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WISSENUND
LEBEN
SCHWEIZERISCHE
HALBMONATSSCHRIFT
XII. BAND
1. APRIL 1913 - 15. SEPT. 1913
Verlag von RASCHER & Ol, Zürich
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HA-ST EINER
INHALTSVERZEICHNIS
§eit«
ÖALLY, CH. Le Langage et la Vie 590
BARAGIOLA, E. N. L'Eroica , 766
BAUR, A. Künstlertypen 128
Die internationale Kunstausstellung in München .....* 370
Laiengedanken über eine Gelehrtenbibel 441
Der Weg zum Akt 503
Zürcher Kunstnachrichten 575, 703
La Svizzera farä da se 577
Das „unverdorbene" Volk 75t
BENZIGER, C. Ausstellungszentralen für Kunst und Kunstgewerbe 1, 100
Wünsche und Richtlinien für das Schweiz. Bibliothekwesen 645, 711
BLOCHER, E. Die Zürcherbibel A.^ . . 164
V. BODMAN, E. Gesang vom Berge r/f^ • • ^^
BOVET, E. Nach der Schlacht . ^ O-'-^v - - - J^ ^ • 65
Au Conseil Fedßral . ... f^ .io\ . . . . J^ . . . 257
Discorso tenuto a Lugano AV . . . h.! .... 446
Sully Prudl^'omme .« av/ ^: • .IQ/^. . . 1 . . /Vh^' • • 672
Vereinte Kräfte . .'..'. . . . ^ Ji. . . rT. .^ . . . 705
BOVET, R. L'etablissement des Germ^insj^Suisse >*3 "^' • • 217
ERNST, P. Die Güte. .^.i. ^^^^^-^ -t-^/f - • • ^^9
Die Nächstenliebe ""^^^^F^^^-v^ ("^ fi 13 -"-^ 591
FALKE, K. Reformationslied ...":.... 666
FENIGSTEIN, B. Vollständige Gesamtausgaben 379
FICK, F. Zur Kritik der Rechtspflege im Kanton Zürich 717
FIERZ, A. Deutsche Lyriker des neunzehnten Jahrhunderts .... 636
FRÄNKEL, J. Erich Schmidt und die schweizerischen Dichter . . . 309
GLATT, L. „Gyges und sein Ring" * 310
GOLAY, G. Le theätre et les lettres 247
Le dernier roman de M. C.-F. Ramuz 561
ÖOUMAZ, L. L'institut J.-J. Rousseau ä Geneve 182
ÖREYERZ, TH. Sprachenfrage in Österreich 87, 176, 237
GRIMM, H. A. Das eine und das andere Ich ^ 708
GYGAX, P. Wilson und Poincare . l2
Kurze Anzeigen 256
Bei Aristide Briand 333
Zur Sparkassenfrage , . 4^
Die südslawische Frage im Habsburgerreiche ....... 5flS
Krieg und Volkswirtschaft . 625
Bebel . 6ery
Jungtürkische Wirtschaftspolitik 7Ä0
HALPERIN, J. Zu Carl Meissnei': Cäfl Spitteler - . . l24
Salomon D. Steinberg: Die Bläue Stunde leA
Seite
HARDUNQ, V. Hirtenfeuer 671
HESSE, H. Chinesenfest in Singapore 193
HERTZ, H, L'esprit politique chez les ecrivains frangais . . . 410, 475
HUG, O. Parsifal 189
HUNZIKER, G. Einst in Afrika 605, 657
JELMOLl, H. Heimische Lieder 573
JHERING, H. Berliner Premieren . 60
Berliner Frühjahrssaison .....;..; 251
Dilettanten, Künstler und Radaubrüder , ... i .... . 570
KAESLIN, H. Drei Rheinlands-Oden 513
KEEL, C. F. Die Einigungsvorschläge zum Fabrikgesetzentwurf . . 641
KLINGER, R. Schmutz und Hygiene 754
KORRODI, E. Anmerkungen zu Büchern 567
Thomas Mann 690
LANG, R. J. Die Schuld des Gottlob Schleicher 349
Frühe, zwischen Tag und Nacht 358
Arnold Reitzenstein 762
LