outre,  ce  qui  fait  la  valeur  de  ce  roman  —  comme  d'ail- 

564 


leurs  la  valeur  des  ceuvres  precedentes  —  c'est  la  richesse  et  la  nouveaute 
de  la  matiere.  L'oeuvre  de  M.  Ramuz,  et  avant  tout  Samuel  Belet,  est  une 
Oeuvre  romande,  une  oeuvre  vaudoise  meme,  mais  c'est  aussi  une  oeuvre 
humaine,  generale.  M.  Ramuz  a  realise  cela.  II  fait  entrer  le  roman  ro- 
mand  dans  les  grandes  lettres  fran(;aises.  Par  lä,  cette  oeuvre  est  une  date 
dans  Thistoire  de  notre  culture,  c'est  meme  une  grande  date.  Nul  n'a  ex- 
prime  avec  plus  de  force,  de  penetration  et  de  verite  l'äme  vaudoise,  l'äme 
profunde,  pensive  et  lente  du  vaudois.  Je  serais  tres  etonne,  si  les  criti- 
ques  frangais  —  je  parle  des  vrais  critiques  —  ne  reconnaissaient  ä  cette 
oeuvre  des  qualites  inedites,  et  ne  lui  trouvaient  un  accent  nouveau. 

Maintenant  M.  Ramuz  s'est  realise,  non  pas  entierement  sans  doute, 
car  il  evoluera,  mais  il  s'est  realise  dans  ce  que  son  talent  a  de  tangible 
et  d'evident.  II  est  mattre  de  soi  et  de  son  art.  Et  pour  un  ecrivain 
—  un  critique,  meme  —  je  ne  sais  rien  de  plus  instructif,  et  meme  de  plus 
palpitant,  que  la  lecture  de  ses  oeuvres,  d'Aline  ä  Samuel  Belet.  Ce  progres, 
cette  marche  ascendante  temoignent  d'un  talent,  d'une  volonte  et  d'une  mai- 
trise  qui  forcent  Tadmiration.  Et  pour  les  ecrlvains  romands,  c'est  une  belle 
et  fiere  le^on. 

GENEVE  GEORGES  GOLAY 


O  D  D 

DIE  SÜDSLAWISCHE  FRAGE 
IM  HABSBURGER  REICHE 

Vor  zwei  Jahren  ist  das  Buch  von  R.  W.  Seton  über  die  südslawische 
Frage  in  der  Erstausgabe  in  englischer  Sprache  erschienen  und  erregte 
berechtigtes  Aufsehen.  Nun  liegt  eine  deutsche  Übersetzung  vor  (Verlag 
Meyer  und  Jessen,  Berlin).  Der  Autor  übt  an  der  österreichischen  Regie- 
rungspolitik scharfe  Kritik.  Die  diplomatischen  Methoden  des  Grafen 
Aehrenthal  werden  der  Prüfung  unterzogen.  Seton  sagt  unter  anderm :  „es 
liegt  im  Interesse  ganz  Europas,  dass  Diebstahl,  Fälschung  und  Spionage 
aus  dem  Bereiche  der  auswärtigen  Politik  endgültig  ausgeschlossen  werden." 
Der  Zweck  des  Buches  ist,  das  Erwachen  des  Nationalgefühls  bei  den 
Kroaten  und  Serben  der  Doppelmonarchie  zu  schildern  und  die  kroatisch- 
serbische Einheitsbewegung  der  letzten  Jahre  eingehender  zu  behandeln. 
Ein  Teil  des  Werkes  schildert  die  Annexion  Bosniens  und  die  daraus  ent- 
standene internationale  Krise.  Das  Buch  von  Seton-Watson  hatte  einen  so 
durchschlagenden  Erfolg  zu  verzeichnen,  weil  es  eine  lebendige  aus  der 
direkten  Anschauung  heraus  gewonnene  Kenntnis  der  Verhältnisse  verrät 
und  die  südslawische  Frage  nicht  allein  als  Nationalitäten-  und  Rassenfrage 
zur  Darstellung  bringt,  sondern  auch  die  geschichtlichen  und  ökonomischen 
Grenzgebiete  in  die  Erörterung  einbezieht.  Die  Engländer  sind  anerkannte 
Meister  der  knappen  und  klaren  Darstellung;  das  Buch  von  Seton  ist  ein 
neuer  Beweis  dafür.  Auch  die  rein  historischen  Partien  sind  sehr  anziehend 

565 


geschrieben  und  vermitteln  auch  Uneingeweihten  rasch  die  Kenntnis  des 
Allerwissenswertesten.  Die  Misere,  unter  der  die  Südslawen  leiden,  tritt  vor 
allem  in  dem  vierten  Kapitel  des  über  600  Seiten  umfassenden  Buches  be- 
sonders hervor;  hier  wird  der  Ausgleich  zwischen  Ungarn  und  Kroatien 
dargestellt  (1868)  und  im  folgenden  Kapitel  die  Verhältnisse  des  Landes 
unter  dem  Dualismus  geschildert  (1868—1905).  Ein  besonderer  Abschnitt 
ist  der  hochragenden  Persönlichkeit  des  Bischofs  Stroßmayers  gewidmet 
mit  seinen  Verdiensten  um  die  Wiedergeburt  der  kroatischen  Kultur.  Die 
Annexion  Bosniens  und  der  Agramer  Hochverratsprozess,  der  Friedjung- 
Prozess  führen  auf  die  neue  Zeit  hinüber.  Seton  bringt  überall  originelle 
Betrachtungen.  Man  fühlt  es  heraus,  wie  intim  er  mit  Land  und  Leuten 
vertraut  ist.  Das  offizielle  Österreich  muss  sich  in  diesem  Werke  eines 
neutralen  Zuschauers  eine  scharfe,  berechtigte  Kritik  gefallen  lassen.  Über 
zwanzig  Beilagen  bilden  die  dokumentarische  Fundierung  des  groß  ange- 
legten Werkes.  Da  findet  sich  auch  der  Briefwechsel  zwischen  Bischof 
Stroßmayer  und  Qladstone.  Das  Bindeglied  zwischen  dem  kroatischen 
Bischof  und  dem  britischen  Staatsmann  war  Lord  Acton,  Verfasser  der  be- 
kannten Quirinus-Briefe  aus  dem  Vatikanischen  Konzil,  ein  intimer  Freund 
Döllingers  und  später  Professor  der  Geschichte  an  der  Universität  Cambridge. 
Acton  war  am  Vatikanischen  Konzil  in  den  Jahren  1869/70  ein  Mitkämpfer 
Stroßmayers  gegen  das  Unfehlbarkeitsdogma.  Lord  Acton  erkannte  die 
geistige  Verwandtschaft  zwischen  Stroßmayer  und  Gladstone  und  machte 
den  Versuch,  sie  zusammenzubringen.  Dieser  Briefwechsel  enthält  wahre 
Prachtsstellen.  Der  erste  Brief  an  Gladstone  datiert  vom  1.  Oktober  1876 
und  er  beginnt  mit  folgenden  Sätzen:  „Erlauben  Sie,  dass  auch  ich  Ihnen 
aus  dem  Innersten  meiner  Seele  danke  für  die  großmütige  Initiative,  die  Sie 
vor  Ihrer  ausgezeichneten  Nation  und  vor  der  ganzen  zivilisierten  Welt  er- 
griffen haben  zur  Verteidigung  der  Rechte,  der  Humanität  und  der  Freiheit, 
für  die  im  gegenwärtigen  Momente  die  armen  Südslawen  so  Unsägliches 
leiden  und  Ströme  Blutes  in  einem  ungleichen  Kampfe  vergießen." 

Der  Ton  zwischen  dem  Bischof  und  Gladstone  ist  mit  jedem  Briefe 
herzlicher  geworden  und  nach  wenigen  Monaten  schon  schließt  eine  dieser 
Korrespondenzen  des  Bischofs  von  Bosnien  mit  den  Worten:  „Genehmigen 
Sie,  teuerster  Freund,  den  Ausdruck  meiner  intimsten  und  respektvollsten 
Verehrung  und  Freundschaft,  mit  der  ich  mich  zu  zeichnen  die  Ehre  habe, 
Ihren  Freund  und  Bewunderer." 

Am  19.  September  1882  beglückwünscht  der  Bischof  Gladstone  „zum 
großen  und  entscheidenden  Sieg"  des  britischen  Heeres  in  Ägypten.  Die 
britische  Politik  bedeute  unter  seiner  weisen  Führung  „überall  in  der  Welt 
die  Gerechtigkeit  und  die  Freiheit".  Gladstone  schrieb  am  12.  Oktober 
1882  seinem  „venerable  eveque  et  eher  ami"  unter  anderm :  „Quant  aux 
Slaves  du  Sud,  nous  pouvons  esperer  beaucoup  de  progres  ä  l'avenir  et 
nous  feliciter  du  grand  oeuvre  d'emancipation  qu'on  a  en  grande  partie 
accompli." 

ZÜRICH  PAUL  GYGAX 


DDO 

566 


ANMERKUNGEN  ZU  BÜCHERN 

DAS  HERMANN  BAHR-BUCH 
GERHART  HAUPTMANNS  FESTSPIEL 

Geist  kann  nicht  bezahlt  werden,  darum  kostet  das  dreihundert  Seiten 
lang  geistreich  ausdauernde  Hermann  Bahr-Buch  nur  eine  Mark.  Alle  die 
vielen  Hermann  Bahr,  die  doch  nur  einer  sind,  sprechen  und  widersprechen 
sich  da  über  die  großen  und  kleinen  Bagatellen  des  Lebens.  „Sage  mir 
Graf  Orindur,  woher  dieser  Zwiespalt  der  Natur?"  Nämlich  in  diesem 
Hermann  Bahr,  der  die  „Königlich-Kaiserliche  Post-  und  Telegraphendirektion 
für  Österreich"  eines  Essays  würdigt  und  doch  noch  Zeit  findet  als  ein 
Europäer  großen  Stils  zu  behaupten:  „Es  wird  heute  zwischen  Wolga  und 
Loire,  von  der  Themse  zum  Guadalquivir  nichts  empfunden,  das  ich  nicht 
verstehen,  teilen  und  gestalten  könnte;  die  europäische  Seele  hat  keine 
Geheimnisse  vor  mir."  Als  Österreicher  grollt  und  schmollt  er  —  natürlich 
„unter  dem  Strich"  über  das  pensionierte  Gewissen  seines  Vaterlandes. 
Von  Wien  plaudert  er  aus,  es  verzeihe  alles,  nur  eines  nicht :  die  geistige 
Größe.  Da  Bahrsche  Feuilletons  doch  noch  keine  Dynamitpatronen  auf 
dem  Frühstücksteller  eines  Wieners  legen,  ist  der  Wiener  und  ganz  Wien 
boshaft  genug,  grade  Hermann  Bahr  —  also  einer  Größe  —  zu  verzeihen, 
und  schmunzelnd  wird  er  gefragt:  Lieber  Raunzer,  warum  klebten  Beet- 
hoven, Schubert,  Grillparzer,  ja  Hebbel  an  Wien  —  der  Apfelstrudel  wegen? 

Übrigens  in  der  Liebe  zum  Theater  überwieuert  der  Salzburger  Bahr 
alle  Wiener.  Sein  Lächeln,  sein  Witz,  sein  Ärger,  seine  Feder,  seine  Arbeit, 
seine  Sehnsucht,  sein  Zweifel  dichten  und  denken  ja  für  die  Abendstunden 
zwischen  Acht  und  Elf,  in  denen  der  Vorhang  vor  dem  sublimierteren 
Leben  aufrollt.  Ein  echt  Bahrsches  Paradoxon:  Er  nimmt  das  Theater 
ebenso  ernst,  wie  er  es  selber  leicht  bedient.  Er  hat  den  Dialog  aus  seiner 
Erdenschwere  befreit  und  mit  seiner  nonchalanten  Art  Schule  gemacht. 
F.  Saiten,  R.  Auerheimer,  A.  Schnitzler  wissen,  woher  ihr  eigener  queck- 
silberner Dialog  kommt.  Von  Bahr,  oder  von  Paris,  wo  dieser  zuerst  seine 
Sätze  gleichsam  parfümierte,  bis  er  lernte  in  einem  Satz  einen  Aufsatz 
schreiben.  In  Paris  kleidet  sich  der  Stockösterreicher  in  den  Europäer 
um,  der  fortan  den  ganzen  Kontinent  bewohnt,  bald  Paris,  London,  Berlin, 
Rom,  Athen,  Petersburg  und  natürlich  Wien.  Dadurch  befähigt,  großzügige 
Parallelen  zu  ziehen,  wachsen  seine  an  keinen  Meridian  gebundenen  Inter- 
essen ins  Riesengroße.  Überall  entdeckt  er  in  der  Kunst  jungfräuliche 
Erde.  Er  ist  dabei,  wenn  man  den  Geburtstag  des  Naturalismus  feiert,  er 
ist  dabei,  wenn  man  ihn  als  „einen  Zwischenakt"  erledigt;  wenn  heute  ein 
resolutes  Talent  seine  Fühler  ausstreckt,  so  ist  morgen  Hermann  Bahr 
schon  sein  Impresario;  wenn  er  auf  unsere  deutsche  Zunge  kaum  den 
Namen  Bernhard  Shaw  gelegt  hat,  ist  auf  seinen  Lippen  Gaisworthi  schon 
heimisch  geworden.  Darf  man  seinen  Göttern  glauben?  Entdeckte  er  wirk- 
lich die  Creme  der  Literatur?  Aber  wirklich,  Hermann  Bahr  hat  uns  seit 
Jahrzehnten  immer  in  die  beste  Gesellschaft  geführt,  wenn  anders  uns  die 
von  ihm  gepriesenen  Maeterlinck,  Barbey  d'Aureviily  (dessen  Georges  Brum- 
mel  jeder  lesen  sollte),  Maurice  Barres  wertvoller  sind  .  .  .  sagen  wir,  als 
Fran(;ois  Coppee  und  Paul  Bourget,  der  Ältere.  Aus  dem  elastischen  Cha- 
rakter des  Österreichers   hat  Bahr  einen  Funken  Genie  geschlagen.    Mit 

567 


gertenschlanker  Geschmeidigkeit  fühlt  er  sich  in  seine  Zeitgenossen  ein, 
unterliegt  großen  Eindrücken  in  so  nervenzarter  Weise,  dass  auch  wir  unter- 
liegen. Man  hat  Bahr  vorgeworfen,  er  wechsle  jedes  Jahr  seine  Über- 
zeugung —  oft  auch  zweimal.  Das  Bahr-Buch  lehrt  uns  sein  Bekenntnis 
ethischen  Impressionismus:  Charakter  hat,  wer  Gesinnungen  revidiert. 
Durch  solche  Revisionen  hat  Bahr  —  ein  besserer  literarischer  Talleyrand 
—  sich  aus  der  Jugend  von  gestern  immer  wieder  in  die  Jugend  von  heute 
balanciert.  Für  diese  fröhliche  Kunst  dürfte  man  dem  Fünfziger  fast  gra- 
tulieren, wenn  man  es  nicht  lieber  unterlassen  sollte,  weil  er  wie  das  Hof- 
rätchen  NegrelH  im  „Krampus"  sich  entrüsten  könnte:  „Es  ist  eine  große 
Gemeinheit,  seinen  Mitmenschen  stets  daran  zu  erinnern,  dass  er  weniger 
jung  wird."  — 


Gerhart  Hauptmanns  Festspiel  zur  Erinnerung  an  den  Geist  der 
Freiheitskriege!  ~  Pfui  Deibel!  sagte  der  hohle  Philisterdarm,  dem's 
nicht  ans  Herz  ging,  denn  „brennt  man  den  Hammel  an  der  Stirn,  bleibt 
unbewegt  sein  dumpfes  Hirn"  (sagte  schon  vor  dem  Philister  ein  Gerhart 
Hauptmann).  Hm!  hm!  pipsten  die  kritischen  Leisetreter,  die  den  Daumen 
nicht  auf  die  Schwächen  zu  drücken  wagten.  „Hosianna!"  der  Kometen- 
schweif von  Hauptmanns  blinden  Freunden.  Und  einige  wenige  zuckten  die 
Achseln.  Soso,  lala!  Man  sollte  das  Festspiel  lesen,  wäre  es  bloß,  um 
den  Goetheschen  „Epimenides"  noch  herzlich  schlechter  zu  finden,  über 
den  die  Goethephilologie  soviel  schwindelt.  Aber  man  würde  zweckvoll 
vergleichen,  dass  beide  Dichter  zwar  auf  die  Heringsware  landesüblicher 
Begeisterung  feierlich  verzichteten,  aber  dafür  nichts  besseres  gaben  als  die 
mythologische  Rumpelkammer.  Goethe  wünschte  damals  alle  Wunder  der 
Regietechnik;  die  Blößen  zu  Hauptmanns  Werk  hat  Reinhardt  (wie  der 
barmherzige  St.  Martin  mit  seinem  Mantel),  mit  der  Pracht  seiner  Vorhänge 
und  seinen  ehrlichen  und  listigen  Künsten  verdeckt.  Goethe  und  Haupt- 
mann! .  .  .  Oh,  ich  will  dem  Dissertationsthema  von  1920  nicht  vor- 
greifen. Sicher  ist,  dass  Hauptmann  mit  dem  Rücken  gegens  Publikum 
schrieb,  dass  keine  Genieblitze  ihn  umzuckten,  als  er  vielleicht  in  einem 
englischen  Klubsessel  an  Hans  Sachs  dachte  und  Knittelverse  schrieb, 
an  Goethe  dachte  und  den  Theaterdirektor  ins  Festspiel  schmiss,  und  wieder 
an  Goethe  dachte  und  mit  Allegorien  dem  Volk  Steine  statt  Brot  gab. 
Aber  an  die  Riesenhalle  in  Breslau  dachte  er  nicht,  der  man  die  Welt- 
geschichte mit  den  Puppen  an  Drähten  nicht  erklären  soll ;  denn  ein 
Festspiel  ist  immer  patriotisch  zugeschnittene  Geschichtstunde,  in  der  man 
das  Beste,  was  man  weiß,  den  Buben  (und  ihren  Vätern  und  Müttern)  doch 
nicht  sagen  darf.  Hauptmanns  ironische  Geschichtsphilosophie  durchfröstelt 
allerdings  das  patriotische  Normalherz.  Aber  der  winzige  Puppenkram  und 
die  dressierten  Riesenmassen,  die  sich  über  die  Bühne  wälzen,  ergeben 
Kontraste.  Ich  werde  den  Gedanken  nicht  los,  dass  der  böse  Dämon 
Gerhart  Hauptmanns  in  diesem  Festspiel  —  Ma.x  Reinhardt  hieß,  dass 
die  Massenszenen  gleichsam  in  Regiepläne  hineingedichtet  werden  mussten, 
dass  Hauptmann  hie  und  da  geradezu  von  einem  Einfall  dispensiert 
wurde,  damit  optische  und  akustische  Einfälle  der  Regiekunst  textlich 
und  gedanklich  nicht  gehemmt  wurden.  Vom  „Mirakel"  her  kennt  man 
den  großen  mystischen  Dämmereindruck  des  Riesen-Domes.    Im  Festspiel 

568 


I 


wallt  wieder  ein  feierlicher  Zug  in  den  Dom.  Das  Wort  kann  mit  diesem 
Schaugepränge  nicht  konkurrieren.  Der  eigentliche  Zweck  der  Revue  aber 
ist  erreicht.  So  tauchen  auch  die  Helden  und  Dreiviertelsheroen  nur  zu 
flüchtiger  Apparition  auf  und  ducken  sich  wieder  unter  die  Rampe  —  jed- 
weder Tat  frei.  Nur  Napoleon !  Der  drängt  sich  schon  als  zwölfjähriger 
Knabe  vor,  einen  Kreisel  herrisch  regierend.  Der  dröhnt  und  hämmert 
Worte,  strotzt  in  Machtgebärden,  wächst  eben  aus  dem  Zwergformat  in  das 
Maß  des  Zeus  von  Otrikoli.  Zeus-Napoleon  in  der  Glorie,  ihm  zu  Füßen 
der  deutsche  Adler!  Nein,  deutsche  Kriegervereine  können  nie  begreifen, 
dass  ein  Dichter  die  Größe  der  Nation  ehrt,  wenn  er  ihres  Gegners 
Größe  nicht  schmälert.  Es  ist  gewiss,  dass  Hauptmann  den  Korsen  so- 
zusagen mit  Ausschluss  der  Öffentlichkeit  —  ganz  für  sich  geschildert 
hat.  Ich  lege  den  Finger  auf  den  hübschen  Gedanken  des  Philistiades, 
der,  von  der  zerbrochenen  Heldenpuppe  Napoleon  sprechend,  aus  seinem 
Rucksack  ein  Schiffsmodell  nimmt : 

Hier  halt  ich  ein  Schiffchen,  heißt  Bellerophon! 

Klopft  man  daran,  gibt's  einen  Schmerzenston. 

Es  trägt  den  großen  Napoleon, 

Als  Gefangenen  des  mächtigen  Albion. 

Es  hält  den  Kurs  in  die  große  Leere, 

Nach  dem  ödesten  Felsen  im  öden  Südmeere. 

Und  was  da  pulst  gegen  seine  Wanten, 

Das  ist  das  Herz,  das  wir  alle  kannten. 

Und  der  furchtbare  Wille,  dem  nichts  widerstand, 

Liegt  jetzt  zerbrochen  hinter  der  Schiffswand. 

Und  sicher  wird  Meile  um  Meile  gemessen. 

Sie  schlepten  ihn  fort  in  das  große  Vergessen, 

Wo  sich  auch  der  zäheste  Wille 

Nutzlos  zermartert  in  der  unendlichen  Stille.  — 

Napoleon  hat  in  diesem  Festspiel  ideell  eine  Schlacht  gewonnen,  in- 
dem alle  andern  Größen  vor  ihm  zusammenschrumpfen.  Gewiss  nicht  fest- 
spielmäßig war  denn  Hauptmanns  Einführung  des  Philosophen  Hegel,  der 
recht  hegelisch  knittelverst: 

Ihr  saht  diesen  Mann  (Napoleon):  einerlei,  wie  er  heißt! 

Ich  sehe  in  ihm  den  VVeltgeist, 

In  ihm  ist  die  Weltseele  inkarniert, 

Die  Göttin  Vernunft,  die  sich  manifestiert. 

Ich  darf  es  sagen  aus  Überzeugung, 

Mit  demütig-stolzer  Nackenbeugung: 

Meine  Geschichtsphilosophie 

Ward  durch  ihn  zur  Prophetie ! 

Und  wieder  nicht  festspielmäßig  führt  sich  der  eitle  Professor  Fichte  ein: 

Ich  bin  gewiss,  ihr  vernähmet  schon 

Von  meinen  berühmten  Reden  an  die  undeutsche  Nation. 

Aber  auch  nicht  bühnenwirksam  ;  denn  es  gibt  einen  Fichte,  der,  unter  die 
Trommeln  französischer  Truppen,  vor  Deutschlands  Zukunft  und  sogar  vor 
französischen  Spionen  die  Warheit  sagte  in  einem  Stil,  der  —  nach  Jean 
Pauls  Wort  —  Federn  aus  Luthers  Flügeln  trug.  Gewiss  redet  auch  Haupt- 
manns Fichte  nicht  wie  einer,  der  sich  vom  Korsen  die  Zunge  ausschneiden 
und  das  Rückgrat  brechen  ließ;  aber  durch  die  ironische  Einführung  hat 
Hauptmann  dem  Sohne  der  von  ihm  doch  sonst  so  geliebten  Weber  aus 
der  Lausitz  nicht  einmal  die  captatio  benevolentiae  gegönnt.    Dass  aber 

569 


Hauptmann  alle  Sättel  der  Sprache  reitet  und  reiten  kann,  ja  sogar  den  des 
Abraham  zu  St.  Clara,  kann  der  kotzengrobe  Turnvater  Jahn,  Gebhart 
Leberecht  Blücher,  oder  sogar  Freiherr  von  Stein  beweisen,  der  den  neu- 
deutschen   Nationalstaat  einen  Salat  nennt: 

Ja  ein  Salat,  da  habt  ihr  recht, 

Ist  heut  das  Land  der  deutschen  Stämme. 

Der  Nation  bekommt  er  schlecht. 

Besonders  die  gallischen  Hahnenkämme. 

Hole  der  Teufel  die  Herren  Köche, 

Die  uns  zerhacken  und  zerreißen, 

Damit  uns  die  Fremden  besser  zerbeißen, 

Die  uns  zermörsern  in  unserer  Schwäche. 

Hole  der  Teufel  die  Lakaien, 

Die  uns  servieren  den  Fressern,  den  zweien. 

Sie  können  die  größten  Bissen  vertragen. 

Der  gallische  und  der  russische  Magen. 

Sie  verdauen  uns  wie  einen  Sperling 

Oder  wie  der  Engländer  seinen  Weltplumpudding. 

Denkt  euch  doch  Frankreich  so  frikassiert 

Und  England  so  kreuz  und  quer  tranchiert. 

Eine  schöne  Statue  so  zerschlagen, 

Dass  jeder  Steinklopfer  sein  Stück  kann  davontragen. 

Soll  Deutschland  widerstehen  der  Zeit, 

Braucht's  außen  und  innen  Unteilbarkeit. 

Dieser  wackeren  Sprache  fehlt  in  Hauptmanns  Werk  —  nur  die  Tat. 
„Deutschland  —  dein  Name  ist  Hamlet",  kann  man  zu  diesem  Festspiel 
sagen.  Wohl  hörte  man  die  Schlägel  einen  bravourösen  Trommelwirbel 
schlagen,  hörte  Rapiere,  Säbel,  sah  flimmernde  Bajonette,  sah  ohn'  Er- 
bleichen die  Guillotine,  den  Strohpopanz  des  deutschen  Adlers,  aber  die 
Esse,  in  der  ein  Hammer  auf  dem  Amboss  funkenstiebend  die  deutsche 
Freiheit  hämmerte,  den  sah  keiner.  Man  kann  Magnesiumlicht  kommandieren, 
aber  nicht  vaterländische  Genieblitze.  —  So  ist  es  denn  gekommen  wie  es 
wohl  musste.  Wer  seinen  Patriotismus  in  Festhallen  füttert  und  päppelt,  hat 
seine  Enttäuschung  bezahlt;  wer  mit  einer  durchaus  nicht  geschuhriegelten 
Phantasie  Bühnenwerke  in  seinen  eigenen  Wänden  geistigerweise  insze- 
niert, wird  sogar  an  dem  verlästerten  Festspiel  eine  Freude,  aber  nicht 
eine  ungemischte,  erleben,  —  kein  Festspiel  zwar  —  aber  ein  Kammerspiel ! 
So  hat  sich  Gerhart  Hauptmann  vielleicht  nur  im  Raum  vergriffen,  der 
ihn  nicht  begriffen. 

ZÜRICH  E.  KORRODI 


DILETTANTEN,  KÜNSTLER  UND  RADAUBRÜDER 

Das  Deutsche  Theater  schlief  mit  zwei  überflüssigen  Premieren  in  die 
Ferien.  „Der  Bund  der  Schwachen"  von  dem  russisch-jiddischen  Dichter 
Schalom  Asch  ist  eine  sentimental-kitschige  Familienblatt-Ballade,  „Kaiser- 
liche Hoheit"  von  der  holländischen  Dichterin  J.  A.  Simons-Mees  ein  stumpfes 
Provinzlustspiel.  Diese  Seichtheiten  wurden  durch  ihre  eigene  Wertlosigkeit 
erledigt.  Dagegen  florieren  die  Naturtheater.  Herr  Axel  Delmar,  ein  Patriot 
und  Dilettant,  beunruhigt  schon  das  zweite  Jahr  die  Umgebung  von  Potsdam, 
Er  feiert  die  Freiheitskriege  mit  Szenen,  die  er  „Marschall  Vorwärts"  nennt. 

570 


aber  was  darin  Handlung,  Konflikt  wird,  ist  anrüchig  und  übel.  Nur  was 
historisch -anekdotenhaft,  volkstümlich -drastisch  bleibt,  lässt  man  sich, 
wenn  man  alle  Ansprüche  niederlegt,  gefallen,  weil  es  nicht  den  Geschmack 
beleidigt.  Als  Ganzes  ist  das  Freiluft-Unternehmen  des  Herrn  Delmar  be- 
scheiden: es  spekuliert  nicht  auf  die  Anerkennung  der  Kritik,  sondern  auf 
einen  Orden  des  Kaisers.  Anspruchsvoller  tritt  Herr  Rudolf  Lorenz  auf, 
der  am  kleinen  Wannsee  seine  Stätte  aufgeschlagen  hat.  Er  kommt  literarisch 
und  macht  damit  die  ganze  Naturtheaterbewegung  lächerlich.  Wenn  das 
seine  Absicht  war,  soll  er  gelobt  werden.  Denn  das  Naturtheater  ist  eine 
Erfindung  von  Leuten,  die  im  Winter  nichts  leisten  können  und  deshalb  im 
Sommer,  wo  die  kritische  Kontrolle  milder  ist,  aufzufallen  hoffen.  Die 
Dichtungen  werden  gefälscht,  weil  alles  zerflattert  und  aus  dem  Zwang  ins 
Zufällige  aufgelöst  wird.  Die  Schauspieler  müssen  verdeutlichen  und  der 
Pathetische  besiegt  den  Sachlichen.  Die  Kritik  entdeckt  jedes  Jahr  im 
Naturtheater  neue  Talente,  deren  Nichtigkeit  sich  zeigt,  sobald  sie  eine  ge- 
schlossene Bühne  betreten.  Die  Apostel  des  Naturtheaters,  die  angeblich 
die  Wahrheit  propagieren,  propagieren  die  Verlogenheit.  Sauer  und  Basser- 
mann wären  zwischen  Gras  und  Büschen  unmöglich,  Christians  und  Bonn 
würden  triumphieren.  Es  ist  ein  gehemmtes  Indianerspielen.  Herr  Rudolf 
Lorenz,  der  den  Mut  hat,  für  seine  Stümpereien  mit  dem  Namen  Joseph 
Kainz  Reklame  zu  machen,  gab  unter  anderem  Grillparzers  „Des  Meeres 
und  der  Liebe  Wellen",  dessen  ganze  Wirkung,  wenn  man  dem  matten  Werk 
überhaupt  eine  zugestehen  will,  in  dem  Kontrast  von  engem,  geschlossenem 
Raum  (Heros  Turmgemach)  und  Meeresweite  besteht.  Ohne  diesen  Gegen- 
satz, der  die  Sehnsucht  Heros  unverständlich  macht,  wird  das  Drama  zur 
Parodie.  Im  Naturtheater,  dem  dieser  Gegensatz  widerspricht,  ist  es  eine 
Parodie,  Herr  Lorenz  suchte  sich  auch  sonst  die  ungeeignetsten  Sachen 
aus.  Das  leichte  Geplauder  in  J.  V.  Widmanns  „Greisem  Paris"  und  „Ly- 
sanders  Mädchen"  verwehte  der  Wind. 

Die  Sensation  aber  ging  nicht  von  Berlin,  sondern  von  Breslau  aus. 
Die  Aufführungen  von  Gerhart  Hauptmanns  Jahrhundertfestspiel  wurden 
inhibiert,  weil  der  Kronprinz  mit  Niederlegung  des  Ausstelkmgs-Protektorates 
drohte.  Alle  rechtsstehenden  Blätter  und  einige  demokratische  Rüpel  fielen 
mit  teutonischer  Wut  über  den  Dichter  her.  Die  einen  schrien:  er  beleidigt 
die  Hohenzollern,  die  andern:  er  beleidigt  das  deutsche  Volk.  Aber  selbst 
wenn  Hauptmann  beides  getan  hätte,  könnte  nicht  scharf  genug  gegen  das 
Verbot  protestiert  werden,  weil  es  die  geistige  Freiheit  niedertritt.  In  Wirk- 
lichkeit nun  hat  Hauptmann  niemanden  beleidigt.  Er  hat  Friedrich  Wil- 
helm II!.,  die  Königin  Luise  gestrichen  und  den  deutschen  Spießbürger  nicht 
allzu  glimpflich  behandelt.  Die  dynastische  und  nationalistische  Verbohrt- 
heit ist  in  Deutschland  schon  so  unheilbar,  dass  der  nicht  als  Deutscher 
gilt,  der  nicht  seine  Königstreue  und  sein  Volksgefühl  bei  jeder  Handlung 
betont.  Wir  wollen  uns  freuen,  dass  Hauptmann  nicht  zu  jenen  aufreizend 
direkten  Deutschen  gehört.  Sein  Deutschtum  ist  so  echt,  tief  und  rein 
menschlich,  dass  es  keiner  Betonung  bedarf.  Es  ist  weniger  Gesinnung  als 
Beschaffenheit.  Es  ist  nicht  Gebärde,  sondern  Wesen.  Von  dieser  selbst- 
verständlichen Deutschheit  ist  auch  das  Festspiel.  Es  ist  so  deutsch,  dass 
es  die  Marktschreier  des  Deutschtums  gar  nicht  merken.  Hauptmann  durfte 
sehr  wohl  den  Auftrag  des  Breslauer  Magistrats  annehmen,  denn  er  ist 
deutscher   als   jene   haarbuschigen  Gesellen,   die  es  ihm  noch  nachträglich 

571 


verbieten  wollen.  Die  Behinderung  dieser  Dichtung  aber  hat  ein  Gutes.  Sie 
führte  den  Liberalen  gerade  in  dem  Augenblick,  als  auch  sie  im  Rausche 
des  Kaiserjubiläums  untergingen,  die  Hohlheit  der  wilhelminischen  Kultur 
vor,  schärfte  den  Blick  dafür,  dass  wir  in  fünfundzwanzig  Jahren  an  tech- 
nischen Gütern  zwar  gewonnen,  an  inneren  aber  verloren  haben  und  weckte 
den  Widerspruch.  Es  wurde  eingehämmert,  dass  zwischen  der  Auszeichnung 
der  Herren  Ganghofer,  Höcker  und  Lauff,  die  kaum  noch  die  Dienstmäd- 
chen ernst  nehmen,  und  der  Verbannung  Hauptmanns  ein  anderer  als  nur 
ein  aktueller  Zusammenhang  bestehen  müsse. 

Künstlerisch  hat  man  Hauptmann  vor  allem  vorgeworfen,  dass  er  eine 
stürmische  Zeit  durch  die  Form  des  Puppenspiels  verkleinert  habe.  Diese 
Einkleidung  aber  erst  ermöglicht  die  Distanz,  schmerzlich-menschliche  Züge 
und  einenfastwehmütigen  Humor.  Es  ist  absurd,  heute  eine  „Hermannschlacht" 
zu  verlangen,  wo  wir  mitten  im  Frieden  leben.  Erst  wenn  man  ans  Theater 
denkt,  regen  sich  gegen  das  Puppenspiel  Einwände.  Der  Arena,  für  die  es 
bestimmt  war,  entspricht  nur  der  neutrale  Raum,  den  es  verlangt.  An  sich 
aber  wirken  die  Puppenszenen  auf  der  intimen  Bühne,  die  Massenszenen 
im  Zirkus.  Beide  teile  wollen  nicht  zu  einander  passen  und  arbeiten  sich 
entgegen.  Hauptmann  muss  das  gefühlt  haben.  Denn  er  wird  an  manchen 
Stellen  unerträglich  pedantisch,  sucht  zu  unterstreichen  und  zu  verdeutlichen. 
Diese  schlimme  Sendung  hat  der  Götterbote  Philistiades.  Hauptmann  ge- 
nügt es  nicht,  dass  Napoleon,  als  Knabe  den  Weltkreisel  schlagend,  in  der 
Pariser  Revolutionsmenge  erscheint,  der  Pöbel  schreit:  „Vive  l'empereur!" 
und,  doppelter  Hinweis,  Philistiades  erklärt:  „Es  ist  eine  Art  Genieblitz, 
sozusagen  ein  weltgeschichtlicher  Witz."  Die  historischen  Figuren  selbst 
sind  matt,  banal.  Ihre  Verse  meistens  nichtssagend.  Auch  wäre  es  wirk- 
samer gewesen,  wenn  der  Umschwung  früher  eingesetzt  und  wenigstens 
einige  der  Spießbürger  mit  fortgerissen  hätte.  Aber  es  ist  eine  Lüge, 
dass  Napoleon  verherrlicht  wird.  Je  größer  der  Gegner,  desto  größer  die 
Bewegung,  die  ihn  fortspült.  Es  ist  eine  Lüge,  dass  Blücher  verhöhnt  wird. 
Und  zum  Schluss  fasst  Hauptmann  alles  zusammen,  tilgt  den  Zwiespalt  und 
lässt  die  Idee  des  Ganzen  in  ergreifenden  Versen  ausströmen.  Dieses  Ende 
ist  herrlich.  Alles  Menschliche,  was  vorher  in  Mutterklage  und  Soldatennot 
hervorgebrochen  war,  alles  Seherische,  was  in  den  Versen  der  Pythia  und 
der  Kriegsfurie  glühte,  leuchtet  hier  noch  einmal  auf,  wenn  Athene  Deutsch- 
land das  geeinte  und  befreite  Volk  unter  einem  Hymnus  auf  den  Frieden 
und  das  Schaffende  in  den  Dom  führt.  Ich  bin  nicht  blind  gegen  die  starken 
Mängel  des  Festspiels.  Aber  dieser  flammende,  ergriffene  Schluss  ent- 
waffnet nicht  nur  diejenigen,  die  behaupten,  Hauptmann  habe  diese  Arbeit 
ohne  innere  Beteiligung  geschrieben,  er  läutert  das  Ganze  zum  besten 
Festspiel,  das  wir  seit  Jahrzehnten  erhalten  haben. 

Auch  einem  Toten  ist  jetzt  übel  mitgespielt  worden:  Richard 
Wagner.  Emil  Ludwig,  ein  verschwommener  Dramatiker  und  oberfläch- 
licher Essayist,  witterte  die  Konjunktur  und  schrieb  ein  Buch  gegen 
ihn:  „Wagner,  oder  die  Entzauberten".  So  wenig  ich  ein  Wagnerianer 
bin,  und  so  wenig  ich  zweifle,  dass  ein  Rückschlag  gegen  ihn  kommen 
muss,  so  energisch  lehne  ich  dieses  Pamphlet  ab.  Emil  Ludwig  geht 
wie  ein  rabiater  Oberlehrer  vor,  der  sein  journalistisches  Examen  machen 
will.  Pedantische  Einwände  legt  er  raffiniert  hin.  Er  macht  Jagd  auf 
Widersprüche  und  blendet  mit  falschen  Konsequenzen.  Er  weiß  nicht,  dass 

572 


der  Gegensatz  Leben — Kunst  bei  jedem  Künstler  eine  Rolle  spielt.  Er  tadelt 
—  wahrhaftig:  er  tadelt  —  Wagners  „Krampf",  der  doch  auch  Chaos  war. 
Er  schnüffelt  nach  Konzessionen,  die  Wagner  leichthin  gemacht  habe,  ist 
aber  aufs  höchste  erbost,  wenn  Wagner  seinen  Wohltätern  schroff  begegnet. 
Was  will  Herr  Ludwig  also?  Er  will  ein  Gegner  sein.  So  entwickelt  er 
nichts,  nimmt  keinen  Anlauf  und  fängt  da  an,  wo  er  aufhören  sollte.  Die 
tadelnde  Betonung  steht  am  Beginn,  ihr  weichen  Günde  und  Zusammen- 
hänge. Nichts  ist  verankert.  Was  er  lobt  („Tristan"),  wird  als  Ausnahme 
beiseite  gestellt,  während  es  ehrlich  gewesen  wäre,  dieses  Werk  als  die 
notwendige  Vollendung  der  andern  zu  zeigen.  Trotzdem  Herr  Ludwig  so 
tut,  als  ob  er  alles  auf  eins  zurückführe  (eben  aus  jenem  Krampf), 
wirbelt  er  alles  durcheinander.  Wenn  Ludwig  zu  einem  Zentrum  durchge- 
drungen wäre,  hätte  er  gesehen,  dass  Wagners  Erlebnisse  echt  und  groß 
sind,  dass  sie  aber  zu  schnell  nach  außen  treten,  dass  die  Gebärde  stärker 
wird  als  das  Gefühl,  dass  die  Kurve  der  Äußerung  heftiger  ist  als  der 
Anlass.  Darin  eine  Tragik  zu  spüren,  statt  einer  Unehrlichkeit,  hätte  mehr 
Scharfblick  und  literarisches  Niveau  bewiesen.  Aber  es  ist  immer  gut,  wenn 
die  Maske  fällt.  Alle  stilistischen  Spiegelfechtereien  nützen  Herrn  Ludwig 
nichts  mehr.  Er  ist  als  Fehler  ankreidender  Schulmeister  erkannt,  der  sich 
von  seinen  angestellten  Kollegen  nur  durch  seine  Aufdringlichkeit  unter- 
scheidet. 

BERLIN  HERBERT  JHERING 

D  D  O 

HEIMISCHE  LIEDER 

Einen  neuen  Begriff  möcht'  ich  heute  prägen :  den  des  Feiertags- 
komponisten. Was  so  durchs  Band  die  Komponisten  sind,  denen  bedeutet 
ihr  Werk  das  in  die  Töne  umgesetzte  curriculum.  Was  an  Not  drin 
schluchzte,  was  an  Lust  drin  jauchzte,  selbst  die  grauen  Zwischentöne  des 
Alltags,  sie  werden  Melodien,  denn  für  viele  ist  die  Kunst  das  einzige  Mittel, 
das  Leben  zu  ertragen. 

Dann  gibts  abernoch  eine  kleine  Zahl:  Feiertagskomponisten  nenne  ich 
sie.  Die  bedürfen  zum  Produzieren  einer  so  starken  Abstraktion  vom  Leben, 
dass  sie  nur  von  Zeit  zu  Zeit,  gleichsam  im  Sonntagsgewande  in  die  Werk- 
statt gehen.  Aber  ihre  Kunst  gibt  dann  einen  vollen,  reinen  Klang.  Denn 
sie  liegt  so  sehr  jenseits  des  Lebens,  dass  alle  Härten  und  Nöte  daraus 
gewichen  sind.    Wie  ein  Spiegel,  der  nur  das  Edelste  kündet. 

Solch  ein  Künstler  ist  Friedrich  Niggli,  von  dem  eine  Garbe  Lieder 
soeben  hochwillkommen  unter  derSpreu  des  musikalischen  Alltags  erscheint i). 
Wer  aus  Beruf  und  Neigung  —  die  beiden  Begriffe  decken  sich  ja  nicht 
immer  —  die  moderne  Vokalliteratur  verfolgt,  der  atmet  ordentlich  auf:  da 
ist  wieder  einmal  einer,  der  nicht  originell  erscheinen  will,  sondern  sich 
bescheidet,  geschmackvoll  zu  bleiben. 

Das  Melos  von  edlem,  schönem  Fluss.  Die  Deklamation  trotz  aller 
Feinfühligkeit  schlicht  und  ohne  rhythmische  Überspitztheiten.  Der  Klavier- 
satz von  feinem  Klangsinn,  nie  Fratze  des  Orchesters. 


1)  Zehn  Lieder  für  eine  Singstimme  mit  Klavierbegleitung  von  Friedrich  Niggli.  Op.8. 
Gebrüder  Hug  &  Co.,  Leipzig  und  Zürich. 

573 


Heimische  Lieder  nannte  ich  sie.  Ihrem  Schöpfer  waren  die  besten 
unserer  Dichter  gerade  gut  genug.  Da  finden  wir  Conrad  Ferdinand  Meyer 
zwiefach,  Adolf  Frey  gar  dreifach  vertreten,  sodann  —  besonders  erfreulich, 
weil  seine  Bewertung  zwischen  der  Bewunderung  der  Biographen  und  der 
Ablehnung  der  Zünftigen  wie  zwischen  Scylla  und  Charybdis  unterzugehen 
droht  —  Ainold  Ott  mit  empfundenen  Strophen. 

Meyers  „Zwei  Segel" :  über  den  geruhsamen  Wellenachteln  des  Klaviers 
schwebt  in  gleichmäßiger  Deklamation  eine  sehnsüchtig  geschwellte  Melodie. 
So  wohlig,  so  friedlich :  man  muss  etwa  an  das  Brahmsische  Lied  „Auf  dem 
See"  denken,  um  eine  ähnliche  Stimmung  geklärtester  Zartheit  zu  finden. 

Diese  stille  Keuschheit  des  Empfindens,  sie  tritt  uns  auch  in  seiner 
Deutung  von  Meyers  Hochzeitslied  entgegen.  In  dem  synkopierten  Cha- 
rakter der  Begleitung  malt  sich  Hangen  und  Bangen  der  jungen  Seele.  Leicht 
stilisiert  glauben  wir  Orgelklang  zu  vernehmen ;  im  Mittelsatz  weicht  er  ge- 
brochenen Akkorden  des  Klaviers,  die  sich  im  vorletzten  Takt  des  Liedes 
auf  eine  —  geistreich  darf  man  hier  nicht  sagen  —  rätselhaft  intuitive  Art 
zur  Kirche  zurückfinden. 

Die  beiden  Perlen  der  Sammlung  aber  sind  nach  meinem  Urteil  die 
beiden  ersten  Lieder  Adolf  Freys,  in  der  „Zuflucht",  wo  der  Dichter  über- 
zeugende volkstümliche  Töne  fand,  hüllt  Niggli  die  Verse  in  ein  holdes 
Dämmer  wechselnder  Dur-  und  Molltakte,  dass  wir  das  ewige  Licht  zu  sehen 
vermeinen,  wie  es  von  den  Schatten  der  Kapelle  umlagert  wird.  Und  im 
„Schlummerlied"  wiegt  sich  auf  der  leichten  Achtelbewegung  der  linken 
Hand  solch  köstlich  innige  Melodie,  dass  wir  beim  Hören  gläubige  Kinder 
werden. 

Das  dritte  der  Freyschen  Gedichte  „Wildrosen",  ein  trotziges  Strophen- 
lied mit  kräftiger  Steigerung,  erscheint  mir  zu  wenig  typisch  für  Nigglis 
Schaffen.    Vielleicht  wird  es  den  Publikumserfolg  für  sich  haben. 

Von  tiefer  Innerlichkeit  erfüllt  sind  Arnold  Otts  „Gestirne".  Die  weiten 
Akkorde  verleihen  dem  Lied  hymnischen  Charakter  und  die  sparsamen 
Modulationen  wirken  mit  seltener  Bedeutsamkeit. 


Außer  diesen  drei  Schweizern  findet  sich  noch  Hermann  Hesse  ver- 
treten, den  wir  ja  auch  mit  dem  Herzen  zu  den  Unsern  zählen.  „Der  alte 
Landstreicher"  ist  ein  Genrebildchen  mit  diskretem  Einschlag  des  Grotesken, 
„Der  böse  Tag"  ein  Reiterstück  voll  rhythmischer  Prägnanz  und  straffer 
Deklamation.  Höher  als  diese  beiden  Lieder  und  das  abschließende  Trutz- 
liedchen  von  Paul  Heyse,  das  immerhin  seiner  Wirkung  sicher  ist,  steht 
Detlev  von  Liliencrons  „Tod  in  Ähren" :  Niggli  formt  daraus  ein  Passionsbild 
von  sehrender  Herbe  und  mitleidvoller  Güte. 


Der  Komponist  hat  seine  Lieder  weise  und  einsichtig  unter  die  Sänger- 
welt verteilt:  unten  den  Dedikanten  gehts  von  der  bescheidenen  Schweizer 
Lerche  bis  zur  königlichen  Kammersängerin.  Aber  auch  allen  übrigen  seien 
sie  hiemit  ans  Herz  gelegt. 

LAUIALP  HANS  JELMOLI 

DDD 

574 


ZÜRCHER  KUNSTNACHRICHTEN 

Wie  in  einer  wirklichen  und  wahrhaftigen  Weltstadt  liegt  in  diesem 
Sommer  in  Zürich  das  Neueste  vom  Neuen  vor  uns  ausgebreitet;  kein 
Sensatiönchen  bleibt  uns  erspart.  Die  Kunstsalons  schießen  wie  Pilze  aus 
dem  Boden  und  übertrumpfen  sich  so,  dass  die  Schweizerische  Turnus- 
Ausstellung,  die  noch  bis  zum  10.  August  sichtbar  ist,  kaum  beachtet  wird. 

Wenn  ich  nun  von  diesem  Turnus  spreche,  so  möchte  ich  alle  so  oft 
hier  erwähnten  Meister  beiseite  lassen  und  nur  von  den  Jungen  reden, 
deren  Namen  mir  oder  meinen  Lesern  neu  sind,  und  nur  jene  nennen, 
welche  auf  die  Entwicklung  der  Malerei  einigen  Einfluss  haben  dürften. 
Unsern  anerkannten  Meistern  ist  ja  dadurch  eine  fast  unverdiente  Reklame 
erwachsen,  dass  Herr  Joseph  Clemens  Kaufmann  von  Luzern  nach  einem 
alt  Bundesrichter  endlich  auch  einen  Ausländer  gefunden  hat,  der  bereit  war, 
gegen  sie  eine  sich  und  ihn  selbst  hinrichtende  Broschüre  zu  schreiben. 

Zu  entschiedener  Künstlerschaft  hat  sich  Hermann  Huber  durchge- 
rungen, in  dem  es  bis  heute  unsicher  gärte.  Seine  beiden  figürlichen 
Kompositionen  entspringen  zwar  nicht  jener  anatomischen  Kenntnis  des 
Körpers,  die  ich  im  letzten  Hefte  als  Kunstprinzip  zu  erörtern  versuchte; 
sie  sind  rein  aus  Bogenlinien,  die  sich  in  der  Schwebe  halten,  also  rein 
aus  der  Arabeske  konstruiert,  und  das  ist  auch  ein  Weg,  um  zu  einer  stark 
und  groß  wirkenden  Einheit  zu  gelangen.  Das  gesucht  Primitive,  das  Hubers 
erste  Versuche  kennzeichnete,  hat  er  nun  überwunden  und  ist  zu  Anmut 
vereint  mit  Kraft  gelangt;  man  hat  fast  den  Eindruck,  als  seien  seine  Figuren 
mit  Musikbegleitung  gemalt  worden. 

Aus  dem  kubistischen  Lager,  glaube  ich,  sind  Arnold  Brügger  und 
Otto  Morach  entflohen.  Ein  französisches  Städtchen  von  Brügger  ist  in 
bis  ins  Allerfeinste  abgestuften  braunen  und  grünen  Tönen  gehalten,  in  die 
sich  etwas  Rosa  mischt;  alles  durch  die  schwarzen  Umrisslinien  zusammen- 
gehalten. Und  die  gleiche  Eigenart  zeigt  wenigstens  der  eine  seiner  beiden 
Köpfe:  Reichtum  der  Farbe,  der  sich  klug  darauf  beschränkt,  was  zum 
Ausdruck  der  Form  unerlässlich  ist.  Auch  Morach  ist  besonders  an  der 
Form,  zu  meist  an  der  Darstellung  von  Dachmassen  gelegen;  ein  feines 
Schiefergrau  ist  der  Hauptton,  der  in  allen  Tönen  enthalten  ist.  Diese  bei- 
den Künstler  haben  eine  große  Sicherheit  dessen  erworben,  auf  das  es 
bei  malerischer  Widergabe  der  Form  ankommt;  dazu  eine  neuartige  Wie- 
dergabe der  Farbe,  die  einem  gleich  gefangen  nimmt. 

Ein  anderes  Künstlerpaar,  das  zwar  schon  letztes  Jahr  in  Neuenburg 
auffallen  musste,  sind  die  Genfer  Maurice  Barraud  und  Emil  Bressler. 
Auch  bei  ihnen  das  Problem:  mit  wie  wenig  Mitteln  bring'  ichs  heraus? 
Nur  handelt  sichs  bei  ihnen  weniger  um  die  Form,  als  um  Bewegung  und 
Charakterisierung.  Das  eine  Pastell  von  Barraud  gibt  fast  mit  der  ver- 
ruchten Schärfe  von  Pascin  degenerierte  Stadtkinder  wieder;  das  andere 
hat  schönen  Linienrhythmus.  Und  Bressler  versucht,  mit  nicht  minderem 
Glück,  durch  Reduzierung  auf  rund  und  weich  fließende  Form  Kraft  zu  er- 
zeugen. Gustave  Buchet,  der  ähnlichen  Aufgaben  nachgeht,  ist  eher  frech 
als  gut. 

Zwei  Radierungen  von  Paul  Bodmer,  liegender  Mann  und  Wartezimmer, 
werden  manchem  wie  aus  dem  Schreibhefte  des  kleinen  Moritz  vorkommen. 
Die  Zeichnung  ist  durchaus  nicht  korrekter  als  bei  einem  kleinen  Jungen, 

575 


und  doch  ist  sie  voller  Gefühl,  voll  unerklärlicher  Lebenswahrheit  des  Aus- 
drucks, der  auf  alle  Einzelheiten  verzichten  darf. 

Zum  Schluss  noch  ein  merkwürdiges  Bild  von  Gottfried  Christen: 
in  einem  roten  Zimmer,  bis  auf  das  Muster  der  Vorhänge  unbeholfen, 
mühselig  und  ehrlich  gemalt,  sitzt  eine  dicke  Dame  mit  ihrem  Töchterlein, 
gelblich  beide,  hart  wie  aus  Holz  geschnitzt.  Bei  aller  Anfängerhaftigkeit 
von  einem  Wirklichkeitsfanatismus,  vor  dem  man  verdutzt  steht.  Unter  den 
vielen  Wegen,  die  junge  Schweizerkünstler  gehen,  wieder  ein  fast  ganz  neuer, 
vor  den  man  auch  keine  Verbottafel  stellen  möchte. 

*  * 

* 

Im  Kunstsalon  Neupert  an  der  Bahnhofstraße  haben  die  Futuristen 
Marinettis  ausgestellt.  Was  ich  einst  über  diese  Leute  geschrieben  habe 
(B.  X.  S.  286),  möchte  ich  heute  zum  Teil  wieder  zurücknehmen.  Ich  weiß 
nicht,  sind  die  Bilder  bei  Neupert  nicht  die  selben,  die  ich  einst  in  Berlin 
sah,  aber  heute  kommen  sie  mir  —  ich  sehe  dabei  ganz  von  der  Unver- 
ständlichkeit  ab  —  als  Schmierer  vor,  und  ich  glaube,  wenn  Marinetti  den 
ersten  besten  Handelslehrling  beschwatzt,  dass  so  Geschäfte  zu  machen 
seien,  dass  dieser  das  am  Ende  der  ersten  Woche  auch  kann.  Mit  einer  Aus- 
nahme immerhin:  Severini,  dessen  großes  Bild  eines  Tanzlokals  von  ordent- 
licher Arbeit  und  nach  Grundsätzen,  die  man  ja  ablehnen  mag,  gebaut  ist. 
Wenig  Leute  waren  in  der  Ausstellung,  als  ich  dort  war;  die  Sensation  ist 
zu  Ende  und  mit  ihr  der  Futurismus. 

Im  Kunstsalon  Wolfsberg  ist  gegenwärtig  in  einer  spanischen  Aus- 
stellung Anglada  mit  sechs  großen  Bildern  vertreten,  Anglada,  dessen  Werke 
vor  zwei  Jahren  auf  der  Internationalen  in  Rom  mein  Entzücken  waren, 
Anglada,  den  man  fast  nie  zu  sehen  bekommt  und  der  doch  so  unendlich 
viel  höher  zu  bewerten  ist  als  Zuloaga,  Villegas,  die  beiden  Zubiaurre  und 
wie  diese  spanischen  Ausstellungsreißer  alle  heißen.  Leider  wird  er  in  seiner 
Wirkung  von  zwei  jungen  Malern  mit  der  Cezanne-Palette  stark  beeinträch- 
tigt, von  Sunyer  und  Othon  Friesz.  Aber  dem  verhaltenen  Feuertempera- 
ment des  Hidalgos,  wie  es  sich  in  jedem  Gesicht  und  jeder  Bewegung  aus- 
spricht, der  festlichen  Art  seines  Vortrags,  wie  es  sich  selbst  bei  einem  so 
prosaischen  Gegenstand  wie  dem  Geflügelhändler  zeigt,  vermögen  sie  doch 
keinen  Abbruch  zu  tun.  Wie  viel  anders  müsste  das  aber  im  gedämpften 
Licht  eines  reichen  Saales  wirken,  der  gerade  das  Gegenteil  eines  schmuck- 
losen, scharf  und  hart  beleuchteten  Ausstellungsraumes  sein  sollte,  wie  sie 
die  moderne  Kunst  verlangt. 

Die  Moderne  Gallerie  an  der  Bahnhofstraße  zeigt  einen  Raum  voll 
Bilder  Camille  Pissarro's  und  gestattet  so  einen  Einblick  in  die  Entwicklung 
dieses  klugen  und  maßvollen  Impressionisten,  der  mit  vollem  Recht  heute 
immer  höher  eingeschätzt  wird. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 

DDD 

Vor  einigen  Tagen  wurde  in  Chur  eine  Kantonale  Gewerbeausstellung 
eröffnet,  die  eine  besondere  Erwähnung  verdient,  weil  ihre  ganze  Anlage 
beweist,  dass  auch  in  kleinen  Verhältnissen  die  Durchführung  eines  künst- 
lerischen Planes  möglich  ist.  Besonders  sei  auf  die  Raumkunstabteilung  mit 
duftigen  Arvenholzzimmern  und  den  Saal  der  Bündner  Künstler  hingewiesen. 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

576 


LA  SVIZZERA  FARÄ  DA  SE 

Zweimal  hat  vor  kurzem  der  Bologneser  Professor  Giorgio 
del  Vecchio  über  die  ladinischen  Talschaften  des  Bündnerlandes 
und  ihre  untergehende  Sprache  geschrieben,  einmal  mit  dem 
Schafspelz  in  der  ruhigen  und  vornehmen  Nuova  Antologia,  ein- 
mal ohne  Schafspelz  in  dem  sehr  klare  Zwecke  verfolgenden 
Archivio  per  l'Alto  Adige.  Das  zweitemal  legt  er  sich  besonders 
für  (oder  gegen)  das  Münstertal  ins  Zeug,  von  dem  er  an  zwei 
Stellen  behauptet,  dass  es  zwar  politisch  zu  Qraubünden,  geo- 
graphisch aber  zu  Italien  gehöre,  und  dem  nun  überall  wie  einer 
ersten  Etappe  seine  ganze  Begeisterung  geweiht  ist. 

Seine  Philologie  klappt  merkwürdig  mit  der  Strategie  italieni- 
scher Offiziere  zusammen;  man  darf  sich  nicht  verschweigen,  dass 
das  eher  für  die  Kriegslehre  und  ihre  Wirkungen  auf  den  Laien 
als  für  die  friedliche  Wissenschaft  spricht. 


Schon  bei  seinem  Titel  Le  valli  della  morente  Italianitä 
(Latinitä  dürfte  es  bloß  heißen)  muss  Del  Vecchio  wissen,  dass 
er  mit  der  Wissenschaft  auf  gespannten  Fuß  zu  stehen  kommt. 
Aus  jedem  Handbuch  der  romanischen  Philologie,  von  den  ältesten 
bis  zu  den  jüngsten,  kann  er  ersehen,  dass  man  die  romanischen 
Dialekte  nie  als  zur  italienischen  Sprachgruppe  gehörig,  sondern  stets 
als  selbständiges  Glied  der  großen  lateinischen  Sprachfamilie  be- 
trachtet hat;  Ascoli,  der  größte  der  italienischen  Linguisten,  zeigt 
sich  in  seinen  Saggi  ladini  nicht  anderer  Ansicht.  Und  gerade 
diese  einstimmige  alte  Überlieferung  beweist  hier  mehr  als  philo- 
logische Unterscheidungsmerkmale:  sie  beweist,  dass  nie  ein  Ge- 

577 


fühl   der  Zusammengehörigkeit   mit  Italien   die   Bündner  bewog, 
gegen  diese  Trennung  Berufung  einzulegen. 

Niemals  haben  sich  die  Rätoromanen  als  Eine  Nation  mit 
den  Italienern  gefühlt.  So  unrichtig  es  ist,  ihre  Sprache  als  italieni- 
schen Dialekt  zu  erklären,  so  unrichtig  ist  die  Behauptung, 
sprachliche  Verwandtschaft  bedinge  gleiche  Nationalität.  Für 
Nationalität  waren  von  jeher  und  werden  für  immer  nur  gemein- 
same Erinnerungen  und  der  Wille  zu  gemeinsamer  Zukunft  maß- 
gebend sein.  Wenn  daher  Del  Vecchio  das  Zurückgehen  des 
Rätoromanischen  als  „una  specie  di  abdicazione  del  carattere 
nazionale"  oder  kurz  mit  dem  schönen  Wort  „snazionalizzazione" 
bezeichnet,  so  ist  er  entschieden  auf  einem  Irrwege.  M  Italians 
ni  Tudalschs!  weder  Italiener  noch  Deutsche,  nennt  sich  die  klar 
durchdachte  und  wissenschaftlich  trefflich  orientierte  Entgegnung 
von  Peider  Lansel  (erschienen  im  Verlag  der  Fögl  d' Engladina), 
die  jedem  Irredentisten  klar  beweist,  dass  der  Rätoromane  nicht 
das  geringste  Bedürfnis  verspürt,  sich  von  irgend  einer  großen 
Sprachgemeinschaft  am  Gängelband  führen  zu  lassen.  Die  Kultur- 
gemeinschaft, zu  der  er  gehört  und  mit  der  ihn  ein  Jahrtausend 
gemeinschaftlich  verlebter  Geschichte  verbindet,  ist  alt  fry  Rätien 
und  weiterhin  die  Schweiz.  Hier  hat  er  von  jeher  Verständnis 
für  seine  besondere,  auch  sprachliche  Eigenart  gefunden.  Nie  hat 
man  von  der  Schweiz  aus  versucht,  seine  Sprache  zu  unterdrücken; 
man  hat  im  Gegenteil  ihre  wissenschaftliche  Erforschung  nach 
Kräften  gefördert,  und  wenn  Del  Vecchio  wüsste,  wie  viel  deutsche 
Bündner  aus  bloßer  Liebe  zur  Scholle,  ohne  den  geringsten  Vor- 
teil davon  zu  haben,  sich  mit  romanischen  Studien  abgeben,  er 
würde  nicht  in  der  Bündner  Regierung  nach  bösen  „Pangermanisti" 
stöbern,  die  der  romanischen  Sprache  ans  Leben  wollen. 


Wenn  nun  Del  Vecchio  bloß  kritische  Gedanken  über  den 
Niedergang  des  Rätoromanischen  äußern  würde,  könnten  wir,  so 
sehr  uns  die  Schiefheit  seiner  Ansichten  auch  ärgern  möchte, 
ruhig  und  sachlich  mit  ihm  darüber  reden.  Aber  leider  tut  er  mehr. 

Einmal  fordert  er  die  italienischen  Schweizer  im  Bergell, 
Misox  und  Tessin  auf,  dafür  zu  sorgen,  dass  die  sogenannte 
„Italianitä"   im   Engadin   und   anderswo  nicht  mehr  zurückgehe. 

578 


Mit  andern  Worten:  er  sucht  auf  Schweizer  Boden  Händel  zu 
stiften.  Und  doch  muss  er,  da  er  ja  die  Schweiz  so  gut  kennt, 
um  über  sie  zu  schreiben,  wissen,  dass  Duldsami^eit  überhaupt 
und  besonders  Duldsamkeit  gegen  sprachliche  Minderheiten  ein 
oberster  Grundsatz  unseres  Staatswesens  ist.  So  haben  wirs  immer 
gehalten  und  wollen  keinen  Sprachenstreit  leiden.  Das  macht  den 
Engadiner  zum  guten  Bündner,  den  Bündner  zum  guten  Schweizer 
und  den  Schweizer  zum  guten  Europäer.  Und  dass  es  ein  Volk 
guter  Europäer  gibt,  ist  vielleicht  unsere  geschichtliche  Mission. 
Darum  soll  sich  Del  Vecchio  nicht  wundern,  wenn  man  ihn  heute 
nicht  gerade  als  einen  Freund  unseres  Landes  ansieht. 

Und  wenn  er  uns  vollends  die  Societä  Dante  Alighieri  auf 
den  Hals  hetzen  will,  so  soll  er  wissen,  dass  die  Schweiz  keine 
Einmischung  ausländischer  Vereine  auf  ihrem  Boden  duldet.  „La 
Svizzera  farä  da  se". 


Wenn  Del  Vecchio  nachfühlen  will,  wie  man  seine  Ein- 
mischung in  unsere  Angelegenheiten  bei  uns  auffasst,  so  möge 
er  sich  etwa  vorstellen,  die  „Alliance  fran^aise"  verlange  für  die 
französischen  Täler  des  Piemonts  Unterricht  und  Schutz  der  fran- 
zösischen Sprache.  Aber  freilich,  ein  großes  Land  braucht  sich 
nichts,  ein  kleines  muss  sich  alles  gefallen  lassen.  Darum  macht 
sich  der  Heldenmut  der  Irredentisten  gern  an  Österreich,  wo  sonst 
genug  Streit  ist,  und  an  die  kleine  Schweiz,  und  lässt  Frankreich 
mit  Nizza  und  England  mit  Malta  säuberlich  aus  dem  Spiel. 

Ob  die  Irredentisten  wohl  überzeugt  sind,  dass  sie  mit  ihrer 
Tendenzphilologie  und  gewissen  Zukunftskarten  ihrem  Vaterlande 
einen  großen  Dienst  erweisen?  Jedenfalls  bringen  sie  ihre  Re- 
gierung in  nicht  geringere  Verlegenheit  als  die  Alldeutschen  die 
deutsche  Regierung,  wenn  bei  jedem  Vertragsabschluss,  sei  es 
auch  bei  rein  wirtschaftlichen  Dingen,  zuerst  das  Misstrauen  be- 
seitigt werden  muss,  das  eine  große,  stets  zum  Krieg  schürende 
Partei  um  sich  verbreitet.  Und  schließlich  wird  es  Italien  auch 
nicht  gerade  angenehm  sein,  wenn  man  viele  Leute,  die  italieni- 
scher Kultur  sehr  zugetan  sind  (und  dazu  rechne  ich  mich  und 
viele  Leser  dieser  Zeitschrift),  beständig  vor  den  Kopf  stößt. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 

579 


CAMILLE  LEMONNIER 

Cest  une  bien  grande  perte  que  viennent  de  faire  les  lettres 
frangaises  de  Belgique.  Le  plus  haut  chene  de  la  foret  est  tombe. 
D'autres  que  Lemonnier,  un  Maeterlinck,  un  Verhaeren  se  sont 
imposes  ä  Tadmiration  du  monde  entier  par  un  genie  plus  vaste 
et  plus  original.  Mais  la  personnalite  de  Camille  Lemonnier 
s'aureolait  d'une  sorte  de  legende.  II  apparaissait  comme  l'an- 
cetre,  le  chef  venere,  pour  ne  pas  dire  le  createur  de  cette  jeune 
litterature  qui  naquit  en  Belgique  un  peu  avant  1880,  apres  que 
la  nation,  engourdie,  eut  vecu  un  demi-siecle  d'une  vie  vegeta- 
tive, aux  ronrons  d'une  beate  prosperite  materielle  et  de  la  plus 
insipide  poesie  officielle.  Lemonnier  fut  baptise  par  Georges 
Rodenbach  le  „marechal  des  Lettres  beiges".  Lui-meme  qualifia 
de  „Päque  litteraire"  une  premiere  manifestation  organisee  en  son 
honneur  le  28  octobre  1888,  ä  l'occasion  de  la  publication 
de  son  vingt-cinquieme  volume  et  du  proces  de  YEnfant  du 
Crapaud.  D'autres  manifestations  devaient  suivre:  le  banquet 
organise  par  les  Jeune- Belgique  pour  protester  contre  le  refus 
systematique  des  commissions  officielles  d'accorder  ä  l'auteur  du 
Male  le  prix  quinquennal  de  litterature,  puis  au  lendemain  du 
triomphal  acquittement  de  Bruges.  (Lemonnier  s'etait  vu  attraire 
devant  la  cour  d'assises  de  cette  ville  pour  avoir  ecrit  VHomme 
en  amour);  puis  encore  la  manifestation  organisee  en  1903  pour 
celebrer  la  publication  du  cinquantieme  livre  de  l'ecrivain  (une 
quinzaine  d'autres  ont  paru  depuis);  enfin  la  fervente  manifesta- 
tion populaire  que  la  jeunesse  litteraire  de  Belgique  organisa  en 
son  honneur  il  y  a  trois  ans,  ä  Ixelles,  sa  commune  natale. 


II  s'est  eteint  doucement  le  13  juin  dernier,  ä  Tage  de 
soixante-neuf  ans,  dans  une  clinique  oü  il  venait  de  subir  une 
Operation  tres  grave.  Le  beau  male  roux,  au  cou  bas  et  muscle, 
qui  avait  en  lui  quelque  chose  de  la  force  du  taureau,  l'infati- 
gable  ouvrier  que  l'on  vit  45  ans  durant  s'asseoir  ä  sa  table  de 
travail,  tous  les  matins,  pour  noircir  de  nombreuses  pages,  comme 
un  laboureur  trace  des  sillons;  qui  accepta  d'un  coeur  joyeux, 
sans  regimber,  I'asservissement  ä  la  täche  quotidienne:  on  l'avait 

580 


vu  tout-ä-coup  terrasse  par  un  mal  insoupgonne,  dont  le  germe, 
ä  son  insu,  etait  en  lui  depuis  longtemps.  Et  cela,  au  moment 
oü  un  peu  d'aisance  lui  etait  venue.  Gräce  ä  un  petit  heritage, 
il  pouvait  pretendre  enfin  ä  un  peu  de  repos,  lui  qui,  naguere 
encore,  dans  une  allocution  emouvante,  redoutait  pour  sa  vieil- 
lesse  le  sort  de  Belisaire  mendiant  le  long  des  routes. 

II  n'est  plus!  tous  ceux  qui  l'approcherent,  les  ecrivains  jeu- 
nes  et  vieux  que  rechauffait  la  flamme  de  son  juvenile  enthou- 
siasme,  des  milliers  d'ouvriers,  de  bourgeois  et  d'artistes  qui  ont 
lu  et  relu  ses  livres  les  plus  celebres,  les  peintres  d'avant-garde  dont 
il  encouragea  les  audaces,  dont  il  exalta  lyriquement  le  talent,  tous 
pleurent  un  homme  qui  fut  un  des  meilleurs  parmi  les  meilleurs, 
un  ecrivain  dont  le  labeur  obstine  eut  une  valeur  d'exemple 
admirable.  La  le^on  de  ce  labeur  continu  qui  fait  penser  ä 
celui  d'un  Flaubert,  d'un  Balzac,  d'un  Zola,  autres  benedictins 
laiques,  on  peut  affirmer  qu'elle  fut  pour  beaucoup  dans  le  suc- 
ces  final  de  notre  renouveau  litteraire,  Jusque  lä,  ä  cöte  d'une 
torpide  litterature  academique,  on  n'avait  eu  que  des  ecrivains 
comme  Wacken,  Octave  Pirmez,  Andre  van  Hasselt  qui  faisaient 
plutot  figure  d'amateurs.  Un  Charles  de  Coster,  ignore,  me- 
connu,  ecrivait  dans  une  mansarde  miserable  les  Aventures  de 
Till  Uylenspiegel,  livre  qui  meriterait  d'etre  la  Bible,  l'Iliade  de 
la  Flandre  et  qui  —  n'est-ce  pas  triste  ä  dire?  —  est  peut-etre 
plus  connu  en  Allemagne  qu'en  Belgique.  Mais  Lemonnier, 
frere  en  esprit  de  Charles  de  Coster,  homme  de  sa  lignee  et  qui 
fut  Tun  des  premiers  ä  proclamer  sa  puissance,  Lemonnier  etait 
lä,  qui  osa.  11  eut  l'audace  grande,  deconcertante,  stupefiante 
dans  ce  pays,  de  vouloir  vivre  de  sa  plume  et  de  gagner  son 
pain  quotidien  en  pla^ant  de  la  critique  d'art,  des  romans  et  des 
contes  et  non  de  la  cassonnade  ou  de  la  dentelle.  Cependant 
que  Paris  l'accueillait,  on  le  bafoua,  on  l'abreuva  de  sarcasmes 
dans  son  pays.  Les  officiels  d'alors  denon^aient  les  audaces  de 
son  style  coruscant,  parlaient  de  l'immoralite  de  ses  livres.  (N'est- 
il  pas  hautement  comique  aujourd'hui  de  voir  leurs  successeurs 
de  l'Academie  de  Belgique  essayer  de  se  l'accaparer,  de  faire  croire 
qu'il  etait  sur  le  point  d'entrer  dans  cette  Institution  decrepite?) 

D'instinct,  les  „Jeune-Belgique",  ardents  et  frondeurs,  qui 
avaient  de  l'enthousiasme  ä   revendre,  se  grouperent  autour  de 

581 


ce  dejä  glorieux  a!ne  qui,  le  dimanche  apres-midi,  les  accueillait 
fraternellement  dans  la  petite  maison  de  la  Chaussee  de  Vleurgat 
ornee  de  tableaux,  de  dessins,  de  sculptures  de  la  jeune  ecole 
beige.  On  se  groupait  autour  de  l'auteur  du  Male  comme  au- 
tour  d'un  drapeau. 

Verhaeren  a  raconte  l'emotion,  la  joie  que  lui  causa  la  fa^on 
dont  l'accueillit  et  l'encouragea  Lemonnier  quand,  timide  debu- 
tant,  il  lui  apporta  le  manuscrit  de  son  premier  livre:  Les  Fla- 
mandes. 

Le  pretexte  de  l'entrevue?  rappelait-il  ä  Lemonnier  en  1903.  Mon 
livre  Les  Flamandes  que  je  presentai  ä  votre  critique.  II  fut  juge  par  vous 
balourd  et  violent.  J'en  conserve  l'epreuve  corrigee  par  votre  experience 
et  ä  cette  heure  de  bonnes  pensees  s'en  allant  vers  vous,  ces  feuiilets  ratu- 
res  sont  lä,  devant  mes  yeux,  sur  la  table,  en  ce  lointain  Ermitage  du 
„Caillou  qui  bique"  oü  ma  sante  se  raffermit  et  s'epure  dans  l'air  vivace 
et  la  solitude  feconde. 

Comme  eile  etait  hospitaliere,  votre  petite  maison  de  la  Chaussee  de 
Vleurgat  et  eile  sentait  bon  le  travail,  votre  chambre  oü,  parmi  les  jour- 
naux  epars  sur  les  fauteuils  et  les  chaises,  au  milieu  de  vos  livres  tasses 
en  ligne  dans  votre  bibliotheque  comme  des  rayons  de  pensees  dans  la 
ruche  de  votre  cerveau,  vous  apparaissiez  tel:  un  fervent  ouvrier  d'art, 
appuye  ä  votre  table  sur  vos  deux  poings  comme  sur  deux  blocs  de  force 
et  travaillant avec  ferveur,  comme  jadis  on  priait!  Ah!  que  de  fois  la  bonne 
chambre  m'a  abrite.  Que  d'heures  fieres  et  douces  j'y  ai  passees !  Nous  nous 
sommes  dit  des  paroles  claires  et  inoubliables  qui  restent  imprimees,  pa- 
reilles  ä  des  scels  ecarlates  sur  le  solide  parchemin  de  notre  amitie. 

Deux  autres  generations  d'ecrivains  sont  venues  depuis  et 
toujours,  dans  son  amour  de  la  lutte  et  de  la  nouveaute,  Le- 
monnier accueillit  cordialement  les  debutants,  la  jeunesse,  non 
pas  certaine  jeunesse  arriviste,  compassee,  denigreuse,  mais  celle 
qui  va  de  l'avant,  qui  est  capabie  d'enthousiasme  et  d'audace. 
II  etait  pour  eile  le  „grand  camarade"  au  coeur  chaud  que  fut 
Walt  Whitman. 

Quel  silence,  quel  vide  aujourd'hui  dans  le  petit  cabinet  de 
travail  tapisse  de  livres,  de  tableaux,  de  dessins,  oü  Ton  voit 
l'excellent  portrait  du  maitre  qu'a  brosse  Emile  Claus,  son  buste 
par  Van  der  Stappen  (il  en  est  d'autres  qu'ont  signes  Jef  Lam- 
beaux  et  Constantin  Meunier),  oü  Ton  voit  aussi,  rangees  dans 
un  petit  meuble  charmant,  toutes  les  oeuvres  du  robuste  ouvrier 
defunt,  dans  des  reliures  somptueuses  et  illustrees  par  les  meil- 
leurs  artistes  beiges  —  volumes  qui  lui  furent  offerts  lors  de  la 

582 


manifestation  organisee  en  son  honneur  ä  l'occasion  de  la  publi- 
cation  de  son  cinquantieme  livre. 

Leve  tot,  le  maitre  s'asseyait  ä  la  petite  table  de  travail, 
dans  une  elegante  toilette  d'interieur.  II  avait  l'air,  avec  ses  che- 
veux  courts  et  rabattus,  ses  blondes  moustaches  conquerantes, 
de  quelque  colonel  de  l'Empire,  immortalise  par  le  pinceau  de 
Gros  ou  de  Gerard. 

De  temps  en  temps,  apres  avoir  noirci  quelques  pages  d'un 
cahier  ecolier,  l'ecrivain  se  levait,  passait  dans  la  chambre  voisine 
et  de  lä  pouvait  jeter  un  coup  d'oeil  sur  des  jardins  touffus, 
lalsser  entrer  en  lui  les  souffles  embaumes  et  ravigorants.  Toujours 
il  sentit  le  besoin,  pour  oeuvrer,  de  se  rapprocher  de  la  nature. 

Et  c'est  une  image  suggestive  que  celle  de  Lemonnier  ecri- 
vant  son  Male,  couche  sur  le  ventre,  dans  un  verger  de  Groen- 
endael,  au  „coeur  frais  de  la  foret".  11  semblait  qu'il  voulüt  lals- 
ser entrer  en  lui,  dans  son  corps  et  dans  son  oeuvre,  toutes  les 
forces  saines  de  la  terre.  Dans  un  poeme  qu'il  lui  a  dedie,  Ver- 
haeren  a  exalte  ainsi  son  oeuvre: 

Ton  art  robuste  et  sain  est  comme  un  char  qui  bouge, 
Traine  par  des  boeufs  noirs  —  et  ton  Male  et  ton  Mort 
Flambent  dans  ta  moisson  de  cette  lueur  rouge 
Qu'allume  le  grand  style  aux  livres  qui  vivront. 

*  * 

-X- 

Ne  ä  Ixelles  le  23  mars  1844  d'une  mere  flamande  et  d'un 
pere,  avocat,  d'ascendance  italienne,  il  debuta  dans  les  lettres  en 
faisant  la  critique  des  Salons  de  1863  et  de  1866. 

Ses  parents  voulaient  le  faire  entrer  dans  ce  que  Maeterlinck 
appelle  le  „cimetiere  du  droit".  Mais  il  n'y  parvinrent  point.  Le 
jeune  ecrivain  passa  deux  annees  au  gouvernement  provincial 
du  Brabant.  C'est  alors  qu'il  fit  paraitre  ses  premiers  contes: 
Nos  Flamands  et  Croquis  dautomne. 

Sa  jeunesse  timide  avait  ete  profondement  impressionnee  et 
influencee  par  la  presence,  ä  Bruxelles,  de  ces  proscrits  de  l'Em- 
pire qui  payerent  l'hospitalite  de  la  Belgique  en  exer^ant  sur  eile 
la  plus  salutaire  influenae  intellectuelle. 

Dans  les  Souvenirs  pittoresques  qu'il  a  reunis  dans  son 
livre:  La  Vie  Beige,  Camille  Lemonnier  nous  a  laisse  un  vivant 
tableau  des  moeurs  de  ces  exiles  de  1851. 

583 


„Les  Premiers  proscrits  du  coup  d'Etat:  Hugo,  Quinet,  Gi- 
rardin,  Deschanel,  Laussedat,  Hetzel,  Charras  avaient,  dit-il,  pris 
contact  avec  la  vie  bruxelloise  au  Lion  beige,  ä  la  Mort  subite, 
au  Grand  Cafe  —  le  petit  sejour  de  la  proscription,  selon  le 
mot  de  M.  Wauwermans  qui  consacra  un  livre  interessant  aux 
refugies.  —  Plus  tard,  on  alla  ä  l'Aigle:  quelquefois  Hugo,  qui 
ecrivait  Napoleon  le  Petit,  y  consommait,  en  dinant,  un  verre  de 
faro  suppiementaire,  ce  qui  portait  l'addition  ä  un  franc  et  vingt- 
quatre  Centimes.  Un  petit  nombre  de  proscrits  el  d'amis  des 
proscrits  se  reunissant,  l'apres-midi,  dans  une  taverne,  Prince  of 
Wales,  au  fond  de  l'etroite  rue  Villa-Hermosa." 

Ah !  cette  rue  Villa-Hermosa  dont  Baudelaire  fit  chanter  le 
nom  dans  un  de  ses  poemes  en  prose:  il  y  a  cinq  ans  eile  evo- 
quait  encore  toute  la  poesie  du  vieux  Bruxelles.  Aujourd'hui,  le 
quartier  est  sabote  par  les  travaux  gigantesques  de  la  gare  cen- 
trale et  du  metropolitain.  Seule,  la  fa^ade  espagnole  du  vieil 
hotel  Ravenstein  met  encore  dans  un  paysage  urbain  qui  en- 
chanterait  un  Pennell  ou  un  Brangwyn,  la  delicatesse  ouvragee 
d'une  chässe.  Un  curieux  livre  sur  les  proscrits  francjais  ä 
Bruxelles,  du  ä  Saint-Ferreol,  raconte  gravement  que  le  cabaret 
de  la  Mort  subite,  qui  existe  toujours  ä  une  autre  adresse,  por- 
tait ce  nom  ä  cause  de  la  mauvaise  qualite  des  consommations 
qu'on  y  debitait.  Les  bons  farocrates  bruxeliois  fremissent  d'in- 
dignation  en  lisant  une  teile  imposture.  Quant  ä  la  taverne  du 
Prince  of  Wales,  voici  comment  la  decrit  Lemonnier: 

Derriere  une  cour  d'entree  se  joignaient  deux  pieces,  l'une  tres  petite, 
et  qui  avec  son  plafond  enfume  et  bas,  avait  l'air  d'une  cabine  de  navire, 
l'autre,  plus  grande,  decoree  de  paysages  cynegetiques.  C'etait  l'une  des 
trois  ou  quatre  tavernes  anglaises  que  possedait  Bruxelles:  les  brasseries 
allemandes  ne  sevissaient  pas  encore. 

La,  tronait  Charles  Baudelaire,  rase  de  frais,  les  cheveux  en 
Volute  derriere  l'oreille,  en  escarpins  vernis,  un  col  de  chemise 
mou,  d'une  impeccable  blancheur,  depassant  le  col  d'une  longue 
houppelande,  „l'air  ä  la  fois  d'un  clergyman  et  d'un  commedien". 
II  y  rencontrait  Bancel,  Ranc,  Hetzel,  Deschanel,  son  editeur 
Poulet-Malassis,  Willem  Bürger  (Thore),  les  deux  Stevens:  Alfred, 
peintre  de  fines  elegances  du  deuxieme  Empire,  et  son  frere  Joseph, 
l'animalier,   evocateur  attendri,   compatissant,  des  pauvres  chiens 

584 


de  trait.  Un  jour,  quelqu'un  amena  Proudhon  qui  vivait  pauvre- 
ment  avec  sa  petite  famille,  dans  une  maison  d'Ixelles,  sous  le 
nom  de  „M.  Dupont,  professeur  de  mathematiques".  Plusieurs 
fois,  on  Vit  egalement  dans  cette  taverne,  parmi  les  proscrits, 
Dickens  qui,  avec  l'humour  qu'on  savoure  dans  les  Pickwick  Pa- 
pers,  mimait  d'etonnantes  histoires. 

Plus  tard,  beaucoup  plus  tard,  dans  cette  meme  taverne  du 
Prince  of  Wales,  les  „Jeune-Belgique"  enthousiastes  devaient  se 
reunir  bien  des  fois  autour  de  Paul  Verlaine  qui,  apres  avoir 
longtemps  habite  ä  Mons  „le  meilleur  des  chäteaux",  commis- 
voyageait  chez  nous,  selon  l'expression  de  Laurent  Tailhade,  en 
eloquence  fran^aise.  Les  refugies  de  1851  finirent  par  s'assurer 
ä  Bruxelles  une  tranquille  aisance. 

„La  surveillance  vetllleuse  de  la  Sürete  publique  s'etait  ra- 
lentie.  II  y  eut  bien  un  refugie  rancunier,  d'ailleurs  obscur,  qui, 
ayant  imagine  d'appeler  son  chien  Magnan  et  sa  chienne  la  Mon- 
tijote,  faillit  soulever  un  orgage." 

Pascal  Duprat  et  Challemel-Lacour  donnerent  ä  Bruxelles 
des  cours  publics.  Madier  Montjau  professait  ä  la  fois  ä  Bruxel- 
les et  Anvers,  Bancel  enseignait  la  litterature  ä  1' Universite  Libre. 
Durand  de  Gros,  grand  precurseur,  trop  longtemps  meconnu, 
de  l'anthroposociologie  et  des  sciences  psychiques,  faisait  quel- 
ques Conferences  sur  ses  premieres  recherches  scientifiques  avant 
de  partir  avec  Cantagrel  pour  l'Amerique  oli  il  devait  publier 
son  Premier  livre  sous  le  nom  de  Dr.  Philips.  Emile  Deschanel, 
le  pere  du  president  actuel  de  la  Chambre  fran^aise,  l'auteur  du 
Romantisme  des  classiques,  „aux  levres  de  qui  on  voyait  voler 
l'abeille  antique"  lan^ait  en  Belgique  un  genre  nouveau:  la  Con- 
ference, qui  depuis  .  .  . 

Vers  la  meme  epoque,  Alexandre  Dumas  venait  s'etablir 
dans  un  charmant  petit  hotel  du  boulevard  de  Waterloo  oü  Hugo, 
Arago,  Hsquirol,  Beru,  Noel  Parfait,  Van  Hasselt  etaient  les  con- 
vives  habituels.  Lemonnier  approcha  ces  gensj;  on  devine  quelle 
saine  surexcitation  leur  frequentation  devait  exercer  sur  son 
esprit. 

II  etait  fixe  ä  Profondeville  quand  lui  parvinrent  les  echos 
du  tonnerre  de  Sedan.  I!  se  rendit  sur  le  champ  de  bataille  apres 

585 


le  desastre  et,  en  des  pages  qui  donnent  l'epouvante,  longtemps 
avant  la  Debäcle  de  Zola,  il  evoqua  les  Charniers  de  Sedan  et 
de  Bazeilles. 

Ce  livre  vient  d'etre  reedite  et  restera  comme  un  formidable 
requisitoire  contre  la  guerre,  un  requisitoire  qui  est  dans  les  faits 
memes,  dans  la  realite  rendue  fidelement  et  non  dans  de  creu- 
ses  declamations. 

Quand  l'apaisement  se  tut  fait,  il  ecrivit  ses  Contes  flamands 
et  wallons,  puis  revint  ä  Bruxelles  qu'il  ne  quitta  que  pour  de 
Courts  sejours  ä  Paris.  L'histoire  de  sa  vie  se  confond  avec  celle 
de  ses  livres  et  n'est  marquee  par  d'autres  incidents  que  les  ma- 
nifestations  organisees  en  son  honneur  et  de  ridicules  poursuites 
qui  aboutirent,  devant  la  cour  d'assises  de  Bruges,  ä  un  acquitte- 
ment  auquel  applaudirent  tous  ceux  qui  entendent  sauvegarder 
la  liberte  de  l'artiste. 


Voici  les  titres  de  ses  principaux  romans:  un  Coin  de  vil- 
lage;  en  1881,  son  Male  immortel;  en  1882,  le  Mort,  puis  en- 
core  Therese  Monique;  en  1885,  Vtiysterlque;  en  1886,  Happe- 
Chair;  en  1888,  Madame  Lupar;  en  1890,  le  Possede;  en  1892, 
la  Fln  des  Bourgeois;  en  1893,  Claudine  Lamour;  en  1894, 
V Arche;  en  1895,  la  Faute  de  M'^'Charvet;  en  1897,  Vlle  vierge; 
en  1898,  Adam  et  Eve,  puis  VHomme  en  amour;  en  1900,  Au 
coßur  frais  de  la  foret;  en  1901,  le  Vent  dans  les  Moulins,  le 
Sang  et  les  roses  et  les  Deux  Consciences ;  en  1902,  le  Petit 
Homme  de  Dieu;  en  1903,  Comme  va  le  ruisseau;  en  1904,  le 
Droit  au  bonheur;  en  1905,  YAmant  passionne  et  Tante  Amy; 
en  1906,  V Hallali;  en  1907,  Quand  j'etais  homme,  puis  la  Chan- 
son du  Carillon  (1912). 

On  a  dit  que  de  nombreuses  influences  peuvent  se  discer- 
ner  dans  ces  oeuvres:  ä  commencer  par  celle  du  naturalisme, 
Sans  compter  Celles  de  Cladel  et  de  Goncourt,  du  symbolisme, 
d'lbsen  et  meme  celle  de  Saint  Georges  de  Bouhelier,  le  jeune 
chef  du  mouvement  naturiste.  Avide  de  nouveaute,  il  se  laissait 
entrainer  par  tous  les  courants  litteraires.  11  n'importe.  Dans 
l'ample  serie  de  livres  qu'il  nous  laisse,  il  est  quelques  ceuvres 
maitresses,  d'une   indiscutable  originalite  et  qui  resteront  ä  coup 

586 


sur:  Un  Male,  le  Mort,  le  Petit  Homme  de  Dieu,  adorable  evo- 
cation  de  la  vie  mystique  d'une  petite  vllle  flamande,  Vlle  vierge, 
au  Cceur  frais  de  la  foret,  certains  contes  et  meme  cette  freie 
Chanson  du  Carillon  qui,  dans  ses  meilleures  partles,  a  la  deli- 
catesse  d'une  arachneenne  dentelle  de  Bruges,  la  ville  oü  le  recit 
est  situe.  L'un  des  romans  qui  portent  le  plus  remprunte  du 
naturalisme  et  qui  ont  ete  les  plus  discutes,  c'est  Happe-Chair. 
Les  gens  qui  jugent  sans  avoir  lu,  pourront  se  meprendre  sur 
sur  le  sens  de  ce  titre.  „Happe-Chair",  c'est  l'industrie,  c'est  la 
machine,  c'est  la  mine,  c'est  le  formidable  minotaure  moderne 
qui  devore  les  vies  humaines  sans  repit,  ä  Seraing  ou  au  Bori- 
nage,  au  noir  pays  du  fer  et  du  charbon.  Dommage  qu'il  y  alt 
Germinal,  dit-on  trop  facilement.  Lemonnier  a  prouve  par  des 
dates  et  des  documents  que  Happe-Chair  fut  ecrit  avant  l'oeuvre 
epique  du  maitre  de  Medan.  Au  lendemain  de  sa  mort,  j'ai  re^u 
ä  ce  sujet  une  lettre  curieuse  que  je  crois  interessant  de  citer. 
Elle  est  d'un  Ingenieur  bien  counu  en  Belgique: 

Tout  ce  que  vous  dites  de  notre  glorieux  ecrivain  est  vrai.  Certains 
details  pourraient  cependant  etre  rectifies  pour  celui  de  ses  disciples  et 
admirateurs  qui  voudra  ecrire  sa  vie  et  apprecier  son  oeuvre. 

J'ai  eu  l'honneur  et  le  bonheur  de  recevoir  chez  moi,  ä  Couillet,  pres 
Charleroy,  en  1882,  83  et  84,  Camille  Lemonnier  et  Constantin  Meunier. 
J'etais  alors  Ingenieur  aux  usines  de  Couillet. 

J'ose  dire  que  c'est  ä  ce  moment,  au  cours  des  nombreux  entretiens 
que  nous  eümes,  ie  soir,  sur  la  terrasse  de  ma  petite  maison  de  Couillet, 
que  riliustre  Constantin  Meunier  trouva  le  chemin  qui  devait  l'immortaliser. 

Je  crois  pouvoir  affirmer  que  c'etait  ä  Couillet  et  non  ailleurs  que  le 
celebre  „Happe-Chair"  fut  con^u  et  mis  sur  pied. 

L'exemplaire  que  j'en  possede  et  qui  est  precede  d'une  longue,  af- 
fectueuse  dedicace  de  Camille  Lemonnier  en  fait  foi. 

L'ingenieur  de  „Happe-Chair"  est  un  de  mes  amis  .  .  .  qui  me  res- 
semblait  comme  un  frere.  Le  directeur  Marosquin  est  le  bon,  l'excellent 
M.  Maroquin  dont  le  nom  a  ete  legerement  deforme  et  dont  le  caractere 
a  ete,  pour  les  besoins  du  roman,  tout  ä  fait  denature,  car  c'etait,  je  le 
repete,  le  meilleur  homme  de  la  terre. 

J'ai  envoye  ä  Camille  Lemonnier  et  ä  Constantin  Meunier  desfoules  de 
notes,  que  l'on  retrouvera  peut-etre  dans  leurs  papiers. 

II  va  de  soi  que,  pour  ce  qui  me  concerne  personnellement,  je  n'at- 
tache  aucune  importance  ä  ces  details.  Mais  ils  peuvent  sans  doute  inte- 
resser celui  que  tentera  la  monographie  de  notre  mattre  immortel  et,  pour 
cela  je  me  tiens,  s'il  le  juge  utile,  ä  son  entiere  disposition. 

Veuillez  agreer,  Monsieur,  l'assurance  de  mes  sentiments  devoues  et 
distingues. 

Victor  Tahon 

587 


Lemonnier  a  beau  avoir  ecrit  Happe-Chair,  il  fut  avant  tout 

un  sylvain,  un  rustique. 

11  aimait  par-dessus  tout,  a  dit  M.  Lindenlaub  dans  le  Tetnps,  la  liberte 
sauvage  de  la  nature  et  les  primitifs  qu'elle  produit  et  nourrit  dans  ses 
retraites,  forestiers,  braconniers,  dont  il  fit  son  „male"  et  sa  fille  des  bois. 
Si  l'on  essayait  une  definition  de  cette  force  un  peu  trouble,  mais  d'une 
rare  et  intarissable  vigueur,  on  peut  dire  qu'il  aima  d'un  meme  amour  sen- 
suel  et  fremissant  les  mille  etres  de  la  foret,  depuis  la  mousse  et  le  brin 
d'herbe  jusqu'ä  la  bete  et  Thomme  de  la  terre,  et  pareillement  les  mille 
vocables  qui  s'agitent  et  qui  bruissent  dans  les  feuilles  du  dictionnaire. 
C'etaient  pour  lui  comme  les  deux  faces  de  la  nature,  ce  pullulement  des 
etres  vivants  sous  le  ciel  et  des  mots  dans  les  livres. 

On  dira  que  son  style  de  coloriste,  trop  Charge,  herisse  de 
neologismes,  souffre  de  cette  recherche  du  terme  rare  si  visible 
dejä  dans  l'oeuvre  des  Goncourt.  Ce  n'est  pas  de  sa  langue  que 
Veuillot  aurait  dit  qu'elle  est  aussi  „bien  räclee  que  le  canal  de 
rOurcq".  II  n'en  reste  pas  moins  qu'on  admire  souvent  dans  les 
meilleures  pages  de  Lemonnier  une  splendeur  verbale  etonnante 
qui  est  loin  de  la  clarte  et  de  la  concision  de  Voltaire  et  d'Ana- 
tole  France,  mais  qui,  periodiquement,  empeche  la  langue  de 
s'appauvrir  et  de  se  dessecher.  Et  d'ailleurs,  si  l'on  veut  avoir 
sur  la  prose  qu'ecrivait  Lemonnier,  l'opinion  d'un  des  plus  purs 
stylistes  de  l'heure  presente,  qu'on  nous  permette  de  citer  encore 
ces  quelques  lignes,  tres  peu  connues,  que  Maeterlinck  inscrivait 
en  maniere  de  dedicace  sur  un  livre  offert  ä  Lemonnier  lors  de 
la  manifestation  de  1903: 

Camille  Lemonnier  est  peut-etre,  de  tous  les  ecrivains  actuellement 
vivants,  celui  qui  connait  le  mieux  la  valeur  et  la  vertu  secrete  des  mots 
innombrables  comme  les  vagues  de  la  mer.  II  les  possede  tous,  depuis 
ceux  qu'emploient,  dans  l'existence  quotidienne,  le  paysan,  l'ouvrier,  la 
femme,  le  medecin,  l'homme  politique,  jusqu'ä  ceux  qui  se  cachent,  comme 
des  joyaux  ignores  mais  necessaires,  au  fond  de  tous  les  arts,  de  tous  les 
metiers,  de  toutes  les  sciences,  de  toute  la  vie  enfin.  Nul,  en  ce  moment, 
je  pense,  n'a  au  meme  degre  le  don  infaillible  et  supreme  d'appeler  les 
choses  par  leur  nom ;  et  ce  nom,  sous  sa  plume,  par  un  prestige  qui  lui 
est  propre,  prend  toujours  une  beaute  ä  la  fois  ornementale  et  profonde, 
une  sorte  d'eclat  topique,  qu'il  n'aurait  pas  ailleurs.  C'est  lä,  selon  moi, 
parmi  toutes  les  autres  qui  concourent  ä  faire  de  lui  Tun  des  grands  ecri- 
vains de  ce  temps,  la  qualite  la  plus  distincte  et  maitresse  de  son  oeuvre. 
II  est,  au  royaume  du  verbe,  le  berger  qui  mene  le  troupeau  le  plus  vaste, 
le  plus  divers,  le  plus  docile  et  le  plus  magnifique. 

Camille  Lemonnier  a  ecrit  une  süperbe  monographie  de  sa 
terre  natale :  la  Belgique  est  un  cantique  magnifique  de  ce  grand 

588 


lyrique  de  la  prose,  ä  la  louange  de  ce  pays  si  divers  dont  il 
etait  Tun  des  rares  ä  resumer  toutes  les  tendances,  ä  comprendre 
toutes  les  nuances  sentimentales. 

On  lui  doit  encore  de  nombreux  ouvrages  de  critique  d'art 
sur  Courbet,  Constantin  Meunier,  Alfred  Stevens,  Emile  Claus, 
Henri  de  Braekeleer,  etc.  Sa  critique  d'art,  selon  le  voeu  de 
Flaubert,  etait  „ä  base  de  Sympathie".  Volontairement,  Lemonnier 
faisait  le  silence  sur  les  mediocres  ou  sur  les  defauts  d'une  oeuvre 
dans  laquelle  on  trouvait  l'accent  d'une  vigoureuse  personnalite, 
d'un  temperament  original.  Par  contre,  quels  mots  lyriques,  cha- 
toyants  et  riches  il  savait  trouver  pour  chanter  les  mattres  de 
son  esprit  et  de  son  coeur.  11  emprunte  ä  Rubens,  ä  Delacroix, 
äMillet,  ä  Courbert,  leurs  ligneset  leurscouleurs  memes.  Pour  les 
tout  petits,  pour  les  enfants  qu'il  adorait,  ce  bon  geant  a  ecrit 
six  livres  de  belles  histoires  oü  il  y  a  toute  la  Bonte,  toute  la 
Joie  et  toute  la  Douleur  humaines. 

11  a  fonde  des  revues,  collabore  aux  jou.'-naux  et  periodiques 
de  son  pays,  au  Journal,  au  Figaro,  ä  Gil-Blas,  ä  Comcedia. 
Tout  de  suite,  les  Fran^ais  le  saluerent  comme  Tun  de  leurs 
pairs.  „Venez!  lui  ecrivait  Daudet,  vous  serez  le  bienvenu!" 
Et  Flaubert  lui  disait,  quels  „rugissements"  de  bonheur  il  avait 
pousses  en  lisant  Un  Male  dans  la  foret  de  Fontainebleau.  Cette 
cordiale  Sympathie  des  ecrivains  fran^ais  et  surtout  des  ecrivains 
naturalistes,  Leon  Cladel  l'exprimait  dans  la  lettre  que  voici, 
ecrite  ä  Lemonnier  le  27  mai  1883: 

Cher  ami, 

Que  je  regrette  de  ne  pouvoir  etre  des  vötres  dimanche!  S'il  m'avait 
ete  permis  d'assister  ä  la  fete,  je  vous  aurais  toaste  ä  peu  pres  en  ces 
termes:  Je  bois  ä  Camille  Lemonnier,  l'honneur  des  lettres  frangaises  de 
Belgique;  cette  expression  est  de  moi;  je  la  revendique  .  .  .  Gaulois  du 
Sud-Ouest,  je  bois  ä  mon  confrere  et  ami  Gaulois  du  Nord-Est  de  la 
France.  Vivent  les  lettres  fran(;aisesl  et  que,  dans  la  Republique  des  Lettres, 
11  y  ait  des  rivaux,  mais  pas  d'ennemis !  Tel  est  mon  souhait. 

Voilä  des  mots  reconfortants  qu'il  est  bon  de  rappeler  aux 
„Fran^ais  du  dehors",  au  moment  oü  quelques  nationaleux, 
meconnaissant  l'une  des  plus  nobles  traditions  fran^aises,  parlent 
de  reconduire  aux  frontieres  ceux  qu'ils  appellent  les  meteques 
de  la  litterature. 

589 


A  la  meme  date,  Emile  Zola  ecrivait  aux  ecrivains  de  la 
Jeune-Belgique  la  lettre  que  voici: 

Mon  eher  confrere, 

J'aurais  ete  tres  heureux  de  temoigner  publiquement  ä  Camille  Le- 
monnier  ma  vive  Sympathie  litteraire.  Cependant,  j'avoue  que  j'aurais 
peut-etre  hesite  ä  le  faire  dans  la  circonstance  presente.  Toute  ma  vie, 
j'ai  Proteste  contre  les  prix  iitteraires. 

On  n'a  pas  couronne  Lemonnier.  Eh  bien!  tant  mieux  pour  lui;  je 
l'estime  heureux  d'avoir  echappe  ä  Testampille  gouvernementale,  voüä  tout. 
Pourquoi  donc  vous  etes-vous  revoltes  et  avez  vous  manifeste,  lorsque 
l'honneur  de  votre  am!  est  de  rester  ä  l'ecart,  original  et  fort? 

C'est  ainsi  que  Lemonnier  restera  dans  la  mort  et  la  gloire. 
Bientöt,  par  les  soins  du  Journal  Le  Solr  de  Bruxelles  et  de 
rAssociation  des  Ecrivains  Beiges,  un  monument  aux  lignes  sim- 
ples et  puissantes  perpetuera,  au  coeur  de  la  foret  qu'il  a  tant 
aimee,  qu'il  a  magnifiquement  chantee,  la  memoire  de  ce  fier 
ecrivain,  „honneur  des  lettres  fran^aises",  ä  qui  la  Belgique  doit 
en  grande  partie  la  belle  efflorescence  litteraire  dont  eile  donne 
depuis  vingt-cinq  ans  le  spectacle. 

BRUXELLES  LOUIS  PIERARD 

DDD 

„La  vie  de  l'homme  nous  offre  dans  toutes  ses  manifestations  un 
gaspillage  effroyable  d'efforts  et  d'existences.  Qui  sait?  Aucun  de  ces  efforts 
n'est  perdu  peut-etre;  mais,  pour  croire  au  progres  integral,  on  est  oblige 
de  mettre,  pour  ainsi  dire,  l'eternite  dans  son  jeu.  Pour  le  progres  linguis- 
tique,  il  n'en  va  pas  autrement:  l'histoire  du  langage  offre  l'image  d'une 
depense  insensee  de  formes  linguistiques :  ce  n'est  qu'une  succession  de 
ruines  et  de  reconstructions. 

„Une  seule  chose  ne  peut  etre  niee:  l'aspiration  de  l'homme  vers  le 
mieux,  sa  foi  dans  la  perfectibilite  de  toutes  choses.  Cette  foi  est  inlas- 
sable,  eile  renait  apres  toutes  les  deceptions  et  toutes  les  chutes.  La  Phi- 
losophie est  une  preuve  admirable  de  cet  instinct  inderacinable:  depuis  que 
l'homme  s'est  mis  ä  penser,  les  philosophes  ne  cessent  d'edifier  des  sys- 
temes  qui  tous  semblent  nous  ouvrir  les  portes  de  l'infini  et  de  l'eternite, 
et  qui  le  lendemain  sont  aneantis  par  des  systemes  opposes;  mais  chaque 
fois,  la  poussee  vers  la  vie  et  la  croyance  reprend  un  nouvel  essor.  Malgre 
ses  chutes  et  ses  perpetuels  recommencements,  l'homme  continue  sa  route, 
le  regard  fixe  vers  des  cimes  supraterrestres.  Les  atteindra-t-il  un  jour?  Ce 
n'est  pas  ä  nous  de  repondre." 

Le  Langage  et  la  Vie  CH.  BALLY 

Genöve,  Atar  1913 

ODD 

590 


DIE  NÄCHSTENLIEBE 

EIN  ERDACHTES  GESPRÄCH  VON  PAUL  ERNST 


Sapricius,  ein  Praetor.  Secundus,  ein  jüngerer  Beamter  des  Sapricius. 

Zeit  der  Christenverfolgungen. 

Sapricius  (nervös-hypochondrisch) :  Junge  Leute  können  so 
etwas  noch  nicht  beurteilen;  sie  hören  das  Wort,  aber  kennen 
nicht  die  Sache,  welche  mit  dem  Wort  gemeint  ist. 

Secundus:  Wie?  Wenn  die  Christen  von  Nächstenliebe 
sprechen,  so  meinen  sie  etwas  anderes  wie  Liebe?  Habe  ich 
nicht  selber  gesehen,  wie  sie  diese  Nächstenliebe  ausüben  — 

Sapricius:  Du  hast  Handlungen  gesehen,  welche  als  Liebes- 
handlungen gedeutet  werden  können  und  auch  wirklich  gedeutet 
werden.  Aber  das  scheint  mir  wenig  zu  beweisen ;  denn  die 
Deutungen,  die  wir  den  Ursachen  unserer  Handlungen  zu  Teil 
werden  lassen,  oder  wenn  du  lieber  willst,  unsere  Motive,  können 
ja  doch  ein  Selbstbetrug  sein. 

Secundus:  Ich  sah  nirgends  so  forschende  Psychologen  wie 
bei  den  Christen. 

Sapricius:  Ein  schlimmes  Zeichen  für  die  Richtigkeit  ihrer 
Deutungen.  Man  psychologisiert  erst  dann,  wenn  man  sich  im 
Unrecht  fühlt. 

Secundus:  Und  du  selbst  — 

Sapricius:  Vielleicht  aus  demselben  Grunde.  Ich  habe  als 
Beamter  die  Pflicht,  die  Christen  zu  Opfern  für  die  anerkannten 
Götter  zu  veranlassen;  das  Gesetz  ist  gegeben  in  der  Annahme, 
dass  es  zwar  eines  jeden  Sache  sei,  ob  er  an  die  betreffenden 
Götter  glauben  will  oder  nicht,  aber  dass  der  offizielle  Kult  nötig 
für  den  Bestand  der  Gesellschaft  ist.  Vielleicht  habe  ich  gedacht, 
dass  dieser  Grund  doch  nicht  der  richtige  sein  kann,  denn  die 
Juden,  welche  doch  den  anerkannten  Göttern  auch  nicht  opfern 
wollen  und  ihren  Judengott  gleichfalls  für  den  einzigen  Gott  halten, 
lässt  man  in  Ruhe.  Ich  bin  zwar  Beamter,  habe  das  Gesetz  nicht 
gemacht,  und  bin  nur  verpflichtet,  es  auszuführen;  aber  vielleicht 

591 


habe  ich  doch  Gewissenszweifel  gehabt  und   deshalb  psychologi- 
siert:  weshalb  ist  eigentlich  ein  solches  Gesetz  erlassen? 

Secundus:  Ach,  und  du  meinst,  die  Christen  sind  Heuchler, 
ihre  Nächstenliebe  ist  nur  eine  fromme  Verstellung,  und  deshalb 
hasst  man  sie? 

SapriciüS:  Deine  Psychologie  ist  schlecht,  mein  Freund.  Für 
eine  Heuchelei  geht  man  nicht  in  den  Tod  —  Heuchelei  ist 
außerdem  sehr  selten. 

Secundus:  Aber  was  dann? 

Sapricius:  Hast  du  nicht  gedacht,  dass  die  Nächstenliebe  für 
den  Menschen  doch  eigentlich  unmöglich  ist?  Wenigstens  für 
den  Menschen,  wie  wir  ihn  kennen  — 

Secundus  (verlegen):    Ach  — 

Sapricius:  Ich  glaube  ja  nicht  gerade,  dass  sie  von  vielen 
Christen  wirklich  ausgeübt  wird,  aber  sicher  wird  sie  es  von 
einigen,  und  jedenfalls  ist  sie  eine  Forderung  an  alle. 

Secundus:  Also  du  gibst  selbst  zu  — 

Sapricius:  Aber  wie  ist  es  denn  möglich,  dass  sie  von  eini- 
gen geübt,  von  allen  verlangt  wird?  Was  ist  das  für  eine  Religion, 
in  der  das  möglich  ist?  Hier  liegt  der  Haken.  Ein  jeder  Mensch 
muss  sich  selber  behaupten,  das  ist  das  Natürliche,  anders  kann 
kein  Lebewesen  existieren.  Der  letzte  Tagelöhner  kann  nur  da- 
durch leben,  dass  für  ihn  er  selber  das  Wichtigste  auf  der  ganzen 
Erde  ist.  Den  Nächsten  mit  seinen  Interessen  muss  ich  erdulden, 
denn  er  hat  die  Macht,  die  Duldung  zu  erzwingen;  ich  kann 
freundlich  und  gütig  gegen  ihn  sein,  wenn  meine  Umstände  ge- 
nügend gut  sind,  dass  ich  ihm  von  meinem  Reichtum  abgeben 
kann,  ohne  mich  selber  allzusehr  zu  schädigen;  ich  gewinne  dann 
sogar  einen  Klienten,  habe  auch  selber  ein  befriedigendes  Gefühl, 
weil  ich  meine  Macht  gezeigt  habe.  Aber  wie  kann  ich  ihn  lieben 
wie  mich  selber?  Wie  kann  ich  ihm  den  linken  Backen  bieten, 
wenn  er  mir  einen  Streich  auf  den  rechten  gibt,  ihm  auch  noch 
den  Mantel  lassen,  wenn  er  mir  den  Rock  nimmt?  Ich  negiere 
ja  die  Bedingungen  meiner  Existenz. 

Secundus:  Meiner  äußeren  Existenz. 

Sapricius:  Meiner  äußeren  Existenz?  Du  sprichst  das  Wort 
aus,  vielleicht  hast  du  es  gar  nicht  selber  verstanden,  junger  Mann. 

592 


Ja,  die  Bedingungen  meiner  äußeren  Existenz.  Denn  der  Christ 
glaubt  in  seinem  Walinwitz  noch  an  eine  metaphysische  Existenz; 
die  ist  ihm  allein  wichtig.  Ich  rede  hier  nicht  von  den  Mythen, 
welche  unter  diesen  Leuten  umgehen:  von  Auferstehung  des  Leibes, 
jüngstem  Gericht,  ewigem  Leben  und  ähnlichem;  nur  von  dem, 
was  diesen  Mythen  zu  Grunde  liegt:  von  dem  Glauben  an  eine 
metaphysische  Existenz  und  an  ein  Leben  in  Gott.  Muss  ein 
solcher  Glaube  nicht  jeden  andern  Menschen  erbittern,  zu  ihrem 
Todfeind  machen? 

Secundus:  Wie?  Kann  dir  nicht  gleichgültig  sein,  was 
andere  glauben? 

Sapricius:  Es  kann  mir  alles  gleichgültig  sein,  was  sie  glau- 
ben, außer  diesem  Einen.  Denn  mit  diesem  Einem  negieren  sie 
ja  meine  eigene  Existenz. 

Secundus:  Aber  wenn  du  nur  an  eine  äußere  Existenz  glaubst, 
was  kann  dir  das  ausmachen,  wenn  Andere  noch  an  eine  andere 
glauben  ? 

Sapricius:  Weil  meine  äußere  Existenz,  die  ich  allein  habe, 
denn  ich  glaube  nur  an  sie  allein,  dann  eben  wertlos  wird. 

Secundus:  Weil  Andere  sie  für  wertlos  halten? 

Sapricius:  Alle  Dinge  haben  ja  ihren  Wert  nur  dadurch, 
dass  die  Anderen  an  ihren  Wert  glauben.  Was  nutzt  dir  Geld 
unter  Wilden,  Ruhm  unter  Ignoranten,  Gesundheit  unter  Kranken, 
Weisheit  unter  Narren? 

Secundus:  Aber  du  lebst  doch  nicht  unter  Christen,  sondern 
der  Christen  sind  nur  wenige,  und  unter  diesen  sind  die,  welche 
es  ernst  meinen,  wiederum  wenige. 

Sapricius:  Es  genügt,  wenn  Einer  sagt:  was  du  hast,  ist 
wertlos. 

Secundus:  Dann  müsstest  du  ja  die  Ansicht  des  Einen  für 
richtig  halten ;  in  diesem  Fall  aber  wäre  doch  die  Folge,  dass  du 
selber  Christ  würdest? 

Sapricius  (im  Ton  des  Vorgesetzten):  Wir  haben  nun  lange 
genug  geplaudert,  gehe  an  deine  Arbeit. 

Secundus  (geht). 

Sapricius  (für  sich):  Er  ist  ein  Christ,  ich  sehe  es.  (ihn  zurück- 
rufend): Du  hast  die  beiden  letzten  Jahre  den  öffentlichen  Opfern 
zum  Numen  des  Kaisers  nicht  beigewohnt. 

593 


Secundus:  Ich  —  meine  Gesundheit  —  ich  war  in  ärztlicher 
Behandlung  —  es  ist  so  zugig  auf  dem  Opferplatz  —  das  ärztliche 
Zeugnis  muss  bei  den  Akten  sein. 

Sapricius:  Ich  habe  es  gesehen.  Natürlich  musst  du  das 
Opfer  nachträglich  verrichten. 

Secundus:  Es  ist  ja  nur  eine  Zeremonie  — 

Sapricius:  Ich  weiß,  aber  es  ist  eine  besondere  Verfügung 
gekommen,  weil  zu  viele  heimliche  Christen  unter  allerlei  Vor- 
wänden das  Opfer  unterlassen  haben. 

Secundus:  Und  wann  befiehlst  du? 

Sapricius:  Der  Priester  ist  jetzt  draußen,  wir  können  gleich 
gehen. 

Secundus:  Man  soll  Gott  mehr  gehorchen  wie  den  Menschen. 
Ich  bin  ein  Christ. 

Sapricius:  Die  Folgen  sind  dir  bekannt? 

Secundus:  Ich  bin  römischer  Bürger;  man  kann  mich  zum 
Tode  verurteilen,  wenn  schon  mir  das  Gesetz  gegen  die  Christen 
nicht  rechtmäßig  ergangen  zu  sein  scheint,  aber  man  kann  mich 
wenigstens  nicht  foltern. 

Sapricius:  Du  bist  im  Irrtum.  Man  nimmt  an,  dass  die 
Personen,  welche  nicht  opfern  wollen,  nicht  ganz  zurechnungs- 
fähig sind  und  durch  köperliche  Schmerzen  zur  Besinnung  ge- 
bracht werden  können.  (Er  klingelt;  zwei  Wachen  treten  auf.)  Secundus 
ist  ins  Untersuchungsgefängnis  abzuführen.  (Die  Wachen  wollen  mit 
Secundus  abgehen;  Sapricius  ruft  nochmals):  Secundus. 

Secundus:  Was  befiehlst  du? 

Sapricius:  Ich  bin  doch  dein  Nächster,  Secundus.  Liebst  du 
deinen  Nächsten? 

Secundus:  Mein  Herr  hat  am  Kreuz  gesagt:  Gott,  vergib 
ihnen,  denn  sie  wissen  nicht,  was  sie  tun. 

Sapricius  (nach  einer  Pause):  Weißt  du  noch  nicht,  was  eure 
Liebe  ist?  Sie  ist  Verachtung.  Und  wunderst  du  dich  noch, 
wenn  alle  Menschen  euch  hassen?  Ich  kann  meinem  Mörder 
vergeben,  aber  ich  kann  nicht  dem  Mann  vergeben,  der  mich 
verachtet. 

Secundus:  Deine  Hände  zittern,  Sapricius,  meine  Hände 
sind  ruhig. 

594 


Sapricius:  Fürchtest  du  nicht  Folter  und  Tod? 

Secundus:  Ich  fürchte  sie,  aber  schon  du,  Sapricius,  würdest 
deine  Furcht  bezwingen  können,  aus  bloßer  Eitelkeit,  damit  die 
Leute  nicht  deine  Furcht  sehen ;  wie  viel  mehr  werde  ich  sie  be- 
zwingen können,  der  ich  diese  Eitelkeit  auch  habe  und  außerdem 
noch  weiß,  dass  dieses  äußere  Leben  ja  bedeutungslos  ist  gegen- 
über dem  anderen  Leben. 

Sapricius:  Ja,  vielleicht  ist  bei  deinen  Ansichten  weniger  Mut 
nötig  wie  bei  meinen. 

Secundus:  Ich  glaube  auch. 

Sapricius:  Aber  wie  kannst  du  mich  denn  dann  verachten? 

Secundus:  Ich  habe  mir  dein  Wort  von  der  Verachtung  über- 
legt. Du  bist  im  Irrtum,  Sapricius.  Ich  achte  dich  nicht  weniger 
wie  mich  selbst;  aber  wir  Christen  denken,  der  Mensch,  wie  er 
sich  selber  erscheint,  mit  seinen  Wünschen,  Leidenschaften,  Hoff- 
nungen und  Ängsten  ist  nicht  so  wichtig  wie  ihr  denkt;  er  ist  ein 
Wesen,  welches  kommt  und  weiß  nicht  woher,  geht  und  weiß 
nicht  wohin,  und  dabei  immer  denkt,  dass  es  Zwecke  und  Ziele 
hat;  diese  Zwecke  und  Ziele  liegen  alle  in  dem  Raum  „weiß  nicht" 
beschlossen,  sind  also  unwichtig;  wichtig  ist  nur  das  Woher  und 
das  Wohin,  das  aber  ist  Gott.  Aus  dieser  Gleichgültigkeit  gegen 
das  in  dem  Raum  „weiß  nicht"  Beschlossene  ergibt  sich  natur- 
gemäß unsere  Nächstenliebe,  ergibt  sich  auch  unsere  Furchtlosigkeit. 

Sapricius:  Du  liebst  also  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst, 
weil  dein  äußeres  Leben  dir  eben  so  gleichgültig  ist  wie  das  seine? 
Du  verachtest  nicht  die  anderen  Menschen? 

Secundus  (lächelnd):  Du  sagtest  vorhin  von  den  Juden,  welche 
gleichfalls  euern  Göttern  nicht  opfern;  die  Juden  aber  sind  es 
doch,  welche  alle  Andersgläubigen  verachten,  weil  sie  sich  im  Be- 
sitz eines  besonderen  Gutes  wähnen;  dennoch  verfolgt  ihr  die 
nicht,  sondern  findet  sie  nur  lächerlich ;  es  muss  also  den  Christen- 
verfolgungen, so  weit  sie  nicht  politische  Gründe  haben,  doch 
etwas  anderes  zugrunde  liegen  wie  deine  geglaubte  Verachtung. 

Sapricius  (klingelt;  sein  S^^//i;^/-^r^^^r erscheint;  zu  dem  Stellvertreter): 
Ich  übergebe  dir  hiermit  meine  Geschäfte,  bis  der  Kaiser  etwas 
weiteres  verordnet.  (Zu  den  Wachen) :  Führt  mich  mit  in  das  Unter- 
suchungsgefängnis, ich  bin  gleichfalls  ein  Christ. 

ODD 

595 


DIE  ZIELE  DER  ÄRZTLICHEN 
SEELENFORSCHUNG 

(Schluss.) 

Die  inneren  Zusammenhänge  der  psychoneurotischen  Er- 
scheinungen liegen  nun  aber  auf  Gebieten,  die  unserer  alltäglichen 
Beobachtung  nicht  ohne  besondere  Schulung  zugänglich  sind;  sie 
wurzeln  vor  allem  in  der  treibenden  Kraft  unseres  Seelenlebens, 
in  den  Gefühlen,  der  Affektivität.  Wie  wir  beim  fahrenden  Schiffe 
von  der  ganzen  emsigen  Räderarbeit  der  Maschine  kaum  mehr 
wie  eine  leichte  Erschütterung  spüren,  wenn  wir  auf  Deck 
stehen,  so  entzieht  sich  oft  die  Arbeit  der  Affekte  größtenteils 
unserem  Bewusstsein,  und  wir  erkennen  sie  erst,  wenn  wir  ins 
Unbewusste  hinabsteigen.  Bei  diesen  Studien  hat  uns  die  Hypnose 
sehr  wesentliche  Dienste  geleistet  und  tut  es  heute  noch,  denn 
sie  stellt  den  einfachsten  Weg  dar,  wie  wir  uns  unter  teilweiser 
oder  gänzlicher  Ausschaltung  des  Wachbewusstseins  mit  unbe- 
wussten  psychischen  Zentren  in  Verbindung  setzen  können.  In 
diesem  Zustande  ist  es  am  leichtesten,  direkt  auf  die  Affektivität 
eines  Menschen  einzuwirken,  ohne  die  oft  unzugänglichen  Bahnen 
des  bewussten  Denkens  in  Anspruch  zu  nehmen.  Eine  derartige 
direkte  Einwirkung  auf  das  Gefühlsleben  bezeichnen  wir  als 
Suggestion. 

Von  der  Beschäftigung  mit  dem  Hypnotismus  ausgehend 
setzen  nun  in  der  neuesten  Zeit  Forscher  ein,  die  das  verdienst- 
liche Werk  zu  unternehmen  suchen,  die  Gesetze  der  unbewussten 
psychischen  Erscheinungen  näher  zu  untersuchen.  Die  Bestre- 
bungen knüpfen  an  die  Arbeiten  französischer  Psychologen  und 
insbesondere  an  die  Namen  Breuer  und  Freud  an,  der  der  Rich- 
tung den  Namen  der  „Psychoanalyse"  gab.  in  Zürich  liegt  be- 
kanntlich zurzeit  ein  Brennpunkt  dieser,  leider  auch  außer  der 
fachwissenschaftlichen  Welt  heiß  umstrittenen  Bestrebungen.  Der 
eine  Teil  dieser  Forscher  will  Affekte,  die  sich  im  Unbewussten 
im  Anschluss  an  schwere  Erlebnisse  irgend  welcher  Art  aufgestaut 
haben  sollen,  in  einem  Zustand  ganz  leichter  Hypnose  ins  Be- 
wusstsein  bringen;   durch   das   hierbei   zustandekommende  Frei- 

596 


werden  der  Gefühle  soll  das  psychische  Gleichgewicht  in  derartigen 
Fällen  wieder  hergestellt  und  damit  die  Heilung  erreicht  werden. 
Der  andere  Teil  dieser  psycho-therapeutischen  Richtung,  und  an 
ihrer  Spitze  Freud  selbst,  geht  weiter  und  will  die  Grundlage  der 
psychoneurotischen  Störungen  in  einer  falschen  psychischen  Ent- 
wicklungsrichtung, insbesondere  der  Affektivität,  suchen,  die  bis 
in  die  früheste  Kindheit  zurückliegt. 

Von  der  gewiss  richtigen  Annahme  ausgehend,  dass  auch  in 
den  tieferen  Schichten  des  seelischen  Lebens  nichts  zufällig  sei, 
werden  die  verschiedensten  Äußerungen  des  Unbewussten,  insbe- 
sondere auch  der  Traum,  zur  Durchforschung  herangezogen.  Die 
Ausdrucksarten  des  unbewussten  Geschehens  weichen  von  dem 
Ablauf  der  seelischen  Erscheinungen  im  Wachbewussten  wesent- 
lich ab.  Wer  seine  eigenen  Träume  im  Gedächtnis  behalten  hat, 
weiß  das  ohne  weiteres.  Infolgedessen  werden  auch  die  Forschungs- 
methoden, die  wir  für  diese  Richtung  anwenden  müssen,  andere 
sein  wie  die  zu  den  bisherigen  psychologischen  Untersuchungen 
gebräuchlichen.  Irrtümer  sind  bei  jeder  neuen  Arbeitsmethode, 
die  nicht  unter  der  beständigen  Kontrolle  des  Experimentes  ge- 
halten werden  kann,  möglich,  ja  sogar  wahrscheinlich,  ohne  dass 
dadurch  etwas  für  die  generelle  Unrichtigkeit  der  Arbeitsrichtung 
bewiesen  wäre.  Ebenso  wenig  kann  die  Anschauung  und  Arbeits- 
methode Freuds  und  seiner  Anhänger  mit  einer  Ablehnung  der 
vielleicht  überstarken  Betonung  des  sexuellen  Momentes  abgetan 
werden,  wenn  diese  auch  in  der  Praxis  für  manche  Kranke  eine 
besondere  Vorsicht  rechtfertigt.  Das  Widerspiel  zwischen  den 
zum  Teil  allzu  begeisterten  und  in  maßlose  Extreme  sich  ver- 
steigenden Vorkämpfern  einer  neuen  Richtung  und  einer  konser- 
vativen, stellenweise  verständnislos  zurückweisenden  Mehrheit  der 
Wissenschaft  kann  für  die  Erforschung  der  Wahrheit  nur  nütz- 
lich sein.  Als  unrichtig  aber  muss  es  bezeichnet  werden,  Anhänger 
für  neue  Anschauungen,  die  bei  der  offiziellen  Wissenschaft  noch 
wenig  Anklang  finden,  in  jenen  Kreisen  zu  suchen,  die  mangels 
des  nötigen  Rüstmaterials  zu  einer  Kritik  nicht  fähig  sind  und  dem 
guten  Kern  einer  Sache  mehr  schaden  als  nützen.  —  Wenn  auch 
die  Wege  solch  neuer  Forschungen  manchmal  in  Schlangenlinien 
führen,  so  liegt  doch  das  Ziel  aller  dieser  Bestrebungen  klar  vor 
den  Augen:  Unsere  Kenntnis  von   den  seelischen  Vorgängen  bei 

597 


den  Psychoneurosen  soll  vertieft  werden.  Die  Zeit  wird  auch  in 
diesen  Dingen  das  Korn  von  der  Spreu  sondern. 

Wenn,  wie  erwähnt,  die  Vorgänge  bei  den  funktionellen  seeli- 
schen Erkrankungen  meist  nur  quantitativ  von  den  normalen  psy- 
chischen Erscheinungen  verschieden  sind,  so  muss  uns  die  tiefere  Er- 
forschung dieser  pathologischen  Zustände  die  wertvollsten  Ergebnisse 
für  die  Kenntnis  des  gesunden  Geisteslebens  ergeben.  —  Der 
wissenschaftliche  Fortschritt  ist  aber  auch  auf  diesem  Gebiete  das 
beste  Mittel,  um  die  vorteilhaftesten  Heilungsbedingungen  kennen 
zu  lernen.  Die  Zahl  der  zu  Psychoneurosen  disponierten  Men- 
schen ist  äußerst  groß.  Es  muss  unser  Ziel  sein,  nicht  nur  die 
Störungen  des  seelischen  Gleichgewichts  zu  heilen  oder  zu  bessern, 
sondern  insbesondere  sie  verhüten  zu  lernen.  Wenn  die  seelische 
Verschiedenheit  zwischen  den  einzelnen  Menschen  auch  sehr  groß 
ist,  so  werden  wir  doch  mit  der  Zeit  durch  die  wachsende  Er- 
fahrung die  allgemein  gefährlichsten  und  konfliktreichsten  Momente 
kennen  und  umgehen  lernen. 

Die  Vorbeugung  ist  der  sozial  wichtigste  Teil  der  Heilkunde, 
und  so  muss  auch  die  psychische  Hygiene  der  höchste  Gesichts- 
punkt der  ärztlichen  Seelenforscher  sein ;  dabei  ist  zu  berücksich- 
tigen, dass  das  erwachsene  Individuum  psychisch  für  sich  allein 
anders  reagiert,  wie  der  in  der  Entwicklung  stehende  Mensch 
und  besonders  wie  eine  Masse  von  Personen.  Diese  Unterschiede 
müssen  deshalb  genau  untersucht  und  berücksichtigt  werden. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  hier  das  Studium  der  seeli- 
schen Entwicklung  der  heranwachsenden  Menschen.  Über  die 
Art  der  Ausbildung  der  intellektuellen  Fähigkeiten,  die  beste  An- 
ordnung der  einzelnen  Lerngebiete,  die  Ermüdung  und  ähnliche 
Erscheinungen  hat  uns  die  pädagogische  Psychologie  bereits  sehr 
brauchbare  Resultate  geliefert,  und  es  ist  zu  erwarten,  dass  sie 
die  weiter  nötigen  Aufklärungen  auch  ohne  Mitwirkung  speziell 
des  Arztes  zu  geben  imstande  sein  wird.  Es  wird  aber  wohl 
allgemein  anerkannt,  dass  unsere  heutige  Jugendbildung  zu  sehr 
intellektualistisch  ist,  und  dass  das  Gefühlsleben  darüber  vernach- 
lässigt wird.  An  einer  Methodik  zur  erzieherischen  Beeinflussung 
der  Affektivität  fehl  es  noch  durchaus,  und  es  ist  heute  ganz  dem 
nicht  allzu  häufigen  Geschick  des  Lehrers  oder  der  Eltern  über- 
lassen,  ob   in   dieser   Richtung   der   richtige  Weg  gefunden  wird. 

598 


Die  Affekte  gerade  lassen  sich  einstweilen  in  ihren  feineren  Ab- 
stufungen noch  nicht  genügend  experimentell  fassen,  und  ihre 
bewusste  Beobachtung  und  Wertung  ist  ohne  die  Gefahr  bestän- 
diger Täuschung  äußerst  schwierig.  Zur  Erfassung  dieser  Fein- 
heiten in  der  Seele  des  Kindes  bedarf  es  des  praktisch  geschulten 
Auges.  Wer  gelernt  hat,  die  gröberen  Unterschiede  der  Affek- 
tivität,  wie  sie  sich  in  krankhaften  Zuständen  aussprechen,  zu 
beobachten,  wird  hier  am  leichtesten  zu  einigermaßen  sicheren 
Resultaten  kommen.  Es  dürfte  dabei  vorteilhaft  sein,  von  der 
Beobachtung  des  seelisch,  insbesondere  inbezug  auf  das  Gefühls- 
leben kranken  Kindes  auszugehen.  Hier  wird  es  gerade  dem 
Arzte  leichter,  von  den  Eltern  wie  von  dem  kleinen  Patienten 
selbst  genauere  Auskunft  zu  erhalten ;  denn  der  Gesunde  hat,  ob 
er  nun  jung  oder  alt  ist,  eine  instinktive  Abneigung  dagegen,  sein 
innerstes  Gefühlsleben  einem  andern  Menschen  als  dem,  von  dem 
er  Hilfe  erwartet,  zu  eröffnen.  Dieser  Teil  der  psychiatrischen 
Durchforschung  des  Kindesalters  ist  heute  noch  kaum  in  den 
Anfängen  vorhanden  und  zwar  aus  praktischen  Gründen.  Das 
psychisch  abnorme  Kind  kommt  mit  wenigen  Ausnahmen  nur 
dann  in  Beobachtung  eines  spezialistisch  gebildeten  Arztes,  wenn 
es  intellektuell  schwachsinnig  ist;  sonst  bleibt  es  in  der  Obhut 
der  Familie  oder  der  Schule.  Man  findet  sich  mit  seinen  Ge- 
fühlsstörungen so  gut  wie  möglich  ab,  ohne  einen  genaueren 
Einblick  in  ihre  Entstehung  und  ihr  Wesen  zu  erhalten. 

Wenn  wir  die  psychiatrische  Forschung  aus  den  Mauern  der 
Irrenanstalten,  in  die  sie  bis  jetzt  zum  größten  Teil  eingeschlossen 
war,  hinausverlegen,  wird  es  uns  möglich  sein,  diese  wichtige 
Arbeit  an  die  Hand  zu  nehmen.  Um  nur  einige  Beispiele  anzu- 
führen wird  es  nötig  sein,  vielfach  bei  Kindern,  die  ethische  De- 
fekte zeigen,  genau  zu  untersuchen,  was  davon  die  Folge  einer 
ererbten  Anlage  und  was  der  Einfluss  des  Milieus  ist,  wie  diese 
verschiedenen  Ursachen  wirkten  und  wie  sie  zu  beseitigen  sind. 
Aus  diesen  Studien  wird  sich  dann  hoffentlich  mit  der  Zeit  eine 
feste  Grundlage  der  Moralpädagogik  ergeben.  Es  ist  wohl  nicht 
nötig  darauf  hinzuweisen,  dass  heute  gerade  hier  sehr  wesentliche 
Lücken  bestehen.  Viel  größere  Schichten  der  Bevölkerung  wie 
früher  stehen  nicht  mehr  unter  dem  Einfluss  der  religiösen  Moral- 
lehre. Wir  sehen  noch  keineswegs,  dass  die  Lücke,  die  hierdurch 

599 


frei  geworden,  ausgefüllt  wird.  Die  Entwicklung  einfach  zurück- 
zuschrauben wird  wohl  aus  vielerlei  Gründen  auf  diesem  Gebiete 
ebenso  wenig  möglich  sein  wie  auf  anderen.  Der  neue  Weg 
muss,  entsprechend  unserer  ganzen  Kulturentwicklung,  im  Einklang 
mit  den  heutigen  Lebensanschauungen  stehen ;  eine  genaue  Kennt- 
nis der  Entwicklung  und  der  Beeinflussbarkeit  der  ethischen  Seite 
des  Gefühlslebens  wird  wesentliches  beitragen,  um  hier  die  richtige 
Spur  zu  finden. 

Ein  anderer  Punkt,  wo  wir  inbezug  auf  die  Beeinflussung 
der  kindlichen  Affekte  noch  sehr  im  Dunklen  sind,  ist  die  Ent- 
wicklung der  sexuellen  Gefühle.  Wir  besitzen  bei  weitem  noch 
nicht  genügend  psychologische  Erfahrung,  um  zu  entscheiden,  in 
welchem  Alter  eine  sexuelle  Aufklärung  des  Kindes  angebracht 
ist.  Wir  wissen  aber  aus  der  ärztlichen  Erfahrung,  wie  unendlich 
viel  Unglück,  auch  innerhalb  der  Gesundheitsbreite,  durch  falsche 
Richtungen  verursacht  wird,  die  dieser  in  unseren  sozialen  Ver- 
hältnissen mächtigste  Trieb  einschlägt.  Wir  sehen,  dass  zum  Bei- 
spiel eine  Unmenge  Menschen  unter  einem  unbegründeten  psychi- 
schen Druck  leiden  und  für  eine  oft  lange  Reihe  von  Jahren  in 
ihrer  geistigen  Entwicklung  dadurch  gehemmt  werden,  dass  sie 
gewisse  leichtere  Abweichungen  von  der  normalen  Sexualbetätigung 
(am  häufigsten  die  so  sehr  verbreitete  Onanie)  als  schv/ere  morali- 
sche Schuld  empfinden.  Andere  werden  durch  falsche,  aber  ver- 
meidbare Einwirkung  auf  ihre  Sinnlichkeit  und  das  Fehlen  einer 
entsprechenden  Hilfe  in  perverse  Richtungen  getrieben,  die  ihr 
ganzes  Lebensglück  untergraben.  Die  unvollständige  Durch- 
forschung der  Entwicklung  des  Sexualtriebes  verhindert  uns  einst- 
weilen, in  diesem  Punkte  pädagogisch  und  vorbeugend  einzuwirken. 
Es  dürfte  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  der  psychologisch 
gut  gebildete  Arzt  der  beste  Beobachter  und  Helfer  auf  diesem 
Gebiete  der  Erziehungslehre  werden  könnte. 

Die  Berufswahl  wirft  Probleme  auf,  die  heute  vielfach  dem 
Zufall  überlassen  sind,  und  das  weder  zum  Vorteil  des  Einzelnen 
noch  der  Gesellschaft.  Es  ist  in  der  Tat  oft  bei  einem  Individuum 
gar  nicht  möglich,  in  der  Pubertätszeit  schon  zu  bestimmen,  für 
welche  Berufsrichtung  eine  Anlage  am  besten  geeignet  ist;  eine 
systematische  Forschung  in  dieser  Richtung  müsste  Regeln  finden 
können,    nach   der   sich,    natürlich    nicht   ohne   Ausnahme,    die 

600 


spätere  Entwicklung  einer  noch  unfertigen  Individualität  einiger- 
maßen voraussehen  ließe;  v^^ie  viel  Unglück  könnte  vermieden 
werden,  wenn  den  Eltern  in  der  so  überaus  wichtigen  Frage  eine 
auf  genaue  Kenntnisse  sich  stützende  Hilfe  des  Psychologen  zur 
Seite  stehen  könnte? 

Aber  auch  im  Leben  des  Erwachsenen  gibt  es  eine  Unmenge 
Fragen  und  Konflikte,  die  typisch  bei  den  verschiedensten  Men- 
schen wiederkehren  und  die  durch  eine  systematisch-psychologische 
Betrachtungsweise  richtiger  und  leichter  gelöst  werden  könnten. 
Es  sei  hier  an  die  seelischen  Probleme  erinnert,  die  sich  im  ehe- 
lichen Zusammenleben  ergeben.  Wer  als  Arzt  Gelegenheit  hat, 
tiefer  in  die  Beziehungen  von  Gatten  hineinzublicken,  der  weiß, 
wie  viel  Fehler  inbezug  auf  die  gegenseitige  Einwirkung  der  Ge- 
fühle hier  gemacht  werden ;  sie  wären  oft  vermeidbar  und  könnten 
auch  später  wieder  gut  gemacht  werden,  wenn  der  richtige  sachver- 
ständige Rat,  so  lange  es  Zeit  ist,  zur  Stelle  wäre.  Auch  hier 
griff  früher  in  ganz  anderem  Maße  wie  heute,  oft  mit  intuitivem 
Verständnis,  der  Geistliche  oder  der  erfahrene  Hausarzt  ein,  der 
ja  heute  auch  immer  seltener  wird.  —  in  die  gleiche  Kategorie 
gehört  die  wichtige  Frage,  in  welchem  Maße  die  geistige  oder 
auch  die  körperliche  Berufsarbeit  von  Zeiten  der  Erholung  zweck- 
mäßigerweise unterbrochen  werden  sollte.  Es  wäre  zu  prüfen, 
inwieweit  diese  freie  Zeit  zu  körperlicher  Kräftigung  und  inwieweit 
zu  anregender  geistiger  Arbeit,  die  außerhalb  des  Berufslebens 
liegt,  benützt  werden  sollte.  Der  Einfluss  der  Kunst  auf  unser 
seelisches  Leben  sollte  studiert  und  in  ganz  anderem  Maße  syste- 
matisch ausgenutzt  und  befördert  werden  wie  heute.  Schließlich 
wäre  die  Wirkung  der  verschiedenen  Genussmittel  zu  untersuchen, 
die  chemisch  auf  unser  Gehirn  wirken,  und  es  wäre  die  beste 
und  am  wenigsten  schädliche  Art  dieses   Einflusses  festzustellen. 

Der  psychischen  Hygiene  des  einzelnen  Menschen  wäre  nun 
als  ebenso  wichtiges,  wesentlich  andersartiges  Gebiet  die  Unter- 
suchung des  seelischen  Verhaltens  einer  größeren  Zahl  von  Indi- 
viduen oder  der  Gesamtheit  eines  Volkes  zu  untersuchen.  Als 
pathologisches  Vergleichsmaterial  könnte  hier  bei  den  nicht  selte- 
nen Fällen  eingesetzt  werden,  wo  krankhafte  Seelenzustände  durch 
ihre  starke  Suggestivwirkung  auf  gesunde  Glieder  einer  großen 
Menge    übertragen     werden     (Massenpsychosen).     Ich    erinnere 

601 


an  die  von  Stoll  so  trefflich  beschriebene  Verzückungsepidemie 
in  dem  Zürcher  Dorf  Buch  im  Jahre  1819,  an  die  Kreuzigung  in 
dem  benachbarten  Wildensbuch  aus  dem  Jahr  1823  und  an  viele 
Sektenbewegungen  aller  Zeiten.  Es  ließen  sich  ja  hiefür  eine 
Menge  Beispiele  aus  jeder  Epoche  der  Geschichte  anführen.  Be- 
sonders demonstrativ  sind  die  Fälle,  wo  eine  Menge  von  Men- 
schen unter  dem  Einfluss  einer  besonders  starken  Idee  eigentliche 
Verbrechen  begehen,  zu  deren  Ausführungjeder  von  ihnen  allein  nie 
gekommen  wäre.  Wir  wissen  heute  schon,  dass  eine  Mehrzahl 
von  Menschen  in  der  gleichen  Konstellation  anders  seelisch  rea- 
gieren wie  der  Einzelne ;  aber  genauere  Gesetze  dieser  Abweichung 
könnten  erst  durch  eingehende  und  vielfache  Untersuchungen 
festgestellt  werden,  zu  denen  heute  nur  —  wenn  auch  wertvolle  — 
Anfangsstudien  vorliegen. 

Wenn  auch  die  wirtschaftlichen  Faktoren  im  sozialen  Leben 
besonders  stark  wirken,  so  darf  doch  neben  ihnen  die  Bedeutung 
der  seelischen  Anlage  und  des  psychischen  Einflusses  der  Um- 
gebung nicht  unterschätzt  werden.  Die  soziale  Frage  ist  nicht 
nur  eine  Brotfrage,  und  manche  Ausgleichung  bedauerlicher  Gegen- 
sätze könnte  unterstützt  werden,  wenn  wir  die  Faktoren  der 
Massenpsychologie  dabei  besser  kennen  und  berücksichtigen 
würden. 

Der  Hang,  den  die  Mehrzahl  der  Menschen  auch  außerhalb 
des  Religiösen  zum  Mystischen  hat,  ist  in  seinen  Wurzeln  noch 
nicht  genügend  erforscht.  Er  verdichtet  sich  in  der  Masse  zu 
gefährlichen  Erscheinungen.  Es  ist  bekannt,  dass  gerade  jetzt 
wieder  in  unseren  großstädtischen  Bildungszentren  ein  Anwachsen 
der  tollsten  abergläubischen  Vorstellungen  besteht,  das  eine  Ge- 
fahr für  den  ruhigen  Fortgang  unserer  Kulturentwicklung  werden 
kann.  Über  die  Gründe  der  bedauerlichen  Erscheinung  sind  wir 
nicht  genügend  orientiert;  ihre  Durchforschung  wäre  aber  für  die 
Beförderung  der  Volksbildung  und  Aufklärung  wichtiger,  wie 
manche  unserer  heute  zum  sozialen  Wohl  getroffenen  Einrich- 
tungen, die  bei  der  wohltätigsten  Absicht  ihr  eigentliches  Ziel 
verfehlen. 

Aus  einer  genaueren  Verfolgung  dieser  Gesichtspunkte  heraus 
könnten  vielleicht  auch  manche  auffallenden  Erscheinungen  im 
politischen   Leben   eine   Erklärung  finden.     Gerade   für   ein  rein 

602 


demokratisches  Staatswesen  müsste  die  Aufdeckung  aller  psycho- 
logischen Wirkungen,  die  zum  Beispiel  bei  Abstimmungen  mit- 
spielen, überaus  lehrreich  sein ;  es  könnte  ferner  untersucht  wer- 
den, ob  und  welche  neuen,  speziell  wohl  gefühlsbetonten  Kräfte 
durch  die  angestrebte  Stimmberechtigung  der  Frauen  wirksam 
würden. 

Es  wurden  hier  einige  der  Ziele  angeführt,  zu  deren  Erreichung 
besonders  der  psychologisch  gebildete  Arzt,  der  weniger  von  der 
Theorie  ausgeht,  dafür  aber  mit  dem  Leben  in  engster  Fühlung 
steht,  geeignet  wäre.  Ich  glaube  gezeigt  zu  haben,  dass  die  an- 
geführten Gesichtspunkte  von  größter  Wichtigkeit  sind,  und  zwar 
nicht  nur  für  die  rein  wissenschaftliche  Erkenntnis,  sondern  direkt 
für  die  Fortentwicklung  des  Einzelnen  und  der  Gemeinschaft. 
Dieses  erst  am  Anfang  seines  Ausbaus  stehende  Lehrfach  kann 
nicht  besser  bezeichnet  werden  wie  „Medizinische  Psychologie", 
Es  wird  zusammenarbeiten  mit  jenem  Seelenforscher,  der  sich 
des  Rüstzeugs  der  philosophischen  Richtung  und  des  experimen- 
tellen physiologisch-psychologischen  Laboratoriums  bedient,  aber 
es  wird  nie  die  Fühlung  mit  der  möglichst  exakten  Beobachtung 
am  lebenden  und  vor  allem  am  kranken  Menschen  verlieren. 
Die  psychiatrische  Klinik  muss  der  Stützpunkt  dieser  Forschungs- 
richtung werden,  ohne  dass  dadurch  die  Förderung  der  Fürsorge 
für  die  Geisteskranken  oder  andere  von  ihr  zu  pflegende  Wissens- 
zweige (anatomische,  physiologische  etc.)  Einbuße  leiden.  Durch 
diese  veränderte  Auffassung  wird  auch  die  Psychiatrie  ihre  Stel- 
lung im  Kreise  der  Wissenschaften  wesentlich  verändern.  Sie  war 
vor  noch  nicht  langer  Zeit  ein  medizinisches  Nebenfach,  das  in 
der  Hauptsache  die  richtige  Beobachtung  und  geeignete  Versor- 
gung der  internierungsbedürftigen  Geisteskranken  behandelte.  Das 
Gehirn  ist  nun  aber  doch  das  höchste  Organ,  das  wir  besitzen; 
auf  ihm  beruht  unsere  ganze  Kulturentwicklung.  So  ist  es  eine 
Forderung  der  nächsten  Zukunft,  dass  die  psychiatrische  Klinik 
aus  den  Mauern  der  Irrenanstalt  befreit  werden  muss,  um  in 
erster  Linie  ein  Forschungsinstitut  zu  werden,  das  dafür  arbeitet, 
Mittel  zur  Erhöhung  der  Leistungsfähigkeit  und  zur  Vermeidung 
der  Störungen  des  menschlichen  Gehirns  zu  finden. 

Einen  äußerst  wichtigen  Bestandteil  dieser  Aufgabe  bildet 
natürlich  auch   der  klinische   Unterricht  der  Studierenden.     Wer 

603 


bis  vor  kurzem  sich  der  Psychiatrie  widmen  wollte,  der  musste 
in  den  meisten  Fällen  seine  Tätigkeit  auf  den  relativ  engen  und 
manche  Schattenseiten  mit  sich  bringenden  Wirkungskreis  einer 
Irrenanstalt  beschränken.  Tritt  diese  Disziplin  auch  praktisch  in 
das  Leben  hinaus,  so  werden  sich  neue  Wirkungsgebiete  erschließen, 
die  manchen  tüchtigen  Mitarbeiter  anziehen  werden,  der  früher 
fern  geblieben  wäre.  Aber  auch  die  Gesamtheit  der  heranzubil- 
denden Ärzte  muss  immer  tiefer  psychologisch  geschult  werden, 
damit  sie  die  überaus  häufigen  seelischen  Ursachen  von  schein- 
bar andersartigen  Krankheitszuständen  erkennt;  und  in  steigendem 
Maße  muss  sie  darin  geschult  werden,  auch  körperlich  Leidende 
psychisch  in  richtiger  Weise  anzufassen.  Wie  das  Gehirn  eine 
hervorragende  Stellung  unter  den  Organen  unseres  Körpers  ein- 
nimmt, so  wird  die  medizinische  Psychologie  mit  ihrem  sozialen 
Brennpunkt,  der  psychischen  Hygiene,  für  alle  andern  Zweige  der 
„Universitas  literarum"  von  steigender  Wichtigkeit  werden  und 
wieder  umgekehrt  von  deren  Ergebnissen  Nutzen  ziehen.  Von 
der  ärztlichen  Seelenkunde  sollte  schon  heute  jeder  werdende 
Geistliche,  Jurist  oder  Lehrer  wenigstens  etwas  auf  sein  Wirkungs- 
gebiet mitnehmen.  Je  mehr  dieses  Forschungsgebiet  ausgebaut 
wird,  desto  inniger  wird  der  Zusammenhang  werden. 

Die  praktischen  Vorschläge  für  die  Beförderung  dieser  Ent- 
wicklung bestehen  vor  allem  in  dem  Wunsch  nach  Ausgestaltung 
der  psychiatrischen  Kliniken  und  nach  einer  Erleichterung  der 
wissenschaftlichen  Arbeitsmöglichkeiten.  Es  müssen  psychiatrische 
Polikliniken  geschaffen  und  zweckentsprechend  organisiert  werden, 
wo  leichtere  und  insbesondere  psychoneurotische  Kranke  be- 
handelt und  studiert  werden  können. 

Überblickt  man  alle  die  Forschungsrichtungen,  die  im  vor- 
hergehenden nur  angedeutet  werden  konnten,  so  kann  das  ge- 
steckte Ziel  in  dem  Wunsche  zusammengefasst  werden:  möge  die 
Zukunft  in  dem  Psychiater  nicht  mehr  den  Irrenarzt,  sondern  den 
Seelenforscher  und  Seelenarzt  sehen. 

ZÜRICH  (Burghölzli)  HANS  W.  MAIER 


D  □  D 


604 


EINST  IN  AFRIKA 

Vor  vielen  Jahren  habe  ich  diese  Episode  erlebt.  Die  ich 
einst  im  Innern  Afrikas  traf,  sind  jetzt  gestorben  oder  in  alle 
Welt  verstreut. 

Meine  Dienstzeit  als  Krankenschwester  ging  zu  Ende.  Zwei 
Jahre  Westküste  sind  für  eine  Frau  mehr  wie  genug,  waren  es 
vor  allem  unter  den  dazumaligen  primitiven  Verhältnissen;  mein 
Ersatz  traf  ein;  ich  konnte  den  nächsten  Dampfer  besteigen. 

Vom  östlichen  Küstenende  auf  der  Hängematte  mit  meinen 
schwarzen  Trägern  in  der  Hauptansiedelung  eingetroffen,  be- 
trachtete ich  liebevoll  die  neuerbaute  Landungsbrücke,  das  her- 
vorragendste Ereignis  der  Kolonie.  Schon  fühlte  ich,  wie  mir 
der  kahle,  rotbraune  Küstensand  mit  semer  Unzahl  blitzschnell 
huschender  Eidechsen  und  erdfarbener  Krabben  unter  den  Füßen 
brannte,  fühlte,  wie  ich  müde  war  der  symmetrisch  gepflanzten 
Agaven,  der  in  der  Seebrise  wiegenden  Kokospalmen,  der  wild 
blühenden  Kakteen,  müde  der  weißen  Europäerhäuschen  und 
ihrer  bald  alkoholisch  jovialen,  bald  fiebrig  gereizten  Bewohner^ 
ja  müde  auch  der  Negerhütten  und  der  schwarzen,  dumm-schlauen 
Gesichter.  Ich  sehnte  mich  von  ganzem  Herzen  nach  allem,  was 
alt  und  ehrwürdig  ist,  nach  beschaulichen  Greisen  und  Greisinnen 
und  nach  Europens  uralter  Kultur.  Ja,  sehnsüchtig,  auch  malaria- 
müde, wartete  ich  auf  den  monatlich  erscheinenden  Heimatdampfer 
—  doch  da  zeigte  sich  plötzlich,  dass  irgendwo  ein  Versehen 
vorgekommen  war.  —  Hatte  dies  ein  unzuverlässiger  schwarzer 
Bote,  einer  vom  weißen  Schreibertross,  vielleicht  der  wenigen 
hohen  Beamten  einer,  oder  gar  der  Gouverneur  der  kleinen  Ko- 
lonie selbst  auf  dem  Gewissen  —  ich  weiß  es  nicht  —  auf  jeden 
Fall  machte  es  dessen  Stellvertreter,  einem  blonden,  schmalbrüsti- 
gen Juristen,  große  Sorgen.  Auf  einer  Station  im  Hinterlande 
wartete  nämlich,  wie  er  mir  mitteilte,  eine  Polizeimeistersfrau  auf 
Schwesternhilfe,  hatte  wohl,  richtiger  gesagt,  umsonst  gewartet, 
war,  wer  weiß  unter  welchen  Umständen,  vielleicht  schon  Mutter 
geworden,  denn  die  vor  ihm  liegende  Bitte,  vier  Wochen  alt,  kam 
erst  jetzt  wieder  zum  Vorschein. 

605 


„Wahrscheinlich  ist  es  zu  spät,"  sagte  der  blauäugige,  noch 
gänzh"ch  unafrikanisierte  Assessor,  „aber  man  soll  mir  nicht  nach- 
sagen, dass  ich  eine  deutsche  Frau  im  Stiche  ließ.  Darf  ich  Sie 
bitten,  ihren  rechtmäßigen  Urlaub  um  einen  Monat  hinauszu- 
schieben? Dorthin  kann  ich  nur  jemand  senden,  der  das  Land 
kennt." 

Am  nächsten  Morgen  schon  standen  zwanzig  Träger  zu  meiner 
Verfügung.  In  aller  Eile  waren  sie  in  den  nächstliegenden  Neger- 
dörfern zusammengetrieben  worden.  Mit  Feldbett,  Klappstuhl 
und  -Tisch,  Petrollampe  und  Provisionskiste  zog  ich  ins  Hinter- 
land. Fünf  Tagereisen  weit.  Ein  schwarzer  Polizeisoldat,  meinem 
weiblichen  Kommando  gehorchend,  sorgte  für  den  einigermaßen 
geordneten  Marsch  der  Kolonne,  denn  der  Europäer  reiste  dazu- 
mal in  einer  Hängematte,  an  Querhölzern  von  vier  Negern  ge- 
tragen, während  hinter  und  vor  ihm  die  Schwarzen  sein  Gepäck, 
sorgfältig  in  Traglasten  verteilt,  auf  ihren  Wollköpfen  balanzierten. 

Stundenlang  schaute  ich  in  schwermütiges  Palmengrün; 
stundenlang  sah  ich  träumend  in  blütenreiches  Gebüsch,  das,  den 
mühsam  ausgehauenen  Weg  säumend,  nach  tropischer  Pflanzen- 
sitte Frucht  und  Blüte  zugleich  trug.  Oft  wanderte  ich,  eingelullt 
vom  eintönigen  Trällern  meiner  Schwarzen,  durch  weite  Gras- 
länder, deren  mattgrüne  Flächen  von  armseligen  Laubbäumen 
und  immer  wiederkehrenden  rotbraunen,  über  mannshohen  Ter- 
mitenkegeln unterbrochen  waren.  Zuweilen  gab  es  ein  Idyll. 
Dann  ruhten  wir  im  Schatten  riesengroßer  Baumgruppen,  die 
unter  hohem  Astwerk  grasbedachte  Negerhütten  bargen.  Tiefer 
im  Innern  und  ferner  der  verdurstenden  Küste  rauschte  von  Zeit 
zu  Zeit  ein  Bach  an  uns  vorbei ;  und  endlich,  nahe  am  Ziele,  stie- 
gen ganz  leise  und  wundersam  die  von  blauem  Licht  umträumten 
Profile  grüner  Bergketten  empor.  Eine  Fata  Morgana!  Ein 
himmlisches  Bild!  Nachdem  ich  zwei  Jahre  an  der  dürren,  heißen, 
malaria-  und  dysenterieverseuchten  Küste  verbracht  hatte. 

Ich  war  einsam  und  stolz  wie  ein  alter  Afrikareisender;  hin- 
gegen kindlich  und  unwissenschaftlich  wie  nie  einer  gewesen  ist. 
Vier  Bilder  blieben  mir  wie  kleine  Märchen  in  der  Seele  haften: 
Eine  schneeweiße  Orchis  auf  einem  mürben  Baumast  —  der  Traum 
eines  Toten,  dann  ein  feines,  smaragdgrünes  Schlänglein,  das 
meinen   Schritten    enthuschte,    ein    karmoisinroter   Schmetterling, 

606 


der  vor  mir  funkelte  wie  das  Diadem  einer  Glücksfee,  und  am 
vierten  Tage  die  düstere  Nähe  eines  gigantischen  Affenbrotbaumes, 
dessen  graue,  qualvoll  gekrümmte  Äste  ein  Heer  fliegender  Hunde 
wie  unerlöste  Geister  umkrächzte. 

Freilich:  die  Ruhestunden  in  den  von  der  Regierung  errich- 
teten Lehmhütten,  die  Moskitos,  die  in  gefangener  Luft  stets  den 
Weg  unter  das  Netz  fanden,  waren  kein  Traum,  sondern  bittere 
Wirklichkeit. 

Am  sechsten  Morgen  kam  mir  ein  schneidiger  Reiter  ent- 
gegen. Ein  subalterner  Geist  konnte  dies  nicht  sein.  Die  elas- 
tische Gestalt,  schlank  wie  eine  Gerte,  lenkte  ein  kräftiges  Tier. 

„Schwester,  seien  Sie  willkommen  in  meinen  Landen!"  rief 
er  mir  entgegen.  „Friedrikchen,  allerdings,  ist  schon  da.  Es  ging 
glaub'  ich,  alles  recht  nett.  Aber  Polizeimeisters  freuen  sich  doch, 
wenn  Sie  kommen." 

Hinter  ihm  erschien  zu  Fuß  ein  zweiter  Europäer,  doch 
stämmiger,  breiter,  schwerfälliger  und  strahlend  wie  die  Mittags- 
sonne. 

Wir  stiegen  die  Serpentinen  eines  ansehnlichen  Hügels  empor. 
Vier  einfache  Holzhäuser  mit  Veranden  bildeten  auf  seiner  Höhe 
die  Station,  in  der  Mitte  stand  die  wenig  ansehnliche  Jung- 
gesellenwohnung des  Bezirksamtmanns,  daneben  ein  sogenanntes 
Gerichtshaus,  rechts  ein  langes  Gemäuer  für  die  schwarze  Diener- 
schaft und  in  den  vierten  luftigen,  von  laubschweren  Grenadillien 
umrankten  Holzkasten  bogen  wir  selbst  ein.  Zu  Hunderten  hingen 
die  milchweißen  Blüten  mit  dem  schwermütigen  Violett  ihres 
Innern  an  Brettern  und  Balken.  —  Wie  wuchernde  Passions- 
blumen !  —  Und  welches  Glück  barg  doch  ihr  grüner  Mantel !  — 

Schaaren  von  Eingebornen  standen  vor  dem  Hause. 

„Sie  haben  alle  noch  kein  weißes  Kind  gesehen,"  erklärte 
erregt  der  glückliche  Vater.  Ja,  ich  erfuhr:  bis  Frau  Schramgke 
kam,  auch  keine  weiße  Frau.  Die  katholische  Mission  auf  dem 
gegenüberliegenden  Berge  bestand  aus  zwei  Paters. 

„Jetzt  hat  sich  's  Gerücht  verbreitet,"  erzählte  der  Polizei- 
meister hastig;  er  war  offenbar  seit  der  Geburt  Friederikchens 
ständig  im  Freudentaumel.  Rasch  schien  er  auch  heute  seine 
dienstlichen  Pflichten  erledigt  zu  haben.  —  Ja,  der  Chef  war  nach- 

607 


sichtig.  —  Immer  von  neuem  erstürmte  der  überglückliche  Vater 
sein  eigenes  Haus. 

Ich  saß  bei  der  Wöchnerin.  Obschon  etwas  müde,  wollte 
die  große,  starkknochige  Frau  alles,  alles  erzählen.  Ach,  so  lange 
hatte  sie  kein  weißes,  weibliches  Wesen  mehr  gesehen. 

„Ich  hab'  gestern  schon  wieder  Brot  gebacken,"  fing  sie 
atemlos  an,  „Sie  wissen,  mit  Palmwein,  wir  bekommen  ihn  frisch 
aus  'em  Busch.  Ja,  frisch  muss  er  sein.  Wissen's,  sonst  geht's 
nit  auf.    Nit  in  die  Höh'!" 

Ja,  und  das  Kind  war  ohne  weiteres  gekommen. 

„Wir  haben  noch  en  Pater  gerufen,  der  was  davon  versteht," 
sprudelte  Frau  Schramgke  weiter,  „und  en  alt  Negerweib,  das 
auch  viel  weiß  —  und  dann  noch  so  en  Art  bekehrten  Neger- 
doktor!" 

Plötzlich  erscholl  im  Nebenzimmer  der  Radetzky-Marsch  — 
schrill  —  schmetternd  —  lustig.  — 

Ich  vernahm  bewundernde  Grunzlaute  aus  der  vor  dem  Hause 
versammelten  Volksmenge. 

„Unser  neuer  Qramophon,"  unterbrach  sich  Frau  Schramgke. 
„Mei  Mann  is  rein  doli  drauf.  —  Und  wissen's,"  fuhr  sie  eifrig 
weiter,  „den  Nabel,  sag'  ich  Ihne,  den  Nabel,  den  hat  der  Neger- 
doktor großartig  behandelt!  Ich  sag'  Ihne,  gleich  fiel  die 
Gschicht  ab !" 

Drüben  schmetterte  „Die  Wacht  am  Rhein".  Aber  Schramgke 
kam  eilig,  er  hatte  offenbar  doch  noch  durch  die  dünnen  Bretter- 
wände gehorcht,  und  beim  Nabel,  wie  ich  auch  später  sah,  be- 
teiligte er  sich  stets. 

„Ja,  großartig,  Schwester!  Sehen  Sie,  so  machte  er's,"  und, 
das  Blütenblatt  einer  schwermütigen  Passionsblume  verknutschend, 
demonstrierte  er.  — 

Noch  quoll  sein  Redefluss,  da  trat  schon  wieder,  schüchtern 
kauderwelschend,  Amysanto,  der  schwarze  Boy,  heran :  Häuptlinge 
wollten  das  Kind  sehen.  —  Da  kamen  sie  auch  schon,  wie  die 
drei  Weisen  aus  dem  Morgenlande,  mit  Wollhaaren  und  wulstigen 
Lippen.  Sie  bestaunten,  benickten  und  begrinsten  das  kleine 
Wunder  gutmütig.  Dann  stellte  sich  der  Eine,  die  Schultern  von 
einer  blauen  Toga  umschlungen,  in  Positur  und  fing  an  irgend 

608 


etwas  zu  fragen.    Die  beiden  andern  horchten  neugierig.   Langes 
Kauderwelschen. 

Da  —  plötzh'ch  stieß  Schramgke  eine  helle  Lache  aus  und 
wollte  sich  vor  Vergnügen  den  Bauch  halten. 

„Jesses,  Jesses,  Maria !  Nu  meinen  die  Kerls,  du  hätt'st  grad 
wie  's  Kind  auch  noch  's  Grammophon  kriegt!" 

Die  glückliche  Doppelmutter  wollte  sich  ausschütten  vor 
Lachen.  Aber  so  en  Bisschen  fühlte  sie  sich  doch  geschmeichelt. 
Da  lag  Ansehen  drin!  Einmal  berühmt,  warum  sollte  sie  nicht 
noch  berühmter  werden?  Schramgkes  hielten  Cour  in  Afrika,  es 
war  nicht  zu  verkennen. 

Ein  Muttergottesbild,  ein  Öldruck,  hing  an  der  Wand  und 
sah  milde  herab  auf  unser  kindliches  Treiben,  und  eine  zweite 
Madonna,  ihm  gegenüber,  schaute  mit  gefalteten  Händen  klagend 
zum  Himmel  empor. 

Ich  setzte  mich  auf  die  Veranda,  die  Mutter  sollte  schlafen; 
der  Polizeimeister  wurde  zum  Dienst  gerufen. 

Das  war  der  erste  Morgen.    Ein  buntes,  grelles  Farbenspiel. 

Am  zweiten  Tag,  als  Frau  Schramgke  schlummerte,  saß  ich 
wieder  auf  der  Veranda.    Es  war  Gerichtstag. 

Der  afrikanische  Bezirksamtmann  hat  nicht  nur  die  Verant- 
wortung für  Weg  und  Steg,  für  Anbau  und  Erträgnisse  des  Landes, 
Ausnutzung  der  schwarzen  Arbeitskräfte  und  vieles  andere, 
ihm  unterliegt  vor  allem  die  Rechtsprechung.  An  der  Küste 
drängte  sich  mir  oft  die  Empfindung  auf,  das  primitive  Land 
werde  außer  von  Malaria,  Dysenterie  und  Typhus  auch  von 
Juristerei  verseucht.  Doch  in  diesen  Dingen  ist  mein  Urteil  kind- 
lich und  unmaßgeblich.  Wohl  aber  darf  ich  betonen,  wie  mir  im 
Hinterlande  klar  wurde,  welch  machtvoller  Einfluss  dem  natürlichen 
Innenkaliber  eines  ganzen  Menschen  entströmt,  und  welch  reife 
Früchte  gesunder,  humorvoller  Menschenverstand  zeitigt.  Schon 
auf  der  Reise,  als  ich  kleine,  weiße  Frau  mit  zwanzig  Schwarzen, 
mutterseelenallein,  mir  unbekannte  Gebiete  durchwanderte,  fühlte 
ich,  dass  die  Disziplin  meiner  Kolonne  mit  jeder  Tagereise  ins 
Innere  eher  wuchs  als  abnahm.  Dort  am  Ziele  musste  ohne 
Zweifel  die  ausgeprägte  Persönlichkeit  residieren,  deren  macht- 
volle Hand  ich  fühlte. 

609 


Dass  es  kein  grausamer  Meister,  sondern  nur  ein  konse- 
quenter Herr  war,  sah  ich  jetzt  von  Tag  zu  Tag  immer  mehr. 

Ich  war  Zeuge  langer  Verhöre  und  Verhandlungen,  endloser 
Geduldsproben.  Später  erschienen  verurteilte  Bösewichte.  Irgend- 
wo regnete  es  gesunde  Hiebe.  Kettengefangene  wurden  zur 
Arbeit  kommandiert. 

Während  ich  noch  saß  und  träumte,  stieg  ein  seltsamer  Zug 
die  geschlungenen  Hügelpfade  empor.  Wie  in  bachantischem 
Rausche  trugen  singende  Männer  ein  schwarzes  Weib  unter  einem 
Baldachin.  Langsam  wiegte  und  wogte  diese  dunkle,  doch  bunte 
dionysische  Weile  heran.  Eile  hatten  sie  nicht.  Sachte  und  sin- 
gend schritten  sie  vorwärts.  Dann  kamen  sie  näher.  Und  wie  die 
wilden  Fluten  der  See  des  Sturmes  Dämon  in  geregelter  Tollheit 
besingen,  begleitete  die  Schar  mit  rhythmischem  Johlen  ihre  innere 
afrikanische  Lust. 

Der  Zug  machte  Halt.  Der  Hängematte  entwand  sich  ein 
schlankes,  grinsendes,  schwarzes  Weib  und  sah  um  sich. 

„Maria,  schöne  Negerkönigin,  was  wünschest  Du?"  hörte 
ich  das  komische  Pathos  des  Bezirksamtmanns.  Das  Weib  deutete 
nach  der  Kinderstube. 

„Dachte  ich  mir's  doch,  du  bist  neugierig,  willst  Friederike 
sehn,"  fuhr  Herr  von  Riemar  lustig  weiter,  „ziehe  hin  in  Frieden!" 

Ich  musste  lachen.  Doch  Schramgkes  fühlten  sich  diesmal 
nicht  sehr  geschmeichelt. 

„Wissen  Sie,"  sagte  nachher  der  Polizeimeister,  „unsereins 
ist  gut  katholisch  und  dies  Sündenweib  nennt  sich  Maria!  Mir 
nichts,  dir  nichts  Maria  —  und  —  hat  —  ich  kann  Ihne  net  sage 
wie  viel  Männer!" 

„Zähl'  sie  doch  mal,"  sagte  Frau  Schramgke.  Aber  der 
Polizeimeister  wies  sie  mit  einem  Blick  in  ihre  europäischen 
Schranken  zurück. 

Am  nächsten  Abend  bat  mich  Herr  von  Riemar  zu  einem 
Spaziergange.  Wir  gingen  durch  Versuchsplantagen  an  Kakao-, 
Zimmtbäumchen  und  Kaffeesträuchern  vorbei,  um  die  Baumwoll- 
pflanzungen zu  erreichen,  in  denen  des  Landes  Zukunft  schlum- 
merte. Dann  weiter  neben  wassertragenden  Schwarzen  zu  einer 
Quelle  im  Busch.  Mein  Begleiter  erzählte  mir  von  den  gewaltigen 

610 


Markttagen    der   Eingebornen,    dit    hier    im    Innern    abgehalten 
würden. 

Einige  Minuten  später  standen  wir  vor  der  magern,  i<ostbaren 
Quelle,  über  der  in  einem  FelsbIoci<  ein  Bronzemedailion  mit 
dem  Profil  Bismarcks  prangte. 

„Es  hat  viel  Überwindung  gebraucht,"  erzählte  lachend  Herr 
von  Riemar,  „ehe  sich  die  schwarze  Gesellschaft  an  dieses  Bildnis 
gewöhnen  wollte.  Erst  kamen  sie  unaufhörlich,  schickten  wahre 
Deputationen  und  flehten  um  schleunige  Wegnahme.  Nachdem 
ich  ihnen  jedoch  mit  vieler  Mühe  klar  gemacht  hatte,  dass  Bis- 
marck  kein  böser,  sondern  ein  guter,  starker  Gott  sei,  gaben  sie 
sich  zufrieden,  um  mir  später  treuherzig  mitzuteilen :  sie  könnten 
nun  doch  nicht  mehr  an  ihn  glauben  —  denn  mehr  Wasser  gäbe 
es  seither  auch  nicht.  —  Ja,  und  Sie  sahen  Maria,  den  schwarzen 
Schrecken  der  katholischen  Mission.  Sie  ist  in  der  Tat  weit  und 
breit  die  einzige  Negerkönigin.  Ich  glaube  dank  einer  alten  Tra- 
dition im  Stamme.  Es  gibt  sonst  hierzulande  nur  Häuptlinge. — 
Ach  Gott,  auch  sie  machte  mir  zu  schaffen."  Herr  von  Riemar 
warf  den  im  afrikanischen  Dienst  ergrauten  Kopf  lustig  zurück. 
„Eines  Tages,  Gott  weiß  warum  —  ich  weiß  es  nicht  —  nennt 
sich  dies  Scheusal:  Maria.  Mir  vollkommen  rätselhaft,  wie  sie 
zu  diesem  Namen  kam.  Ja,  die  Mission  —  die  Mission  beschwert 
sich  sogleich  —  ist  außer  sich  —  und  ich  armer,  geplagter  Be- 
zirksamtmann soll  dem  Frauenzimmer  Raison  beibringen.  Ja,  was 
sollt'  ich  denn  tun,  dem  Bezirksamt  macht  sie  keine  Schwierig- 
keiten."    Er  lachte  herzlich. 

Ich  genoss  in  vollen  Zügen  die  reine  Luft  des  Hinterlandes 
und  fühlte  mich  weit  erhaben  über  die  fiebernde,  sensationslüsterne 
Küstenklatschatmosphäre.  Schneeweiße,  hochstenglige  Blumen 
sprossten  im  Gebüsch  und  da  und  dort  eine  lilafarbene  Blüten- 
kerze, die  mich  bezauberte.  Vor  dem  glutroten  Sonnenball,  der 
sich  sachte  nach  Westen  senkte,  tanzten  noch  gelbe  und  blaue 
Schmetterlinge. 

Wir  durchquerten  in  der  Tiefe  den  Marktplatz,  der  noch  immer 
mit  brodelnden  Weibern,  nackten  Kindern  und  Kalebassen  voller 
Gewürze,  Yams,  Mais,  Erdnüsse  und  andern  Reichtümern  be- 
säet war. 

611 


Zwischen  den  rotbraunen  Negerhütten  flatterten  kleine  Hühner, 
trotteten  schwarze  Schweine  und  kurzbeinige  Ziegen.  Eine  aus 
Latent  kindisch  geformte  Fetischfigur  ließ  mich  einen  Augenblick 
zaudern.  Der  Popanz  war  mit  Federn,  Blättern  und  Blumen 
geschmückt.  —  Wer  weiß  —  vielleicht  betet  der  Neger  darin 
symbolisch  zum  ewig  Unerforschlichen.  Solch  ein  verziertes,  selbst- 
verfertigtes Monstrum  war  mir  stets  ein  Rätsel.  Aber  welche 
Götzen  verfertigen  wir  nicht  in  Gedanken!  Beten  sie  an  und  ver- 
langen von  andern  dasselbe!  Ich  warf  einen  letzten,  milden  Blick 
zum  Fetisch  hinüber. 

Von  irgend  welchen  neu  erschienenen  Büchern  plaudernd, 
stiegen  wir  langsam  wieder  zur  Höhe.  Da  bannte  ein  scharfes: 
„Halt!"  meinen  Schritt.  Gerade  vor  unsern  Füßen  kroch  ein 
großer,  schwarzer  Skorpion  über  den  gelben  Fußpfad.  —  Für- 
wahr ein  schlechtes  Omen.  —  Auch  sollte  ich  noch  eine  Tragö- 
die erleben. 

AARAU  GERTRUD  HUNZIKER 

(Schluss  folgt.) 
DDD 

EIN  LIED  ZUM  WEIN 

Tief  im  Becher  wogt  der  Lichter  Glanz, 
Goldne  Kreise  wirft  er  durch  den  Wein; 
Mädchen,  muss  man  da  nicht  glücklich  sein  — 
Tanze,  Liebste,  denn  im  Wein  liegt  Tanz. 

Trinke  aus  und  schließ  die  Augen  zu  — 
Hörst  du,  wie  er  leise  in  dir  klingt 
Und  den  Alltag  stille  aus  dir  singt; 
Lausche  in  dich,  denn  im  Wein  liegt  Ruh'. 

Träume  steigen  aus  dem  Purpurrot, 
Leise  wird  das  Leben  ausgewischt. 
Und  ein  Licht  ums  andere  erlischt. 
Hüte  dich  —  im  Weine  ruht  der  Tod. 

SALOMON  D.  STEINBERG 


612 


VEREINFACHUNG 

DER 

STAATSVERWALTUNG  UND  ERLEICHTERUNG 
DER  STAATSLASTEN 

(Schluss) 

Der  eigentliche  Kern  des  Landschaftsrechtes  ist  das  innere, 
und  dieses  hat  zum  hauptsächhchsten  Gegenstand  das  Landwirt- 
schaftswesen. Der  Staat  hat  hier  wohl  seine  Aufgabe  eri<annt, 
die  in  der  Fürsorge,  in  der  Abwendung  von  Gefahren  und  Schä- 
digungen, in  Aufmunterung  und  Förderung  besteht.  Aber  das 
Vorgehen  erscheint  nicht  immer  planmäßig.  Die  Probe  ist  bald 
gemacht,  wenn,  wie  das  auch  für  andere  Zwerge  der  Verwaltung 
und  für  diese  im  ganzen  lehrreich  wäre,  mit  dem  Plane  des 
theoretischen  Rechtes  verglichen  würde,  was  in  der  Praxis  be- 
steht und  geleistet  wird;  es  würde  sich  bald  ergeben,  was  noch 
zu  tun  wäre  oder  was  zuerst  getan  werden  sollte.  Nicht  dass 
alles  auf  einmal  oder  von  heute  auf  morgen  anders  gemacht 
würde;  Rom  ist  auch  hier  nicht  in  einem  Tage  erbaut  worden. 
Wir  denken  nicht  an  Maßnahmen,  die  in  die  Kompetenz  des 
Bundes  fallen,  wie  es  namentlich  die  sehr  streitige  Frage  der 
Schutzzölle  zu  Gunsten  der  Landwirtschaft  ist,  sondern  nur  an 
die  kantonale  Politik,  der  das  Landwirschaftswesen  im  übrigen 
(abgesehen  vom  Subventionsgesetz  des  Bundes)  noch  überlassen 
ist.  Nun  sollte  man  meinen,  das  erste  wäre,  sich  der  Not  der 
kleinen  Landwirte  anzunehmen.  Viehveredlung  und  Viehprä- 
mierung ist  gewiss  etwas  schönes  und  löbliches,  aber  zuerst 
muss  die  nötige  Viehhabe  da  und  gesichert  sein.  Es  heißt  das 
Pferd  beim  Schwänze  aufzäumen,  wenn  der  Staat  oben  anfängt 
und  zuerst  oder  ausschließlich  für  rassiges  und  prämierbares  Vieh 
sorgt,  eine  Sorge,  die  mehr  den  Wohlhabenden  und  Reichen  zu- 
kommt. Zuerst  sollen  doch  alle  bestehen  können,  und  es  ist  der 
Einbruch  jeder  Existenz  für  das  Gemeinwesen  selbst  eine  und 
unter  Umständen  doppelte  und  dreifache  Einbuße:  ein  Verlust 
an  Steuerzahlern  und  vielleicht  noch  eine  Last  der  Armenver- 
sorgung, wo  nicht  gar  der  Strafjustiz.  Mit  dem  Konkursrecht 
ist  es  nicht  mehr  getan;  es  ist  lediglich  rechtsstaatlich,  sorgt  nur 

613 


für  die  Gläubiger;  es  sollte  aber  für  den  Schuldner  selbst  ge- 
sorgt werden,  und  zwar  um  ihn  womöglich  vor  dem  Falle  zu 
bewahren,  jedenfalls  nicht  völlig  verderben  zu  lassen,  sondern 
wieder  aufzustellen.  Und  das  nicht  seiner  Person  zulieb,  sondern 
im  Interesse  des  Gemeinwesens.  Der  Kanton  Zürich  hatte  ein- 
mal einen  kleinen  Anfang  mit  der  Sorge  für  die  kleinen  Vieh- 
besitzer durch  staatliche  Unterstützung  von  Viehleihkassen  ge- 
macht, ist  davon  aber  bald  wieder  zurückgegangen;  über  den 
Grund  schweigen  die  öffentlichen  Akten. 

Die  umfassendste  und  ausgiebigste  Hilfe  wäre  von  der  Kan- 
tonalbank zu  erwarten,  und  diese  ist  auch  recht  eigentlich  zu 
dem  Zwecke  gegründet  worden,  um  den  kleinen  Leuten  über- 
haupt und  den  kleinen  Landwirten  speziell  Geld  und  Kredit  zu 
verschaffen,  die  sie  von  Privatbanken  nicht  oder  unter  erdrücken- 
den oder  unerschwinglichen  Bedingungen  erhalten.  Eine  Kantonal- 
bank hat-  auch  leichter  wirtschaften  als  andere;  sie  lebt  vom 
Kredit  des  für  ewig  und  unversinkbar  erachteten  Staates,  während 
andere  sich  den  Kredit  erst  durch  ihre  Führung  erwerben  müssen 
und  ihn  trotz  aller  Sorgfalt  in  außerordentlichen  Zeiten  einbüßen 
können,  wie  sich  erst  jüngst  beim  Balkankriege  wieder  gezeigt 
hat.  Die  Kantonalbank  bekommt  daher  das  Geld  billiger  und 
könnte  es  auch  billiger  hergeben.  Aber  sie  hat  ihren  Zweck 
mehr  und  mehr  aus  den  Augen  verloren.  Noch  im  Kantonalbank- 
gesetz von  1883  war  vorgesehen,  dass,  wenn  der  Reservefonds, 
in  welchen  die  Gewinne  zunächst  zu  legen  waren,  eine  bestimmte 
Höhe  erreicht  habe,  durch  Gesetz  über  die  weitere  Verwendung 
der  Gewinne  verfügt  werde,  in  der  Meinung,  dass  sie  zur  Herab- 
setzung des  Zinsfußes  und  zur  Anlageerweiterung  dienen  sollen. 
Laut  dem  neuen  Bankgesetz  dagegen  vom  Jahr  1902  —  es  ist, 
wohlgemerkt,  in  der  Zeit  der  Finanzmisere  erlassen  worden  — 
ist  nun  die  Beschlussfassung  über  diese  Verwendung  dem  Kantons- 
rat vorbehalten,  mit  der  Direktive,  den  überschüssigen  Gewinn 
dem  Staat  zuzuhalten.  Diesem  sind  denn  sofort  für  das  Jahr  1903 
drei  Viertel  Millionen  zugeteilt  worden,  und  seither  hat  er  so 
nicht  weniger  als  gegen  vier  Millionen  bezogen.  Er  hat  also  das 
Geld,  das  eigentlich  den  kleinen  Leuten  gehörte,  an  sich  genom- 
men, und  so  könnte  man  fast  sagen,  er  hat  sich  auf  deren 
Kosten  bereichert.     Um  so  mehr  ist  Sparsamkeit  am  Platz,  um 

614 


dem  Volke  zu  geben,  was  des  Volkes  ist,  und  zugleich  dem 
Gründungszweck  der  Bank  getreu  zu  bleiben.  Auch  in  dieser 
Beziehung  also  heißt  es,  zu  den  Anfängen  zurückkehren  I 

Aber  auch  bei  der  Fürsorge  für  die  Landwirtschaft  hat  der 
Staat  so  wenig  als  möglich  selbst  und  unmittelbar  einzutreten, 
sondern  die  privaten  Kräfte  anzuleiten,  zusammenzuführen  und 
erst  nötigenfalls  finanziell  zu  unterstützen.  Dadurch  erzielt  er, 
wie  anderwärts,  wo  er  so  vorgeht,  nicht  nur  den  Vorteil,  sein 
Geld  so  gut  und  lang  als  möglich  zu  sparen,  sondern  er  weckt 
und  belebt  die  private  Initiative  und  die  ihr  entspringenden  Vor- 
züge individueller  Kraft  und  Selbständigkeit,  ohne  die  es  kein 
Leben  und  keine  Kultur  gibt. 

Namentlich  kommt  in  der  Landwirtschaft  das  Genossenschafts- 
wesen zur  Geltung,  das  heute  im  Vordergrund  auch  des  wissen- 
schaftlichen Interesses  steht.  Hier  gilt  es,  die  gemeinsamen  An- 
stalten und  Anlagen  zu  übernehmen  und  die  Nachteile  der  Einzel- 
wirtschaft darin  zu  überwinden,  weiter  vielleicht  noch  diese  sonst 
zu  kräftigen  und  zu  heben.  Hier  böte  gerade  für  kleine  Land- 
wirte die  Vereinigung  den  Vorteil  größerer  Kreditwürdigkeit,  um 
desto  eher  das  für  den  Bedarf  an  Viehhabe  und  andern  Betriebs- 
mitteln nötige  Geld  zu  erlangen.  Im  übrigen  können  hier  die 
einzelnen  Arten  landwirtschaftlicher  Genossenschaften,  die  Feld-, 
Flur-,  Zuchtvieh-  und  Versicherungsgenossenschaften  nicht  durch- 
gangen werden.  Es  wäre  nur  noch  auf  die  Produktions-  und 
Konsumgenossenschaften  als  die  besondere  Form  zu  verweisen, 
den  teuren  Zwischenhandel  abzudanken  und  dem  Produzenten 
den  ungeschmälerten  Lohn  seiner  Arbeit  zu  verschaffen.  Jeden- 
falls aber  hat  der  Staat  sich  dieser  Verbände  anzunehmen,  sie 
ins  Leben  zu  rufen,  wo  sie  nötig  sind  und  noch  fehlen,  und  sie 
zu  unterstützen,  soweit  es  zu  ihrem  Fortkommen  unumgänglich 
erscheint. 

In  diesem  Sinn  hat  der  Kanton  Zürich  schon  1882  ein  Flur- 
gesetz erlassen,  das  sich  allerdings  noch  auf  die  Flurpolizei, 
das  heißt  die  Bekämpfung  landwirtschaftlicher  Schädlinge,  das 
'  Erste  und  Notwendigste  der  Landwirtschaftspolitik,  beschränkte. 
Neuestens  aber,  1911,  ist  es  durch  ein  vollständiges  Landwirt- 
schaftsgesetz ersetzt  und  ergänzt  worden.  Dem  Umfang  nach  also 
erscheint  hier  die  zürcherische   Gesetzgebung  vollkommen,  und 

615 


was  die  Beurteilung  des  Inhaltes  betrifft,  ist  von  folgenden  Grund- 
sätzen auszugehen.  Polizeiliche  Bestimmungen  sollen  nicht  in 
eine  Reglementiererei  aller  Tätigkeit,  auch  derjenigen,  die  nur 
den  Einzelnen  angeht,  ausarten,  sondern  sind  nur  am  Platz, 
soweit  das  Qebahren  auch  für  andere  nachteilig  oder  schädlich 
ist,  und  auch  nach  dieser  Seite  darf  den  Bürgern  in  ihrem  gegen- 
seitigen Verhältnis  immer  noch  ein  Stück  Verträglichkeit  zuge- 
mutet werden.  Dieser  Grundsatz  sollte  übrigens  nicht  nur  für  die 
landwirtschaftliche,  sondern  für  alle  Polizei  gelten,  und  es  lohnte 
sich,  darnach  einmal  die  ganze  Polizeigesetzgebung  zu  durch- 
gehen, um  bei  Gelegenheit  alle  weitergehenden  Vorschriften  gleich- 
mäßig wegzulassen  und  dadurch  der  Bewegungsfreiheit  der  Einzel- 
nen mehr  Raum  zu  geben.  Die  pfleglichen  Bestimmungen  aber 
im  Landwirtschaftswesen,  die  sich  auf  die  positive  Einrichtung 
der  Wirtschaft  beziehen,  sind,  soweit  überhaupt  ein  gemeinsames 
Recht  notwendig  oder  vorteilhaft  erscheint,  durchaus  Genossen- 
schaften zu  überlassen  die  es  nach  dem  Bedürfnis  ihres  Kreises 
gestalten  können;  der  Staat  braucht  ihnen  dafür  nur  die  nötige 
Macht  zu  verleihen.  Hier  gilt,  was  schon  als  Standpunkt  des 
ersten  Gesetzes  bezeichnet  worden  ist:  möglichste  Freiheit  in  der 
Organisation  mit  Rücksicht  auf  die  Verschiedenheit  der  Interessen 
und  Anschauungen. 

Beiden  Anforderungen  nun  wird  das  neueste  zürcherische 
Gesetz  prinzipiell  gerecht;  was  zu  wünschen  bliebe,  wäre  vielleicht 
folgendes.  Der  Staat  könnte  seinem  unmittelbaren  Eingreifen  noch 
eine  größere  Reserve  auferlegen,  was  sich  zum  Teil  in  der  Voll- 
ziehung nachholen  ließe.  Weiter  hätten  für  den  Streitfall  Bezirksrat 
und  Bezirksgericht  ganz  bei  Seite  gelassen  und  dem  richtig  erkannten 
Grundsatz  gemäß  Fachgerichte  eingeführt  werden  dürfen ;  man  hätte 
die  Aufgabe  freien  Vereinigungen  oder  Abordnungen  der  Genossen- 
schaften übertragen  dürfen,  durch  die  auch  sonst  die  ständige 
kantonale  Kommission  mehr  ersetzt  werden  könnte.  Die  Selbst- 
verwaltung ist  stets  beliebter  als  die  staatliche  und  genießt  mehr 
Vertrauen;  der  Staat  tritt  den  Einzelnen  eben  als  Gebieter  gegen- 
über, während  ein  Kollegium  von  Seinesgleichen  als  freundlicher 
Berater  erscheint.  Zum  dritten  sollte  die  Unentgeltlichkeit  des 
Unterrichtes  nicht  auf  Fachschulen,  keinenfalls  auf  eine  oberste 
Lehranstalt,   wie    es    der  Strickhof  in  seiner  Art   ist,    erstreckt, 

616 


sondern  durch  ein  rationelles  (klassenmäßiges)  Gebührensystem 
ersetzt  werden,  das  nicht  nur  dem  Staat  einen  weitern  Ersatz 
böte,  sondern  auch  seine  Leistung  gewichtiger  machte;  was 
etwas  kostet,  erscheint  immer  auch  mehr  wert,  im  ganzen  aber 
ist  das  neueste  zürcherische  Landwirtschaftsgesetz  nach  Inhalt 
wie  nach  Umfang  vorzüglich,  eine  Ehre  und  ein  Verdienst  für 
die  Urheber,  und  es  wäre  nur  zu  wünschen,  dass  auch  die  übrige 
Gesetzgebung,  wo  es  noch  fehlt,  sich  zum  gleichen  Stand  erhöbe. 
Um  der  größeren  Berücksichtigung  der  Landschaft  im  ganzen 
mehr  Nachdruck  zu  geben,  wäre  eine  Vereinigung  aller  Inter- 
essenten zu  bilden,  eine  Landpartei,  wie  es  solche  im  Lauf  der 
Geschichte  auch  schon  gegeben  hat.  Was  wollen  die  politischen 
Parteien:  Konservative,  Liberale,  Demokraten  —  von  den  Sozial- 
demokraten nicht  zu  reden,  die  auf  eine  umgekehrte  Staatsord- 
nung ausgehen  —  noch  besagen,  nachdem  ihre  eigentliche  Auf- 
gabe erfüllt  ist  und  die  Staatsform  und  Verfassung  des  Staates 
sich  festgesetzt  hat?  Sie  sind  ihrem  Ursprung  und  Zwecke  nach 
rechtliche  Parteien,  haben  als  solche  sozusagen  ihren  Lebens- 
inhalt verloren,  sind  öde  und  unfruchtbar  geworden,  wie  die  Er- 
fahrung zeigt.  Nun  handelt  es  sich  hauptsächlich  oder  ausschließ- 
lich um  die  Ordnung  der  Wirtschaft.  Um  Demokratie,  gewiss, 
aber  um  vorzugsweise  wirtschaftliche  Demokratie,  wie  schon  be- 
merkt wurde.  Wie  die  Arbeiter  zur  Wahrung  ihrer  Interessen 
sich  zu  Vereinen  und  Parteien  zusammenschließen,  so  dürfen  es 
auch  andere  tun,  die  durch  gemeinsame  Angelegenheiten  ver- 
bunden werden,  und  so  sollen  es  auch  die  Landschafter.  Es  wird 
dadurch  kein  Gegensatz  zu  den  Städten  und  im  besondern  zur 
Hauptstadt  geschaffen,  jedenfalls  keiner,  der  über  das  Maß  der 
politischen  Antagonien  hinausginge  oder  gar  in  gegenseitige  Feind- 
schaft ausartete;  im  Gegenteil.  Politische  Parteiung  bedingt  auch 
eine  Differenzierung,  und  doch  waren  politische  Parteien  von 
jeher  für  jedes  freie  Staatsleben  nicht  nur  als  Notwendigkeit, 
sondern  als  eine  Wohltat  anerkannt,  und  nur  das  Übermaß  an 
Parteileidenschaft  oder  Parteiherrschaft,  ein  Missbrauch  ihres  We- 
sens, wurde  beklagt,  der  nicht  notwendig  vorkommen  muss,  und 
wo  er  auch  immer  vorkommt,  der  Sache  selbst  nicht  das  Urteil 
spricht.  Für  die  Landschaft  handelt  es  sich  nur  darum,  durch 
eine   ihr  eigentümliche   Partei   zu   erkennen  zu  geben :  wir  sind 

61^ 


auch  da,  so  gut  wie  die  Arbeiter  oder  die  Stadt,  und  verlangen 
den  uns  zukommenden  Teil  der  Berücksiciitigung.  Dadurch 
wird  nur  das  Verhältnis  und  die  Bedeutung  der  Interessengruppen 
zu  einander  festgestellt  und  abgeklärt,  und  eine  Einseitigkeit  in 
der  Pflege  des  Staatslebens  vermieden,  wie  sie  eintreten  muss, 
wenn  ein  Teil,  so  viele  Interessen  ihm  gemeinsam  sind,  aufgelöst 
und  nicht  organisiert  ist.  Und  speziell  das  Verhältnis  von  Stadt 
und  Land  zu  einander  würde  gewinnen,  statt  Schaden  zu  neh- 
men. Es  ist  ganz  falsch,  wenn,  so  oft  ein  Wunsch  der  Land- 
schaft verlautet,  er  als  eine  Äußerung  des  Gegensatzes  oder  gar 
der  Feindschaft  gegen  die  Stadt  ausgegeben  wird;  das  zeugt  nur 
davon,  dass  die  Stadt  nicht  gewohnt  ist,  andere  Interessen  außer 
ihr  anzuerkennen.  Die  Stadt  selbst  gewinnt  im  Gegenteil,  wenn 
sich  ihr  gegenüber  das  Land  in  seinem  Stand  zu  erkennen  gibt, 
nicht  um  sie  zu  befehden,  sondern  nur  um  sich  nicht  selbst  bei 
Seite  schieben  zu  lassen.  Die  Stadt  würde  dadurch  über  eine 
andere  Art  Wirtschaft  belehrt  und  an  ihr  vielleicht  ein  Beispiel 
nehmen;  namentlich  aber  könnte  durch  die  Kooperation  von 
Stadt  und  Land  der  richtige  Ausgleich  zwischen  ihnen  zustande 
gebracht  werden,  zum  Heil  Beider  und  des  Ganzen. 


V. 

Eine  volkstümliche  Rechtspflege  gipfelt  in  dem  Satze:  „rasch 
und  billig",  und  das  ist  nicht  nur  für  das  Volk,  sondern  auch 
für  den  Staat  das  zukömmlichste.  Ein  gewesener  Oberrichter  hat 
erklärt,  die  Gerichte  seien  nicht  da,  um  Recht  zu  sprechen,  son- 
dern zu  entscheiden.  Das  sollte  ein  Spass  sein,  enthält  aber  die 
ernste  Wahrheit,  dass  es  nicht  darauf  ankommt,  eine  Streitsache 
nach  dem  Rechte,  das  ja  immer  zweifelhaft  sein  kann,  um-  und 
umzulegen,  sondern  einmal  abzutun.  Dass  damit  nicht  nur  den 
Parteien  gedient  ist,  sondern  auch  dem  Staat,  liegt  auf  der  Hand; 
für  beide  ist  ein  rasches  Verfahren  jedenfalls  billiger.  Also  schon 
in  der  Raschheit  liegt  Billigkeit.  Dann  aber  wird  diese  noch  für 
sich  und  extra  gefordert,  allerdings  nur  zugunsten  des  Volkes, 
nicht  des  Staates.  Dem  Staat  möchte  die  Rechtspflege  also  noch 
so  teuer  anliegen,  wenn  sie  nur  schließlich  für  das  Volk,  die 
Prozessführenden,  billig  ist,  und  das  kostspieligste  für  ihn  ist  in 

618 


jedem  Fall,  mag  die  Rechtspflege  dabei  wie  immer  eingerichtet 
sein,  die  Unentgeltlichkeit.  Die  Unentgeltlichkeit  der  Rechtspflege, 
seinerzeit  ein  sozialpolitisches  Postulat,  ist  denn  vom  Programm 
abgesetzt  worden,  wie  überhaupt  die  Unentgeltlichkeiten  seither 
nicht  weiter  vermehrt  worden  sind.  Aber  auch  eine  für  den  Staat 
billige  Rechtspflege  kann  es,  wenn  sie  darnach  eingerichtet  wird, 
auch  für  das  Volk  sein,  und  dann  ist,  wie  mit  der  Raschheit, 
beiden  geholfen. 

Nun  sind  Billigkeit  und  Raschheit  nicht  bloße  Volkswünsche 
oder  allgemeine  Interessen  des  Staates,  sondern  im  Kanton  Zürich 
zu  einem  Grundsatz  der  Verfassung  von  1869  (Art.  59)  erhoben 
worden,  der  also  seine  Vollziehung  verlangt.  Es  handelt  sich  nur 
um  das  Wie.  Auch  in  dieser  Beziehung  gibt  die  Verfassung  selbst 
Direktiven.  Einmal  sind  in  dem  kleinen  Abschnitt  der  Verfassung 
über  die  Rechtspflege,  der  die  Organisation  der  Rechtspflege  nicht 
selbst  angibt,  wie  es  früher  der  Fall  war  und  anderwärts  geschieht, 
sondern  sie  dem  Gesetz  überlässt,  die  vertragsmäßigen  Schieds- 
gerichte besonders  hervorgehoben.  Solche  sind  auch  vor  allem 
aus  geeignet,  den  Streit  rasch  und  billig  zu  erledigen  und  nament- 
lich den  Staat  zu  entlasten.  Nun  war  die  Einrichtung  auch  im 
Kanton  Zürich  vorher  nicht  unbekannt,  sondern  noch  im  frühern 
Rechtspflegegesetz  ausdrücklich  vorgesehen.  Aber  das  auf  die 
neue  Verfassung  folgende  hat  nichts  weiter  getan,  als  jenen  Ab- 
schnitt sozusagen  unverändert  nach  Stellung  und  Inhalt  hinüber- 
zunehmen. Das  v;ar  offenbar  nicht  der  Sinn  der  Verfassung, 
sonst  würde  sie  nicht  ausnahmsweise  auf  diese  Institution  aus- 
drücklich hingewiesen  haben. 

Statt  dessen  hätten  die  Schiedsgerichte  in  den  Vordergrund 
gestellt  werden  sollen,  in  der  Meinung,  dass  erst,  soweit  solche 
von  den  Parteien  nicht  vorgesehen  oder  gewünscht  werden,  die 
amtliche  Rechtpflege  in  Aktion  tritt,  ähnlich  wie  bei  der  Armen- 
pflege und  der  Verwaltung  im  weitern  der  Staat  oder  das  Gemein- 
wesen nur  einzutreten  hat,  soweit  nicht  durch  die  Privaten,  die 
Beteiligten  selbst,  vorgesorgt  ist.  Wenn  sich  die  Privaten  bei  der 
Selbstbesorgung  überhaupt  besser  befinden,  ihr  mehr  vertrauen, 
so  gilt  das  von  Streithändeln  noch  ganz  besonders.  Und  auch 
wo  Schiedsgerichte  nicht  vertragsmäßig  und  von  vornherein  vor- 
gesehen sind,  sollten  die  Parteien  auf  diese  Art  des  Austrages 

619 


noch  aufmerksam  gemacht  werden,  bevor  der  Fall  auf  die  Mühle 
der  langsamen  und  teuren  Staatsrechtspflege  geschüttet  würde.  Nicht 
nur  Gottes  Mühlen  mahlen  langsam  ....  Zuerst  vertragliche 
Schiedsgerichte,  wo  solche  bestellt  sind,  dann  vor  den  Friedens- 
richter, und  von  diesem  soll  noch  zur  nachträglichen  Bestellung 
eines  Schiedsgerichtes  aufgefordert  werden,  und  erst  wenn  die 
Parteien  davon  auch  dann  nichts  wissen  wollen,  soll  der  Streit 
in  den  Hochofen  der  Rechtsschmiede  geschoben  werden. 

Zu  diesem  Zwecke  und  auch  sonst  sollten  die  Friedens- 
richter eine  weit  größere  Bedeutung  erhalten,  nach  Art  der  eng- 
lischen. Namentlich  müssten  sie  auf  die  Beilegung  von  Streitig- 
keiten nachdrücklich  hingeleitet  werden ;  ja  sie  dafür  zu  prämieren 
lohnte  sich,  werden  dadurch  doch  die  Parteien  vom  Streite 
schnellstens  erlöst  und  der  Staat  vor  Kosten  bewahrt.  Die  Frie- 
densrichter selbst  aber  sollen  darin  ihre  Hauptaufgabe  sehen, 
wie  schon  der  Titel  sie  darauf  verweist,  den  Ziegel  nicht  einfach 
mechanisch  weiterbieten,  sonst  braucht  man  sie  überhaupt  nicht. 
Auf  die  Art  der  Erledigung  kommt  es  nicht  an,  wenn  nur  er- 
ledigt wird  und  so  rasch  als  möglich  —  „die  Gerichte  sind  nicht 
da.  Recht  zu  sprechen,  sondern  zu  entscheiden",  sogar  die  amt- 
lichen Gerichte.  Die  Zivilprozessordnung  ist  auch  nicht  für  die 
Wissenschaft  da,  um  ein  Lehrstück  für  sie  abzugeben,  sondern 
für  das  Volk.  Die  Wahrung  des  objektiven  Rechts  kann  einer 
letzten  Instanz,  Revisionsinstanz  oder  was  immer  vorbehalten 
werden,  worüber  nachher  noch  ein  Wort. 

Für  die  weitere  Gerichtsorganisation  sodann  enthält  die  Ver- 
fassung auch  noch  eine  Direktive,  die  Empfehlung  von  Ge- 
schwornengerichten  auch  für  die  Zivilrechtspflege,  offenbar  im 
Interesse  einer  volkstümlichen  Rechtspflege.  Nun  ist  durch  das 
seitherige  Rechtspflegegesetz  die  Organisation  allerdings  zum 
Teil  etwas  vereinfacht  worden.  Einmal  durch  Abschaffung  der 
Kreisgerichte  oder  Zunftgerichte,  wie  sie  früher  hießen,  einer 
Instanz  zwischen  Friedensrichter  und  Bezirksgericht.  Zwei  Mittel- 
instanzen waren  allerdings  zu  viel ;  ob  aber  mit  den  Kreisgerichten 
nicht  der  unrechte  Zahn  ausgezogen  worden  ist?  Jedenfalls 
waren  diese  volkstümlicher,  standen  dem  Volke  in  jeder  Beziehung 
näher,    kosteten    wenig   und    hatten   schon   wegen   der   größern 

620 


Dezentralisation  weniger  Geschäfte,  konnten  sie  also  auch  schneller 
erledigen. 

Vergleicht  man  damit  die  Bezirksgerichte,  so  weisen  sie  in 
keiner  Beziehung  einen  Vorzug  auf.  Was  für  ein  Heidengeld 
vor  allem  kosten  sie!  gegen  eine  Million  bei  einer  halben  Mil- 
lion Einwohner,  wohl  die  teuerste  Justiz  der  Welt.  Ein  Privater 
würde  das  Geschäft  gerne  zur  Hälfte  übernehmen  und  es  nicht 
schlechter  besorgen.  Und  wie  lange  ziehen  sie  die  Prozesse  bei 
sich  hin!  Das  ist  freilich  nicht  zu  verwundern,  wenn  nach  der 
Maxime  jenes  alten  Gerichtschreibers  gearbeitet  wird,  die  Urteile 
müssten  so  begründet  sein,  dass  ein  Handwerksbursche,  wenn  er 
eines  auf  der  Straße  finde,  es  verstehen  und  sich  sagen  müsse, 
es  sei  recht.  Abgesehen  davon,  was  ein  Handwerksbursche  mit 
einem  gefundenen  Papier  anfängt  —  haben  schon  die  Parteien 
zu  viel  an  den  Erwägungen  eines  Urteils  und  sehen  nur  auf  das 
Dispositiv.  Das  bisherige  Gesetz  ist  aber  weniger  darauf  ausge- 
gangen, die  Rechtspflege  volkstümlicher,  als  sie  (man  möchte  fast 
sagen  gegenteils)  wissenschaftlicher  zu  machen,  in  Misskennung 
seiner  Aufgabe  und  auch  des  Auftrages  der  Verfassung,  und  hat 
den  Zweck  erst  nicht  erreicht.  Gelehrter  sind  die  Bezirksgerichte, 
nach  ihrer  Zusammensetzung  zu  schließen,  auch  heute  nicht,  selbst 
in  den  Städten  nicht,  so  lange  alle  möglichen  Bewerber,  wenn 
sie  nur  zur  Partei  gehören,  darin  aufgenommen  und  dafür  Leute 
vom  Fach,  die  ihre  Examina  hinter  sich  haben,  draußen  gelassen 
werden.  Und  wenn  gar  unfertige  Rechtskandidaten  examinierten 
Doktoren  und  Anwälten  vorgezogen  werden,  so  wirkt  das  wie 
eine  Staatsprämie  auf  die  Lodderigkeit.  Die  gelernten  Juristen  wen- 
den sich  dann  privaten  Betrieben  zu,  die  sie  besser  zu  schätzen 
wissen  und  wieder  um  so  mehr  gewinnen.  Aber  es  geht  bei  andern 
Beamtungen  auch  so,  und  alle  Parteien  machen  es  gleich,  nicht 
zu  ihrer  Ehre.  Und  immer  noch  wird  die  Zahl  unserer  Richter 
vermehrt,  statt  einmal  genau  zu  prüfen,  ob  sich  nicht  die  Un- 
summe von  Schreibereien  vermindern  und  dadurch  Zeit  und  Per- 
sonal ersparen  ließe,  zum  Vorteil  der  Rechtssuchenden  wie  des 
Staates.  So  bureaukratisch  die  Verwaltung  geworden  ist,  die 
Rechtspflege  ist  es  nicht  weniger.  Aber  die  Prüfung  müsste  nicht 
den  Advokaten  und  Richtern  selbst  überlassen  werden,  sonst 
heißt  es,  den  Bock  zum  Gärtner  machen,  oder  eine  Krähe  .  .  . 

621 


\n  andern  Staaten  wäre  es  unerhört,  die  Organisation  der  Rechts- 
pflege durch  die  Beteiligten  selbst  treffen  zu  lassen;  dafür  sind 
■die  Justizministerien  und  ihre  Räte  da,  und  auch  bei  uns  gäbe  es 
wohl  noch  unparteiische  Sachverständige. 

Sodann  sind  zur  Vereinfachung  der  Organisation  die  Einzel- 
kompetenzen eingeführt  worden,  beim  Friedensrichter  und  beim 
Bezirksgerichtspräsidenten.  Darin  liegt  aber  etwas  Gewaltsames.  Die 
Einzelkompetenz  eignet  sich  nur  für  die  Verwaltung,  und  auch 
hier  nur  zum  Teil,  namentlich  für  die  Befehlgebung,  für  die  Justiz 
aber  ganz  und  gar  nicht.  Sie  bietet  anerkanntermaßen  einen 
geringern  Rechtsschutz  als  das  Kollegialgericht  und  ist  daher  nur 
als  Notbehelf  anzusehen,  der  je  bälder  desto  besser  ausgelöst 
-wird.  Sie  ist  denn  auch  auf  die  geringen  Streitsummen,  auf  die 
Bagatellgerichtsbarkeit  beschränkt  worden.  Das  ist  aber  ein  sehr 
relativer  Begriff:  für  einen  armen  Teufel  bedeuten  ein  paar  Fran- 
ken mehr  als  Tausende  für  den  Reichen,  und  doch  muss  er 
also  mit  der  minderwertigen  Gerichtsbarkeit  vorlieb  nehmen.  Zu 
alledem  ist  die  Abgrenzung  nach  Streitsummen  mechanisch,  will- 
kürlich und  wird  der  Innern  Verschiedenheit  der  Streitwerte  nicht 
gerecht.  Darin  liegt  also  in  jedem  Betracht  ein  Nachteil  gegen 
die  frühere  Einrichtung. 

Jedenfalls  war  im  Rechtspflegegesetz  von  1875  noch  keiner- 
lei Ziviljury  zu  finden,  außer  wenn  das  Handelsgericht  dazu  ge- 
rechnet werden  wollte,  das  aber  schon  seit  dem  Verfassungs- 
gesetz von  1865  besteht.  So  war  also  auch  nach  der  zweiten 
Direktive  der  Wunsch  der  Verfassung  unerfüllt  geblieben.  Erst 
1896  sind  die  gewerblichen  Schiedsgerichte  nach  bekannten  Mustern 
und  mit  einem  Verfahren  eingeführt  worden,  das  um  nichts  besser 
ist,  als  das  der  allgemeinen  Gerichte.  Heute  jedenfalls  wären 
Fachgerichte  und  nach  allen  Seiten  am  Platz,  wo  die  Richter  zu- 
gleich Experten  sind  und  es  keiner  besondern  Expertisen  mehr 
bedarf,  die  die  Prozesse  am  meisten  verschleppen  und  verteuern, 
den  Advokaten  aber  darum  gerade  willkommen  sind. 

Anderseits  ist  die  Rechtspflege  seit  1869  noch  dadurch  ver- 
wickelter geworden,  dass  dem  Obergericht  ein  Kassationsgericht 
vorgesetzt  wurde.  Das  auch  aus  dem  falschen  Bestreben,  die  Rechts- 
pflege wissenschaftlicher  zu  machen.  Das  Kassationsgericht  ist 
an  oberster  Stelle  der  Justiz,  was  der  Bezirksrat  in  der  Mitte  der 

622 


Verwaltungsorganisation:  das  fünfte  Rad  am  Wagen.  Es  geht 
über  das  Verhältnis  eines  Kantons,  diskreditiert  das  Obergericht 
und  kostet  dafür  immer  noch  gegen  8000  Franken.  Auch  weiß 
man  gelegentlich  nicht,  woher  die  Leute  nehmen  und  verfällt  auf 
Advokaten,  die  dann  als  Kassationsrichter  über  den  Oberrichtern 
stehen,  ein  ganz  unleidliches  Verhältnis.  Also  ein  Doppel  des 
Obergerichtes,  statt  dass  dieses  seinerseits  vereinfacht  worden 
wäre.  An  Stelle  der  Appellation,  die  den  ganzen  Fall  auch  nach 
dem  Tatsachenmaterial  neu  behandelt,  genügt  die  Revision  mit  der 
Aufgabe,  lediglich  auf  das  Recht  zu  sehen  und  allfällige  Rechts- 
verletzungen in  Urteilen  der  untern  Instanz  zurückzuweisen.  Statt 
einem  Obergericht  als  Appellationsgericht  also  ein  Revisionshof, 
und  nichts  weiter.  Aber  die  Advokaten  wollen  das  nicht,  sie  ver- 
lören dabei,  und  auf  sie  kommt  es  an.  So  hat  das  Obergericht 
bereits  auf  fünfzehn  Mitglieder  vermehrt  werden  müssen,  kostet 
an  die  300,000  Franken,  und  so  wird  es  weiter  gehen,  bis  das 
Volk  selbst  etwa  mit  einer  Initiative  durchgreift.  Es  konnte  sich 
sogar  fragen,  ob  man  auch  nur  das  Obergericht  als  zweite  In- 
stanz für  alle  Fälle  beibehalten  wollte,  nachdem  1874  das  Bundes- 
gericht ständig  geworden  ist,  und  nicht  diesem  in  Prozessen, 
denen  der  Weg  dahin  offen  stand,  den  zweiten  Entscheid  vor- 
behalten sollte;  an  einer  Oberinstanz  genügt  es  doch,  und  es 
braucht  nicht  mehr  drei  oder  vier,  wie  zu  heiligen  Reichszeiten. 
Aber  es  ist  als  ob  man  im  Kanton  Zürich  alles  nicht  kompliziert 
und  kostspielig  genug  machen  könnte. 

Was  das  Rechtspflegegesetz  an  wirklicher  Volkstümlichkeit 
gebracht  hatte,  war  die  Freigebung  der  Advokatur.  Aber  gerade 
damit  ist  man  seither  wieder  abgefahren,  durch  das  Rechts- 
anwaltsgesetz von  1898.  Es  mag  ja  zugegeben  werden,  dass 
diese  neue  Freiheit  einige  Auswüchse  erzeugt  hatte.  Aber  so 
wenig  man  eine  Freiheit  wegen  des  möglichen  Missbrauches  ab- 
schafft, so  wenig  hätte  es  hier  geschehen  sollen;  es  sind  bloß 
die  Auswüchse  zu  stutzen.  Es  kam  die  Winkelagentur  auf.  Dieser 
ist  aber  der  Anwaltsstand  ohnehin  überlegen,  und  sie  hätte  sich  noch 
durch  das  Approbationssystem  in  ihre  Schranken  weisen  lassen, 
ohne  dass  wieder  eine  förmliche  Kaste  aufgerichtet  worden  wäre. 
Auch  schießt  die  Bedingung  der  Wissenschaft  wieder  über  das 
Ziel  der  Rechtspflege  hinaus,  und  darauf  kommt  es  jedenfalls  nicht 

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an,  dass  der  gelehrte  Anwalt  die  Sache  dem  Richter  besser  auf 
der  Tranchierplatte  vorzulegen  versteht,  so  dass  dieser  sich  weniger 
bemühen  muss.  Es  gibt  allerdings  Richter,  die  das  vorziehen, 
und  deshalb  sich  den  Advokaten  geneigter  zeigen  als  einer  un- 
verbelständeten  Partei;  die  sogenannten  Advokatenrichter,  mit 
Ehrennamen.  Und  wenn  die  Richterwahl  Behördenwahl  ist  und 
der  Advokat  in  dieser  Behörde  sitzt,  so  bildet  sich  unter  Um- 
ständen noch  ein  weiteres  Verhältnis,  das  den  Ruf  der  Unab- 
hängigkeit des  Richterstandes  nicht  bessert.  Nun  haben  wir  also 
wieder  eine  besondere  Klasse  von  Advokaten  wie  von  Ärzten, 
was  das  Rechtsuchen  jedenfalls  nicht  volkstümlicher  gemacht  und 
unbestreitbar  sehr  verteuert  hat.  Der  einzige  Fortschritt  des  Rechts- 
anwaltsgesetzes ist,  dass  nun  auch  Frauen  die  Advokatur  ausüben 
können,  ein  Fortschritt  von  so  geteiltem  Ansehen,  dass  darüber 
besonders  abzustimmen  war.  Sie  hätte  ihnen  aber  auch  geöffnet 
werden  können,  ohne  anderseits  den  Beruf  zur  Kaste  abzu- 
schließen. 

Zur  Zeit  liegt  das  bisherige  Rechtspflegegesetz  in  Revision, 
und  zwar  erscheint  es  nun  in  einer  Trilogie.  Die  Gerichtsorga- 
nisation, auf  die  es  hier  hauptsächlich  ankommt,  ist  schon  1911 
ausgegeben  worden,  nun  kommt  der  Zivilprozess  daran,  und  den 
Schluss  des  Gesetzesdramas  wird  der  Strafprozess  bilden.  Aber 
die  Revision  besteht  in  der  Hauptsache  nur  in  einer  Konsolidie- 
rung und  Neuausgabe  des  bisherigen  Gesetzes  und  seiner  No- 
vellen und  hat  sich  keines  großen  Zuges  oder  eines  Fortschrittes 
zu  rühmen,  am  wenigsten  im  Sinn  der  Volkstümlichkeit;  im  Ge- 
genteil ließen  sich  einige  neue  Künsteleien  feststellen.  Insofern  also 
ist  die  ganze  Revision  leeres  Gepränge,  und  man  hätte  die  Mühe 
und  Kosten  einer  Gesetzesarbeit  sparen  können.  Die  Arbeit 
daran  dauert  bald  zwanzig  Jahre,  und  so  hat  der  Berg  eine  Maus 
geboren. 

Kosten  unsere  Gerichte  ein  unverhältnismäßiges  Geld,  heute 
jedes  Jahr  gegen  zwei  Millionen,  so  gibt  man  es  dafür  den  Pro- 
zessparteien um  so  billiger.  Allerdings  ist  es  nur  demokratisch, 
wenn  den  kleinen  Leuten  das  Rechtsuchen  möglichst  leicht  ge- 
macht wird,  bis  zur  Unentgeltlichkeit;  dafür  sollte  nach  oben  aber 
um  so  mehr  dafür  bezahlt  werden.  Aber  das  Maximum  der 
Staatsgebühren    beträgt    nach    wie    vor    dreihundert     Franken, 

624 


auch  wenn  der  Streitwert  in  die  Hunderttausende  und  Milliohen 
geht.  Das  reimt  sich  schlecht  mit  den  so  sehr  gesteigerten  Un- 
kosten des  Gerichtswesens,  und  es  ist  nicht  zu  verwundern, 
wenn  bald  eine  ganze  Million  am  Staat  hängen  bleibt,  die  er 
sich  so  leicht  und  ohne  Verletzung  der  Billigkeit  ersetzen  lassen 
könnte.  Und  wenn  durch  höhere  Gerichtsgebühren  das  Prozes- 
sieren abnähme,  so  würde  es  dem  Lande  jedenfalls  nicht  schaden 
und   hinwieder  nur  die  Unkosten  für  den  Staat  verringern. 

Rechnet  man  alle  die  unnötigen,  vorzeitigen  oder  überflüssi- 
gen Ausgaben  zusammen,  wie  bald  wären  die  Defizite  gedeckt, 
um  nie  wiederzukehren! 

Und    nun,   mein   verehrter   Herr   Kantonsrat,   Regierungsrat, 

Referendumsbürger,  oder  in  welcher  Stellung  immer  Du  Einfluss 

auf  die  Staatsverwaltung  habest: 

Lies  wohl  dies  Büchlein  oft  und  viel, 
Und  tu'  nicht  stets  das  Widerspiel! 

CASPAR  SCHEIDT 
DD  D 

KRIEG  UND  VOLKSWIRTSCHAFT 

Die  moderne  Nationalökonomie  hat  sich  erst  in  den  letzten  Jahren 
systematisch  mit  dem  Krieg  befasst  oder  vielmehr  mit  den  ökonomischen 
Wirkungen,  die  von  ihm  auf  die  Volkswirtschaft  ausgehen.  Werner  Sombart 
beschäftigte  sich  letzthin  mit  dem  Problem ;  in  seinem  Buche  ^)  hat  er  eine  Fülle 
interessanter  Feststellungen  gebracht.  Ob  er  damit  dem  ganzen  gewaltigen 
Stoffgebiet  vollends  gerecht  wird,  ist  freilich  eine  andere  Frage.  Das  Haupt- 
gewicht legt  der  Verfasser  richtigerweise  auf  die  tatsächliche  Abschätzung 
des  Mih'täraufwandes.  Was  kostet  der  Unterhalt,  die  Bewaffnung,  Bekösti- 
gung und  Bekleidung  der  Heere,  welches  sind  die  Wirkungen  des  Schiff- 
baues auf  die  nationale  Produktion  ?  Das  Buch  von  Sombart  will  vor 
allem  als  historische  Leistung  gewürdigt  sein;  es  bringt  eine  Menge  ge- 
schichtlicher Daten  über  den  Kriegsaufwand  bei,  allein  die  Bedeutung  des 
Krieges  für  die  moderne  Volkswirtschaft  tritt  nicht  in  dem  Maße  in  Er- 
scheinung, wie  es  wünschbar  gewesen  wäre.  Es  fehlen  auch  die  vergleichenden 
statistischen  Zusammenstellungen,  es  fehlt  eine  Aufarbeitung  des  Zahlen- 
materials, die  uns  vor  Augen  führt,  was  der  Militarismus  der  Großmächte 
für  ungeheure  Opfer  von  der  Nation  fordert. 

Im  Kapitel  über  den  Schiffsbau  wird  diese  Vorstellung  am  ehesten 
lebendig.  Da  zeigt  uns  Sombart  die  enorme  Bedeutung  des  Schiffsbaues  für 
das  Wirtschaftleben.    Der  Schiffsbau  ist  der  Zerstörer  der  Wälder  in  Eu» 


1)  Krieg  und  Kapitalismus.    Druck  von  Humblot,  Leipzig  1913i 

625 


ropa  geworden.  Eisenindustrie  und  Schiffsbau  seien  letzthin  Kinder,  die 
der  Krieg  gezeugt  hat,  und  diese  beiden  Gewerbe  vor  allem  stellten  die 
hohen  Ansprüche  an  die  Holzproduktion.  Die  Klagen  über  die  zunehmende 
Holzknappheit  gehen  auf  das  sechzehnte  Jahrhundert  zurück.  Aus  der 
Zerstörung,  die  der  Krieg  schafft,  steigt  neuer  schöpferischer  Geist  empor: 
der  Mangel  an  Holz  und  die  Notdurft  des  täglichen  Lebens  drängten  auf 
die  Auffindung  oder  die  Erfindung  von  Ersatzstoffen  für  das  Holz  hin, 
drängten  zur  Nutzung  der  Steinkohle  als  Heizmaterial,  sie  drängte  zur  Erfin- 
dung des  Kokesverfahrens  bei  der  Eisenbereitung.  Dass  dieses  aber  die  ganze 
großartige  Entwicklung  des  Kapitalismus  im  neunzehnten  Jahrhundert  erst 
möglich  gemacht  habe,  stehe  außer  allem  Zweifel.  Auch  hier,  glaubt  Som- 
bart,  in  diesem  entscheidenden  Punkte,  scheinen  unsichtbare  Fäden  die 
merkantilen  und  die  militärischen  Interessen  eng  miteinander  zu  verknüpfen. 
Nur  für  die  frühkapitalistische  Epoche  behauptet  Sombart  die  über- 
ragende Bedeutung  des  Militarismus.  Später  mischen  sich  tausend  andere 
Bestandteile  hinein,  später  werde  der  Gang  des  Wirtschaftslebens  durch 
tausend  andere  Triebfedern  ebenso  stark,  wenn  nicht  stärker,  bestimmt  als 
durch  militärische  Interessen,  die  einen  beherrschenden  Einfluss  nur  bis 
zum  Beginn  der  hochkapitalistischen  Zeit  ausüben.  Das  sei  nun  aber  ge- 
rade das  Entscheidende,  weil  eben  in  dieser  Zeit  der  Charakter  des  modernen 
Kapitalismus  seine  Qrundprägung  erhielt.  Den  Nachweis  wollte  Sombart 
vor  allem  leisten,  dass  der  Krieg  viel  unmittelbarer  als  die  Kolonien  am 
Aufbau  des  kapitalistischen  Wirtschaftssystems  beteiligt  ist,  weil  er  die 
modernen  Heere  geschaffen  hat  und  die  modernen  Heere  wichtige  Bedin- 
gungen kapitalistischer  Wirtschaft  erfüllen  sollten.  Die  Bedingungen,  die 
hier  in  Betracht  kommen,  sind:  die  Vermögensbildung,  der  kapitalistische 
Geist  und  vor  allem  ein  großer  Markt.  Als  ein  Verdienst  Sombarts  kann 
es  bezeichnet  werden,  gerade  in  der  jetzigen  Zeit  der  enormen  Kriegs- 
rüstungen die  Tragweite  der  Zusammenhänge  zwischen  Volkswirtschaft  und 
Krieg  nachgewiesen  zu  haben. 


Eine  vielbeachtete  Studie  über  die  Volkswirtschaft  der  Schweiz  im 
Kriegsfall  hat  der  Generalsekretär  der  Schweizerischen  Nationalbank 
Dr.  Adolf  Jöhr  (Veriag  Kuhn  &  Schürch,  Zürich)  geschrieben ;  das  Werk 
erlebte  bereits  eine  zweite  Auflage.  Die  Bedeutung  des  Buches  ist  vor  allem 
darin  zu  suchen,  dass  es  eine  solid  fundierte  Gruppierung  des  Tatsachen 
materials  bietet  und  auch  dem  Laien  den  Stoff  nahebringt. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  es  der  Arbeit  an  eigenen  originalen 
Betrachtungen  fehle;  solche  sind  zahlreich  in  das  gut  verarbeitete  Material 
eingeflochten  und  man  kann  dem  Verfasser  wohl  an  den  meisten  Stellen 
zustimmen.  Dank  der  Einhaltung  einer  strengen  Systematik  ist  es  Dr.  Jöhr 
trefflich  gelungen,  den  umfangreichen  Stoff  zu  meistern,  eine  Fülle  von 
Einzeltatsachen  beizubringen  und  so  das  Bild  zu  einem  wohlabgerundeten 
zu  gestalten.  Der  vorwiegend  orientierende  Charakter  der  Arbeit  hat  dazu 
geführt,  dass  allerlei  Elementartatsachen  berücksichtigt  werden  mussten, 
die  bei  rein  wissenschaftlicher  Bearbeitung  ohne  weiteres  in  Wegfall  kämen. 
Das  Buch  von  Jöhr  wird  dadurch  besonders  nützlich,  dass  es  dem  Leser 
2eigt:  wie  waren  die  Verhältnisse  und  der  Stand  der  schweizerischen  Volks- 
wirtschaft im  Kriege  von  1870/71  und  wie  würden  sich  die  Verhältnisse  in 

626 


einem  Zukunftskrieg  gestalten.  Über  die  Zustände  im  Jahre  1870/71  gibt 
uns  Jöhr  ein  wohlgelungenes  Bild;  nirgends  fand  sich  bisher  eine  Gesamt- 
darstellung. Diese  ist  ihm  geradezu  mustergültig  gelungen.  Wohl  konnte  er 
sich  dabei  auf  Denkschriften  stützen  (F.  Mangold:  Die  Bank  in  Basel,  P. 
Gygax:  Die  Bank  in  St.  Gallen,  C.  Keller:  Die  Krisis  des  Jahres  1870  usw.); 
Alle  diese  Arbeiten  haben  jedoch  die  Frage  mehr  nach  der  banktechnischen 
Seite  behandelt,  Jöhr  hingegen  bietet  ein  abgeschlossenes  Bild  davon,  wie 
es  damals  um  die  schweizerische  Volkswirtschaft  stand.  Die  Ergebnisse 
der  Studie  werden  in  neue  Schlussthesen  zusammengefasst.  Man  wird  dem 
Verfasser  zustimmen  können,  wenn  er  sagt,  das  schweizerische  Geld-  und 
Bankwesen  sei  heute  unendlich  viel  besser  auf  die  Erschütterung  einer 
Kriegskrisis  gerüstet  als  im  Jahre  1870. 

ZÜRICH  PAUL  GYGAX 

DAS  SONNENLAND 

Ein  Gipfel  war  er  bestimmt,  der  liebe  Hans  Hoffmann,  wenn  er  auch 
sein  Haupt  nicht  im  Wolkendunste  barg.  Freilich  mühte  er  sich  vergeblich 
damit  ab,  sorgfältig  behauene  Granitblöcke  zum  festgefügten  geschichtlichen 
Roman  aufeinanderzutürmen,  und  seine  Verse  klingen  da  am  besten,  wo 
sie  eigne  oder  allgemein  menschliche  Schwächen  mit  scharfen  Geißelhieben 
treffen;  aber  keiner  trete  mir  seiner  Tante  Fritzchen  zu  nah,  die  ihre  über- 
quellende Herzensgüte  hinter  einem  stachligen  Äußern  schamhaft  versteckt 
und  den  kategorischen  Imperativ  der  christlichen  Allerweltsliebe  mit  dem 
Recht  auf  einen  tüchtigen  Hass  so  wacker  abtrumpft.  Und  welcher  deutsche 
Erzähler  kündet  die  Freuden  und  Leiden  des  Gymnasiallehrers  mit  so 
warmem  Verständnis  wie  der  Dichter  des  „Gymnasiums  von  Stolpenburg"? 
Unsern  Primanern  allerdings,  denen  Hoffmanns  Landsmann  Eduard  Engel 
diese  feinen,  das  Innerste  der  Schulmeisterseele  durchleuchtenden  Novellen 
zu  erbaulicher  Lektüre  empfiehlt,  möchte  denn  doch  das  Sensorium  für  derart 
subtile  seelische  Konflikte  mangeln.  Fest  wurzelt  Hans  Hoffmann  in  seiner 
pommerischen  Heimat,  deren  „klägliche  Öde"  sein  Herz  doch  nicht  er- 
starren ließ.  Und  doch  seufzt  er  gelegentlich:  „nur  meine  Augen  wollen 
hier  verschmachten!",  aber  flugs  schnürt  er  sein  Bündel,  verlässt,  wie  sein 
Eberhard  von  Wildberg  in  den  Bozener  Märchen,  „das  frostige  Land  seiner 
Jugend,  steigt  über  die  Alpen  ins  Etschtal,  wo  die  Gefilde  mit  südlichem 
Sonnenschein  begnadet  sind",  und  hier,  wo  schon  Paul  Heyse  reiche  Ernte 
eingeheimst,  bindet  er  sich  eine  bunte  Garbe  wunderhübscher  Legenden, 
Märchen  und  Gedichte.  Zweimal  hat  er  auch  an  dem  Eiland  der  Phäaken 
angelegt,  und  mit  liebenswürdiger  Freude  erzählt  er  uns,  dass  sich  die 
modernen  Korfioten  von  den  homerischen  ruderliebenden  Phäaken,  die  sich 
ja  vor  allem  in  der  Kunst  eines  eleganten  Faulenzens  rühmlich  hervortaten, 
in  keiner  Weise  lumpen  lassen. 

Ein  warmer,  vergnüglicher  Humor  waltet  in  Hans  Hoffmanns  meisten 
Erzählungen;  er  versöhnt  den  Dichter  mit  seinem  unmusischen  Hinterpom- 
mern, „wo  nur  ein  einziger  Gott,  Jupiter  Pluvius,  herrscht",  er  verklärt  ihm  die 
göttliche  Faulheit  seiner  Phäaken,  er  zeigt  ihm  aber  auch  einen  protestan- 
tischen Pfarrhof  im  märkischen  Sand  in  homerischem  Glanz  und  würzt  ihm 

627 


eine  Sönntagsfahrt  auf  der  beschaulichsten  der  Kleinbahnen,  der  der  Ber-' 
liner  Witz  den  freundlichen  Namen  „die  stille  Pauline"  verliehen  hat. 

Mit  verstehendem  und  verzeihendem  Lächeln  redet  Hoffmann  von  den 
Schwächen  der  Menschen;  er  weiß,  dass  ein  kleines  Fehlerlein  auch  dem 
Trefflichsten  Herzensbe'dürfnis  ist,  und  wäre  es  auch  nur  etwa  „ein  kleines 
Hausneidchen,  wie  es  jedem  Christenmenschen  zu  ruhiger  Beschäftigung 
gegönnt  ist  als  ein  mäßig  knurrender  Schoßmops,  der  niemanden  heftig 
anbellt,  noch  weniger  ans  Beißen  denkt".  Eichendorffs  mannhafter  Kampf- 
ruf: „Krieg  den  Philistern!"  hallt  durch  Hoffmanns  ganze  Dichtung; 

das  Luder  ist  so  feig  korreltt,  ihn  Itann  der  Teufel  selbst  nicht  fassen ! 
knirscht  er  einmal  ingrimmig;  aber  er  weiß  auch,  dass  man  „dieselbe  Ge- 
sinnung aus  Hochmut,  Beschränktheit  und  Froschnatur,  oder  aber  aus 
Reinheit  haben  kann".  Jegliches  Tugendathletentum  ist  ihm  im  Grunde 
seiner  Seele  zuwider;  ihm  selbst  ist's  in  seiner  bewussten  Unvollkommen- 
heit  wohl  genug,  und  mit  mitleidigem  Bedauern  blickt  er  auf  die  Muster- 
menschen  herab,  die  in  all  ihrer  blitzblanken  Tugend  lediglich  das  satte 
Bewusstsein  eigener  Vortrefflichkeit  mästen : 

Welch  glücklich  Leben  inuss  das  sein, 

Stets  Lob  zu  ernten  bei  Groß  und  Klein, 

Lächelnd  zu  opfern  jederzeit 

Behäbiger  Selbstzufriedenheit ! 

Vielleicht  zwar  mag  ich  sie  doch  nicht  beneiden; 

Doch  eins  ist  sicher:  ich  kann  sie  nicht  leiden. 

Die  mit  Ironie  gepaarte  Weltfreude  hat  Hans  Hoffmann  mit  Gottfried 
Keller  gemeinsam,  dem  er  einmal  seine  Referenz  machte,  ohne  dass  es  zu 
einem  innigen  persönlichen  Kontakt  zwischen  den  beiden  Dichtern  gekom- 
men wäre:  „ich  schied  von  ihm,"  erzählt  Hoffmann  selbst  in  einem  Auf- 
satz über  Wilhelm  Raabe,  „nach  einigem  hingequälten  Verweilen  in  etwas 
verprügeltem  Seelenzustande" ;  dagegen  müssen  sich  Briefe  Kellers  an  ihn 
in  seiner  Mappe  finden.  —  Ohne  Zweifel  hat  Hans  Hoffmann  von  Keller 
viel  gelernt;  Kellers  Legendenstil  mag  er  den  weichen  Wohlklang  der 
Sprache  seiner  Märchen  abgelauscht  haben ;  seine  schönste  Dichtung  dieser 
Art,  die  Legende  „Die  heilige  Kümmernis",  hat  er  dem  Zürcher  Meister 
zum  siebzigsten  Geburtstag  auf  den  Tisch  legen  dürfen.  Nur  feiner,  be- 
wusster,  kultivierter  klingt  Hoffmanns  Sprachmelodie  als  die  Kellers;  er 
weiß  seinen  Satz  so  zu  biegen,  die  einzelnen  Teile  so  zusammenzufügen 
und  mit  schmückendem  Beiwerk  zu  füllen,  dass  er,  jede  Ecke  und  Kante 
meidend,  in  behaglichem  Fluss  seinem  Ziele  zustrebt.  Eine  Probe?  Aber 
schlürfen  Sie  die  Sätze  mit  andächtig  kostender  Zunge  in  sich  hinein,  wie 
ein  Glas  duftenden  Rheinweins:  „Und  wo  sie  nun  auf  einem  Tanzfest  sich 
zeigte,  was  sie  fortan  gern  tat,  und  sich  munter  umherschwang,  da  gab  es 
des  Jubels  die  überschwängliche  Fülle  und  taumelnder  Seligkeit,  hinterher 
aber  in  den  Nächten  viel  Seufzer  und  Sehnen  und  das  schmerzliche  Rasen 
ungestillten  Verlangens."  Oder:  „Als  Gottvater  diese  Worte  sprach,  rissen 
die  Wolken  um  ihn  her  auseinander  und  zerstoben  in  namenlose  Fernen 
vor  dem  Donner  seines  Mundes,  da  er  doch  flüsterte  und  raunte;  und  der 
Donner  seines  Mundes  war  auf  der  Erde  vernehmbar  als  ein  weites  Schwei- 
gen des  Entsetzens."  —  Läutet  nicht  das  Zauberglöcklein  der  poetischen 
Prosa  nur  noch  im  Tanzlegendchen  so  voll  und  rein  ?  Und  doch  hat  Hans 
Hoffmanns  Art  und  Kunst  kaum  etwas  Epigonenhaftes;  er  umkreist  nicht 
als  bescheidener  Trabant  nur  mit  erborgtem  Lichte  leuchtend  den  glänzen- 

628 


deren  Planeten;  er  zieht  seine  Bahn  als  kleineres,  aber  nicht  minder  eigen- 
artiges Gestirn,  das  gelegentlich  einen  Strahl  eines  andern  hascht  und  in 
neuer,  wundervoller  Brechung  zurückwirft. 

Die  ganze  stufenreiche  Skala  der  verschiedenen  Töne  seiner  Dichtung 
erklingt  in  Hans  Hoffmanns  nachgelassenen  vollendeten  und  unvollendeten 
Märchen  und  Novellen,  die  Carl  Schüddekopf  in  Zeitungen  und  Zeit- 
schriften und  im  Arbeitszimmer  des  Dichters  selbst  eingefangen  hat^).  Nach- 
gelassenes? Bruchstücke?  Rümpfen  Sie,  bitte,  die  Nase  nicht!  denken  Sie 
nicht  an  die  dürren  Späne  und  Schnitzel,  die  übereifrige  Gelehrtengründ- 
lichkeit in  den  Werkstätten  großer  Toter  zusammenzuscharren  und  zu  un- 
erfreulichen Haufen  zu  schichten  pflegt!  In  diesem  Buche  steht  nichts, 
was  uns  nicht  seines  Geistes  Hauch  verspüren  ließe;  Mären  wie  das 
grandios-schaurige  Harzmärchen  „Goslar"  oder  das  ulkige  Capriccio  „Der 
Forschungsreisende"  bleiben  auch  als  Torsen  wertvolle  Dokumente  für  die 
packende  Stimmungskunst  und  den  geistvollen  Übermut  eines  begnadeten 
Erzählers.  Ein  alter,  morscher  Mann  kann  diese  Geschichten  nicht  ge- 
schrieben haben ;  nur  die  Dichtung  des  innerlich  Jungen  kennt  den  wuchtig 
hämmernden  Pulsschlag  großer  Leidenschaft,  der  in  der  Novelle  „Der  Dolch" 
und  im  einen  und  andern  Märchen  pocht;  nur  der  unverbrauchten  Jugend- 
frische ist  die  ausgelassene,  mitunter  selbst  zu  einem  lustigen  Purzelbaum 
aufgelegte  Laune  und  daneben  die  wunderbar  zarte  Stimmung  eigen,  die 
den  Märchen  Glanz  und  Farbe  verleihen.  Da  und  dort  entzückt  ein  süperber 
Einfall:  so  stellt  Hoffmann  den  Teufel  als  Verwalter  eines  Standesamtes 
für  die  Hässlichen  oder  als  liebegirrenden  Freier  vor,  der  freilich  den  Schweif 
vorsichtig  in  der  Rocktasche  birgt,  oder  er  lässt  einen  naturwissenschaftlich 
gebildeten  Zwerg  irgendwo  im  Wald  einen  Strohhut  und  einen  Strickbeutel 
finden  und  daraus  in  feierlichem  Kathederton  mit  dem  Finger  an  der  Nase 
die  scharfsinnigsten  Schlüsse  auf  die  mutmaßliche  Art  der  Wesen  ziehen, 
denen  diese  Gegenstände  gehören.  Einmal  gelingt  ihm  auch,  freilich  als 
Nachhall  einer  früheren  Wendung,  ein  feines  Bonmot:  „Sie  lernte  es  immer 
besser,  dass  kein  Mensch  anders  kann,   als  den  lieben,  dem  er  wohltut." 

Das  erste  Märchen  vor  allem,  das  dem  ganzen  Band  den  Namen  ge- 
geben, gehört  zum  Duftigsten,  was  die  deutsche  Märchenpoesie  seit  Mörike 
gezeitigt  hat;  der  magnetische  Rapport  wirkt  in  der  traumhaft-verklärten 
Welt  dieser  Dichtung  rein  poetisch,  nicht  im  geringsten  krankhaft,  wie 
etwa  in  Storms  seltsamer  Altersnovelle  „Ein  Bekenntnis".  Die  Seele  der 
jungen  Gräfin  Gerhildis  schwebt,  während  der  Körper  regungslos  an  der 
Seite  des  Gatten  liegt,  durch  die  Einsamkeit  der  Wälder  und  Obstgärten. 
Eines  Tages  reitet  ein  Gast  durchs  Burgtor,  der  Ritter  Zeno,  aber  er  und 
Gerhildis  erschrecken  beide,  wie  sie  sich  grüßen:  sie  haben  sich  im  Sonnen- 
land ihrer  Träume  schon  gesehen,  und  das  scheint  ihnen  schweres  Unheil 
zu  verheißen.  Doch  der  Hausherr  zwingt  den  Gast  zum  Bleiben.  Da  meldet 
ihm  am  nächsten  Morgen  der  Torwart,  Zeno  und  Gerhildis  haben  beim 
Mondschein  das  Schloss  gemeinsam  verlassen,  und  doch  hat  der  Schlaflose 
die  ganze  Nacht  auf  dem  Antlitz  des  schlummernden  Weibes  nach  huschen- 
den Träumen  gespäht,  und  Zenos  Waffenknecht  hat  seinen  Herrn  geruhsam 
schnarchen  hören.  Am  folgenden  Morgen  aber  berichtet  der  neue  Wächter 
dasselbe,   und  wie  die  beiden  selbst  starken  Eisenbanden   vor  den  Türen 

')  Das  Sonnenland  und  andere  Erzählungen  aus  dem  Nachlass  von  Hans  Hoffmann. 
Zweite  Auflage.    München  und  Leipzig  bei  Georg  Müller. 

629 


trotzen,  geht  Graf  Eckart,  selber  die  Wacht  am  Burgtor  zu  halten.  Um 
Mitternacht  öffnet  sich  das  hohe  Tor  lautlos,  und  schwebenden  Ganges 
gleiten  Frau  Gerhildis  und  Ritter  Zeno  an  dem  Erstarrenden  vorbei;  jäh- 
lings stürmt  er  den  Liebenden  nach,  die  sich  eng  umschlungen  halten 
und  ihn  mit  großen,  stummen  Augen  anblicken,  stößt  Gerhildis  das  Schwert 
ins  Herz  und  spaltet  Zeno  den  Schädel.  .,Deutlich  sah  er  die  grässlichen 
Wunden;  allein  die  Getroffenen  sanken  nicht  zur  Erde,  sondern  beide  Ge- 
stalten hoben  sich  auf  und  schwebten  in  der  Mondeshelle  weiter  und  weiter 
und  entschwanden  seinen  Blicken  als  ein  weißschimmerndes  Wölkchen. 
Verstört  betrachtete  er  sein  wuchtiges  Schwert:  und  siehe,  es  blinkte  licht 
und  war  rein  von  allem  Blute."  Zu  Hause  aber  findet  er  Zeno  gespaltenen 
Hauptes  auf  dem  Lager,  und  im  ehelichen  Gemache  liegt  Gerhildis  mit 
durchbohrtem  Herzen. 

Wie  so  manchem  andern  großen  Erzähler  hat  Julius  Rodenbergs 
„Deutsche  Rundschau",  wo  man  noch  heute,  wie  Keller  dem  Freunde  Storm 
schrieb,  „immer  sicher  ist,  gute  Musik  zu  hören  und  feine  Weinlein  zu 
trinken",  auch  Hans  Hoffmann  eine  Heimstatt  gewährt;  hier  ist  nach 
dem  Tode  des  Dichters  die  muntere  und  geistvolle  Stammtischplauderei 
„Vox  populi"  erschienen,  die  Hoffmanns  Lieblingsthema:  die  unkurierbare 
Sündhaftigkeit  und  daneben  die  Seelengüte  des  Menschen  illustriert.  „Es 
ist  nicht  anders,  wir  sind  allzumal  Sünder!"  konstatiert  der  Landgerichts- 
rat Meinecke,  ohne  deshalb  selbst  besonders  peinliche  Gewissensbisse  zu 
verspüren,  und  wenn  die  Stimme  des  Volkes,  das  Schwurgericht,  in  sittlicher 
Entrüstung  den  sozialistischen  Brandstifter  von  aller  Schuld  freispricht,  weil 
er  durch  seine  Tat  seine  und  seiner  Braut  Ehre  vor  dem  reichen  Wüstling 
gerettet  hat,  so  heuchelt  sie  im  Grunde  genommen  sich  selbst  ein  Maß 
von  Tugend  vor,  das  sie  gar  nicht  besitzt.  Cosl  fan  tutti.  Heuchelei  aber 
ist  borniert  oder  feig. 

Noch  ein  zweites  hasst  Hans  Hoffmann:  das  geistige  Beharrungs- 
vermögen der  Menge,  der  für  göttlich  gilt,  was  grau  vor  Alter  ist. 

Ich  sehe  Brauch  und  Sitte  Überliefrung  lutschen. 
Vor  tausendjährgem  Unsinn  Ehrerbietung  rutschen, 

grollt  Harpalyke  in  Spittelers  Olympischem  Frühling;  aber  wehe  dem,  der 
der  Macht  der  Tradition  zu  widerstehen  wagt!  seiner  harrt  das  Schicksal 
des  jungen  Nix  im  Märchen  „Der  Väter  Satzung",  der  dem  ererbten  Glauben, 
dassderNix  den  Glanz  der  Sonne  außerhalb  des  Wassers  nicht  auszuhalten 
vermöge,  in  seiner  verzehrenden  Sehnsucht  nach  Licht  und  Wärme  straflos 
trotzt,  aber  als  Frevler  von  Seinesgleichen  verstoßen  wird  und  an  seiner 
Einsamkeit  langsam  zugrunde  geht. 

Im  Kern  seines  Wesens  war  Hans  Hoffmann  wohl  Pessimist,  wie  so 
mancher  humoristische  Dichter.  Einer  so  tiefen  Natur  musste  jener  faden- 
scheinige Optimismus  fremd  bleiben,  der  die  ganze  Welt  mit  rosigem  Guss 
überzuckert;  aber  dem  Künstler  war  es  gegeben,  sich  seine  Welt,  sein 
Sonnenland  zu  schaffen,  wo  „aller  Wesen  unharmonische  Menge"  nicht  mehr 
„verdrießlich  durch  einander  klingt",  wo  die  Schönheit  herrscht  und  —  das 
befreiende  Lachen.  Wie  ein  Abschiedswort  Hans  Hoffmanns  selbst  klingen 
Anna  Ritters  Verse,  die  den  Band  würdig  präludieren : 

ich  komme  heim  aus  dem  Sonnenland. 
Ich  bin  den  ganzen  blühenden  Tag 
In  lauter  Schönheit  gegangen. 
ZÜRICH  MAX  ZOLLINGER 

630 


LE  REVEIL  DE  L'ESPRIT  NATIONAL  EN  FRANCE 

(CARNET  D'UN  SPECTATEUR) 

Je  ne  crois  pas  qu'en  France  roplnion  publique,  cette  dominante  dans 
la  gamme  des  idees,  se  manifeste  aussi  souvent  qu'en  Suisse,  et  avec 
autant  de  succes.  En  Suisse,  la  mediocre  etendue  du  pays,  ses  institutions 
et  ses  mcEurs  democratiques  fönt  que  les  pouvoirs  publics  sont  plus  endins 
ou  plus  obliges  qu'ailleurs  ä  se  laisser  conduire  par  la  voix  du  peuple,  qui 
est,  comme  chacun  sait,  la  voix  de  Dieu.  Et  comme  la  crainte  de  Dieu  est, 
pour  le  politicien,  le  commencement  et  meme  la  totalite  de  la  sagesse,  les 
hommes  d'Etat  suisses  repondent  plus  volontiers  ä  l'appel  de  cette  voix 
quelquefois  tyrannique,  parfois  salutaire. 

En  France,  pour  des  raisons  contraires,  l'elu  se  sent  tres  distant  de 
l'electeur,  et  quand  il  y  a  des  comptes  ä  rendre  au  peuple-roi,  le  quart 
d'heure  de  Rabelais  s'ecoule,  sans  qu'on  y  prenne  garde  dans  une  envol^e 
d'eloquence.  Mais  si  l'opinion  publique  parle  moins  souvent,  eile  parle  plus 
haut,  car  les  sentiments  longtemps  contenus  explosent  plus  bruyamment. 

Les  contradictions  de  l'opinion  y  sont  plus  apparentes  aussi,  de  sorte 
que  Jaures  qui,  il  y  a  un  an,  etait  salue  ä  Bordeaux  d'acclamations  formi- 
dables,  ne  recueillerait  aujourd'hui  que  des  sifflets  et  des  outrages. 

On  a  pretendu,  ä  une  epoque  de  lüttes  religieuses,  que  !a  France 
oscillera  toujours  entre  le  clericalisme  et  ranticiericalisme.  Cette  affirmation 
reijoit  un  singulier  dementi  puisqu'on  voit  pratiquer  actuellement  la  politique 
d'apaisement  prechee  naguere  parM.  Briand.  Maison  pourrait  tout  aussi  bien 
affirmer  aujourd'hui  que  la  France  oscillera  sans  cesse  entre  le  nationa- 
lisme  et  l'internationalisme.  11  est  certain  que  le  pacifisme  antimilitariste, 
apres  avoir  connu  de  beaux  jours,  est  en  forte  baisse,  tandis  que  le  reveil 
de  l'esprit  national  se  manifeste  de  fagon  indeniable. 

Temoin  de  cette  houle  sur  la  mer  changeante  de  l'opinion,  j'ai  note 
sans  passion  ces  palpitations  de  l'äme  fran^aise.  Qu'on  ne  prenne  les  lignes 
qui  suivent  que  comme  des  instantanes  de  moments  fugitifs  de  l'histoire 
contemporaine,  sans  y  chercher  aucune  intention  de  louange  ou  de  bläme. 
Cependant,  sans  vouloir  tirer  des  conclusions  ou  une  morale  des  evene- 
ments,  on  ne  peut  s'empecher  de  constater  la  fuite,  ou  plutot  l'alternance 
rapide  des  idees  collectives,  et  combien  les  foules  evoluent  vite,  plus  vite 
meme  que  les  individus,  quelque  paradoxale  que  semble  cette  assertion. 
Ainsi,  pour  parier  de  l'expression  la  plus  criante  de  rinternationalisme,  oü 
est  M.  Herve  et  son  fameux  furnier  dans  lequel  il  plantait  le  drapeau? 
Est-il  alle  rejoindre  en  exil  le  roi  Pataud  qui  fut  maitre  de  la  lumiere  et 
des  tenebres  de  Paris?  .  .  . 

Dans  quelques  annees,  quand  la  ferveur  patriotique  aura  ete  satisfaite 
et  qu'une  autre  vague  l'aura  couverte  et  remplacee,  on  regardera  avec 
curiosite  peut-etre  ces  tableaux  de  la  vie  publique  ä  Bordeaux  pendant  ces 
derniers  mois : 


631 


Place  Pey-Berland,  devant  la  Cathedrale;  quatre  heures  de  l'apres- 
midi.  —  Des  placards  tricolores  ont  invite  les  patriotes  ä  venir  conspue'r 
ä  la  sortie  de  son  cours,  M.  Ruyssen,  „honte  de  l'Universite". 

M.  Ruyssen,  professeur  de  droit  et  pacifiste  notoire,  est  alle  donner 
une  Conference  en  Alsace,  sous  les  auspices  d'une  societe  allemande,  pour 
y  precher  l'entente  franco-allemande.  II  n'a  pas  craint  de  repudier  toute 
idee  de  revanche,  c'est-ä-dire  de  reprise  par  la  force  des  pays  annexes 
en  1871. 

Les  membres  de  I'Action  fran^aise  peuvent  etre  Contents:  la  place 
Pey-Berland  est  noire  de  monde,  de  „patriotes"  accourus  ä  leur  appel.  11 
y  a  plus  de  spectateurs  que  d'acteurs,  bien  sür.  Les  rues  aboutissantes 
sont  barrees;  sur  la  place,  des  gendarmes  ä  cheval  circulent  sans  cesse 
pour  empecher  la  formation  de  corteges.  Aimez-vous  les  agents?  on  en  a 
mis  partout. 

M.  Ruyssen  ne  parait  pas  en  scene:  la  semaine  passee,  les  patriotes 
lui  ont  fait  une  conduite  de  Grenoble  ä  la  sortie  de  son  cours,  et  toutes 
les  mesures  sont  prises  pour  qu'il  puisse  rentrer  incognito  ä  la  maison. 
La,  il  n'y  sera  pas  tranquille  du  reste,  et  des  fanatiques  iront,  au  nom  de 
la  Patrie  outragee,  deposer  des  ordures  dans  sa  boTte  aux  lettres. 

Cependant  la  manifestation  ne  presente  encore  aucun  caractere 
d'emeute.  Une  elegante  dame  dit  ä  son  fils,  jeune  etudiant  qui  l'avait  invi- 
vitee  en  lui  promettant  un  spectacle  avec  coups  et  blessures  au  programme: 
„Je  m'en  vais;  cela  ne  se  dessine  decidement  pas  aujourd'hui."  Delicieuse 
naVvete  d'une  mondaine  pressee. 

Je  m'approche  de  quelques  groupes  reunis  sur  le  trottoir  et  oü  Ton 
discute;  je  recueilie  ces  propos:  „Permettez  .  .  .  Ruyssen  a  raison  .  .  . 
Tant  que  TAllemagne  .  .  .  C'est  indigne  qu'un  professeur  frangais  .  .  . 
Monsieur,  vous  n'etes  qu'un  gamin !  .  .  ." 

.  Ceux-ci  sont  des  spectateurs  et  non  des  manifestants.  En  general  on 
bläme  M.  Ruyssen  d'avoir  mal  choisi  son  moment  pour  parier  d'entente, 
alors  que  l'AUemagne  renforce  ses  armements ;  qu'il  n'appartient  pas  ä  un 
Fran^ais  de  precher  en  Alsace  le  renoncement  ä  l'ancienne  patrie  et  de 
briser  le  reve  du  retour  ä  la  France  .  .  . 

Lä-bas,  au  fond  de  la  place,  des  huees  montent,  des  sifflets  eclatent. 
Des  militants  socialistes  se  sont  masses  pour  contre-manifester:  „Vive 
Ruyssen!  A  bas  la  calotte!  Hou !  Hou!"  clament-ils  en  cadence.  Les  came- 
lots  du  roi  ripostent,  tandis  que  les  commer(;ants,  apeures,  ferment  en  häte 
les  volets  de  leurs  magasins.  Les  deux  groupes  sont  lä,  en  presence, 
montrant  une  egale  ardeur,  une  meme  exaltation.  Les  Idees-Forces  vont- 
elles  precipiter  ces  hommes  les  uns  contre  les  autres,  ces  etudiants  contre 
ces  ouvriers  sur  le  parvis  de  la  cathedrale? 

Au  moment  oü  retentit  l'Internationale,  les  nationalistes  brandissent 
un  drapeau  tricolore  qu'ils  ont  reussi  ä  dissimuler  jusqu'ici.  Les  agents 
de  police,  comme  une  sombre  muraille  mouvante,  se  mettent  en  marche. 
Autour  du  porte-drapeau  se  serrent  ses  partisans.  Un  agent  veut  enlever 
l'embleme  qui  peut  provoquer  l'effusion  du  sang,  mais  les  jeunes  gardes 
se  passent  le  drapeau  de  main  en  main.  Je  le  vois  s'incliner  comme  un 
fetu  qui  va  etre  englouti  par  l'eau,  mais  bientöt  il  se  redresse  victorieuse- 
ment  au-dessus  de  ces  tetes  echauffees  et  de  ces  mains  tendues.    La  ba- 

632 


garre  est  dechainee.  Les  sifflets  font  rage,  D'immenses  huees  accom- 
pagnent  le  flot  des  manifestants  qui  roule. 

Entr'acte.  —  Deux  agents  emmenent  un  petit  jeune  homme  de  bonne 
famille.  Son  vetement  est  dechire,  son  faux-col  pend,  lamentable;  il  est 
nu-tete.  Qu'importe:  son  visage  est  rayonnant,  car  il  va  etre  conduit  au 
poste,  et  demain  son  nom  sera  dans  tous  les  journaux.  Pour  un  peu  il 
embrasserait  ces  braves  agents,  Instruments  aveugles  de  sa  gloire  future, 
bien  qu'ils  l'aient  cueilli  un  peu  rudement.  C'est  ainsi  que  devaient  etre  les 
martyrs  chretiens,  et  leur  face  illuminee  n'avait  sans  doute  pas  d'expression 
plus  suave  et  plus  joyeuse. 

Un  jeune  gargon  s'ecrie:  „11  y  a  longtemps  qu'ä  Bordeaux  on  n'a  pas 
rigole  autant  que  cela!"  Madame,  belle  madame,  qui  tout  ä  l'heure  mani- 
festiez  votre  chagrin  de  ne  rien  voir  venir,  que  n'etes-vous  restee?  Voici 
du  sang  ä  terre,  du  sang  humain  .  .  . 

La  manifestation  s'eloigne  et  s'eparpille.  Le  commissaire  de  police  du 
quartier  soupire  de  satisfaction.  II  öte  son  echarpe  et  la  met  dans  sa 
poche:  qu'on  se  cogne  plus  loin,  cela  ne  le  regarde  plus. 


Le  Jardin  Public,  ä  dix  heures  du  soir.  —  Le  concert  miütaire  touche 
ä  sa  fin.  On  attend  avec  impatience  Le  Reve  passe,  marche  chantee.  C'est 
un  tableau  militaire  en  trois  Couplets  dont  les  spectateurs  fredonnent  le 
refrain  avec  les  soldats.  On  applaudit  frenetiquement,  et  le  chef  de  mu- 
sique  est  oblige  de  faire  recommencer. 

J'ai  vu  le  meme  enthousiasme  accompagner  les  retraites  militaires  du 
samedi,  retablies  par  M.  Millerand.  La  veille  du  Quatorze-Juillet  ce  fut  du 
delire:  Filles  et  gart^ons  precedaient  la  troupe,  bras-dessus  bras-dessous. 
Parmi  la  nuee  indispensable  des  gamins,  des  couples  ä  l'air  heureux,  des 
enfants  portes  sur  les  bras  ou  sur  les  epaules  de  robustes  ouvriers.  Ces 
proletaires  paraissent  tout  aussi  „conscients"  que  ceux  enröles  sous  le  dra- 
peau  rouge.  Tout  cela  ne  marche  pas,  mais  court  en  une  poussee  joyeuse, 
comme  si  la  troupe  allait  ä  la  frontiere.  Je  note  ce  diagnostic:  Fievre  pa- 
triotique,  40  degres;  tendance  au  chauvinisme.  Actions  de  la  Societe  Jau- 
res  et  C>e  tombees  ä  zero.  La  Banque  du  Pacifisme  suspend  ses  paie- 
ments  et  ferme  ses  guichets. 

Voici  la  composition  d'un  programme  de  concert  public  donne  le 
quatorze  juillet  par  une  musique  de  regiment:  Apres  l'indispensable  Mar- 
seillaise: Marche  lorraine,  Au  Pays  lorrain,  Carillon  lorrain,  Fete  mili- 
taire, Seines  alsaciennes,  Charit  du  de'part. 

Ce  choix  de  morceaux  n'est  point  du  au  hasard.  II  n'etonnera  certes 
pas  ceux  qui  savent  que  depuis  un  ou  deux  ans  l'Alsace  a  ses  entrees  dans 
la  litterature,  le  theätre  et  le  music-hall. 

Malgre  tout,  pas  le  moindre  petit  general  Boulanger  ä  l'horizon.  Une 
tentative  de  dictature  militaire  sombrerait  dans  le  ridicule.  Decidement.  ce 
patriotisme  est  vaillant  et  sain  sans  etre  querelleur. 


Au  cercle  Gambetta,  un  publiciste  alsacien,  M.  Hinzelin,  donne  une 
Conference  sur  L'Ame  et  VEsprit  de  l'Alsace  et  de  la  Lorraine.  Le  Pre- 
sident, apres  avoir  salue   la  presence  des  eminents  deputes  et  senateurs 

633 


qui  .  .  .  que  .  .  .  etc.,  fait  allusion  au  Service  de  trois  ans.  Applaudisse- 
ments.  Le  Conferencier  viole  ä  son  profit  la  consigne  donnee  par  Qam- 
betta:  „N'en  parlons  Jamals,  pensons-y  toujours!"  II  en  parle  beaucoup, 
certes,  mais  y  pense-t-ii  parfois?  II  se  borne  ä  raconter  des  anec- 
dotes  destinees  ä  montrer  le  germanisme  impuissant  et  bafoue  en  Al- 
sace.  Les  traits  pleuvent  sur  Guillaume  II  et  sur  ses  fonctionnaires.  L'as- 
sistance,  composee  de  personnes  admises  sur  invitation,  est  en  joie.  En 
somme,  patriotisme  de  pacotille  qui  exciterait  bien  vite  une  foule  ä  crier: 
,.A  Berlin,  ä  Berlin!"  Je  pense,  par  contraste,  ä  l'enquete  loyale  et  brillante 
que  vient  de  publier  M.  Georges  Bourdon,  du  Figaro,  apres  avoir  interroge 
les  hommes  marquants  de  l'Allemagne  sur  les  relations  franco-allemandes. 
Quand  on  a  lu  ce  livre,  il  est  difficile  de  croire  ä  la  legende  de  l'Ogre 
allemand  que  les  caricaturistes  nous  ont  dessine  ne  mangeant  que  de  la 
choucroüte  avec  des  petits  Fran<;ais  dedans. 

Du  reste,  en  ecoutant  le  peuple,  en  tramway,  dans  la  rue,  il  n'est  pas 
rare  d'entendre  parier  de  guerre  prochaine,  inevitable:  „1!  faudra  que  cela 
eclate  un  jour,  et  que  les  comptes  se  reglent.  Puisqu'„ils"  le  veulent  .  .  ." 
L'empereur  allemand  est  devenu  pour  le  peuple  le  Symbole  du  panger- 
manisme  agressif.  Les  manifestations  personnelles  de  Guillaume  II,  col- 
portees,  denaturees  souvent,  ont  fait  du  souverain  une  sorte  de  guignol- 
croquemitaine:  „Ah!  ce  Guillaume,  qu'il  y  vienne  donc!"  Et  j'entendais 
cette  declaration  rassurante  d'un  charpentier:  „II  n'y  viendra  pas,  car  si 
nous  f.  .  .  les  Prussiens  ä  bas,  alors  plus  de  Guillaume!"  Lors  du  jubile 
de  l'empereur,  le  Journal  le  plus  important  de  la  ville  a  reproduit  un  seul 
article  de  la  presse  allemande:  celui  du  Vorwärts,  ün  aurait  pu  traduire 
avec  plus  de  soin  et  de  complaissance  la  mentalite  allemande  en  cette 
memorable  circonstance.  Cependant  des  centaines  (de  sujets)  de  „Guil- 
laume", employes  de  commerce,  gagnent  en  toute  securite  leur  vie  ä  Bor- 
deaux, et  personne  n'aurait  l'idee  de  les  molester. 


Ce  n'est  pas  qu'il  n'y  ait  queique  ecume  sur  la  vague  nationaliste  qui 
passe:  L'autre  dimanche,  Carpentier,  le  Champion  de  boxe  s'exhibe  devant 
plus  de  10,000  spectateurs.  Le  soir,  ses  amis  —  lezards  qui  se  chauffent 
au  soleil  de  sa  gloire  —  le  menent  ä  l'Alhambra.  A  son  entree,  l'orchestre 
du  music-hall  interrompt  un  couplet  joyeux  et  attaque  la  Marseillaise. 
Les  petites  femmes  de  la  Revue  restent  la  jambe  en  l'air,  une  partie  des 
spectateurs  se  levent  pour  acclamer  ce  chef  d'Etat  nouveau  style,  tandis 
que  les  autres  maugreent  contre  cette  deification  intempestive. 

Dernier  Symptome:  M.  Jean  Richepin  sera  candidat  ä  la  Chambre. 
Le  farouche  auteur  des  Blasphemes,  mue  en  Conferencier  des  Annales,  se 
sent  une  irresistible  vocation  de  representant  du  peuple.  II  a  confie  ä  un 
redacteur  du  Temps  qu'ayant  voue  un  culte  ä  Napoleon,  il  sera  napoleo- 
nien,  mais  point  bonapartiste.  Qu'on  se  le  dise,  et  qu'on  se  rejouisse  de 
voir  M.  Richepin,  heraut  de  la  renaissance  nationale,  emboucher  la  trom- 
pette  epique  restee  sans  titulaire  depuis  Victor  Hugo! 

BORDLAUX  WIELAND  MAYR 

aao 

634 


EIN  ITALIENISCHER  NOVELLENBAND 

Vor  kurzem  wies  in  einem  zürcherischen  Blatte  Fräulein  Baragiola, 
die  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  nicht  vorgestellt  zu  werden  braucht,  auf 
einen  Band  Novellen  von  einem  der  Jüngern  italienischen  Schriftsteller, 
Mario  Puccini,  hin.  Die  Anzeige  weckte  die  Begier,  selber  mit  diesem  Band 
Bekanntschaft  zu  machen.  Als  Ferienlektüre  begleitete  er  mich  in  die  Berge. 
Es  sei  gestattet,  ein  paar  Worte  zu  diesen  Novellen  zu  äußern. 

La  Viottola  lautet  der  Titel.  „Vom  Wege  ab"  ließe  er  sich  übersetzen. 
Zehn  Novellen  vereinigt  der  Band;  die  größte,  Lisetta,  nimmt  den  vierten 
Teil  der  230  Seiten  ein.  Noch  eine  zweite  ist  von  beträchtlichem  Umfang, 
die  „Kleinen  Siege".  Beide  geben  für  mein  Empfinden  zugleich  mit  den 
besten  Begriff  von  dem  starken  Talent  des  Verfassers.  Lisetta  schildert 
das  Los  eines  kräftigen,  strotzenden  Bauernmädchens,  das,  als  vaterlose 
Waise  in  einem  Kloster  auferzogen,  erst  der  Arbeit  auf  dem  Lande,  bei 
ihrer  Mutter,  sich  widmet  und  dabei  in  eine  Liebschaft  mit  einem  Bauern- 
sohn hineingerät,  die  aber  zu  keinem  legitimen  Ende  führt,  da  der  Vater 
des  Liebhabers  nichts  von  einer  Verbindung  mit  dem  armen  Mädchen  wissen 
will  und  den  Sohn  nach  Amerika  schickt.  Enttäuscht  und  getäuscht  nimmt 
Lisetta  eine  Stelle  als  Magd  in  Rom  an.  Ihr  heißes  Blut  treibt  sie  einem 
aridern  Mann  in  die  Arme,  der  ihr  auf  die  Ehe  Hoffnung  macht,  sie  aber 
dann  skrupellos  sitzen  lässt.  Sie  kommt  um  ihre  Stelle  und  fällt  nun  in 
ihrer  völligen  Ratlosigkeit  einem  ruchlosen  Weibe  in  die  Hände,  das  sie 
auf  den  Weg  der  käuflichen  Liebe  leitet.  Meisterhaft  ist  dieses  allmähliche 
Heruntergleiten  geschildert,  sachlich,  mit  grausamer  Logik ;  aus  dem  Einzel- 
fall wird  ein  typisches  Geschehen.  Ergreifend,  wie  Schritt  um  Schritt  das 
Versinken  des  armen,  guten  Mädchens,  das  seiner  Sinnlichkeit  nicht  Herr 
wird,  geschildert  ist.    Unwillkürlich  denkt  man  an  Maupassant. 

Und  der  Name  des  großen  Franzosen  stellt  sich  bei  der  Lektüre  des 
Bandes  immer  wieder  ein.  In  der  Art  zum  Beispiel,  wie  in  die  Misere  und 
Vulgarität  menschlichen  Erlebens  und  Geschehens  komische  Lichter  hin- 
einblitzen; wie  der  Eindruck  des  Tragikomischen  erweckt  wird.  Daist 
unter  anderm  eine  Novelle  Ribellione  postuma,  eine  Bauerngeschichte,  die 
sich  jederzeit  auch  in  der  normannischen  Bauernwelt  Maupassants  ab- 
spielen könnte.  Eine  Bäuerin  wird  zum  drittenmal  Witwe.  Bei  ihren  Ehen 
hat  sie  sich  stets  stark  von  materiellen  Interessen  leiten  lassen  und  darum 
lieber  die  Hand  einem  Alten  gereicht,  der  etwas  hat,  als  einem  Jungen,  der 
nur  ihren  sinnlichen  Wünschen  genügt  hätte;  freilich  auch  auf  deren  Befrie- 
digung hat  sie  deshalb  nie  verzichtet  und  sich  aus  Nebenwegen,  um  ihre 
Lust  zu  büßen,  nichts  gemacht.  Ihr  dritter  Mann  hat  darum  gewusst.  Eifer- 
süchtig bin  ich  nicht,  hatte  er  zu  seiner  Frau  gesagt;  mach'  ganz  nach 
deinem  Willen;  ich  lasse  dich  frei;  nur  dass  ich  dich  dabei  nicht  er- 
tappe! Und  nun  ist  er  tot  und  das  Testament  wird  eröffnet.  Jetzt  aber 
kommt  seine  Rache.  Die  Frau  soll  all  seine  Habe  erben,  jedoch  unter  der 
Bedingung,  dass  sie  ihrem  Liebhaber,  einem  jungen  Taugenichts,  den  die 
Witwe  durchaus  nicht  zum  Gatten  haben  möchte,  heirate  und  dessen  alte, 
gebrechliche  Mutter  ins  Haus  nehme.  Geht  sie  auf  diese  Bedingungen  nicht 
ein,  so  soll  das  Spital  der  Gegend  in  die  Erbschaft  eintreten.  So  rächt  er 
sich,  und  die  Wütende  mag  nun  zusehen,  wie  sie  es  halten  will.  Diese 
Szene  der  Testamentseröffnung  ist  von  einer  unübertrefflichen  Komik ;  man 
atmet  die  Luft  der  ächten  Komödie. 

035 


Noch  eine  Geschichte  ist  da  von  solch  grausamer  Komik.  //  ritmo, 
^Der  Rhythmus",  lautet  ihr  Titel.  Ein  Mann  erzählt  seinem  Freund  sein 
Ehepech.  Drei  Schwestern,  die,  stets  gleich  gekleidet,  durch  ihren  eleganten 
Zusammenklang  —  man  kann  es  nicht  anders  nennen  —  ihn  wahrhaft  ent- 
zückt haben,  sind  sein  Verhängnis  geworden.  Im  Grunde  ist  er  in  diese 
weibliche  Dreiheit verliebt,  aber  schließlich:  heiraten  kann  er  doch  nur  eine. 
So  wählt  er  eine.  Aber  nun  zeigt  es  sich,  dass  diese,  losgelöst  aus  dem 
Dreiklang,  der  ihn  berückt  hat,  das  trivialste  Wesen  der  Welt  ist,  mit  dem 
er  es  auf  die  Dauer  schlechterdings  nicht  aushalten  kann.  So  trennt  er 
sich  von  ihr.  Aber  er  braucht  die  Drei  nur  wieder  auf  der  Straße  zu  sehen 
in  ihrem  harmonisch  sich  wiegenden  Ensemble,  so  flammt  seine  Leiden- 
schaft wieder  auf:  lo  le  amo  disperatamente ;  er  liebt  sie  alle  drei;  aber 
sein  Glück  hat  er  verscherzt.  Jeder  Novellist  darf  Puccini  um  diesen 
Fund  beneiden. 

In  den  „Kleinen  Siegen"  wird  uns  ein  Musiker  vorgeführt,  der  in  einem 
toskanischen  Nest  als  maestro  di  musica  als  Leiter  einer  Harmoniemusik 
amten  soll.  Er  ist  todunglücklich  über  sein  Los.  Aber  seine  tapfere  Frau 
hilft  ihm  über  das  Schwierigste  hinweg.  Und  nach  und  nach  erobert  er 
sich  eine  angenehme  Stellung,  und  sein  Name  wird  in  der  Gegend  immer 
bekannter  als  Dirigent  und  auch  als  Komponist;  und  schließlich  ergattert 
er  sich  sogar  den  Cavalieretitel.  Aber  über  diesen  kleinen  Siegen  geht 
doch  das  Beste  in  dem  Musiker  zugrunde.  Indem  er  immer  mehr  an  seinen 
kleinen  ländlichen  Erfolgen  Genüge  findet,  entgleitet  ihm  die  große  künst- 
lerische Schaffenskraft.  Und  es  ist  ausgezeichnet,  wie  Puccini  gerade  dieses 
Versickern  der  eigentlichen  Begabung  des  Musikers  zum  Bewusstsein  bringt. 
Nicht  nur  der  Künstler  aber  schläft  in  dem  Musiker  ein,  auch  als  Mensch 
■wird  er  kleiner,  und  sein  letzter  Erfolg,  der  darin  besteht,  dass  er  den  Ein- 
zigen in  der  Ortschaft,  der  an  seiner  Begabung  als  Musikleiter  noch  immer 
zweifelt,  den  Schulmeister,  aus  seinem  Amte  wegbringt,  somit  künftig  völlig 
unangefochten  in  seinem  kleinen  Ruhm  sich  spiegeln  kann,  gerade  dieser 
letzte  Erfolg  bedeutet  seine  tiefste  ethische  Niederlage.  Das  ist  mit  einer 
feinen  Ironie,  einer  grausamen  Sachlichkeit  geschildert,  wie  sie  nur  einem 
echten  Psychologen  zu  Gebote  stehen. 

Diese  vier  Novellen  scheinen  mir  die  Höhepunkte  des  Bandes  zu 
bilden.  Aber  auch  in  den  andern  findet  man  eine  durchaus  eigenartige 
Erfindung  und  eine  Kunst  des  knappen  dramatischen  Erzählens,  die  dem 
Talent  des  Italieners  ein  glänzendes  Zeugnis  ausstellen.  So  stellt  das  Ganze 
ein  Buch  dar,  das  jedem  Freunde  moderner  italienischer  Novellistik  durch- 
aus empfohlen  werden  darf.  Der  Band  erschien  in  der  Collezione  econo- 
mica  di  romanzi  e  novelle  in  Ancona  bei  Giovanni  Puccini  &  Söhne.  Gut 
gedruckt  kostet  er  —  zwei  Lire.  In  deutschen  Landen  würde  er  sich  auf 
das  Doppelte  stellen. 

ZÜRICH  H.  TROG 

DEUTSCHE  LYRIKER  DES  19.  JAHRHUNDERTS 

Dieses  Buch ')  ist  eine  so  reiche  poetische  Lebensäußerung  und  ein 
so   wertvolles  Geschenk   an   die  Jugend,  dass  man  es  mit  einer  wahren 

')  Für  Schweiz.  Mittelschulen  ausgewählt  von  Dr.  Fritz  Enderlin  und  Dr.  Esther  Oder- 
matt,  Professoren  an  der  Höheren  Töchterschule  Zürich  unter  Mitwirkung  ihrer  Fachgenossen 
an  der  Anstalt.  Verlag  des  Kontors  der  Höheren  Töchterschule.  Zürich  1913. 

636 


Erregung  gespannter  Aufmerksamkeit  betrachten  und  durchsuchen  muss^ 
Aus  dieser  Notwendigkeit  stammen  die  folgenden  Gedanken  und  kritischen 
Meinungen. 

„Das  Buch,"  so  sagen  die  Herausgeber,  „will  die  Jugend  nicht  bloß  mit 
einer  Reihe  schöner  Gedichte  bekannt  machen,  sondern  ihr  bedeutende 
künstlerische  Persönlichkeiten  erschließen".  Dabei  galt  es,  ästhetische  und 
pädagogische  Rücksichten  zu  nehmen  und  tunlichst  zu  vereinigen.  Die 
Aufgabe  ist  trefflich  gelöst,  das  Resultat  eine  feine  Läuterung  der  Schön- 
heit ohne  Schwächung  ihres  Glanzes.  Ein  erhebender  Beweis  auch  wieder 
für  die  untadelige  ethische  Beschaffenheit  der  großen  Poesie!  Um  solche 
handelt  es  sich  mit  einigen  verschwindenden  Ausnahmen  in  diesem  Buche, 
das  mit  fünfzehn  Gruppen  ihrer  jeweiligen  Gedichte  Eichendorff,  Uhiand, 
Heine,  Lenau,  A.  von  Droste,  Hebbel,  Leuthold,  Mörike,  Storm,  Keller» 
Meyer,  Frey,  Lienert,  Spitteler  und  Liliencron  vertritt. 

Ich  muss  die  Gewalt  dieses  dichterischen  Gesamtchors  unbesprochen 
lassen  und  kann  die  Fülle  und  Verschiedenheit  der  Kulturwerte,  Weltan- 
schauungen, Landschaftsbilder,  Volksgeschicke  und  Dichterlose,  die  teil- 
weise so  interessante  Sonderung  der  Ausdrucksformen  und  Gefühlsweisen 
nach  nord-  und  süddeutsch,  deutsch  und  schweizerisch  nicht  aufzeigen, 
wie  sie  hier,  alles  in  allem  genommen,  die  Lebenskenntnis  und  Seelen- 
kunde und  das  künstlerische  Gefühl  den  Jugendformen  und  von  Grund  aus 
bestimmen  können.  Es  würde  zu  weit  führen.  Die  Wahl  der  Dichter  ist 
untadelig.  Die  Aufnahme  Fontanes  unterblieb  wohl  mit  Rücksicht  auf  den 
Raum. 

Die  einzelnen  Gedichtgruppen  sind  mit  Sorgfalt,  Liebe  und  künstle- 
rischem Bedacht  geordnet.  Es  zeigt  sich  das  Bestreben,  etwas  von  der 
Seele  der  Dichter  in  die  Art  zu  legen,  wie  die  Gedichte  sich  ablösen.  Das 
Charakterbild  ist  tunlichst  gerundet.  Einige  der  Eingangsgedichte  (vergleiche 
bei  Mörike,  Storm,  Spitteler)  wirken  prologartig,  nicht  wenige  handeln 
vom  Liede,  wobei  die  Dichter  ihres  eigenen  Liedes  Wesen  und  Herkunft 
fein  und  liebreich  bewegt  andeuten.  Aufs  reizendste  fügt  sich  hier  Lienerts 
„Nüd  schöinres  as  wänns  dimmred"  ein.  Man  wünschte  in  der  Reihe  der 
Leitgedichte  Kellers,  „Am  Himmelfahrtstage  1846"  zu  begegnen.  Es  ist 
schön,  wie  zum  Beispiel  bei  Uhiand  die  Landschaft  sich  lenzzart  meldet, 
aufblüht,  fromme  Menscheneinfalt  und  Treue  aufnimmt,  wiegt  und  zur 
Ruhe  bettet,  sich  romantisch  umfärbt  und  mit  dem  Schwertklang  und  Minne- 
sang der  alten  Zeit  füllt  und  wie  die  zarte  Empfindung  des  Dichters  selbst 
(„Droben  stehet  die  Kapelle")  mit  der  Herzhaftigkeit  seiner  alten  kecken 
kontrastiert.  Auch  die  Gedichte  Mörikes  sind  vorzüglich  geordnet.  Sein 
Gesamtbild  wogt  und  spielt  mit  süßer  Heftigkeit,  und  doch  darf  jeder  Ton,, 
sei  er  beschaulich,  wehmütig,  heiter,  selig  schwärmend,  mit  Weile  anschlagen 
vibrieren  und  verklingen.  Mich  wundert,  ob  der  Feuerreiter  als  der  arme 
Eiferer  gegen  die  Elementargewalt  der  Leidenschaft  schon  der  Jugend  kennt* 
lieh  gemacht  werden  könne;  bewirkt  nicht  der  Sinn,  so  bewirkt  das  Symbol 
eine  unvergleichliche  Gemütsbewegung.  Schade,  dass  nicht  genau  in  der 
Mitte  der  Sammlung  Mörike,  „als  auf  einer  Feuerleiter",  diese  fieberhafte 
Schönheit  aus  dem  in  Erhabenheit  beginnenden  und  in  einzig-schwäbischer 
Schalkheit  endigenden  Idyll  heraussteigt! 

Auch  Storm  steht  prächtig  da.  In  Absätzen,  die  ein  melodisch  schwel- 
lendes und  sinkendes  Leben  und  Kolorit  zeigen,  durchläuft  er  seine  Gebiete, 

637 


und  zwar  so,  dass  er  von  der  Heride  und  grauen  Stadt  am  Meer  in  die  blitzende 
Frühlingsbucht  auf-  und  von  dieser  mit  dem  Gang  des  Jahres  in  die  tiefste 
Herbstschwermut  niedersteigend,  über  Jubel  und  Klage  der  Liebe  hinweg 
und  durch  das  Familienglück  hindurch  am  Schlüsse  zu  seinem  gewaltigsten 
Stoffe,  dem  Schmerz  um  Schleswig-Holstein,  vorgedrungen  ist.  Wenn  noch 
„Sie  halten  Siegesfest,  sie  ziehn  die  Stadt  entlang"  aufgenommen  wäre,  so 
würde  die  vaterländische  Schwermut  Storms,  Kellers  „Wegelied"  und  Freys 
„Du  bist  das  Land"  in  einem  noch  helleren  Glanz  heben. 

Die  Auswahl  der  Gedichte  ist  bei  Eichendorff,  Uhland,  Lenau,  Heine 
Hebbel,  Leuthold,  Mörike,  Storm,  Meyer,  Keller  und  Lienert  vorzüglich.  Es 
könnte  bei  Meyer  statt  des  „Kaiserlichen  Schreibens"  eine  Ballade  wie 
„Die  Gaukler",  „Haruns  Söhne",  „Mit  zwei  Worten",  „Der  Stromgott",  , Kaiser 
Sigmunds  Ende"  oder  „Der  Rappe  des  Komturs"  stehen.  „Das  kaiserliche 
Schreiben"  zeigt  den  Dichter  nicht  in  seiner  vollen  Kraft.  Auch  gegen  die 
Wahl  der  „Sterbenden  Meduse"  habe  ich  ein,  natürlich  nicht  künstlerisches, 
Bedenken.  Das  Gedicht  übt  eine  quälend  dämonische  Wirkung  aus.  Nun 
sind  ja  gerade  bei  Meyer  so  viele  Stücke  zu  holen,  die  mit  ihrer  Serenität 
für  den  Genuss  durch  die  Jugend  wie  geschaffen  sind.  Gewiss  gehörte  ein 
mythologisches  Gedicht  in  das  Lesebuch;  wären  nicht  „Der  tote  Achill", 
„Der  Musensaal"  oder  „Nächtliche  Fahrt"  passend  gewesen?  Es  scheint  mir, 
der  Mi.„2nsaal  wäre  ein  Gegenstück  zu  Freys  „Kindern  der  Muße"  gewesen, 
da  beide  mit  so  hohem  Bildungswert  Götter  und  Genien  umspielen.  Beide 
zeigen  weltumfassende  Grazie  schweizerischen  Geistes. 

Ich  möchte  das  mit  viel  Einsicht  und  Liebe  gegebene  Bild  Gottfried 
Kellers  nicht  antasten  und  betrachte  die  folgenden  Bemerkungen  als  durch- 
aus unmaßgeblich.  Das  Gedicht  „Melancholie"  ist  für  junge  Leser  etwas 
schwer  verständlich.  Allerdings  soll  ja  gerade  bei  Keller  die  Schönheit  und 
Inbrunst  der  Trauer  hervorgehoben  werden,  aber,  wo  der  Raum  für  sein 
Bildnis  beschränkt  ist,  bedürfte  es  vielleicht  seines  offiziellen  Bekenntnisses 
.zur  Melancholie  nicht;  auch  seine  hoffnungsreichen,  getrosten  Gedichte 
sind  zu  tief,  als  dass  der  Untergrund  des  Schmerzes  verborgen  bliebe.  Und 
dann  sollten  nur  Gedichte,  die  ihm  kein  anderer  nachmachte,  in  einer  so 
kleinen  Sammlung  stehen:  „Jung  gewohnt,  alt  getan"  könnte  von  anderer 
Herkunft  sein.  Hier  war  es  ja  eine  Konzession  ans  Jugendbuch,  und  Lehre 
(hohe  Lehre!)  ist  allerdings  eine  der  speziellen  Gaben  Kellers.  In  großer 
Herrlichkeit  finden  wir  sie  in  „Ufenau"  und  ein  Wort,  wie  wir  es  kellerischer 
ethisch  für  das  Ohr  nicht  wünschen  können  („Heiter  leuchte,  Frühstern 
guten  Strebens,  Lass  mich  treu  in  deinem  Scheine  gehn !")  steht  in  „Jugend- 
gedenken". Einige  Sommerfarben  und  ein  wenig  Romantik  wäre  zu  der 
Sammlung  hinzuzuwünschen.  Beispiele:  „Sommernacht",  „Zur  Erntezeit  1", 
„Via  Mala",  „Gegenüber",  „Fahrende  Schüler",  „Gruß  der  Sonne".  Vielleicht  irre 
ich  mich  mit  der  Ansicht,  dass  der  Idealgehalt  von  „Am  Ufer  des  Stromes", 
wiewohl  Keller  selbst  im  Gedichte  einen  Jüngling  zum  Hörer  macht,  nur 
von  Alternden  voll  erfasst  werden  kann.  Bei  Frey  galt  es  hervorzuheben: 
•die  Bildkraft  und  Glut,  vermehrt  durch  visionären  Zustrom,  die  Klassik  der 
Darstellung  und  Sprache,  den  Wohllaut,  überhaupt  die  ungewöhnlich  starke 
Durchdringung  der  Poesie  mit  den  Schwesterkünsten,  die  Kunst  der  Ballade 
und  des  sangbaren  Liedes,  das  Temperament,  die  große  Vielseitigkeit,  das 
innige  Verhältnis  zur  schweizerischen  Heldenzeit  und  ihre  künstlerische 
Bewältigung  im  Sinne  des  schweizerischen  Genius.  Alle  diese  Werte  zeigen 

«38 


sich  in  der  hier  getroffenen  Auswahl.  Doch  härte  die  Wiricung  noch  etwas 
gekräftigt  werden  können.  Eine  Gruppe  vaterländischer  Gedichte  leitet  ein. 
Sie  umfasst  und  zeigt  Lobpreisung  und  erhabenes  Gelübde,  Zug  der  Ahnen 
durch  die  Augusthöhenfeuer,  die  Härte  und  Treue,  die  hitzige  Kampflust, 
das  Todesgrauen  der  Heldenzeit.  Die  dem  Dichter  eigene  Orgeltönigkeit, 
Sprachgewalt,  Bildstärke  und  vollkommene  Psychologie  der  alten  Schweizer 
tritt  hervor.  Das  Bollwerk  seiner  vaterländischen  Balladenkunst  trotzt  aus 
den  lyrischen  Gründen  des  Buches  empor.  Die  Totenfahrt  der  Helden  geht 
durch  ein  starkes  Abendrot.  Bilder  ekstatisch  umflammter  Not  und  Treue 
bezeichnen  überhaupt  den  Dichter: 

Und  herrisch  stapft  der  Trommelschlag 
In  den  feuergoldnen  Oktobertag! 

Diese  Verse  stehen  in  dem  Gedichte  „Die  Bestattung  des  Dreibünden- 
generals. 1)  Mit  großem  Rechte  wäre  der  Platz  von  „Themis"  diesem  kaum 
20  Zeilen  längeren  Stücke  überlassen  worden.  Eine  mannhafte  Schar,  vom 
Kriegselend,  dem  ihr  tapferer  Wille  trotzt,  gezeichnet  —  markanter  kann 
die  Bedeutung  Freys  der  Jugend  überhaupt  nicht  eingeprägt  werden. 

In  der  ersten  Gruppe  hätte  auch  statt  oder  lieber  neben  „Brandolf 
von  Stein"  „Zinnentanz"  stehen  sollen.  Es  ist  malerischer  und  konzen- 
trierter und,  da  der  Untergang  nicht  nur  mannhaft,  sondern  mit  dem  alt- 
schweizerischen  wilden  Humor  erlitten  wird,  ein  Wegweiser  zum  heroischen 
Gehalt  der  Freyschen  Dichtung.  Der  von  den  Helden  überwundene  Schmerz 
ergreift  uns  um  so  tiefer,  als  wir  ihre  Lebensgüter  ihnen  noch  einmal  nahen 
und  entschwinden  sehen. 

Die  Totentänze  sind  gut  gewählt.  Nur  lässt  sich  darüber  nachdenken,  ob 
nicht  einer  von  ihnen  noch  einer  —  dann  außerschweizerischen  —  Ballade 
hätte  weichen  sollen.  Das  „Flämmchen"  z.  B.  der  „Hut  des  Richters!"  „Der 
Feldherr"  führt  ja  freilich  auch  in  die  Welt  der  fremden  großen  Historie,  nach 
der  eben  die  Jugend  doch  auch  immer  begehrlich  ausblickt.  Der  Raum  von 
„Themis"  wäre  auch  der  „Engelmesse"  zu  gönnen  gewesen,  und  stärker 
und.charakteristischerals  „Abschied"  hätten  „Am  Rüsthaus"  oder  „Gewitter- 
ende im  Gebirg"  gewirkt.  Die  Lieder  folgen  sich  fein  ausgewählt  mit  schöner 
Steigerung  der  seelischen  und  musikalischen  Werte.  Die  Unterbrechung 
durch  das  volksliederartige  „Wildrosen",  dessen  Kolorit  und  Gehalt  so  jung 
blühen,  ist  reizvoll  und  wohlangebracht. 

Bei  Spitteler  ist  die  Auswahl  nicht  ganz  glücklich  und  nicht  ergiebig 
genug.  Der  Glanz  seiner  Kolorite,  die  wunderbare  Durchsichtigkeit  seiner 
Symbolik,  sein  epischer  Idealklang  kommen  zur  Geltung  («Die  Blütenfee"), 
desgleichen  seine  Plastik  („Die  Glockenjungfern"),  sein  Künstlerleidens- 
pathos („Berufung"),  seine  Inbrunst  und  Innigkeit  („Der  Traum  vom  lieben 
Gott").  Was  nicht  oder  nicht  ganz  hervortritt,  ist  sein  Pessimismus,  seine 
extramundane  Richtung,  sein  anklagender  Zorn.  Die  überoriginellen  unter 
den  Glockenliedern,  „Die  Nachzügler",  „Die  Vogelscheuche  im  Himmel", 
„Die  Betzeitglocke"  und  auch  „Ein  Bildchen"  aus  den  „Schmetterlingen" 
beanspruchen  zu  viel  Raum;  zudem  verlangen  sie,  einer  spielenden  Laune 
entsprossen,  als  Hintergrund  das  volle  Lebenswerk  Spittelers;  dem  Neuling 
können  sie  das  Bild  des  Dichters  leicht  verzerren.  Unter  den  Balladen  da- 
gegen sind  manche  geeignet,  zum  Dichter  des  Olympischen  Frühlings  zu 

J)  Zuerst  in  dieser  Zeitschrift  erschienen.    B.  7,  S.  659  (15.  Febr.  1911). 

639 


führen.  In  unser  Buch  hätte  „Die  lote  Erd«"  gepasst.  Die  eifrige  Jugend  ist 
bereit,  dem  Paradoxen  an  ihrem  Schlüsse  zuzustimmen,  mit  ihrem  Über- 
schuss  an  Glück  verträgt  sie  es  auch. 

Mit  etlicher  Zusammenrückung  bei  Liliencron  und  der  Droste  wäre 
Raum  für  eine  größere  Zahl  Spittelerscher  Balladen  gewonnen  worden. 
„Kommissionsfriede",  die  Städtebildchen  im  Buche  apart  vervollständigend, 
„Die  Mittagsfrau",  „Das  Kostmaidlein",  „Aurora",  „Der  besiegte  Herzog^', 
„Hausspruch"  lagen  bereit.  Und  warum  fehlen  „Der  Wanderer"  und  „Die 
Schneekönigin"?  Das  nordische  Märchenlicht  ist  doch  der  Jugend  teuer. 
Zugegeben,  dass  „Berufung",  Spittelers  Hauptthema,  die  Leidenswilligkeit 
und  Treue  des  Künstlers,  mit  zusammengeraffter  Kraft  behandelt.  Manche 
unter  den  „Literarischen  Gleichnissen"  hätten  es  nur  etwas  leichter  ver- 
ständlich getan. 

Es  spricht  für  Liliencron,  dass  er  als  letzter  in  einer  so  illustren  Dichter- 
reihe noch  einmal  neu  und  ganz  eigenartig  entzückt.  In  der  Tat  sind  sein 
Schwung,  seine  Tiefe  und  seine  Süßigkeit  groß  genug,  dass  man  ihm,  der 
Leichtsinn  mit  Tiefsinn  mische,  dilettantische  Trübungen  oft  seiner  lauter- 
sten Poesie  übersehen  kann.  Seinem  so  jungen  Ungestüm  folgt  doch  die 
Jugend  rückhaltlos.  Die  Auswahl  unter  seinen  Gedichten  ist  sehr  schön, 
dichterisch  mitfühlend  getroffen.  „Pidder  Lüng"  und  „Der  Blitzzug"  dürften 
das  erste  als  zu  brutal  und  das  zweite  als  zu  wenig  stark  poetisch,  und  in 
Ansehung  des  kostbaren  Platzes  weggeblieben  sein.  Zum  Gesamtbild  des 
Dichters  gehören  sie  allerdings. 

Auch  die  Auswahl  bei  Anette  von  Droste  ist  gut  und  dankenswert. 
Im  dichterischen  Sinne  ist  sie  vielleicht  um  zwei  bis  drei  Stücke  zu  reich, 
während  in  menschlich-ethischer  Beziehung  der  Kundgebungen  einer  Droste 
freilich  nie  zu  viel  sind.  Wir  sehen  sie  nur  nicht  gerne  mit  stilistischen  Un- 
gewandtheiten  oder  auf  Rechnung  ihrer  Zeit  zu  setzenden  Empfindsamkeiten 
vor  das  scharfe  Urteil  der  heutigen  Jugend  gebracht.  Die  Anwesenheit  der 
übrigen  Gedichte  kann  nicht  herzlich  genug  begrüßt  und  gebilligt  werden. 
Welch'  ein  Rhythmus  in  den  Äußerungen  dieser  Frauenseele!  Welch'  ein 
Reichtum!  Und  was  für  Einsamkeiten,  was  für  Ereignislosigkeiten  und  Ge- 
bundenheiten konnte  dieser  Reichtum  abgewonnen  werden!  Das  mag  die 
heutige  Jugend,  deren  Geschicke  und  Lebensmöglichkeiten  so  gegenteilig 
sind,  nachdenklich  machen.  Es  war  doch  auch  das  Stilleben  und  war  die 
Beschränkung,  in  denen  entstehen  und  geschehen  konnten:  diese  Versunken- 
heit  und  Hingabe,  diese  Herausarbeitung  des  Gefühls,  diese  Inbrunst  der 
Abschieds-  und  Trennungsschmerzen,  diese  Treue  an  den  Toten,  diese  Be- 
horchung der  eigenen  Seele  wie  der  Naturseele,  dieses  Phantasiespiel, 
diese  Leidenschaft  der  Heimatliebe. 

Gewissensernst,  Reinheit  und  Feuer  der  Impulse,  großherziger  Mit- 
teilungsdrang, Adel  des  Bekenntnisses,  eine  Bändigung  der  zauberisch  ver- 
schlungen sich  überstürzenden  Gedanken  durch  eine  Sprachkraft,  die  in 
Anbetracht  der  Entstehungszeit  dieser  Poesie  nicht  genug  bewundert  werden 
kann,  sind  wohl  dazu  angetan,  die  Jugend  ethisch  und  ästhetisch  zu  schulen. 

ZÜRICH  ANNA  FIERZ 


Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 


640 


DIE  EINIGUNGSVORSCHLÄGE 
ZUM  FABRIKGESETZENTWURF 

Die  sogenannte  Einigungskonferenz  hat  also  Beschlüsse  ge- 
fasst.  Bevor  wir  uns  aber  dazu  äußern,  gestatte  man  uns  ein 
Wort  zum  Vorgehen.  Wir  möchten  zum  voraus  Verwahrung 
dagegen  einlegen,  dass  später  der  Bundesrat  in  der  Bundesver- 
sammlung einfach  Ratifikation  dieser  Einigungsbeschlüsse  verlange. 
Die  öffentliche  Meinung  und  die  Bundesversammlung  müssen 
nach  wie  vor  uneingeschränkt  ihre  Vorschläge  machen  können, 
stehen  sie  nun  auf  dem  Boden  der  Einigungskonferenz  oder  nicht. 

Unseres  Erachtens  war  der  Gedanke  der  Einigungskonferenz 
weder  gut  noch  notwendig.  Durch  ihre  bloße  Ernennung  hat 
der  Bundesrat  den  Mitgliedern  dieser  Kommission  den  still- 
schweigenden Auftrag  gegeben,  sich  in  der  Mitte  zu  finden.  Das 
ist  aber  gerade  ein  Eingehen  auf  jene  Taktik,  die  die  Arbeiter- 
führer so  oft  bei  Streiken  mit  Erfolg  angewendet  haben  und  wo- 
gegen man  sich  auch  schon  verwahren  musste:  recht  viel  verlangen, 
man  kann  dann  etwas  markten  und  sich  in  der  Mitte  finden  lassen. 
So  gibt  sich  der  unverschämtest  Fordernde  noch  den  Schein  der 
Billigkeit.  Das  Recht  liegt  aber  nicht  immer  in  der  Mitte  zwischen 
Gut  und  Böse.  In  der  Mitte  liegt  meist  die  Halbheit.  Wirklich, 
fast  möchten  wir  glauben,  der  Vorschlag  der  Konferenz  sei  dem 
Bundesrat  in  sehr  schlauer  Art  zugeraunt  worden.  Wir  müssen 
wenigstens  hoffen,  dass  er  sich  der  Tragweite  nicht  voll  bewusst 
gewesen  sei. 

Und  nun  zu  den  einzelnen  Fragen:  Der  Vorschlag  bezüglich 
des  Decompte   und  schließlich  auch  der  Kündigungsbedingungen 

641 


mag  angehen.    Wir  wollen  nur  zwei  Sachen  näher  besprechen, 
nämlich  die  Vorschläge  über  das  Bußenwesen  und  die  Arbeitszeit. 

Die  Vertreter  des  Gewerkschaftsbundes  haben  also  in  der 
Bußenfrage  grundsätzlich  nachgegeben,  sie  lassen  jetzt  Bußen 
wieder  zu.  Sie  verlangen  also  für  sich  wohl  das  Kompliment 
der  Billigkeit.  Sie  haben  sich  dagegen  zugestehen  lassen:  Bußen 
sind  nur  zulässig  zur  Aufrechterhaltung  der  Fabrikordnung.  Wie 
großmütig!  Als  ob  Bußen  je  einen  andern  Zweck  gehabt  hätten. 
Dann  kommen  aber  gleich  eine  Menge  Vorbehalte.  Die  Buße 
sei  nur  zulässig,  wenn  sie  in  der  Fabrikordnung  speziell  vorge- 
sehen sei.  Wenn  also  ein  Arbeiter  einmal  eine  besondere  Un- 
tugend betätigt,  die  der  Fabrikleitung  noch  kaum  begegnet  ist, 
dann  soll  keine  Buße  möglich  sein.  Und  es  wird  ein  ewiges 
Rechten  sein,  ob  ein  Vergehen  unter  einen  Punkt  der  Fabrikord- 
nung falle  oder  nicht.  Dass  die  Buße  bei  der  Ausfällung  gleich 
mitgeteilt  werde,  ist  ja  richtig.  Offenbar  zu  weit  gehen  aber  heißt 
es,  wenn  verlangt  wird,  dass  Bußen  über  25  Rappen  vom  Fabrik- 
inhaber oder  dessen  Stellvertreter  unterschriftlich  und  mit  Begrün- 
dung mitgeteilt  werden  müssen.  Das  könnte  zu  einer  ganz  un- 
möglichen Schreiberei  führen.  Das  ist  Pedanterie  oder  Bureaukratie 
bester  Art.  Wer  weiß,  wie  es  in  einem  intensiven  Fabrikbetrieb 
rasch  vorangehen  muss,  wird  nicht  der  ohnehin  angestrengten 
Betriebsleitung  noch  solches  Schreibwerk  aufnötigen,  Fabrikinhaber 
und  Betriebsleiter  haben  wahrlich  anderes  zu  tun,  als  30-räppige 
Bußen  unterschriftlich  zu  bestätigen,  Bußen,  die  doch  ohnehin 
nur  im  Interesse  der  Gesamtarbeiterschaft  verhängt  und  wieder 
verwendet  werden.  In  Wirklichkeit  würde  man  einfach  jede  Buße 
über  25  Rappen  verunmöglichen,  also  das  Disziplinarmittel  gegen- 
über leichtsinnigen  und  flegelhaften  Leuten  ganz  aus  der  Hand 
geben.  Und  noch  eins:  Jener  Schreibebrief,  welcher  dem  Ar- 
beiter eine  kleine  Buße  von  vielleicht  30  oder  40  Rappen  schrift- 
lich mitteilen  und  begründen  soll,  dürfte  sehr  oft  nur  als  Anlass 
zu  allerlei  Verunglimpfung  und  Heruntermachung  des  Fabrik- 
inhabers dienen.  Man  soll  nicht  jeden  Augenblick  wegen  Kleinig- 
keiten mit  der  eigenhändigen  Unterschrift  des  Fabrikinhabers 
aufrücken. 


642 


Zur  Frage  der  Arbeitszeit  möchten  wir  uns  auch  noch  äußern ; 
man  ist  hierüber  besonders  in  den  Kreisen  der  Textilindustrie 
und  vorab  der  st.  gallischen  Stickereiindustrie  beunruhigt  und 
geradezu  unzufrieden.  Die  Einigungskonferenz  „beschloss"  den 
Zehnstundentag.  Die  Verhältnisse  liegen  nun  so,  dass  man  in 
den  genannten  Industrien  vorzugsweise  mit  Maschinen  arbeitet, 
die  vom  Arbeiter  meist  keine  körperliche  Anstrengung  fordern. 
Nur  Überwachung  und  gelegentlich  Behebung  einer  kleinen  Stö- 
rung, zum  Beispiel  Wiedereinführung  eines  gerissenen  Fadens.  Wir 
sprechen  besonders  von  den  neuen  Automaten-Stickmaschinen. 
Diese  sehr  teuren  Maschinen  leisten  also  eine  Arbeit,  die  genau 
proportional  ist  mit  der  Arbeitszeit:  sie  müssen  ausgenützt  werden 
können,  und  eine  halbe  Stunde  mehr  im  Tage  ist  da  von  sehr 
großer  Bedeutung.  IOV2  Stunden  sind  das  mindeste,  was  die 
Stickerei  noch  behalten  muss.  Denn  eine  halbe  Stunde  mehr 
bringt  genau  5%  Mehrleistung,  vielleicht  gerade  das,  was  noch 
nötig  ist,  damit  ein  Betriebsgewinn  bleibt. 

Und  ist  überhaupt  eine  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  so  nötig? 
Nein.  Seit  dem  Bestehen  des  derzeitigen  Fabrikgesetzes  hatten 
die  Industriellen  doch  nicht  die  Tendenz,  möglichst  an  der  obern 
zulässigen  Grenze  zu  bleiben,  so  dass  die  Volksgesundheit  jetzt 
etwa  schlechter  daran  wäre  als  vor  30  oder  40  Jahren,  in  den 
körperlich  anstrengenden  Betrieben  der  schweren  Industrie  ist  die 
Zeit  freiwillig  reduziert  worden.  Aber  in  den  säubern  Industrien, 
wie  zum  Beispiel  der  Stickerei,  dort,  wo  man  in  hohen,  geräumi- 
gen Lokalen,  vier  Meter  hoch  und  mehr,  arbeitet;  wo  Zentral- 
heizung und  Ventilation  fast  die  Regel  sind;  wo  die  Arbeiterzahl 
im  Verhältnis  zum  Raum  gering  ist,  ein  Arbeiter  auf  30  bis  40 
Kubikmeter  Luft;  wo  schon  im  Interesse  guter  Arbeit  hohe  Fenster 
mit  viel  Lichteinlass  bestehen;  wo  also  die  günstigsten  Bedingungen 
für  Leben  und  Gesundheit  herrschen:  da  sollte  man  auch  einen 
andern  Maßstab  anlegen.  Lasse  man  der  Sache  den  Lauf  wie 
bisher;  die  Arbeiter  sind  dabei  bis  jetzt  nicht  schlecht  gefahren. 
Dass  sich  kein  schlesisches  Weberelend  wiederhole,  dafür  sorgen 
die  Verhältnisse,  der  gesunde  Menschenverstand  und,  wenn  man 
will,  auch  die  politische  Reife  unseres  Volkes. 

Die  fortschreitende  Beschneidung  der  Arbeitszeit  erleichtert 
sodann  der  schweizerischen  Textilindustrie  die  Stellung  auf  dem 

643 


Weltmarkt  keineswegs.  Im  Gegenteil.  Auch  das  Ausland  besitzt: 
Maschinen  wie  wir,  in  Voralberg,  in  Sachsen,  in  Böhmen,  in 
Frankreich,  in  Italien,  in  Amerika.  Und  wenn  es  seine  Maschinen 
mehr  laufen  lassen  kann  als  wir,  wird  es  billiger  liefern  und  wir 
werden  noch  mehr  an  die  Wand  gedrückt  werden.  Man  vergesse 
nicht  und  sei  auch  nicht  zu  stolz  zu  überlegen:  unsere  schwei- 
zerische Industrie  war  vielleicht  bis  vor  zwanzig  oder  zehn  Jahren 
als  Qualitätsindustrie  im  ersten  Range.  Seither  ist  sie  zwar  nicht 
zurückgegangen,  aber  die  mit  uns  konkurrienden  Länder  haben 
auch  große  Fortschritte  gemacht,  so  dass  der  Abstand  relativ 
kleiner  geworden  ist.  Schon  auf  ansehnlicher  Höhe  stehend^ 
war  es  für  die  Schweiz  schwer,  den  gleichen  Abstand  voran  ein- 
zuhalten. Also  Vorsicht  im  Dekretieren  von  sozialen  Schutzge- 
setzen! Es  könnte  sonst  sein,  dass  wir  vor  lauter  Volksgesund- 
heit einmal  kaum  mehr  zu  essen  hätten. 

Der  vorliegende  Entwurf  zum  Fabrikgesetz  hat  jetzt  schon- 
geschadet.  In  der  Ostschweiz  gibt  es  jetzt  schon  Leute  mit 
mittlerem  Vermögen,  40000  bis  50000  Franken,  die  ihr  Geld 
lieber  nicht  mehr  in  schweizerische  Industrien  legen,  wo  man 
doch  an  kein  Ende  sehe  in  den  nächsten  Jahren,  sondern  in  aus- 
ländische Unternehmen;  die  Gelegenheit  ist  ja  so  leicht  zu  finden. 
So  treibt  man  die  Leute  dazu,  unserer  Volkswirtschaft  direkt  in 
den  Rücken  zu  schießen.  Geld,  das  dank  der  Tatkraft  schwei- 
zerischer Unternehmer  verdient  werden  konnte,  wird  jetzt  in  aus- 
ländische Konkurrenzunternehmen  gesteckt.  Deutsche,  Engländer 
und  Franzosen  fühlen  hierin  viel  nationaler  als  wir,  die  wir  uns 
auf  unsere  Unvoreingenommenheit  immer  noch  viel  zu  gute  tun. 

Doch  ich  schweife  ab.  Ich  will  nur  betonen,  dass  zu  solch 
fundamentaler  Revision  des  Fabrikgesetzes  doch  kein  dringender 
Anlass  vorliegt.  In  sozialer  Gesetzgebung  soll  der  Staat  eingreifen, 
wo  Mißstände  vorliegen.  Er  soll  uns  schützen,  aber  nicht  dem 
Leben  voraneilen  wollen;  denn  dieses  macht  sich  oft  ganz  anders, 
als  man  jetzt  denkt.  Darum  soll  er  schon  gar  keine  Bestim- 
mungen aufstellen,  die  erst  in  zehn  Jahren  in  Kraft  treten  sollen. . 

FREIBURG  C.  F.  KEEL 

D  D  D 
644 


WÜNSCHE  UND    RICHTLINIEN  FÜR 
DAS  SCHWEIZ.  BIBLIOTHEKWESEN 

Mit  Reformgedanken  für  den  gegenwärtigen  schweizerischen 
Bibliothei<betrieb  vor  die  große  Öffentlichkeit  zu  treten  mag 
mancherorts  als  eine  Langweilerei  des  Publikums,  mancherorts 
vielleicht  auch  als  ein  überflüssiges  „aus  der  Schule  schwatzen" 
angesehen  werden.  Jedenfalls  ist  diese  Studie  nicht  geeignet,  die 
■Captatio  benevolentiae  des  Lesers  von  vornherein  sich  zu  sichern. 
Und  doch!  Was  wir  mit  unseren  Darlegungen  erreichen  möchten, 
ist  eben  ein  vermehrtes  Interesse  der  weiteren  Kreise;  wir 
wünschten  für  unsere  wissenschaftlichen  Hilfsinstitute  wie  für 
unsere  Volksbibliotheken  dieselbe  Beachtung,  die  unsere  Hoch- 
schulen und  Museen  vor  einem  größeren  Forum  gefunden  haben. 
Heute  mehr  denn  je  wird  die  wissenschaftliche  wie  die  Bildungs- 
bibliothek zum  wichtigen  Kulturfaktor  einer  Stadt  und  einer  ganzen 
Gegend;  ihr  Stand  wird  mit  Recht  als  ein  Gradmesser  des  geisti- 
gen Lebens  ihrer  Umgebung  betrachtet. 

Unsere  städtischen  und  kantonalen  Bibliotheken,  vor  allem 
die  wissenschaftlichen,  vermögen  den  an  sie  gestellten  Anforde- 
rungen vielfach  nicht  mehr  zu  genügen;  ihre  Organisation  ent- 
stammt oft  einer  Zeit,  die  weit  rückwärts  liegt;  ihre  Räume  ge- 
währen bei  dem  Andränge  der  Bücher  nicht  mehr  die  gewünschte 
Aufnahme;  oft  auch  entbehrte  eine  neuzeitliche  Reorganisation 
weitblickender  Direktiven;  man  begnügte  sich  mit  der  augenblick- 
lichen Abhilfe  eines  schreienden  Übelstandes.  Kleinheit  und  Zer- 
splitterung wiegen  vor.  Das  dem  Schweizer  eigene  Bedürfnis,  in 
kleinen  Verhältnissen  die  großen  nachahnen  zu  wollen,  hat  gerade 
bei  den  Gründungen  und  Erweiterungen  unserer  Universitäten  und 
damit  auch  bei  denjenigen  unseren  Universitätsbibliotheken  arg 
mitgespielt.  Wo  in  aller  Welt  finden  sich  auf  einem  so  kleinen 
Fleck  Erde  so  viele  Hochschulen  und  wissenschaftliche  Institute? 
Es  gereicht  das  unserem  Lande  gewiss  zur  Ehre  —  aber  die 
Konsequenzen  kosten  uns  schwere  Opfer.  Ja  wir  können  bereits 
mit  Bestimmtheit  eine  Zeit  voraussehen,  in  der  das  eine  oder 
andere  Institut  der  wissenschaftlichen  Konkurrenz  infolge  Geld- 
mangels  unterliegen   wird;   die  Anforderungen  steigern  sich  von 

645 


Tag  zu  Tag,  während  die  Mittel  relativ  geringer  eingeschätzt  werden 
müssen,  immer  mehr  wird  es  daher  auch  hier  gelten,  auf  eine 
zweckmäßige  Zentralisation  und  Reorganisation  hinzuarbeiten, 
wenn  unsere  Bildungsanstalten  wirklich  noch  nutzbringend  wirken 
sollen.  Die  Zeit  der  Selbstgenügsamkeit  ist  vorüber;  hier  wie  im 
wirtschaftlichen  Leben  gilt  es,  durch  Arbeitsteilung  und  Ver- 
schmelzung unserer  bibliothekarischen  Mittel  und  Kräfte  uns  zu 
zweckmäßigerer  Verwertung  der  Büchereien  zu  konzentrieren. 

Unsere  Studie  zerfällt  in  drei  Teile.  Der  erste  behandelt  Behör- 
den und  ihre  Stellung  im  Gemeinwesen.  Wir  sehen  heute  von  einer 
Besprechung  dieser  Fragen  ab,  sie  haben  bereits  eine  einlässliche 
Erörterung  im  „Bund"  vom  26.  Mai  1913  erhalten.  Die  dort  auf- 
gestellte These  geht  dahin,  dass  es  erwünscht  sei,  staatliche  Biblio- 
thekzentralen zu  besitzen,  also  Bibliotheken,  die  die  kleinen  und 
größeren  Vereinsbibliotheken  in  ihre  Verwaltung  aufnehmen:  diese 
sollten  vom  Staate  und  nicht  von  Korporationen  verwaltet  werden. 
Ihre  Kommissionen  sollten  klein  und  fachmännisch  sein,  nicht 
wie  vielfach  heute  mit  bloßen  Bücherkommissionen  verwechselt 
werden.  In  der  fachmännischen  Vertretung  sind  die  hauptsäch- 
lichsten Interessentenkreise  und  weniger  die  politischen  Behörden 
zu  berücksichtigen. 

An  zweiter  Stelle  stehen  Personal-  und  Organisationsfragen, 
an  dritter  Vorschläge  für  die  Benutzung  und  Sammeltätigkeit. 
Zuletzt  endlich  kommt  der  Verkehr  zwischen  den  Bibliotheken 
und  dem  Verein  Schweizerischer  Bibliothekare  zur  Sprache. 

Der  Bibliothekarenstand  darf  bei  uns  füglich  noch  ein 
werdender  Stand  genannt  werden.  Wir  müssen  also  vielleicht 
mehr  als  anderwärts  den  Berufsangehörigen  Gelegenheit  geben, 
gemeinsame  Interessen  zu  erörtern,  Programmarbeit  aufzustellen, 
um  diese  schließlich  auch  allgemein  zur  Anerkennung  zu  bringen. 
Es  ist  für  unsere  Bibliotheken  von  größter  Wichtigkeit,  dass  der 
bibliothekarische  Nachwuchs  derart  ausgebildet  wird,  dass  man 
in  Zukunft  die  Vorsteher  unserer  Anstalten  nicht  mehr  dem  Ge- 
lehrtenstande oder  gar  den  Liebhaberkreisen  einer  Stadt  oder 
eines  Kantons  zu  entnehmen  braucht,  sondern  dass  die  Biblio- 
thekleiter aus  dem  wissenschaftlichen  Bibliothekarenstande  der 
ganzen  Schweiz  für  eine  Neubesetzung  in  Betracht  fallen.  Für 
den    wissenschaftlichen    Bibliothekbeamten    soll    abgeschlossene 

646 


Hochschulbildung  unerlässlich  werden.  Wir  hoffen  damit  auch  an  den 
größeren  Stadt-  und  Kantonsbibliotheken  geschulte  wissenschaft- 
liche Kräfte  zu  erhalten.  Diese  bloßen  Wünsche  von  heute  lassen 
sich  immer  mehr  der  Verwirklichung  näher  bringen,  wenn  die 
heute  noch  ziemlich  lose  Vereinigung  der  schweizerischen  Biblio- 
thekare einen  festeren  Charakter  annimmt,  wenn  einmal  dessen 
Vorstand  ein  gewisses  Beratungsrecht  in  Besetzungsfragen  aus- 
zuüben vermag. 

Für  die  innere  Organisation  besitzt  die  vielumstrittene  Frage 
der  Arbeitszeit  stets  eine  grundlegende  Bedeutung. 

Eine  achtstündige  Arbeitszeit  für  intensive  Bibliothekarbeit 
wird  sich  niemals  empfehlen;  sie  wird  in  Wirklichkeit  auch  nicht  ein- 
gehalten, das  heißt,  die  der  Bibliothek  gewidmete  Arbeit  beschränkt 
sich  auf  eine  niedrigere  Stundenzahl,  währtnd  der  Rest  mit  Privat- 
arbeit ausgefüllt  wird.  Hier  wie  in  vielen  staatlichen  Beamtungen 
gibt  sich  die  Kommission  mit  acht  Sesselstunden  zufrieden.  Sie 
erzieht,  ich  möchte  sagen,  fast  gewaltsam  einen  sogenannten 
„gemütlichen  Betrieb".  Sie  bedenkt  nicht,  dass  sie  bei  kürzerer  Zeit 
ein  volleres  Programm  erzielen  könnte,  vorausgesetzt  dass  tüch- 
tige Kräfte  ihr  zur  Verfügung  stehen,  dass  ein  Mann,  der  aus- 
schließlich für  seinen  Beruf  lebt,  oft  eben  auch  zu  einer  Zeit 
arbeitet,  da  die  Komission  schon  längstens  Bibliotheksfragen 
vergessen  hat.  Ja  das  Reglement  sieht  nur  selten  einen  Unter- 
schied zwischen  der  Anstellungszeit  des  Dieners  und  des  Biblio- 
thekars vor.  Eine  neue  zeitliche  Einteilung  für  wissenschaftliche 
Arbeit  an  der  Bibliothek  —  und  dazu  gehört  heute  Alles  was 
den  geistigen  Betrieb  eines  solchen  Institutes  ausmacht  — ,  kann 
kaum  auf  Schwierigkeiten  stoßen.  Die  Arbeit  als  solche  wird 
nur  gewinnen  und  die  Besucher  können  deswegen  den  Lesesaal 
nach  wie  vor  von  9—12  und  2 — 7  Uhr  benützen.  Das  mit  der 
Aufsicht  im  Lesesaal  betraute  Personal  erhält  spezielle  Dienst- 
stunden. Wenn  wir  für  den  wissenschaftlichen  Beamten  eine  sechs- 
stündige Arbeitszeit  einführen  wollen,  müssten  wir  aber  auch  vom 
Bibliothekar  verlangen,  dass  er  sich  auch  außerdienstlich  mit 
Bibliotheksfragen  beschäftige  und  sich  weiterbilde,  ähnlich  wie  der 
Lehrer  von  Amtes  wegen  dazu  angehalten  ist.  Wir  sollen  von 
unsern  Doktoren  verlangen  dürfen,  dass  sie  dann  und  wann  bi- 
bliothekarische  Preisaufgaben   lösen,   ab  und  zu  in  wissenschaft- 

647 


liehen  und  populären  Blättern  die  Öffentlichkeit  für  die  Biblio- 
thek interessieren. 

Was  die  Anstellungsdauer  betrifft  möchten  wir  auch  in 
schweizerischen  Landen  eine  Altersgrenze  eingeführt  sehen.  Der 
Vorteil  langjähriger  Angestellter  ist  zweifelsohne  für  die  Biblio- 
thek von  großer  Tragweite;  gute  Orientierung  und  Routine  kann 
nur  durch  die  Jahre  erlangt  werden;  doch  wird  auch  für  den 
tüchtigsten  Arbeiter  eine  Zeit  kommen,  da  seine  Kräfte  nachlassen 
und  seine  Dienste  für  die  Anstalt  nur  von  mehr  zweifelhafter  Güte 
sein  werden.  Solange  nun  die  Kantone  keine  staatliche  Pensions- 
fonde  besitzen,  wird  selbstverständlich  die  Versuchung  nahe  liegen, 
einen  im  Amte  ergrauten  Beamten  möglichst  lange  darin  zu  be- 
lassen. Da  die  Gehalte  ohnedies  sehr  dürftig  sind,  wird  es 
wohl  den  wenigsten  Beamten  möglich  gewesen  sein,  für  die  alten 
Tage  zurückzulegen;  der  alte  Angestellte  sieht  sich  also  gezwungen, 
entweder  auf  sein  Einkommen  zu  verzichten  oder,  was  die  Regel 
ist,  bis  an  sein  seliges  Ende  auf  dem  Posten  zu  verharren.  Für 
bejahrte  Staatsangestellte  wird  man  sich  schließlich  auch  bei  uns 
entschließen  müssen,  Pensionen  einzuführen,  Sie  allein  gestatten 
einen  gesunden  und  arbeitsfreudigen  Nachschub.  Versicherungen, 
Studienprämien,  Zulagen  aller  Art  kennen  nur  die  wenigsten  An- 
stalten, und  doch  gehören  auch  diese  wohltätigen  Institutionen  zu 
den  Forderungen  der  Zeit. 

Nebenbei  sei  noch  ein  Vorschlag  beigefügt,  der  sich  unter 
den  gegenwärtigen  Verhältnissen  da  und  dort  ebenfalls  bewähren 
dürfte.  Es  kommt  oft  vor,  dass  durch  das  Anwachsen  der 
Bücherei  Personen,  die  ihrer  früheren  Aufgabe  völlig  genügten, 
den  neuen  Verhältnissen  nicht  mehr  gewachsen  sind.  Statt  diese 
ungenügend  qualifizierten  Beamten  in  der  einmal  bekleideten 
Stellung  zu  belassen  würde  man  doch  viel  zweckmäßiger  handeln, 
wenn  man  solche  Leute  an  einen  Posten  stellt,  der  bei  der  gleichen 
Dotierung  ihre  Arbeit  nützlicher  zu  verwenden  gestattete.  Der  Fall 
tritt  häufig  beim  Personal  von  Lesesälen  ein,  in  denen  nach 
früherer  Ansicht  bloßes  Hilfspersonal  verwendet  wurde,  das  nach 
heutiger  Auffassung  aber  unbedingt  durch  Bibliothekare  oder 
Assistenten  ersetzt  werden  muss.  Der  Dienst  im  Lesesaal  darf 
überhaupt  nicht  mehr  einer  Person  Überbunden  werden,  sondern 
er  soll  abwechslungsweise  organisiert  sein,  so  dass  in  größeren 

648 


Instituten  jeder  wissenschaftliche  Bibiiothei<ar  Gelegenheit  findet, 
während  einiger  Zeit  einerseits  die  Bedürfnisse  des  Publikums 
kennen  zu  lernen,  anderseits  die  gewünschte  wissenschaftliche 
Auskunft  zu  erteilen.  Die  Auskunftei  darf  nicht  das  Privileg  des 
Bibliothekleitenden  sein;  er  soll  erst  dann  in  Funktion  treten, 
wann  seine  Mitarbeiter  versagen.  Der  Grundsatz,  dass  der  Obere 
nur  solche  Arbeit  verrichten  darf,  die  nicht  auch  ein  Unterer  zu 
bewältigen  vermag,  hat  auch  hier  seine  Gültigkeit. 

Die  Bibliothekare  der  wenigsten  Kantons-  und  Stadtbiblio- 
theken beziehen  einem  Gehalt  von  4—5000  Franken.  Hier  ent- 
sprechen die  Gehalte  denjenigen  der  in  leitender  Stellung  sich  be- 
findenden Staatsbeamten.  Ähnlich  verhält  es  sich  um  die  Ent- 
löhnung der  übrigen  Angestellten  dieser  Institute.  Merkwürdige 
Anschauungen  über  die  Verwaltung  von  öffentlichen  Instituten 
liefern  einige  Stadt-  und  Kantonsbibliotheken,  in  denen  bei  einer 
Anstellung  von  drei  bis  vier  Personen  der  leitende  Bibliothekar 
einen  Gehalt  von  600—1000  Franken  bezieht.  Derselbe  muss 
also  noch  im  Schulfache  oder  anderswo  tätig  sein,  um  ein 
Existenzminimum  erreichen  zu  können.  Sein  Hilfspersonal  ist 
bisweilen  sogar  verhältnismäßig  besser  besoldet.  Wir  haben  hier 
speziell  die  Bibliotheken  von  St.-Gallen,  Schaffhausen,  Sitten, 
Solothurn,  Chur  ins  Auge  gefasst.  Wäre  es  da  nicht  an  der  Zeit, 
in  solchen  Städten  eine  verantwortliche  Bibliothekarstelle  mit 
einem  Diener  zu  schaffen  und  diesem  ständigen  Amte  auch  die 
Verwaltung  der  verschiedenen,  oft  nicht  geringen  Vereinsbiblio- 
theken anzuvertrauen?  Die  zahlreichen  Sportelerträge,  die  aus 
diesen  Verwaltungen  flössen,  würden  sicherlich  einen  ordentlichen 
Beitrag  an  das  wenigstens  auf  3— 4000  Franken  angesetzte  Honorar 
ausmachen.  Das  ganze  Bücherwesen  des  Kantons  läge  in  den 
Händen  einer  verantwortlichen  Beamtung,  statt  wie  gegenwärtig 
zersplittert  und  verhältnismäßig  unfruchtbar  einem  sehr  geringen 
Interessentenkreise  ungenügende  Dienste  zu  leisten. 

Unser  Postulat  von  sechsunddreißig  Wochenstunden  für  das 
wissenschaftliche  Personal,  von  siebenundvierzig  für  das  Bureau- 
personal dürfte  heute  allgemeinen  Wünschen  entsprechen,  die 
übrigens  an  manchen  Bibliotheken  auch  anerkannt  worden  sind. 
Die  Ansätze  für  wissenschaftliche  Kräfte,  die  mit  den  übrigen 
Entlöhnungen  der  kantonalen  wissenschaftlichen  Angestellten  im 

649 


Einklang  stehen,  sollten  sich  für  Bibliothekaren  im  Rahmen  von 
4—6000  Franken,  für  Assistenten  von  2—4000  Franken  bewegen, 
während  die  Leiter  der  Hochschulbibliotheken  jedenfalls  einen  Gehalt 
von  6—8000  beanspruchen  dürften.  Für  das  technische  Bureau- 
personal glauben  wir  mit  Ansätzen  von  2 — 4000  Franken  einstehen 
zu  müssen,  für  Hilfskräfte  mit  einem  solchen  von  1500—3000 
Franken.  Diese  Zahlen  und  Ansätze  richten  sich  natürlich  nach 
der  zu  erfüllenden  Arbeit  und  nach  den  Ortsverhältnissen;  sie 
lassen  eine  proportionale  Steigerung  zu,  die  sich  den  Zuwachs- 
verordnungen der  einzelnen  Kantone  anzupassen  hätten.  Unsere 
Gehaltsansätze  sind  den  Normen  der  eidgenössischen  Beamten 
an  der  Landesbibliothek  entnommen;  sie  stellen  sich  immer  noch 
weniger  günstig  als  die  der  Berufsgenossen  in  den  Nachbarländern. 
Ein  gleichzeitig  bei  sämtlichen  Behörden  von  sämtlichen  bedeu- 
tenderen schweizerischen  Bibliotheken  eingereichtes  Gesuch  um 
Regelung  dieser  Frage,  dem  auch  einheitliche,  im  Sinne  unserer 
Vorschläge  durchgeführte  Organisationsentwürfe  beigelegt  würden, 
dürfte  von  Erfolg  begleitet  sein.  Das  Postulat  wird  dringend, 
wenn  wir  nicht  unsere  Bibliotheken  in  Zukunft  minderwertigen 
Berufsgenossen  ausliefern  wollen,  Männern,  die  im  praktischen 
Leben  nicht  für  tauglich  befunden  wurden  oder  die  Vermögen 
genug  besitzen,  um  für  billiges  Geld  in  sicherer  Stelle  unterge- 
bracht zu  werden. 

Auch  Rang-  und  Titelfragen  können  für  unsere  Verhältnisse 
von  Bedeutung  sein.  Die  Verwaltung  unserer  größeren  schweize- 
rischen Institute  umfasst  eine  ansehnliche  Zahl  von  wissenschaft- 
lichen Beamten,  technischen  Hilfskräften,  Schreibern  und  Die- 
nern, die  alle  unter  einem  gemeinsamen  Oberhaupte  stehen, 
das  sich  bald  Direktor,  bald  Oberbibliothekar,  bald  erster  Biblio- 
thekar, bald  Stadtbibliothekar  nennt.  Schon  die  bunte  Abwechs- 
lung dieser  Titel  lässt  auf  die  Buntheit  der  Organisation  schließen. 
Eine  Ausnahme  für  den  Vorsteher  der  Landesbibliothek,  die  eine 
Organisation  für  sich  bedeutet,  halten  wir  für  berechtigt.  Im 
übrigen  brächte  die  Regelung  der  Titulaturen  gegenüber  dem  Aus- 
lande eine  orientierende  Gleichstellung;  denn  heute  noch  kann 
der  Vorsteher  einer  der  wichtigsten  Bibliotheken  des  Landes,  der 
den  Titel  erster  Bibliothekar  führt,  de  nomine  mit  dem  zweiten 
technischen  Beamten  einer  andern  Hochschulbibliothek,  der  eben- 

650 


falls  diesen  Titel  führt,   verwechselt  werden.    Wir  sind   weit  ent-        '^'^^■- 
fernt,  spanische  Hofetikette  einführen  zu  wollen;  aber  bessere  gra- 
duelle   Einteilung  erscheint   uns   auch    im   Interesse  der  Gleich- 
stellung einzelner  Beamtengruppen  zu  sein. 

Warum  könnten  also  nicht  sämtliche  Vorstände  von  Hoch- 
schulbibiiotheken  Oberbibliothekar  (directeurs)  genannt  werden, 
diejenigen  der  kleineren  Institute  Stadt-  oder  Kantonsbibliothekare? 
Ihnen  im  Range  gleich  ständen  der  erste  und  zweite  Bibliothe- 
kar einer  Hochschulbibliothek,  während  der  dritte  und  vierte  wie 
auch  die  besoldeten  Assistenten  und  die  unbesoldeten  Volontäre 
eine  weitere  Klasse  für  sich  bilden  würden.  Weitere  Gruppen 
bilden  die  technischen  Hilfskräfte,  die  Schreiber  und  Diener. 

Der  leitende  Bibliothekar  gehört  ausschließlich  der  Biblio- 
thek an.  Er  darf  nicht,  wie  es  bisher  oft  der  Fall  war,  zum  Scha- 
den des  Institutes  eine  Reihe  von  Nebenämtern  besitzen  oder  gar 
Universitätslehrer  sein.  Man  wähle  den  tüchtigsten  aus  den  Be- 
rufsgenossen des  Institutes;  findet  sich  darunter  keine  führende 
Kraft,  dann  dürfte  wohl  andernorts  in  der  Schweiz  ein  gut  quali- 
fizierter Bibliothekar  in  Betracht  fallen. 

Damit  wollen  wir  freilich  nicht  die  Behauptung  aufstellen, 
dass  der  Bibliothekleiter  der  Zukunft  ein  auschließlicher  Stati- 
stiker und  Organisator  sein  soll,  im  Gegenteil.  Es  soll  ebenso  das 
Bestreben  eines  jeden  Bibliothekars  sein,  über  ein  möglichst  ency- 
klopädisches  Wissen  zu  verfügen;  Einseitigkeit  möchten  wir  von 
vornherein  ausgeschaltet  wissen,  sie  findet  sich  leider  noch  ziem- 
lich oft  in  unseren  kleinlichen  Verhältnissen.  In  den  meisten 
Fällen  hängt  dieser  Zustand  damit  zusammen,  dass  manche  unserer 
Bibliothekvorstände  ausgesprochen  wissenschaftliche  Spezialisten 
sind,  die  ihr  Interesse  eben  nur  zu  gerne  ihrer  Spezialität  schenken. 
Und  doch  gibt  es  kaum  einen  Beruf,  in  dem  man  bei  richtigem 
Verständnis  und  bei  guter  Organisation  ein  so  abwechslungs- 
reiches Pensum  erledigen  kann.  Prinzipielle  Ordnungsfragen  sind 
in  manchen  unserer  Anstalten  noch  unentschieden;  die  wissen- 
schaftliche Ausbeute,  die  ebenfalls  zum  Teil  in  den  Bereich  des 
wissenschaftlichen  Bibliothekars  fällt,  fehlt  bei  uns  vollständig;  die 
künstlerische  Seite  des  Buches  wird  kaum  gewürdigt,  —  ich  kenne 
Bibliothekare,  die  nicht  einmal  mit  den  graphischen  Verfahren 
vertraut  sind  — ;  viele  Kataloge  sind  veraltet,  viele  Sammlungen 

651 


nur  fragmentarisch ;  kurz,  wir  könnten  noch  eine  lange  Reihe  von 
wünschenswerten  Aufgaben  anführen,  die  wenigstens  für  drei  Bib- 
h'othekgenerationen  eine  interessante,  nützliche  und  abwechslungs- 
reiche Arbeit  böten.  Statt  dessen  wird  bei  uns  das  Bibliothekariat 
vielfach  für  gewöhnliche  Kassaverwaltung,  tägliche  Korrespondenz 
und  banale  Auskunftei  benutzt;  die  beste  und  meiste  Zeit  muss 
Nebensächlichkeiten  gewidmet  sein.  Besitzt  der  leitende  Bibliothekar 
von  Haus  aus  nicht  die  nötigen  bibliothekarischen  Eigenschaften, 
so  geht  sein  Verständnis  für  die  übrigen  wichtigeren  Bibliothek- 
arbeiten bald  verloren;  er  geht  in  den  von  der  Kommission  als 
hinreichend  befundenen,  mehr  administrativen  Obliegenheiten 
vollständig  auf. 

Ausleihe-  und  Benutzungsverhältnisse  lassen  sich  bei  uns 
nur  durch  lokale  Vorschriften  regeln.  Sie  hängen  vor  allem  von 
der  Besuchszahl,  den  Bibliothekräumen,  bereits  bestehenden  Ein- 
richtungen usw.  ab.  Ein  Fehler,  der  noch  recht  häufig  hier  zum 
Ausdruck  kommt,  liegt  in  der  zu  wenig  präzisen  Arbeitsteilung 
der  Beamten.  Dienstpersonal  wie  Bibliothekbenutzer  kennen  wohl 
die  allgemeinen  Bestimmungen  und  Reglemente;  über  Kompeten- 
zen, über  zeitliche  Einteilung  ihrer  Arbeit  herrscht  vielfach  Un- 
klarheit. Eine  Art  von  Diarien,  die  das  Arbeitsprogramm  des 
Jahres  und  die  regelmäßig  wiederkehrenden  Aufgaben  des  ge- 
samten Personals  enthalten,  würden  auch  für  unsere  Institute  von 
großem  Nutzen  sein. 

Die  unglückliche,  von  der  Verwaltung  herübergenommene 
Idee  der  Stundenabsitzung  fördert  einen  lethargischen  Betrieb.  Ich 
habe  mich  an  in-  und  ausländischen  Instituten  überzeugen  können, 
wie  sehr  der  freie  Intellektualismus  besser  arbeitet  als  das  üb- 
liche Bureaubrüten,  bei  dem  der  wissenschaftliche  Angestelite 
wie  der  Kopist,  einer  Uhr  gleich,  täglich  fast  mechanisch  im  Ver- 
laufe einer  bestimmten  Stundenzahl  einige  hundert  Zettel  abschreibt 
oder  einreiht.  Kein  Mensch  bekümmert  sich  um  ihn,  er  hat  seine 
Arbeit  und  diese  dauert  auf  Wunsch  ein  ganzes  Leben! 

Dann  aber  sollen  wir  auch  dahin  trachten,  dass  nicht  Kon- 
trollen und  mechanische  Arbeiten  allein  die  Tagesaufgabe  eines 
Bibliothekars  ausmachen;  gemeinschaftliche  Nachforschungen  und 
wissenschaftliche  Studien  fördern  das  Interesse  und  erhöhen  den 
Ruf  der  Anstalt.  Die  Einrichtung  kleiner  Ausstellungen  macht  ihr 

652 


neue  Freunde,  eine  rege  Sammeltätigkeit  vermag  ihre  wert- 
volle Bestände  zu  sichern.  Kurz,  es  braucht  nur  der  verständigen 
Anregung,  um  in  die  toten  Bücherhallen  rastlos  pulsierendes  Leben 
zu  bringen.  Die  individuelle  und  praktische  Arbeitsverteilung  be- 
dingt freilich  eine  tüchtige  Leitung,  die  ihr  Personal  kennt  und 
Wissen  genug  besitzt,  um  selbständig  disponieren  zu  können. 
Hier  zeigt  es  sich,  ob  der  Leitende  auf  der  Höhe  seiner  Aufgabe 
steht  und  nicht  im  gewissenhaften  Buchführen  und  in  einer  stets- 
gefälligen  Korrespondenz  untergeht.  Hieher  gehört  auch  die  oft  be- 
obachtete Doppelspurigkeit  in  der  Bibliothekorganisation  ein  und 
der  selben  Stadt,  ja,  ein  und  des  selben  Besitzers.  Wir  haben 
zum  Beispiel  im  Bundeshaus  eine  Reihe  kleinerer  Bibliotheken, 
die  sämtlich  auf  eigene  Rechnung  und  Verantwortung  Ihre  Bücher 
kaufen.  Mit  Recht  fragt  man  sich,  ob  es  nicht  angezeigt  wäre,  diese 
Ankäufe  gemeinsam  durch  einen  Fachmann  an  Hand  von  Wunsch- 
listen der  Departemente  besorgen  zu  lassen.  Die  Eidgenossenschaft 
würde  sich  jährlich  ein  gutes  Stück  Geld  ersparen  und  die  Lektüre 
der  Beamten  würde  dadurch  gewiss  keinen  Schaden  leiden.  Ähn- 
lich verhält  es  sich  in  den  Städten  mit  dem  Verkehr  der  einzelnen 
Bibliotheken  unter  sich.  Nur  dadurch,  dass  ein  verantwortlicher 
Leiter  die  Fäden  der  gesamten  Organisation  in  seiner  Hand  ver- 
einigte, wäre  es  möglich,  einen  vorteilhafteren  und  sparsameren 
Betrieb  einzuführen.  Ja,  In  den  kleinern  Bibliotheken  brächte 
diese  Organisation  sogar  die  Möglichkeit,  die  nötigen  Mittel  zur 
Schaffung  eines  eigenen  ausschließlichen  Bibliothekariates  aufzu- 
treiben. In  den  großen  Städten  unterstände  vielleicht  dem  Ober- 
bibliothekar auch  ein  Bibliothekar,  der  sich  ausschließlich  mit  den 
Schul-  und  Lehrbibliotheken  zu  befassen  hätte. 

Eine  bloße  mechanische  Erledigung  der  laufenden  Arbeit  ver- 
urteilen wir  an  jeder  Bibliothek;  sie  bedeutet  für  uns  einen  Mangel 
an  initiative,  der,  wie  bereits  gesagt,  einem  der  Zukunft  entgegen, 
arbeitenden  Institute  von  wesentlichem  Nachteil  ist.  Gerade  weil 
bei  uns  mancherorts  auf  diesem  Gebiete  viel  gesündigt  worden 
ist  und  noch  wird,  sollten  wir  alles  daran  setzen,  unsere  pro- 
duktive Tätigkeit  mit  aller  Energie  zu  erhöhen.  Ein  gutes  Mittel 
hiefür  besitzen  wir  in  den  obligaten  gemeinsamen  wöchentlichen 
oder  sogar  täglichen  Programmbesprechungen.  Die  wertvollen 
Morgenstunden,    die    für    gewöhnlich   In   administrativen   Neben- 

653 


beschäftigungen,  die  ebensogut  von  einem  Sekretariat  besorgt  wer- 
den können,  aufgehen,  kämen  der  Bibliothek  zu  gute.  Gegen  die 
vielen  störenden,  meist  recht  überflüssigen  Besuche  empfiehlt  es 
sich,  Sprechstunden  oder  -Tage  einzuführen.  Der  Wunsch  nach 
einer  gemeinschaftlichen  systematischen  Arbeit  benimmt  der  Direk- 
tion keineswegs  die  Autorität;  im  Gegenteil,  sie  stärkt  das  vielfach 
geschwächte  Zutrauen  und  Ansehen.  Eine  Direktion,  die  in  stiller 
Abgeschlossenheit  sich  dem  Auge  des  Personals  entzieht,  begeht 
nach  meiner  Ansicht  einen  schweren  taktischen  Fehler. 

Ist   der   Personalaustausch   unter   den    einzelnen    Kantonen 
schon  bei  der  Anstellung  von  Bibliothekaren  in  leitender  Stellung 
wünschenswert,  so  wird  er  es  noch  mehr  bei  der  Besetzung  von 
Subalternposten.    Wir  besitzen   in   der   Schweiz   verhältnismäßig 
wenige  große  Institute;  an  ihrer  Spitze  einstens  zu  stehen,  sollte 
das  Endziel  der  Karriere  jedes  schweizerischen  Bibliothekars  bedeuten. 
Um  zu  diesem  Berufsabschluss  zu  gelangen,  scheint  es  mir  nötig, 
dass  der  Kandidat  an  verschiedenen  Orten  Dienst  getan  hat.  Ein 
derartiges   stufenweises  Vorrücken   hat  für  die  bibliothekarische 
Erfahrung  viele  praktische  Vorteile.  Bisher  verhielt  sich  die  Sache 
sehr  einfach.   Man  übergab  mit  Vorliebe  einem  Stadtbürger  oder 
Hochschullehrer  des   Institutes  die  Leitung,  während  die  übrigen 
Bibliothekare  gewöhnlich  ihr   Leben   lang  in  der  selben  Stellung 
blieben  —  mochten   sie   noch   so   tüchtig  sein.     Ebenso  wichtig 
scheint  mir  der  Austausch  junger  Kräfte  zwischen  der  deutschen 
und   der  französischen  Schweiz.     Auch   der   mittlere   und   untere 
Bibliothekdienst  erhielte  damit  gewiss  besseres  Personal.   Ist  eine 
eigentliche  Schule  nicht  möglich,  dann  verlange  man  wenigstens 
eine  einjährige  Lehrzeit  im   eigenen  Institute.    Zürich   bietet  uns 
mit  seiner  künftigen  Zentralbibliothek  vielleicht   auch  eine  einzig 
günstige  Gelegenheit,  junge  Bibliothekare  heranzubilden.  Ein  Lehr- 
stuhl   für   Bibliothekwesen    an    der  dortigen    Hochschule   dürfte 
als  eine  zeitgemäße  Neuerung  begrüßt  werden.     Bei  einer  Bewer- 
bung sollte  also  in  Zukunft  stets  eine  interkantonale  Konkurrenz 
angestrebt    werden.     Ausschreibungszirkulare,    die    an    sämtliche 
Bibliotheken    des    Landes   versendet   würden,    hätten    hier   wohl 
am  meisten  Aussicht  auf  Erfolg.    Wir  müssen  aus  bibliothekari- 
schen Interessen  den  schweizerischen   Bibliothekaren   wenigstens 
die  Gelegenheit  zu  einem  aussichtsreicheren  Avancement  schaffen; 

654 


sie  ist  bei  den  heutigen  Verliältnissen  nur  möglich,  wenn  wir  uns 
auf  eine  interi<antonale  Basis  steilen. 

Wir  kommen  zu  den  Reformbedürfnissen  gegenüber  den 
Besuchern.  Sind  einmal  Organisation  und  Verwaltung  neugestaltet, 
dann  greift  die  produzierende  Kraft  von  selbst  ein;  sie  wird  Ab- 
hilfe schaffen  und  den  Forderungen  der  Zeit  aus  eigenem  Antriebe 
gerecht  werden.  Im  Vordergrunde  stehen  hier  die  Katalog  fragen. 
Wir  besitzen  darüber  eingehende  Studien  von  Dr.  H.  Escher,  der 
diese  1912  im  Zentralblatt  für  Bibliothekwesen  (Jahrgang  XXX, 
Heft  7/8)  veröffentlicht  hat.  Ein  allgemeiner  Wunsch  geht  nach 
einem  schweizerischen  Generalkatalog.  Ein  Ausschnittbeispiel  zur 
Einsichtnahme  in  die  beabsichtigte  Redaktionsweise  wird,  wie  zu 
hoffen  ist,  an  der  schweizerischen  Landesausstellung  in  Bern  1914 
vorgeführt  werden.  Das  Ergebnis  der  bisher  angestellten  Unter- 
suchung führt  Dr.  Escher  zur  Ansicht,  dass  es  nötig  sein  wird,  nach 
Möglichkeit  Rücksicht  gegenüber  den  großen  Nachbarn  walten  zu 
lassen,  und  dass  wir  bei  der  Abfassung  unseres  Qeneralkataloges 
„nach  dem  Gesetze  des  Parallelogramms  der  Kräfte  vorgehen  und 
eine  Mittellinie  ziehen  müssen".  Die  Redaktion  wird  sich  also  der 
in  den  meisten  Bibliotheken  bestehenden  Praxis  anschließen,  so 
weit  sich  das  ohne  Inkonsequenz  tun  iässt.  Der  schweizerische 
Inkunabelnkatalog  ist  bereits  in  Arbeit  genommen  und  dürfte  in 
nicht  allzu  ferner  Zeit  erscheinen.  Zwei  weitere  Forderungen  sind 
zum  Teil  bereits  erfüllt.  Wir  besitzen  ein  Verzeichnis  der  1912  in 
den  schweizerischen  Bibliotheken  aufgelegten  laufenden  Periodica 
und  Serienpublikationen,  bei  dem  wir  allerdings  sehr  ein  Sach- 
register vermissen.  Die  schweizerischen  Einblattdrucke  haben 
ebenfalls  ihre  Aufnahme  in  den  Heitzschen  Frühdruckpublikationen 
gefunden.  Diesen  Veröffentlichungen  wird  sich  hoffentlich  wohl 
bald  auch  der  schweizerische  Handschriftenkatalog  anreihen.  An 
den  meisten  Bibliotheken  erscheinen  heute  gedruckte  Zuwachs- 
kataloge. Dort,  wo  man  mit  Rücksicht  auf  falsch  verstandene 
Sparsamkeitsgründe  auf  eine  Fortsetzung  verzichtet  hat,  möchten 
wir  eine  Wiederaufnahme  dieser  Verzeichnisse  sehr  befürworten. 

Wir  müssen  überdies  von  jeder  Bibliothek  eine  genaue  detail- 
lierte Rechenschaft  über  die  Erwerbe  erwarten,  sonst  wird  ein  ratio- 
neller, im  richtigen  Verhältnisse  zu  Bedarf  und  Mitteln  geleiteter 
Ankauf  immer  mehr  ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Eine  Kontrolle 

655 


auf  ein  bloßes  Eingangsregister  mit  Titel,  Preis-  oder  Geschenkan- 
gaben und  Bibliotheksignatur  genügt  nicht.  Bibliothekar  wie  Besucher 
sollen  wissen,  was  für  Werke  alljährlich  in  den  einzelnen  Gebieten 
angeschafft  wurden.  Wenn  im  Jahresbericht  bei  der  Theologie 
zum  Beispiel  ein  jährlicher  Zuwachs  von  nahezu  tausend  Druck- 
sachen steht,  ist  mir  nicht  im  geringsten  gedient;  ich  möchte 
wissen,  welche  grundlegenden  Werke  gekauft  worden  sind,  wie 
viel  und  welche  Bücher  der  liberalen  theologischen  Richtung,  wie 
viel  der  strengen  Observanz,  wie  viele  in  den  verschiedenen 
Literaturen  der  Religionen;  —  erst  dann  gibt  sich  der  gewissen- 
hafte Bibliothekar  zufrieden,  erst  dann  aber  interessiert  sich  auch 
die  theologische  Öffentlichkeit  mehr  um  die  Bestände.  Besitzen 
wir  einmal  derartige  gedruckte  Kataloge  der  Neuerscheinungen, 
dann  ersparen  wir  uns  auch  viel  Zeit  an  Zettelschreiben;  die  ge- 
druckten Zettel  lassen  sich  auch  für  die  Nachschlagkataloge  ver- 
wenden, ja  es  wird  vielleicht  mit  der  Zeit  möglich,  in  allen  An- 
stalten einen  Fachkatalog  anzulegen.  Mancherorts  muss  man  bei 
uns  noch  viel  Arbeit  darauf  verwenden,  einen  einheitlichen  Haupt- 
katalog auszuarbeiten.  Mit  der  Abfassung  des  Generalkataloges 
erhalten  wir  eine  günstige  Gelegenheit,  die  großen  Fehler  früherer 
Redaktionen  auszumerzen.  Eine  Kollationierung  sämtlicher  Titel 
während  des  Erscheinens  des  Generalkataloges  dürfte  hier  für  alle 
schweizerischen  Bibliotheken  angezeigt  sein.  In  den  größeren  Druck- 
städten wäre  bei  diesem  Anlasse  eine  ausführliche  Bibliographie  der 
älteren  lokalen  Druckwerke  sehr  erwünscht.  Mit  einer  Neube- 
arbeitung von  G.  E.  Hallers  Bibliothek  der  Schweizergeschichte 
würde  der  schweizerischen  Geschichtsforschung  ein  großer  Dienst 
geleistet;  die  eidgenössische  Literatur  des  sechzehnten,  siebzehnten 
und  achtzehnten  Jahrhunderts  ist  uns  nur  sehr  fragmentarich  be- 
kannt und  ist  dem  Forscher  oft  nur  schwer  zugänglich. 

So  ließe  sich  noch  eine  Fülle  von  Anregungen  bringen.  Wir 
glauben  aber;  damit  für  heute  schon  mehr  als  genug  des  Guten 
getan  zu  haben.  Möge  der  Leser  diese  Fachstudie  mit  Nachsicht 
prüfen,  möge  sich  sein  Interesse  unseren  dem  öffentlichen  Leben 
immer  näher  rückenden  Bibliotheken  auch  immer  mehr  zuwenden. 
Nur  wenn  die  Allgemeinheit  ihre  tatkräftige  Mithilfe  uns  schenkt, 
werden  wir  auch  in  der  Schweiz  ein  gedeihliches  Aufblühen  der 

Bibliotheken  erleben. 

BERN  C.  BENZIGER 

656 


EINST  IN  AFRIKA 

(Schluss.) 

Krankenschwestern  sind  menschenähnliche  Gebilde,  vom  alten 
Europa  zum  Wohle  aller  Gesellschaftsklassen  produziert.  So  gab 
ich  mir  Mühe,  mich  in  die  Tagesinteressen,  Familienverhältnisse, 
Erinnerungen  und  Zukunftsträume  des  Unteroffizierspaars  einzu- 
leben ;  denn,  obschon  meine  Persönlichkeit  außerordentlich  ent- 
behrlich war,  sollte  ich  auf  höheren  und  allseitigen  Wunsch  in 
der  gesunden  Luft  des  Hinterlandes  bleiben,  wo  ich  besser  Quar- 
tier fand  als  an  der  Küste.  Ach,  und  Frau  Schramgke  hatte  mir 
jeden  Tag  so  viel  zu  erzählen,  oft  recht  bedenkliche  Geschichten, 
denn  anders  als  in  meinem  malte  sich  die  afrikanische  Welt  in 
ihrem  Kopfe.  Klipp  und  klar  zeigte  sie  mir  stündlich,  welch 
kohlrabenschwarze  Pfeile  Eros,  der  arme  griechische  Knabe,  im 
Interesse  der  weißen  Zivilisatoren  zu  verschießen  hatte.  Kam  ich 
von  einer  einsamen  botanischen  Exkursion  zurück,  denn  ich  eilte 
täglich  zwischen  fünf  und  sechs  nach  Blumen  und  Schmetterlingen, 
fand  ich  sie  oft  in  trautem  Gespräche  mit  einem  ansehnlichen 
Negerweibe,  welches,  wie  sie  mir  dann  mitteilte:  „Auch  schon 
mehr  g'sehn  hat,  als  der  Schweinemarkt  von  sei'm  Dorf."  Vom 
Kirchturm  konnte  man  allerdings  nicht  reden,  denn  Kirchtürme 
gab's  nicht. 

Eines  schönen  Tages  wurde  beim  Bezirksamtmann  und  bei 
Schramgkes  Besuch  erwartet.  Bei  Herrn  von  Riemar  war  es  ein 
Fachmann,  der  die  Gesteinsarten  des  Hinterlandes,  ich  glaube  auf 
Goldadern,  untersuchen  sollte;  bei  Polizeimeisters  ein  Kollege  von 
der  äußersten  Nordgrenze,  der  seinen  Europaurlaub  antrat.  Beide 
konnten  nur  diesen  von  der  Regierung  gut  unterhaltenen  Weg 
benutzen,  kreuzten  sich  auf  unserer  Station,  wurden  selbstver- 
ständlich beherbergt  und  bewirtet,  auf  Wunsch  Tage,  ja  Wochen 
lang,  denn  die  afrikanische  Gastfreundschaft,  von  jedem  dazumals 
in  dem  herberg-  und  hotellosen  Lande  als  Selbstverständlichkeit 
geübt  und  angenommen,  ging  ins  Grenzenlose. 

„Schwester,"  sagte  Schramgke,  „nu  werden  Sie  was  sehen 
und  hören:  der  Polizeimeister  Fricke  kommt.  Der  nimmt's  Maul 
grandig  voll  und  dabei  krümmt  er  keinem  Moskitos  en  Beenchen. 
Ich  sag'  Ihne,  's  sanfteste  Lamm!  Aber  aus  der  Kartoffelfair 
pulvert's  nur  so!" 

657 


Dann  sah  er  mich  schlau  und  wichtig  zugleich  an:  „Wissen 
Sie,  aus  dem  Fricke  seinen  Kisten  geh'  ich  Ihne  en  schönes  Ab- 
schiedsgeschenk, ein's  das  sich  gewaschen  hat.  Wissen  Sie,"  und 
er  zog  die  Achseln  ein  wenig  höher:  „Ethnographika!  Ja,  die 
gibt's  noch  dort  hinten." 

Ethnographika,  dies  Wort,  ich  habe  es  beobachtet,  sprechen 
alle  Unterbeamten  leidenschaftlich  gern  aus.  —  Aber  ein  Abschieds- 
geschenk —  und  erst  noch  aus  fremden  Kisten  — ;  es  wurde  mir 
unbehaglich. 

„Haben  Sie  ja  keine  Bange,"  fuhr  der  Polizeimeister  unbeirrt 
fort,  „Fricke  wehrt  sich  immer  wie  en  angeschossene  Zibetkatze, 
der  Kerl  vernagelt  sein  Zeug  wie  toll,  aber  ich  hab'  en  gutes 
Stemmeisen  und  zuletzt,  wenn  alles  nichts  hilft,  gibt  er  immer 
klein  bei.  Wissen  Sie,  Schwester,  im  Grund  ist's  nämlich  en 
Lamm." 

Ich  wollte  remonstrieren,  da  kam  die  stolze  Mutter,  das 
schlummernde  Kindchen  im  Arme. 

„Du,  Mann,"  fing  sie  an,  „den  Fricke  wolle  mer  tüchtig 
einseife.  Weißte,  der  hat  so  en  Schlägelchen  gehabt,  nu  kann  er 
keinen  Wein  vertragen  ohne  blödsinnig  Zeug  zu  reden.  Den  will 
ich  mit  sei'm  große  Schwatzmaul  tüchtig  reinlege." 

In  diesem  Augenblick  ertönte  die  Stimme  des  Bezirksamt- 
manns. Der  Polizeimeister  rannte,  rannte  so  schnell  er  konnte, 
eifrig  und  devot  wie  immer,  denn  Disziplin  gab's  auch  im  afrika- 
nischen Hinterlande. 

Am  Abend  erschien  Herr  von  Riemar.  Er  bat  mich  zu  einem 
kleinen  Spaziergange  und  lud,  wenn  sein  gelehrter  Gast  einge- 
troffen wäre,  zu  einem  simplen  Diner  auf  luftiger,  umwucherter 
Pergola  ein. 

„Am  schönsten  wär's,"  er  deutete  auf  den  einzigen  Riesen- 
baum, der  die  Gegend  überragte,  „wir  könnten  zu  dritt  dort  oben 
tafeln  —  weit  —  weit  —  über  der  Trivialität  der  Welt."  Er  lächelte: 
„Über  der  Menschenmisere." 

Abends  saß  ich  auf  Schramgkes  Veranda  zwischen  zwei 
Polizeimeistern,  von  denen  der  eine  die  Spuren  des  Schlaganfalls 
noch  auf  der  linken  Gesichtshälfte  trug.  Die  beiden  Unteroffiziere 
überboten  sich   in  dienstlichen  Wichtigkeiten.     Dann   aber  gab's 

658 


auch  Busch-  und  Jagdabenteuer  zu  erzählen,  und  wie  man  den 
Häupth'ngen  imponiert,  teils  durch  scharfsinnige  Gerechtigkeit  — 
aber  dann  auch  durch's  Auftreten.  Das  war  für  die  Damen ! 
Leicht  stotternd  brachte  Fricke  den  Knalleffekt  doch  immer  zur 
richtigen  Zeit  heraus  —  und  —  er  blieb  ängstlich  dezent. 

Ich  betrachtete  mit  Vergnügen  seinen  langen,  struppigen 
Rübezahlkopf  mit  den  etwas  gnomenhaft  verzerrten  Gesichtszügen 
und  schaute  träumend  über  seine  Schultern  in  den  weiten  afri- 
kanischen Busch,  der  sich  unter  dem  Silberglanz  eines  magischen 
Mondscheins  ausbreitete.  Dort  in  der  Ferne  stiegen  wie  Feuer- 
lilienkränze die  Lohen  der  Buschbrände  empor.  Doch  rechts 
verflutete  die  stille,  klare  Märchenwelt,  deren  burleske  Verkörpe- 
rung mir  Fricke  augenblicklich  wurde,  in  zartes,  nebelhaftes  Dunkel. 

Da  goss  ihm  plötzlich  Frau  Schramgke  Wein  ins  Wasserglas. 
Es  half  nichts,  sie  machte  eben  ihr  Witzchen. 

„Auf  mei  Wohl  und  auf  Friederikche  sein's  müssen's  trinken!" 

Fricke  wehrte  sich  verlegen. 

„Was,  nit  emal  trinke  können's  und  protzen  drauf  los!  Auf 
mei  Wohl  müssen's  trinke,  so  schickt  sich  des!" 

Der  gute  Kerl  trank.  Er  wollte  sich  nicht  lumpen  lassen.  — 
Sein  Kopf  wurde  röter.  —  Er  stotterte  bereits  bedenklich  —  und  — 
ich  fühlte  genau  —  war  nicht  mehr  im  geringsten  orientiert. 

„Jetzt  kommt's  Gequassel  und  der  Blödsinn!"  lachte  die  Frau 
verschmitzt  zu  mir  herüber. 

Ja  und  es  kam  —  leider  nicht  blödsinnig  genug  —  aber  es 
wurde  mir  peinlich. 

Fricke  stützte  plötzlich  die  müde  Stirne  und  fing  an  tief 
zu  grübeln  —  irgend  etwas  schien  er  vergessen  zu  haben  —  das 
wollte  nicht  mehr  in  seinen  schweren  Kopf  zurück.  Er  besann 
sich  und  besann  sich  —  es  schien  umsonst  —  mit  glasigen  Augen 
schüttelte  er  sein  hilfloses  Haupt.  —  Da  fiel  ihm  offenbar  sein 
treuester  Freund,  ein  kleines,  schwarzes  Notizbüchlein  ein.  Mit 
unsichern  Händen  holte  er  es  aus  der  Westentasche,  blies  liebe- 
voll ein  Stäubchen  vom  glänzenden  Wachstuch  —  legte  das  Kleinod 
auf  die  weiße  Tischdecke  und  fing  an,  sorgfältig  und  umständlich 
zu  blättern.  Alles  war  sauber  liniert,  bis  ins  kleinste  rubriziert, 
dann  nummeriert  und  zierlich  reingeschrieben. 

Endlich  Seite  dreiundzwanzig  —  da  schien  es  zu  sein. 

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„Hier  lies,  Schramgke,  damit  ich's  nicht  vergesse." 

„Lies  doch  selbst,"  lachte  sein  Kollege,  „wenn  de  noch  kannst," 
und  nagte  an  seinem  dicken  Hühnerbein  weiter. 

„Also  dein  —  früheres,  schwarzes  Weib  —  Schramgke  —  hat 
jetzt  mei  Nachfolger  übernommen.  Er  sagt,  's  war  g'sund,"  Frfcke 
stotterte  es  bewundernd,  „hingegen  ich  glaub  net  .  .  . " 

Ein  Schmerzensschrei  unterbrach  ihn.  Seine  Nachbarin  wand 
sich  totenblass  auf  ihrem  Stuhle  —  krampfhaftes  Schluchzen  — 
ich  musste  ihr  rasch  beispringen  und  sie  eilends  zu  Bett  bringen. 
Die  ganze  Nacht  gabs  Aufschreie  und  Qestöhne. 

Am  nächsten  Morgen  fand  ich  sie  bleich  und  leblos  im  Bette 
liegend  —  dann  fings  von  neuem  an. 

„Schwester,"  schrie  sie  zuletzt,  „wie  wenn  der  Kerl  Hühner 
zähle  müeßt,  wie  wenn  er  's  Vieh  verrechne  tat,  treibt  er's  mit 
seim  lästerliche  Notizbuch!    Der  Hund!" 

„Aber  Sie  hat  er  ja  nicht  verrechnet,"  sagte  ich  etwas  ge- 
ärgert, „beruhigen  Sie  sich  doch." 

Nicht  möglich.  Die  Kissen,  krampfhaft  zusammengeballt, 
erstickten  von  neuem  ihr  krampfhaftes  Schluchzen.  Drei  Wochen 
waren  seit  der  Geburt  vergangen.  Friederikchen  lächelte  in  seiner 
großen  Bierkiste;  sie  war  so  liebevoll  vom  Vater  zurechtgezimmert 
worden.  Ja,  alles  wurde  bis  gestern  nur  zum  Wiederschein  der 
strahlenden  Freude,  die  so  warm  und  lebendig  vor  zwanzig  Tagen 
ins  Haus  zog.  Jetzt  dieser  Rückschlag!  —  Ich  sah  nachdenklich 
in  die  Üppigkeit  der  tropisch  wuchernden  Passionsblumen,  welche 
das  Haus  umrankten.  Bleich,  traurig  lief  der  Polizeimeister  herum. 
Immer  wieder,  wenn  ihn  der  Dienst  frei  ließ,  kam  er,  die  Frau 
zu  beschwichtigen,  ihr  zuzureden.  Es  nützte  nichts.  Sie  schluchzte, 
grollte,  giftelte.  Auch  das  Grammophon  hatte  gute  Ruhe.  Die 
Wacht  am  Rhein  war  ein  überwundener  Standpunkt. 

Als  Schramgke  mal  wieder  zur  Frau  lief,  hörte  ich  den  Chef 
ärgerlich  rufen:  „Der  Teufel  hol'  die  Frauen  in  Afrika,  ein  verheira- 
teter Beamter  ist  nur  ein  halber  Beamter."  im  Grunde  war  es 
auch  so.  Fricke,  der  auf  der  Treppe  saß,  meldete  mir  wichtig 
diesen  Ausspruch  des  Vorgesetzten,  dann  sagte  er  traurig:  „Ich 
hab'  mich  so  gefreut,  nach  langer  Zeit  mit  weißen  Frauen  zu- 
sammen zu  sein,  eine  durchlauchtige  Ehr'  ist's  mir  gewesen,  und 
jetzt  ist  alles  futsch !  Sie  hätt'  mir  halt  kein'  Wein  einschenken  sollen." 

660 


Den  nächsten  Abend  saß  ich  unter  der  laubumwucherten 
Pergola  des  Bezirksamtmanns,  rechts  ein  Gentleman,  links  ein 
Gentleman,  nur  der  Rahmen  blieb  afrikanisch.  Von  bunten  Tüchern 
malerisch  umschlungen,  servierte  die  schwarze  Dienerschaft.  Die 
übliche  Petrollampe  in  der  Mitte  des  Tisches  war  von  glänzenden 
Käfern,  roten  und  gelben  Motten,  Schmetterlingen  und  fliegenden 
Ameisen  umworben. 

„Platsch,"  hörte  ich  plötzlich  neben  mir,  Herr  von  Riemar 
zog  einen  kleinen  fliegenden  Hund  aus  dem  Suppenteller  und 
beförderte  ihn  mit  einer  eleganten  Geste  ins  Buschwerk. 

Auch  ich  zog  ein  rätselhaftes  Etwas  aus  der  Suppe,  zu  näherer 
Bestimmung  fehlten  mir  die  zoologischen  Kenntnisse.  Dann  zog 
das  Aroma  des  Weines  einen  großen  Nachtfalter  in  unsere  Nähe. 
Grau,  mit  leuchtend  roten  Unterschwingen  umkreiste  er  uns  laut- 
los, wie  ein  stiller,  heidnischer  Zauber.  —  Enger  und  enger  zog 
er  seine  seltsamen  Schlingen. 

„Weinsegler,"  nenne  ich  ihn,  lächelte  Herr  von  Riemar,  „er 
gibt  dem  feinsten  Trunk  noch  einen  gewissen  Rhythmus."  Lang- 
samer und  langsamer  umschwebte  er  uns ;  wie  ein  dunkler,  schwer- 
mütiger Traum  streifte  er  unsere  Häupter. 

„Er  verlässt  uns  nicht  mehr,"  sagte  der  gelehrte  Herr  neben 
mir  versonnen  und  schaute  mit  seinen  bebrillten  Augen  dem  sich 
wiegenden  Zauber  nach.  Schwermut  lag  plötzlich  im  warm  er- 
leuchteten Grün  der  Sträucher,  und  hinter  ihnen  huschte  sie  leise 
über  den  mondbeglänzten  Rasen.  Wir  sprachen,  ich  weiß  nicht 
mehr  warum,  vom  griechischen  Altertum.  Dann  war  der  Bann 
gebrochen,  Englands  Kolonialpolitik  kam  an  die  Reihe.  Einem 
feinen  Disput  hatte  ich  zuzuhören  und  er  bildete  den  Übergang 
zur  anregenden  Besprechung  des  kleinen  Schutzgebietes  selbst. 

Bald  zog  ich  mich  zurück,  um  nach  Friederikchen  zu  sehen. 
Die  Kleine  hatte  sich  heute  etwas  mausig  gemacht. 

Am  Morgen  verlangte  Frau  Schramgke  sofort  nach  mir;  be- 
ruhigt hatte  sie  sich  noch  kein  bisschen. 

„Was  haben's  beim  Chef  g'sprochen?"  frug  sie  neugierig, 
„und  was  gegessen?" 

Ich  erzählte,  um  sie  abzulenken,  was  mir  just  einfiel.  Wohl 
manches,  das  über  ihren  Horizont  ging. 

661 


„So,  von  deutscher  G'schicht  habe  sie  g'sproche  und  de 
Engländer  ihrem  Kolonisiere.  Ja,  des  ist  freilich  was  anderes, 
als  dem  Fricke  sein'  Dreck!" 

Plötzlich,  ich  hörte  den  müden  Tritt  des  Polizeimeisters  auf 
der  Treppe,  sagte  sie  überlaut:  „Wartens  nur,  ich  meld'  alles 
dem  Chef,  mei  ganz  Schmerz  sag'  ich  dem  Chef;  des  is  ein  feiner 
Mann  und  hat  kein'  Notizbücher." 

„Aber  en  schwarzes  Weib  hat  er!"  polterte  der  Polizeimeister, 
„der  wird  dich  mit  dei'm  undienstlichen  G'stöhn  schön  heim- 
schicken !" 

„Was  sage  Sie  dazu ,  Schwester  ? "  fragte  hämisch  die 
arme  Frau. 

Es  war  mir  wirklich  einerlei.  Seine  Reden  und  Manieren 
waren  waren  die  eines  Gentlemens;  sein  Wirken  das  eines  tüch- 
tigen, ehrenhaften  Mannes.  „Katholischer  Pater  bin  ich,  Gott  sei 
Lob  und  Dank,  nicht,"  antwortete  ich  etwas  unvorsichtig,  „und 
brauche  mich  deshalb  über  anderer  Leute  Lebensführung  und 
Ansichten  nicht  aufzuregen." 

„Siehste,  Mann,  dem  Pater  Schenkelmeier  werd'  ich's  sage. 
Des  is  der  richtige  Ort!" 

Unwillkürlich  sah  ich  zur  Wand  hinauf,  zu  den  beiden  Marien. 
Mild  senkte  die  eine  die  Augen  hernieder,  erschreckt  und  klagend 
schlug  sie  die  andere  empor. 

Der  Pater  kam.  Wie  er  sprach,  weiß  ich  nicht.  Großer  Er- 
folg war  erst  nicht  zu  verzeichnen. 

Abends  darauf  saß  ich  wieder  am  grünen  Hang  bei  den 
Schmetterlingen;  da  erschien  oben  am  Rande  Schramgkes  weiße, 
breite  Gestalt. 

„Darf  ich  en  Augenblick  zu  ihnen  kommen,  Schwester?" 
sagte  er  bittend. 

Er  setzte  sich  neben  mir  ins  Gras  und  die  Blicke  seiner  weit 
auseinanderliegenden  Augen  irrten  zuerst  in  der  Landschaft  herum. 

„Schwester,"  fing  er  dann  an,  „Sie  denken  gewiss,  dass  ich 
en  schlechter  Mensch  bin.  Nun  —  nun  — "  seine  Stimme  war 
unsicher,  „der  Pater  Schenkelmeier  sagt,  's  war  en  Fehler  gewesen, 
vielleicht  war's  einer  —  ich  weiß  nicht,  wie  die's  machen  —  aber 
mei  Frau  sollt  verzeih'n  und  vergessen.  Sie  hat  ja  auch  eben 
verziehn,   aber  wissen   Sie,   weil  sie  sagt,    vergessen   könnt  sie's 

662 


doch  net  so  recht,  so  sprechen  Sie  vielleicht  am  besten  mit  ihr. 
Sie  hat  immer  gern  aufg'wärmt,  auch  beim  Essen,  und  jetzt  sitzt's 
so  tief  drin,  dass  es  net  zum  Aushalten  ist.  Und  wissen  Sie, 
Schwester,  ich  hab'  mei  Frau  g'holt,  so  bald  ich  g'konnt  hab', 
aber  so'n  lange  Brautzeit  —  ich  sage  Ihne  —  das  ist  's  Ver- 
fluchteste, was  's  in  Afrika  für  en  Mann  gibt!" 

Er  stützte  den  Kopf  in  beide  Hände  und  seufzte  nochmals; 
„'s  sitzt  so  tief  drinn!" 

Selbst  über  Frau  Schramgkes  schlechtes  Aussehen  etwas  be- 
unruhigt, musste  ich  dies  zugeben.  Ja,  sie  war  fahl,  gelb,  und 
ich  dachte  unwillkürlich  an  jene  Kindbettneurosen,  wo  ein  Wort  in 
den  ersten  Tagen  des  Wochenbetts  genügt,  einen  Rattenschwanz  quä- 
lendster Zwangsvorstellungen  hervorzurufen,  die  sich  wie  spitze 
Nägel  in's  Gehirn  bohren.  Aber  es  ging  ihr  ja  schon  so  gut. 
Anderseits  kam  mir  ihre  gänzliche  Vernichtung,  nachdem  sie  von 
andern  so  viel  kohlrabenschwarze  Moritaten  erzählt  hatte,  denn 
doch  etwas  komisch  vor. 

„Nicht  wahr,  Schwester,  Friederikchen  ist  gesund?"  fing  der 
Polizeimeister  wieder  an.  „Nicht  wahr?"  Es  zuckte  um  seine 
Mundwinkel.    Ja,  darüber  dachte  er  ernst. 

Gewiss,  es  war  ein  schönes,  kräftiges  Mädchen  mit  tadellos 
reiner  Haut. 

„Sehen  Sie,  Schwester,  wegen  mir  braucht  's  Friederikelchen 
in  kein'  Nervenheilanstalt,  in  kein'  Narrenhaus,  in  kein'  Kaltbaderei, 
in  kein'  Gehirnaufweichungsort,  in  kein'  Knochenfraßabteil.  Wegen 
mir  kann  sich's  emal  seines  Lebens  freuen,  wie  g'sund  Leut  sich 
freuen  können.  Das  ist  mehr  wie  tausend  Väter  in  Afrika  und 
millione  Väter  in  Europa  von  sich  sage  können!" 

Vor  uns  lag  wieder  der  langsam  sich  senkende,  glutrote  Ball 
der  afrikanischen  Sonne.  Noch  blaute  im  Süden  und  Norden 
der  Himmel,  doch  die  Umrisse  der  Bäume  und  Sträucher  wurden 
immer  schärfer  und  schärfer.  Ein  paar  Ölpalmen  und  hohe, 
üppige  Bambusstauden  gaben  bald  ein  zierliches  Schattenspiel. 
Feurige  Gluten,  ganz  kurze  Dämmerung,  plötzliche  Finsternis,  das 
war  das  Scheiden  des  Tropentages. 

Schramgke  starrte,  beschaulich  vor  sich  hin  redend,  in  die 
scheidende  Sonne  und  schien,  müde  der  ehelichen  Szenen,  dem 
leuchtenden  Gestirn,   ohne  viel   dabei  zu  denken,   von   allen  An- 

663 


staltsschattierungen  zu  erzählen,  wo  's  Friederikelchen  seinetwegen 
nicht  hin  musste.  Und  die  Sonne  antwortete  dem  besorgten  Vater 
mit  ihren  schönsten  Strahlen.    Wenigstens  schien  es  fast  so. 

Dann  sprang  er  auf  und  seufzte  schwer.  Langsam  schritten 
wir  dem  Hause  zu.  „Wo  ist  eigentlich  Fricke?"  fragte  ich,  um 
abzulenken.  Der  Polizeimeister  deutete  in  einen  Lagerraum. 
Richtig,  da  saß  er,  ausdauernd  und  fest  auf  seinen  vernagelten 
Kisten.  Der  arme  Kerl!  Ihm  mochte  bei  allem  Schmerz  vom 
geplanten  Abschiedsgeschenke  ahnen. 

Friederikchen  schrie,  wie  wenn's  am  Messer  steckte.  Natür- 
lich, die  ewige  Aufregung,  das  Giftein  und  Grollen  hatten  die 
Milch  verdorben.  Die  Mutter  weinte.  Ich  setzte  mich  neben  sie, 
da  fing  sie  wieder  an  zu  jammern  über  „des  G'sindel,  was  sich 
Mann  nennt". 

„Machen  Sie  jetzt  Schluss,  Frau  Schramgke,"  sagte  ich  be- 
gütigend, „es  ist  wegen  der  Milch." 

„Ich  lass  mer  scheiden,"  entgegnete  sie  trotzig,  „oder  vielmehr 
ich  reis'  nach  Europa." 

„Erstens  sind  Sie  katholisch  und  können  sich  nicht  schei- 
den lassen,"  sagte  ich  gemütlich,  „zweitens  ist  's  Friederikchen 
kerngesund  und  ich  würde  das  Scheiden  den  Frauen  überlassen, 
deren  Kinder  dank  dem  Vater  keine  Aussicht  haben,  gesund  zu 
werden.     Ihrer  sind  genug   in  Afrika   und  Millionen  in  Europa." 

Sie  hob  den  Kopf  und  musterte  liebevoll  ihr  lutschendes 
Kindchen.  „Meinen  Sie,"  sagte  dann  Frau  Schramgke  herab- 
lassend, „'s  war  auch  en  Standpunkt."  Ja,  auch  da  drinn  konnte 
Ansehn  und  Auszeichnung  liegen.    Und  das  war  die  Hauptsache. 

Wieder  bat  mich  Herr  von  Riemar  zu  einem  kleinen  Spazier- 
gang. Er  wollte  mir  eine  besonders  üppige  Baumwollplantage 
zeigen  und  dann  noch  die  Zwischenkulturen.  —  Ich  weiß  nicht 
mehr  wie,  aber  wir  kamen  auf  Häckel  zu  sprechen. 

„Ein  mutiger,  tapferer  Mann,"  sagte  mein  Begleiter. 

„Ihr  religiöses  Bekenntnis?"  fragte  ich  indiskret. 

Er  machte  einen  Augenblick  halt.  In  den  herben,  scharf 
ausgemeißelten  Zügen  lag  etwas  Feierliches  und  die  Hand  auf 
dem  Herzen    sprach    er  mit  Ernst:  „Mein  Prophet  ist  Bismarck, 

664 


meine  Religion  heißt :  Ein  mächtiges  Deutschland  unter  den 
Hohenzollern!" 

Ein  alter  Neger,  der  vor  seiner  Hütte  saß,  grinste  uns  gut- 
mütig entgegen.  Als  wir  zurückkehrten,  hörte  ich  von  ferne  Frau 
Schramgkes  Stimme:  „Amysanto,  du  schwarzes  Rindvieh,  wo 
treibst  dich  rum?  Wann  willst  du  endlich  dein  Brot  backen?" 
Als  wir  näher  kamen,  stand  sie  in  vertraulichem  Gespräch  mit 
zwei  Negerweibern. 

„Schade,"  sagte  mein  Begleiter,  „sie  ist  eine  brave,  tüchtige 
Frau,  doch  so  sehr  hoch  steht  ihr  Geistesniveau  nicht  über  dem 
der  Negerweiber.  Leider  hat  sie,  die  Klatschsucht  zu  befriedigen, 
keine  Rassengenossin.  Der  Mohr  soll  zur  weißen  Frau  aufsehen, 
wie  zu  einem  höhern  Wesen,  und  der  Mohr  tut  es  auch,  denn 
das  ist  ihm  angeboren.  Sonst  —  ja  sonst  —  ich  muss  gestehn  — 
gibts  eine  burleske  —  eine  drollige  Psychologie." 

Endlich  rückte  der  Tag  meines  Abschieds  heran.  In  der  Um- 
gebung wurden  Träger  requiriert,  eine  stattliche  Kolonne.  Auf 
diese  Weise  mochte  Maria,  die  schwarze  Bachantin,  von  meiner 
Abreise  vernommen  haben.  Als  ich  schwesterlich  meines  Weges 
zog,  tauchte  plötzlich  ein  trunkener  Zug  vor  mir  auf,  und  in 
wilden,  rhythmischen  Lauten  umjohlte  mich  afrikanische  Lust. 

Und  wie  einst  der  Falter  mit  schwermütigem  Grau  und 
brennendem  Rot  uns  magisch  umwoben  hatte,  umkreiste  mich 
hier  noch  zum  letztenmal  ein  seltsamer,  heidnischer  Reigen.  Ich 
weiß  nicht  warum,  aber  dunkel  und  schwermütig  klang  er  mir  in 
die  Ohren,  schwermütig  wie  das  afrikanische  Busch-  und 
Palmengrün. 

Still,  unbehelligt  trottete  ich  meines  Weges;  der  schwarze 
Polizeisoldat  schritt  in  gehorsamem  Phlegma  treulich  neben  mir 
über  die  säubern,  vom  Europäer  geglätteten  Straßen ;  die  Träger 
trällerten  eintönige  Weisen,   ohne  den  Befehlen  zu   widerstreben. 

Ich  war  längst  am  andern  Ende  der  Weit,  als  mich  eines 
Tages  ein  Brief  aus  Westafrika  erreichte.  Darin  stand  unter 
anderm :  Frau  Polizeimeister  Schramgke,  die  Sie,  so  viel  ich  weiß, 
kannten,  ist  kürzlich  gestorben;  man  sagt,  am  Gallenfieber.  Der 
Mann  macht  den  Eindruck,  wie  wenn  er  einem  schweren  Auto- 

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mobilunglück  entronnen  wäre.  Friederikchen  ist  gesund  und  bleich, 
doch  für  Afrika  immerhin  noch  blühend.  Aber  eine  Schwester 
Schramgkes  soll  aus  besondern  Gründen  Nonne  werden.  Richtige 
katholische  Nonne!    Wissen  Sie  warum? 

„Auch  das  noch!"  dachte  ich  bei  mir  selbst. 
AARAU  GERTRUD  HUNZIKER 

ODD 

REFORMATIONSLIED 

aus  der  Oper  „Die  Schweizer"  von  HANS  JELMOLI 

Wir  wollen  ha'n  das  lautre  Wort, 
Wie's  Gott  der  Herr  geschaffen, 
Und  nicht  verschnitten  und  verschnorrt 
Von  Schreibern  und  von  Pfaffen. 

Wir  wollen  steh'n  mit  unsrer  Sund' 
Vor  unserm  Gott  mit  Bangen; 
Uns  kann,  da  wir  doch  Sünder  sind. 
Kein  Papst  das  Heil  erlangen. 

Wir  wollen  bau'n  auf  Christi  Blut 
Und  nicht  auf  Ablasszettel: 
Zum  Teufel  mit  der  Römerbrut 
Und  mit  dem  römischen  Bettel! 

Wir  wollen  freie  Schweizer  sein 
Und  nur  den  Herrgott  ehren; 
Dem  schlagen  wir  den  Schädel  ein, 
Der's  länger  uns  will  wehren. 

Auf,  Brüder,  frisch  das  Schwert  zur  Hand, 
Lasst  uns  das  Heil  erwerben  — 
Kommt  uns  zu  Hilf  durch's  ganze  Land, 
Zu  siegen  oder  sterben! 

KONRAD  FALKE 


666 


BEBEL 

August  Bebel  hatte  eine  selten  gute  Presse.  Auch  die  Blätter 
der  deutschen  Feudalaristokratie,  die  zeitlebens  kein  gutes  Haar 
an  dem  roten  König  ließen,  fanden  weiche,  versöhnende  Worte. 
Zürichs  Bevölkerung  ist  dem  toten  Bebel  mit  innerer  Anteil- 
nahme gegenübergestanden  und  seine  letzte  Fahrt  vom  Schanzen- 
berg bis  hinaus  zum  Friedhof  hat  der  Bourgeoisie  wie  vielleicht 
nie  vorher  zum  Bewusstsein  gebracht,  was  für  einen  Machtfaktor 
die  internationale  Sozialdemokratie  heute  bedeutet.  Man  muss 
auch  gesehen  haben,  wie  Tausende  und  Abertausende  an  der  auf- 
gebahrten Leiche  im  Volkshaus  vorbeidefilierten,  um  eine  richtige 
Vorstellung  von  der  Verehrung  zu  erhalten,  die  Bebel  bei  den 
proletarischen  Massen  genoss.  Es  ist  buchstäblich  wahr,  was 
Bebeis  Parteigänger  im  Wiener  Kampf  bei  seinem  siebzigsten  Ge- 
burtstag behaupteten :  Bebel  gehört  der  Internationale,  seine  Macht 
reicht  weit  über  Deutschlands  Grenzen,  in  allen  Industriegebieten 
der  Welt  ahmt  proletarische  Agitations-  und  Organisationsarbeit 
sein  Beispiel  nach,  in  allen  Kultursprachen  sprechen  seine  Schriften, 
zu  zahllosen  Arbeitern. 

Das  Geheimnis  der  fast  beispiellosen  Volkstümlichkeit  Bebeis 
darf  darin  gesucht  werden,  dass  die  deutsche  Sozialdemokratie 
durch  ihn  und  mit  ihm  diesen  meteorhaften  Aufstieg  genommen 
hat.  Bebel  war  bescheiden  genug,  auch  der  gewaltigen  wirtschaft- 
lichen Expansion  Deutschlands  einen  guten  Teil  an  dem  Wachs- 
tum der  Partei  zuzubilligen. 

Dem  großen  Parteiführer  haben  seine  heftigsten  Gegner  per- 
sönlich nichts  anhaben  können,  er  stand  zeitlebens  rein  da,  er  war 
die  menschgewordene  Ehrlichkeit.  Hans  von  Gerlach,  ein  Volks- 
parteiler, der  ihn  aus  nächster  Nähe  kannte,  sagte  von  Bebel, 
keine  größere  Infamie  sei  denkbar,  als  ihn  als  Lügner  und  Ver- 
leumder hinzustellen,  wie  es  eine  gewisse  Presse  der  Rechten  tat. 
Er  erblickte  in  jedem  Angriff  gegen  seine  Taktik  eine  Gefähr- 
dung der  Parteiinteressen.  Das  gab  seinem  Auftreten  eine  unge- 
heure Wucht.  Das  allein  hätte  aber  nicht  genügt,  um  ihm  das  Herz 
der  Masse  jahrzehntelang  zu  sichern.  Nur  der  bildhafte  Sozialis- 
mus vermag  in  die  Seele  des  Proletariers  hinienzuwachsen.  Mit 
abstrakten    Definitionen    hat    noch   keiner   die    Masse  besessen; 

667 


der  ehemalige  Handwerksmeister  wusste,  dass  nur  die  anschauliche 
Vorstellung  die  Masse  gewinnt. 

Bebel  hatte  auch  vor  den  Akademikern  der  Partei  voraus, 
dass  er  selbst  Arbeiter  war,  die  Nöten  des  Kleinhandwerkerstandes 
und  das  Arbeiterschicksal  am  eignen  Leibe  kennen  lernte,  den 
beständigen  Kampf  um  die  kleinbürgerliche  Existenz,  die  Aussichts- 
losigkeit für  Millionen  von  Arbeitern,  je  zum  selbständigen  Be- 
triebsinhaber emporsteigen  zu  können.  Er  sah  die  gewaltige,  groß- 
artige kapitalistische  Entwicklung  unter  dem  Gesichtswinkel  des 
durch  sie  bedrohten  Kleinmeisters  an,  und  diese  Betrachtungsweise 
kehrt  selbst  in  späteren  Flugschriften  und  Vorträgen  wieder.  Als 
Bebel  in  die  politische  Arena  stieg,  waren  nicht  konservative  Groß- 
grundbesitzer seine  heftigsten  Widersacher,  sondern  die  Vertreter 
des  damals  noch  überwiegend  rein  manchesterlich  orientierten 
Liberalismus.  Die  konservative  Partei  hatte  lange  vor  der  liberalen 
ihr  sozialpolitisches  Programm,  das  in  der  praktischen  Politik 
freilich  mehr  auf  dem  Papier  blieb.  Bismarck  und  sein  Kreis 
spielten  die  Arbeiterbewegung  gegen  Nationalliberale  und  Fort- 
schritter aus;  in  Österreich  war  es  die  feudale  Partei,  der  ver- 
fassungstreue Großgrundbesitz,  der  für  die  Ausbildung  der  Fabrik- 
gesetzgebung wirkte.  Die  Konservativen  wussten,  dass  sie  den 
manchesterlichen  Liberalismus  ins  Herz  treffen  konnten,  wenn  sie 
ihm  die  Arbeiterverhältnisse  bei  liberalen  Fabrikanten  vorhielten. 
Auch  die  wirtschaftliche  Überzeugungstreue  des  Nationalliberalis- 
mus, der,  wenn  es  sich  um  den  Staatseingriff  zu  Gunsten  der 
Arbeiter  handelte,  ein  Feind  des  Staates  war,  ein  Freund  aber, 
sobald  Schutzzölle  und  Staatssubventionen  für  Bahnen  in  Frage 
standen,  wurde  in  grelle  Beleuchtung  gerückt. 

Der  konservative  Reformeifer  hat  indessen  nicht  lange  vor- 
gehalten. Der  Begründer  der  Kreuzzeitung,  Hermann  Wagner, 
erklärte  nicht  ohne  Bitternis,  die  große  Masse  der  Konservativon 
hätte  für  sozialpolitische  Fragen  noch  absolut  kein  Verständnis; 
sie  ständen,  wie  sich  Präsident  von  Gerlach  ausdrückt,  „mit  der 
Front  nach  dem  Mist,  mit  dem  Rücken  gegen  den  Staat". 

Bebeis  Einfluss  auf  die  deutsche  Sozialdemokratie  kann  im 
einzelnen  hier  nicht  geschildert  werden.  Die  Frage  nur  soll  ge- 
stellt werden:  war  der  Vielgefeierte  eigentlich  ein  superiorer  Kopf? 
Bismarck  sagte  einst:  „Was  hat  denn  der  Bebel  gemacht?    Sein 

668 


Lebenlang  im  Reichstag  gesessen  und  geredet.  Na,  und  nun  kann 
er  reden!"  Nun,  etwas  mehr  hat  Bebel  schon  getan.  Er  war 
ein  Organisator  großen  Stils  und  auch  gar  kein  übler  parlamen- 
tarischer Taktiker.  Nicht  seine  geistige  Überlegenheit  sicherte 
ihm  bis  in  die  letzten  Jahre  die  Führung  —  unter  den  Hundert- 
zehn gibt  es  einige  sehr  feine  Köpfe  —  das  Geheimnis  dieser 
langen  Führerrolle  war  in  der  Tradition  begründet.  Er  hatte  die 
Partei  hoch  gebracht,  für  sie  gelitten,  und  die  Masse  hätte  es  nicht 
geduldet,  wenn  der  alte  mit  einer  guten  Portion  Rücksichtslosig- 
keit ausgestattete  Kämpe  durch  einen  jüngeren  Akademiker  ersetzt 
worden  wäre.  Seine  Halbbildung  stand  Bebeis  Lebenserfolg 
keineswegs  im  Wege;  im  Gegenteil,  sie  nützte  ihm.  Einen  Bebel, 
der  nicht  auf  die  Instinkte  der  Masse  eingegangen  wäre,  einen 
kritischen,  abwägenden  Kopf  hätte  die  Masse  nicht  verstanden. 
Sie  wollte  einen  Draufgänger,  einen  Temperamentsmenschen,  der 
es  tausendfach  aussprach,  an  alle  Wände  schrieb,  dass  die  heutige 
Gesellschaftsordnung  den  Besitzlosen  knechtet,  ausbeutet,  entehrt. 
Das  hat  Bebel  bis  in  seine  letzten  Tage  getan.  Noch  vor  wenigen 
Monaten  schrieb  er  in  den  von  Freiherrn  von  Paungarten  heraus- 
gegebenen Äußerungen  zum  Eheproblem,  es  gebe  keine  Lösung 
ohne  Umgestaltung  der  Eigentums-  und  Erwerbsverhältnisse. 

Bebel  ist  sein  Leben  lang  ein  Verneiner  gewesen,  ein  Ver- 
walter des  geistigen  Betriebskapitals,  das  Karl  Marx  hinterlassen 
hat.  Zu  einer  wahrhaft  großen  Auffassung  konnte  er  sich  nie 
durchringen;  wenn  er  ernstlich  gewollt  hätte,  so  wäre  ihm  ge- 
lungen, mit  der  bürgerlichen  Linken  in  Preußen  die  Herrschaft 
der  Demokratie  vorzubereiten.  Aber  freilich,  der  Marxismus  fühlt 
sich  wohler  bei  dem  Bestehen  der  Two  nations. 

Es  soll  hier  nicht  von  Bebeis  unrühmlichem  Kampf  gegen 
die  Führer  des  revisionistischen  Flügels  gesprochen  werden,  gegen 
jene  feingebildeten  Leute,  welche  die  überkommenen  Lehrsätze 
des  Marxismus  den  Anforderungen  einer  neuen  Zeit  und  dem 
Stande  der  ökonomischen  Forschung  anpassen  möchten.  Das 
ist  ja  gerade  die  Tragik  der  Sozialdemokratie,  dass  sie  praktisch 
bei  der  Mitarbeit  am  Staatsganzen  in  Deutschland  nur  untergeordnet 
in  Erscheinung  tritt.  Seit  Jahren  rufen  die  Revisionisten :  „Heraus 
aus  dem  toten  Geleise."  Eine  aktionsfähige  Mehrheit  gegen  die 
Reaktion   ist  so   lange  ausgeschlossen,   als  die  Sozialdemokratie 

669 


an  einer  Taktik  festhält,  die  der  Reaktion  das  politische  Über- 
gewicht geben  muss.  Wo  ist  der  Einfluss  der  vier  Millionen 
Stimmen,  die  sozialdemokratisch  wählen,  der  110  Reichtagsmandate 
zu  erkennen?  Ein  badischer  Revisionist,  Wilhelm  Kolb,  schrieb 
einst:  „Die  Angst  vor  der  politischen  Mitverantwortlichkeit  spielt 
uns  einen  Streich  um  den  andern,  die  Reaktion  aber  ist  zufrieden 
und  hegt  die  Hoffnung,  dass  wir  noch  recht  lange  uns  von  solcher 
Theorie  leiten  lassen.  Jene  Regierung  des  Klassenstaates  und 
seiner  Einrichtungen  hat  also  nur  den  Erfolg,  damit  wir  uns  selbst 
politisch  isolieren  und  damit  den  Konservatismus  immer  wieder 
zum  ausschlaggebenden  Faktor  machen." 

Es  ist  allerdings  richtig,  wenn  Kautsky  sagt,  dass  es  unter 
den  Revisionisten  wie  unter  den  Marxisten  stets  sehr  verschiedene 
praktische  Tendenzen  gegeben  hat.  Die  gemeinsame  Abneigung 
gegen  des  Marxismus  schweißte  bei  den  Revisionisen  Freihändler 
und  Schutzzöllner,  Verfechtung  der  Abrüstung  und  der  Flotten- 
politik, Freunde  und  Verächter  des  Liberalismus  zu  einer  Phalanx 
zusammen.  Dem  Chaos  der  Meinungen  entspricht  keineswegs 
ein  Chaos  der  Praxis.  Die  Partei,  meint  Kautsky,  sei  in  den  letz- 
ten Jahren  einheitlicher  geworden,  als  sie  je  war;  aber  sie  wurde 
es  wohl  nur  deshalb,  weil  den  Revisionisten,  so  lange  der  alte 
Bebel  auf  der  Kommandobrücke  stand,  jede  Aussicht  auf  einen 
positiven  Erfolg  fehlte.  Ein  demokratisches  Blatt  schrieb  bei 
seinem  siebzigsten  Geburtstag,  der  Grund,  warum  Bebel  niemals 
im  eigentlichen  Sinne  ein  großer  Politiker  gewesen,  ist,  dass  er 
sich  von  den  theoretischen  Zwirnsfäden  binden  ließ.  Er  wollte 
so  etwas  wie  den  Vollstrecker  spielen. 

Die  bürgerlichen  Vertreter  der  Sozialreform  können  nur  mit 
gemischten  Gefühlen  an  den  verstorbenen  Sozialistenführer  zu- 
rückdenken. Er  hat  zwar  die  ungerechten  Worte  von  der  einen 
reaktionären  Masse  nicht  kolportiert,  aber  im  Grunde  genommen 
liefen  die  meisten  seiner  Reden  darauf  hinaus,  dass  die  bürger- 
liche Gesellschaft  samt  und  sonders  blutwenig  für  die  bedrückten 
Volksschichten  zu  leisten  vermöge.  Wohlmeinende  und  tatkräftige 
Sozialreformen  hat  Bebel  mitleidig  belächelt.  Er  forderte  von 
ihnen  alles  oder  nichts,  einen  vollständigen  Bruch  mit  der  bürger- 
lichen Tradition.  Im  Kasino  Außersihl  sprach  er  einst  von  jener 
Art  Idealisten,   die   immer  noch   eine  Hälfe  der  alten  Eierschale 

670 


herumtragen  und  sich  nie  ganz  davon  befreien  i<önnen.  „Leute 
der  Halbheit,  die  sich  nie  ganz  auf  die  Höhe  der  Situation  zu 
schwingen  vermögen  und  die  meinen,  man  i^önne  der  Gesellschaft 
mit  halben  Konzessionen  helfen." 

Alle  Erörterungen  darüber,  ob  eine  radikale  Änderung  des 
Kurses  mit  Bebeis  Ausscheiden  erfolge,  sind  vorderhand  belanglos. 
Ein  solcher  Frontwechsel  vollzieht  sich  nicht  von  heute  auf  mor- 
gen ;  auch  die  innerpolitische  Lage  Deutschlands  ist  an  einem  sol- 
chen Umschwung  wesentlich  beteiligt.  Für  den  Kenner  deutscher 
Verhältnisse  kann  kein  Zweifel  bestehen,  dass  die  Überwindung  der 
konservativ-klerikalen  Reaktion,  die  Deutschland  als  Kulturstaat 
und  in  der  Wirtschaftspolitik  ins  Hintertreffen  gestellt  hat,  ohne 
das  Zusammengehen  von  Liberalismus,  Demokratie  und  Sozial- 
demokratie nicht  möglich  ist.  Ein  früherer  Manchestermann,  der 
spätere  Führer  der  deutschen  Freisinnspartei,  der  hochtalentierte 
Theodor  Barth,  hat  diesem  Zusammengehen  das  Wort  geredet 
und  gesagt,  dass  ein  fortschrittliches  Deutschland  sich  auf  die 
Millionen  der  Arbeiterheere  stützen  müsse. 

ZÜRICH  PAUL  GYGAX 

D  D  Q 


HIRTENFEUER 

Sieh'  unter  den  Eichen  drüben  die  Flamme  werden  und  wehn! 
Dort  wollen  wir  uns  lagern,  o  Seele,  und  wollen  uns  recht  verstehn. 

Die  weißen  Herden  weiden  die  hellen  Hügel  entlang; 
Vor  unseren  zwei  roten  Hunden,  da  sind  die  Wölfe  bang. 

Und  horch,  was  die  Flamme  singt:  In  Erd'  und  Gestein  gebannt. 
In  Strom  und  Berg  und  Wald  —  so  fest  ist  keine  Wand: 

Ich  tanze  hervor  und  bin  vom  eigenen  Atem  verweht  — 
Ich  ruh'  in  ewiger  Ruh';  ich  bin,  was  vorübergeht. 

O  Seele,  du  Tänzerin  auch,  der  Flamme  durch  Traum  und  Tag  — 
Vom  Hirtenfeuer  da  glüht,  da  leuchtet  die  Asche  nach. 

Über  weiße  Herden  gehen  die  Sterne  den  goldenen  Gang; 
Vor  unseren  zwei  roten  Hunden,  da  sind  die  Wölfe  bang. 

VICTOR  HARDUNG 

aaa 

671 


SULLY  PRUDHOMME 

(AVEC  LETTRES  IN^DITES) 

Les  quelques  pages  que  je  consacre  ici  ä  Sully  Prudhomme 
n'ont  pas  la  pretention  d'etre  une  „etude";  il  faudrait  pour  cela 
un  volume  entier,  et  je  ne  songe  pas  ä  ajouter  un  livre  ä  tous 
ceux  qu'on  a  dejä  publies  sur  ce  grand  sujet.  Je  desire  sim- 
plement  signaler  ä  nos  lecteurs  de  langue  allemande  l'oeuvre  tres 
noble  d'un  poete  peu  connu  hors  de  France.  A  nos  lecteurs 
fran^ais  j'apporte  quelques  lettres  inedites;  elles  furent  adressees, 
avec  beaucoup  d'autres,  ä  une  amie,  confidente  intellectuelle,  qui  ne 
veut  pas  etre  nommee.  Je  dois  ä  cette  amie  bien  mieux  encore 
que  des  „documents  inedits":  un  tresor  de  purs  Souvenirs  .  .  . 

L'cEuvre  de  Sully  Prudhomme  a  plus  d'un  rapport  avec  le 
Programme  de  cette  revue ;  eile  tend,  ä  travers  des  conflits  dou- 
loureux,  ä  une  synthese  de  la  science  et  de  la  vie,  ä  une  Har- 
monie de  la  raison  avec  le  coeur.  Cette  rencontre  n'est  pas  for- 
tuite.  Depuis  vingt-cinq  ans  je  suis  de  ces  „amis  inconnus"  sur 
lesquels  le  poete  de  Justice  a  exerce  une  influence  constante  et 
profonde,  et  qui,  aujourd'hui,  retrouvent,  entre  les  feuillets  de  ses 
livres,  leur  jeunesse  enfievree,  leurs  angoisses,  et  les  raisons  de 
leur  discipline.  „A  ses  vers  sont  attaches  des  moments  inoublia- 
bles  de  leur  vie  Interieure".  (G.  Paris). 

I. 

La  meilleure  introduction  ä  une  lecture  de  Sully  Prudhomme, 
c'est  l'etude  de  son  ami  intime,  Gaston  Paris,  parue  en  octo- 
bre  1895  et  janvier  1896  dans  la  Revue  de  Paris  et  plus  tard 
dans  le  volume  Penseurs  et  poetes.  On  lira  ensuite  l'excellent 
ouvrage  de  M.  Zyromski:  Sully  Prudhomme  (Colin,  1907)  et  enfin 
celui  de  M.  Hemon:  La  Philosophie  de  M.  Sully  Prudhomme 
(Alcan,  1907)1). 


^)  Je  cite  encore  deux  ouvrages  allemands:  Karl,  Sully  Prudhomme, 
eine  psychologisch  literaturgeschichtliche  Studie  (Leipzig,  Gronau  1907, 
et  Brangsch,  Philosophie  und  Dichtung  bei  Sully  Prudhomme  (Berlin, 
Felber  1911).  Pour  la  bibliographie  plus  complete,  voir  Lanson:  Manuel 
bibliographique  p.  1284  (Hachette  1912). 

672 


Je  resume  en  peu  de  lignes  les  faits  essentiels  de  la  bio- 
graphie:  ne  ä  Paris  en  1839,  de  sante  delicate,  Sully  Prudhomme^) 
avait  deux  ans  lorsque  son  pere  mourut;  eleve  par  sa  mere  dans 
le  deuil,  puis  malheureux  dans  la  solitude  morale  de  Tinternat, 
il  etonna  ses  camarades  par  sa  precocite  intellectuelle ;  quoique 
poete  dejä  (et  romantique)  il  se  passionnait  surtout  pour  les 
mathematiques  et  allait  entrer  ä  l'Ecole  polytechnique  lorsqu'une 
ophtalmie  le  for(;a  ä  orienter  sa  carriere  dans  une  autre  direc- 
tion;  il  essaya  de  l'industrie,  puis  il  fit  du  droit,  sans  enthou- 
siasme,  et  se  voua  enfin  entierement  ä  la  poesie  et  ä  la  me- 
ditation  philosophique.  Un  grand  amour,  malheureux;  la  guerre 
de  1870;  une  cruelle  maladie  (paralysie  partielle  de  la  partie  in- 
ferieure  du  corps);  et  surtout  la  lutte  intime  avec  le  Sphinx  de 
la  destinee,  ce  sont  les  faits  essentiels  pour  qui  veut  comprendre 
le  caractere  et  l'evolution  de  sa  poesie.  Elu  ä  l'Academie  fran(jaise 
en  1881,  laureat  du  prix  Nobel  en  1902,  aime  et  venere  par  une 
elite,  mais  etrangement  dedaigne  par  les  critiques  et  poetes  d'une 
ecole  nouvelle,  Sully  Prudhomme  mourut  le  7  septembre  1907. 

II. 

La  critique  aime  ä  distinguer  chez  Sully  Prudhomme  deux 
poetes  differents:  Tun  est  elegiaque  et  dit  sa  vie  intime  en  des 
pieces  assez  courtes;  l'autre  expose  en  de  grands  poemes  son 
Systeme  philosophique  et  les  decouvertes  de  la  science  moderne. 
Cette  division  est  en  partie  arbitraire;  eile  m^connait  Tunite  de 
l'oeuvre  qui  seule  explique  la  melancolie  poignante  du  poete  ele- 
giaque. 

En  effet,  les  experiences  personnelles  (enfance  endeuillee, 
maladie,    chagrins  d'amour)   ne   suffisent   pas  ä   expliquer  cette 

^)  Le  nom  du  poete  demande  une  remarque  expresse.  II  s'appelait  en 
realite  Rene-Fran^ois-Armand  Prudhomme,  mais  toutes  ses  oeuvres  sont 
signees  Sully  Prudhomme.  Sully  est  un  surnom  „devenu  inseparable  de  son 
nom"  (G.  Paris).  C'est  que,  gräce  ä  une  comedie  de  Henry  Monnier, 
Grandeur  et  decadence  de  Joseph  Prudhomme  (1852),  ce  nom  etait  devenu 
synonyme  de  bourgeois  sot  et  pretentieux;  il  eüt  ete  dangereux  de  le 
mettre  sur  un  volume  de  vers.  C'est  donc  une  erreur  formelle  que  de 
nommer  notre  poete  Prudhomme,  ainsi  que  le  fönt  plusieurs  ouvrages  et 
catalogues  allemands,  et  meme  V Anthologie  des  poetes  franfais  de  Walch 
et  le  Re'pertoire  de  Thieme. 

673 


tristesse,   ni   surtout   le  triomphe  final  de  la  serenite.     II  y  a  ä 
cela  des  raisons  plus  profondes  et  plus  generales. 

Je  ne  puis  donner  raison  ä  M.  Zyromski  quand  il  ecrit: 
„Sully  Prudhomme  s'est  iibere  sans  effort  de  l'esprit  romantique". 
Je  crois  au  contraire  ä  une  persistance  de  l'esprit  romantique, 
en  conflit  avec  le  positivisme  scientifique ;  d'oii  une  douleur  nou- 
velle  que  seul  Vigny  avait  dejä  connue. 

On  aura  beau  dire  et  beau  faire :  par  action  ou  par  reaction, 
le  romantisme  est  ä  la  base  de  toute  la  litterature  du  XIX^  siecle. 
Flaubert  ecrivait  ä  George  Sand,  en  1866:  „Enfin  nous  etions 
des  romantiques  d'un  ridicule  accompli,  mais  d'une  efflorescence 
complete.  Le  peu  de  bon  qui  me  reste  vient  de  ce  temps-lä." 
Et  le  3  fevrier  1873  il  lui  ecrivait  encore:  „Votre  vieille  ganache 
romantique  et  liberale  vous  embrasse  tendrement".  Zola  a  fait 
quelque  part  un  aveu  identique;  et  Taine,  grand  admirateur  de 
Musset,  aimait  ä  citer  ces  vers  de  Don  Paez: 

Oh !  dans  cette  saison  de  verdeur  et  de  force, 
Oü  la  chaude  jeunesse,  arbre  ä  la  rüde  ecorce, 
Couvre  tout  de  son  ombre,  horizon  et  chemin, 
Heureux,  heureux  celui  qui  frappe  de  la  main 
Le  col  d'un  etalon  retif,  ou  qui  caresse 
Les  seins  etincelants  d'une  folle  maitresse! 

Sans  doute,  depuis  quelques  annees,  le  romantisme  a  une 
mauvaise  presse;  on  ne  veut  plus  en  voir  que  les  exagerations 
ou  les  petits  cötes;  on  exhume  les  poetes  les  plus  mediocres 
pour  voller  en  quelque  sorte  la  gloire  des  plus  grands;  leurs 
inepties  documentent  la  „neurasthenie  romantique".  Avec  cette 
methode  il  serait  aise  de  demolir  toutes  les  ecoles  litteraires;  ce 
n'est  plus  de  l'histoire,  c'est  de  la  politique  tendancieuse;  et 
l'ereintement  du  Romantisme  se  rattache  ä  la  campagne  syste- 
matique  dirigee  contre  la  Revolution  et  contre  J.-J.  Rousseau. 

Le  Romantisme,  une  maladie?  soit,  si  la  jeunesse  est  une 
maladie.  II  a  eu  de  la  jeunesse  l'exuberance,  la  force  tumul- 
tueuse,  l'angoisse  et  l'enthousiasme^).   Tout  en  reagissant  contre 

^)  Zyromski  clte  le  mot  de  Goethe:  „Le  classlque,  c'est  le  sain;  le 
romantique,  c'est  le  malade".  Que  Goethe,  ne  en  1749,  alt  parle  ainsi,  c'est 
compr^hensible,  surtout  si  l'on  songe  au  romantisme  ailemand.  Mais  nous 
avons  de  bonnes  raisons  pour  sentir  et  penser  autrement. 

674 


lui,  le  realisme  n'en  fut  pas  moins  une  continuation  ;  !e  Ro- 
mantisme  portait  en  lui  tout  le  XIX*  siecle;  Vigny  en  est  une 
preuve,  et  M.  Zyromski  a  parfaitement  raison  de  rapprocher 
SuUy  Prudhomme  de  Vigny. 

Sully  Prudhomme  a  adresse  ä  J.-J.  Rousseau  des  vers  dont 
je  detache  deux  strophes  significatives.     En   parlant  de  la  Muse: 

Elle  salue  en  toi  le  premier  qui  sut  rendre 

Aux  yeux  pour  la  campagne  un  regard  attendri, 

Au  coeur  l'intlme  accent  que  tout  coeur  peut  comprendre, 

La  chair  et  la  couleur  au  langage  amaigri. 

Car  si  tu  n'as  pas  eu  les  divines  ressources 

Du  murmure  des  vers  pour  endormir  tes  maux, 

Des  poetes  futurs  tu  fecondas  les  sources 

Par  de  nouveaux  tourments  et  des  soupirs  nouveaux. 

(Le  PrismeJ 

L'„intime  accent  que  tout  coeur  peut  comprendre",  c'est  la 
sensibiiite  romantique,  qui  est  la  moitie  du  genie  de  Sully  Prud- 
homme. D'autre  part,  ne  en  1839,  l'annee  meme  oü  commen^ait 
ä  paraitre  le  Cours  de  Philosophie  positive  de  Comte,  et  contem- 
porain  de  Flaubert,  de  Taine,  de  Zola,  Sully  Prudhomme  ne  pou- 
vait  se  soustraire  aux  idees  de  son  epoque ;  sa  forme  intellectuelle 
le  portait  meme  aux  sciences  exactes,  au  positivisme.  En  1865,  lors- 
qu'il  publia  les  Stances  et  poemes,  ses  amis  furent  pris  d'une 
grande  emotion.  Qaston  Paris  le  dit:  „Notre  generation  allait- 
elle  voir  proclamer  celui  que  nous  regardions  comme  son  poete?" 
mais,  apres  les  Epreuves  (1868)  et  les  Solitudes  (1869)  „nous 
comprtmes  qu'il  n'emboucherait  pas,  comme  nous  avions  pu  le 
croire  un  instant,  la  trompette  qui  nous  menerait  au  combat". 
La  tristesse,  le  decouragement  dominaient;  cela  s'explique  en 
partie  par  la  debilite  physique,  par  le  manque  de  volonte  agissante, 
mais  surtout  par  le  conflit  que  je  viens  d'indiquer:  la  sensibiiite 
idealiste  en  lutte  avec  l'intellect  positiviste.  Toute  sa  vie  Sully 
Prudhomme  cherchera,  avec  angoisse,  la  Synthese  de  ces  deux 
forces,  Synthese  que  nous  cherchons  aujourd'hui  encore,  avec  plus 
de  chances  de  reussir. 

Qu'il  s'agisse  de  la  nature  eternelle  et  indifferente,  des  amours 
qui  passent,  ou  de  l'äme  qui  s'affirme  sans  preuve,  tous  les  des- 
espoirs  et  tous  les  reves   romantiques  se  retrouvent  chez  Sully 

675 


Prudhomme,  mais  sous  une  forme  nouvelle,  fortement  concentree, 
Sans  rhetorique,  d'une  precision  analytique  qui  a  quelque  chose 
de  scientifique.  Tout  le  monde  connait  le  Lac  de  Lamartine  et 
la  Tristesse  d'Olympio  de  Victor  Hugo.  Voici  un  motif  sem- 
blable  en  trois  petites  strophes : 

Ici-bas  tous  les  lilas  meurent, 
Tous  les  chants  des  oiseaux  sont  courts; 
Je  reve  aux  etes  qui  demeurent 
Toujours  .  .  . 

Ici-bas  les  levres  effleurent 
Sans  rien  laisser  de  leur  velours; 
Je  reve  aux  baisers  qui  demeurent 
Toujours  .  .  . 

Ici-bas  tous  les  hommes  pleurent 
Leurs  amities  ou  leurs  amours; 
Je  reve  aux  couples  qui  demeurent 
Toujours  .  .  . 

(Stances  et  poimes) 

Qu'on  reiise  de  Musset  la  Lettre  ä  Lamartine  et  VEspoir  en 
Dieu  et  qu'on  medite  ensuite  ces  deux  petites  pieces: 

LES  YEUX 

Bleus  ou  noirs,  tous  aimes,  tous  beaux, 
Des  yeux  sans  nombre  ont  vu  l'aurore; 
Ils  dorment  au  fond  des  tombeaux 
Et  le  soleil  se  leve  encore. 

Les  nuits,  plus  douces  que  les  jours, 
Ont  enchante  des  yeux  sans  nombre; 
Les  etoiles  brillent  toujours 
Et  les  yeux  se  sont  remplis  d'ombre. 

Oh!  qu'ils  aient  perdu  le  regard, 
Non,  non,  cela  n'est  pas  possible! 
Ils  se  sont  tournes  quelque  part 
Vers  ce  qu'on  nomme  l'invisible; 

Et  comme  les  astres  penchants 
Nous  quittent,  mais  au  ciel  demeurent, 
Les  prunelles  ont  leurs  couchants, 
Mais  il  n'est  pas  vrai  qu'eiles  meurent. 

Bleus  ou  noirs,  tous  aimes,  tous  beaux, 

Ouverts  ä  quelque  immense  aurore, 

De  l'autre  cöte  des  tombeaux 

Les  yeux  qu'on  ferme  voient  encore. 

(Stances  et  poimes) 

676 


L'AME 

J'ai  dans  mon  coeur,  j'ai  sous  mon  front 
Une  äme  invisible  et  presente: 
Ceux  qui  doutent  la  chercheront, 
Je  la  repands  pour  qu'on  la  sente. 

Partout  scintillent  les  couleurs, 
Mais  d'oü  vient  cette  force  en  elles? 
II  existe  un  bleu  dont  je  meurs, 
Parce  qu'il  est  dans  les  prunelles. 

Tous  les  Corps  offrent  des  contours, 
Mais  d'oü  vient  la  forme  qui  touche? 
Comment  fais-tu  les  grands  amours, 
Petite  ligne  de  la  bouche? 

Partout  l'air  vibre  et  rend  des  sons, 
Mais  d'oü  vient  le  delice  intime 
Que  nous  apportent  ses  frissons, 
Quand  c'est  une  voix  qui  l'anime? 

J'ai  dans  mon  coeur,  j'ai  sous  mon  front 
Une  äme  invisible  et  presente. 
Ceux  qui  doutent  la  chercheront, 
Je  la  repands  pour  qu'on  la  sente. 

(Stances  et  poimes) 

On  pourrai't  multiplier  les  exemples;  partout  on  retrouverait 
ce  melange  inextricable  du  doute  et  de  raffirmation,  de  la  science 
et  du  sentiment.  C'est  ainsi  que  le  poete  dit  ä  la  Grande  Ourse : 

Tu  n'as  pas  l'air  chretien,  le  croyant  s'en  etonne, 

O  figure  fatale,  exacte  et  monotone, 

Pareille  ä  sept  clous  d'or  plantes  dans  un  drap  noir. 

Ta  precise  lenteur  et  ta  froide  lumiere 
Deconcertent  la  foi:  c'est  toi  qui  la  premiere 
M'as  fait  examiner  mes  prieres  du  soir. 

(Epreuves) 

Au  Romantique,  les  daires  etoiles  etaient  un  regard  de  Dieu ; 
ä  Sully  Prudhomme,  elles  disent  les  lois  eterneiles  de  la  matiere. 
II  y  a  lä  une  sobriete  d'expression  et  une  acuite  de  pensee  in- 
connues  en  1830;  mais  11  s'y  mele  un  accent  personnel  et  une 
emotion  que  les  Parnassiens  reprouvaient.  Et  pourtant  les  his- 
toires  de  la  litterature  mettent  Sully  Prudhomme  au  nombre  des 
Parnassiens!  Cela  s'explique  par  la  forme,  par  le  cöte  scien- 
tifique  et  philosophique  de  son  oeuvre;  c'est  une  erreur  nean- 
moins,  une  simplification  excessive.  Voici  deux  fragments  de  let- 
tres  oü  le  poete  est  tres  net: 

677 


„Le  Parnasse  proprement  dit  est  un  recueil  de  poesies  public  par 
Alphonse  Lemerre  et  auquel  ont  contribue  des  poetes  qui  ne  se  doutaient 
pas  du  tout  qu'un  jour  ils  seraient  tous  ranges  pele-mele  dans  une  meme 
Ecole  portant  le  nom  de  ce  recueil.  II  est  vrai,  plusieurs  d'entre  eux  avaient 
une  preoccupation  tres  accentuee  de  la  faijon  du  vers;  ils  en  soignaient 
l'harmonie  et  la  rime  avec  beaucoup  de  zele,  mais  ce  n'a  pas  ete  un  Pro- 
gramme et  tous  les  autres  etaient  differemment  doues  et  inspires.  C'est 
M.  Xavier  de  Ricard  qui  a  principalement  pousse  Lemerre  ä  faire  cette 
publication,  et  ce  poete  etait  sans  doute  curieux  du  style,  mais  non  moins 
soucieux  de  la  pensee. 

Quant  ä  moi,  je  suis  toujours  demeure  tout  ä  fait  independant,  et 
Ton  commet  une  grave  erreur  en  m'enrölant  parmi  ceux  de  mes  confröres 
qu'on  a  nommes  depuis  parnasslens.  Je  n'ai  de  commun  avec  eux  que  la 
forme  classique  des  vers  et  le  respect  de  la  consonne  d'appui,  dont  l'emploi 
est  du  reste  bien  anterieur  au  present  siecle.  II  serait  impossible  de  rap- 
porter mon  Inspiration  ä  aucune  ecole  .  .  ." 

Ailleurs  il  parle  de  Leconte  de  Lisle,  autour  duquel  on  groupe 
generalement  les  Parnassiens;  ä  propos  de  divers  poemes  pre- 
sentes  ä  un  concours  de  poesie  de  rAcademie,  11  ecrit: 

„Leconte  de  Lisle  et  moi  nous  ne  nous  entendons  guere  dans  nos  appre- 
ciations  de  la  valeur  poetique  des  ouvrages  de  ce  genre.  J'essaie  de  bien 
entrer  dans  sa  pensee,  je  n'y  reussis  pas  comme  je  le  voudrais.  Ce  qui 
l'interesse,  c'est  la  nature  ä  1  etat  sauvage  et  brüte,  atroce,  et  belle  seule- 
ment  de  la  naivete  de  ses  appetits;  par  exemple  il  representera  volontiers 
une  femme  de  chef  barbare  arrachant  le  coeur  du  vaincu  pour  l'offrir  pal- 
pitant  ä  son  mari,  et  je  ne  sais  s'il  ne  se  complairait  pas  ä  montrer  ce 
coeur  roti  par  cette  magere  pour  le  regal  du  vainqueur.  11  est  certain  qu'il 
y  a  une  beaute  propre  ä  la  nature  farouche,  une  beaute  plastique.  Je  ne 
le  conteste  pas.  Leconte  de  Lisle  aime,  non  pas  seulement  la  sauvagerie, 
mais  bien  encore  la  plus  haute  elegance  de  la  forme,  surtout  ce  qu'il  y  a 
de  typique  et  de  simple  dans  la  nature;  les  moeurs  homeriques,  dans  ce 
qu'elles  ont  de  noble  et  de  virilement  naVf  le  captivent.  Je  n'y  vois  pas 
d'objection.  Mais  ce  n'est  pas  dans  les  choses  primitives  qu'il  faut  cher- 
cher,  ä  mon  avis,  de  quoi  satisfaire  l'äme  moderne,  je  parle  de  l'äme  affi- 
nee  par  les  conquetes  d'une  civilisation  prodigieusement  developpee  dans 
tous  les  sens.  La  gräce  n'exclut  pas  du  tout  la  complexite,  car  eile  sup- 
pose  la  Variete;  une  poesie  gracieuse  datee  d'aujourd'hui  est  antipathique 
ä  Leconte  de  Lisle;  je  m'imagine  que  le  goüt  qui  preside  ä  la  toilette  d'une 
femme  elegante  de  nos  jours  lui  est  absolument  etranger;  il  ne  doit  admi- 
rer  que  la  tunique  grecque  pour  la  noblesse  de  ses  plis  ou  le  sayon 
d'un  chevrier  pour  la  rudesse  de  ses  poils.  Toute  delicatesse  dans  l'ex- 
pression  lui  semble  mievrerie;  un  vers  coulant  au  bout  duquel  la  rime 
s'epanouit  naturellement  comme  la  fleur  meme  de  ce  vers,  lui  semble  in- 
sipide.  Pour  lui  plaire  on  ne  gagne  rien  ä  effacer  l'art  dans  une  oeuvre 
en  le  poussant  jusqu'ä  le  rendre  indiscernable  du  naturel;  il  paratt  aimer 
que  l'art  se  montre  toujours,  ä  la  condition  de  reussir  toujours.  Un  coeur 
moderne  me  semble  beaucoup  plus  curieux  ä  analyser  que  celui  d'une 
brüte  oü  l'instinct  et  l'appetit  dominent  aveuglement,  ou  que  celui  d'une 

678 


belle  esclave  dont  le  reve  est  fait  du  souvenir  tres  simple  de  sa  hutte  na- 
tale.  Je  ne  veux  pas  etre  dupe  de  la  perspective  des  äges.  Briseis  ne  pou- 
vait  pas  avoir  les  mains  propres,  non  plus  que  la  fameuse  Helene;  malgre 
les  aiguieres,  un  fond  de  graisse  de  mouton  devait  demeurer  incruste  dans 
le  bout  des  doigts  qui  saisissaient  les  viandes.  Rien  en  realite  ne  devait  etre 
plus  grossier  qu'un  Ajax.  C'est  en  les  degageant  de  leur  croüte  reelle  que 
l'imagination  fait  de  ces  etres-lä  des  types  de  haute  elegance  capables  de 
tenter  le  ciseau  d'un  Phidias.  Je  täche  de  comprendre  l'esthetique  de  Leconte 
de  Lisle,  car  il  a  fait  des  vers  admirables  tels  qu'il  n'y  en  a  pas  de  plus 
acheves  dans  notre  langue;  je  trouve  qu'il  ne  s'assimile  pas  le  tempera- 
ment  d'autrui  et  pretend  imposer  ä  tous  la  loi  du  sien  .  .  ." 

Ces  derniers  mots  sont  ä  mediter  par  ceux  qui  croient  en- 
core  ä  „robjectivite"  du  Parnasse! 

Infiniment  sensible,  et  pourtant  epris  de  certitudes  scienti- 
fiques;  analyste  impitoyable,  et  pourtant  respectueux  du  mystere 
des  ämes,  Sully  Prudhomme  est  une  individualite  tres  ä  part; 
c'est  avec  Pascal,  c'est  avec  Vigny  qu'il  a  les  affinites  les  plus 
profondes.  Donc  pas  d'„ecole" ;  mais  une  fraternite  intellectuelle 
et  morale;  la  meme  souffrance  devant  les  memes  problemes  qui 
reparaissent  derriere  les  „Solutions"  de  meme  que  l'horizon  in- 
fini  reparait  derriere  les  cimes  conquises. 

De  Sully  Prudhomme  je  ne  veux  dire  ici  ni  les  amours,  ni 
les  angoisses  philosophiques,  ni  d'autres  douleurs  encore;  c'est 
dans  ses  vers  qu'il  laut  les  connaitre  et  les  revivre.  Constatons 
simplement  que  son  pessimisme  va  d'abord  grandissant,  jusqu'au 
desespoir,  des  Epreuves  aux  SoUtudes  et  des  Solitudes  aux  Vaines 
Tendresses  (1875).  La  vie  humaine  ne  serait-elle  vraiment  qu'un 
triomphe  inexorable  de  la  force  brutale?  L'ideal  des  ämes  ne 
serait-il  qu'une  illusion?  Au  moment  oü  la  froide  science  semble 
avoir  dissipe  cette  illusion,  une  reaction  vigoureuse  se  produit. 

II  y  a  ä  cela  une  raison  generale,  patriotique:  la  France, 
vaincue  en  1870,  s'est  relevee  comme  par  miracle;  d'oü  lui  sont 
venues  ces  energies  nouvelles?  Et  il  y  a  une  raison  plus  parti- 
culiere:  les  intellectuels  positivistes  ont-ils  peut-etre  leur  part  de 
responsabilite  aux  desastres  de  1870?  N'ont-ils  pas  maintenant  ä 
expliquer,  ä  legitimer,  ä  encourager  cette  resurrection  d'un  peuple 
republicain  qui  ne  veut  pas  disparaitre?  N'y  aurait-il  pas  une 
verite  superieure  aux  certitudes  de  la  science?  Toutes  ces  ques- 
tions,  que  Sully  Prudhomme  s'etait  dejä  posees,  reapparaissent 
devant  lui,  sous  un  jour  nouveau;   il   les  reprend   en   une  serie 

679 


de  poemes,  Les  Destins,  Le  Zenitfi,   La  Justice  (1878),  Le  Bon- 
heur  (1888),  qui  sont  un  crescendo  de  courageux  optimisme. 

Dans  Les  Destins  l'homme  disait  dejä  ä  la  nature: 

Ne  mesurant  jamais  sur  ma  fortune  infime 

Ni  le  bien,  ni  le  mal,  dans  mon  etroit  sentier 

J'irai  calme,  et  je  voue,  atome  dans  Tabime, 

Mon  humble  part  de  force  ä  ton  chef-d'oeuvre  entier. 

Dans  Le  Zenith,  cette  noble  ambition  se  precise  encore: 

NonI  de  sa  vie  ä  tous  leguer  l'cEuvre  et  l'exemple, 
C'est  la  revivre  en  eux  plus  profonde  et  plus  ample, 
C'est  durer  dans  l'espece  en  tout  temps,  en  tout  Heu, 
C'est  finir  d'exister  dans  Fair  oü  l'heure  sonne 
Sous  le  fantöme  etroit  qui  borne  la  personne, 
Mais  pour  commencer  d'etre  ä  la  fa^on  d'un  dieu! 

L'eternite  du  sage  est  dans  les  lois  qu'il  trouve; 

Le  delice  eternel  que  le  poete  eprouve, 

C'est  un  soir  de  duree  au  cceur  des  amoureux! 

Car  l'immortalite,  l'äme  de  ceux  qu'on  aime, 

C'est  l'essence  du  bien,  du  beau,  du  vrai,  Dieu  meme, 

Et  ceux-lä  seuls  sont  morts  qui  n'ont  rien  laisse  d'eux. 

Dans  cette  evolution  de  Suliy  Prudhomme,  qui  va  du  pessi- 
misme  ä  Toptimisme,  il  y  a  evidemment,  tout  au  fond,  une  ques- 
tion  de  „temperament",  d'intuitlon,  qu'on  ne  saurait  expliquer 
ä  des  esprits  d'une  autre  categorie.  A  la  petite  communaute 
que  constituent  les  lecteurs  de  Wissen  und  Leben,  toute  expli- 
cation  serait  superflue;  nous  nous  sommes  unis  precisement 
parce  que  nous  avons  cette  confiance  du  poete,  parce  que  pour 
nous  l'histoire,  maigre  ses  brutalites,  est  un  triomphe  de  la  vo- 
lonte, de  la  conscience  humaine,  superieure  aux  lois  physiques. 
Pour  nous  l'histoire  est  une  creation  toujours  renouvelee.  On  peut 
fort  bien  s'emanciper  de  tous  les  mythes  chretiens,  de  toutes  les 
revelations,  et  constater  pourtant  (sans  en  savoir  l'origine)  cette 
force  intime  qui  entralne  l'humanite  vers  un  ideal  de  justice  et 
de  bonte.  C'est  ici,  dans  la  franche  acceptation  de  ce  mystere, 
que  rideaiisme  se  heurtera  toujours  au  positivisme ;  et  c'est  ainsi 
que  Sully  Prudhomme  se  heurta  ä  Taine.  II  ecrit: 

„Je  suis  alle  hier  voir  Gaston  Paris  et  j'ai  rencontre  chez  lui  ses 
visiteurs  ordinaires,  Taine  entre  autres,  et  Boissier ;  de  Vogüe  et  Leroy- 
Beaulieu  (Anatole)  y  sont  venus  aussi,  puis  un  Anglais  et  des  gens  que  je 
ne  connais  pas.    Les  relations  professionnelles  de  Gaston  sont  trös  eten- 

680 


dues.  II  connait  beaucoup  d'Allemands,  ses  anciens  condisciples  d'Heidel- 
berg  oü  il  a  suivi  les  cours  de  l'Universite  *),  mais  il  ne  leur  rend  pas  leurs 
visites,  depuis  la  guerre.  On  a  traite  des  questions  tres  interessantes; 
Taine  a  critique  la  Declaraüon  des  droits  de  l'homme,  et  je  Tai  defendue 
en  principe.  II  pretend  qu'on  ne  peut  rien  edicter  de  general  et  d'abstrait 
touchant  les  principes  de  la  legislation,  que  chaque  peuple  exige  une  Cons- 
titution adaptee  ä  son  caractere,  qu'il  n'y  a  pas  de  droit  egalement  appli- 
cable aux  Fran^ais  et  aux  sujets  du  roi  de  Dahomey.  Je  reponds  que  la 
seule  qualite  d'hommes  donnee  aux  uns  et  aux  autres  leur  confere  ä  tous 
un  fond  de  droit  commun,  tres  large,  il  est  vrai,  mais  neanmoins  precis  et 
respectable.  Un  homme  ne  natt  pas  esciave  d'un  autre  homme,  par  exem- 
ple;  voilä  un  principe  de  droit  universel  qui  peut  entrer  dans  une  decla- 
ration  des  droits  de  l'homme.  Taine  replique:  les  s'ijets  du  roi  de  Da- 
homey ne  l'entendent  pas  ainsi,  ils  lui  reconnaissent  parfaitement  le  droit 
de  les  faire  obeir  et  de  les  tuer.  —  C'est  possible,  mais  il  ne  s'agit  pas  de 
savoir  si  tous  les  hommes,  quelle  que  soit  leur  culture,  se  fönt  la  meme 
idee  du  droit;  il  s'agit  de  savoir  s'il  existe  un  droit  primordial  commun  ä 
tous,  qu'ils  le  connaissent  et  en  usent,  ou  qu'ils  l'ignorent  et  le  negligent. 
J'ai  toujours  admire  la  De'claration  des  droits  de  l'homme;  c'est  I'acte  par 
lequel  a  ete  degagee  pour  la  premiere  fois,  de  toutes  les  alterations  que 
les  tyrannies  ont  fait  subir  ä  la  nature  humaine,  la  veritable  essence  de 
l'homme,  sur  laquelle  se  fondent  ses  droits  inalienables  .  .  ." 

On  reconnait  lä  celui  qui  a  dit  dans  La  Justice: 

Le  respect  de  tout  homme  est  la  justice  meme: 
Le  juste  sent  qu'il  porte  un  commun  diademe 

Qui  lui  rend  tous  les  fronts  sacres. 
Nuire  ä  l'humanite,  c'est  rompre  la  spirale 
Oü  se  fait  pas  ä  pas  l'ascension  morale 

Dont  les  mondes  sont  les  degres. 

Je  sais  bien  que,  dans  i'oeuvre  de  Sully  Prudhomme,  La 
Justice  est  le  poeme  le  moins  heureux;  la  pensee  philosophique 
n'y  trouve  souvent  qu'une  expression  froide  et  prosaique;  mal- 
gre  quelques  strophes  emues,  l'ensemble  est  trop  schematique; 
mais  le  poeme  demeure  interessant  en  tant  qu'une  etape  de  l'evo- 
lution  morale,  et  comme  preparation  au  Bonheur.  La  Dedicace 
pose  nettement  le  probleme:  „La  raison  et  le  coeur  sont  divises. 
Ce  grand  proces  est  ä  instruire  dans  toutes  les  questions  mu- 
rales; je  m'en  tiens  ä  celle  de  la  justice.  Je  voudrais  montrer  que 
la  justice  ne  peut  sortir  ni  de  la  science  seule  qui  suspecte  les 
intuitions  du  coeur,  ni  de  l'ignorance  genereuse  qui  s'y  fie  exclu- 
sivement;  mais  que  l'application  de  la  justice  requiert  la  plus 
delicate  Sympathie  pour  l'homme,   eclairee  par  la  plus  profonde 

^)  Erreur;  G.  Paris  etudia  ä  Bonn  et  ä  Goettingue,  mais  non  ä  Hei- 
delberg. 

681 


connaissance  de  sa  nature;  qu'elle  est,  par  consequent,  le  terme 
idea!  de  la  science  etroitement  unie  ä  Tamour." 

A  ne  constater  que  les  „faits",  la  justice  ne  regne  nulle  part 
sur  la  terre:  les  especes  entre  elles,  les  individus  d'une  espece 
entre  eux,  les  Etats  entre  eux,  et  les  individus  dans  l'Etat,  tous 
les  etres  n'obeissent  qu'ä  l'instinct  egoiste,  au  besoin  ou  ä  des 
lois  imparfaites  et  inefficaces.  Et  si,  dans  Tunivers,  la  matiere 
est  ä  peu  pres  identique,  on  ne  saurait  admettre  qu'elle  ait  con- 
stitue  quelque  part  un  monde  meilleur.  L'univers  est  soumis 
ä  des  lois  fatales,  excluant  la  justice  qui  suppose  la  liberte.  Et 
pourtant  le  poete  constate  un  autre  fait:  c'est  que  la  conscience 
rend  l'homme  responsable  devant  la  loi  morale.  D'oü  vient  cette 
voix  qui  s'oppose  ä  la  fatalite?  Mystere.  Elle  permet  du  moins 
de  conclure  que  Thomme,  degre  supreme  dans  l'echelle  des  etres, 
a  cree  la  notion  de  justice,  et  que,  par  une  lente  evolution  vers 
le  Divin,  il  tend  ä  realiser  la  justice  dans  la  Cite.  Si  puissan- 
tes  que  soient  la  matiere  et  la  critique  analytique,  elles  ne  peu- 
vent  rien  contre  la  conscience,  contre  la  dignite  humaine.  „Le 
sentiment  de  la  dignite,  inconcevable  si  tout  n'est  que  force 
aveugle,  implique  la  liberte  en  depit  de  tous  les  raisonnements. 
11  est  la  vraie  base  de  la  moralite  prise  dans  son  sens  le  plus 
haut,  et  il  est  le  gage  que  cette  moralite  n'est  pas  illusoire" 
(G.  Paris).  On  reconnait  ici  Pascal:  „Mais  quand  l'Univers  l'ecrase- 
rait,  l'homme  serait  encore  plus  noble  que  ce  qui  le  tue  .  .  . 
toute  notre  dignite  consiste  donc  en  la  pensee  .  .  ."  et  le  Vigny 
de  la  Bouteille  ä  la  mer.  Et  c'est  bien  le  seul  rocher  solide  dans 
l'ocean  de  nos  incertitudes.  „Comment  fais-tu  les  grands  amours 
—  Petite  ligne  de  la  bouche?''  Si  des  levres  de  chair  cueillent 
sur  d'autres  levres  le  baiser  de  l'amour  et  celui  du  pardon,  pour- 
quoi  les  instincts  obscurs  ne  se  transformeraient-ils  pas  en  ideal 
moral?  Que  d'autres  parlent  de  „miracle"  et  de  „revelation", 
nous  dirons  avec  plus  de  respect:  mystere.  Nous  ne  som- 
mes  point  chasses  d'un  paradis,  dechus  d'une  divinite:  nous  y 
montons.    Et  le  choeur  chante: 

Un  jour  les  coeurs,  tous  envahis 
Par  le  grand  flux  d'amour  qui  monte. 
De  s'etre  si  longtemps  hais 
N'auront  plus  que  surprise  et  honte. 

682 


11  nous  semble  que  le  present 
N'offre  que  rapine  et  carnage; 
Toujours  pourtant  il  en  surnage 
Un  nouveau  dogme  bienfaisant. 

Toujours  les  causes  magnanimes 
Ont  leur  triomphe,  lent  ou  prompt : 
Fumes  par  le  sang  des  victimes, 
Les  oliviers  triompheront. 

Dans  l'evolution  de  Sully  Prudhomme,  il  taut  degager  un 
fait  essentiel:  tant  qu'il  fut  pessimiste,  il  analysa  surtout  ses  dou- 
leurs  personnelles.  Disons  mieux:  tant  qu'il  analysa  ses  dou- 
leurs  personnelles,  il  demeura  pessimiste.  Une  lueur  d'esperance 
grandit  pour  lui  avec  Pidee  de  solidarite.  Cest  par  lä  qu'il  se 
differencie,  de  plus  en  plus,  des  Romantiques  et  des  Parnassiens^). 
Parlant  des  artistes  en  general,  j'ai  ecrit  ailleurs  ces  mots  qui  ne 
s'appliquent  ä  nul  autre  mieux  qu'ä  Sully  Prudhomme:  „Creature 
perissable,  soumise  aux  innombrables  contingences  de  son  temps, 
l'artiste  penetre  en  martyr  volontaire  jusqu'au  fond  de  sa  douleur ; 
il  y  trouve  l'humaine  fraternite"  2).  Desormais  il  ne  voit  plus, 
dans  l'homme,  l'individu,  mais  l'etre  social;  et  si  tout  ä  l'heure 
il  donnait  comme  ideal  la  justice,  dans  la  Cite,  maintenant  il 
s'eleve  d'un  degre  encore,  il  trouve  le  bonheur  dans  le  sacrifice, 
c'est-ä-dire  dans  la  loi  de  travail  et  de  douleur  librement  accep- 
tee.  Cest  son  dernier  poeme,  Le  Bonheur  (1888). 

Sur  terre  Faustus  et  Stella  ont  ete  separes  par  un  obstacle 
insurmontabie;  ils  se  retrouvent  dans  un  monde  superieur,  affran- 
chis  de  toute  contrainte,  de  tout  effort.  Leur  amour  semble  rea- 
liser  le  plus  beau  des  reves  terrestres;  mais  cette  felicite  meme 
engendre  une  sorte  de  satiete;  la  vie  sans  desir  perd  de  son 
prix;  ä  l'inquietude  vague  qui  penetre  les  deux  amants  vient 
s'ajouter  un  cri,  cri  d'angoisse,  parti  de  la  terre,  et  qui  monte  de 
cieux  en  cieux.  Faustus  et  Stella  decident  de  renoncer  ä  leur 
bonheur  pour  porter  aux  hommes  la  certitude  d'un  monde  meil- 
leur.  L'ange  de  la  mort  les  empörte  sur  son  aile;  quand  ils 
arrivent  sur  la  terre,  l'humanite  est  morte,  et  la  nature  brüte  a 


^)  M.  Zyromski  l'a  fort  bien  dit,  et  me  semble  avoir  vu  mieux  que 
tout  autre  l'idee  de  foi  et  de  discipline  chez  Sully  Prudhomme.  Je  ne  sau- 
rais  trop  recommander  la  lecture  de  son  livre,  surtout  dans  sa  deuxieme 
partie. 

2)  Lyrisme,  epopee,  drame,  p.  230. 

683 


reconquis  tout  ce  que  notre  civilisation  lui  avait  arrache.  Faus- 
tus  et  Stella  decident  alors  de  recommencer  la  vie  humaine,  avec 
tous  ses  risques  ...  „Ils  ont  compris  qu'il  n'y  a  pas  de  joie 
Sans  souffrance,  qu'il  n'y  a  pas  de  dignite  sans  sacrifice,  et  que 
le  sentiment  du  bonheur  ne  peut  etre  que  celui  d'une  halte  mo- 
mentanee  dans  un  chemin  qui  mene  ä  un  but  toujours  entrevu 
et  Jamals  atteint"  dit  Gaston  Paris,  ä  qui  le  poeme  fut  dedie. 

Le  bonheur  n'est  du  qu'ä  l'effort. 

Cest  la  conclusion  de  Sully  Prudhomme;  et  ces  mots,  si 
simples  en  apparence,  contiennent  une  synthese  en  raccourci:  ä 
la  revolte  individualiste  des  Romantiques  ils  opposent  la  disci- 
pline;  au  determinisme  deprimant  des  positivistes  ils  opposent 
le  libre  consentement.  „Faire  de  necessite  vertu"  est  une  expres- 
sion  de  la  sagesse  pratique;  la  sagesse  plus  haute  d'un  Sully 
Prudhomme  reussit  ä  degager  de  la  necessite  la  liberte  meme. 
Dans  le  domaine  moral,  l'homme  qui  prend  conscience  de  la  loi 
la  domine  en  s'y  soumettant;  eile  n'est  plus  un  cercle  ferme, 
eile  est  la  spirale  ascendante.  Se  connaitre  soi-meme,  savoir  oü 
l'on  va,  c'est  remplacer  peu  ä  peu  le  devoir  par  le  vouloir.  Par- 
venü ä  ce  triomphe  de  la  volonte  par  le  sacrifice  altruiste,  le 
poete  avait  atteint  le  degre  supreme  de  sa  poesie;  il  ne  voulut 
point  se  repeter  ou  revenir  ä  des  confessions  personnelles.  11 
se  tut,  comme  poete  ^);  jusqu'ä  sa  mort  (7  septembre  1907)  il 
ne  fut  plus  qu'un  etre  de  bonte,  et  un  directeur  de  conscience 
pour  les  amis,  connus  et  inconnus.  Meme  disparu,  il  est  en- 
core   notre  guide  le  plus  sür  vers  la  lumiere  d'une  foi  nouvelle. 

III. 

II  n'a  pas  que  des  amis;  parmi  les  „jeunes"  (ou  ceux  qui 
le  furent  vers  1890)  plusieurs  ont  reagi;  cela  se  comprend;  c'est 
dans  la  regle  et  ne  signifie  pas  grand  chose  pour  la  valeur 
durable  d'une  oeuvre;  mais  la  reaction  contre  Sully  Prudhomme 


*)  Les  poesies  sont  editees  chez  Lemerre;  en  5  volumes  in-lZ^  ou 
4  volumes  in-8*';  il  faut  y  ajouter  un  volume  posthume,  Epaves.  L'oeuvre 
en  prose  a  paru  en  partie  chez  Lemerre,  en  3  volumes  in-8''.  En  outre, 
chez  Alcan:  La  vraie  religion  selon  Pascal,  Psychologie  du  libre  arbitre, 
et  Le  lien  social.  Enfin,  recemment,  Lettres  ä  une  amie  (M^e  E.  Amiel) 
2  volumes  in-8*'. 

684 


a  ete  particulierement  brutale  ou  dedaigneuse.  M.  Charles  Morice, 
rendant  compte  de  mon  livre  Lyrisme,  epopee,  drame,  le  resume 
et  l'ereinte  en  quelques  lignes,  disant  entre  autres:  „que  voulez- 
vous  qu'on  fasse  de  l'opinion  d'un  critique  .  .  .  qui  ne  soupgonne 
pas  Villiers  de  TIsle-Adam,  Rimbaud,  qui  admire  passionnement 
Dumas  fils  et  Sully  Prudhomme?"  Voilä  des  raisons  probantes. 
Or,  c'est  ä  M.  Morice,  sauf  erreur,  que  je  dois  d'avoir  lu,  il  y 
a  longtemps,  Villiers  de  l'Isle-Adam  et  Rimbaud,  car  c'est  vers 
1892  que  j'achetai  son  livre  si  suggestif  La  Utterature  de  tout  ä 
l'heure.  On  y  lit  ä  la  page  249,  en  note:  „M.  Sülly  Prudhomme 
n'est  pas  un  poete.  Des  trois  actes  qui  decomposent  l'action 
esthetique  (Pensee,  Idee,  Expression)  il  n'accomplit  que  le  Pre- 
mier. Meme  il  l'accomplit  tres  insuffisamment,  ses  abstractions 
se  maintenant  toujours  dans  les  vieilles  generalisations.  Quant 
au  poete  sentimental  qui  est  l'autre  face  de  ce  poete  philosophe^ 
je  pense  qu'il  a  dejä  rejoint  dans  l'ingrate  memoire  des  hommes 
les  faiseurs  de  romances  du  premier  Empire,  et  Reboul,  et  Du- 
paty;  ses  tendresses  sucrees,  sirupeuses,  sont  vaines,  en  effet,  et 
cet  amant  eut  sans  doute  toujours  la  tete  chenue".  Cela  est 
grossier;  et,  depuis  l'etude  de  G.  Paris  (1895)  jusqu'ä  aujour- 
d'hui  Sully  Prudhomme  n'a  pas  ä  se  plaindre  de  l'ingrate  me- 
moire des  hommes;  mais  il  est  vrai  qu'il  y  a  des  reserves  ä 
faire,  et  Q.  Paris  les  a  faites  avec  une  franchise  entiere.  Nous 
regrettons  que  le  poete  soit  demeure  si  obstinement  fidele  ä  une 
prosodie  vieillie;  que  la  precision  de  son  analyse  laisse  si  peu 
de  place  ä  la  reverie,  ä  la  Suggestion;  que  sa  poesie  scientifique, 
si  hardie  d'intention,  voisine  trop  souvent  avec  la  prose;  mais 
c'est  lä  la  ran(;on  de  certaines  qualites.  Dans  une  lettre  inedite, 
Sully  Prudhomme  se  jugeait  lui-meme  en  ces  termes: 

„La  fausse  modestie  m'est  aussi  odieuse  que  la  vanite,  dont  eile  est 
d'ailleurs  une  forme  assez  maladroite.  Je  vous  demande  si,  de  bonne  foi,. 
vous  ne  trouvez  pas  meridionalement  outrees  les  epithetes  dont  use  X  .  .  . 
ä  mon  egard  (pour  ne  parier  que  de  lui)?  N'est-ce  pas  evidemment  ex- 
cessif?  Est-il  donc  etonnant  que  je  ne  livre  sa  lettre  qu'avec  un  peu  d'he- 
sitation?  Si  vous  etes  juste  (et,  certes,  vous  l'etes)  vous  vous  mettrez  ä 
ma  place  et  vous  reconnattrez  qu'il  n'y  a  pas  besoin  d'affecter  la  modestie 
pour  trahir  quelque  gene  ä  evoquer  de  pareilles  lettres  des  archives  de  la 
flatterie  confraternelle.  J'ai  trop  pratique  mon  art  pour  n'en  pas  connaitre 
ä  la  fois  les  ressources  et  les  difficultes ;  je  me  rends  parfaitement  compte  du 
parti  que  j'ai  tire  des  unes  et  de  la  resistance  que  j'ai  rencontree  dans  les 

68S 


autres.  Nul  mieux  que  moi  ne  peut  mesurer  la  distance  qui  separe  mon 
ceuvre  de  mon  ideal  et  savoir  combien  souvent  j'ai  ete  humilie  par  mon 
impuissance  aux  prises  avec  mon  aspiration.  Je  sais  exactement  ce  que  je 
vaux  en  tant  que  poete  et  Ton  me  fait  beaucoup  plus  de  plaisir  quand  on 
analyse  mes  qualites  avec  justesse  que  quand  on  me  loue  sans  discerne- 
ment  en  bloc.  Je  n'ignore  pas  qu'un  eloge  de  confrere  ä  confrere  est,  neuf 
fois  sur  dix,  un  pret  usuraire  et  qu'il  est  plus  facile  ä  donner  qu'ä  motiver. 
11  faut  entendre,  ou  plutot  il  faudrait  entendre  toutes  les  reserves  sour- 
noises,  toutes  les  reticences  ambigues  qui  accompagnent  cet  eloge  quand  il 
n'est  pas  formule  devant  celui  qui  en  est  gratifie!  Et  lors  meme  qu'il 
est  sincere,  peut-on  oublier  que  le  goüt  litteraire  est  sujet  ä  se  transformer 
du  tout  au  tout  en  un  quart  de  siecle?  Je  me  rends  cette  justice  que  j'ai 
accepte  toutes  les  regles  de  la  versification  classique,  augmentees  des  re- 
centes  exigences  de  l'oreille  pour  la  rime,  sans  chercher  aucune  facilite,  en 
compensation,  dans  la  suppression  des  hemistiches  ni  dans  les  rejets;  je 
suis  tres  fier  de  cela.  Je  me  rends  encore  cette  justice  que  j'ai  tente,  sou- 
vent avec  succes,  l'expression  des  etats  d'äme  profonds  et  intimes  dans 
mes  poesies  personnelles  et  que  j'ai  essaye,  mais  avec  beaucoup  moins  de 
bonheur,  l'introduction  de  la  pensee  philosophique  dans  la  reverie  poetique. 
Voilä  ce  que  je  revendique  tres  hautement  et  avec  confiance,  mais  je  ne 
me  suis  pas  satisfait  moi-meme  dans  ces  entreprises  au  point  de  concevoir 
de  l'orgueil.  Je  sais  oü  le  bat  me  blesse.  Voilä  exactement  l'etat  de  ma 
conscience  de  poete.  Je  souffrirais  d'etre  meconnu,  je  ne  sais  pas  me  fe- 
Uciter  d'etre  surfait.  Je  desire  etre  simple,  mais  il  devient  difficile  de  l'etre 
quand  on  se  sent  estime  trop  au  dessous  ou  trop  au  dessus  de  sa  valeur . . ." 

Laissons  passer  encore  quelques  annees.  Je  serais  etonne 
si  bientot  d'autres  „jeunes"  nesaluaient  pas  en  Sully  Prudhomme 
un  precurseur,  non  point  dans  sa  forme,  mais  dans  sa  pensee 
et  dans  Tambition  de  sa  poesie^). 

Pour  que  ces  pages  ne  depassent  pas  les  limites  d'un  article, 
je  me  suis  borne  ä  une  esquisse  du  poete,  tres  incomplete  et 
pourtant  plus  malaisee  ä  faire  qu'une  longue  etude. 

L'oeuvre  philosophique,  qui  compte  plusieurs  volumes,  est 
de  Premier  ordre  par  sa  profondeur  et  sa  clarte.  Elle  n'aboutit 
pas  ä  un  „Systeme"   proprement  dit,   puisque  Sully  Prudhomme 

^)  G.  Paris  remarque,  avec  beaucoup  de  justesse,  que  Sully  Prudhomme 
n'a  pas  que  des  symboles  ä  l'ancienne  maniere,  c'est  ä  dire  expliques  et 
peut-etre  trop  clairs,  mais  qu'il  a  aussi  des  symboles  purement  suggestifs, 
ouvrant  le  plus  lange  espace  ä  l'interpretation ;  ainsi  Declin  d'amour  (dans 
les  Solitudes) ;  et  il  ajoute :  „Ne  füt-ce  qu'ä  cause  de  cette  piece,  nos  sym- 
bolistes  devraient  regarder  Sully  comme  un  maitre  et  un  precurseur."  Et 
voilä  precisement,  par  une  psychologie  bien  connue,  la  raison  principale  de 
leur  animosite.  Sully  Prudhomme  touche  ä  eux,  et  les  depasse  ä  certains 
egards,  mais  par  une  methode  toute  differente.  II  ouvre  une  breche  dans 
leur  Systeme  exclusiviste ;  <;a  ne  se  pardonne  pas.  Ce  sujet  serait  ä  re- 
prendre  en  detail. 

686 


n'a  jamais  voulu  „conclure";  dans  son  ensemble  eile  n'en  a  pas 
moins  une  tendance  assez  nette.  Tocs  les  problemes  que  le 
poete  avait  affrontes,  dejä  dans  ses  breves  poesies,  puis  dans 
ses  poemes,  sont  repris  ici  avec  une  rigueur  et  une  prudence 
toutes  scientifiques:  l'origine  de  la  vie  terrestre,  le  libre  arbitre, 
les  causes  finales,  la  notion  du  mystere,  les  rapports  de  l'ethique 
et  de  Testhetique,  la  dignite  humaine,  le  devoir  social  ...  Un 
disciple  et  ami,  M.  Camille  Hemon,  a  coordonne  ces  idees  en  un 
livre  admirable  de  clarte  et  d'impartialite.  C'est  ä  ce  livre  que 
je  renvoie  mes  lecteurs.  Ici,  je  ne  veux  discuter  que  la  derniere 
page  de  M.  Hemon;  la  voici: 

Le  drame  psychologique  qui  s'est  deroule,  sans  se  denouer,  dans  sa 
conscience  n'est  guere  moins  saisissant  que  ceux  d'oü  sont  sorties  des 
pages  comme  Celles  de  Faust  et  des  Pensees.  C'est  par  lä  que  l'oeuvre 
philosophlque  de  M.  Sully  Prudhomme  est  un  veritable  Symbole  de  l'esprit 
du  siecie  oü  eile  a  ete  produite.  11  semble  que  quelque  chose  meure  et 
que  quelque  chose  naisse  dans  notre  conscience  moderne.  Les  progres 
foudroyants  de  la  connaissance  scientifique,  en  revelant  ä  la  pensee  hu- 
maine ses  ressources,  lui  ont  aussi  trace  son  domaine  limit^  hors  duquel 
ce  que  la  naive  imagination  des  hommes  d'autrefois  avait  reve  s'est  eva- 
noui  Sans  retour  .  .  .  Mais  en  meme  temps  que  la  science  nouveüe, 
l'ethique  des  temps  nouveaux  commence  ä  poindre,  faisant  naitre  d'im- 
menses  esperances  de  justice  et  de  verite  —  ceci  remplacera  cela.  La  tran- 
sition  s'operera-t-elle  sans  crise  et  sans  souffrance?  NonI  La  pensee  af- 
franchie  par  la  logique  positiviste  garde  encore  ia  nostalgie  des  mythes 
poetiques,  des  paradis,  des  credo,  de  tout  ce  qui  fut  pour  eile  l'Absolu 
adore,  revere,  formule  ou  figure.  La  conscience,  encore  tout  impregnee 
de  la  morale  chretienne,  s'efforce  d'en  garder  tout  l'esprit  sans  les  dogmes 
et  s'etonne  de  la  trouver,  cette  foi  si  aimable  et  si  humaine,  trop  peu  con- 
forme  ä  la  verite  scientifique,  base  de  l'ethique  future.  Conscience  et  rai- 
son, fideles  encore  ä  leurs  habitudes  hereditaires,  s'evertuent  d'un  commun 
accord  ä  garder  sa  poesie  au  reel,  sa  divinite  ä  l'etre,  son  sens  religieux 
au  devoir;  et  pour  se  donner  encore  l'illusion  des  certitudes  passees  en 
attendant  la  certitude  ä  venir,  elles  Inventent  des  paradis  point  trop  sur- 
naturels,  un  Dieu  point  trop  personnel,  une  poesie  point  trop  mensongere. 
Mais  la  critique  denonce  les  sophismes  et  les  fraudes,  ruinant  pas  ä  pas 
ces  fragiles  constructions  de  reve  et  de  logique  pure:  chacun  de  ses  de- 
mentis  coüte  une  douleur  nouvelle  au  malheureux  penseur  qui  tient  par 
tous  ses  instincts  au  passe,  par  tout  son  genie  ä  l'avenir.  Cependant  la 
vie  va  son  train,  faite  de  compromis  et  d'affirmations  provisoires  toujours 
legitimes  lorsque  moralement  elles  sont  bienfaisantes;  le  philosophe,  comme 
les  autres,  „vit  avant  de  savoir  le  secret  de  la  vie",  parce  qu'il  faut  vivre. 
II  vit  bien,  il  en  a  la  conscience  pure  et  satisfaite,  mais  il  n'en  est  pas 
plus  heureux,  n'ayant  pas  la  paix  intellectuelle.  La  poesie  s'eteint  en  lui, 
non  qu'il  la  trahisse  et  cesse  de  lui  rendre  un  culte;  mais  ce  n'est  plus  le 
temps  de  rever.  Et  c'est  pourquoi,  ä  l'issue  de  ce  douloureux  XlXe  siecie, 

687 


Toeuvre  philosophique  de  M.  Sully  Prudhomme  est  bien  un  Symbole :  celui  de 
l'agonie  de  la  Poesie  et  de  la  Foi  mystique  frappees  au  coeur  par  la  Science 
grandissante." 

Je  ne  sais  si  M.  Hemon  maintiendrait  aujourd'hui  cette  con- 
clusion  ecrite  en  1907.  Pour  moi,  je  n'ai  plus  cette  confiance 
en  la  „logique  positiviste" ;  et  la  „Science  grandissante"  me  sem- 
ble  etre,  chez  plusieurs,  un  Absolu  aussi  revere  et  aussi  proble- 
matique  que  celui  des  Credo.  Oü  sont  donc  ces  „progres  fou- 
droyants  de  la  connaissance  scientifique"  ?  Je  vois  bien  et  j'ad- 
mire  certaines  conquetes:  la  telegraphie  sans  fils,  l'aeroplane,  mais 
je  n'y  vois  aucun  rapport  avec  les  causes  finales;  les  graphiques 
de  la  Psychologie  experimentale  sont  d'une  certaine  utilite  pra- 
tique,  mais  ils  n'ont  pas  fait  avancer  la  morale  d'un  seul  pas. 
Bien  plus:  chez  plusieurs  d'entre  nous,  qui  avons  ete  deterministes, 
il  y  a  une  reaction  spontanee,  irresistible,  contre  le  positivisme. 

Entendons-nous  bien:  le  nombre  et  la  qualite  de  ceux  qui 
reagissent  ne  prouvent  nullement  que  nous  ayons  raison,  mais 
prouvent  du  moins  que  la  verite  scientifique  est  loin  d'etre  faite; 
en  outre:  bien  que  la  question  morale  nous  preoccupe  vivement, 
ce  n'est  pas  le  besoin  d'une  morale-gendarme  qui  nous  pousse 
ä  reagir;  non,  notre  mentalite  est  assez  scientifique  pour  accepter 
une  preuve,  quelles  qu'en  soient  les  consequences,  quand  cette 
preuve  est  faite;   mais  celle  du  determinisme  est  encore  ä  faire. 

Nous  constatons  que  le  progres  moral  de  l'humanite  est  du 
en  partie  ä  la  science,  mais  davantage  encore  ä  des  intuitions 
d'un  ordre  tout  different.  Ces  intuitions  n'etaient-elles  que  des 
mythes  bienfaisants  ?  Dans  leur  forme,  sans  doute;  mais  dans 
leur  fond?  cela  n'est  point  encore  prouve.  Nous  constatons  en- 
core que  la  Science  (si  vieille  dejä)  n'est  point  en  progres  cons- 
tant;  qu'elle  a  ses  erreurs  de  methode,  ses  exclusivismes  dog- 
matiques  et  souvent  ses  impasses.  Et  nous  croyons  enfin  qu'au- 
jourd'hui  precisement,  la  science,  en  tant  qu'elle  etudie  l'homme, 
se  trouve  dans  une  impasse  d'oü  il  faut  la  faire  sortir;  partie 
du  concept  materialiste,  eile  a,  nous  semble-t-il,  confondu  des 
phenomenes  d'ordres  differents  et  applique  aux  uns  une  methode 
qui  ne  convient  qu'aux  autres.  De  lä  son  Information  unilaterale, 
qui  donne  l'illusion  d'une  preuve.  Quand  la  curiosite  aura  change 
d'objet  et  de  methode,   eile  verra  se   renouveler  des   problemes 

688 


qu'on  croyait  resolus^).     Et  ce  ne  sera  ni  la  premiere  fois  dans 
Thistoire,  ni  la  derniere. 

Les  positivistes  seraient-ils  peut-etre  genes,  ä  leur  insu,  par 
une  crainte  identique  ä  celle  qui  paralyse  tant  de  croyants?  Ceux- 
ci  redoutent  dans  la  science,  et  ceux-lä  redoutent  dans  l'intuition, 
une  atteinte  au  Systeme  qui  fait  leur  paix  interieure.  La  noblesse 
de  Sully  Prudhomme  est  precisement  de  n'avoir  jamais  recule 
devant  l'angoisse ;  c'est  en  la  traversant  qu'il  a  trouve  la  serenite. 

II  nous  apprend  ä  ne  pas  conclure,  ä  ne  jamais  fermer 
notre  äme  ä  de  nouvelles  possibilites,  ä  distinguer  toujours  la 
science  qui  prouve  de  la  foi  qui  cree.  Ce  n'est  pas  un  recul  de 
la  foi;  c'est  une  ascension,  oü,  gräce  aux  progres  de  la  science, 
la  foi  s'ennoblit  sans  cesse.  De  ces  deux  soeurs  qui  semblent 
ennemies,  l'aTnee  sera-t-elle  remplacee  jamais  par  la  cadette?  Ce 
serait,  comme  dans  le  Bonheur,  la  vie  figee  dans  la  certitude. 
Si  l'homme  savait,  goüterait-il  encore  la  tendresse  sacree  en  bai- 
sant  les  yeux  d'une  femme  et  le  front  d'un  enfant?  L'amour  est 
un  acte  de  foi.  On  peut  esperer  neanmoins  que  les  deux  soeurs, 
sans  se  confondre,  se  reconcilieront  un  jour,  quand  la  science 
aura  enfin  reconnu  que  l'humanite,  patiente  creatrice  de  liberte, 
trouve  dans  sa  conscience,  et  non  ailleurs,  la  loi  supreme. 

L'oeuvre  poetique  et  philosophique  de  M.  Sully  Prudhomme 
est  donc  bien  un  Symbole;  non  pas  de  hier  seulement,  mais  de 
demain  aussi;  non  pas  de  l'agonie  de  la  poesie  et  de  la  foi, 
mais  de  l'esperance  humaine  qui  sans  cesse  reprend  son  envol 
de  la  verite  acquise  ä  la  lumiere  qu'on  devine. 

Commentant  la  parole  de  Pascal:  „Le  coeur  a  ses  raisons 
que  la  raison  ne  connait  pas",  Sully  Prudhomme  a  dit: 

L'esprit  fait  le  savant,  le  coeur  seul  fait  l'apötre. 
Et  sans  lui  le  genie  est  grand  sans  majeste. 
Ne  separons  jamais  ce  sens  divin  de  l'autre, 

Car  on  n'a  jamais  cru  ce  qu'il  a  conteste. 

(EpavesJ 

ZÜRICH  E.  BOVET 

□  OD 


^)  La  psycho-analyse  me  semble  etre  un  de  ces  changements  d'orien- 
tation ;  eile  en  est  encore  ä  ses  debuts,  souvent  perilleux ;  mais  eile  compte 
dejä  des  succes  certains,  inattendus,  gräce  ä  une  methode  toute  nouvelle. 

689 


THOMAS  MANN: 

DER  TOD  IN  VENEDIG 

Wie  doch  jeder  Dichter  in  seinen  Wenigen  einmal  eine  Fläche 
zum  Spiegel  poliert,  um  lächelnd  zu  beraten,  wie  viel  er 
seinem  Publikum  von  sich  selbst  vorteilbedacht  verrate !  Narzissos 
vor  dem  Schreibtische!  Solch  prüfender  Blick  überraschte  viel- 
leicht Thomas  Mann  mit  der  produktiven  Erkenntnis,  dass  der 
Künstler  wahrscheinlich  doch  nicht  Narzissos  in  ephebenhafter 
Schönheit  sei,  weil  die  Übung  den  jedwede  Kunst  Übenden 
lädiert.  Hätte  Thomas  Mann  es  nicht  gewusst,  die  Pallas  Athene 
Ovids  würde  ihn  belehrt  haben,  dass  sie  die  Flöte  verrachte, 
weil  sie  das  Gesicht  verzerrt:  Ars  mihi  non  tanti  est,  valeas 
mea  tibia! 

Nein,  der  Held  dieser  Novelle,  der  Dichter  Aschenbach, 
ist  kein  Narzissos,  wohl  aber  das  Bild  übereinander  photo- 
graphierter  literarischer  Zeitgenossen,  ein  Bild,  in  dem  Thomas 
Manns  Typus  wahrscheinlich  seelebestimmend  blieb.  Der  Dichter 
unserer  Tage!  Ikonographisch  nicht  mehr  zu  verwechseln  mit  dem 
Byrontypus,  dessen  eitle  Locken  alles  wiegen,  weil  der  Ruhm 
noch  keine  Locke  wiegt;  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Stutzer 
Theophile  Gautier,  dessen  rote  Weste  —  seine  persönliche 
Lizenz,  aber  nicht  die  Erlaubnis  für  die  andern  war;  nicht  zu 
verwechseln  mit  dem  Revolutionsdichter  der  Vierziger  Jahre,  der 
in  würdig  gepflegtem  Barte  und  reckenhafter  Statur  Parlamente 
zieren  wollte;  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  forschen  Realismus- 
protzen, der,  einen  Glimmstengel  auf  den  Lippen  und  einen  er- 
lebnisreichen Schlapphut  auf  scheitellosem  Kopfe,  sich  in  der 
Rangliste  der  Gesellschaft  vor  Verwechslung  schützt.  Thomas 
Manns  vorgeschobener  Dichter  dürfte  darin  moderner  Dichter 
sein,  dass  er  seinen  Innern  Beruf  eher  in  einer  neutralen  Gesell- 
schaftsmaske verbirgt.  Ja  sogar  die  Bügel  einer  Goldbrille  schneiden 
ihm  an  der  Wurzel  der  Nase  ein ;  denn  dieser  Gustav  Aschenbach 
empfindet  immer  Sehnsucht  „in  den  heilig  nüchternen  Dienst 
seines  Alltags"  zurückzukehren,  und  da  er  auf  zarten  Schultern 
viel  Talent  und  Zucht  trägt,  opfert  er  wie  ein  Gelehrter  die 
stärksten   und  würdigsten  Stunden  seines  Tages  der  Arbeit.     In- 

690 


brunstig  gewissenhafte  Morgenstunden!  Ein  Narr,  der  mehr  gibt, 
als  er  hat.  Aschenbach  gibt  mehr  und  wird  dadurch  gefeierter 
Dichter,  der  früh  vom  Schreibtische  aus  repräsentieren  lernt.  Wir 
sind  an  andere  Vergleiche  gewohnt:  an  den  Dichter  von  Gottes 
Gnaden,  der  nur  am  Baume  zu  schütteln  braucht  und  die  Granat- 
äpfel der  Poesie  sammelt,  der  den  Taktstock  anrührt  und  schon 
von  den  flutenden  Stimmungen  eines  unsichtbaren  Orchesters 
betört  wird.  Armer  Aschenbach!  Du  bist  ein  verzwergter 
Flaubert,  du  gleichst  dem  heiligen  Sebastian  in  der  Kunst.  Dein 
Schaffen  ist  eine  große  Passion,  Vortäuschung  von  Energien. 
Man  glaubt  von  der  Höhe  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  herab 
ein  synthetisches  Urteil  über  die  erzählende  Literatur  unserer 
Tage  zu  hören,  wenn  man  Thomas  Manns  Kasteiung  liest: 
„Blickte  man  hinein  in  diese  erzählte  Welt,  sah  man:  die  ele- 
gante Selbstbeherrschung,  die  bis  zum  letzten  Augenblick  eine 
innere  Unterhöhlung,  den  biologischen  Zerfall  vor  den  Augen  der 
Welt  verbirgt;  die  gelbe,  sinnlich  benachteiligte  Hässlichkeit,  die 
es  vermag,  ihre  schwellende  Brust  zur  reinen  Flamme  zu  entfachen, 
ja,  sich  zur  Herrschaft  im  Reiche  der  Schönheit  aufzuschwingen; 
die  bleiche  Ohnmacht,  welche  aus  den  glühenden  Tiefen  des 
Geistes  die  Kraft  holt,  ein  ganzes  übermütiges  Volk  zu  Füßen 
des  Kreuzes,  zu  ihren  Füßen  niederzuwerfen;  die  liebenswürdige 
Haltung  im  leeren  und  strengen  Dienste  der  Form;  das  falsche, 
gefährliche  Leben,  die  rasch  entnervende  Sehnsucht  und  Kunst 
des  geborenen  Betrügers:  betrachtete  man  all  dies  Schicksal  und 
wieviel  gleichartiges  noch,  so  konnte  man  zweifeln,  ob  es  über- 
haupt einen  andern  Heroismus  gäbe,  als  denjenigen  der  Schwäche . . . 
Gustav  Aschenbach  war  der  Dichter  all  derer,  die  am  Rande  der 
Erschöpfung  arbeiten,  der  Überbürdeten,  schon  Aufgeriebenen, 
sich  noch  Aufrechterhaltenden,  all  dieser  Moralisten  der  Leistung, 
die,  schmächtig  von  Wuchs  und  spröde  von  Mitteln,  durch 
Willensverzückung  und  kluge  Verwaltung  sich  wenigstens  eine 
Zeitlang  die  Wirkungen  der  Größe  abgewinnen.  Ihrer  sind  viele, 
sie  sind  die  Helden  des  Zeitalters."  Erklärt  der  Dichter  der  Bud- 
denbrooks, der  um  so  vieles  lieber  die  bröckelnde  Spitze  als  die 
gesunde  Basis  einer  Pyramide  von  Geschlechtern  schildert,  den 
eigenen  Bankerott?  Leichtfertige  Kritiker  bejahen  die  Frage,  denn 
sie  vergessen,   dass   „Königliche  Hoheit",   „Fiorenza",   „der  Tod 

691 


in  Venedig"  nur  dem  Gegenteil  einer  Insolvenzerklärung  ähneln. 
Vielmehr  wird  durch  dieses  Bekenntnis  klar,  warum  Thomas 
Mann  sich  der  von  ihm  geschilderten  erschöpften  Kultur  gegen- 
über behaupten  kann.  Weil  er  als  „Moralist  der  Leistung"  diesem 
Aschenbach  überlegen  ist,  der  vielleicht  sein  geistiger  Vetter,  viel- 
leicht ein  Herzbruder  Hofmannsthals,  gewiss  aber  die  Erläuterung 
zu  Goethes  vorzeitigem  Signalement  unserer  Dichter:  Forcierte 
Talente.  —  Dieses  forcierte  Talent  stellt  Thomas  Mann  uns  vor. 
Zu  Anfang  der  Novelle  stehen  sich  drei  Gestalten  gegen- 
über kühl  bis  ans  Herz  hinan.  Thomas  Mann,  Aschenbach, 
der  Leser.  Feindliche,  aber  sachliche  Interessenten!  Jeder  wagt 
schließlich  einen  Schritt!  Jetzt  ein  geheimnisvolles  Experiment! 
Aschenbach  und  der  Leser  haben  nur  noch  einen  Blutkreis- 
lauf. Der  Beherrscher  dieses  gemeinsamen  Lebens  ist  Thomas 
Mann!  Auch  er  schwingt  sympathetisch  mit.  Dann  eine  kalte 
Trennung!  Thomas  Mann  tritt  aus  dem  Schatten  seines  Hel- 
den! Der  Leser  zieht  sich  fröstelnd  zurück,  und  Thomas  Mann 
und  der  Leser  verabschieden  sich  „respektvoll  erschüttert" 
bei  Aschenbachs  Tod!  —  Eine  unaufdringliches  Symbolik,  die 
erst  vom  Ende  der  Novelle  aus,  also  retrospektiv  erkannt  wird, 
bestimmt  den  Charakter  der  Dichtung.  Wie  vom  Zufall  hinge- 
pflanzt steht  Aschenbach  objektiv  betrachtend  vor  einem  Friedhofe. 
Auf  dem  betagten  Fahrzeug,  das  seine  Reiselust  in  Venedig  be- 
ruhigen soll,  entsetzt  ihn  der  Anblick  eines  dem  Tode  verfallenen 
alten  Stutzers,  der  sich  mit  Schminke  und  Perücke  zum  Jüngling 
zurückschwindeln  will;  die  Gondel,  die  ihn  in  Venedig  trägt, 
gleicht  einer  Bahre  und  düsterem  Begräbnis.  Venedig  selbst, 
wieder  einmal  verseucht,  atmet  nicht  bloß  Lagunengeruch,  sondern 
Karbolduft.  In  diesem  todesschwangeren  Bezirk  schreitet  aber  der 
mythischen  Ferne  entrückt  Eros  mit  der  lodernden  Fackel. 
Das  zwingt  den  Wandrer  still  zu  stehen.  —  Auf  einigen  Seiten  der 
zartesten  und  luxuriösesten,  aber  zugleich  geschmackvollsten 
deutschen  Prosa,  der  man  mit  dem  Gedanken  an  den  hundert- 
undfünfundsiebzigsten  Paragraphen  des  Strafgesetzbuches  Un- 
recht tut,  schildert  Thomas  Mann,  wie  Aschenbach  an  dem 
zarten  Gliederspiel  und  der  Eurhythmie  eines  Knaben  alle  die 
Schönheitsgesetze  erfüllter  Form  mit  gieriger  Wimper  einsaugt 
und  in  inbrünstiglichen  Gedanken  empfindet.    Thomas  Mann  hat 

692 


das  Erlebnis  seines  Dichters  einzig  in  ein  letzte  Formen  erken- 
nendes Auge  verlegt.  Kein  Wort,  kein  Dialog  baut  eine  Brücke 
zwischen  dem  Knaben  und  dem  Dichter.  Herrliche  Augenweide 
ist  alles.  Da  Thomas  Mann  derjenige  deutsche  Dichter  ist, 
der  alle  Physiognomik  seit  Lavaters  Tagen  in  verfeinerter  Prä- 
gung eroberte,  kann  niemanden  verwundern,  dass  hier  ein  novel- 
listisches Wunder  geschehen  musste.  Das  silbrige  Blau  des  Äthers, 
die  wunderbare  Landschaftsvedute  wird  nur  angedeutet  —  um 
das  Knaben  willen,  dem  sie  zur  Folie  dient;  die  Sonne  leuchtet 
bloss,  um  den  Flaum  des  Rückgrates  dieses  Knaben  zu  betonen, 
die  feine  Zeichnung  der  Rippen,  die  Kniekehlen  mit  bläulichen 
Geäder,  das  Haupt  dieses  Eros  von  gelblichem  Schmelze  parischen 
Marmors.  Im  Anblick  dieses  Bildwerkes  überträgt  Aschenbach 
die  Schönheit  in  den  Geist  und  formt  „jene  anderthalb  Seiten 
erlesener  Prosa,  deren  Lauterkeit,  Adel  und  schwingende  Gefühls- 
spannung binnen  kurzem  die  Bewunderung  vieler  erregen  sollten. 
Es  ist  sicher  gut,  dass  die  Welt  nur  das  schöne  Werk,  nicht  auch 
seine  Ursprünge,  nicht  seine  Entstehungsbedingungen  kennt;  denn 
die  Kenntnis  der  Quellen,  aus  denen  dem  Künstler  Eingebung 
floß,  würde  sie  oftmals  verwirren,  abschrecken  und  so  die  Wir- 
kungen des  Vortrefflichen  aufheben".  Wann  wird  die  zünftige 
Literaturgeschichte  nicht  nur  von  einem  Wilhelm  Dilthey,  oder 
neuestens  von  O.  F.  Walzel  über  Erlebnis  und  Dichtung  sich 
belehren  lassen  sondern  auch  von  einem  so  tiefen  Berater  wie 
Thomas  Mann?  Eine  exakte  Darstellung  des  Künstlerrausches 
schreibt  Thomas  Mann.  Der  Leser,  verführt  durch  die  hin- 
gebungsvolle Wortkunst,  taumelt  mit,  bis  er,  von  robusteren, 
gesunderen  Sinnen  zurückgehalten,  entdeckt,  dass  Aschenbach 
mit  einer  Flamme  und  einem  Abgrunde  spielt.  Thomas  Mann, 
der  seinen  Helden  bis  zur  Preisgabe  der  Würde  —  merkwürdig 
genut  genug  bedeutet  ein  wilder  Traum  die  innere  Katastrophe 
—  begleitet,  oder  am  Narrenseil  dieser  Passion  für  den  Knaben 
führen  muss,  straft  Aschenbach  mit  der  grausamen  Pein,  dass  er, 
vor  seinem  Alter  und  der  physischen  Gebrechlichkeit  schaudernd, 
die  letzte  Zuflucht  in  kosmetischen  Künsten  sucht,  um  auch  sich 
zu  verjüngen.  Aber  eine  Coiffeurbude  im  Sonnenglast  Venedigs 
ist  kein  Lukas  Kranachscher  Verjüngungsbrunnen.  Was  Hans  Sachs 
so  männlich  hinnimmt: 

693 


Kain  Kraut  auf  erd  ist  gewachsen 
Heint  zu  verjüngen  mich,  Hans  Sachsen 

will  Aschenbach  betört  leugnen.  Ein  haltungsloser  Zusammen- 
bruch! Der  Gebrochene  erkennt  in  dem  Eros,  der  im  Sande 
spielt  und  von  einem  Partner  unterjocht  wird,  auf  einmal  —  Tha- 
nathos  mit  der  gesenkten  Fackel. 

Eine  kurze  Strecke  vor  dem  Ende  hat  Thomas  Mann  ihn 
noch  bemitleidet,  am  Schlüsse  sich  von  ihm  so  weit  entfernt 
wie  der  Leser,  der  —  sei  es,  weil  es  sich  um  eine  staatlich  nicht 
konzessionierte  Dosis  Erotik  handelt,  sei  es  aus  Neugier  an  der 
pathologischen  Erscheinung  —  den  Niedergang  miterlebt.  Welch  ein 
Ende!  Man  streift  es,  wenn  möglich,  nur  mit  einem  Wort,  etwa 
jenem  kalten  Satze:  „Desselben  Tages  empfing  eine  respektvoll 
erschütterte  Welt  die  Nachricht  von  seinem  Tode."  Und  wirk- 
lich, die  vielen  Aschenbachs  müssen  an  die  eigene  Brust  schlagen, 
wenn  sie  sich  fragen,  warum  es  keine  begeisterten  Zeiten  mehr 
gebe  wie  jene,  da  in  Missolunghi  eine  Batterie  mit  siebenund- 
dreißig Kanonenschüssen  dem  Schmerz  über  den  Verlust  des 
siebenunddreißigjährigen    Lebens    Lord   Byrons   Rechnung    trug. 

Wenn  Thomas  Manns  Novelle  ein  Methusalemsalter  der 
Wirkung  erreichen  könnte,  würde  sie  wahrscheinlich  als  ein  lite- 
rarisches Kulturdokument  gelten.  Jetzt  aber  bedeutet  sie  in  ihrer 
Liebe  zur  Wahrheit,  in  ihrem  Mut  und  Takt,  in  ihrer  erfüllten 
Form  —  ein  Ergebnis  der  vornehmsten  deutschen  Erzählerkunst. 
ZÜRICH  EDUARD  KORRODl 

DDD 

IRDISCHES  GLÜCK 

Ich  bin  ein  Mensch,  dem  keinen  Tag  das  Glück 
Ununterbrochnen  Stromes  zugeflossen. 
Was  immer  ich  an  Freuden  auch  genossen, 
Sie  ließen  mich  am  End'  allein  zurück. 
Es  gibt  kein  Glück,  es  war'  nicht  bald  zergangen ; 
So  licht  die  Blume  glänzt,  so  welkt  sie  doch. 
Besinne  dich,  mein  Herz.    Was  willst  du  noch 
Nach  dieses  Lebens  falschem  Glück  verlangen  ? 

Übertragungen  von  Walther  von  der  Vogelweide 

:  Max  Nussberger  : 
(Frauenfeld,  Huber  &  Co.) 

naa 

694 


SCHMUTZ 

Es  braucht  so  wenig,  um  in  Misskredit  zu  l<ommen.  Am 
leichtesten  und  verzerrtesten  aber  kommen  natürliche  Dinge  in 
Verruf. 

Der  Schmutz  zum  Beispiel. 

Stammt  nicht  aller  sogenannter  Schmutz  von  Mutter  Erde? 
Und  die  ehren  wir  doch,  weil  wir  samt  und  sonders  aus  ihr  er- 
blüht sind,  nicht  nur  die  Pflanzen.  Weil  wir  ihre  Söhne  sind,  so 
gut  wie  der  Riese  Antäus,  den  Herkules  nur  besiegen  konnte,  als 
er  ihm  die  Füße  von  der  kräftespendenden  Mutter  löste  und  hoch 
in  der  Luft  die  Knochen  zerdrückte. 

Es  ist  kein  Bild,  sondern  eine  wörtliche  Wirklichkeit,  wenn 
der  Heimgekehrte  aus  dem  Schiffe  sprang  und  die  Erde  seiner 
Heimat  küsste. 

Die  selbe  Erde,  die,  millimeterbreit  unter  seinen  Fingernägeln, 
ihn  aus  der  Gemeinschaft  der  Gebildeten  und  der  Wohlanständigen 
unnachsichtlich  ausschloss. 

Nichts  schöneres,  als  wenn  die  reiche  Haarflut  der  Geliebten 
durch  schmeichelnde  Finger  gleitet.  Ein  einzelnes  Haar  der  selben 
Geliebten  aber  in  deiner  Suppe,  mein  Freund  —  und  du  sprichst 
von  Schmutz  und  Ekel.  Wie  sonderbar,  dass  ein  Singular  die 
ästhetische  Schätzung  des  Plural  so  grimmig  soll  wandeln  können. 
Müssen  wir  da  nicht  in  unsere  ästhetischen  Werturteile  miss- 
trauisch  werden? 

Kinder  haben  noch  ein  natürliches  Verhältnis  zur  Erde,  zum 
Schmutz,  wenn  Sie  wollen.  Eltern  nicht  mehr.  Daher  die  seit 
Jahrtausenden  bestehende  Divergenz  zwischen  beiden  wegen  Hals 
und  Hand  und  Seife. 

Einmal  spielten  Kinder  mit  dem  Schmutz  am  Dorfweg. 

„Was  macht  ihr  da,  meine  Kinder,"  sagte  der  Pfarrer  und 
blieb  stehen. 

„Eine  Kirche,  Hochwürden." 

„So,  so.    Aber  da  fehlt  ja  noch  der  Pfarrer?" 

„Ja,  da  hat  uns  der  Dreck  nimmer  g'Iangt  dazu,"  sagten 
die  Kinder  treuherzig. 

Das  sind  leider  die  gleichen  Kinder,  die,  einmal  von  den 
Reinlichkeitsfanatismen  der  Schulen  und  der  Konvention  durch- 

695 


tränkt,  sich  zu  jenen  grässlichen  Haus-  und  Scheuerfrauen  aus- 
wachsen  können,  deren  maniakalische  Seifenströme  und  ewige 
Staubwedel  rücksichtslos  das  gemütliche  Heim  zerwaschen  und 
zerstauben. 

Es  gibt  eine  aufdringliche  Reinlichkeit,  die  schlimmer  ist  als 
ein  verstaubter  Hemdkragen.  Aller  Fanatismus  ist  eine  Qual.  Der 
Reinlichkeitsfanatismus  mancher  Frauen  aber  ist  ein  Unglück.  Die 
ungetreue  Frau  ist  auch  eines,  gewiss.  Gegen  sie  aber  kann  man 
sich  wehren.  Sogar  zur  tragischen  Größe  mag  der  Mann  daran 
emporwachsen.  Was  vermag  er  jedoch  gegen  den  rohen  frau- 
lichen Fliegenwedel  auszurichten,  der  ihm  zu  jeder  Stunde  über 
seine  Papiere  und  seinen  Schreibtisch  fährt?  Hilflos  steht  er  vor 
den  Fluten  des  epidemischen  Reinemachens. 

Mit  dem  hochnäsigen  Anspruch  eines  ersten  Kulturträgers 
tritt  der  Reinlichkeitseifer  auf.  Der  geringste  Versuch,  ihn  in  Maß 
und  Ziel  zu  dämmen,  wird  einem  mitleidig  als  Minderwertigkeit 
ausgedeutet.  Viel  mehr  Menschen  leiden  darunter,  als  man  glaubt. 
Haben  Sie  schon  solche  blitzblanken  Heimstätten  betreten?  Freund- 
lich sind  sie  nicht.  Der  Geist  der  Wohnlichkeit  wird  täglich 
wütend  weggescheuert  und  abgeschruppt.  Gejagt  wird  er  —  im 
Zimmer  herum,  den  Gang  entlang,  die  Treppe  hinab,  zur  Tür 
hinaus.    Bitte,  das  ist  nicht  komisch,  sondern  traurig. 

Absonderliche  Wege  geht  dieser  Hyperkultus.  Ein  adeliger 
Assessor  war  in  drei  Dutzend  Vorträgen,  die  ich  an  seiner  Seite 
anhören  musste,  intensiv  damit  beschäftigt,  35  von  den  akademi- 
schen 45  Minuten  eines  Vortrages  seine  Fingernägel  unermüdlich 
zu  beschneiden,  zu  plätten,  zu  polieren.  Und  das  war  nicht  etwa 
ein  Trottel,  sondern  ein  intelligenter  Mann.  Aber  sein  Reinlich- 
keitsbazillus hatte  die  Hemmungen  einer  gesunden  Unbekümmert- 
heit um  das  Drum  und  Dran  überwuchert  und  fing  an,  seinen 
Lebensinhalt  in  einer  krampfhaften  steten  Sorge  um  blanke  Finger- 
nägel zu  zerreiben. 

Ich  habe  mich  von  ihm  dadurch  erholt,  dass  ich  eine  Zeit 
lang  einem  braunen  Italiener  vor  der  Hochschule  zusah,  wie  er 
in  schmutzigen  Hosen,  verstaubtem  Gesicht  und  zerarbeiteten 
Händen  seine  Steine  klopfte.     Richtig  erfrischend  war  das. 

Ich  weiß  wohl:  derselbe  Italiener  wird  nach  einigen  Jahren 
deutschen    Reinlichkeitseinflusses   am   Sonntag   früh    mit  sauber 

696 


glänzendem  Scheitel  auf  der  Bank  vor  seinem  Hause  sitzen.  Seine 
Baci<en  werden  brennen  von  fanatischen  Abreibungen.  Ein  blitzen- 
der Stehkragen  und  ein  knitterndes  Weißblech  vor  der  Brust 
werden  ihn  vollends  verhunzen.    Schade. 

Das  russige  Gewand  des  Kaminkehrers  galt  sonst  als  Ehren- 
kleid. Auf  dem  Neubau  vor  meinem  Hause  stehen  verstaubte 
Gestalten.  Schmutz  rundum  und  auf  den  Gesichtern.  Mutter 
Erde  hat  sie  bei  ihrer  Arbeit  liebkost,  hat  ihnen  Grüße  zugespritzt. 
Wie  aus  der  Erde  geblüht,  stehen  sie  da.  Auch  dem  Waldpilz, 
der  aus  dem  Boden  bricht,  haften  Teile  der  Mutter  an.  Die 
schmutzigen  Arbeiter  schämen  sich  nicht,  und  der  unverbildete 
Mensch  sieht  sie  mit  innigem  Behagen.  Der  sauber  gestrigelte 
Plebejer  freilich  hat  das  unbezwingliche  Verlangen,  mit  Seife  und 
Bürsten  .  .  .  Die  Halb  und  Halben  sagen  immerhin,  sie  seien 
malerisch.    Jedoch  die  Hand  mögen  sie  ihnen  nicht  geben, 

Wir  haben  uns  ästhetisch  verbiegen  lassen  in  allem,  was  wir 
Schmutz  heißen.  Hätten  sonst  unsere  Fräulein  und  Herrlein  ein 
Grauen,  die  Arbeiterhand  zu  fassen,  an  der  die  graue  Erde  in 
unauslöschlichen  Rinnsälchen  sich  festgesetzt  hat?  Dann  und  wann 
habe  ich  bei  offiziellen  Arbeiterjubiläen  die  rauschende  Gemahlin 
des  Direktors  oder  sein  verlegenes  Töchterlein  dennoch  solche 
Hände  fassen  sehen,  weil's  im  Programm  so  stand  —  „generös- 
halber", sagt  der  Bruder  Österreicher.  Dass  sie  aber  hinterher 
die  eigene  Hand  am  Taschentuch  wischen,  hat  wirklichen  und 
dauernden  Ekel  verursacht.  Der  freilich  mit  jenem  Ekel  nichts 
zu  tun  hat,  vor  dem  man  sich  mit  Handschuhen  schützen  kann. 

Die  Erdflucht  hat  man  in  Schmutzflucht  umgetauft.  Die 
Degeneration  ist  aber  bloß  bemäntelt.  Die  Erdständigkeit  in  jedem 
Sinn  verloren  hat  der  Großstädter.  Ergötzlich  ist  es,  wie  mancher 
staubige  Spuren  auf  seiner  Gewandung  mit  Entsetzen  entdeckt. 
Kommt's  öfter  vor,  so  setzt  es  ihn  den  Augen  seiner  Umwelt 
mehr  herab,  als  wenn  die  selbe  Umwelt  ihn  am  hellen  Tage  in 
dem  wirklichen  Schmutz  schlechter  Häuser  ein-  und  aus- 
gehen sähe. 

Ist  es  nicht  seltsam,  moralischen  Schmutz  vereinbarungsge- 
mäß nicht  zu  sehen?  Dazu  hat  sich  die  Gesellschaft  ebenso  ver- 
schworen, als  sie  empfindlich  ist  gegen  das  äußere  Gewand.   Und 

697 


was  für  Männer  laufen    heute   oft   mit   der  tadellosesten  weißen 
Weste  herum? 

Die  schlechtesten  und  die  flachsten  Menschen  habe  ich  immer 
unter  den  blankgeputzten  Leuten  gefunden.  Mit  einer  augen- 
zwinkernden mitleidigen  Verachtung  belästigen  diese  Oberflächler 
den  Unbekümmerten.  Die  glänzenden  Gesichter  gewisser  Reise- 
onkels sehen  aus,  als  seien  sie  bis  zur  ewigen  Röte  blank  gerieben. 
Sie  flößen  mir  kein  Vertrauen  mehr  ein,  seitdem  ich  ihre  Männer- 
gespräche am  Wirtstisch  mit  angehört  habe.  Welcher  Schmutz 
sprudelte  da  aus  ihren  glatten  Gesichtern.  Was  für  kaltnasige 
Lumpen  kann  man  gerade  unter  dem  Geschlecht  der  besorgten 
Oberflächler,  der  brillanten  Hemdkrägler  und  blähenden  Ober- 
hemdler entdecken.  Die  abgefeimtesten  Hochstapler  machen  sich 
unser  Vorurteil  zu  Nutze,  von  der  äußeren  Reinlichkeit  auf  die 
innere  Anständigkeit  zu  schließen. 

Kinder,  deren  junges  Leben  von  reichen  Eltern  in  die  be- 
sorgteste Reinlichkeit  eingekapselt  wird,  schätzen  diesen  Vorzug 
nicht.  Es  war  kein  Witz,  dass  sich  ein  solches  Kind  zu  seinem 
Geburtstag  wünschte,  ein  einziges  mal  mit  bloßen  Füßen  durch 
den  Straßenschlamm  waten  zu  dürfen. 

Selten  nur  noch  bricht  beim  Erwachsenen  der  alte  Erd- 
instinkt durch.  Der  Kulturmensch,  über  Land  von  einem  Insekt 
gestochen,  lässt  sich  vom  Hüterjungen  mit  staunendem  Wohlge- 
fallen eine  Erdschmutzschicht  auf  die  schmerzende  Stelle  legen. 
Wie  das  kühlt.  Mutter  Erde  saugt  allerlei  Gift  aus  wunden 
Stellen. 

Es  muss  so  ganz  sinnlos  nicht  sein,  wenn  wilde  Stämme 
ihren  Körper  täglich  mit  Erde  reiben.  Es  ist  sicher  gesünder, 
als  ihn  mit  künstlichen  Schminken,  Salben  und  Farben  zu  be- 
decken. Und  ob  ihnen  das  Erdessen  nicht  bekömmlicher  ist,  als 
den  Mägen  unserer  Kulturmenschen  die  Gänseleberpastete? 

Sie  lebten  in  Erdhöhlen  —  wird  uns  mit  Gruseln  von  den 
Vorfahren  berichtet.  Aber  unsere  Kinder,  in  denen  noch  erstaun- 
lich alte  Instinkte  lebendig  sind,  bauen  sich  mit  heimlichem  Be- 
hagen versteckte  Gelasse  in  die  Erde  und  in  felsige  Spalten,  sitzen 
und  erzählen  darin  lange  Geschichten,  die  in  ihnen  aus  dem  Blut 
ihrer  fernen  Mütter  und  Väter  wach  sind,  und  tauschten  nicht 
gegen    das  stillvollste   Gemach.    Und  dann:  wandern   Sie  doch 

698 


durch  die  Wohnungen  des  Hast  End  in  London,  darauf  durch 
Calabrien,  wo  der  unbelehrbare  Süditaliener  noch  in  solchen  Erd- 
höhlen haust,  und  dann  sagen  Sie  ehrlich,  wer  besser  dran  ist. 

Dem  Taglöhner  Sextl  in  Partenkirchen  hatte  die  Gemeinde 
als  „Zug'roasten"  die  Wohnung  verweigert.  Wohin  mit  acht  Kin- 
dern? Im  Wald  irgendwo  stellte  er  ein  Stückel  Zaun  auf  und 
davor  eine  Tür  von  einem  verlassenen  Bau.  Salve !  stand  darauf. 
Und  wenn  die  Familie  Sextl  sie  aufklinkte,  war  sie  in  ihrer  Woh- 
nung und  auf  ihrer  Erde. 

Breit  und  behaglich  liegt  das  Haus  in  der  Kaide.  Hier  hat 
die  Erde  geatmet  und  mit  dem  Haus  ein  Brüstlein  gebildet.  Auf 
dem  Dach,  über  das  noch  täglich  streuend  die  Haide  läuft,  liegt 
die  gleiche  Erde,  aus  der  sich  das  Häuslein  bescheiden  und  leise 
atmend  aufreckt.  Was  ist  dagegen  ein  sauber  geschlecktes  Stadt- 
haus mit  seiner  kalten  Eisenblechhaut,  die  ihm  eng  auf  dem  Kopf 
sitzt,  wie  ein  charakterloser  Steifhut  ohne  Rand.  Es  hat  keine 
Verwandtschaft  und  keine  Ehrlichkeit  gegenüber  dem  Boden,  auf  dem 
es  steht.  Mit  der  gleichen  erkältenden  Sauberkeit  schießt  es  als 
Hotel  aus  dem  Pyramidensand  wie  als  Wohnpalast  aus  dem  Seine- 
strand. Mutter  Erde  will  nichts  zu  tun  haben  mit  dieser  blitz- 
blanken Charakterlosigkeit  und  verkriecht  sich  auf  hundert  Meter 
im  Geviert  unter  das  harte  Pflaster. 

Es  gibt  nordische  Kulturmenschen,  die  sich  in  Neapel  nur 
über  Schmutz  entrüsten.  Sie  kommen  nach  Hause  und  resümieren 
auf  alle  Fragen:  „ich  sage  Ihnen,  einen  Schmutz  hat  es  in  dem 
Italien  .  .  ."  Sagte  ihnen  einer:  Schmutz,  von  der  Sonne  be- 
schienen, von  fröhlichen  Augen  gesehen,  sei  nichts  schlimmes  — 
sie  verstünden  ihn  nicht. 

Auf  einer  Studienreise  nach  Neapel  empfingen  uns  die  „pre- 
sidenti"  verschiedener  Korporationen  —  einer  hatte  lustige  Löcher 
in  den  weißbaumwollenen  Handschuhen  —  im  Palast  der  Handels- 
kammer. Mit  Rücksicht  auf  uns  Deutsche  hatten  sich  tags  zuvor 
durch  das  Haus  gewaltige  Wasserfluten  ergossen.  Seit  undenk- 
lichen Zeiten  war  das  nicht  mehr  geschehen.  Aber  ich  muss  auf 
die  Gefahr  eines  Missverständnisses  ehrlich  gestehen:  mir  hat  es 
vor  der  gewaltsamen  Reinigung  besser  gefallen. 

Was  haben  die  verwöhnten  W.  C.  Menschen  Rom  verlästert. 
Die  Straßen  seien  schmutzig.  Unerträglich  sei  der  Lärm  der  Ver- 

699 


käufer.  Ein  Skandal  die  farbigen  Fetzen  der  strolchenden  Buben. 
Heute  nun  ist  die  ewige  Stadt  modern  und  reinlich  geworden. 
Keine  Verkäufer  mehr  auf  den  Straßen.  Und  die  Jungens  haben 
Kragen  und  an  den  Beinen  Ofenröhren.  Und  der  Erfolg?  Betrübt 
steht  der  Romfreund  vor  dieser  Zivilisation.  Es  ist  sein  geliebtes 
Rom  nicht  mehr.  An  Menschen  muss  er  denken,  die  ihren  letzten 
Wert  wegwarfen,  als  man  ihnen  glücklich  die  „schlechten"  Quali- 
täten abgestreift  hatte. 

In  der  Hofkirche  zu  Insbruck  war  eine  neue  Putzfrau  einge- 
zogen. Missbilligend  sah  sie  die  Jahrhundertpatina  an  den  wunder- 
vollen Fürstenstatuen.  Dreck  ist  Dreck,  dachte  sie,  und  hatte  sie 
über  Nacht  blank  gescheuert. 

Solche  Putzfrauen,  männliche  und  weibliche,  gibt's  bis  in  die 
höchsten  Stände^).  Ich  erkenne  sie  an  der  anmaßlichen  Wichtig- 
keit, womit  sie  wie  hypnotisiert  auf  ein  armseliges  Stäubchen  auf 
meinem  Rocke  blinzeln   und  gehe  ihnen  aus  dem  Wege. 

Wenn  sie  englisch  können,  sagen  sie  mit  einem  heuchleri- 
schen Augenaufschlag  „Cleanliness  next  to  godliness"  und  be- 
haupten, die  Kultur  eines  Landes  ließe  sich  an  dem  Seifenverbrauch 
ermessen.  Wie  eng  muss  ihr  Kulturbegriff  sein.  Er  wird  sich 
und  sie  erschöpfen,  wenn  er  von  ihnen  verlangt,  dass  sie  sich 
zwölf-  bis  fünfzehnmal  täglich  die  Hände  waschen.  Sind  sie  nicht 
fortwährend  auf  der  Flucht  vor  einer  noch  so  dünnen,  ehrlichen 
Staubschicht  auf  ihren  Händen? 

Und  dann  sollen  sich  die  verbissenen  Reinlichkeitsapostel 
gesagt  sein  lassen,  dass  es  eine  absolute  Reinlichkeit  gar  nicht 
gibt.  Ein  Blick  mit  dem  Mikroskop  auf  die  „abgeschruppteste" 
Hautfläche  wird   ihnen   das  Relative  aller   Reinlichkeit  beweisen. 

Was  für  ein  Wahnsinn  der  sogenannten  Reinlichkeit  hat  die 
Damen  und  Herren  unserer  Gesellschaft  ergriffen,  die  so  reichlich 
Zeit  haben,  dass  sie  ein  Heer  von  Maniküren,  Pediküren  und, 
was  weiß  ich  noch,  in  Atem  und  Nahrung  setzen. 

Dann  und  wann  wird  diesen  Selbstgerechten  eine  blitzende 
Abfuhr. 


')  Sie  sitzen  massenhaft  in  Zürcher  Staats-  und  Kirchenbehörden,  in 
unsern  Zunftvorständen;  Beweis:  die  stolzen  Renovationen,  mit  denen  man 
die  Stadt  verschandelt.  a.  b. 

700 


Ein  Freund  besuchte  Rousseau.  Der  war  nicht  zu  Hause. 
Aber  ein  staubiges  Buch  lag  auf  dem  Tische.  „Cochon!"  schrieb 
der  Freund  in  den  Staub.  Andern  Tags  trafen  sie  sich.  „Ich 
habe  dich  gestern  zu  Hause  verfehlt,  lieber  Rousseau."  —  „Ja» 
ja,  weiß  schon,  du  hast  ja  deine  Visitenkarte  da  gelassen." 

Und  was  nicht  ist  diesen  Blankgeriebenen  schon  Schmutz? 
Auch  das  Natürlichste. 

In  einem  einsamen  Gasthause  vor  den  Toren  Genuas  fand 
einer  aus  diesem  Geschlecht  die  Retirade  nicht.  „Dove,"  sagte 
er  endlich  errötend  mit  Hilfe  des  Wörterbuches,  „dove  sono 
i  cessi?"  Die  freundlich-resolute  Wirtin  führte  ihn  vor  die  Türe 
und  erklärte  mit  einer  umfassenden  Handbewegung  gegen  das 
Flachland :  „Tutta  la  campagna,  Signore."  —  Jahrelang  hallte  die 
Entrüstung  darüber  in  den  Reden  dieses  Italienfahrers. 

Einmal  fuhr  ich  über  den  Brenner.  Zwei  lustige  deutsche 
Lehrerinnen  waren  im  Abteil  mit  mir.  Des  fröhlichen  Fragens 
war  kein  Ende,  fuhren  sie  doch  zum  erstenmale  nach  dem  Süden. 
Als  die  ersten  italienischen  Namen  kamen  —  wie  oft  fuhren  da 
die  neugierigen  Köpflein  durch's  Fenster. 

„Und  wo  sind  wir  jetzt?"  ging's  immerzu. 

Nun  sind  da  drunten  die  Stationsnamen  so  klein  und  be- 
scheiden, die  Aufschriften  vor  stillen  Örtlichkeiten  aber  leuchten 
mit  riesigen  Lettern.    Was  Wunder,  dass  da  die  andere  sagte: 

„In  Cessi  sind  wir  jetzt." 

Ich  sollte  auf  der  Landkarte  suchen  helfen.  Da  hielt  der 
Zug  wieder. 

„Aber  da  sind  wir  ja  schon  wieder  in  Cessi,"  riefen  sie  ver- 
wundert aus  und  —  begriffen.  Aber  anstatt  dass  wir  zu  dritt 
fröhlich  hätten  lachen  dürfen  über  das  Missverständnis,  drückten 
sie  sich  peinlich  beruht  in  die  Ecke  und  schwiegen  drei  Stunden 
lang  bis  Verona. 

Da  war  eine  berühmte  Wiener  Schauspielerin  aus  anderem 
Holz.  Die  kaiserliche  Gesellschaft  hatte  sie  zu  einer  Wagenfahrt 
durch  die  Wälder  eingeladen. 

„Lassen's  halten,  Majestät,"  sagte  sie,  „ich  komm'  gleich, 
wieder." 

Als  wiederkam  —  verlegenes  Schweigen. 

70i 


„Aber,  meine  Herren,"  brach  sie  den  Bann,  „ich  hab'  doch 
g'hört,  die  Naturalien  seien  keine  Schand'."  Naturalia  non  sunt 
turpia,  meinte  sie. 

Und  doch  ist  schon  manches  besser  geworden  auf  den  Grenz- 
gebieten zwischen  Natur  und  Ästhetik.  Heute  wäre  es  nicht  mehr 
möglich,  dass  der  Generaldirektor  einer  großen  Bahn,  wie  der 
französischen  Ostbahn,  auf  den  Antrag  in  der  Generalversammlung, 
W.  C.'s  in  die  Eisenbahnwagen  einzubauen,  entrüstet  erklärte: 

„Des  cochonneries  comme  ?a  dans  mes  Waggons  —  jamais!" 

Schön,  sagt  ihr,  das  wäre  die  Ästhetik,  wo  aber  bleibt  die 
Hygiene?  Hygiene,  ja,  ich  weiß  schon,  die  ungewaschensten 
Mäuler  wälzen  jetzt  anmaßlich  dies  Fremdwort.  So  spitz  und 
feindselig  sprechen  sie's  aus,  wie  ein  Oberlehrer,  wenn  er  von 
„Pflicht"  spricht. 

Unser  Fremdenführer  in  Pompeji  sagte  am  Morgen : 

„Trinken  Sie  kein  Wasser  hier,  meine  Herren,  es  ist  gesund- 
heitsschädlich."    Und  nachmittags: 

„Essen  Sie  um  Gotteswillen  keine  Früchte  hier,  ohne  dass 
Sie  sie  mit  Wasser  abgewaschen  haben." 

Sie  kennen  den  zarten  Flaum,  der  auf  Frühfrüchten  liegt? 
Nur  rohe  Menschen  waschen  ihn  weg. 

Seitdem  Pettenkofer  in  München  mit  seinem  Assistenten  ver- 
gnügt und  ungestraft  ein  Butterbrot  mit  einer  Reinkultur  von 
hunderttausend  Cholerabazillen  bestrich  und  zum  Frühstück  aß, 
habe  ich  ohne  Schaden  die  meisten  hygienischen  aufdringlichen 
Angstregeln  von  mir  fort  nach  Pompeji  gehen  heißen. 

Strömen  nicht  mit  jedem  Atemzug  Millionen  Bakterien  in 
unser  Inneres,  die  wir  vielleicht  nötig  haben  zum  Leben?  Die  Leute 
mit  der  epidemischen  Schmutz-  und  Bakterienfurcht  sollten  sich 
unter  eine  Glasglocke  stellen  lassen  von  Geburt  an  und  da  selig 
sterben. 

Als  kleiner  Junge  hatte  ich  am  Abend  eine  mühsame  Schön- 
schrift den  Eltern  vorgelegt  und  war,  ohne  das  sichere  Lob  ab- 
zuwarten, ins  Bettlein  geschlüpft.  Stolz  gab  ich  die  Arbeit  andern 
Tags  dem  Lehrer.  Der  entfaltete  das  Heft,  hob  es  hoch  und 
frug  die  Klasse:   „Was  hat  der  Müller  im  Schönschreibheft?"  — 

702 


„Einen  Schmutzflecken,  einen  großen,  einen  runden,"  riefen  die 
unbarmherzigen  Münchner  Kindel.  Erschrocken  sah  ich  in  meinem 
Heft,  dass  ein  großer  Tropfen  die  Schrift  verwischt  hatte  und 
rannte  nach  der  Schule  schwermütig  zu  den  Eltern.  Sie  hatten 
verweinte  Augen  gehabt  gestern,  fiel  mir  noch  ein. 
„Da,  da,  das  habt  Ihr  gemacht  gestern  Abend!" 

Was  das  nur  war?  Vater  und  Mutter  neigten  vor  dem 
Rechenschaft  fordernden  Söhnlein  den  Kopf,  blickten  sich  lange 
und  still  an  —  goldig  sah  ich's  im  Mutterauge  blinken  .  .  . 

Keine  schönere  Erinnerung  habe  ich  von  meinen  Eltern,  als 
diesen  großen,  runden  Schmutzflecken  In  meinem  Schönschreib- 
heft. Darum  allein  könnte  ich  dem  Schmutz  gut  sein.  Und  nun 
wollte  ich  Euch   noch  bitten,  Ihr  Allzureinlichen: 

Wie,  wenn  Ihr  dem  sogenannten  Schmutz  in  Zukunft  weniger 
gram  sein  wolltet? 

CANNERO  FRITZ  MÜLLER 

DDD 

KUNSTNACHRICHTEN 

OFFENER  BRIEF  AN  HERRN  HANS  FRIEDRICH  IN  MÜNCHEN 

Wenn  Sie  jetzt  nach  Zürich  kämen,  Herr  Doktor,  könnten  Sie  dort 
im  Kunsthaus  die  Bilder  eines  Sammlers  sehen,  der,  seit  es  eine  neue 
Schweizer  Kunst  gibt,  zusammengerafft  hat,  was  ihm  am  wertvollsten  schien, 
und  uns  nun  gestattet,  in  einem  Blick  zu  erfassen,  was  wir  im  Laufe  langer 
Jahre  haben  werden  sehen.  Ich  bin  überzeugt,  Sie  würden  gleich  die  gute 
Haltung  verlieren  über  den  vielen  Künstlern,  die  nicht  zeichnen  können,  die 
noch  faulere  Herren  sind  als  Hodler,  die  von  Perspektive  keine  Ahnung 
haben,  und  sie  würden  nicht  nur  die  Schweizer  Künstler,  sondern  die  ganze 
Bevölkerung  für  wahnsinnig  erklären,  dass  sie  einen  solchen  Unfug  duldet. 
Wenn  Sie  sich  dann  die  Hitze  weggeschimpft  hätten  —  ich  weiß  zwar  nicht, 
ob  Sie  das  mündlich  so  gut  können  wie  schriftlich  — ,  möchte  ich  Sie  gern 
am  Arm  nehmen  und  Sie  auf  ein  paar  Kleinigkeiten  aufmerksam  machen, 
wozu  mir  diese  Ausstellung  die  beste  Gelegenheit  böte. 

Ich  würde  Ihnen  zeigen,  dass  Hodler  vor  allem,  aber  auch  Giovanni 
Giacometti,  Amiet  und  die  andern  eine  Entwicklung  durchgemacht  haben, 
die  nie  stille  stand.  Sie  gehörten  nie  zu  den  Leuten,  die  jeden  Tag  auf 
der  Kurpromenade  auf  und  ab  gehen,  die  höchstens  die  Wege  aufsuchen, 
die  ihnen  Bädecker  beschreibt;  allezeit  durstig  nach  Neuland  drangen  sie 
in  Schluchten,  die  noch  keines  Menschen  Fuß  betrat,  strebten  sie  nach 
Gipfeln,  die  noch  keiner  bestieg.  Und  wenn  ein  Kurpromenademensch 
rief:  der  Weg  ist  falsch,  nirgends  steht  er  vorgezeichnet;  sie  blieben  unbe- 

703 


kümmert.  Und  wenn  mancher  fürchtete,  sie  könnten  sich  versteigen  oder 
fallen:  auf  einmal  standen  sie  oben  auf  sonniger  Höhe.  Dass  aber  diese 
Künstler  nie  ein  faustisch:  Verweile  doch,  Du  bist  so  schön,  sagten,  das 
bringt  sie  uns  menschlich  nahe  und  dürfte  jeden,  der  über  sie  schreiben 
will,  veranlassen,  sich  vorerst  ernsthaft  mit  ihnen  abzugeben. 

Wenn  Sie  das  getan  hätten,  Herr  Doktor,  müssten  Sie  wissen,  dass 
diese  Künstler  in  jungen  Jahren  auch  im  Sinn  der  Kurpromenademenschen 
gut  zeichnen  konnten;  Hodler  beweist  es  im  „Gebet",  Amiet  in  der  „Hoff- 
nung", Giacometti  im  „Segantini  auf  dem  Totenbette".  Und  wenn  sie  das 
heute  nicht  mehr  tun,  so  müssen  Sie,  wenn  Sie  gerecht  sein  wollen,  neben 
der  Möglichkeit,  dass  trottelhafte  Kritiker  und  Käufer  betrogen  werden 
sollen,  die  andere  Möglichkeit  gelten  lassen,  dass  das  Streben  nach  neuen 
Harmonien,  Rhythmen  und  andern  Ausdrucksmitteln  die  Veranlassung  sein 
konnte,  auf  die  Mittel  zu  billigen  Erfolgen  zu  verzichten.  Und  hier  glaube 
ich  den  Punkt  gekommen,  wo  wir  uns  sehr  schwer  verständigen  werden. 
Ich  muss  Sie  bitten,  anzunehmen,  dass  ich  zu  dem  Schlüsse  gekommen 
sei,  Ihre  Einsichten  in  das  Wesen  des  Kunstwerks  seien  äußerst  gering. 
Sonst  wäre  es  ja  gar  nicht  möglich,  dass  Sie  die  bemalten  Leinwandstücke 
von  Joseph  Clemens  Kaufmann  für  Bilder,  für  Kunstwerke  erklärten,  die 
doch  nur  schlechte  Surrogate  für  farbige  Photographien  sind.  Farbige  und 
lineare  Komposition,  Vereinfachung  und  Vereinheitlichung  der  Form  um 
Bildhaftigkeit  und  Ausdruck  zu  steigern,  gleichmäßige  Durchführung  einer 
persönlichen  Technik,  alles,  alles,  was  einem  Kunstwerk  Reichtum  an  Ideen 
und  Kraft  an  Gefühlen  gibt,  fehlt  den  Malereien  Kaufmanns  ganz  und  gar. 
Durch  ihre  Unpersönlichkeit  und  Problemlosigkeit  kennzeichnen  sie  sich 
als  Dilettantenwerk,  und  nur  ein  Dilettant  kann  diesen  werktätigen  Hass 
gegen  alle  Künstler,  die  etwas  leisten,  aufbringen.  Von  allen  guten  Malern 
der  Vergangenheit  ist  er  ebenso  weit  entfernt  wie  von  Hodler;  das  kann 
niemand  entgehen,  der  sich  je  ernsthaft  mit  Fragen  der  Kunst  befasst  hat. 
Und  darum  ist  es  auch  ganz  überflüßig,  Herr  Doktor,  wenn  Sie  am  Ende 
Ihres  Schriftchens  betonen,  dass  Sie  aufgehört  haben,  die  neuere  französi- 
sche Kunst  noch  ernst  zu  nehmen;  Sie  haben  durch  ihre  Stellung  zu  Kauf- 
mann Ihren  Mangel  an  Einsicht  genügend  bewiesen. 

Vielleicht  wäre  es  für  Ihre  Erziehung  vorteilhaft,  wenn  Sie  Verstand 
und  Einfühlungsvermögen  an  Künstlern  betätigen  würden,  die  dem  verbil- 
deten Laien  noch  ferner  stehen  als  Hodler;  ich  denke  hier  nicht  einmal  an 
die  Kubisten,  sondern  an  Leute,  die  alles  aus  der  Arabeske  aufbauen,  wie 
Huber,  Kündig  und  andere.  Auf  dem  Rückweg  könnten  Ihnen  dann  sehr 
lehrreiche  Dinge  begegnen. 

So  sehr  es  die  Pflicht  des  Kritikers  ist,  den  Kurpromenadenmenschen, 
die  Künstlertum  vortäuschen  wollen,  ihre  Glorie  zu  entreißen,  so  sehr  ist 
es  seine  Pflicht,  den  Forschern  zu  folgen,  ihre  Anstrengung  nachzufühlen. 
Das  Alte  beloben,  das  Neue  beschimpfen  und  beides  nicht  verstehen,  das 
kann  der  Philister  auch.  Und  wenn  Sie  auch  Verse  machen,  Herr  Doktor, 
die  Unmöglichkeit,  sich  in  das  Gefühlsmäßige  der  Malerei  einzufühlen», 
macht  Sie  hier  zum  vollkommenen  Philister. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 


Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

704 


VEREINTE  KRÄFTE 

Mit  dem  letzten  Hefte  unseres  sechsten  Jahrgangs  bringen 
wir  unseren  Freunden  eine  glückh'che  Nachricht. 

Als  im  Jahre  1907  der  Verein  Wissen  und  Leben  gegründet 
wurde,  gab  es  bereits  in  Bern  eine  gute  Zeitschrift,  die  Berner 
Rundschau,  an  die  wir  uns  gern  direkt  angeschlossen  hätten. 
Unser  Programm  war  jedoch  auf  ganz  bestimmten  Grundsätzen 
aufgebaut,  betonte  in  erster  Linie  die  schweizerische  Politik, 
soziale  Fragen,  philosophische  Probleme,  in  einem  Worte  die 
Verbindung  von  Wissen  und  Leben,  während  die  Berner  Rund- 
schau sich  fast  ausschließlich  mit  Dichtung  und  Kunst  beschäftigte. 
So  mussten  wir  ein  neues  Organ  schaffen ;  nur  ungern,  da  wir  ja 
nach  dem  Zusammenschluss  der  geistigen  Kräfte  in  der  Schweiz 
strebten. 

Unser  Land  ist  so  klein  (und  dazu  noch  in  vier  Sprachgebiete 
geteilt),  dass  mehrere  Zeitschriften  nebeneinander  sich  stets  ge- 
fährden und  schaden  müssen;  immer  werden  sie  mehr  einzelnen 
Landesteilen  als  der  ganzen  Schweiz  dienen.  Und  dabei  gewinnen 
nur  die  ausländischen  Zeitschriften,  die  bei  ihrem  großen  Absatz- 
gebiet leicht  noch  die  kleine  Schweiz  mitnehmen;  sie  ziehen 
unsere  besten  Schriftsteller  zu  sich  herüber,  kümmern  sich  jedoch 


705 


herzlich  wenig  um  schweizerische  Fragen,  wenn  sie  ihnen  nicht 
als  Mittel  zur  Reklame  dienen.  So  wird  allmählig  der  Gedanken- 
umsatz in  unserm  Lande  geschwächt  und  manche  Kraft  unserem 
nationalen  Leben  entfremdet.  In  der  berüchtigten  Fremdenfrage 
gründet  nichts  so  tief  wie  diese  Tatsache,  wird  sie  auch  am 
allerwenigsten  erkannt.  Man  verwahrt  sich  bloß  mit  Worten  gegen 
die  Fremden  und  meistens  nur  auf  wirtschaftlichem  Gebiete,  und 
man  sieht  nicht  ein,  dass  wir  auf  geistigem  Gebiete  mit  vereinter 
Tatkraft  vorgehen  müssen.  Weil  diese  höhere  Einsicht  und  diese 
geistige  Einheit  fehlen,  lässt  sich  auch  der  Einzelne  so  leicht  vom 
Auslande  anlocken.  Ich  möchte  nächstens  unsern  Lesern  einige 
Erfahrungen  mitteilen,  die  ich  während  der  sechs  Jahre  unseres 
Bestehens  in  dieser  Hinsicht  gemacht  habe. 

Mit  der  Berner  Rundschau  (seit  1910  Die  Alpen)  in  Wett- 
streit zu  treten  war  mir  um  so  peinlicher,  als  deren  Gründer, 
Herr  F.  O.  Schmid,  und  viele  Berner  Freunde  die  oben  ausge- 
sprochenen Überzeugungen  und  Befürchtungen  mit  mir  teilten. 

Nun  ist  Herr  F.  O.  Schmid  wegen  starker  anderweitiger  In- 
anspruchnahme zum  Entschlüsse  gekommen,  seine  Zeitschrift 
aufzugeben.  Statt  sie  einfach  eingehen  zu  lassen,  schlug  er  mir 
vor,  sie  in  irgend  einer  Weise  mit  Wissen  und  Leben  zu  ver- 
einigen. Ich  bin  ihm  für  die  offene  Aussprache  und  für  sein 
echt  schweizerisches  Entgegenkommen  von  Herzen  dankbar.  Eben- 
so sind  die  Unterhandlungen  mit  dem  derzeitigen  Redaktor  der 
Alpen,  Herrn  Dr.  Bloesch,  und  mit  deren  Verleger,  Herrn  Dr. 
Grünau  in  freundschaftlicher  Weise  sehr  rasch  zu  einem  guten 
Ende  geführt  worden.  Es  war  eine  Freude,  sich  mit  gleichge- 
sinnten  Landsleuten  zu  einem  gleichen  Ziel  zu  vereinigen. 

Vom  ersten  Oktober  an  tritt  also  Wissen  und  Leben  in  eine 
neue  Periode  seines  Lebens  ein.  Herr  Rascher  in  Zürich  und 
Herr  Dr.  Grünau  in  Bern  teilen  sich  nach  besonderen  Ab- 
machungen  in   den  Verlag;    Herr  Dr.  Hans  Bloesch  tritt  in  die 

706 


Redaktion  ein,  deren  Leiter  Herr  Dr.  Albert  Baur  bleibt.  Herr 
F.  O.  Schmid  wird  sich,  so  bald  er  wieder  etwas  freie  Zeit  hat, 
als  Mitarbeiter  beteiligen;  und  da  wir  unseren  jetzigen  Geschäfts- 
ausschuss  zu  einem  Vorstand  zu  erweitern  haben  ^),  werden  Herr 
F.  O.  Schmid  und  einige  Berner  Freunde  hoffentlich  auch  im 
Vorstande  unserer  Sache  ihre  Kräfte  widmen.  Nächstens  soll 
auch  eine  Berner  Gruppe  von  Wissen  und  Leben  entstehen,  so 
dass  wir  in  unserem  nationalen  Programm  um  einen  tüchtigen 
Schritt  vorwärts  kommen. 

Der  Charakter  unserer  Zeitschrift  bleibt  der  selbe ;  wir  werden 
uns  jedoch  bestreben,  unsere  Mitteilungen  über  Schrifttum,  Bücher, 
Theater  und  Musik  planmäßig  weiter  auszubauen.  Mit  jeder 
Besserung  unserer  Finanzen  wird  auch  eine  Bereicherung  der 
Zeitschrift  eintreten. 

Bei  Beginn  des  siebenten  Jahrganges  bitten  wir  unsere  Leser, 
für  die  vereinigte  Zeitschrift  neue  Freunde  und  Anhänger  zu 
werben.  ' 

Dem  Herausgeber,  dem  Redaktor  und  dem  Verleger  der 
Alpen  danke  ich  nochmals  von  Herzen.  Wo  Bern  und  Zürich 
mit  vereinten  Kräften  arbeiten,  werden  andere  mithelfen,  und  dann 
kann  der  Sieg  nicht  ausbleiben.  Wir  müssen  in  der  Schweiz  zur 
Einsicht  kommen,  dass  die  größte  Gefahr  für  uns  nicht  etwa  in 
der  „bösen  Absicht"  eines  Nachbarn  liegt,  sondern  einzig  und 
allein  in  unserer  eigenen  Zersplitterung.  „Kantönligeist"  heißt  der 
Todfeind  unserer  nationalen  Entwicklung;  nur  im  Streben  nach 
immer  stärker  geschlossener  Kraft  des  ganzen  Landes  kann  unser 
Heil  liegen. 

LAUSANNE  E.  BOVET 

ODD 


1)  §  6  der  Statuten :  Der  Vorstand  besteht  aus  ...  14  bis  20  Mit- 
gliedern, welche  möglichst  aus  den  verschiedenen  Landesgegenden  der 
Schweiz  zu  wählen  sind. 

707 


/'? 


DAS  EINE  UND  DAS  ANDERE  ICH 

NOVELLE  VON  HEINRICH  ADOLF  GRIMM 

Doktor  Hans  Christoph  Sterngassen,  der  nach  größeren 
Studienreisen  in  die  Stadt  seiner  Väter,  die  Generationen  hindurch 
immer  das  Amt  eines  Richters  innehatten,  zurückkehrte,  war  in 
den  Augen  seiner  Mitbürger  eine  eigenartige  Persönlichkeit.  In 
den  ersten  Jahren  hatte  man  ihn  seiner  Schrullen  wegen  verlacht; 
dann  hieß  es,  er  habe  sich  durch  religionsphilosophische  For- 
schungen einen  Namen  erworben,  und  in  der  Folge  begegnete 
man  ihm  mit  einer  scheuen  Zuvorkommenheit.  Leute,  die  ihn 
besuchten,  erzählten  geheimnisvoll  in  ihrer  Gesellschaft  vori  einer 
schrecklich  aussehenden,  großen  Gestalt,  die  in  seinem  Arbeits- 
zimmer zwischen  den  Büchergestellen  stehe.  Das  Dunkel,  das 
so  sein  Tun  und  Treiben  mit  einem  dichten  Schleier  umgab, 
schwand  nie,  und  wie  sein  Leben  war  auch  sein  Ende.  Am  Morgen 
eines  Februartages  fand  man  ihn  tot  auf  dem  Teppich  seines 
Arbeitszimmers  liegen ;  eines  jener  alten,  breiten  indischen  Messer, 
wie  sie  die  Brahmanen  trugen,  stak  in  seiner  Brust;  seine  Augen 
waren  offen  und  hatten  einen  seltsamen  Glanz;  seine  Blicke 
träumten.  Der  Polizeikommissar  und  der  Gerichtsarzt  stellten  fest, 
dass  ein  Selbstmord  nicht  vorlag.  Doktor  Hans  Christoph  Stern- 
gassen war  also  ermordet  worden;  ein  verdächtiges  Individuum 
wurde  verhaftet,  musste  aber,  da  es  sein  Alibi  nachwies,  frei- 
gelassen werden.  Die  Polizei  forschte  weiter,  doch  vergebens. 
In  der  Stadt  legte  sich  allmählich  die  Aufregung  und  sein  Tod 
ward  vergessen.  Ein  Vetter  ward  der  Erbe  des  Hauses  und  der 
reichhaltigen  Bibliothek,  die  er  — -  da  er  im  Ausland  weilte  — 
verwalten  ließ.  Erst  drei  Jahre  nach  dem  Tode  des  Dr.  Stern- 
gassen kehrte  er  nach  Deutschland  zurück  und  begann  Nach- 
forschungen über  dessen  Todesumstände  anzustellen.  An  Hand 
des  Tagebuches  und  mehrerer  Zettel  erlangte  er  sichere  Gewiss- 
heit über  das  am  18.  Februar  189..  erfolgte  Ende.  Man  las  da 
im  Tagebuch  von  Dr.  Sterngassens  Hand  eingetragen: 

„20.  Januar,  nachmittags.  Ich  fühle  mich  beobachtet,  ich 
werde  unsicher  und  kann  an  meinem  Werk  über  Meister  Ekhart 
nicht  weiter  arbeiten.  —  Ich  schreibe;  plötzlich  fühle  ich,  dass 
jemand  auf  mich  sieht;   niemand  ist  im  Zimmer.     Ich  spiele  mit 

708 


dem  Messer,  die  feine  Ziselierung  erfreut  mich,  mit  dem  An- 
brechen der  Dämmerung  werde  ich  ruhiger;  abends  lese  ich  — 
zum  ersten  Male  wieder  nach  langer  Zeit  —  in  Goethes  Wahl- 
verwandtschaften. Warum  weiß  ich  nicht,  das  Buch  fiel  mir  ge- 
rade in  die  Hände." 

„26.  Januar,  morgens.  Gewißheit  ist  besser  als  alle  Qual. 
Ich  weiß  nun,  dass  ich  ständig  beobachtet  werde,  mein  Gefühl 
hat  mich  nicht  betrogen.  Ja,  ich  weiß  noch  mehr;  ich  kenne  die 
Handschrift  des  Mannes  und  muss  sie  schon  einmal  vor  langer 
Zeit  gesehen  haben,  vor  vielen  Jahren  habe  ich  vielleicht  mit  ihm 
selbst  Karten  gespielt  und  roten  Wein  getrunken ;  es  muss  in 
Italien  gewesen  sein.  Doch  warum  er  das  alles  tut,  wer  weiß.  — 
Dass  er  mich  die  ganze  Nacht  beobachtete,  das  beweist  der  Zet- 
tel, der  auf  meinem  Schreibtisch  lag.  Auf  einen  Bogen  meines 
eignen  Briefpapiers  hat  er  geschrieben,  in  Zukunft  steht  meine 
Briefkassette  unter  Schloß  und  Riegel." 

Hinten  im  Tagebuch  lagen  drei  gleiche  Briefbogen,  jeder  mit 
einigen  Zeilen  einer  steilen,  verschnörkelten  Handschrift  bedeckt. 
Auf  dem  ersten  Bogen  stand: 

„Ich  bin  immer  bei  dir,  sei  es  Tag  oder  Nacht.  Es  gibt 
kein  Ich;  denn  das  Ich,  das  eben  war,  ist  in  der  nächsten  Sekunde 
ein  anderes.  Es  gibt  Personen,  Summen  ihrer  eignen  Ichs;  ich 
bin  ein  Teil  der  Summe  deiner  eigenen  Ichs,  das  andere.  Und 
das  Andere  ist  immer  bei  dem  Einen  .  .  ." 

Im  Tagebuch  stand  weiter: 

„10.  Februar.  Draußen  regt  sich  schon  etwas  wie  Vorfrüh- 
ling. Ich  werde  abreisen,  wenn  ich  weiß,  wer  mein  Beobachter 
ist.  Ich  lasse  schon  packen,  in  einigen  Tagen  wird  das  Geheim- 
nis gelöst  sein." 

"14.  Februar.  Ich  hatte  meine  Briefkassette  verschlossen,  die 
Schranktür  versiegelt  und  das  Siegel  auf  meinen  Nachttisch  ge- 
legt; heute  Morgen  liegt  wieder  einer  meiner  Briefbogen  auf  dem 
Schreibtisch,  das  Siegel  aber  ist  unverletzt.  —  Es  ist  ein  gräss- 
liches  Wort:  Das  Andere  ist  immer  bei  dem  Einen.  Es  ist  das 
beste  für  den  Menschen  zu  sterben,  wenn  er  kein  Geheimnis  mehr 
haben  kann.  Dass  diese  andere  Person  weiß,  was  ich  tue,  was 
und  wann  ich  arbeite  den  ganzen  Tag  über,  das  läßt  alles  Wollen 
schwinden;   und   wenn   ich    nichts   weiter   bin    als    ein    Tropfen 

709 


Wasser,  dann  mögen  sie  mich  doch  recht  bald  zu  dem  großen 
Sterne  schlagen.  Schrecklich  ist  es,  zu  wissen,  der  Andere  weiß 
alles,  was  du  tust.  Ob  es  ein  Leben  ohne  Wissen  geben  kann? 
Ich  fürchte,  nein." 

Auf  dem  zweiten  Briefbogen,  der  hinten  im  Tagebuch  lag, 
war  zu  lesen: 

„Ich  schreite  mit  dir  durch  die  Zeit  und  sehe,  was  du  tust, 
und  mache  dich  auf  das  aufmerksam,  was  du  zu  tun  unterlässt. 
Gib  den  Rosen  im  Kelch  frisches  Wasser!  Vergiß  nicht  vor  dem, 
der  Liebe  und  Hass  in  sich  eint,  zu  beten  1  Ich  bin  immer  bei  dir.* 

Auf  dem  dritten  Bogen  las  man: 

„Du  kamst  heute  Nacht  spät  nach  Hause;  durch  deinen 
Lärm  ist  dein  Gärtner  erwacht.  Gönne  den  Leuten,  die  sich  tags- 
über für  dich  plagen,  nächtens  den  Schlaf.  Ich  bin  immer  bei  dir.** 

Die  Tagebucheintragung  lautete  am  17.  Februar,  vormittags: 

„Meine  Briefbogen  sind  abgezählt;  ich  werde  heute  Nacht, 
auf  den,  der  immer  kommt,  warten;  es  ist  notwendig,  auch  bringt 
es  ein  gewisser  Anstand  mit  sich,  sich  einmal  persönlich  vorzustellen. 
Unser  Verkehr  muss  früher  oder  später  wohl  enger  werden." 

Und  am  17.  Februar,  nachmittags: 

"Ich  habe  hohes  Fieber,  meine  Sinne  zittern  vor  Erwartung, 
ein  Strahl  von  milden  Licht  der  Schreibtischlampe  spielt  auf  dem 
feinen  Stahl  des  Messers;  ich  weiß,  dass  ich  ihn  heute  lebendig 
oder  tot  in  meinen  Armen  halte.  Mir  ist  alles  eins.  —  Meine 
Koffer  sind  gepackt,  und  ich  bin  reisefertig.  Die  Nachtluft  weht 
frisch.  Ich  glaube,  es  ist  gibt  gut  Wetter  zur  Fahrt!" 

Dies  war  die  letzte  Eintragung.  Die  Tagebücher  waren  un- 
versehrt geblieben,  sie  hatten  in  dem  kleinen  chinesischen  Holz- 
schranke, der  zu  des  Buddha  Füßen  stand,  geruht.  Mit  Hilfe  der 
Daktyloskopie  stellte  man  fest,  dass  die  drei  mit  den  fremdartigen 
Schriftzügen  bedeckten  Briefbogen  nur  ein  und  dieselbe  Art 
Fingerabdrücke  trugen,  —  die  des  Doktor  Sterngassen.  In  irgend- 
einer Upanishade  der  Veda  stand  der  von  Doktor  Hans  Christoph 
Sterngassens  Hand  mit  Bleistift  unterstrichene  Satz:  Das  Ich  hat 
viele  der  Wandlungen,  vor  allem  aber  sieben  große.  Das  eine 
Ich  muss  das  andere  Ich  töten.  Wenn  das  letzte  Ich  in  sich 
selbst  erlischt,  dann  ist  Wunschlosigkeit. 

DDD 

710 


WÜNSCHE  UND   RICHTLINIEN  FÜR 
DAS  SCHWEIZ.  BIBLIOTHEKWESEN 

(Schluss) 

Für  den  Verkehr  mit  dem  Publikum  wird  es  immer  wichtiger, 
große  Sorgfalt  auf  die  Ausgestaltung  der  Handbibliothek  zu  ver- 
wenden. Das  mancherorts  noch  wenig  vollständige  bibliogra- 
phische Hilfsmaterial  soll  in  größtmöglicher  Vollständigkeit  dem 
ständigen  Gebrauche  dienstbar  gemacht  werden.  Es  wird  die 
Pflicht  des  wissenschaftlichen  Aufsehers  des  Lesesaales  sein,  das 
Publikum,  besonders  Studierende,  mit  der  Benutzung  dieser  Bücher 
vertraut  zu  machen.  Mehrjährige  Beobachtung  hat  mir  gezeigt, 
wie  unselbständig  und  unaufgeklärt  im  allgemeinen  die  Hoch- 
schulstudenten die  Bibliothek  benutzen;  ein  Mangel  an  Orien- 
tierung durch  die  Lehrer  kann  hier  nicht  außer  Frage  gestellt 
werden.  Statt  gleich  im  ersten  Semester  dem  angehenden  Juristen 
einige  Stunden  Quellenkunde  und  bibliographische  Einführung  in 
die  grundlegenden  Handbücher  und  Hilfswerke  zu  geben,  lernt 
er  sie  meistens  nur  durch  Zufall  kennen,  wenn  er  sich  bereits 
mit  der  Dissertation  beschäftigt.  —  Der  Fehler  liegt  also  im  Studien- 
gang, der  von  einer  Aufklärung  in  dieser  Hinsicht  absieht.  Warum 
sollte  also  auch  da  nicht  der  Aufseher  im  Lesesaal  jungen  Leuten 
die  nötigen  Winke  für  eine  praktische  Arbeit  erteilen? 

Manche  Auskünfte  ließen  sich  zweifelsohne  bei  Gelegenheit 
von  bestimmten  Kontrollen  leicht  erteilen,  Spezialisten  besonders 
könnten  sich  bei  solchen  Anlässen  bequem  orientieren.  Es  wäre 
nicht  mehr  nötig  wie  heute,  dass  oft  für  eine  Dilettantenanfrage 
Stunden  und  Tage  aufgewendet  werden  müssten,  während  diese 
Fragen  miteinander  von  Zeit  zu  Zeit  bequem  erledigt  werden 
könnten.  Neben  dem  bisherigen  fast  unerlässlichen  Faktotum 
gehört  auf  jede  große  Bibliothek  eine  Buchbinderei,  die  in  erster 
Linie  Flickarbeit  besorgt,  und  ein  photographisches  Atelier,  für 
dessen  Unterhalt  die  wissenschaftlichen  Anstalten  einer  Stadt  ge- 
samthaft aufkommen  müssen.  Die  sehr  teuren  Aufnahmepreise, 
wie  sie  vom  schweizerischen  Photographenverein  festgesetzt  wurden, 
halten  unsere  Institute  von  mancher  nützlichen  Arbeit  auf  diesem 

711 


Gebiete  ab.    Vergleichsstudien,  Handschriftenstudium   und  Kunst- 
geschichte erhielten  damit  eine  mächtige  Förderung. 

Nicht  auf  die  Bedienung  des  Publikums,  wohl  aber  in  den 
Bereich  des  Verkehrs  mit  dem  Publikum  fällt  die  Sammeltätigkeit 
der  Bibliothek.  Diese  soll  sich  keine  Gelegenheit  entgehen  lassen 
bei  ihrer  „Kundschaft"  zu  werben;  gerade  bei  uns,  wo  das  Interesse 
für  die  Büchereien  gering  ist,  hat  die  Gunst  hilfsbereiter  Gönner 
große  Bedeutung.  Durch  kurze  Berichte  und  Gesuche  in  den 
Tageszeitungen  werden  viele  Bücherbesitzer  aufmerksam  gemacht, 
wie  oft  eine  kleine  an  sich  wertlose  Gabe  für  die  Bibliothek  die 
gesuchte  Ergänzung  einer  lückenhaften  Serie  und  dergleichen 
bedeutet.  Wir  erwähnen  hier  einzig  die  unzähligen  Jahresberichte 
einer  Stadt,  die  nur  selten  vollständig  auf  unsern  Bibliotheken 
erhältlich  sind.  Ob  Stadtbildersammlungen  auf  ein  Archiv,  Museum 
oder  eine  Bibliothek  gehören,  lassen  wir  dahin  gestellt;  jedenfalls 
soll  an  einer  dieser  Stellen  die  Sammlung  gründlich  und  syste- 
matisch betrieben  werden.  Hochschulbibliotheken  sollten  vertrag- 
lich das  Recht  haben,  von  der  Professorenschaft  während  ihrer 
Tätigkeit  an  der  zugehörigen  Universität  Arbeiten,  die  einen  Kauf- 
wert von  zwanzig  Franken  nicht  überschreiten,  als  Pflichtexemplare 
einfordern  zu  dürfen.  Wünschenswert  wäre  auch  die  Stellung 
eines  Pflichtexemplares  solcher  Bücher  und  Brochüren,  die  im 
betreffenden  Kanton  über  den  Kanton  erschienen  oder  von  Kan- 
tonsangehörigen verfasst  worden  sind.  Wir  sind  überzeugt,  dass 
Buchdrucker  und  Verleger  sich  dafür  entgegenkommend  zeigen 
würden,  besonders  wenn  solche  von  der  Bibliothek  als  Gegen- 
leistung in  der  Tagespresse  rezensiert  würden.  Als  einen  Mangel 
in  mancher  Bibliothek  empfinde  ich  es,  wenn  Veröffentlichungen 
über  die  Bibliothek  und  deren  Inhalt  an  zunächstliegender  Stelle 
fehlen.  Es  ist  bei  uns  eine  häufige  Erscheinung,  dass  wir  infolge 
Mangels  an  Kontrolle  keine  befriedigende  Auskunft  über  die  Be- 
nutzungen von  Handschriften  zu  geben  vermögen.  Ein  „ziel- 
bewusstes  Betteln"  lässt  sich  bei  unseren  geringen  Kaufmitteln 
oft  nicht  vermeiden;  es  steht  aber  auch  nicht  unter  der  Würde 
des  für  sein  Institut  wirklich  besorgten  Bibliothekars.  Wir  möchten 
hier  noch  lobend  die  große  Hilfsbereitschaft  gewisser  Zürcher-, 
Basler-,  Genfer-  und  Neuenburgerkreise  erwähnen,  die  bei  wieder- 

712 


holten  Gelegenheiten  ihren  Bibliotheken  bedeutende  Summen  zur 
Verfügung  gestellt  haben. 

Außer  der  Sammeltätigkeit  kommt  auch  der  Doabletienabstoß 
oft  zur  Sprache.  Es  empfiehlt  sich  nicht,  wie  es  vielerorts  zu 
geschehen  pflegt,  diese  aufzubewahren,  um  passende  Gelegenheiten 
abzuwarten.  Periodische,  vielleicht  monatliche  Auktionen,  bei 
denen  das  gesamte  Material  unter  den  Hammer  kommt,  haben 
sich  mancherorts  bewährt.  Ein  Inserat  in  der  Presse  des  Ortes 
empfiehlt  sich  sehr  dafür.  Die  niedrigst  angeschriebenen  Preise  finden 
gewöhnlich  immer  ihre  Liebhaber,  was  übrig  bleibt,  soll  dem 
Antiquar  abgetreten  oder,  sofern  es  Interesse  genug  hat,  den 
kleineren  Landbibliotheken  angeboten  werden. 

Über  den  bisherigen  Verkehr  der  Bibliotheken  unter  sich  lässt 
sich  nur  sagen,  daß  er  vorderhand  durchaus  ungenügend  ge- 
blieben ist.  Jede  Bibliothek  arbeitete  bisher  nach  eigenem  Gut- 
dünken fast  ohne  alle  Rücksicht  auf  den  Nachbarn ;  erst  die 
schlimmen  Folgen  der  neueren  Zeit  zwingen  uns,  nach  einer  Ab- 
hilfe Umschau  zu  halten.  Geldmangel  und  ungenügende  Zufrieden- 
stellung der  Leser  nennt  man  gerne  als  Ursachen,  während  es  in 
Wirklichkeit  ein  Mangel  an  zeitgenössischer  Organisation  und 
rationeller  Arbeitsverteilung  ist. 

Die  weitere  Ausgestaltung  der  Spezialisierung  der  verschier 
denen  Wissenschaften  in  den  einzelnen  Bibliotheken  wird  ebenfalls 
auf  die  Traktandenliste  des  allgemeinen  Bibliothekverkehrs  kom- 
men. Jede  größere  Bibliothek  wird  ein  ihr  am  nächsten  liegendes 
Gebiet  besonders  sorgfältig  ausbauen  und  so  die  anderen  Schwester- 
institute einer  eingehenden  Pflege  dieses  Zweiges  entheben.  Basel 
würde  zum  Beispiel  mit  einer  reichen  Abteilung  über  frühe 
Graphik  ausgestattet,  Freiburg  erhielte  als  besondere  Spezialität 
katholische  Theologie  usw.  Kurz,  wir  sollten  es  dazu  bringen, 
dass  nach  Ablauf  eines  Dezenniums  ungefähr  in  allen  größeren 
Bibliotheken  die  Spezialfächer  bereits  derart  erstarkt  wären,  dass 
jeder  schweizerische  Bibliothekar  für  die  selteneren  Neuerschei- 
nungen auf  den  betreffenden  Gebieten  sich  direkt  an  das  offiziell 
dafür  bestimmte  Sammelinstitut  zu  wenden  hätte. 

Eine  interkantonale  Vereinbarung  für  das  Redaktionsschema 
der  Jahresberichte  würde  spätere  Arbeiten  über  bibliothekwissen- 

713 


schaftliche  Materien  wesenth'ch  erleichtern,  ohne  dass  dabei  den 
Bibliotheken  besondere  Mühen  erwachsen  würden. 

Zu  den  Fragen  des  gegenseitigen  Leiheverkehrs  gehört  das 
Postulat  der  größtmöglichen  Portofreiheit  und  Portoerleichterung. 
Das  angestrebte  Ziel  kann  nur  durch  eine  gemeinsame  Aktion 
erreicht  werden.  Wir  werden  es  uns  angelegen  sein  lassen 
müssen,  Vergünstigungen  nicht  nur  für  die  Schweiz  allein  anzu- 
streben; unsere  Institute  werden  auch  die  Frage  der  Transport- 
vereinfachung mit  Deutschland  eingehend  prüfen  müssen.  Mit 
Hilfe  einer  kaufmännisch  gut  organisierten  Spedition  dürfte  gewiss 
die  Verzögerung  auf  ein  Minimum  beschränkt  werden,  voraus- 
gesetzt, dass  wir  in  der  Schweiz  die  Portofreiheit  für  zwei  Kiio- 
pakete  erlangen  können. 

Über  den  Austausch  von  Doubletten,  über  die  gegenseitige 
Anzeige  von  besonders  günstigen  Gelegenheitsofferten,  über  den 
Ankauf  besonders  wichtiger  und  kostbarer  Werke  sollte  ein  viel 
geregelterer  Nachrichtendienst  bestehen.  Es  darf  nicht  mehr  wie  heute 
vorkommen,  dass  mehrere  Bibliotheken  für  bedeutende  Summen 
die  nämlichen  Werke  kaufen,  wenn  es  sich  nicht  um  allgemein 
begehrte  Texte  handelt,  dass  Auktionen  veranstaltet  werden,  ohne 
dass  alle  Bibliotheken  eingeladen  werden  usw.  Teure  Spezialwerke 
müssen  nach  gemeinsamer  Listenbereinigung  durch  die  mit  dem 
jeweiligen  Ankauf  betrauten  Bibliothek  angeschafft  werden.  Damit 
werden  wir  mit  der  Zeit  berechtigte  Aussicht  besitzen,  wenigstens 
die  wichtigsten  großen  und  teuren  Spezialwerke  im  Inland  beziehen 
zu  können. 

In  den  meisten  Fällen  fehlen  auch  Zeit  und  Mittel,  die  Lei- 
tung oder  tüchtige  Angestellte  zum  eingehenden  Studium  gele- 
gentlich auf  Reisen  zu  senden.  Wir  vertreten  die  Ansicht,  dass 
nicht  teuer  reisende  Kommissionen  hier  mit  der  Aufgabe  betraut 
werden  müssen,  sondern  dass  die  Bibliotheken  viel  lieber  ihren 
tüchtigsten  Vertreter  mit  solchen  Aufgaben  beehren  sollten.  Das 
ausgelegte  Geld  wird  in  diesem  Falle  der  Anstalt  reichlich  wieder 
zugute  kommen.  Ebenso  ist  es  wünschenswert,  dass  die  Leitung 
wie  Bibliothekare  Gelegenheit  erhielten,  mehr  in  Kontakt  mit  aus- 
wärtigen Berufsgenossen  zu  kommen.  Jedenfalls  entstehen  mehr 
nützliche  Anregungen  durch  persönlichen  Verkehr  und  persön- 
lichen Augenschein  als  durch  bloßes  Bücherstudium.    Sich  aus 

714 


Gründen  der  Ersparnis  zurückzuziehen  zeugt  von  einer  beschränkten 
Auffassung.  So  freute  es  mich  zu  sehen,  dass  nach  persönh'ch 
gemachten  Erkundigungen  sämtliche  größeren  schweizerischen 
Bibh'otheken  mit  Ausnahme  der  Universitätsbibliotheken  Bern  und 
Lausanne  ihre  offiziellen  oder  entschädigten  Vertreter  an  die  inter- 
nationale Bibliothekarentagung  von  1912  nach  München  gesandt 
hatten.  Es  bewies  mir,  dass  der  Boden  für  bibliothekarisches 
Interesse  vorhanden  ist  und  dass  es  nur  verlangt,  geweckt  und 
angeregt  zu  werden  braucht. 

Dass  neben  Fragen  allgemeiner  und  wissenschaftlicher  Natur 
gerade  die  technischen  Probleme,  die  Fragen  des  praktischen 
Betriebes  sich  fast  ausschließlich  bei  solch  großen  Zusammenkünften 
klären  lassen,  wird  jeder  Bibliothekar,  der  sich  mit  einer  fort- 
schrittlichen Einrichtung  seiner  Räume  befasst,  ohne  weiters 
zugeben  müssen.  Wie  viel  hat  auch  hier  die  Schweiz  noch  zu 
erstreben.  Wie  lange  wird  es  noch  gehen,  bis  die  Bibliotheken 
ihren  eigenen  Buchbindertarif  besitzen  werden,  wie  lange  bis  die 
Lederfrage  für  größere  Institute  positive  Gestalt  angenommen 
haben  wird.  Wir  stehen  mancherorts  vor  baulicher  Erweiterung. 
Ich  glaube  man  darf  ruhig  behaupten,  dass  für  die  neueren 
Bibliothekbauten  der  Bücher-  und  Benützerzuwachs  viel  zu  wenig 
berücksichtigt  wurde,  so  dass  bereits  nach  zehn  bis  zwanzig 
Jahren  Abänderungsanlagen  vorgenommen  werden  müssen.  Die 
Zukunft  wird  uns  dankbar  sein,  wenn  wenigstens  von  heute  ab 
nur  mehr  Bauten  entstehen,  die,  ich  möchte  sagen,  sich  ein  Areal 
und  Raumdispositionen  für  hundert  Jahre  zu   sichern  trachten. 

Seit  1898  besitzen  wir  eine  Vereinigung  Schweizerischer  Bi- 
bliothekare, die  die  Interessen  der  schweizerischen  Bibliotheken 
„nach  allen  Richtungen"  fördern  soll.  Ihre  Versammlungen  finden 
in  einjährigem  Turnus  statt.  Wir  begrüßen  dieses  Unternehmen 
ganz  besonders  deswegen,  weil  es  unserem  angehenden  Biblio- 
thekarenstand bis  jetzt  die  einzige  Gelegenheit  bietet,  sich  gegen- 
seitig kennen  zu  lernen  und  Ideen  auszutauschen.  Aus  diesem 
Grunde  sähen  wir  es  gerne,  wenn  diese  Versammlungen  häufiger 
stattfänden  und  zwar  an  einem  zentral  gelegenen  Orte,  wo  sich 
auch  das  Vereinsarchiv  befände.  Die  einzelnen  Bibliotheken 
könnten  sich  hiebei  auch  durch  Delegierte  aus  dem  Bibliothek- 
personal vertreten  lassen   und   ihnen    allenfalls   die   gewünschten 

715 


Vorschläge  mit  auf  den  Weg  geben.  Es  ist  absolut  dringend,  dass 
die  schweizerischen  Institute  mehr  Fühlung  unter  sich  bekommen, 
wenn  sie  wirklich  mit  den  Jahren  eine  feste  Organisation  er- 
reichen wollen.  Die  von  der  Landesbibliothek  angeregte  und  vom 
Eidgenössischen  statistischen  Bureau  durchgeführte  Bibliothek- 
statistik wird  uns  für  die  Propaganda  der  Vereinigung  große 
Dienste  leisten.  Es  steht  zu  hoffen,  dass  diese  einmal  durch  hin- 
reichenden Zuwachs  an  Mitgliedern  gestärkt,  mächtig  genug  sein 
wird,  um  auf  sämtliche  schweizerische  Institute  einen  wohltätigen 
Einfluss  auszuüben.  Damit  erhalten  wir  eine  feste  Repräsenta- 
tivinstitution nach  außen;  von  ihrem  Einflüsse  wird  es  abhängen, 
ob  die  Bibliotheken  auf  diesem  Wege  Forderungen  allgemeiner 
Natur  zur  Anerkennung  bringen  werden  können.  Aus  diesem 
Grunde  wäre  auch  die  Aufnahme  von  Bibliothekfreunden,  Kom- 
missionsmitgliedern in  der  Vereinigung  zu  wünschen.  Sie  bilden 
eine  Art  Vertreter  der  Öffentlichkeit,  also  auch  eine  Art  von  Gesell- 
schaft von  Bücherfreunden.  Anderseits  dürfen  wir  uns  nicht  ver- 
leiten lassen,  die  kleinen  schwachen  Institute  mit  den  Forderungen 
ihrer  großen  Geschwister  zu  überrumpeln.  Die  Erfahrung  wird 
hier  übrigens  bald  zeigen,  wie  weit  unsere  bibliothekarischen 
Reformbestrebungen  allgemein  durchführbar  sein  werden  und  wo 
in  Rücksicht  auf  bescheidene  Verhältnisse  besondere  Lösungen 
gesucht  werden  müssten.  Die  Mitteilungen  der  Vereinigung  dienten 
vor  allem  zur  Besprechung  aktueller  Bibliothekfragen  unseres 
Landes,  aber  auch  die  Beschlüsse  und  Protokolle  der  Verhand- 
lungen sollten  darin  enthalten  sein. 

Wir  hoffen  damit.  Eingeweihte  und  Nichteingeweihte  hin- 
reichend überzeugt  zu  haben,  dass  auf  unseren  Bibliotheken  noch 
ein  großes  Stück  Arbeit  zu  tun  bleibt,  ehe  wir  uns  als  „auf  der 
Höhe"  der  Anforderungen  betrachten  dürfen.  Die  Öffentlichkeit 
soll  in  Zukunft  einen  möglichst  klaren  Einblick  über  die  geleistete 
Arbeit  erhalten;  sie  soll  immer  mehr  in  dem  Gefühle  bestärkt 
werden,  dass  die  Bibliotheken  fortab  für  die  Zukunft  schaffen 
und  schon  in  diesem  Sinne  zu  den  fortschrittlichen  Instituten 
gehören.  Der  frühere  Ruf  einer  toten  Bücherkammer  darf  heute 
selbst  auf  die  kleinste  Bibliothek  nicht  mehr  passen.  Sobald  die 
Öffentlichkeit  ihr  vermehrtes  Interesse  unseren  Bibliotheken  durch 
eine    berechtigte    Kritik    entgegen    bringen    wird,    werden    auch 

716 


schlummernde  Institute  zu  neuem  Leben  erwachen.  Unser  ganzes 
bibliothekarisches  Streben  gehe  dahin,  alte,  nicht  mehr  lebens- 
kräftige Systeme  und  Organisationen  durch  neue,  den  modernen 
Verhältnissen  angepasste,  zu  ersetzen.  Wir  wollen  einen  biblio- 
thekarisch tüchtigen  und  sorgfältig  ausgewählten  Stand  auferziehen, 
und  uns  selbst  zu  einem  festen  Gefüge,  zu  einem  angesehenen 
und  einflussreichen  Stande  emporarbeiten.  Dazu  gebraucht  es  der 
Mithilfe  aller,  der  Bibliothekare,  des  Hilfspersonales,  wie  des  Pu- 
blikums; erst  wenn  alle  gemeinschaftlich  Hand  ans  Werk  legen, 
wird  auch  die  Schweiz  ein  gedeihliches  Aufblühen  ihrer  sämt- 
lichen Bibliotheken  erleben  und  das  Vaterland  wird  die  Segnungen 
einer  solchen  Kulturförderung  in  reichem  Maße  ernten. 

BERN  C.  BENZIGER 

DDD 

ZUR  KRITIK  DER  RECHTSPFLEGE 
IM  KANTON  ZÜRICH 

(EINE  ERWIDERUNG) 

Unter  dem  Titel  „Vereinfachung  der  Staatsverwaltung  und 
Erleichterung  der  Staatslasten"  zieht  sich  durch  die  Nummern 
18  bis  22  von  „Wissen  und  Leben"  ein  höchst  interessanter  Auf- 
satz hin,  der  eine  Reihe  von  trefflichen  Anregungen  in  sich  birgt, 
und  so  ziemlich  alles,  was  im  Staate  Zürich  geschieht  und  nicht 
geschieht,  einer  manchmal  recht  scharfen  Kritik  unterzieht.  Ich 
bin  wohl  der  letzte,  der  nicht  anerkennt,  dass  auch  im  „Staate 
Zürich"  manches  „faul"  ist.  Ich  glaube  aber  doch,  dass  eine  fast 
mit  Prophetenton  auftretende  Kritik,  wie  sie  Herr  Caspar  Scheidt 
übt,  ihre  Gefahren  in  sich  birgt.  Ein  großer  Teil  der  Leser  — 
Sie  verzeihen  mir  diesen  Zweifel  —  verfügt  wohl  nicht  über  die 
Erfahrungen,  um  zu  unterscheiden,  wo  die  Kritik  berechtigt  ist 
und  wo  sie  übertreibt  oder  gar  ganz  schiefe  Urteile  zeitigt.  — 
Auch  solche  sind  nämlich  Herrn  Scheidt  mitunterlaufen. 

Da  auch  ich  mir  nicht  anmaße,  in  allen  Gebieten,  die  kriti- 
siert werden,  ein  genügendes  Urteil  zu  besitzen,  um  die  Scheidt- 
schen  Kritiken  nachprüfen  zu  können,  so  erlaube  ich  mir  nur  auf 
dem  Gebiete  der  Rechtspflege,  wo  mir  eine  fünfzehnjährige  An- 

717 


waltspraxis  ein  Recht  gibt,  mitzusprechen,  einige  der  allerschiefsten 
Urteile  richtig  zu  stellen.  Sie  unwidersprochen  durchgehen  zu 
lassen,  wäre  meines  Erachtens  ein  Unrecht. 

I. 

Die  „Mühle  der  langsamen  und  teuren  Staatsrechtspflege'' 
(nebenbei  bemerkt  soll  dieser  Ausdruck  hier  heißen  „Rechtspflege 
durch  vom  Staate  bestellte  Richter",  während  das  gleiche  Wort 
u  ristisch -technisch  etwas  ganz  anderes,  nämlich  die  Rechtspflege 
auf  dem  Gebiete  des  Staatsrechts  bedeutet)  wird  in  Gegensatz 
gestellt  zu  den  „vertragsgemäßen  Schiedsgerichten'',  die  „vor 
allem  aus  geeignet"  sein  sollen,  „den  Streit  rasch  und  billig  zu 
erledigen". 

Zunächst  also  wird  unseren  ordentlichen  Gerichten  gegenüber 
der  Vorwurf  der  Langsamkeit  erhoben,  ein  Vorwurf,  den  jeder 
Anwalt  aus  den  Kreisen  seiner  Klienten  reichlich  zu  hören  be- 
kommt. Jedem  scheint  ja  seine  eigene  Sache  die  wichtigste  zu 
sein.  Jeder  wartet  auf  ihren  Ausgang  mit  Ungeduld  und  glaubt 
sich  zu  Vorwürfen  berechtigt,  wenn  sein  Rechtsstreit  nicht  vor 
allen  andern  erledigt  wird,  wenn  Anwalt  und  Richter  ältere  Ein- 
gänge zuerst  erledigen  und  nicht  ihm  vor  allen  den  Vortritt  lassen. 
Ist  der  Vorwurf  aber  auch  objektiv  berechtigt?  Was  heißt  lang- 
sam? Langsam  und  schnell  sind  relative  Begriffe.  Was  für  den 
Hasen  langsam  ist,  ist  für  die  Schnecke  schnell.  Wenn  wir  Vor- 
würfe erheben  wollen,  so  müssen  wir  also  darnach  fragen,  ob 
man  billigerweise  eine  raschere  Geschäftsbehandlung  verlangen 
darf  oder  nicht.  Dass  in  Einzelfällen  auch  bei  unseren  Zürcher 
Gerichten  Verschleppungen  vorkommen  können,  soll  ja  nicht  ge- 
leugnet werden.  Nehmen  wir  aber  den  Durchschnitt  und  ver- 
gleichen wir  ihn  mit  dem  Durchschnitt  in  andern  Ländern  und 
in  andern  Kantonen,  so  dürfen  wir  sehr  zufrieden  sein  mit  der 
Raschheit  der  zürcherischen  Rechtspflege.  Als  Rechtskonsulent 
des  deutschen  Generalkonsulates  habe  ich  vielfach  Gelegenheit, 
Vergleiche  zu  ziehen  mit  der  Erledigung  der  Prozesse  im  deut- 
schen Reiche,  und  Urteile  von  reichsdeutschen  Kollegen  zu  hören, 
und  da  fällt  nun  die  Vergleichung  sehr  zugunsten  der  zürcheri- 
schen Rechtspflege  aus.  Aus  den  übrigen  Nachbarstaaten  fehlt 
mir  selbst  eine  reichere  Erfahrung.    Gelegentlich  aber  liest  man, 

718 


dass  es  da  und  dort  noch  weit  schlimmer  bestellt  sei  mit  der 
Verschleppung  der  Prozesse  als  in  Deutschland.  So  weit  mir 
die  Gepflogenheit  der  anderen  Schweizerkantone  bekannt  ist,  sind 
überall  die  Prozesse  dauerhafter  oder  zum  mindesten  nicht  kürzer 
als  in  Zürich.  Höchstens  Basel  nimmt  eine  ehrenhafte  Ausnahme- 
stellung bezüglich  rascherer  Erledigung  der  Prozesse  ein,  aber  — 
wie  ich  glaube  —  nur  scheinbar;  denn  dort  erfordert  die  Vorbe- 
reitung der  Klage  vor  deren  Einleitung  der  strengen  Eventual- 
maxime  wegen  (die  Klage  muss  sofort  alle  Möglichkeiten  vorweg 
nehmen)  so  viel  Zeit,  dass  bei  Hinzurechnung  dieser  Vorbereitungs- 
zeit (die  nach  zürcherischem  Verfahren  meist  zwischen  die  Ein- 
leitung der  Klage  durch  Einreichung  der  Weisung  und  Hauptver- 
handlung fällt,  und  deshalb  bei  der  Berechnung  der  Prozessdauer 
mitgerechnet  wird)  auch  in  Basel  wieder  ungefähr  die  gleiche 
Durchschnittsdauer  herauskäme  wie  in  Zürich.  Ein  Bundesrichter 
beantwortete  kürzlich  im  Privatgespräch  meine  Frage,  ob  das 
Gericht  schon  häufig  Gelegenheit  habe,  nach  neuem  Recht  (Zivil- 
gesetzbuch und  Obligationenrecht  in  Kraft  seit  1912)  zu  entschei- 
den, die  Prozesse  des  neuen  Rechtes  seien  selten,  nur  aus  wenigen 
Kantonen,  worunter  insbesondere  Zürich,  seien  einige  eingegangen. 
Diese  Antwort  enthielt  ein  hohes  Lob  der  Zürcher  Gerichte.  Sie 
beweist,  dass  die  Zürcher  Gerichte  verhältnismäßig  rasch  ihre  nach 
Januar  1912  anhängig  gewordenen  Prozesse  bis  in  die  höchste 
Instanz  gefördert  haben. 

Wir  dürfen  also  gegen  die  zürcherische  Rechtspflege,  wenn 
wir  nach  billigem  Maße  messen,  den  Vorwurf  den  Langsamkeit 
nicht  erheben. 

II. 

Damit  ist  aber  noch  nicht  entschieden,  ob  nicht  die  „ver- 
tragsgemäßen Schiedsgerichte"  noch  rascher  arbeiten  als  die 
zürcherischen  ordentlichen  Gerichte.  Dass  das  der  Fall  sei,  ist 
eine  auch  in  Kaufmannskreisen  weit  verbreitete  Ansicht.  Hier 
kann  ich  wiederum  aus  Erfahrung  reden,  und  ich  bin  überzeugt, 
dass  jeder  Kaufmann  oder  Anwalt,  der  auch  nur  ein  halbes  Dutzend 
Schiedsgerichte  miterlebt  hat,  mir  zustimmen  wird:  Die  Sage  von 
der  größeren  Raschheit  der  Schiedsgerichte  ist  ein  Vorurteil. 

719 


Das  vertragliche  Schiedsgericht  (im  Gegensatz  zum  ständigen 
Fachgericht)  arbeitet  erfahrungsgemäß  langsamer  (denn  auch  nur 
drei  Schiedsrichter  zu  einer  Sitzung  zusammen  zu  kriegen,  ist  oft 
ein  schwieriges  Ding;  werden  doch  meist  vielbeschäftigte  Ge- 
schäftsleute, die  nur  schwer  über  ihre  Zeit  verfügen,  zu  Schieds- 
richtern ernannt),  unzuverlässiger  (denn  meist  ist  die  Mehrzahl 
der  Schiedsrichter  zum  erstenmal  in  einem  solchen  tätig,  und 
daher  trotz  sonstiger  Vorzüge  des  Charakters  und  des  Intellekts 
ungewandt)  und  teurer  als  die  ordentlichen  Gerichte.  Ja!  auch 
teurer!  Denn  Herr  Scheidt  wird  uns  den  Beweis  dafür,  dass  die 
„Bezirksgerichte  wohl  die  teuerste  Justiz  der  Welt"  seien,  und 
dass  „ein  Privater  das  Geschäft  gern  zur  Hälfte  übernehmen  und 
nicht  schlechter  besorgen  würde",  unbedingt  schuldig  bleiben.  Es 
ist  das  eine  leere  Behauptung.  Über  die  niedrigen  Gebühren 
unserer  Justiz  (die,  nebenbei  bemerkt  —  was  er  zu  übersehen 
scheint,  denn  er  nennt  ein  Beispiel  aus  der  alten  Gebührenord- 
nung —  durch  die  Gesetzesrevision  wesentlich  erhöht  worden  sind) 
regt  sich  ja  Herr  Scheidt  selbst  auf.  Und  auch  objektiv  kann  die 
Behauptung  nicht  wahr  sein,  denn  im  Verhältnis  zur  geleisteten 
Arbeit  sind  die  Gehälter  unbedeutend,  und  auch  unter  den  Laien- 
richtern gibt  es  eine  Anzahl  Leute,  die  sich  den  Gelehrten  zum 
Trotz  vorzüglich  in  ihr  Amt  eingearbeitet  haben.  Vor  dem  Laien- 
schiedsrichter hat  aber  auch  der  Laienberufsrichter  stets  den  Vor- 
zug, dass  er  Gelegenheit  hat,  sich  in  der  Tätigkeit  des  Richtens 
zu  üben,  jener  aber  ungeübt  an  den  Einzelfall  herantritt.  Dass 
ein  Schuster  gelernt  haben  muss,  Schuhe  zu  machen,  sieht  ein 
jeder  ein.  Dass  aber  auch  ein  Richter  zum  Richten  gewisser 
Kenntnisse  und  der  ständigen  Übung  nicht  entraten  kann,  das  will 
merkwürdigerweise  den  meisten  Leuten  nicht  in  den  Kopf  hinein. 

Der  schlimmste  Nachteil  der  Schiedsgerichte  liegt  aber  darin, 
dass  in  der  Regel  gleich  viel  Richter  (je  einer  oder  je  zwei)  durch 
die  Parteien  ernannt  werden,  und  nur  der  Obmann  im  Einver- 
ständnis beider  Parteien  bestellt  wird.  Die  Parteischiedsrichter 
fassen  aber  ihre  Aufgabe  mehr  als  Parteimandat,  als  Anwalts- 
mandat auf.  Sie  vertreten  die  Interessen  ihrer  Partei.  Verhängnis- 
voll wird  das  besonders,  wenn  die  eine  Partei  anständiger  ist  als 
die  andere,  und  einen  unparteiischen  Schiedsrichter  wählt,  oder 
bei  der  Bestimmung  des  Obmannes  zu  vertrauensselig  ist.    Dann 

720 


ist  sie  der  weniger  anständigen,  der  ihre  Interessen  rücksichtslos 
wahrenden  Partei  einfach  auf  Gnade  und  Ungnade  ausgeliefert. 
Abgesehen  von  den  seltenen  Fällen,  in  denen  alle  Richter  gleich- 
mäßig ihr  Amt  als  Richteramt  auffassen  (sie  kommen  etwa  vor, 
wenn  alle  Schiedsrichter  aus  Richter-  und  Anwaltskreisen  gewählt 
werden),  ist  das  vertragliche  Schiedsgericht  günstigsten  Falls  eine 
verdeckte  Einzelrichterei,  bei  der  die  Verantwortlichkeit  des  Einzel- 
richters nach  außen  nicht  so  deutlich  in  die  Erscheinung  tritt,  weil 
nach  außen  hin  das  Kollegium  der  Schiedsrichter  die  Verant- 
wortung trägt. 

III. 

Einen  gewissen  Gegensatz  zum  vertragsgemäßen  Schieds- 
gericht und  zum  ordentlichen  Gericht,  ein  Mittelding  zwischen 
beiden,  stellt  das  durch  Herrn  Scheidt  so  warm  empfohlene  Fach- 
gericht dar,  das  angeblich  die  Experten  entbehrlich  machen  soll. 

Hier  ist  zuzugeben,  dass  unter  gewissen  Vorbedingungen  das 
Fachgericht  besser  arbeitet  als  das  Schiedsgericht,  gelegentlich 
auch  als  das  ordentliche  Gericht.  Erste  Vorbedingung  ist,  dass 
die  Richter  nicht  von  Fall  zu  Fall  durch  die  Parteien  gewählt 
werden,  wie  beim  Schiedsgericht,  sondern  dass  die  Vertrauensleute 
gewisser  Interessengruppen  ständig  im  Gerichte  tätig  seien,  sich 
also  wirklich  als  Richter  und  nicht  als  Parteivertreter  fühlen  lernen, 
und  Gelegenheit  haben,  sich  im  Richten  zu  üben.  Weitere  Vor- 
bedingung ist,  dass  der  Kreis  der  durch  das  Fachgericht  zu  be- 
urteilenden Streitigkeiten  nicht  allzu  weit  gesteckt  sei.  Ich  denke 
dabei  an  die  vielfach  sehr  segensreich  wirkenden  Börsenschieds- 
gerichte, die  über  Börsenusanzen  urteilen,  oder  die  ständigen 
Schiedsgerichte  gewisser  eng  begrenzter  Interessenkreise,  auch 
noch  an  die  gewerblichen  Schiedsgerichte,  die  meist  nur  über 
Dienstvertrags-Streitigkeiten  Recht  sprechen. 

Der  Vorzug  dieser  Fachgerichte  kehrt  sich  aber  in  das  Gegen- 
teil um,  sobald  ihnen  Prozesse  mit  schwierigen  juristischen  Fragen 
vorliegen.  Und  der  so  viel  gerühmte  Vorzug,  die  Expertisen 
überflüssig  zu  machen,  hört  auf,  sobald  technische  Spezialfragen 
eine  Rolle  spielen,  deren  Entscheidung  dem  Fachrichter  nicht  mehr 
zugemutet  werden  kann.  Der  beste  Handelsrichter,  ja  sogar  der 
bedeutendste  Techniker  ist  hilflos  und  wiederum  auf  den  Experten 

721 


angewiesen,  wenn  es  sich  beispielsweise  um  die  Beurteilung  der 
Neuheit  und  der  Verwertbarkeit  eines  Patentes  handelt,  das  seinem 
speziellen  Schaffensgebiet  fern  liegt.  In  Grenzfällen,  in  denen  der 
Fachrichter  sich  einbildet,  die  nötigen  Kenntnisse  zum  eigenen 
Entscheid  zu  besitzen,  ohne  dass  es  wirklich  der  Fall  ist,  ist  der 
Fachrichter  sogar  gefährlicher  als  der  Berufsrichter,  der  sich  seiner 
Ohnmacht  bewusst  bleibt. 

Letzten  Endes  wird  in  der  Regel  und  bei  Berücksichtigung 
aller  Fälle  doch  das  ordentliche  Gericht  den  Vorzug  verdienen. 

IV. 

Schon  anlässlich  der  Schiedsgerichte  sprach  ich  scheinbar 
vielleicht  etwas  abschätzig  von  der  verdeckten  Einzelrichterei.  Ich 
möchte  aber  betonen,  dass  das  Abschätzige  in  meinem  Tone  sich 
gegen  das  „verdeckte",  nicht  gegen  die  „Einzelrichterei"  als  solche 
richten  soll. 

Herr  Scheidt  sagt:  „Die  Einzelkompetenz  eignet  sich  für  die 
Justiz  ganz  und  gar  nicht.  Sie  bietet  anerkanntermaßen  einen 
geringeren  Rechtsschutz  als  das  Kollegialgericht." 

Ist  diese  Behauptung  wirklich  allgemein  anerkannt? 

Der  höchst  verdienstvolle  frühere  Oberbürgermeister  von 
Frankfurt  a.  M.,  Adikes,  ein  Mann  von  hervorragend  praktischem 
Blick,  hat  durch  das  Studium  der  englischen  Rechtspflege  sich 
vom  Gegenteil  überzeugt  und  empfiehlt  seinem  Heimatstaate  warm 
die  Einführung  der  Einzelrichterei. 

Der  jedem  mit  der  modernen  Literatur  vertrauten  Juristen 
wohlbekannte,  trotz  seiner  oft  maßlosen  und  über's  Ziel  hinaus- 
schießenden Angriffe  auf  den  heutigen  Betrieb  der  Jurisprudenz 
—  Pandektologie  nennt  er  sie  —  sehr  ernst  zu  nehmende  Justiz- 
reformer Rechtsanwalt  Dr.  Fuchs  in  Karlsruhe  schwärmt  für  das 
Richterkönigtum.  Er  denkt  sich  dabei  einen  Mann,  der  durch 
jahrzehntelange  vortreffliche  Ausübung  eines  juristischen  Berufs, 
zum  Beispiel  des  Rechtsanwaltsberufs,  das  volle  Vertrauen  seiner 
Volksgenossen  erworben  hat,  der  sie  durch  Geist  und  Kenntnisse 
und  Charakter  so  hoch  überragt,  dass  sie  sich  ihm  —  dem  Manne 
ihres  Vertrauens  —  willig  fügen.  Dieser  Mann  wäre  nach  seiner 
Ansicht  so  glänzend  zu  besolden,  dass  er  seinen   früheren  Beruf 

722 


gerne  mit  dem  Richterberuf  vertauschte,  und  würde  nun  in  erster 
Linie  die  Streite  seines  Bezirkes  zu  schhchten  suchen,  wo  das 
nicht  gelingt,  sie  erst-  und  einziginstanzlich  nach  seiner  höheren 
Einsicht,  nach  freiem  und  gütigem  Ermessen  entscheiden.  Dann 
gäbe  es  i<aum  mehr  Prozesse  und  Urteile,  dann  würde  der  Rat 
des  Richteri<önigs  genügen.  Wahrlich  ein  Ideal,  das  anzustreben 
des  Schweißes  der  Edeln  wert  wäre. 

Aber  auch  ganz  nüchterne  Beurteiler  haben  schon  vorge- 
schlagen, dem  Einzelrichtertum  größere  Ausdehnung  zu  geben. 
Dass  der  Einzelrichter  —  wenn  er  schlecht  ist  --  mehr  Unheil 
stiften  kann  als  der  Richter  im  Kollegium,  soll  zugegeben  werden. 
Dem  gegenüber  stehen  aber  auch  große  Vorzüge  des  Einzelrichter- 
tums.  Einmal  weiß  der  Einzelrichter  in  viel  höherem  Maße  als 
der  Kollegialrichter,  dass  er  für  sein  Urteil  verantwortlich  ist,  dass 
ein  gutes  Urteil  ihn  in  der  Wertschätzung  der  Mitmenschen  erhöht, 
ein  schlechtes  ihm  persönlich  zur  Last  fällt  —  ein  nicht  zu  unter- 
schätzender Sporn  zur  Gewissenhaftigkeit.  Dann  würde  durch 
die  Übertragung  der  Arbeit  der  Kollegialgerichte  an  Einzelrichter 
viel  Arbeitszeit  frei.  Der  Einzelrichter  würde  allein  den  Stoff  be- 
wältigen, den  sonst  drei  oder  fünf  Richter  parallel  bearbeiten 
müssen.  Man  wäre  also  in  der  Lage,  den  Einzelrichter  bedeutend 
besser  zu  besolden  als  den  Kollegialrichter,  folglich  eine  bessere 
Auswahl  zu  treffen  und  doch  noch  zu  sparen. 

Bei  Arbeitsüberlastung  arbeitet  auch  das  Kollegialgericht  nach 
dem  verdeckten  Einzelrichtersystem,  das  heißt  die  Richterkollegen 
verlassen  sich  auf  den  Referenten  und  widmen  sich  ihrerseits  nur 
oder  doch  vorwiegend  ihren  eigenen  Referaten.  Das  macht  aber 
auch  den  Referenten  weniger  gewissenhaft.  Er  weiß  sich  ja  ge- 
deckt durch  das  Kollegium. 

Wo  keine  Arbeitsüberlastung  besteht,  wo  also  alle  Kollegial- 
richter gleich  gründlich  den  Rechtsstreit  behandeln  können  und 
wollen  —  ein  Fall,  der  wohl  fast  nur  in  der  Theorie,  nicht  aber 
in  der  Praxis  vorkommt  —  mag  das  Kollegialsystem  gewisse 
Vorzüge  vor  dem  Einzelrichtersystem  haben.  Das  verdeckte 
Einzelrichtersystem,  wie  es  praktisch  in  den  Kollegialgerichten  die 
Regel  bildet,  ist  sicher  zum  mindesten  nicht  besser. 

Erkundigen  wir  uns  einmal  bei  der  Erfahrung.  Wir  haben 
im  Kanton   Zürich   neben   einander   Einzelrichter   und   Kollegial- 

723 


gerichte,  die  ganz  ähnliche  Stoffgebiete  bearbeiten.  Der  Einzel- 
richter im  ordenth'chen  Verfahren  und  im  beschleunigten  Verfahren 
behandelt  in  ganz  gleicher  Weise  Zivilprozesse  wie  die  Kollegial- 
gerichte. Die  Urteile  sind  besser  oder  schlechter,  je  nach  der 
Person  des  Richters  oder  des  Gerichtsschreibers,  der  das  Urteil 
begründet,  nicht  aber  nach  der  Art  der  Kompetenzen.  Es  gibt 
vorzügliche  Urteile  des  Kollegiums  und  des  Einzelrichters,  aber 
auch  andere  bei  beiden.  Dass  die  Urteile  der  Kollegialgerichte 
durchschnittlich  inhaltlich  besser  wären  oder  besser  begründet 
seien  als  die  der  Einzelrichter,  wird  kaum  behauptet  werden 
können. 

V. 

Mit  dem  durch  Fuchs  geforderten  Richterkönigtum  habe  ich 
schon  eine  Frage  gestreift,  die  auch  Scheidt  behandelt.  Er  meint, 
die  „Friedensrichter"  sollten  „eine  größere  Bedeutung  erhalten, 
ähnlich  den  englischen".  Ganz  recht!  aber  das  hätte  eine  völlig 
andere  Rekrutierung  der  Friedensrichter  zur  Voraussetzung.  Ich 
will  nicht  leugnen,  dass  auch  heute  schon  darunter  zahlreiche 
Leute  sind,  die  ihre  Aufgabe  richtig  erfassen  und  geschickt  erfüllen. 
Ich  kenne  sogar  solche.  So  lange  es  aber  noch  möglich  ist,  dass 
Leute  gewählt  werden,  denen  der  Anwalt  erst  klar  machen  muss, 
dass  sie  auch  einwilligende  Ehegatten  nicht  ohne  Mithilfe  des  zu- 
ständigen Gerichtes  scheiden  dürfen,  oder  solche,  die  den  Anwalt 
bitten,  das  Zeugenprotokoll  zu  schreiben,  weil  sie  selbst  nahezu 
Analphabeten  sind,  wenigstens  nicht  einen  auch  nur  halbwegs 
stilistisch  und  orthographisch  richtigen  Satz  schreiben  können  — 
beides  habe  ich  selbst  erlebt  —  so  lange  ist  es  besser,  ihre  Kom- 
petenzen zu  beschneiden  als  zu  erhöhen. 

VI. 

Wenn  Herr  Scheidt  sich  über  den  Witz  eines  alten  Gerichts- 
schreibers, „die  Urteile  müssen  so  begründet  sein,  dass  ein  Hand- 
werksbursche, wenn  er  eines  auf  der  Straße  findet,  es  verstehen 
und  sich  sagen  muss,  es  sei  recht",  lustig  macht,  so  hat  er  sehr 
unrecht.  In  diesem  Witz  liegt  eine  tiefe  Weisheit.  Nicht  gelehrt, 
sondern   klar  soll   das  Urteil  sein,  so  klar,    dass  ein  beliebiger 

724 


ungebildeter  Fremder  es  versteht  und  billigt,  womöglich  so  klar, 
—  es  ist  das  allerdings  nicht  leicht  möglich  —  dass  sogar  die 
unterliegende  Partei  ihr  Unrecht  einsieht.  Es  ist  nämlich  einfach 
der  Erfahrung  widerstreitend,  dass  die  Parteien  „nur  auf  das  Dis- 
positiv sehen".  Ein  schlecht  begründetes  Urteil  wird  von  der 
unterliegenden  Partei  viel  schwerer  empfunden,  als  ein  solches 
mit  einleuchtender  Begründung.  Ja  sogar  die  obsiegende  Partei 
hat  keine  ungetrübte  Freude,  wenn  sie  mit  unzutreffender  Be- 
gründung obsiegt.  Für  den  Richter  vollends  aber  ist  die  Begrün- 
dung ein  sehr  heilsames  Kontrollmittel  gegen  bewusste  und  un- 
bewusste  Willkür.  Ohne  den  Zwang  zur  Begründung  würden 
viel  mehr  Entgleisungen  nach  der  Richtung  der  Freundschafts-, 
Sympathie-,  Gefühls-  und  Partei-Justiz  zu  befürchten  sein.  Die 
unbegründeten  Urteile  der  Friedensrichter  und  der  Schwurgerichte 
sprechen  da  eine  beredte  Sprache. 

VII. 

Der  Vorwurf  der  Bureaukratie  gegenüber  unserer  Zürcher 
Rechtspflege  ist  gänzlich  aus  der  Luft  gegriffen.  Erst  vor  wenigen 
Tagen  hatte  ich  zusammen  mit  einem  reichsdeutschen  Kollegen 
mit  unseren  Justizbeamten  zu  verkehren.  Die  freie,  freundliche, 
zuvorkommende  und  gar  nicht  ängstliche  Art  der  Behandlung 
entlockte  dem  Kollegen  ein  über's  andere  mal  Ausrufe  der  Be- 
wunderung und  Verwunderung  mit  dem  Kehrreim:  „So  etwas 
wäre  bei  uns  ganz  undenkbar." 

Dass  gewisse  Formen  gewahrt  werden  müssen,  liegt  in  der 
Natur  der  Sache,  in  unserer  Rechtspflege  wird  darin  eher  nach 
der  Richtung  der  Missachtung  der  Form  als  der  Überschätzung 
gesündigt.  Dass  im  Einzelfalle  auch  Justizbeamte  gelegentlich 
grob  oder  bureaukratisch  vorgehen,  mag  sein.  Das  hat  aber  wohl 
meist  seinen  Grund  in  den  übermäßigen  Ansprüchen  des  Rechts- 
suchenden, der  sich  hierüber  beklagt.  Auf  jeden  Fall  darf  aber 
ein  solcher  Einzelfall  nicht  verallgemeinert  und  daraus  der  Rechts- 
pflege in  ihrer  Gesamtheit  ein  Vorwurf  gemacht  werden. 

VIII. 
Dass  auch  in  unserer  Rechtspflege  nicht  alles  Gold  ist   und 
nicht  einmal  alles  glänzt,  will  ich  gerne  zugeben. 

725 


Hier  wie  überall  sind  es  aber  nicht  die  Einrichtungen,  die  gut 
oder  schlecht  sind,  sondern  die  Menschen,  die  diese  Einrich- 
tungen handhaben. 

Und  hier  liegt  der  Punkt,  bei  dem  man  mit  berechtigter 
Kritik  einsetzen  könnte.  Die  Auswahl  der  Justizbeamten  lässt 
gelegentlich  zu  wünschen  übrig.  Dabei  denke  ich  nicht  daran, 
dass  das  Laienrichtertum  bei  uns  stets  sehr  stark  vertreten  ist, 
teilweise  sogar  überwiegt.  Ich  halte  nämlich  die  Überschätzung 
der  formal-juristischen  Bildung,  wie  man  sie  namentlich  im  deut- 
schen Reiche  antrifft,  für  fast  gefährlicher  als  den  bei  uns  weit 
verbreiteten  Aberglauben,  der  gesunde  Menschenverstand  sei  eine 
Eigenschaft,  die  nur  dem  Nicht- Juristen  eigentümlich  sei.  Es 
gibt  dumme  und  gescheite,  brauchbare  und  unbrauchbare  Juristen- 
und  Laienrichter. 

Der  Laienrichter  kommt  meist  in  reiferem  Alter,  und  nach- 
dem er  sich  in  anderer  Stellung  schon  Lebenserfahrung  erworben 
hat,  zum  Richteramt  und  hat  dadurch  einen  wesentlichen  Vorzug 
vor  dem  soeben  der  Hochschule  entsprungenen  Juristen.  Der 
Laienrichter  kann  durch  Selbststudium  und  Praxis  die  für  ihn 
nötigen  Rechtskenntnisse  so  gut  hinzu  erwerben,  wie  der  junge 
Jurist  die  Lebenserfahrung.  Aus  beiden  Kategorien  können  also 
tüchtige  Berufsrichter  hervorgehen. 

Wenn  aber  bei  der  Auswahl  nicht  auf  Geist,  Bildung,  Fleiß 
und  namentlich  auch  auf  den  Charakter  des  Kandidaten  das  Haupt- 
gewicht gelegt  wird,  sondern  die  Zugehörigkeit  zu  einer  der 
historischen  Parteien  den  Ausschlag  gibt,  dann  haben  wir  keine 
Gewähr,  dass  die  richtigen  Männer  zu  Richtern  unseres  Volkes 
bestellt  werden. 

Wenn  schon  der  Vorwurf,  Parteirichter  zu  wählen,  in  erster 
Linie  die  sozialdemokratische  Partei  mit  trifft,  so  trifft  er  sie  doch 
nicht  allein.  Auch  die  andern  Parteien  haben  aus  taktischen 
Rücksichten  schon  unfähige  Richter  vorgeschlagen.  Als  ich  kürz- 
lich mit  einem  höheren  Richter  (dem  Angehörigen  einer  bürger- 
lichen Partei)  über  eine  sehr  wichtige  Richterwahl  redete  und  die 
Eignung  eines  der  vorgeschlagenen  Kandidaten  anzweifelte,  erhielt 
ich  zu  meiner  Verblüffung  die  Antwort:  „Ja!  aber  er  hat  doch 
ein  Anrecht  auf  die  Stelle.   Er  hat  doch  große  Verdienste  um  die 

726 


Partei."  Wenn  selbst  in  Richterkreisen  diese  Auffassung  vor- 
i<ommen  l<ann  —  ich  sage  absichtlich  nicht  herrscht  —  so  muss 
man  sich  nicht  wundern,  wenn  allerhand  verbesserungsbedürftig 
ist  auch  in  unserer  Rechtspflege. 

Dass  die  Parteien  die  Richter  wählen  und  vorschlagen,  wird 
man  in  unserem  demokratischen  Staate  als  ein  notwendiges  Übel 
mit  in  Kauf  nehmen  müssen. 

Das  aber  sollte  man  wenigstens  bei  den  maßgebenden  Per- 
sonen, bei  den  Leitern  der  Parteien  erzielen  können,  dass  sie  die 
Parteizugehörigkeit  höchstens  dann  ausschlaggebend  sein  lassen, 
wenn  im  übrigen  die  Eignung  der  sich  gegenüberstehenden  Kan- 
didaten vollkommen  gleich  erscheint. 

Dieser  Wunsch  scheint  mir  der  einzig  dringende  für  unsere 
Rechtspflege  zu  sein  und  überdies  innert  den  Grenzen  des  Er- 
reichbaren. 

IX. 

So  lange  dieser  Wunsch  aber  noch  nicht  erfüllt  ist,  so  lange 
werden  wir  nicht  nur  auf  das  Ideal  des  Richterkönigtums  ver- 
zichten müssen,  sondern  auch  den  mehrstufigen  Instanzenzug, 
ja  sogar  das  Kassationsgericht  nicht  entbehren  können. 

Gibt  doch  der  Instanzenzug  eine  gewisse,  wenn  auch  keine 
vollkommene  Gewähr  dafür,  dass  offenkundige  Fehler  der  untern 
Instanzen  durch  die  oberen  verbessert  werden,  was  allerdings  die 
Voraussetzung  hat,  dass  die  obere  Instanz  aus  dem  vorhandenen 
Richtermaterial  die  bestgesiebte  Auswahl  darstellt. 

Um  den  Zweck  wirklicher  Verbesserung  fehlerhafter  Entscheide 
der  Unterinstanzen  zu  erreichen,  muss  aber  das  Obergericht,  wie 
bisher,  ein  wirkliches  Appellationsgericht  bleiben  und  auch  den 
Tatbestand  überprüfen  dürfen,  nicht  nur  als  Revisionshof  die 
Rechtsfragen  erörtern.  Würde  es  auf  die  letztern  beschränkt, 
dann  allerdings  könnte  es  in  allen  Fällen  der  bundesgerichtlichen 
Zuständigkeit  als  überflüssig  ausgeschaltet  werden. 

KÜSNACHT  Dr.  FRITZ  FICK 

Rechtsanwalt 

D  a  □ 

727 


UNE  EXHUMATION 

Une  exhumation!  Le  mot  que  je  choisis  pour  le  titre  de 
cette  causerie  n'est  pas  tres  heureux.  Et  je  le  regrette  presque 
aussitot  apres  l'avoir  ecrit.  I!  a  decidement  quelque  chose  de  bien 
funebre  et  il  annonce  bien  mal  une  reedition  partielle  des  jolies 
Lettres  parisiennes  de  M"^^  de  Qirardin.  Ces  billets  spirituels  et 
faciles,  publies  dans  La  Presse,  de  1836  ä  1848,  paraissaient 
sous  la  signature  du  vicomte  de  Launay.  11s  furent  reimprimes 
en  1857.  Mais  on  eut  le  tort  de  ne  point  faire  la  selection  qu'a 
entreprise  M.  F.  Roger-Cornaz,  le  gracieux  poete  du  Trlanon  de 
porcelaine.  II  y  avait  lä  quatre  volumes.  Et  quatre  volumes  de 
chroniques,  c'etait  dejä  long  pour  un  lecteur  de  1857;  c'est  beau- 
coup  trop  long  pour  les  lecteurs  d'aujourd'hui. 

II  eüt  ete  fächeux  cependant  que  cet  aimable  recueil  ne  füt 
plus  mentionne  qu'en  deux  ou  trois  lignes  dans  les  histoires  de 
la  litterature  fran^aise.  11  meritalt  de  vivre,  car  il  est  proprement 
une  Oeuvre  classique  par  ses  qualites  de  goiJt,  de  tenue  et  de 
Charme. 

M'"^  de  Girardin  qui,  sous  le  Pseudonyme  du  vicomte  de 
Launay,  collabora  pendant  une  quinzaine  d'annees  au  Journal  de 
son  mari,  naquit  en  1804  ä  Aix-la-Chapelle  oü  son  pere,  M.  Gay, 
etait  receveur-general.  On  l'avait  appelee  Delphine,  comme  l'he- 
roine  de  Tun  des  romans  de  M"^^  de  Stael.  Elle  debuta  dans  les 
Salons  de  la  Restauration,  sous  la  conduite  de  sa  mere,  l'une  des 
femmes  les  plus  belies  et  les  plus  distinguees  de  son  epoque. 
Delphine  elle-meme,  ä  laquelle  Theophile  Gautier  appliquait  ce 
vers  de  Dante: 

La  bella  creatura  di  bianco  vestita, 

fut,  comme  le  dit  M.  Roger-Cornaz,  „des  son  enfance  promise 
ä  la  gloire  et  vouee  aux  Muses".  Mais  eile  ressemblait  aussi  peu 
que  possible  ä  cette  Louise  Colet  dont  j'ai  recemment  parle,  ä 
cette  place.  Infiniment  intelligente,  d'education  achevee,  de  ma- 
nieres  exquises,  de  caractere  egal  et  sür,  eile  n'avait  rien  du  bas- 
bleu remuant,  ambitieux  et  vulgaire.  Elle  etait  trop  naturellement 
grande  dame  et  femme  comme  il  faut,  pour  etre  jamais  encom- 
brante  ou  ridicule. 

728 


Elle  fut  couronnee  par  rAcademie,  eile  commit  quelques 
volumes  de  vers,  quelques  volumes  de  prose.  Ayant  acquis  une 
notoriete  de  bon  aloi,  eile  ne  se  laissa  point  griser  par  le  succes. 
Apres  son  mariage  avec  Emile  de  Qirardin,  eile  donna  ä  la  Presse 
les  „lettres  parisiennes"  du  vicomte  de  Launay.  Elle  avait  trouve 
sa  voie.  Elle  n'etait  qu'une  poetesse  d'un  talent  moyen;  eile  de- 
vint  le  Premier  chroniqueur  mondain  de  son  temps.  Plus  tard, 
eile  s'essaya,  non  sans  bonheur,  au  theätre,  avec  La  Joie  fait 
peur  et  Lady  Tartufe.  Elle  mourut  en  1855.  On  connait  l'ad- 
mirable  piece  de  Victor  Hugo,  sur  celle  que  pleura  tout  le  Paris 
litteraire: 

Jadis  je  vous  disais:  Vivez,  regnez,  Madame  .  .  . 

Si  M^"^  de  Girardin,  auteur  du  Bonheur  d'etre  belle  ou  du 
Dernier  jour  de  Pompei,  ou  meme  de  La  Joie  fait  peur,  etait 
condamnee  ä  l'oubli,  il  ne  pouvait  pas,  il  ne  devait  pas  en  etre 
de  meme  du  vicomte  de  Launay.  Comme  l'a  excellemment  indique 
M.  Roger-Cornaz,  dans  son  elegante  introduction  pour  Le  vicomte 
de  Launay,  lettres  choisies  (in  12^  Librairle  Payot,  Lausanne): 
„Celui-ci  est  toujours  vivant,  fringant,  charmant.  S'il  a  pris  de 
Tage,  c'est  ä  la  fa^on  des  gens  d'esprit:  ils  ne  vieillissent  pas, 
ils  durent  .  .  .  Ses  lettres  sont  des  modeles  parfaits  de  chroni- 
ques.  W^^  de  Girardin,  en  en  creant  le  genre,  l'a  eleve  tout  de 
suite  ä  la  dignite  artistique.  Elle  y  a  mis  tout  ce  qu'on  peut  et 
tout  ce  qu'on  doit  y  mettre.  La  chronique  est  une  causerie 
ecrite.  M""«  de  Qirardin,  dont  la  conversation  etait  eblouissante, 
ne  perd  pas,  la  plume  ä  la  main,  ses  qualites  de  causeur." 
D'abord,  eile  a  de  la  gaite,  de  l'ironie,  voire  de  l'impertinence. 
Et  puis,  que  d'aisance  et  d'entrain!  Et  encore,  quel  style  lim- 
pide,  exact  et  pur!  Citons  cette  appreciation  de  M.  E.  Faguet: 
„Son  style  est  le  style  parle,  et  c'est  ä  savoir  le  meilleur  des 
styles,  ä  preuve  que  pour  les  sots  ce  n'est  pas  du  style,  et  qu'ils 
n'appellent  style  que  ce  qui  d'une  fa^on  ou  d'une  autre  s'eloigne 
de  celui-ci.  Pour  eux,  Montaigne,  La  Fontaine,  M""^  de  Sevigne, 
Voltaire,  Merimee,  Edmond  About  ont  du  merite,  chacun  le  leur, 
mais  il  est  regrettable  qu'ils  n'aient  pas  de  style.  A  la  bonne 
heure;  Flechier  en  a  un.  W^^  de  Girardin  n'est  pas  de  la  famille 
de  Flechier;   eile  est  de   la  famille  des  autres".    Qu'elle  meta- 

729 


morphose  une  anecdote  en  recit  alerte  et  piquant,  qu'elle  es- 
quisse  ou  burine  un  portrait,  qu'elle  adopte  le  ton  et  poursuive 
les  desseins  du  moraliste,  qu'elle  se  borne  ä  causer  d'un  air  de- 
tache  et  comme  du  bout  des  levres,  eile  reste  dans  la  plus  se- 
duisante  tradition  fran^aise.  Elle  a  cet  art  delicat  de  glisser  oü 
d'autres  appuieraient  lourdement,  ce  privilege  singulier  d'echapper 
ä  la  Pedanterie  oü  d'autres,  de  moindre  discernement,  s'y  aban- 
donneraient  sans  mesure;  et  oü  d'autres  delaieraient  de  la  Philo- 
sophie, eile  se  contente  de  semer  son  gentil  grain  de  sei.  Avec 
cela  et  malgre  quelque  passion  du  paradoxe,  une  raison  avertie 
et  solide  qui  ne  trebuche  jamais.  N'a-t-elle  pas  eu  le  courage 
d'affirmer,  en  1840,  eile,  la  deesse  des  romantiques,  qu'elle  ai- 
mait  d'un  meme  amour  Racine  et  Victor  Hugo? 

Nous  pouvons  maintenant  feuilleter  les  chroniques  du  vi- 
comte  de  Launay.  M'"^  de  Girardin  nous  revelera  d'elle  ce  qu'il 
lui  plaira  de  ne  point  nous  cacher  et,  du  meme  coup,  eile  nous 
offrira  le  tableau  le  plus  desinvolte,  le  plus  amüsant,  le  plus 
precis  sous  son  apparence  legere,  de  la  societe  parisienne,  entre 
la  revolution  de  juillet  et  la  tourmente  de  1848. 

Assurement,  trois  cents  pages  de  chroniques,  et  de  chroni- 
ques vieilles  de  plus  d'un  demi-siecle,  c'est  peut-etre  trop  pour 
nos  curiosites  hätives  et  distraites.  M.  Roger-Cornaz  eüt  reduit 
du  tiers  ou  du  quart  son  choix  de  „lettres  parisiennes",  que  je 
me  serais  bien  garde  de  Ten  blämer.  Mais  je  serais  fort  em- 
barrasse  de  lui  conseiller  telles  ou  telles  suppressions.  De  fait, 
il  n'est  pas  une  de  ces  oeuvrettes  qui  ne  soit  au  moins  agreable. 
Pour  les  savourer  congrüment,  il  faut  les  lire  en  gourmet,  non 
en  glouton.  A  les  devorer  comme  un  roman  d'aventures,  on  leur 
rendrait  le  plus  detestable  des  Services.  Le  mieux  est  de  les 
deguster  lentement,  de  poser  le  livre,  de  le  rouvrir  le  lendemain, 
et  de  recommencer. 

Est-il  rien  de  plus  vif  —  et  de  plus  actuel  —  que  les  re- 
flexions  du  vicomte  de  Launay  sur  „l'automne  ä  Paris"?  Ce  qui 
etait  vrai  en  1840,  ne  l'est-il  plus  en  1913?  Voyez  plutöt:  „Les 
theätres  renaissent,  le  public  rajeunit;  ce  n'est  plus  ce  parterre 
use  et  jugeur  de  l'hiver,  ce  public  hostile,  ce  tyran  jaloux  de 
ceux  qu'il  paye  pour  l'amuser,  que  tout  scandalise  et  que  rien 
n'enflamme;  ce  public  sature  de  plaisir,  grandi  dans  les  corridors 

730 


de  theätre;  ce  vieux  bellätre  de  foyer  qui  n'ose  sourire  parce 
qu'il  n'a  plus  de  dents;  cette  vieille  coquette  de  gaieries,  qui  ne 
veut  point  pleurer  de  peur  de  sillonner  son  rouge.  —  C'est  un 
public  naif,  joyeux  et  dispos,  ä  la  fois  juge  et  complice,  qui  vous 
aide  franchement  ä  le  faire  rire,  qui  vous  entraine  ä  l'emouvoir; 
un  public  bon  enfant  qui  ne  se  formalise  pas  de  ce  qu'on  l'amuser 
un  public  enfin  qui  croit  au  plaisir".  N'est-ce  pas  que  cela  pour- 
rait  etre  ecrit  par  un  chroniqueur  du  Gaulois  ou  du  Figaro? 

Les  „jolies  femmes  et  la  mode"  ne  seront  pas,  comme  bien 
Ton  pense,  pour  le  vicomte  de  Launay,  un  sujet  moins  ingrat^ 
Evidemment,  la  beaute  n'est  pas  aussi  capricieuse  que  la  mode. 
Ah !  la  mode,  qui  change  et  se  repete  infatigablemeni !  Que  ceux  qui 
ne  la  suivent  pas,  et  qui  retardent,  perseverent  un  lustre  ou  deux,. 
eile  les  aura  rejoints.  Et  tenez!  On  raffole  du  „marabout",  en 
1840,  apres  l'avoir  ignominieusement  delaisse.  W^^  de  Girardin 
se  moque  finement  de  la  versatilite  feminine:  „Les  marabouts 
(duvet  leger  qu'il  ne  faut  confondre  ni  avec  les  pretres,  ni  avec 
les  cafetieres  du  Levant)  sont  redevenus  ä  la  mode;  pourquoi? 
veut-on  le  savoir?  C'est  que  voilä  dix  ans  qu'ils  n'y  etaient  plus; 
car  la  Mode,  comme  la  Fortune,  a  une  roue  qui  tourne  sans 
cesse  et  ramene  alternativement  les  memes  choses.  Avoir  ete 
est  une  raison  pour  redevenir.  Voyez  plutöt  les  marabouts  et  les 
ministres."  Raillerie  pimpante  et  preste,  flamme  rapide  et  courte 
qu'allume  l'etincelle  de  l'esprit.  Ce  n'est  pas  un  discours  en  trois 
points  sur  un  theme  quelconque,  une  dissertation  savamment 
ordonnee  qui  descend  au  coeur  des  problemes.  C'est  une  brillante 
Improvisation  d'ingenieux  causeur. 

L'„histoire  de  voleur"  nous  montre  sous  une  tout  autre  face 
le  talent  du  vicomte  de  Launay.  Paul-Louis  Courrier  ne  Teüt 
pas  mieux  contee.  De  la  sobriete  sans  secheresse,  de  la  malice 
sans  mechancete,  l'art  d'effleurer  ce  qui  ne  vaut  pas  la  peine 
d'etre  creuse,  et  un  denouement  amene  avec  autant  d'adresse 
que  la  chute  d'un  bon  sonnet.  Une  fleur  d'anthologie,  un  bijou 
de  prose  fran^aise,  un  modele  de  recit  enjoue  et  palpitant. 

Mais  voici  que  M"^^  de  Girardin  invente  d'allechants  titres  de 
comedies,  qu'Edouard  Pailleron  lui  derobera  un  jour.  L'une  de 
ses  „lettres  parisiennes"  nous  conduit  dans  „le  monde  oü  Ton 
s'ennuie  et  le  monde  oü  Ton  s'amuse".  Cette  divertissante  revue . . . 

731 


des  deux  mondes  nous  arretera  un  instant.  A  cöte  du  monde 
grave,  depositaire  des  anciennes  croyances,  des  anciennes  vertus, 
chez  qui  la  dignite  est  plus  qu'une  nature  —  un  Systeme,  vous 
avez  l'autre,  „melange  d'incredulite  et  de  prejuges,  de  petites 
independances  et  de  grandes  preventions,  de  vieilles  manies  et  de 
besoins  nouveaux,  de  fantaisies  et  de  routines",  et  qui,  sans  etre  pire 
n'est  pas  meilleur  que  le  premier.  „Les  uns  disent:  lis  ne  sortent 
jamais,  ils  ont  de  vieux  ciievaux  qui  tirent  peniblement  de  vieilles 
caleches  fermees;  les  femmes  portent  de  petites  douillettes  mar- 
rons,  pauvres,  etroites,  et  ils  ont  deux  cent  mille  livres  de  rente! 
cela  fait  pitie!  Les  autres  disent:  ils  sont  toujours  en  fete,  ce 
sont  des  bals,  des  spectacles,  des  soupers  qui  n'en  finissent  pas; 
ils  rentrent  au  jour,  leurs  femmes  depensent  des  sommes  folles 
pour  leur  toilette,  et  ils  n'ont  jamais  le  sou!  cela  fait  pitie!" 
Autre  Chanson,  et  meme  refrain! 

Dans  une  chronique  sur  „les  journalistes  et  le  monde", 
M^"^  de  Girardin  se  plaint  avec  humour  de  la  fureur  des  gens  de 
plume  contre  les  salons:  „Ces  messieurs  parlent  des  salons  avec 
la  haine  de  gens  qu'on  en  aurait  excius."  Ailleurs,  eile  se  rit  de 
la  „legerete  fran^aise".  Est-il  de  plus  sötte  legende  que  celle-lä? 
„Quel  est  le  flatteur  qui,  le  premier,  a  ose  dire  que  les  Fran^ais 
etaient  un  peuple  leger?  Nous,  legers!  mais  il  n'existe  pas  de 
peuple  plus  grave,  plus  routinier  que  nous,  plus  maniaque.  Or, 
rien  n'est  moins  leger  qu'une  manie;  car  on  peut  vaincre  quelque- 
fois  une  passion,  mais  on  ne  triomphe  jamais  d'une  manie.  Nous, 
legers!  et  pourquoi  nous  dit-on  legers?  parce  que  nous  nous  occupons 
de  choses  frivoles?  mais  si  nous  nous  en  occupons  serieusement, 
cela  n'est  plus  de  la  legerete."  Si  l'esprit  fran^ais  est  leger,  l'es- 
prit  devrait  etre  leger  en  tous  pays.  Que  le  Fran^ais  meure  en  riant, 
cette  legerete  ne  serait-elle  pas  du  courage,  tout  uniment?  „Nous 
varions  un  peu  nos  rois,  mais  voilä  tout;  nos  plaisirs  ne  varient 
point,  nos  goüts  sont  eternels,  nos  modes  sont  d'une  solidite 
desolante  .  .  .  Les  Turcs  ont  quitte  le  turban,  mais  les  Fran^ais 
ne  quitteront  jamais  leur  chapeau  rond.  En  Espagne,  les  com- 
bats  de  taureaux  ont  pu  cesser  quelque  temps;  en  France,  les 
pirouettes  ne  cesseront  jamais.  Or,  ce  n'est  pas  un  peuple  leger 
que  celui  dont  les  danses  sont  lugubres,  dont  les  fantaisies  sont 
invariables,   dont  les  modes  sont  eternelles."     N'est-ce  pas  que 

732 


cette  caracteristique  du  Fran^ais  n'est  pas  trop  paradoxale,  ä  y 
regarder  de  pres?  On  peut  etre  mobile  sans  etre  changeant,  et 
faire  des  revolutions  pour  etaler  immediatement  apres  le  fond 
conservateur  de  la  race. 

Que  „le  chemin  de  fer  de  Saint-Germain",  le  premier  chemin 
de  fer  parisien,  est  bien  fran^ais,  lui!  O  merveille!  on  va  en 
vingt-huit  minutes  ä  Saint-Germain.  Un  roulement,  puis  bst,  on 
est  arrive.  Oui,  sous  le  doux  ciel  de  France,  „on  va  ä  Saint- 
Germain  en  vingt-huit  minutes,  c'est  vrai,  mais  on  fait  attendre 
les  voyageurs  une  heure  ä  Paris,  et  trois  quarts  d'heure  ä  Saint- 
Germain,  ce  qui  rend  la  promptitude  du  voyage  inutile".  On 
croirait  entendre  les  recriminations  des  Fran^ais  de  1913  ä  propos 
de  rOuest-Etat. 

Le  fosse  serait-il  comble,  qui  separe  „les  gens  qui  se  lavent 
les  mains  et  les  gens  qui  ne  se  lavent  pas  les  mains"?  11  etait 
large  et  profond,  du  temps  de  M'"^  de  Girardin.  „Vous  aurez 
beau  faire  des  lois,  prophetise-t-elle,  donner  des  libertes,  octroyer 
des  chartes,  supprimer  les  impöts,  ces  deux  nations  seront  tou- 
jours  ennemies."  11  ne  semble  pas  que  le  pessimisme  de  l'aristo- 
cratique  vicomte  de  Launay  ne  soit  plus  de  saison.  L'auteur  des 
„lettres  parisiennes"  s'egare  volontiers  dans  les  chemins  raboteux 
de  la  politique.  L'egalite,  que  des  orateurs  populaires  se  flattent 
de  realiser  ici-bas,  ne  lui  inspire  que  des  plaisanteries  pueriles  et 
dröles:  „Ainsi,  voilä  le  peuple  qui  veut  qu'on  aille  ä  pied!  Et 
pas  un  sellier  n'a  reclame  contre  cet  arret.  11  est  evident  qu'au 
sein  de  l'emeute  les  cordonniers  avaient  la  majorite  .  .  .  A  quoi 
bon  aussi  une  robe  de  satin  blanc  ou  de  velours  bleu  de  ciel, 
pour  courir  sur  les  trottoirs?  une  robe  de  laine  suffit.  Miez  donc, 
ouvriers  de  notre  bonne  ville  de  Lyon,  quittez  vos  ateliers:  allez, 
vous  etes  libres.  Nous  ne  voulons  plus  d'ouvriers,  plus  de  tra- 
vail  pour  vous;  soyez  heureux,  et  redevenez  citoyens."  On  crie 
au  tyran.  Ce  n'est  pas  le  roi  qui  est  le  tyran ;  c'est  le  journaliste, 
„dont  on  admire  les  faiblesses,  dont  on  consacre  les  mensonges", 
et  qui  Souffle  le  mecontentement  sur  la  France. 

11  est  preferable  de  ne  pas  accorder  une  importance  exageree 
aux  partis-pris  politiques  du  vicomte  de  Launay.  M^^^  de  Girardin 
est  femme,  ce  qui  signifie  que  les  affaires  des  salons  lui  sont 
plus  familieres   que  Celles  des  parlements  ou   des  reunions   pu- 

73a 


bliques.  Lorsqu'elle  tonne  contre  les  „tartufes  de  la  liberte",  eile 
oublie  qu'elle  sort  de  son  role  et  qu'elle  force  sa  maniere.  Elle 
reussit  mieux  ä  narrer  les  tribulations  du  „jeune  homme  aux  mille 
serins",  ä  definir  „le  caractere  d'apres  la  parure",  ou  ä  s'egayer 
de  „ranimal  ä  la  mode",  —  qui  etait,  sous  Louis-Philippe,  „tout 
simplement  une  tortue,  mais  une  toute  petite  tortue  rapportee  ou 
envoyee  d'Afrique". 

Oü  le  vicomte  de  Launay  est  incomparable,  c'est  quand  il 
n'est  qu'un  moraliste  mondain.  Toutes  ses  qualites,  et  meme  ses 
mignons  travers,  le  servent  ä  souhait.  11  a  du  trait,  du  brio,  de 
la  gräce,  pas  plus  de  scepticisme  qu'il  n'est  besoin  d'en  avoir,  et 
plus  de  Penetration  que  nombre  de  graves  psychologues.  Quels 
sont  nos  defauts  profitables  et  nos  vertus  nuisibles?  La  reponse 
est  delicieuse:  „Un  philosphe  a  dit:  connais-toi  toi-meme!  Oui, 
si  tu  veux  rester  philosophe,  vivre  en  philosophe,  c'est-ä-dire  ne 
pretendre  ä  rien,  n'arriver  ä  rien.  Pour  vivre  ainsi,  connais-toi 
tant  que  tu  voudras;  tu  peux,  sans  risques,  te  donner  ce  pauvre 
plaisir  .  .  .  Mais  si  tu  veux  vivre  avec  tes  semblables,  si  tu  veux 
faire  ton  chemin  et  arriver  ä  la  fortune,  garde-toi  bien  de  te  con- 
naitre,  ne  t'etudie  point,  ne  t'analyse  point,  ne  t'interroge  point, 
marche  droit,  marche  vite,  sans  regarder  derriere  toi  ni  devant 
toi.  Oh!  garde-toi  de  te  connaitre;  car,  du  jour  oü  tu  appren- 
drais  ce  que  tu  es,  tu  saurais  ä  quoi  tu  peux  pretendre  et  tu  serais 
pour  toujours  decourage.  Avoir  le  secret  de  ses  forces,  c'est 
souvent  decouvrir  qu'on  n'est  bon  ä  rien."  Tous  les  parvenus,  si 
orgueilleux  d'avoir  agrippe  les  plus  hauts  emplois,  ne  croupiraient- 
ils  pas  dans  l'obscurite  finale  s'ils  avaient  pratique  la  maxime 
du  sage? 

Leur  modestie  les  aurait-elle  prives  d'un  bonheur  que 
leur  presomption  leur  a  valu?  La  presomption !  il  n'est  pas  de 
plus  profitable  defaut.  A  lui  seul,  il  est  une  fortune.  Comme 
la  complete  ineptie:  „Vous  avez  deux  jeunes  cousins:  Tun  est  un 
gar^on  plein  de  courage,  d'activite,  d'intelligence;  vous  reconnais- 
sez  son  merite,  en  disant:  Ah!  celui-lä  ne  m'inquiete  pas.  Et, 
en  effet,  vous  ne  prenez  nul  soin  de  son  destin.  Vous  ne  lui 
donnez  ni  aide,  ni  protection :  vous  le  laissez  piocher  tout  ä  son 
aise  et  se  tirer  d'affaire  comme  il  peut  .  .  .  Mais  il  a  un  frere 
qui  est  un   parfait  imbecile;   il  ne  sait  pas  l'orthographe,  il  est 

734 


incapable  d'exercer  la  moindre  profession;  celui-lä  vous  inquiete, 
car  vous  avez  mllle  desagrements  ä  redouter  de  sa  part.  Alors, 
vous  rassemblez  toute  votre  famille,  et  vous  vous  dites  avec  anxiete: 
Que  ferons  nous  d'Auguste  ?  Et  vos  parents,  consternes,  sachant  ce 
qu'on  peut  attendre  du  jeune  sire,  se  regardent  entre  eux  et  re- 
petent:  Que  ferons-nous  d'Auguste?  il  n'arrivera  jamais  ä  rien 
par  lui-meme,  il  faut  le  placer  dans  quelque  administration  (pauvre 
administration !)  ou  lui  faire  avoir  quelque  emploi  du  gouverne- 
ment  (pauvre  gouvernement!).  Que  Dieu  vous  preserve  d'Au- 
guste!" On  multipliera  les  demarches  pour  Auguste.  11  aura  sa 
place  et  il  ne  la  perdra  que  pour  en  trouver  une  meilleure,  —  les 
bonnes  places  etant  Celles  oü  il  n'y  a  rien  ä  faire.  Son  frere, 
ecrase  sous  le  poids  de  son  inteliigence  et  de  son  ardeur  au 
travail,  est  de  ces  pietons  robustes  qui  vont  moins  vite  que  les 
sots  en  voiture. 

Un  autre  defaut  tres  recommandable:  la  susceptibilite.  On 
ne  traite  pas  sans  fa^on  une  personne  susceptible.  On  la  menage, 
on  la  caresse,  on  s'epuise  pour  eile  en  attentions  et  prevenances. 
L'entetement  est  un  autre  defaut  de  rapport.  Comme  la  brutalite, 
puisqu'il  n'est  pas  d'argument  plus  irresistible  qu'un  orage.  Et 
la  versatilite  n'est  point  ä  dedaigner,  surtout  en  politique.  Quant 
aux  vertus,  dame,  les  plus  belies  ne  sont  pas  les  plus  avanta- 
geuses:  „La  bonte  ne  nuit  pas  precisement,  mais  eile  deconsidere. 
La  franchise  vous  fait  passer  pour  un  fou,  et  l'independance 
pour  un  original.  L'impartialite  vous  isole."  Quant  ä  la  deli- 
catesse,  il  n'est  pas  de  vertu  plus  dangereuse.  Eh  quoi!  on  l'a 
dit  en  vers: 

C'est  que  de  tels  efforts  si  grandement  sublimes, 
Si  monstrueux  en  bleu,  ressemblent  ä  des  crimes! 
Le  monde  est  effraye  des  trop  beaux  sentiments. 
II  voit  dans  leur  exces  d'affreux  egarements: 
II  ne  peut  les  comprendre;  il  juge  de  sa  place. 

Un  romanesque  amour  du  bien,  une  heroi'que  generosite,  un 
desinteressement  pousse  jusqu'ä  la  pruderie,  mais  tout  cela  dis- 
cret  et  comme  enveloppe  de  mystere,  froisse  le  prochain,  fait  le 
desespoir  des  amis:  „Les  gens  doues  de  cette  qualite  fächeuse 
dont  nous  parlons  sont  remplis  d'une  si  noble  dissimulation! 
Comment  pourrait-on  jamais  les  comprendre  et  les  forcer  ä  s'ex- 

735 


pliquer?  11s  mettent  toute  leur  delicatesse  ä  cacher  leur  delica- 
tesse."  Serait-ce  donc  que  les  defauts  profitent  et  que  les  quaiites 
nuisent  invariablement?  Non:  „Se  priver  d'un  brillant  destin  pour 
rester  consequent  avec  ses  principes,  se  sacrifier  ä  une  idee  qui 
doit  ne  vous  rapporter  que  des  ennuis,  savoir  qu'on  sera  mal 
juge  et  braver  ce  cruel  jugement  des  hommes,  cela  est  beau: 
c'est  tout  simplement  prouver  DIeu." 

Ces  extraits  auront-ils  suffi  ä  marquer  le  charme  rare  des 
„lettres  parisiennes"  ?  Nous  avons  ici  la  fine  fleur  de  l'esprit 
fraiKjais.  II  y  eut  des  chroniqueurs  plus  spontanes,  de  plus  de 
verve  et  plus  eblouissants  que  le  vicomte  de  Launay.  11  n'en  est 
pas  qui  aient  eu  plus  que  lui  la  vocation  de  ce  genre  leger  et 
difficile.  M"'«  de  Girardin  a  elle-meme  senti  qu'elle  vivrait  par  ses 
„commerages"  plus  longtemps  que  par  ses  vers  ou  son  theätre. 
Nos  vers,  ce  n'est  que  nous,  et  que  demeure-t-il  d'un  poete  sans 
genie?  Nos  „commerages",  c'est  nous  encore,  mais  c'est  aussi 
notre  epoque,  „dont  les  moindres  recits,  les  plus  insignifiants 
Souvenirs  auront  un  jour  un  puissant  interet,  un  inestimable  prix". 
On  ne  reeditera  pas  le  Bonheur  d'etre  belle,  ni  Ourlka,  ni  la 
Vision  de  Jeanne  d'Arc.  On  a  reedite  les  Lettres  parisiennes, 
et,  en  terminant,  nous  remercierons  M.  Roger-Cornaz  qui  a  mis 
ces  petits  chefs-d'oeuvre  ä  la  portee  de  tous. 

VIRGILE  RÖSSEL 

ODD 


Pourquoi  cette  folie? 

Parce  qu'il  y  a  une  äme  cachee,  des  puissances  aveugles,  des  demons 
que  chacun  porte  emprisonnes  en  soi.  Tout  notre  effort,  depuis  que  l'hu- 
manite  existe,  a  ete  d'opposer  ä  cette  mer  Interieure  les  digues  de  notre 
raison  ou  de  nos  religions.  Mais  que  vienne  une  tempete  (et  les  ämes  les 
plus  riches  sont  les  plus  sujettes  aux  tempetes),  que  les  digues  aient  cede» 
que  les  demons  aient  le  champ  libre,  qu'ils  se  trouvent  en  presence  d'au- 
tres  ämes  que  soulevent  des  puissances  semblables  ...  ils  se  jettent  Tun 
sur  l'autre.  Haine  ou  amour?  Fureur  de  destruction  mutuelle?  —  La  pas- 
sion,  c'est  l'äme  de  proie. 

Le  buisson  ardent  Romain  Rolland 

DDD 


736 


HELENE  VON  WILLEMOES 

Die  literarische  Überprodul^tion  ist  ins  Ungeheure  gestiegen. 
Jahr  auf  Jahr  schenkt  uns  Gedichte,  Romane,  Dramen  in  Fülle. 
Und  wenn  man  sich  fragt,  was  bringen  diese  Schöpfungen  an 
Mehr,  an  Bleibendem,  dann  wäre  man  versucht,  mit  Nietzsche  zu 
wünschen,  dass  auf  das  Schreiben  die  Todesstrafe  gesetzt  würde. 

Insonderheit  die  dramatische  Produktion  der  letzten  Jahre 
hat  die  ernsthaften  Kritiker  skeptisch  gemacht;  außerordentlich 
skeptisch. 

Welches  dieser  Stücke  brachte  uns  mehr  als  die  Befriedigung 
der  Bedürfnisse  einer  Saison,  erhob  sich  über  Augenblickswünsche 
eines  Jahres  oder  Jahrzehntes?  Welches  entließ  uns  mit  „Ge- 
danken"? Mit  Gedanken,  aus  denen  wir  ein  Leben  lang  schöpfen 
konnten?  Welches  brachte  uns  selber  dem  Sinn  des  Lebens 
näher?  Welches  löste  und  erlöste  in  uns  die  Schauer  tiefer  Er- 
kenntnis?—Man  sehe  sich  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  unsere 
Dramenliteratur  der  letzten  Jahrzehnte  an. 

Wenn  ich  es  da  unternehme,  über  einen  Dramatiker  zu  spre- 
chen und  nur  von  Dramen,  so  wird  man  mir  glauben  müssen, 
dass  die  literarische  Erscheinung,  von  der  die  Rede  sein  soll,  über 
den  Rahmen  des  Alltäglichen  hinausragt. 

Diese  Erscheinung  wird  um  so  merkwürdiger  und  um  so 
weniger  glaubwürdig,  als  es  sich  um  einen  Dramatiker  handelt, 
der  eine  Frau  ist.  Das  Dramatische  war  der  Frau  bis  jetzt  ver- 
sagt, ebenso  wie  die  schöpferische  Musik.  Der  Dramatiker  muss 
in  hohem  Maße  Selbstzucht  üben  können  und  es  verstehen,  seine 
Gedanken  in  komprimierte  Form  zu  fassen,  er  muss  eine  gewisse 
Veranlagung  zum  Heroischen  haben  —  die  Begabung  auch  der 
wertvolleren  unter  den  dichtenden  Frauen  ist  eine  lyrische  oder 
epische.  Wer  aber  eine  Tragödie  wie  den  „Savonarola"  liest, 
wird  schwerlich  die  Hand  einer  Frau  spüren.  ~  In  der  Tat,  das 
ist  das  Auszeichnende  an  der  Kunst  Helene  von  Willemoes' :  diese 
Werke  hat  kein  „Weib"  geschaffen,  auch  kein  „Mann"  —  nein: 
ein  Mensch. 

Aber  wer  erfasste  dies  Wort  in  seiner  ganzen  Tiefe  und  er- 
schöpfte es?    Ein  Mensch,  der  weit  und  allgemein  genug  wäre, 

737 


ein  Dichter  zu  sein!  „Ist  doch  der  Dichter  der  allgemeine  Mensch," 
sagt  Schopenhauer,  „alles,  was  irgend  eines  Menschen  Herz  be- 
wegt, und  was  die  menschliche  Natur  in  irgend  einer  Lage  aus 
sich  hervortreibt,  was  irgendwo  in  einer  Menschenbrust  wohnt 
und  brütet,  ist  sein  Thema  und  sein  Stoff." 

Der  kürzlich  in  den  Süddeutschen  Monatsheften  erschienene 
Sieger  behandelt  eine  Gestalt,  an  die  sich  so  viele  gewagt, 
ohne  sie  meistern  zu  können.  Ist  das  Napoleonproblem  hier 
auch  nicht  erschöpft,  ist  es  mehr  eine  Studie  und  Vorübung,  so 
fühlen  wir  doch:  hier  ist  ein  Großer  von  einem  vollwertigen  Geist 
erfasst.  Nur  ein  Bild!  Aber  die  diktatorische  Gewalt  der  napo- 
leonischen Gestalt  ist  wie  eine  scharfumrissene  Silhouette  an  einen 
gewitterdunklen  Himmel  gezeichnet,  in  ein  paar  Momenten  rast 
eine  Glut  über  die  Bühne,  eine  lang  und  schwer  verhaltene  Lei- 
denschaft bricht  jäh  hervor  —  und  doch  kein  unzartes  Wort, 
nirgends  die  entfesselte  Bestie.  Maß  und  Beherrschung  der  Form 
gemischt  mit  bebender  Leidenschaft  scheint  mir  das  Kennzeichen 
dieser  Kunst. 

Ein  Motiv,  das  im  „Sieger"  verwendet  ist,  finden  wir  in  einigen 
andern  Stücken  Helene  von  Willemoes':  das  sehnende,  suchende 
Weib.  Bald  ist  es,  wie  in  der  Dw5/ („Frühlingstreiben",  ein  Lust- 
spiel), wo  eine  holdselige  liebliche  Menschenknospe  sich  dem  Tau 
des  Lebensmorgens  öffnen  will,  wo  unter  silbernem  Lachen  und 
Schellengeläute  eine  Mädchengestalt  zum  Weibe  geformt  wird; 
bald  ist  es,  wie  in  der  Maria  della  Salute  die  Frau  im  Lebens- 
mittag. Die  Frau,  die  ein  halbes  Leben  lang  entbehrt  und  ge- 
schwiegen, getragen  und  gelächelt,  um  dann,  als  endlich,  endlich 
die  Stunde  naht,  als  das  Glück,  die  Lösung,  die  Erlösung  am 
nächsten  —  ein  gellendes  Zuspät  zu  hören.  —  Dann  wieder  eine 
Gestalt  wie  Tatjana  Purtscheloff.  Herbe,  hoheitsvolle  Züge.  Nicht 
das  schelmische  Lächeln,  das  schalkhafte  Schmollen,  die  hindernis- 
losen Einfälle  einer  Dusi  —  nicht  die  himmelhoch  lodernde  Glut 
einer  Anna,  nicht  das  hastige  stürmende  Drängen  der  Maria  della 
Salute:  ernst  und  gemessen  tritt  uns  diese  Frau  entgegen;  es  ist, 
als  halte  der  Hauch  der  nordischen  Steppe  diese  Frau  umfangen. 
Freilich,  auch  in  ihr  lebt,  wie  in  den  übrigen  weiblichen  Figuren, 
Helene  von  Willemoes'  bebende  Glut  und  suchende  Sehnsucht. 
Sie  streckt   die  Arme    aus,    sehnsuchtsvoll    verlangend,    wie   der 

738 


Jüngling   auf  Thomas  Bild    die    Hände    erhebt   zu    den  Wunder- 
vögeln, die  am  Himmel  hineilen. 

Allein  Helene  von  Willemoes  hat  sich  nicht  auf  Probleme 
der  Frauenseele  beschränkt;  sie  hat  auch  dargestellt,  wie  die 
Probleme  des  Werdens  und  Seins  in  der  Seele  des  Mannes  aus- 
gefochten  werden;  ja,  vielleicht  liegt  hier  ihre  Hauptstärke,  und 
eine  ihrer  Hauptgestalten,  ihr  Savonarola  (Tragödie  in  fünf 
Akten),  erhebt  sich  denn  auch  zu  einem  rein  menschlichen 
Problem. 

Auf  einem  farbenprächtigen  Hintergrunde,  dem  Florenz  von 
Lorenzo  il  magnifico,  spielt  sich  die  Handlung  ab.  In  Glanz, 
Geist,  Licht  und  Schönheit  gefüllt  —  Lorenzo ;  im  härenen  Büßer- 
gewand —  Savonarola.  Zwei  Welten  prallen  aufeinander.  Der 
Kampf,  der  damals  im  fünfzehnten  Jahrhundert  begonnen  und 
geführt  wurde,  ist  heute  noch  nicht  entschieden :  der  Kampf,  den  jeder 
kennt,  der  mit  dem  Leben  rang.  Die  Zwiespältigkeit  unserer 
Seele  ist  hier  in  die  Außenwelt  projiziert.  Wie  Mephisto  den  derb 
sinnlichen  Teil  unserer  Seele,  das  unbewusste  Triebleben  in  uns 
verkörpert  und  Faust  jene  zweite  Seele,  die  gewaltsam  sich  vom 
Dunst  zu  den  Gefielden  hoher  Ahnen  hebt,  so  hat  hier  ein  Zeit- 
genosse den  Kampf  unserer  Seelenmächte  uns  zum  Bewusstsein  ge- 
bracht in  Lorenzo  und  Savonarola.  Der  Medicäer  ruft  Savonarola 
zu:  „Wir  beide  wollen  des  Volkes  Glück.  Ihr  für  das  Jenseits,  ich 
für  das  Diesseits.  Ihr  reicht  ihm  das  Kreuz,  ich  den  vollen  Becher. 
Weil  ich  nun  einmal  weiß,  dass  Freude  allein  die  Macht  besitzt, 
den  Menschen  brauchbar  zu  erhalten."  Allein  Savonarola  sieht 
in  dem  Trunk  aus  vollem  Becher  kein  „Glück",  er  sieht  darin 
Betäubung  und  Feigheit,  er  predigt  den  „Segen  der  Not":  „Weil 
du  das  Morgen  scheust,  raubst  du  dir  das  Heute.  Eine  Brand- 
fackel zündest  du  an,  um  die  große  Finsternis  nicht  zu  sehen, 
die  in  dir  lauert.  Weil  du  den  Anblick  des  Richters  in  dir  nicht 
ertragen  kannst,  erwürgst  du  ihn!  Täglich,  stündlich  begehst  du 
Mord  an  deiner  Seele  I  Gegen  ihre  Stimme,  die  leise,  leise  spricht, 
lässt  du  all  deine  Raubtiere  los,  damit  sie  mit  ihrem  Brüllen  diese 
Stimme  ersticken.  Freude,  Lust,  Liebe,  Tanz,  Musik,  das  sind 
die  Würgengel  Eures  besten  Kindes  in  Euch!  O,  dass  ihr  die 
Scham  nicht  verloren  hättet!  Die  Scham  Eurer  Seele!  Dass  ihr 
sie   hörtet,  wie  sie   bittet  und  fleht  —  und  weint  —  und  Euch 

739 


verspricht,  das  einzige  Gut  verspricht,  das  ein  Gut  ist  —  da  es 
von  Gott  kommt  und  zu  Gott  führt." 

Goethe  hat  diesen  Kampf  in  sich  oft  und  tief  erlebt  und  ihm 
im  Faust  schwermütigen  Ausdruck  gegeben.  Allein  selbst  der 
zahmere  Jenenser  Freund  kannte  ihn  und  sang:  „Zwischen 
Sinnenglück  und  Seelenfrieden  bleibt  dem  Menschen  nur  die 
bange  Wahl." 

Aber  Helene  von  Willemoes  wirft  nicht  wie  unsere  Modernen 
die  Frage  auf,  um  uns  in  bangem  Zweifel  zu  entlassen:  sie  gibt 
die  Lösung.  Das  ist  etwas,  was  sie  vor  den  meisten  unserer 
heutigen  Dramatiker  voraus  hat.  So  sehen  wir  den  Savonarola 
zu  seiner  Höhe  emporwachsen ;  er  ist  kein  Fertiger. 

Vom  blassen  Mond  beschienen  sitzt  der  Mönch  im  Kloster- 
garten, einsam,  tief  in  Gedanken  .  .  .  „Aller  Anfänge  Anfang,  aller 
Enden  Ende  ist  die  Liebe.  Und  zwischen  drinn  ist  Hast  und 
Hader,  Kampf  und  Not  .  .  .  Unsere  Seele  dehnt  sich  und  sehnt 
sich  —  unser  Auge  leuchtet  und  feuchtet  —  unsere  Hände  schwei- 
fen und  greifen  nach  Liebe  — -  und  unser  Fuß  tritt  und  zertritt 
die  Liebe."  —  Dem  Freunde,  der  ihm  naht,  gesteht  er  es:  „Ich 
bin  müde,  Domenico,  müde."  Ihm,  dem  Unermüdlichen,  dem 
Unentwegten,  der,  ähnlich  wie  Ibsens  „Brand",  hinstürmte  seinen 
Weg  über  Eis  und  Gletscherspalten,  unbekümmert  um  Natur  und 
Menschliches,  der  starr  an  seiner  Wahrheit,  der  unter  Schmerzen 
erkämpften,  festhielt,  muss  eine  Stunde  tieferer  Erkenntnis  ge- 
naht sein.  —  Er  hat  die  Beschränkung  in  der  Zeit  erkannt.  Er 
sieht,  welch  winzige  Spanne  Zeit  das  Leben  des  Individuums 
ausmacht.  Die  Wahrheit  gibt  es  nicht.  Es  ist  ein  ewig  Neu- 
erkennen, Neusuchen.  —  Während  er  sich  im  ersten  Akt  für  eine 
„Geißel  Gottes"  hält,  die  da  „gesandt  worden  ist,  aufzuräumen 
und  hinwegzufegen",  tönt  heute  wehmutsvoll  der  leise  Schrei  nach 
Liebe  aus  seiner  Seele.  Er,  der  des  Medicäers  schönheitsdurstiges 
Suchen  verflucht  und  sündig  gescholten,  fragt  seufzend:  „Was 
ist  Sünde?" 

Nun  er  einmal  zweifelnd  geworden,  unsicher,  schwankend, 
ist  er  auch  reif  für  eine  Weiter-  und  Aufwärtsentwicklung.  Sein 
Niedergang  beginnt  —  sein  Aufstieg  im  Sinne  Zarathustras.  Der 
Savonarola,  der  uns  am  Schluss  entgegentritt,  ist  der  Ausdruck 
und  Verkünder  einer  neuen  Welt.    In  Stunden  ist  er  der  Zeit  um 

740 


Jahrhunderte  vorausgeeilt,  als  der  Mensch  der  Zukunft  steht  er 
da;  wir  fühlen  die  tragische  Notwendigkeit  seines  Todes  —  es 
ist  für  ihn  kein  Raum  mehr  in  dieser  Welt.  —  Rückwärtsblickend 
überschaut  er  sein  Leben.  Er  sieht  sein  eigenes  Tun,  seine  Fehler, 
die  notwendig  waren,  die  innere  Entwicklung,  die  er  durchgemacht. 
Anders  ist  es  gekommen  als  er  gehofft;  aber  dieser  neue  Weg 
ist  der  notwendige.  —  Er  erkennt,  dass  Lorenzos  Welt  auch  ihr 
Recht  hat,  dass  er  (Savonarola)  in  hochmütiger  Beschränktheit 
eine  Vollendung  angestrebt,  wo  es  auf  Erden  nur  „ein  Beginnen, 
ein  Vorwärts  oder  auch  ein  Rückwärts",  aber  nie  „ein  Vollenden" 
gibt.  „Die  Erfüllung  liegt  jenseits."  —  Nun  ist  eine  tiefe  Ruhe 
über  ihn  gekommen.  Er  ist  bereit  für  das  Ende.  Zu  tief  hat  er 
„geschaut",  als  dass  der  Tod  ihn  schrecken  könnte.  —  In  dem 
Abschied  von  seinen  Freunden,  in  den  Trostworten,  die  er  den 
Bleibenden  schenkt,  erhebt  sich  Savonarolas  Gestalt  zu  der  Größe, 
die  ihr  im  Tiefsten  innewohnt.  —  Noch  einmal  tritt  das  Leben 
lockend  und  versuchend  an  ihn  heran:  es  winkt  ihm  für  einen 
Augenblick  Befreiung.  —  Er  will  nicht.  Er  hat  sein  Gethsemane 
hinter  sich.  Noch  bewegt  er  einmal  die  Lippen,  als  wolle  er 
antworten,  dann  betritt  er  stumm  den  Todesweg. 

Der  Savonarola  ist  1901  in  Weimar  aufgeführt  worden. 
Zweimal.  Mit  großem  Erfolg.  Ein  Jahr  darauf  erschien  er  bei 
Franz  Grunert,  Berlin,  in  Buchform.  Literaturkenner,  wie  Erich 
Schmidt  und  Ferd.  Gregory,  sprachen  sich  über  das  Stück  mit 
Bewunderung  aus. 

Trotzdem  blieb  Savonarola  bis  heute  im  Dunkeln.  Wenn 
ein  Werk  von  der  literarischen  Bedeutung  des  Savonarola  seit 
zehn  Jahren  unter  uns  lebt,  ohne  zu  „leben",  so  muss  das  tiefere 
Gründe  haben.  In  der  Tat,  es  war  noch  die  Zeit,  in  der  man 
auf  der  Bühne  nur  den  nüchternsten  Realismus  gelten  lassen 
wollte.  Die  gebändigte  Kraft  großzügiger  Leidenschaft  wurde 
Idealismus  geschimpft,  Epigonentum  und  überwundenes  Pathos 
nach-Schillerscher  Zeit;  man  glaubte  ihr  nicht!  Zumal,  wenn  sie 
aus  der  Seele  einer  Frau  kam.  Man  verwechselte  Wirklichkeit 
mit  Wahrheit.  Heute  ist  das  anders  geworden.  Wir  streben  vom 
Realismus  los,  die  Neo-Romantik  in  der  Dramatik  kann  für  die 
ernsthaften  Sucher  nur  einen  Übergang  bedeuten;   wir  erwarten 

741 


seit  Jahren  die  Synthese  von  Realismus  und  Idealismus  und  die 
Kunst  Helene  von  Willemoes  bahnt  uns  hier  den  Weg. 

Dass  auch  ihre  Sprache  für  damalige  Zeiten  ungenießbar  sein 
musste,  geht  aus  dem  eben  Gesagten  hervor.  Die  Schauspieler 
konnten  Berliner  Jargon  oder  schlesischen  Dialekt  sprechen,  die 
Musik,  die  in  den  Worten  liegt,  die  Lorenzo  und  Donna  Lucrezia 
wechseln,  fand  keine  Ohren,  geschweige  Zungen.  Die  süße  Me- 
lodik guter  Prosa  war  damals  wie  Perlen  im  biblischen  Sinne.  Zu 
diesen  inneren  Gründen  kamen  noch  äußere.  Den  großen  Bühnen 
katholischer  Länder  musste  das  Stück  bei  unsern  absonderlichen 
Begriffen  von  Religion  und  Kunst  verschlossen  bleiben.  Privat- 
bühnen, die  eine  Aufgabe  wie  den  „Savonarola"  hätten  meistern 
können,  gab  es  vor  zehn  Jahren  wenige. 

Das  letzte  Stück  der  Dichterin,  das  mir  zu  Gesicht  kam, 
stammt  aus  dem  Frühling  1911.  Tatjana  Purtscheloff  ist  auf 
einem  anderen  Boden  gewachsen  als  der  Savonarola  oder  die 
Maria  della  Salute.  Ohne  damit  eine  graduelle  Wertung  auszu- 
drücken muss  ich  dies  vorausschicken.  Hier  war  es  der  Stoff 
und  die  Gelegenheit,  welche  die  Dichterin  inspirierten.  Einer 
glücklichen  Anregung  und  Unterstützung,  die  von  anderer  Seite 
kam,  verdanken  wir  dies  letzte  Werk,  ein  Stück  voll  Leben,  Be- 
wegung und  Sturm.  Der  Stoff  ist  der  russischen  Revolution 
entnommen.  Eine  Fülle  von  Gestalten;  Menschen  von  Blut  und 
Mark;  eine  echte  Kinderszene ;  eine  bis  zur  Grenze  des  Möglichen 
getriebene  Konzentration  im  Ausdruck;  eine  dramatische  Stei- 
gerung, die  selbst  beim  Lesen  den  Atem  benimmt,  —  und  in 
wenigen  Stunden  sind  Menschenschicksale  ausgekämpft,  Leben 
und  Sterben  entschieden,  und  geläutert  erhebt  sich  eine  ringende 
Seele. 

ZÜRICH  HERBERT  OCZERET 


742 


PARSIFAL 

Wagner  hat  gehofft,  durch  seine  Werke  eine  Regeneration 
der  Menschheit  heraufzuführen.  Dürfen  wir  behaupten,  dass  wenig- 
stens der  Anfang  dieser  Wiedergeburt  zu  spüren  ist?  Eine  vor- 
urteilsfreie Beurteilung  der  Wirkung  der  Wagnerschen  Kunst  muss 
diese  Frage  bisher  mit  einem  entschiedenen  Nein  beantworten. 
Noch  immer  dürfte  der  Meister  dieselbe  Klage  wie  zu  seinen 
Lebzeiten  erheben,  dass  sein  Erfolg  beim  Publikum  auf  einem 
Missverständnis  beruhe.  Denn  das,  was  meist  in  Wagner  gefunden 
wird,  ist  nicht  das,  was  er  geben  wollte.  Man  schwärmt  für  seine 
Musik  und  ahnt  oft  nicht  einmal,  dass  sie,  losgelöst  von  der  sie 
begleitenden  Sprache  und  mimischen  Bewegung  und  dem  durch 
Wort,  Ton  und  Gebärde  wiedergegebenen  Gedanken,  gerade  das 
Gegenteil  von  ihrem  eigentlichen  Zweck  bewirkt,  nämlich  Rausch 
statt  neuer  Kraft.  Das  ist  sehr  zu  beklagen.  Wir  verlieren  da- 
durch Werte,  die  wir  gerade  in  unserer  schnell  lebenden  Zeit  für 
die  Erhaltung  und  Entwicklung  des  „Herzensmenschen"  in  uns 
nicht  entbehren  können.  Es  geht  Manchem  wie  dem  „tumben" 
Parsifal.  Die  Ritter  singen  von  Glauben  und  Erlösung,  Amfortas 
klagt  in  höchster  Not,  der  Gral  leuchtet,  aber  er  leuchtet  nicht 
für  ihn.  Er  sieht  und  hört  und  steht  staunend  da,  aber  es  ist 
ihm  nicht  ein  eigenes,  inneres  Erlebnis,  weil  er  nicht  weiß,  was 
das  alles  ihm  bedeute.  Darum  wird  der  tumbe  Parsifal  hinaus- 
gewiesen, und  die  Tore  der  Gralsburg  schlagen  hinter  ihm  zu. 
Er  hat  die  Gelegenheit,  zu  fühlen,  was  er  soll  und  was  auf  ihn 
wartet,  versäumt.  Und  doch  ist  er  gerade  derjenige,  der  berufen 
ist,  den  verlorenen  heiligen  Speer  zurückzugewinnen,  das  verratene 
Heiligtum  aus  schuldbefleckten  Händen  zu  befreien  und  damit 
zugleich  Kundry,  der  Unseligen,  der  Erlöser  zu  werden,  den  sie 
sucht  von  Welt  zu  Welt. 

Parsifal  und  Kundry  gehen  durch  eine  schmerzliche,  aber 
notwendige  Entwicklung.  Sie  suchen  ihre  Lebenserfüllung  lange 
Zeit  dort,  wo  sie  ihnen  nie  und  nimmer  zuteil  werden  kann.  Sie 
in  einer  Liebe,  von  der  sie  selbst  fühlt,  dass  sie  ihr  nicht  gibt, 
was  sie  eigentlich  will.  Er  im  Kampf  gegen  diese  Liebe,  weil  er 
nicht  sieht,   welch  tiefe  Sehnsucht  in  ihr  zum  Lichte  drängt  und 

743 


welche  Aufgabe  ihn  in  ihr  erwartet.  Irrende  sind  beide,  und 
doch  sind  beide  auf  dem  rechten  Weg.  In  ihrem  Begehren  und 
Widerstreben  liegt  auch  schon  ihr  höheres  und  bestes  Wollen. 

Die  Dichtung  Parsifal  wurde  von  Wagner  1877  vollendet, 
die  Partitur  1882,  aber  schon  etwa  dreißig  Jahre  vorher  stieg  in 
ihm  in  einer  entscheidenden  Entwicklungsperiode  seines  Lebens 
zum  ersten  Mal  die  Ahnung  von  der  Bedeutung  des  Grals  auf, 
zu  gleicher  Zeit,  als  er  den  Ring  des  Nibelungen  skizzierte.  Das 
ist  sehr  bemerkenswert.  Glaubte  er  doch  damals  in  der  Be- 
arbeitung der  Nibelungensage  seine  optimistische  Weltanschauung 
zum  Ausdruck  zu  bringen.  Man  begreift  also  nicht  recht,  was 
neben  dem  Hort  der  Gral  noch  zu  leisten  haben  sollte,  wenn 
man  nicht  annehmen  will,  Wagner  habe  damals  schon  gespürt, 
dass  dieser  vermeintliche  Optimismus  in  Anlehnung  an  eine 
Feuerbachsche  hellenistische  Glückseligkeitslehre  nicht  den  tiefsten 
Ton  seiner  Seele  schwingen  ließ.  Und  so  war  es  auch.  Denn 
einige  Jahre  später  erfuhr  Wagner  durch  die  Bekanntschaft  mit 
Schopenhauers  Schriften  zu  seinem  eigenen  Erstaunen,  dass  ihm 
dessen  Pessimismus,  den  er  theoretisch  immer  noch  ablehnen 
wollte,  durch  seine  poetischen  Konzeptionen  aus  dem  eigenen 
Nibelungengedicht  längst  vertraut  sei.  Jetzt  erst  verstand  er  seinen 
Wotan.  Daher  also  die  Ahnung,  dass  Siegfried  und  Hort  nicht 
der  Weisheit  letzter  Schluss  seien,  dass  ihnen  vielmehr  eine  Seite 
des  Lebens  noch  fehle,  und  zwar  diejenige,  auf  die  Wagner  letzten 
Endes  hinaus  wollte:  die  Bedeutung  der  wirksamen,  schaffenden 
Persönlichkeit.  Was  im  Ring  zur  Darstellung  gekommen  war, 
war  ja  gar  nicht  die  Welt  des  wohlgeordneten,  die  Menschheit 
beglückenden  Kosmos,  in  dem  Siegfried  und  Brunhilde  nach 
kurzen  Leiden  als  „Allvaters  freie  Genossen  zu  ewiger  Wonne 
vereint"  werden,  wie  es  ursprünglich  heißen  sollte,  war  vielmehr 
die  Welt  des  Wahns  und  des  Begehrens,  daher  der  ständigen 
Qual  und  Enttäuschung,  von  der  der  Mensch  sich  befreien  sollte 
durch  völligen  Verzicht,  durch  Verneinung  des  Willens  zum  Leben, 
um  zur  Ruhe  zu  kommen. 

Das  war  Wagners  Sehnsucht  damals.  Den  früheren  opti- 
mistischen Glauben  konnte  er  trotz  höchster  Anstrengung  nicht 
mehr  aufrecht  halten.  Die  bittersten  Erfahrungen  aller  Art  führten 
ihn  unwiderstehlich  zu  einer  andern  Lebensansicht:  nicht  Minne, 

744 


sondern  der  Fluch  der  Lust  durch  den  Ring,  den  die  Unterir- 
dischen geschmiedet,  beherrscht  die  Weit.  Zum  zweiten  Mal 
taucht  jetzt,  aber  deutlicher,  die  mit  dem  Gral  verbundene  Hoff- 
nung auf. 

Die  Komposition  des  Siegfried  wurde  bekanntlich  zirka  zwölf 
Jahre  unterbrochen;  dort,  wo  Siegfried  zum  Walkürenstein  zieht, 
um  Brünhilde  zu  erwecken,  musste  Wagner  lange  Zeit  die  musi- 
kalische Gestaltung  der  Dichtung  aufgeben.  Sie  gelang  ihm  nicht. 
Hier  versagte  sich  ihm  die  Musik,  die  Sprache  des  Herzens.  Die 
herrliche  Siegfried-Brünhilden  Liebe,  wie  konnte  sie  zum  Aus- 
druck kommen  in  seiner  Kunst,  die  nach  seinen  Worten  die  Er- 
füllung des  Verlangens  ist,  sich  selbst  in  den  Erscheinungen  der 
Außenwelt  wiederzufinden !  Die  leidenschaftliche  Liebe  „des  leuch- 
tenden Tages"  war  ihm  nicht  zu  Teil  geworden.  Er  konnte  sie 
also  nicht  „wiederfinden".  Sie  war  nur  eine  heiße  Sehnsucht, 
nie  erfüllt,  die  Quelle  aller  Bitternis,  und  schien  die  böse  Zauberin 
zu  sein,  die  immer  wieder  zum  Glauben  an  die  trügende  Er- 
scheinungswelt verführt.  Nicht  ein  „siegendes  Licht"  wie  Sieg- 
fried war  sich  Wagner  damals  in  ihr.  Seine  Liebe  war  ihm  eine 
düstere,  verzehrende  Glut,  wenn  auch  heiß  begehrt  als  „schönster 
aller  Träume"  Es  war  die  des  jetzt  gedichteten  und  kompo- 
nierten Tristan,  der  in  verzweifeltem  Liebesleiden  auf  dem  Sterbe- 
bette liegt.  Und  zu  ihm  sollte,  so  war  es  Wagners  Absicht,  der 
nach  dem  Gral  suchende  Parsifal  einkehren. 

Wie  der  Gral  zugleich  mit  dem  Ring,  so  taucht  also  Parsifal 
zugleich  mit  dem  Tristan  auf,  als  Ergänzung,  als  Höherführung 
des  Willens.  „Das  Streben  nach  dem  Gral  vertritt  das  Ringen 
nach  dem  Nibelungenhort"  lautet  Wagners  Erläuterung,  und  an 
die  Stelle  des  Liebestodes  durch  Begehren  tritt  die  Erlösung 
durch  Entsagung,  einstweilen  immer  noch  in  der  Bedeutung  des 
absoluten  Lebensverzichts,  worin  Wagner  durch  die  indische  Phi- 
losophie der  buddhistischen  Religion  zeitweilig  bestärkt  wurde, 
wobei  sein  rastlos  sich  entwickelnder  Geist  aber  nicht  definitiv 
stehen  bleiben  konnte.  Die  Wotanswelt,  die  statt  Minne  Gold 
wählt,  statt  Lebensinhalt  Lebensgenuss,  war  in  der  Götterdämme- 
rung der  Vernichtung  preisgegeben,  Brünhilde  gibt  den  Ring,  das 
Symbol  alles  fluchbeladenen  Sehnens  zurück,  der  Verzicht  auf 
die   sinnliche  Begehrlichkeit   ist  geleistet.     Eine   andere,   bessere 

745 


Form  des  Entsagens  gibt  es  nicht,  die  nun  noch  durch  Parsifal 
dargestellt  werden  müsste.  Der  Weg  ist  frei,  nach  Wagners  Ab- 
sicht, für  ein  neues  Streben.  Wonach?  Wagners  Seele  kannte  nur 
ein  Streben:  nach  Liebe!  Was  sie  nicht  sein  soll,  dies  innere 
Erlebnis  war  im  Ring  und  im  Tristan  dargestellt:  eigensüchtige 
Triebbefriedigung.  Sie  stirbt  den  Liebestod.  Ihre  höhere  Be- 
stimmung gibt  Wagner  in  Harmonie  mit  dem  eigenen  Erleben  in 
den  Meistersingern  und  zeigt  dort,  einige  Jahre  nach  dem  Tristan, 
wie  Hans  Sachs  es  macht,  dass  er  „den  Wahn  fein  lenken  mag, 
ein  edles  Werk  zu  tun".  Das  war  der  Anfang  zur  Verneinung 
der  Verneinung  im  Parsifal. 

Als  Wagner  nach  fast  zwölfjähriger  Pause  die  Komposition 
des  Siegfried  in  Triebschen  wieder  aufnahm  und  zu  Ende  führte 
und  in  der  unvergleichlichen  Musik  der  jubelnden  Liebe  Ausdruck 
verlieh,  da  hatte  er  sie  selbst  kennen  gelernt.  Der  Ring  behält 
trotzdem  seinen  Charakter  als  Tragödie.  „Selig  in  Lust  und  Leid 
lässt  die  Liebe  nur  sein!"  Diese  Worte  der  Dichtung  werden 
nicht  komponiert.  Denn  diese  hohe  Bestimmung  kommt  der 
Minne  in  Wotans  Welt  nicht  zu.  Aber  wer  den  mit  dem  Ring 
verbundenen  Fluch  des  Begehrens  in  sich  nachempfinden  kann 
und  entsagt,  der  findet  im  Gral  den  höheren  Sinn  der  Liebe.  Was 
in  allem  Irrtum  als  notwendiger  Durchgang  längst  geahnt  war, 
die  Ergänzung,  Fortsetzung  und  Vollendung  des  Ringens  nach 
dem  Hort  durch  den  Gral,  jetzt  tritt  es  in  die  Erscheinung,  nach- 
dem es  in  wahrer  Liebe  zum  eigenen  Erlebnis  geworden  war, 
und  wird  in  seiner  ganzen  Entwicklung  vom  Anfang  bis  zum 
schließlich  siegreich  errungenen  Ziel  als  Weg  des  Menschen  und 
der  Menschheit  im  Bühnenweihfestspiel  Parsifal  dargestellt,  im 
Werk  des  Siegers. 

Drei  zieht  es  zum  Gral:  Klingsor,  Amfortas  und  Parsifal,  die 
selben  drei  sind  Kundrys  Schicksal,  sind  mit  Kundry  durch  gegen- 
seitige Schicksalsbestimmung  verbunden.  Dem  Zauberer  Klingsor 
ist  sie  die  Verführerin,  bei  dem  leidenden  Amfortas  die  verzweifelte 
Dienerin,  bei  dem  erlösten  Parsifal  die  liebende  Gefährtin.  Klingsor 
wollte,  trotz  des  sündhaften  Wesens,  das  ihn  ganz  offenbar  in 
Gegensatz  stellt  zu  den  Rittern  der  Gralsburg,  denen  eine  reinere 
Lebensführung  schon  zur  bewussten  Willenstendenz  geworden  ist, 
ohne  vorausgegangene  innere  Überwindung  sofort  „heilig"  werden, 

746 


einen  Vollkommenheitszustand  erreichen,  in  dem  der  Kampf  mit 
den  widerstreitenden  Trieben  ohne  weiteres  aufgehoben  ist.  Er 
entmannte  sich  selbst.  Ein  uralter  Irrtum,  der  hier  von  Wagner 
aus  vertiefter  Seelenerkenntnis  verwandt  wird,  um  zu  zeigen,  wie 
ein  Klingsor  durch  diese  Vergewaltigung  seines  Wesens  gerade  in 
das  Gegenteil  von  dem  getrieben  wird,  was  er  gehofft  hatte.  Er 
hatte  seiner  Natur  die  gottgewollte  Entwicklung  und  Bestimmung, 
aus  sich  heraus  über  sich  selbst  hinauszuwachsen,  abgeschnitten. 
Von  der  Leitung  durch  den  bewussten  Willen  getrennt,  ging  sie 
nun  ihre  eigenen,  ganz  und  gar  sinnlichen  Wege.  Klingsor,  der 
ein  Heiliger  des  Himmels  zu  werden  beabsichtigte,  wird  zum  ge- 
fährlichsten Feinde  des  Grals,  zur  Personifizierung  der  Verführung 
zur  fleischlichen  Lust,  der  in  seinem  Zauberschloss  „selbst  Heilige" 
zum  Opfer  fallen. 

Amfortas,  der  König  der  Gralsburg,  zieht  aus,  ihn  zu  be- 
kämpfen. Auf  dem  Wege  dahin  wird  er  durch  seine  sinnliche 
Begehrlichkeit  verführt,  und  während  er  in  den  Armen  des  schönen 
Weibes  liegt,  stürmt  Klingsor  herbei.  „Ein  Todesschrei!"  —  Der 
Speer,  das  Symbol  seiner  höchsten  und  heiligsten  Aufgabe,  den 
Gral  zu  hüten,  ward  dem  Amfortas  entrissen  und  traf  ihn  mit 
unheilbarer  Wunde.  Wie  konnte  das  Amfortas  geschehen?  Er 
ist  doch  Sohn  und  Nachfolger  des  Titurel,  des  Gründers  der  Grals- 
burg und  der  heiligen  Zeremonie,  als  Ausdruck  des  eigenen  Willens, 
die  mit  dem  Symbol  der  Erlösung  verbundene  Überwindung  der 
sinnlichen  Persönlichkeit  selbst  zu  üben.  Aber  was  in  dieser  Be- 
deutung von  Amfortas  hätte  angeeignet,  gepflegt  und  entwickelt 
werden  können,  wurde  von  ihm  nur  äußerlich  als  schöne  Pose 
dargestellt,  so  dass  es  die  inneren  Triebe  nicht  mehr  leitete.  So 
wird  ihm  gerade  der  heilige  Speer  zum  Verderben;  er  empfängt 
durch  ihn  die  Wunde,  die  nie  sich  schließen  will.  Nun  seufzt  und 
stöhnt  er  unter  dem  heiligen  Gut,  das  ihm  anvertraut  ist.  Er  fühlt 
sich  zu  seinem  Amt  verdammt,  sieht  in  sich  den  schlimmsten 
Sünder  unter  allen,  weil  er  gerade  dort  versagte,  wo  allein  ein 
Sieg  erfochten  werden  sollte.  Er  meinte  nur  einfach  als  gekröntes 
Haupt  der  Gralsritterschaft  zum  Streit  ausziehen  zu  können.  Er 
fühlte  nicht,  dass  nicht  Klingsor,  sondern  dass  in  ihm  selbst  etwas 
zu  überwinden  sei.  So  stürzt  er  sich  in  den  Kampf  mit  dem 
andern  und  unterliegt  in  der  eigenen  Seele.  Zwar  entsteht  durch 

747 


(liese  Todeswunde  in  ihm  die  Ahnung  der  einzig  mögh'chen  Hei^ 
lung,  nämlich  durch  den  reinen  Tor,  der  durch  Mitleid  wissend 
wurde,  der  die  Erkenntnis  von  Gut  und  Böse  nicht  mit  dem  Ver- 
lust der  Unschuld  erkauft  hat,  sondern  in  dem  sie  erwuchs  durch 
das  Miterleben  des  Leidens  der  Menschheit.  Aber  mehr  und  mehr 
entschwindet  diese  Hoffnung,  denn  „das  heiße  Sündenblut  ent- 
quillt ewig  erneut  aus  des  Sehnens  Quelle";  möchte  der  Tod  ihm 
Erlösung  bringen  von  der  nie  endenden  Qual. 

War  des  Amfortas  Sehnsucht  nur  auf  das  schöne  Weib  ge- 
richtet, hatte  sie  im  Grunde  nicht  ein  anderes  Ziel?  Warum  fand 
Amfortas  es  nicht? 

Noch  ein  anderer  Mensch  der  Gralsburg  lebt  in  der  großen 
Sehnsucht,  scheinbar  ohne  Ziel:  Kundry.  In  rastlosem  Dienen 
hat  sie  versucht,  sich  Ersatz  zu  schaffen  für  die  unerfüllt  geblie- 
benen Wünsche  ihrer  Seele.  Aber  das  genügt  weder  ihr  noch 
andern.  Die  sehen  in  ihr  doch  nur  das  unheimliche  Zauberweib, 
die  Verfehmte,  ein  wildes  Tier,  und  sich  selbst  ist  sie  nur  die 
zwecklos  Schaffende,  die  nie  und  niemandem  hilft,  und  bisweilen 
von  innerem  Zwang  fortgetrieben  wird  von  der  heiligen  Stätte, 
wenn  der  Hunger  in  ihr  zu  groß  wird  und  zugleich  mit  der  Sehn- 
sucht der  Glaube  an  den  Erlösenden  in  ihr  erwacht.  Doch  immer 
wieder  erlebt  sie  die  gleiche,  furchtbare  Enttäuschung.  Denn 
keiner  weiß  ja,  wen  sie  sucht,  wessen  Bild  sie  treibt  und  lockt 
aus  schier  unerreichbarer  Ferne.  Einst  sah  sie  Ihn!  Auf  seinem 
Kreuzesweg,  als  er  hinging  sich  zu  opfern,  damit  der  neue  Mensch 
erstehe  und  lebe.  Da  traf  sie  sein  Blick  und  etwas  sprang  in 
ihr  auf,  das  sie  tief  erschauern  ließ,  eine  erschütternd  große,  selige 
Ahnung  ihrer  höchsten  Wesensbestimmung.  Aber  —  sie  lachte, 
lachte  blöd  und  höhnisch.  Sie  gab  der  neuen  Hoffnung,  die  ihr 
zum  erstenmal  einen  Blick  in  eine  höhere  Welt  öffnete,  nicht  Raum 
in  sich ;  auch  in  ihm  sah  sie  nur  einen  Mann.  —  Und  dann  war 
er  vorübergegangen!  —  Nun  sucht  sie  ihn  von  Welt  zu  Welt, 
bisweilen  meint  sie  ihn  wiedergefunden  zu  haben,  schon  ruht  sein 
Blick  auf  ihr,  und  um  ihn  festzuhalten,  drängt  sie  sich  an  ihn 
mit  ihrer  ganzen  leidenschaftlichen  Frauenliebe,  mit  all  den  an- 
ziehenden Eigenschaften,  die  die  Natur  ihr  gab,  damit  sie  endlich 
die  Erfüllung  ihrer  tiefsten  Sehnsucht  fände  —  aber  wieder  sinkt 
ihr  ein  Sünder  in  die  Arme!    So  scheint  ihr  Sehnen   ihr  Fluch 

748 


zu  sein ;  keiner  gibt  ihr,  wonach  sie  so  brennend  verlangt,  denn 
„schwach  sind  sie  alle" ;  auch  Amfortas  konnte  ihr  nicht  wider- 
stehen, als  ihre  körperliche  Schönheit  ihn  reizte.  Nur  der,  der 
ihr  nicht  gibt,   was  sie  zu  wünschen  scheint,  könnte  sie  erlösen! 

In  diese  Welt,  in  der  der  Wunsch  „heilig"  zu  sein,  zum  bösen 
Zauberer  werden  lässt,  in  der  aus  der  Liebe  nie  endende  Qual 
entsieht,  die  nach  dem  Tod  als  dem  einzigen  Erlöser  schreit,  in 
der  das  Sehnen  nach  ihm  als  Fluch  gefühlt  wird,  tritt  Parsifal  ein, 
wild,  ungebärdig,  ein  reiner  Tor,  der  ohne  Wissen  von  Gut  und 
Böse  ganz  unwillkürlich  sich  treiben  lässt,  wohin  der  Reiz  der 
Welt  ihn  zieht,  ganz  ohne  Verständnis  für  die  Heiligkeit  des  Grals 
und  die  Wunde  des  Amfortas;  ganz  naiv  auch  den  Verführungen 
der  schönen  Mädchen  gegenüber,  die  ihn  in  Klingsors  Garten 
umschmeicheln.  Dort  ruft  ihn  Kundry.  Sie  lockt  ihn,  wie  ihr 
Wesen  es  ihr  vorschreibt,  nicht  um  ihn  zu  verführen,  sondern 
um  durch  ihn  zu  bekommen,  wonach  sie  sich  sehnt,  lockt  ihn 
mit  allem,  was  den  Mann  zum  Weibe  zieht,  mit  zarter  Liebe  und 
glühender  Leidenschaft,  mit  Verständnis  für  seine  Schmerzen  und 
mit  dem  Glauben  an  den  Helden  und  Erlöser  in  ihm,  der  berufen 
sei,  sie,  die  Unglückliche,  endlich  von  langen,  hoffnungslosen 
Leiden  zu  befreien. 

Bei  alledem,  je  glühender  sie  wirbt  und  in  ihm  selbst  die 
Begier  erweckt,  brennt  in  Parsifal  schließlich  nur  noch  eins,  ein 
Schmerz  des  Körpers  und  der  Seele:  Amfortas'  Wunde.  Er  weiß 
jetzt,  was  sie  bedeutet,  fühlt  in  ihr  die  eine  große  Verfehlung  der 
Menschheit,  den  eigentlichen  Wahn  und  Irrtum:  „in  höchsten 
Heiles  heißer  Sucht  nach  der  Verdammnis  Quell  zu  schmachten!" 
Der  Mensch  will  Liebe.  Unwiderstehlich  zieht  sie  ihn,  sie  treibt 
ihn  zum  Höchsten  und  wird  ihm  zum  Fluch.  Um  sich  und  ihr 
die  Liebe  nicht  zum  Fluch  werden  zu  lassen,  stößt  Parsifal  die 
Kundry  von  sich. 

Eine  gewaltige  Entwicklung  der  Menschheit  widerholt  sich  in^ 
dieser  Überwindung  der  sinnlichen  Wünsche.  Eine  Erlösung  von> 
Egoismus,  der  in  der  Verbindung  mit  dem  Menschen  nur  sich 
selbst  fühlt,  nur  das  sieht,  was  der  andre  ihm  sein  soll.  Da  er  jedoch 
hinter  den  Liebeswünschen  der  Kundry  nur  die  sinnliche  Begehr- 
lichkeit, aber  nicht  hinter  dieser  das  tiefere:  „Sehnen,  Sehnen" 
sieht,  so  ist  die  Abwehr  der  Kundry   und  die  Verneinung  der 

749» 


sinnlichen  Wünsche  nur  die  Vorbedingung  der  weiteren  Entwick- 
lung, die  Hauptsache,  die  Wandlung  der  Wünsche,  der  „Torheit 
in  Sinn"  fehlt  noch  durchaus. 

Darum  steht  Parsifal  jetzt,  trotz  der  großen  Tat  der  Über- 
windung, noch  viel  Leid  bevor.  Er  wendet  sich  von  Kundry  und 
dem  Gral,  nicht  so  wie  Amfortas  es  tut,  der  den  Gral,  der  immer 
wieder  den  Willen  zum  Leben  in  ihm  erweckt,  nicht  mehr  sehen 
will ;  Amfortas  möchte  endgiltig  durch  Verzicht  auf  den  Gral  den 
Schluss  des  Lebens  herbeiführen,  um  mit  dem  Leben  seine  Qual 
zu  enden.  Parsifal  geht  fort,  in  die  Welt  hinaus,  die  er  glaubt 
durch  Kampf  und  Streit  überwinden  zu  müssen,  und  findet  dort: 
„Des  Irrens  und  der  Leiden  Pfade".  Lange,  lange  Zeit!  —  Schließ- 
lich kehrt  er  dahin  zurück,  wohin  ihn  einst  unwillkürlich  die 
Ahnung  seiner  Jugend  gebracht,  in's  Gebiet  des  Gral.  Dort  er- 
fährt er,  wie  das  ganze  Heiligtum  zerfiel,  seit  Amfortas  seines 
Amtes  nicht  mehr  waltet  und  bricht  in  großem  Schmerz  in  die 
Worte  aus:  „Und  ich,  ich  bin's,  der  all  dies  Elend  schuf!"  Der 
Tor  ist  durch  Mitleid  wissend  geworden,  nicht  nur  in  dem  Sinne, 
dass  er  der  Menschheit  Weh  und  Verfehlung  im  eigenen  Busen 
fühlt,  sondern  jetzt  in  dem  viel  höheren:  Die  Menschheit  leidet 
mit  ihm  in  seiner  eigenen  und  durch  seine  Schuld. 

Er  weiß,  er  war  „zur  Rettung  auserkoren",  er  hätte  schon 
das  erste  Mal,  als  die  Gottesklage  um  das  verratene  Heiligtum 
an  sein  Ohr  schlug,  helfen  können.  Statt  dessen  stürzte  er  hin 
zu  „wilden  Knabentaten". 

Diese  erschütternde  Erkenntnis  möchte  ihn  fast  vernichten, 
aber  mit  der  vollständigen  Verurteilung  seines  bisherigen  Wesens 
ist  er  endlich  frei  geworden  von  selbstischen  Wünschen.  Er  will 
nichts  von  sich  für  sich.  Dieser  Oberflächenwille  ist  gebrochen 
und  öffnet  dem  tieferen  Willen  den  Weg  zum  Licht.  Wieder  tritt 
Kundry  zu  ihm.  Sie  lockt  ihn  mit  dienender  Liebe,  unter  der  er, 
der  ganz  Ermattete,  die  Augen  aufschlägt.  Jetzt  haben  sich  die 
Beiden  in  dem  gefunden,  was  bisher  in  allem  Sehnen  so  verzerrt 
zum  Ausdruck  kam.  Und  als  durch  die  Taufe,  das  Symbol  der 
Wiedergeburt  des  innersten  Menschen,  aller  Schuld  Bekümmernis 
von  ihm  genommen  ist,  da  kann  er  Kundry  geben,  was  sie 
braucht:  Den  Glauben  an  den  Erlöser. 

750 


Nun  enthüllt  sich  ihm  durch  Gurnemanz  das  letzte  Geheimnis 
im  Mysterium  des  Lebens:  Für  die  wahre  Liebe  ist  der  Karfreitag 
nicht  ein  Schmerzenstag,  denn  am  Karfreitag  wurde  der  Mensch- 
heit durch  den  Opfertod  Christi  die  Erlösung  gebracht  und  zu- 
gleich das  Vorbild  der  Nachfolge  vollendet:  „Wer  sein  Leben 
verliert,  der  wird  es  gewinnen";  indem  auf  den  der  Welt  der  Er- 
scheinungen zugewandten,  begehrenden  Willen  als  auf  einen  Irrtum 
verzichtet  wird,  kommt  der  wahre  Wille  erst  zur  Entfaltung.  Aus 
dem  Wahn  entsteht  das  edlere  Werk.  Kundrys  „Sehnen"  ist  doch 
ihr  bestes  Teil  gewesen.  Es  war  ihr  Fluch  und  wurde  ihr  Segen. 
Denn  damit  lockte  sie  Parsifal  zur  Erkenntnis  des  Bösen  und 
des  Guten,  der  nur  begehrenden  und  der  dienenden  Liebe.  Sie 
gehört  zu  ihm  durch  das,  was  sie  ihm  geworden  ist.  Darum 
geht  Parsifal  jetzt  mit  Kundry  zur  Gralsburg. 

Parsifal  ist  des  heiligsten  Amtes  würdig  geworden,  in  er- 
hobenen Händen  für  die  Menschen  das  allerheiligste  Symbol  ihrer 
Sehnsucht  und  ihrer  Erlösung  leuchten  zu  lassen.  Er  ist  nicht 
selbst  der  Erlöser,  sondern  nur  der  „erlöste  Mensch",  zu  dem  die 
andern  freudig  aufblicken;  denn  er  zeigt  ihnen,  wer  die  Erlösung 
für  sich  gewinnt:  Nicht  ein  Klingsor,  der  scheinbar  in  hehrstem 
Bestreben  die  Natur  vergewaltigt,  nicht  ein  Amfortas,  der  in  seinem 
Sehnen  nur  die  Sünde  und  Qual  des  Begehrens  fühlt,  daher 
endgiltig  auf  alles  verzichten  möchte.  Beide  sind  in  einem  Irrtum, 
der  die  Erlösung  trotz  des  Karfreitags  unmöglich  macht.  Parsifal 
—  und  Jeder  ist  Parsifal,  wenn  er,  oder  vielmehr  soweit  er  den 
Klingsor  und  Amfortas  in  sich  überwindet  —  dringt  allmählich 
durch  den  Irrtum  zur  Erkenntnis  hindurch :  wer  in  der  Liebe  der 
gegenseitigen  Bestimmung  lebt,  dem  wird  sie  die  Kraft  zur  Er- 
füllung der  höchsten  Aufgabe. 

So  sah  Wagner  am  Schluss  seines  künstlerischen  Schaffens, 
aus  dem  Erleben  der  eigenen  Entwicklung  heraus,  den  Menschen. 
Er  brachte  Licht  in  lange  Dunkelheit:   „Erlösung  dem  Erlöser!" 

ZÜRICH  OTTO  MENSENDIECK 


D  DD 


751 


DAS  „UNVERDORBENE"  VOLK 

Keiner  wird  es  bestreiten  wollen:  seit  die  Welt  steht,  waren 
die  Ansichten  und  Empfindungen  zwischen  den  Leuten,  die  sich 
als  Künstler,  Kritiker  und  Sammler  fortwährend  und  eingehend 
mit  der  Kunst  und  ihrem  Werden  und  Wachsen  befassen,  und 
den  vollkommenen  Laien,  die  sich  gerne  das  „unverdorbene  Volk" 
rühmen  lassen,  nie  so  himmelweit  von  einander  entfernt.  Fast 
immer,  wo  der  eine  Hosiannah  jubelt,  schreit  der  andere  Kreuziget 
ihn;  Erbitterung  und  Spott  haben  auf  beiden  Seiten  einen  solchen 
Grad  ereicht,  dass  man  längst  verzichtet  hat,  nach  einer  Brücke 
zu  suchen. 

Jene  merkwürdigen  Schwärmer  mögen  wohl  selten  sein,  die 
da  glauben,  das  Heil  liege  in  der  Anwendung  demokratischer 
Grundsätze  auf  die  Kunst,  und  der  Künstler  habe  sich  einfach 
nach  der  Mehrheit  zu  richten;  andere  Möglichkeiten,  sich  auf 
einer  Straße  zu  finden,  werde  wohl  keiner  entdecken.  Weniger 
selten  hört  man  aber,  das  „unverdorbene"  Volk,  das  sich  noch 
nie  in  ästhetischen  Ideen  verloren  habe,  folge  seinem  reinen 
Empfinden   und   könne   unmöglich  in  die  Irre  gehen. 

Nun  erlaubt  aber  das  Prinzip  der  Aurea  Mediocritas,  das  die 
notwendige  Folge  jeder  Demokratie  ist,  gerade  noch,  einen  Staat 
auf  die  Beine  zu  stellen,  der  nur  für  wenige  ein  starkes  Hemmnis 
ihres  persönlichen  Strebens  bedeutet.  Aber  Kunst  und  Mittel- 
mäßigkeit schließen  sich  aus  wie  Feuer  und  Wasser. 

Zugegeben :  es  ist  ein  Übelstand,  dass  diese  gleiche  Straße 
für  Künstler  und  Volk  nicht  gefunden  werden  konnte.  Bisweilen 
möchte  es  zwar  fast  scheinen,  man  hätte  sie  erreicht;  nur  betrage 
der  Abstand  zwischen  Vortrupp  und  Gewalthaufe  ein  Dutzend 
Jahre  zum  mindesten;  das  „unverdorbene"  Volk  von  heute  hat 
längst  vergessen,  welch  gehässigen  Empfang  es  seinerzeit  den 
Marignanofresken  bereitet  hat. 

Muss  denn  aber  die  Schuld  an  dem  langen  Abstand  —  oder 
gar  am  ganz  verfehlten  Anschluss  —  durchaus  bei  den  Künstlern 
gesucht  werden?  Weil  sie  zu  schnell  gehen,  zu  hoch  steigen, 
weil  man  ihnen  „einfach  nicht"  folgen  kann?  Wie  wär's,  wenn 
einmal  das  Volk,  oder  auch  jene,  die  es  leiten,  sich  überlegte,  ob 

752 


die  Schuld  nicht  bei  ihm   liegt  und  ob  ihm  wirkh'ch  das  unver- 
dorbene Empfinden  eignet,  das  man  ihm  nachrühmt? 


Vor  einiger  Zeit  ist  ein  Büchlein  geschrieben  worden,  das 
den  treffenden  Titel  führt  „Der  Schulaufsatz  ein  verkappter  Schund- 
literal";  schonungslos  und  folgerichtig  weist  es  nach,  dass  die 
Musteraufsätze,  wie  sie  nicht  Kinder,  sondern  einflussreiche  Päda- 
gogen gefertigt  haben,  unzweifelhaft  zur  Schundliteratur  gehören, 
dass  also  die  Schule  jahrzehntelang  sich  beflissen  hat,  den 
Kindern  das  angeborene  Gefühl  für  guten  sprachlichen  Ausdruck 
abzugewöhnen.  Der  Erfolg  zeigt  sich  in  der  Wahl  des  Lese- 
stoffes, die  das  Volk  trifft;  er  zeigt  sich  überall  dort,  wo  ein  ein- 
facher Mann  sich  schriftlich  äußern  möchte  und  nicht  über  den 
Aufsätzlistil  hinauskommt.  Das  Geschlecht  der  Züs  Bünzli  hat 
sich  in  die  Hunderttausende  vermehrt. 

Ein  anderes  Büchlein  wäre  noch  zu  schreiben:  „Das  Schul- 
wandbild ein  verkapptes  Schundgemälde",  ich  habe  letzthin  die 
Schulausstellung  des  Pestalozzianums  besucht  und  habe  sie  mit 
Schaudern  verlassen.  Von  den  Bildern,  die  zur  Verwendung  im 
Unterricht  —  ich  spreche  nicht  vom  Wandschmuck,  der  sich, 
ach  wie  wenig,  gebessert  hat  —  da  empfohlen  sind,  ist  wohl 
keines,  das  nicht  die  bescheidenste  Kunstausstellung  mit  Entrüstung 
zurückweisen  würde.  Die  Farbe  misstönend,  alles  ausdruckslos, 
vieles  erlogen,  die  Reproduktionstechnik  so  schwach,  als  sie 
irgend  sein  kann.  Pestalozzi  sagte  einst,  für  die  Kinder  sei  das 
Beste  gerade  gut  genug;  hier  scheint  der  Gedanke  gewaltet  zu 
haben,  das  Schlechteste  sei  für  sie  fast  noch  zu  gut.  Der  Schund- 
literat des  Schulaufsatzes  braucht  sich  nicht  in  Einsamkeit  zu 
schämen;  er  hat  einen  Genossen,  der  ihn  um  Haupteslänge  überragt. 

Vielleicht  haben  sich  gewisse  Schulen,  haben  sich  hervor- 
ragende junge  Lehrer  gegen  diesen  Schund  gewendet  —  ich  weiß 
es  nicht.  Aber  das  weiß  ich,  dass  ganze  Generationen  von 
Menschen  in  den  Jahren,  wo  die  Augen  am  hellsten  und  der 
Geist  am  weichsten  ist,  Tag  für  Tag  vor  diesen  Bildern  saßen, 
dass  sie  ganze  Stunden  sich  diese  Scheußlichkeiten  einprägen 
mussten,  bis  ihr  Gehirn  davon  erfüllt  war.  Kein  Kunstwerk,  auch 
wenn   man   sich   bisweilen   mit  einem  solchen  abgab,  konnte  so 

753 


lange  und  so  tief  wirken ;  nichts  konnte  so  sehr  auf  Denken  und 
Fühlen  für  das  ganze  Leben  abfärben. 


Und  da  kommt  man  nun  mit  dem  „unverdorbenen"  Volk 
und  seinem  natürlichen  Empfinden  und  möchte  es  zum  Richter 
in  Kunstsachen  erheben.  Wo  doch  auf  der  Hand  liegt,  dass  nur 
ganz  hervorragende  Veranlagung  oder  gute  häusliche  Kunstpflege 
oder  strenge  Arbeit  an  sich  selbst  dazu  führen  kann,  um  die  Seele 
nach  einer  solchen  Durchtränkung  mit  dem  elendesten  Schund 
wieder  zu  natürlichem  Empfinden  zu  führen. 

Unverdorben  empfinden  kann  am  Ende  ein  gescheiter  An- 
alphabet, wie  man  sie  etwa  in  italienischen  Dörfern  findet,  der 
zeitlebens  kein  schlechtes  Bild  gesehen  hat.  Aber  ein  Volk,  das 
in  seiner  Jugend  solches  Kunstgift  zu  schmecken  bekam,  das  dann 
später  durch  traurige  Reklameerzeugnisse,  wie  sie  heute  endlich 
etwas  seltener  werden,  gefüttert  wurde;  ein  Volk,  das  die  Kunst- 
ausstellungen mit  dem  Gefühl  besucht,  alles  besser  zu  verstehen, 
da  es  ja  aus  der  Schule  weiß,  wie  man  über  Bilder  spricht;  ein 
Volk,  das  ganz  und  gar  'die  natürliche  Gabe  verloren  hat,  sich 
in  Kunstwerke  einzufühlen,  das  stelle  man  uns  nicht  länger  als 
das  Maß  aller  künstlerischen  Dinge  hin. 

ZÜRICH  ALBERT  BAUR 

SCHMUTZ  UND  HYGIENE 

Der  Aufsatz  über  „Schmutz"  von  Fritz  Müller  veranlasst  mich  zu  fol- 
genden Bemerkungen:  Sicher  ist  der  humorvolle  Ansturm  gegen  die  über- 
triebene Bazillenfurcht  gewisser  Kreise  eine  gesunde  Reaktion,  die  uns  nur 
angenehm  sein  kann.  Auch  die  Auswüchse  des  Reinlichkeitsfanatismus  sind 
zu  bedauern,  namentlich  wenn  ihnen  die  Schönheit  eines  altersgrauen 
Kunstdenkmals  zum  Opfer  fällt.  Es  scheint  uns  aber  notwendig,  zwischen 
Schmutz  und  Schmutz  zu  unterscheiden. 

Vieles,  das  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  als  Schmutz  bezeichnet 
wird,  ist  vom  hygienischen  Standpunkte  aus  vollständig  harmlos  und  wird 
meist  aus  erzieherischen,  ästhetischen  oder  anderen  Gründen  bekämpft. 
Hierher  gehören  die  Flecken  in  einem  Schulhefte,  die  Erde  an  den  Händen 
spielender  Kinder  usw.  Davon  muss  aber  reinlich  geschieden  werden,  was 
der  Hygiene  als  schmutzig  gilt;  hierher  muss  alles,  was  unter  Umständen 
Krankheiten  zu  übertragen  oder  zu  erzeugen   vermag,  gerechnet  werden, 

754 


wie  die  Abfälle  des  menschlichen  und  tierischen  Körpers,  faulende  oder  in, 
Zersetzung  begriffene  Stoffe  des  Tier-  und  Pflanzenreiches  etc.  Wir  wissen, 
dass  solcher  „Schmutz"  immer  große  Mengen  von  Bakterien  enthält,  unter 
denen  krankheitserregende  Arten  sich  vorfinden  können.  Diesen  Schmutz 
werden  wir  selbstverständlich  überall,  wo  wir  ihn  antreffen,  mit  allen  uns 
zu  Gebote  stehenden  Mitteln  unschädlich  zu  machen  suchen. 

Wenn  Fritz  Müller  auch  diese  Art  von  Schmutz  als  bedeutungslos 
hinstellt,  so  müssen  wir  dem  entschieden  entgegentreten.  Ein  jeder  weiß, 
welchen  Rückgang  die  Infektionskrankheiten  durch  die  planmäßige  Be- 
kämpfung des  Schmutzes  in  den  Kulturstaaten  erfahren  haben.  Die  Bazillen-, 
furcht  ist  nur  dank  den  streng  durchgeführten  sanitarischen  Verfügungen  in 
unseren  Ländern  unbegründet  geworden,  während  sie  anderwärts  noch  ganz 
berechtigt  ist.  Fritz  Müller  erwähnt  einige  scheinbar  wissenschaftliche  Tat- 
sachen, welche  im  Leser  Zweifel  an  dem  Wert  dieser  hygienischen  Maß- 
nahmen erwecken  müssen.  Der  von  Pettenkofer  gemachte  Versuch  mit 
Cholerabazillen  nahm  allerdings  einen  ganz  anderen  Verlauf.  Pettenkofer  und 
sein  Assistent  Emmerich  wollten  die  von  ihnen  vertretene  Meinung  beweisen, 
dass  die  Choleravibrionen  allein  nicht  ausreichen,  den  Symptomenkomplex 
der  Cholera  hervorzurufen.  Sie  nahmen  daher  nach  Neutralisierung  des 
Magensaftes  etwas  Wasser,  in  dem  eine  geringe  Menge  einer  frischen 
Cholerakultur  aufgeschwemmt  war.  Pettenkoffer  erkrankte  bloß  an  heftigen 
Durchfällen,  Emmerich  machte  dagegen  eine  schwere  Cholerainfektion  durch, 
welche  ihm  beinahe  das  Leben  gekostet  hätte.  Auf  diesen  Versuch  hin  die 
„meisten  hygienischen,  aufdringlichen  Angstregeln  nach  Pompeji  gehen  zu 
heißen",  scheint  uns  ganz  ungerechtfertigt.  Und  wenn  in  den  Ratschlägen 
eines  napolitanischen  Fremdenführers  ein  komischer  Widerspruch  auffällt,  so 
mag  uns  der  Mangel  an  Logik  wohl  belustigen,  sollte  uns  aber  nicht  ab- 
halten, beim  Trinken  von  Wasser  von  fraglicher  Reinheit  in  Italien  vor- 
sichtig zu  sein.  Dass  wir  schließlich  mit  jedem  Atemzug  Millionen  Bakterien 
in  unser  Inneres  aufnehmen,  ist  nicht  richtig;  die  in  unsere  Lungen  ein- 
strömende Luft  ist  in  der  Regel  keimfrei.  Die  Vorstellung,  dass  diese 
eingeatmeten  Bakterien  gar  zu  unserm  Leben  nötig  seien,  ist  laienhaft 
und  vollkommen  haltlos. 

Zum  Schluss  sei  nochmals  betont,  dass  wir  niemand  durch  die  „epi- 
demische Schmutz-  und  Bazillenfurcht"  die  Freude  am  Leben  vermindern 
wollen.  Die  Hygiene  scheint  uns  im  Gegenteil  berufen,  dem  menschlichen 
Leben  eine  größere  Sicherheit  und  Sorglosigkeit  als  in  vergangenen  Jahr- 
hunderten zu  geben.  Die  Übertreibungen  einzelner  sollte  uns  nicht  verhindern, 
für  die  immer  weitere  Verbreitung  der  so  einfachen,  vom  normalen  Menschen 
stets  als  eine  Wohltat  empfundenen  hygienischen  Maßnahmen  einzutreten. 

ZÜRICH  R.  KLINQER 

DDD 

KURZE  ANZEIGEN 

In  dieser  Rubrik  werden  unter  Verantwortung  der  Redaktion  kurze  Notizen  über  Bücher, 
Zeitschriften-  und  Zeitungsartikel  erscheinen,  die  eine  spätere  einlässliche  Besprechung  nicht 
ausschließen.    Wir  bitten  unsere  Leser,  daran  nach  Lust  mitzuarbeiten.  D.  R. 

Von  Walter  von  Molo  i)  ist  der  erste  Band  einer  Schillertrilogie  „Ums 

Menschentum"    herausgekommen.     Prägnanter    hätte    der    Verfasser    den 

')  Walter  von  Molo:  Ums  Menschentum,  Schuster  &  Loeffler,  Berlin. 

755 


ersten  Lebensabschnitt  Schillers  (bis  zur  Flucht  nach  Mannheim)  nicht 
überschreiben  können.  Dass  er  uns  den  Menschen  Fritz  Schiller  erleben 
lässt  und  nicht  den  distanzierten  Geisteshelden  Friedrich  Schiller  ist  sein' 
großes  Verdienst.  An  sich  zu  erproben,  wie  ihm  das  gelingt,  ist  jedes 
Lesers  Sache.  Hier  sei  bloß  bemerkt,  dass,  so  weit  mir  die  Nachprüfung 
möglich  war,  die  einzelnen  Daten  mit  bewunderungswürdiger  Genauigkeit 
wiedergegeben  sind.  Wie  gewisse  Partien  aus  den  „Räubern"  in  den  Dialog 
verarbeitet  werden,  ist  meisterhaft.  Das  Zeitkolorit  ist  mit  gutem  Ausdruck, 
wenn  auch  manchmal  künstlerisch  verklärt,  wiedergegeben.  Das  Buch, 
auf  das  ich  nach  dem  Erscheinen  der  beiden  angekündigten  letzten  Teile 
der  Trilogie  „Im  Titanenkampf"  und  „Den  Sternen  zu"  einlässlich  zurück- 
kommen werde,  hat  kulturhistorischen  Wert. 


DER  FALL  JACOBSOHN  wird  heute  von  dem  Betroffenen  in  einer 
im  Verlag  der  Schaubühne  erschienenen  Schrift  selbst  erörtert.  Man  erinnert 
sich,  dass  der  Berliner  Theaterkritiker  Siegfried  Jacobsohn  im  Jahr  1904 
des  Plagiats  bezichtigt  und  in  einem  unrühmlichen  Kesseltreiben  um  Amt 
und  Brot  gebracht  wurde;  seither  führt  er  in  so  tapferer  und  weitsichtiger 
Art  die  Zeitschrift  Die  Schaubühne,  dass  er  dadurch  schon  rein  gewaschen 
wäre,  hätte  er  auch  wirklich  ein  schweres  Verbrechen  begangen.  Heute, 
nachdem  er  neun  Jahre  sich  über  den  Fall  ausgeschwiegen,  erklärt  er  das 
Hineinkommen  fremden  Eigentums  in  seine  Kritiken  durch  ein  abnorm 
tätiges  Gedächtnis,  gegen  das  er  immer  beim  Schreiben  gewappnet  sein  müsse. 
Das  verdient  bei  einem  so  reichen  Geist  und  ehrlichen  Kritiker  Glauben; 
besonders  wenn  man  bedenkt,  dass  es  viel  leichter  ist,  einen  festen  Ge- 
dankengang, wie  er  sich  in  der  angegriffenen  Besprechung  findet,  aus  eige- 
nen Mitteln  zu  bestreiten  als  störendes  fremdes  Gut  hineinzuweben. 

Was  Jacobsohn  begegnet  ist,  ist  ein  Berufsunfall,  wie  sie  bei  Kritikern 
in  der  Regel  tötlich  verlaufen.  Alles,  was  der  Kritiker  sagt,  sagt  er  vor  der 
breiten,  geschwätzigen  Öffentlichkeit;  ein  leichter  Maschinendefekt  des  Ge- 
hirns setzt  ihn  Hohn  und  Spott  oder  Beschimpfung  und  Verachtung  vor 
der  Menge  aus.  Und  da  jeder  rechte  Kritiker  immer  ein  paar  dutzend  Feinde 
hat,  die  das  Strafgesetz  nur  mit  Mühe  davor  bewahrt,  Gift  und  Dolch  gegen 
ihn  zu  verwenden,  so  kennt  er  genau  die  Folgen  seines  Straucheins. 

Die  Schrift,  der  ein  Reisetagebuch  durch  Italien  und  Paris  zu  köst- 
lichem Schmucke  dient,  liest  sich  wie  ein  knapp  gehaltener  Roman,  der  das 
Thema  der  rasch  gefallenen  und  sich  wieder  aufrichtenden  Größe  behandelt. 


In  dem  tätigen  Verlag  Eugen  Salzer  in  Heilbronn  erscheint  seit  kurzem 
eine  Taschenbücherei  deutscher  Dichter,  alle  Bändchen  Zierden  deutscher 
Erzählungskunst  und  dazu  rdcht  angenehm  gedruckt  und  ausgestattet.  Von 
der  warmherzigen  schwäbischen  Erzählerin  AUGUSTE  SUPPER  erschienen 
da  fünf  Erzählungen  unter  dem  Titel  Am  Wegesrand;  Diakonus  Kaufung 
von  HERM.  ANDERS  KRÜGER,  mit  einer  andern  Geschichte  des  selben 
Verfassers  ein  zweites  Bändchen  füllend,  ist  eine  gut  geschaute  und  dar- 
gestellte Entwicklungsstudie. 

Das  neueste  Bändchen  Sisto  e  Sesto  unseres  Landsmanns  HEINRICH 
FEDERER  ist  ohne  Zweifel  das  bestgeschriebene  seiner  Werke;  der  Kon- 

756 


flikt  zwischen  dem  strengen  Kirchenfürsten  Sixtus  V.  und  seinem  in  armem 
Bergdörfchen  zum  Briganten  gewordenen  und  nun  dem  Tode  geweihten 
Bruder  Sesto  und  dessen  Sohn  bietet  des  Überraschenden  genug.  Federer 
hat  hier  zum  erstenmal  sich  vom  Gewand  des  Alltags  befreit  und  seinem 
Stil  etwas  festlichere  Rhythmen  zu  geben  versucht.  Das  ist  ihm  nicht  übel 
gelungen;  es  steht  zu  erwarten,  dass  er  den  Versuch  mit  noch  besserem 
Erfolge  wiederholen  werde. 

EIN  BEKENNTNIS.  In  seinem  anregend  geschriebenen,  hübsch  illus- 
trierten Buche  Aus  dem  unbekannten  Italien  (München  1911,  R.  Piper  &  Co.) 
schreibt  Alfred  Steinitzer,  für  den  der  Offizierstand  kein  Hindernis  war, 
das  wirkliche  Italien  und  den  wirklichen  Italiener  kennen  zu  lernen,  Seite 
86  und  87: 

„  .  .  .  Auch  die  persönliche  Schätzung  und  Beliebtheit  des  Reichs- 
deutschen vermindert  sich  zusehends.  Mit  patriotischem  Bedauern  muss  fest- 
gestellt werden,  dass  die  Schuld  hieran  durchaus  den  Deutschen  zur  Last 
fällt.  Denn  sie  verstehen  es  nicht,  die  Italiener  zu  behandeln,  weil  ihnen 
Kenntnis  und  Verständnis  des  italienischen  Volkes  fehlt.  Die  Italiener 
werfen  dem  Deutschen  vor,  dass  er  ihnen  auf  Schritt  und  Tritt  seine  Über- 
legenheit zeigt,  und  wer  seine  deutschen  Landsleute  vorurteilslos  in  Italien 
betrachtet,  muss  diesen  Vorwurf  leider  als  nur  zu  berechtigt  anerkennen. 

Während  der  Deutsche  seit  Jahrhunderten  den  Franzosen  und  Englän- 
der in  vielen  Stücken  nachäfft,  hat  er  keinen  Blick  für  das  Stück  Kultur, 
das  noch  heutzutage  im  Italiener,  dem  ältesten  Kulturvolke  Europas  steckt. 
(Die  heutigen  Griechen  können  als  Nachkommen  des  alten  Kulturvolkes 
nicht  angesehen  werden.)  Er  fühlt  sich,  wenn  er  ein  paar  Kapitel  aus 
einer  Kunstgeschichte  gelesen  hat,  über  den  Eingeborenen,  der  zwar  noch 
weniger  weiß  als  er,  dem  aber  dafür  die  ererbte  Kultur  im  Blute  steckt, 
erhaben;  er  zeigt  ihm  die  Überlegenheit  des  Wissens,  steht  ihm  aber  an 
Taktgefühl  nach;  er  fühlt  sich  als  Angehöriger  des  großen  Deutschen 
Reiches  in  politischer  Bildung  höher  stehend,  obwohl  der  nationale  Sinn 
des  Italieners  weit  stärker  ausgeprägt  ist;  er  rümpft  die  Nase  über  dessen 
mangelhafte  Sauberkeit,  obschon  der  Italiener  weiße  Wäsche  und  er  ein 
Jägerhemd  trägt;  der  Ausdruck:  „il  Jägerhemd"  wird  für  den  Deutschen 
ebenso  angewandt,  wie  „la  bistecca"  (Beefsteak)  für  den  Engländer,  nur 
hat  er  eine  weit  schärfere  Spitze.  Der  „Lodendeutsche"  aus  dem  Süden  und 
der  im  Vollbewusstsein  seines  Wertes  schneidig  auftretende  Reserveoffizier 
und  Beamte  aus  dem  Norden  haben  uns  die  Sympathien  gründlich  ver- 
scherzt, die  wir  noch  lange  nach  dem  Kriege  1870—1871  in  Italien  genos- 
sen haben. 

Als  Kuhurvolk  sind  wir  Deutsche  den  Italienern  gegenüber  immer  noch 
Parvenü  trotz  unserer  größeren  Gelehrsamkeit  und  industriellen  Tüchtig- 
keit; wir  kranken  an  dem  Kastengeist  des  Offiziers-  und  Beamtentums, 
der  aus  der  historischen  Entwicklung  Preußens  begreiflich,  aber  nunmehr 
überlebt  ist  und  der  den  demokratischen  Italiener,  der  auch  in  den  niederen 
Ständen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  immer  „signor"  sein  will  und  es 
durch  eine  gewisse  „gentllezza"  auch  ist,  verletzen  muss.  „Mitgebrachter 
Maßstab  und  weiter  Abstand"  (wie  sich  ein  genauer  Kenner,  A.  Zacher, 
in  einem  kürzlich  erschienenen  Buche  über  römisches  Volksleben  ausdrückt) 
—  das  ist  der  Grund,  warum  der  Deutsche  den  Italiener  nicht  versteht, 

757 


und  die  Schranke,  die  eine  wahre  Herzlichkeit  verhindert.  Und  das  kann 
den  Deutschen,  die  jährlich  zu  ungezählten  Tausenden  nach  Italien  pilgern, 
gar  nicht  oft  und  eindringlich  genug  vorgehalten  werden." 

DDD 

Wir  verlassen  uns  vielleicht  zu  sehr  auf  LA  SVIZZERA  FARA  DA  SE 
und  vergessen  inzwischen  aufzumerken  auf  anscheinend  belanglose  Vor- 
gänge, die,  näher  besehen,  als  Teile  jener  Aktion,  welche  die  Entnationali- 
sierung der  Schweiz  vorbereitet,  sich  erkennen  lassen.  Zu  den  Akteuren 
und  Kulissenschiebern  zählen  unter  anderm  —  wir  überzeugen  uns  davon 
immer  mehr  —  die  Sektionen  und  Vorstände  der  Societä  Dante  Alighieri, 
die  bei  unglaublich  vielen  Machinationen  ihre  Hand  im  Spiele  haben. 

Ein  Beispiel  für  viele:  am  31.  August  a.  c.  fand  in  Pallanza  eine 
zweite  Zusammenkunft  der  italienischen  Unterstützungskassen  in  der 
Schweiz  (deren  Kongress  von  Ende  August  bis  zum  4.  September  dauerte) 
mit  dem  Zentralkomitee  der  Societä  Dante  Alighieri  statt.  Wir  sind  ver- 
sucht zu  glauben,  dass  diese  Gesellschaft  die  Rolle  übernommen  habe,  den 
italienischen  Unterstützungsvereinen  in  der  Schweiz  den  nationalen  Rücken 
zu  steifen.  Jedenfalls  kommt  es  kaum  von  ungefähr,  dass  an  dem  im  Früh- 
jahr dieses  Jahres  in  Mailand  abgehaltenen  Emigrationskongress  Worte 
gefallen  sind,  die  darauf  deuten,  dass  man  die  Unterstützungskassen  der 
italienischen  Emigranten  nicht  in  erster  Linie  wegen  der  Sorge  für  ihr  ma- 
terielles Wohlergehen,  sondern  um  der  Bewahrung  und  Pflege  nationaler 
Gesinnung  willen  unterhält.  Von  mehreren  Rednern  wurde  bedauert,  dass 
die  italienischen  Krankenkassen  in  der  Schweiz  der  eidgenössischen  Sub- 
vention nur  teilhaftig  werden,  wenn  sie  auch  Schweizer  als  vollberechtigte 
Mitglieder  aufnehmen. 

Es  ist  anscheinend  nicht  genug,  wenn  unser  Staat  italienischen  Kassen 
Vergünstigungen  gewährt,  wie  dies  kein  zweiter  Fremden  gegenüber  tut; 
diese  unterstützten  Ausländerkassen  empören  sich  sogar,  dass  man  an  die 
Ausrichtung  der  eidgenössischen  Subvention  die  Bedingung  anstandsloser 
Aufnahme  allenfalls  sich  zum  Eintritt  meldender  Schweizer  knüpft.  Freilich: 
man  hat  die  Ausländer  in  unserem  Land  förmlich  zum  Glauben  erzogen, 
dass  sie  in  allen  Fällen  mindestens  die  selben  Rechte  zu  beanspruchen  hätten 
wie  wir  Schweizer  selbst.  Lese  man  doch  den  materiell  nicht  zu  beanstan- 
denden, formell  aber  unglückselig  redigierten  Satz  in  Artikel  3  der  Kranken- 
und  Unfallversicherung:  „die  Kassen  dürfen  Schweizer  nicht  ungünstiger 
behandeln  als  andere  Mitglieder";  dann  wird  man  einsehen,  wie  sehr  wir 
die  Ausländer  in  ihrer  falschen  Auffassung  und  gelegentlichen  Anmaßung 
bestärken. 

Die  italienischen  Unterstützungskassen  wollen  nicht  vorab  oder  gar 
ausschließlich  gemeinnützige  Institute  sein,  sondern  italienische  Inseln  im 
fremden  Land,  die,  geleitet  durch  die  Einflüsterungen  der  Societä  Dante 
Alighieri,  für  Ausbreitung  des  nationalen  Gedankens  und  Empfindens  be- 
sorgt sind.  Im  Grunde  genommen  sind  sie  Bazillenherde  in  unserm  staat- 
lichen Organismus,  die  mit  Schuld  tragen  an  dem  schleichenden  Fieber, 
das  ganz  allmählich  —  wenn  wir  nicht  energisch  Vorsorge  treffen  —  unsere 
nationale  Gesundheit  verzehren  wird. 

Ja  wohl:  la  Svizzera  farä  da  se;  aber  gleichzeitig:  Videant  consules, 
ne  quid  res  publica  detrimenti  capiat.  a.  st. 

DDD 

758 


JUNGTÜRKISCHE  WIRTSCHAFTSPOLITIK 

Der  Balkankrieg  wird  sicherlich  auch  zu  einer  teilweisen  Umbildung 
der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  in  der  Türkei  führen,  wie  dieser  Krieg 
überhaupt  ganz  neue  wirtschaftliche  Perspektiven  eröffnet.  Das  Eingreifen 
der  Staatsgewalt  wird  unvermeidlich  sein,  wenn  die  Türkei  nach  dem  starken 
Aderlass  wirtschaftlich  wieder  in  die  Höhe  kommen  soll.  Nicht  allein  die 
Staatsfinanzen  müssen  reorganisiert,  sondern  auch  die  innere  und  äußere 
Wirtschaftspolitik  auf  neue  Grundlagen  gestellt  werden.  Diese  Fragen  dürften 
an  das  Osmanreich  herantreten,  so  bald  die  letzten  Kriegssorgen  verscheucht 
sind  und  das  Land  das  politische  Gleichgewicht  wieder  gefunden  hat.  Der 
Islam  huldigt  eher  einer  individualistischen  Wirtschaftspolitik;  der  Staats- 
begriff ist  ihm  im  Grunde  genommen  etwas  Fremdes,  er  ist  anti-etatistisch, 
antinationai.  Hartmann  Der  Islam,  1909,  S.  64)  sagt:  „Das  öffentliche 
Recht  ist  fast  gar  nicht  ausgebildet.  Diese  Unausgebildetheit  wird  Veran- 
lassung, dass  das  persönliche  Element,  das  im  Vorstellungsleben  besonders 
stark  ist,  sich  in  der  Gemeinde  vordrängt,  dass  sich  die  Parteien  zügellos 
gebärden,  dass  die  inneren  Wirrnisse  abreißen."  Hat  der  Islam  von  heute 
den  Willen  zum  Staat? 

Soeben  hat  ein  junger  deutscher  Gelehrter  in  einem  lehrreichen  Buche 
die  Frage  aufgeworfen,  welche  Wege  die  jungtürkische  Wirtschaftspolitik 
einzuschlagen  habe  (Carl  Anton  Schaefer,  Verlag  G.  Braunsche  Hofbuch- 
druckerei, Karlsruhe).  Das  Buch  erörtert  neue  interessante  Probleme  und 
bietet  eine  Würdigung  der  ökonomischen  und  finanziellen  Machtfaktoren. 
Wie  kaum  in  einem  andern  Werke  findet  man  hier  eine  zusammenfassende 
Darstellung  der  Banque  Ottomane,  die  eine  ungeheuer  wichtige  Rolle  im 
türkischen  Wirtschaftsleben  spielt.  Die  „Ottomanbank",  wie  der  Börsen- 
name schlechthin  heißt,  ist  der  Finanzagent  der  türkischen  Regierung;  sie 
ist  sodann  gleichzeitig  Kreditbank  und  Notenbank.  Weder  der  Tripoliskrieg 
noch  der  Balkankrieg  konnte  dem  Institut  etwas  anhaben;  das  Vertrauen 
der  Geschäftswelt  blieb  ihm  erhalten.  Trotz  Kirk-Kilisse  und  Kumanowo 
ist  der  Notenumlauf  eher  noch  gewachsen ;  er  hat  sich  auch  Ende  November 
1912  trotz  Lüle  Burgas  ziemlich  behauptet  und  Ende  Dezember  während 
des  Waffenstillstandes  wieder  vermehrt.  Für  die  zähe  Lebenskraft  der 
Türkei  ist  die  Tatsache  Beweis,  dass  Handel  und  Verkehr  nicht  in  einem 
Maße  eingedämmt  wurden,  wie  man  es  eigentlich  bei  einem  Lande  erwarten 
müsste,  das  ein  Teil  seiner  Volkskraft  auf  dem  Schlachtfelde  ließ.  Im  Jahre 
1925  läuft  das  Privileg  der  „Ottomanbank"  ab;  ob  es  erneuert  werden  wird, 
erscheint  heute  zum  mindesten  sehr  fraglich.  Die  Jungtürken,  die  eine 
regere,  von  ausländischen  Einflüssen  unabhängigere  Wirtschaftspolitik  in- 
augurieren wollen,  planen  eine  „Nationalbank".  Die  „Ottomanbank"  wahrte 
tunlichst  ihr  Privatinteresse;  sie  hat  früher  den  Versuch  gemacht,  ihre  Noten 
auch  außerhalb  Konstantinopels  zahlbar  zu  stellen,  allein  sie  wurde  von 
dem  Versuche  abgebracht,  weil  die  andern  Banken  dies  als  einen  billigen 
Weg  ansahen,  auf  Kosten  der  „Ottomanbank"  sich  Gold  in  der  Provinz  zu 
verschaffen,  indem  sie  die  Noten  dort  präsentierten  und  die  Goldversen- 
dungskosten so  ersparten. 

Die  ökonomischen  Betrachtungen,  die  Schaefer  an  die  Neuordnung  der 
staatlichen  Verhältnisse  schließt,  treffen  heute,  nach  dem  Frieden  von  Bu- 
karest, nicht  mehr  überall  zu.    Das  Buch  wurde  Ende  April  1913  bereits 

759 


abgeschlossen.  Wie  sich  die  neue  Gruppierung  im  einzelnen  vollzieht,  kann 
zurzeit  noch  nicht  vorausgesehen  werden;  denn  es  ist  ein  überaus  wahrer 
Satz,  dass  bei  aufsteigenden  Ländern  wirtschaftliche  Gesichtspunkte  ent- 
scheiden. Vor  dem  Balkankrieg  war  die  Türkei  der  größte  Abnehmer  bul- 
garischer Waren.  Wird  nun  für  diese  Produktion  ein  anderes  Absatzgebiet 
erschlossen,  so  dass  man  auf  die  Türkei  verzichten  kann?  Ist  das  nicht 
der  Fall,  so  wird  man  wohl  suchen,  mit  der  Türkei  in  irgend  einer  Form 
ins  Reine  kommen  zu  müssen.  Im  Jahre  1911  beschloss  die  Handelskammer 
in  Sofia,  die  Handelskammern  in  Belgrad  und  Konstantinopel  zur  Bildung 
eines  serbisch  -  bulgarischen  und  eines  türkisch  -  bulgarischen  Ausschusses 
einzuladen.  Der  Zweck  dieser  Ausschüsse  sollte  sein,  die  gegenseitigen 
Handelsbeziehungen  der  drei  Länder  zu  fördern,  ohne  sich  in  die  innere 
oder  äußere  Handelspolitik  der  betreffenden  Staaten  einzumischen.  Der 
serbisch-bulgarische  Ausschuss  ist  also  vor  dem  Kriege  gebildet  worden. 
Zur  Gründung  des  türkisch-bulgarischen  Ausschusses  waren  die  ersten 
Verhandlungen  in  Konstantinopel  eingeleitet  und  das  Programm  des  „Comite 
Turco-Bulgare"  ausgearbeitet  worden.  Es  enthielt  Richtlinien  zur  Annähe- 
rung in  Verkehrs-,  Zoll-,  Handelsrecht-  und  Landwirtschaftsfragen. 

Der  Kampf  um  die  Balkanmärkte  hat  nun  von  neuem  begonnen. 
Deutschland  macht  Anstalten,  Österreich,  das  bisher  im  Balkanhandel  ein 
unbestrittenes  Übergewicht  hatte,  aus  seinen  beherrschenden  Positionen  zu 
vertreiben ;  schon  vor  dem  Abschluss  des  Bukarester  Friedens  hat  ein  Heer 
deutscher  Agenten  und  Handelsreisender  sich  an  Ort  und  Stelle  begeben. 
Die  Balkanländer  werden  trachten,  aus  vorwiegenden  Agrikulturstaaten  sich 
auch  teilweise  zu  Industriestaaten  heranzuentwickeln,  denn  die  einseitig 
agrarstaatliche  Entwicklung  ist  für  die  nationale  Selbständigkeit  ebenso 
wenig  erwünscht  wie  eine  einseitig  industriestaatliche.  Die  Verselbständigung 
der  Wirtschaftspolitik  wird  daher  neben  der  Wiederherstellung  der  Militär- 
macht oberstes  Ziel  der  Türkei  und  der  Balkanstaaten  werden.  In  seinem 
Werke  über  die  Albanesen  sagte  Georgwitsch,  dass  heutzutage  für  jede 
Politik  die  Volkswirtschaft  ausschlaggebend  sei;  für  solche  Länder  sei  die 
Gewalt  der  wirtschaftlichen  Tatsachen  ein  unbeugsamer  Lehrmeister,  der 
auch  den  Blick  utopistischer  Gefühlspolitiker  zur  Erde  zwinge.  Schaefer 
glaubt  heute  noch  an  die  Ausführung  des  Programms  des  „Comite  Turco- 
Bulgare";  es  in  die  Tat  umzusetzen,  werde  das  nächste  Ziel  für  die  An- 
näherung sein,  ganz  im  Sinne  der  bekannten  Lehre  David  Humes  und  Adam 
Smiths,  dass  eine  Nation,  wenn  sie  sich  selbst  Reichtümer  erwerben  will, 
darauf  bedacht  sein  müsse,  die  wirtschaftliche  Stellung  ihrer  Nachbarvölker 
zu  stärken. 

Das  Buch  von  Carl  Anton  Schaefer  lässt  uns  erkennen,  welch  eine 
Fülle  interessanter  Wirtschaftsprobleme  in  der  Türkei  und  im  Balkan  der 
Lösung  harren.  Da,  wo  es  sich  um  die  Schilderung  bestehender  Verhält- 
nisse handelt,  befriedigt  das  Buch  in  hohem  Grade.  Nicht  ein  Gleiches 
lässt  sich  sagen  von  jenen  Partien,  die  mit  der  wirtschaftspolitischen  Zu- 
kunft sich  befassen.  Hier  sind  streng  zu  sondernde  wirtschaftliche  Posulate 
mit  Erfahrungssätzen  der  Balkanpolitik  in  einer  Weise  zusammengeworfen, 
dass,  wer  die  konkreten  Verhältnisse  nicht  aus  eigener  Anschauung  kennt, 
kaum  daraus  klug  wird. 

ZÜRICH  PAUL  QYGAX 

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760 


ZUR  ÖKONOMIE  KÜNSTLERISCHER  KRÄFTE 

Geistreich  hat  Ed.  Korrodi  im  ersten  Augustheft  die  ästhetische  Ver- 
rechnung von  Hauptmanns  „Festspiel  in  deutschen  Reimen"  durchgeführt. 
Der  Fall  regt  noch  einige  Betrachtungen  an. 

Wie  fiel  man  just  auf  Hauptmann  als  den  Berufenen  zu  einer  patrioti- 
schen Dichtung  für  die  Masse?  Finden  sich  Ansätze,  Verheißungen  oder 
gar  Erfüllungen  in  dieser  Richtung  bei  dem  Dichter?  Nicht  dass  ich  wüsste. 
Auch  von  seinem  großen  historischen  Drama,  dem  Florian  Geyer,  kann 
man's  wahrlich  nicht  sagen.  Viel  ergreifendes  gegenständliches  Detail,  aber 
kein  durchsichtiger  Bau  in  einfach-großen  Linien;  eine  Fülle  farbiger  Ge- 
stalten, aber  keine  starke  dramatische  Gestaltung;  ein  Held,  der  nicht 
eigentlich  heldenhaft  wirkt.  Heldisches  Pathos  ist  Hauptmanns  Sache  nicht. 
Das  soziale  Empfinden  und  Mitleiden  pulsiert  stark  in  ihm.  Die  mensch- 
liche Schwäche  ist  bei  ihm  besser  aufgehoben  als  die  menschliche  Größe, 
das  Leidende  besser  als  das  mannhaft  sich  Wehrende,  kraftvoll  Kämpfende, 
noch  im  Unterliegen  Siegende.  Mit  solcher  Veranlagung,  die  einem  tief 
pessimistischen  Zug  gehorcht,  ist  gerade  dem  Enthusiastischen  nicht  leicht 
beizukommen.  Und  doch  wird  just  eine  Festspieldichtung,  die  den  Strom 
aufflutender,  hinstürmender,  mitreißender  Begeisterung  eindrücklich  zur  An- 
schauung bringen  soll,  ohne  dieses  Element  eines  heißen,  unter  Umständen 
unbedenklichen  Draufgängertums  die  Würze  der  Volkstümlichkeit  einbüßen 
und  kalt  lassen.  Vollends  das  ironische  Element  aber  ist  ein  Todfeind  aller 
Popularität.  Hauptmann  glaubte  nicht  darauf  verzichten  zu  sollen.  Les 
petites  marionettes  fönt,  fönt,  fönt  trois  petits  tours  et  puis  s'en  vont  — 
heißt's  in  dem  alten  französischen  Kinderreim.  So  erscheint,  wie  einem 
Anatole  France,  einem  Gerhart  Hauptmann  das  Weltgeschehen  und  das 
Menschentreiben.    Das  schmeichelt  aber  dem  Stolz  der  Menge  nicht. 

So  hätte  Hauptmann,  und  war  er  tausendmal  ein  Schlesier  von  Ge- 
burt, für  die  Breslauer  Aufgabe  gar  nicht  in  Betracht  kommen  dürfen.  Die 
ihn  darum  angingen,  haben  seine  spezifische  Begabung  völlig  verkannt. 
Und  das  darf  man  ihnen  als  eine  Versündigung  gegen  die  Ökonomie  des 
Talentes  anrechnen.  Freilich,  man  wird  dem  gegenüber  einwenden:  Gerhart 
Hauptmann  hätte  das  selber  einsehen  und  auf  die  Anfrage  einen  ablehnen- 
den Bescheid  geben  sollen.  Allein  das  ist  leichter  gesagt  als  getan.  Ein 
solcher  Auftrag  birgt  eine  starke  Lockung.  Wenn  andere  einem  etwas  zu- 
trauen, ist  es  so  leicht  nicht,  sich  selbst  zu  misstrauen.  Wer  weiß,  vielleicht 
bringt  man's  doch  auch  zustande.  Und  die  Ehre,  die  man  damit  davonträgt, 
verführt.  So  kommen  dann  derartige  falsche  Situationen  zustande.  Die 
Auftraggeber  spekulieren  mit  dem  berühmten  Namen,  und  der  berühmte  Autor 
lässt  sich  ködern.  Das  Resultat  wird  eine  allgemeine  Enttäuschung  sein, 
und  der  Künstler,  der  sich  verführen  ließ,  trägt  den  schwersten  Schaden 
davon.  Er  wird  aus  den  Grenzen  seines  Talentes  herausgetrieben.  Mit  den 
ihm  verliehenen  Mitteln  soll  er  etwas  machen,  wozu  sein  Genius  ihm  die 
Inspiration,  die  Kraft  versagt ;  sich  selbst  untreu  werden  will  er  auch  nicht, 
denn  dazu  ist  er  doch  zu  sehr  Künstler,  weiß  auch,  dass  seine  Freunde 
ihm  genau  auf  die  Finger  sehen  und  ihm  sofort  vorrechnen  würden,  er  habe 
schnöde  zu  fremden  Göttern  gebetet.  So  wird  er  niemand  befriedigen.  Er 
zerbricht  an  einer  Aufgabe,  für  die  er  nimmermehr  geschaffen  war. 

761 


Was  bei  Hauptmann  sich  ereignet  hat,  das  kommt  gar  nicht  so  selten 
auch  auf  andern  Gebieten  künstlerischen  Schaffens  vor.  Ein  Maler,  ein 
Bildhauer  kann  in  ganz  dieselbe  Zwickmühle  hineingeraten.  Einsichtslose 
drängen  ihn  in  eine  Arbeit  hinein,  der  seine  eigenste  Begabung  widerstrebt; 
ein  falscher  Ehrgeiz,  vielleicht  der  Hintergedanke:  Jetzt  will  ich's  denen, 
die  mir  das  nicht  zutrauen,  zeigen,  dass  sie  sich  geirrt  haben ;  eine  schwäch- 
liche Nachgiebigkeit  gegenüber  falsch  beratenen  und  falsch  beratenden  so- 
genannten Verehrern  —  sie  locken  ihn  in  das  Netz.  Kostbare  schöpferische 
Kräfte  sind  durch  eine  solche  Missachtung  der  Ökonomie,  die  im  künstleri- 
schen Leben  so  gut  zu  Recht  besteht  wie  im  wirtschaftlichen,  sozialen, 
politischen,  wo  the  right  man  on  the  right  place  wichtigstes  Prinzip  ist, 
auf's  schwerste  geschädigt,  unter  Umständen  in  ihrem  Lebensnerv  getroffen 
und  vernichtet  worden.  Wir  wollen  das  Allgemeine  nicht  durch  Beispiele, 
die  auch  in  unserem  Lande  zur  Verfügung  ständen,  verdeutlichen ;  aber 
unwichtig  schien  es  uns  nicht,  die  Breslauer  Festspielfrage  auch  von  diesem 
Gesichtspunkt  aus  hier  zu  betrachten.  Sie  birgt  eine  Lehre  in  sich,  die 
ernstlich  erwogen  und  beachtet  zu  werden  verdient. 

ZÜRICH  H.  TROG 

a  D  D 


„ARNOLD  REITZENSTEIN" 

Einen  ganz  merkwürdigen  Begriff  vom  Wert  der  Untertitel  scheint  mir  der 
Verfasser  dieses  Buches')  zu  haben.  Es  gibt  allerlei  Leute,  auch  solche, 
die  manchmal  den  Drang  fühlen,  sich  ihren  Mitmenschen  dadurch  bekannt 
zu  machen,  dass  sie  etliche  Druckbogen  mit  jammergestaltigen  Gedanken 
bedrucken  lassen.  Zu  diesen  gehören  verliebte  Jünglinge  oder  andere 
närrische  Seelen.  Meistens  pflegt  man  solche  Erzeugnisse  zu  späterem 
rentablem  Gebrauch  zu  alten  Zeitungen  zu  legen;  hin  und  wieder  aber  ist 
es  nicht  unangebracht,  einem  solchen  „Roman"  auf  die  Schliche  zu  kommen 
und  das  Publikum  darüber  aufzuklären,  dass  es  noch  andere  Schundliteratur 
gibt  als  Hintertreppenlektüre. 

Mein  verehrter  Herr  Verfasser,  nehmen  Sie  mir  meinen  Ausfall  nicht 
zu  übel.  Er  gilt  nicht  so  sehr  Ihnen,  als  der  ganzen  Horde  derjenigen, 
die  Ihnen  die  Berechtigung  geben,  an  Ihre  gute  „Muse"  zu  glauben.  Bitte, 
lesen  Sie  einmal  im  Buche  eines  Ihrer  Freunde  einen  Satz  wie  den,  den 
Sie  uns  schon  auf  der  ersten  Seite  auftischen: 

„Es  war  einer  der  ersten  Junitage  des  Jahres  1848,  als  nach  jähem 
Rückfall  der  Kälte,  wie  er  alljährlich  gegen  Ende  Mai  den  Winter  noch- 
mals auf  die  schon  in  Blätter-  und  Blütenfülle  schwellenden  Fluren  herab- 
zubannen  droht,  plötzlich  wieder  eine  so  warme  Luft  hereinströmte,  als  ob 
der  Lenz,  dem  soeben  erst  wieder  siegreich  zurückgekehrten  Winter  zum 
Trotz,  gleichsam  schon  die  heißen  Tage  des  Juli  herbeibeschwören  wollte." 

Was  würden  Sie  dazu  sagen? 

Oder  wenn  Sie  lesen: 


1)  Hermann  Brunnhofer,  Arnold  Reitzenstein  —  Kulturhistorischer  Roman  aus  Hein- 
rich Zschokkes  Nachwelt  —  Max  Drechsel,  Bern. 

762 


„Inzwischen  war  die  Mittagspause  mit  ihrem  Rednergenuss  und  den 
Tafelfreuden  vorüber  gerauscht  ..." 

Oder: 

„Das  Schützenfest  rauschte  vorüber  .  .  .** 

Oder: 

„.  .  .  und  das  Gefährt  war  am  Hause  Föhrenta!  vorbeigerauscht  .  .  .'^ 

„Rauschen"  Sie  da  nicht  selbst  ein  wenig  auf? 

Es  mag  für  Sie  sehr  begeisternd  sein,  dass  in  einem  „Gärtlein"  „auf 
der  einen  Seite  Kartoffeln,  Gurken,  Kohl,  Spinat,  Mangoldkraut,  Rettiche, 
Zwiebeln,  Sellerie,  Petersilie,  Kresse,  Körbelkraut  gezogen  wurden,  auf  der 
andern  Seite  aber  in  mehreren  Reihen  an  dünnen  Tannenstecken  hoch- 
emporrankende Prahlbohnen  mit  ihrer  Fülle  von  Purpurblüten  die  Haupt- 
rolle spielten;  weiterhin  Immergrün,  flammend  rote  Tulpen,  Kaiserkronen, 
glühende  Pfingstrosen,  Resedas,  Nelken,  blendendweiße  Lilien,  ein  beschei- 
denes Dasein  fristeten.'' 

Ich  würde  Ihnen  sehr  empfehlen,  sich  etwas  vollständiger  auszudrücken 
und  auf  der  einen  Seite  Rüben,  Kohlrabi,  Knoblauch,  Erbsen,  Hocker- 
bohnen etc.  auch  eine  Rolle  spielen  lassen,  auf  der  andern  aber  auch  herr- 
lichblauen Kornblumen,  wundergelben  Strohsternen,  süßschwarzen  Dahlien 
ein  bescheidenes  Dasein  zu  fristen  erlauben. 

Ist  es  nicht  rührend  dass  einer  sein  Instrument  „herunterlangte"  (ge- 
meint ist  von  der  Schulter)  „und  Zwyssigs  Melodie  zu  Widmers  Schweizer- 
psalm blies?"  Warum  in  aller  Welt  drucken  Sie  dann  zu  den  Worten,  die 
Sie  für  zwei  Strophen  anführen,  nicht  auch  die  Melodie  ab?  Ist  es  nicht 
eine  Offenbarung,  wenn  im  Jahre  1850  „die  Schweizerinnen  in  Staat  und 
Gemeinde  zur  gleichberechtigten  Stellungen  in  jeder  Art  von  Amts-  oder 
Privatbureau  als  Sekretärinnen,  Kassiererinnen,  Telegraphistinnen,  Tele- 
phonistinnen,  Postbeamtinnen,  Advokatinnen,  Pfarrerinnen,  Lehrerinnen» 
Professorinnen,  Schulinspektorinnen,  Armenfürsorgerinnen  gewählt  worden 
sind  ?" 

Wenn  die  Engländerinnen  im  selben  Jahr  1850  „mit  Radau  ins  Parla- 
ment oder  in  städtische  Ratsversammlungen  einbrechen,  den  Ministern  oder 
Ratsherren  Steine  an  den  Kopf  werfen",  fällt  Ihnen  da  nicht  auch  ein  Stein 
auf  den  Kopf? 

Wenn  „die  Lawine  der  Berichterstattung  losbricht",  „ein  Mund  mit 
Küssen  überschüttet"  wird,  wenn  „es  Lothar  in  seinem  schweizerisch  scham- 
haften Gemüte  graut",  wenn  man  1850  im  Schnellzug  Frankfurt-Basel,  1852  im 
Nachtzug  nach  Aarau  sitzt,  zwischenhinein  das  Einjährigfreiwilligenjahr  ab- 
dient, während  doch  die  Eisenbahnstrecke  Frankfurt-Basel,  die  Nachtzüge  nach 
Aarau,  das  Einjährigfreiwilligenjahr  Dinge  sind,  die  im  Jahre  1852  der  Zu- 
kunft vorbehalten  waren ;  wenn  man  dann  erst  auf  Seite  99  des  „kultur- 
historischen" Romanes  angelangt  ist  und  192  Seiten  besprechen  sollte, 
klappt  man  das  Buch  zu  und  überlässt  es  eventuellen  Lesern,  größere  Lang- 
mut aufzubringen. 


Man  wird  nach  diesen  Beispielen  begreifen,  dass  man  mit  einer  guten 
Dosis  Unglauben  an  die  Lektüre  des  schon  einige  Jahre  früher  erschienenen 
Werkes  des  gleichen  Autors,  Professor  für  Sprachen  an  der  Berner  Uni- 


763 


versität,  herantritt^).  In  diesem  Buch,  das  die  Schweizersagen  wissenschafthch 
behandelt  und  in  Vergleich  mit  den  deutschen  Sagen  zieht,  machen  die 
Quellenangaben,  die  Anmerkungen  und  Nachträge  einen  soliden  Eindruck. 
Sicher  ist  nur  das  eine,  dass  das  vom  Verlag  als  Hausbuch  empfohlene 
Werk  ein  solches  nie  werden  wird,  da  es  die  Fassungen  der  verschiedenen 
Sagen  nicht  oder  nur  auszugsweise  und  sehr  nüchtern  wiedergibt.  Gegen 
Familienanschluss  spricht  auch  der  nach  meiner  Meinung  falsche  Stand- 
punkt des  Verfassers  über  das  Verhältnis  des  Volkes  zur  Sage.  Nicht  da- 
durch, dass  man  die  Echtheit  der  Sagen  an  und  für  sich  in  Zweifel  gesetzt 
hat,  sind  sie  dem  Volk  entfremdet  worden,  sondern,  weil  man  sich  alle 
erdenkliche  Mühe  gegeben  hat,  und  zwar  mit  Erfolg,  die  Wirklichkeit  der 
Sagengestalten  abzuleugnen.  Dadurch  dass  man  die  Zusammenhänge 
dieser  Gestalten  mit  Naturvorgängen  nachweist,  mögen  diese  nun  noch  so 
gemeinverständlich  sein,  ist  nichts  geholfen.  Volksbuch  wird  nur  ein  solches 
Werk  werden,  das  den  Volksglauben  wieder  zu  wecken  im  Stande  ist!  Wer 
wagt  sich  an  diese  Aufgabe? 

ZÜRICH  ROBERT  JAKOB  LANG 

a  D  D 
DER  KONGOSTAAT  LEOPOLDS  II. 

Wenn  die  Schweiz  auch  keine  direkten  Kolonien  verwaltet  und  nie- 
mals erwerben  wird,  können  wir  doch  an  der  gewaltigen  Erscheinung  der 
modernen  Kolonialwirtschaft  nicht  achtlos  vorübergehen.  Die  weltwirt- 
schaftlichen Zusammenhänge  machen  auch  uns  die  Veränderungen  der 
Kolonialpolitik,  die  Steigerung  oder  Minderung  der  Produktion  jedes  Ge- 
bietes usw.  unmittelbar  fühlbar;  auch  unsere  international  garantierte  Neu- 
tralität darf  uns  für  die  Machtverhältnisse  der  uns  umgebenden  Großstaaten 
nicht  gleichgültig  machen,  die  immer  mehr  von  der  Entwickelung  kolonialer 
Gebiete  abhängig  werden.  Aber  selbst  wenn  wir  wirtschaftlich  und  politisch 
uns  mit  einer  chinesischen  Mauer  umgeben  könnten,  bliebe  uns  die  kuhu- 
relle  Pflicht,  am  Werke  der  Ausbreitung  unserer  Kultur  über  die  ganze 
Welt  teilzunehmen.  Die  heutigen  Kolonialreiche  haben  in  der  Geschichte 
der  Menschheit  kein  Vorbild;  zum  ersten  Mal  wird  der  Versuch  gemacht, 
den  letzten  Barbaren  und  Antipoden  in  ein  System  staatlicher  und  wirt- 
schaftlicher Verhältnisse  einzufügen,  das  in  Europa  ausgereift  wurde.  Alles 
spricht  dafür,  dass  der  Versuch  unaufhaltsam  zum  Erfolge  führen  wird.  Glück- 
licherweise stellt  auch  die  Schweiz  ihren  Anteil  zum  Pionierkorps  dieser  Bewe- 
gung. Von  der  bescheidenen  Arbeit  der  Tausende  von  hoch  geschulten  Lehrern, 
Ingenieuren  und  Arbeitern  im  Auslande  berichtet  die  schweizer  Presse 
nur  selten;  für  das  Land  bedeutet  sie  geradeso  gut  einen  Gewinn  wie  für 
die  fremden  Länder,  denen  der  sichtbare  Erfolg  zugute  kommt.  (Es  verhält 
sich  damit  nicht  anders  wie  mit  der  geistigen  Aussaat,  die  unsere  Hoch- 
schulen durch  die  ausländischen  Studenten  ausstreuen  —  auch  sie  bringt 
uns  kulturelle  und  materielle  Früchte  und  lohnt  übergenug  die  Ausgaben, 
die  kurzsichtiger  Chauvinismus  verringern  möchte.)  Manchmal  gelingt  es 
aber  auch  einem  Schweizer,  in  die  vordem  Reihen  zu  treten.    Wir  haben 


*)  Prof.  Dr.  Hermann  Brunnhofer,  Die  schweizerische  Heldensage  im  Zusammenhang 
mit  der  deutschen  Götter-  und  Heldensage,  Fr.  Semminger,  Bern. 

,764 


Afrikaforscher  und  Qrönlandreisende.  Wir  haben  auch  Leute,  die  an  der 
Kolonisation  unmittelbar  teilnehmen,  nicht  nur  als  Pflanzer  und  Händler. 
Deren  Wirken  erscheint  uns  umso  beachtenswerter,  als  sie  von  den  poli- 
tischen und  wirtschaftlichen  Machtvorstellungen  vermutlich  wenig  beinflusst 
sein  werden,  die  manchmal  den  Angehörigen  der  kolonisierenden  Völker 
den  Kopf  verdrehen.  Und  wenn  gar  ein  echter  Marxist  über  seine  kolo- 
nialen Erfahrungen  berichtet,  so  kann  er  erst  recht  auf  Interesse  zählen. 
Von  Max  Büchlers  erstem  Bändchen  über  den  Kongostaat,  in  dem  dessen 
Geschichte  behandelt  wird,  war  hier  schon  die  Rede;  der  zweite  Teil*) 
wird  außerhalb  der  Fachkreise  noch  mehr  interessieren,  da  er  über  den 
Spezialfall  Kongo  hinaus  grundsätzliche  Bedeutung  hat.  Die  führenden 
Sozialisten  sind  um  das  Kolonialprobiem  nie  recht  herumgekommen ;  wie 
sich  die  Einzelnen  und  die  sozialistischen  Parteisynoden  damit  abfanden, 
beschreibt  Büchler  nicht  ohne  Humor.  Er  selbst  ist  folgerichtig  genug,  um 
eine  kapitalistische  Wirtschaft  in  Afrika  auch  dann  für  nötig  zu  halten, 
wenn  ihre  Einführung  nicht  ohne  Verletzungen  der  Humanität  vor  sich 
gehen  kann.  Die  Begründung  ist  in  zwei  ausführlichen  Abschnitten  gege- 
ben, die  von  den  Negern  und  vom  Verhältnis  der  Eingebornen  zur  Kulti- 
vationswirtschaft  handeln.  Reich  an  ethnographisch  wertvollen  Mitteilungen, 
zu  denen  persönliche  Erfahrungen  und  Forschungen  den  Verfasser  nicht 
minder  befähigen  als  seine  umfassende  Kenntnis  der  Kolonialliteratur,  sind 
diese  Abschnitte  doch  politisch  zu  würdigen.  Man  bekommt  in  diesen  Fragen 
fast  immer  nur  extreme  Stimmen  zu  hören.  Entweder  spricht  der  Kauf- 
mann, der  dem  „Geschäft"  alles  andere  zu  opfern  bereit  ist  und  dem  der  |  . 
Diplomat  und  Kolonialbeamte  gedankenlos  nachbetet,  oder  der  Missionär,  j 
der  mit  humanitären  Phrasen  oft  ein  Unverständnis  der  Wirklichkeit,  noch 
öfter  ein  anderes  Geschäft,  wenn  auch  vielleicht  idealerer  Art,  zu  bemänteln  * 
sucht.  Von  all  diesen  Vorurteilen  ist  Büchler  frei  und  wenn  er  an  alles 
den  sozialistisch-orthodoxen  Maßstab  anlegt,  so  hat  dies  mindestens  den 
Vorteil,  eine  ungewohnte,  vielfach  verblüffende  Betrachtung  zu  ergeben. 
Die  Folgerungen  daraus  für  den  nunmehr  belgischen  Kongo  bringen  die 
beiden  letzten  Abschnitte  des  Bandes,  die  auf  jeder  Seite  das  Streben 
zeigen,  den  Dingen  und  Menschen  gerecht  zu  werden.  Dass  Leopold  II.  wie 
schon  im  ersten  Bande  besser  davon  kommt  als  im  Urteil  des  europäischen 
Bierbürgers,  wird  nicht  überraschen;  Büchler  gibt  aber  auch  die  Quellen 
an,  aus  denen  man  sich  über  die  Angriffe  auf  die  Kongoverwaltung  unter- 
richten kann.  Ein  Auszug  des  reichen  Inhaltes  lässt  sich  nicht  in  den 
Rahmen  einer  kurzen  Anzeige  fügen.  Die  Lektüre  selber,  die  auch  durch 
den  lebhaft  persönlichen  Stil  des  Verfassers  erleichtert  wird,  sei  aber  jedem 
empfohlen,  der  den  Blick  über  unsere  engen  Grenzpfähle  hinaus  richten 
will.  Ein  echter  Schweizer  und  ein  rechter  Kolonialmensch  spricht  hier  — 
hoffentlich  hört  nicht  nur  das  Ausland  seine  Stimme. 

PETERSBURG  H.  G.  PRECONf 

DDD 


')  Der  Kongostaat  Leopolds  II.    Von  Dr.  Max  Büchler.  Zweiter  Teil :  Die  Eingeborenen 
und  die  Kultivationspolitik.  SP,  240  S.    Zürich,  Verlag    von  Rascher  &  Cie.  1913.   Preis  4  Fr. 

765 


L'EROICA 

Vor  zwei  Jahren  wurde  in  der  allerhand  Unternehmungen  holden 
{Hafenstadt  Spezia  von  kunsttreuen  Neuitalienern  eine  vornehme  Zeitschrift 
gegründet,  die  manches  versprach  und  schon  manches  gehalten  hat: 
L'EROICA,  Rassegna  d'ogni  poesia.  Mit  einem  gewissen  Heldensinn  trat 
und  tritt  sie  in  der  Tat  ein  für  bedeutsame  Kunstäußerungen  in  Worten, 
Bildern  und  Tönen,  besonders  jüngerer,  oft  noch  nicht  genügend  anerkann- 
ter Künstler.  Redigiert  wird  sie  von  Ettore  Cozzani  und  Franco  Oliva. 
Jährlich  erscheinen  zehn  Nummern  ^).  Die  gute  Ausstattung  mag  zu  ihrem 
durchdringenden  Erfolge  beigetragen  haben. 

Vor  mir  liegt  die  erste  Nummer  des  dritten  Jahrgangs.  Aus  dem 
fesselnden  Inhalt  hebe  ich  hervor: 

Das  knappe  Vorwort  der  Redaktoren,  die  sich  der  Verwirklichung  ihres 
einstigen  Traumes  freuen  und  mit  wackerem  Ruf  zur  Arbeit  schließen: 
„AI  lavoro!"  —  Die  bewegten  balladenartigen  Strophen  Cozzanis  La  Tem- 
pesta,  die  eine  wilde  Sage,  „mito  selvaggio",  ein  Monna  Vanna-Motiv, 
wirksam  verwerten.  D'Annunzios  Meerespoesie  und  Frauenmacht  leuchtet 
durch;  aber  bei  Cozzani  ist  mehr  Einfachheit  und  Konzision^), 

„Das  Lob  der  Mutter",  LElogio  della  madre,  des  hier  schon  mehr- 
fach erwähnten  Angiolo  Silvio  Novaro,  eine  warmblütige  Dichtung  in  eigen- 
wertiger Prosa,  anschaulich,  eindringlich,  durchbebt  vom  Schlage  eines 
froh  dankenden  Herzens.  Das  Thema  der  Mutter  —  italienische  Dichter 
berühren  es  vielleicht  noch  häufiger  als  andere;  in  allen  Schriften  Novaros 
kehrt  es  wieder,  tief  ergreifend  in  dem  Gedicht  La  madre  aus  der  Samm- 
lung La  Casa  del  Signore  —  erfährt  im  Elogio  eine  sonderlich  zarte  und 
doch  machtvolle  Durchführung. 

Ein  Gedicht  Francesco  Chiesas,  des  in  Italien  so  bewunderten  und 
gerne  aufgenommenen  Schweizers.  Es  gilt  einer  beglückenden  Jungfrau, 
Olimpia,  die  alle  sie  umgebende  Lenzespracht  in  ihrer  Gestalt,  in  ihrem 
Wesen  ausprägt,  und  den  Dichter  mahnt,  sich  sorglos,  ohne  Fragen,  der 
Frühlingsfreude,  der  genießenden  Ruhe  hinzugeben: 

üomo,  se  i  cieli  tornano  vivaci,  Mensch,  wenn  der  Himmel  wieder  leuchtet, 

e  il  suol  verdeggia  e  pigolano  i  nidi,  und  die   Erde   grünt,   und   die  Nester  jubeln, 

uomo,  t'allegra  del  bei  tempo  e  taci.  Mensch,    freue    dich   der   schönen    Zeit    und 

Attendi  il  canto  che  t'allieti  e  guidi,  schweige.  Horche  auf  den  Sang,  der  dir  Wonne 

cerca  la  bocca  che  ti  parli  e  baci,  und    Führung    ist,  suche   den   Mund   der  dir 

godi  e  riposa  senza  chieder  come.  Worte  und  Küsse  beut,  genieße  und  ruhe,  und 

Men  gioia  ö  quando  ne  conosci  il  nome.  frage  nicht.    Geringer  ist  die   Freude,  die  du 

ergründest  und  zu  nennen  weißt. 

Wer  etwa  in  Chiesa  bisher  mehr  nur  den  hochintellektuellen,  kühlen, 
wenn  noch  so  phantasieprächtigen  Ästheten  zu  sehen  vermochte,  dem  muss 
die  Wärme  dieses  Gedichtes  besonders  wohl  tun.  Als  —  vielleicht  un- 
bewusste  —  Leopardi-Reminiszenz,  in  Laut  und  Inhalt  (L'Infinito!),  mutet 
die  sechste,  allerdings  den  andern  innerlich  völlig  eingegliederte  Strophe  an: 

„Sempre  dolce  mi  fu  tra  l'erbe  nuovej 
di  ruscelli  ascoltar  mite  lamento 
e  pensarvi  altre  voci  ..."  — 

>)  Verlag  Formiggini,  Genua. 

2)  Zwei  seiner  Verse  könnten  von  den  Redaktoren  und  ihren  Helfern  gelten: 
Noi  come  uccelli  in  rugiadosa  frasca  Wir,  gleich  Vögeln  in  taufrischem  Laube, 

sognavam  voll  con  libere  penne.  träumten  Flüge  mit  freien  Flügeln. 

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Jedes  Heft  ist  in  reicher  Art  geschmüc!<t.  Prosen  und  Poesien  werden 
bildlich  eingeleitet,  und  außerdem  sind,  unabhängig  vom  Text,  verschiedene 
Stiche,  Drucke  und  Schnitte,  auch  farbige,  beigegeben,  wovon  mir  mehreres 
bemerkenswert  scheint.  Urteile  hierüber  seien  andern  überlassen.  Ich  führe 
nur  zwei  Namen  an:  Leonardo  Bistolfi  und  Adolfo  De  Carolis. 

Mannigfach  ist  der  letzte  Teil  jedes  Heftes,  La  buona  novella,  „Die 
gute  Kunde",  das  heißt  mehrerlei  Kritisches  und  Bibliographisches,  sowie 
persönliche  Nachrichten.  Unter  diesem  Titel  stoße  ich  in  der  vorliegenden 
Nummer  nochmals  auf  Novaro  und  Chiesa.  Von  Novaro,  dem  „Dichter 
ohne  Hast  und  ohne  Rast",  wird  eine  mit  Spannung  erwartete  Sammlung 
lyrischer  Gedichte  angekündigt,  Cuor  nascosto,  ein  Buch  „der  Güte,  Wahr- 
heit, Einfachheit  und  Unmittelbarkeit".  Ähnlich  Novaro  ist  auch  Chiesa 
„einsam  und  ohne  Eile".  Seinen  Werken  wird  eine  anerkennende  Charakte- 
ristik zu  Teil;  besonders  hervorgehoben  wird  sein  letzter,  lichtsprühen- 
der erzählender  Band  Istorie  e  favole.  Man  mag  dem  Urteil  zustimmen, 
dass  sich  in  diesem  Bande  Chiesa  „jünger,  freier,  schwelgerischer"  offenbart. 
Sollte  er  aber  wirklich  —  was  Chiesas  Entwicklung  anbelangt  —  eine 
„Überraschung"  gewesen  sein?  —  Wer  aufmerksam  durch  Chiesas  Viali 
d'oro  wandelte,  erblickte  da  schon  deutliche  Anzeichen  zu  den  neuen, 
sinnenglühenden  Bildern,  wie  sie  die  Istorie  e  favole  da  und  dort  vor 
uns  entfalten. 

Eine  besondere  Rubrik  gehört  den  mit  Unrecht  Vergessenen.  Diesmal 
wird  ein  oft  allzu  lebenslustiger  sizilianischer  Dichter,  Domenico  Tempio 
(1750—1821),  wiedererweckt,  dessen  Richtwort  in  seiner  Mundart  also  lau- 
tete: „Amu  la  Paci  e  cantu  lu  Piaciri",  „Ich  liebe  den  Frieden  und  singe 
die  Freude". 

Eine  kurze  Mitteilung,  Musicisti  nuovi,  verspricht  für  spätere  Num- 
mern musikalische  Beiträge  junger  leistungskräftiger  italienischer  Musiker, 
wie  Bastianen!,  Gui,  Alaleona  Malipiero,  Barilli.  „Eine  stolze  Ernte  neuer 
schöner  Musik  reift  in  Italien !  Hier,  in  dieser  Eroica,  werden  wir  des  guten 
Kornes  erste  reife  Ähren  brechen." 

Wieder  ein  Abschnitt  berichtet  von  den  schon  bestehenden  und  den 
noch  zu  gründenden  Corporazloni  (Gesellschaften,  Bünde)  dell'Eroica, 
so  die  der  Graphiker,  Musiker,  Architekten,  und  vor  allem  die  der  Artieri, 
das  will  besagen,  Arbeiter  gediegenster  Gesinnung,  mit  künstlerischen  Ab- 
sichten. Es  heißt,  das  Wort  artiere  müsse  wieder  geheiligt  werden  durch 
das  Licht  edelster,  makelloser  Arbeit.  Hat  es  nicht  schon  Carducci,  der 
große  Erzieher  Neu-ltaliens,  wieder  geheiligt?  „11  poeta  e  un  grande  ar- 
tiere .  .  .")  Ferner:  „Die  Artieri  der  Eroica  werden  alle  diejenigen  Künstler 
sein,  die  erfasst  haben,  was  die  Kunst  dem  Leben  schuldet,  und  das  Leben 
der  Kunst,  und  wie  Kunst  und  Leben  sich  völlig  in  der  Liebe  des  dekorativ 
Schönen  verbinden  sollen,  das  unser  Alltagsdasein  in  die  helle  Sonne  der 
Poesie  erhebt." 

So  bemüht  und  bewährt  sich  auch  in  Italien  eine  rührige  Zentrale 
und  ein  mutiges  Organ  neuer  Geschmacksbildung  und  freier  Kunstentwicklung. 

ZÜRICH  E.  N.  BARAGIOLA 

DOD 


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SALOMON  D.  STEINBERG:   DIE  BLAUE  STUNDE 

In  drei  Teilen :  „Aus  Stunden  der  Dämmerung",  „Aus  Nächten,  „Vom 
Tage"  bietet  sich,  sorgfältig  komponiert,  „Ein  Kranz  Gedichte  von  mir  und 
dir."*)  in  der  Mitte  leuchten  zwei  Lieder,  das  fernenmutige  „Unruhiges 
Leben"  und  das  dunkle  „Lied  zum  Wein".  Aus  Wünschen,  Glück  und  Qua- 
len der  Liebe  steigert  sich  das  Lebensgefühl  dort  zum  schicksalsbewussten 
Zukunftsdrang,  hier  zur  Ergriffenheit  vor  dem  Symbol  des  rätselhaften  Seins. 

Der  Grundton,  der  aus  den  neunundfünfzig  Stücken  der  Sammlung 
klingt  und  Schmerz  und  Freude  dämpft  zu  wehmütiger  Harmonie,  ist  in- 
nige, sinnende  Gehaltenheit.  Der  Dichter  scheut  das  Laute,  Grelle  und 
führt  gern  die  Zeit  herauf,  „die  zwischen  Tag  und  Nacht  erglänzt  in  matten 
Farben."  So  wird  vielleicht  die  Domäne  seines  Talents  mit  dem  Hinweis 
bezeichnet,  dass  die  Dämmerung  und  allgemein  die  „kaum  bewegte  Land- 
schaft"  die   Gedichte  tragen,   in   denen   die   persönliche  Melodie  vibriert. 

Spätherbstabend : 

Tagmüde  fließt  der  Strom  hinab, 
Von  dunlilen  Bändern  überspielt. 
Was  sich  im  hellen  Licht  erhielt 
Sinkt  nieder  matt  und  dämmert  ab. 

Ein  Licht  ums  andere  erstirbt, 
Und  alles  fließt  dem  Dunkel  zu, 
Klingt  aus  und  hüllt  sich  in  die  Ruh', 
Die  um  den  jungen  Abend  wirbt. 

'  Da  wächst  dein  Bildnis  mir  empor, 

In  blasser  Schönheit  überhellt  — 
Dann  aber  schwankt  es  müd  und  fällt  — 
Versinkt  im  dämmerblauen  Flor. 

Die  gegenwärtige  Ruhesehnsucht  oder  überhaupt  das  Klarheitsbedürfnis 
drängen  oft  zum  Spruche,  der  den  Weisheitsgewinn  aus  dem  Erlebnis  zieht. 
Es  dokumentiert  die  Begabung,  dass  diese  nachdenklichen  Schlüsse  immer 
im  Felde  der  Poesie  bleiben. 

Dazu  ist  alles  vornehm  und  mit  den  Mitteln  einer  einfachen  Metrik 
und  Sprache  gearbeitet.  Bewirkt  ein  noch  beschränktes  Ausdrucksver- 
mögen bisweilen  Verschwommenheit  der  Faktur,  hindert  etwa  ein  Sich- 
Verlieren  im  Rhythmus  die  Prägung  des  Gefühlten,  oder  sind  die  Reime 
hin  und  wieder  bezüglich  des  seelischen  Gehalts  nicht  im  Gleichgewicht, 
so  stellen  diese  Erstlingsakzidenzien  doch  den  Wert  des  Ganzen  nie  in 
Frage.  Wo  sich  die  Vorzüge  rein  zusammenfinden,  da  gilt,  was  der  Dichter 
bei  einem  Abschied  ausspricht: 

Als  ob  ein  schönes  Lied  verklingt, 
Legt  es  sich  schwer  in  mich  hinein. 

USTER  JOSEF  HALPERIN 


1)  Axel  Juncker  Verlag,  Berlin  (brochiert  2  Mark,  gebunden  3  Mark). 

BERICHTIGUNG 

Fräulein  Anna  Fierz,  deren  Korrektur  uns  nicht  rechtzeitig  erreichte,  bittet  uns  um 
Aufnahme  folgender  Berichtigungen  zu  ihrem  Aufsatz  in  Heft  22: 

S.  637,  Zeile  21 :  der  Jugendformen.  —  Zeile  38 :  seiner  alten  Recken.  —  Vorletzte 
Zeile:  Storm  steht  prächtig  geordnet  da.  —  Seite  638,  I.Zeile:  von  der  Wa/d^  und  der  grauen 
Stadt.  —  Sechsletzte  Zeile:  die  Plastik  der  Darstellung.  —  Seite  639,  Vorletzte  Zeile:  das 
Bild  des  Dichters  leicht  verwirren.  —  Seite  640,  Zeile  7:  das  Po5f maidlein. 

Nachdruck  der  Artikel  nur  mit  Erlaubnis  der  Redaktion  gestattet. 
Verantwortlicher  Redaktor  Dr.  ALBERT  BAUR  in  ZÜRICH.  Telephon  7750 

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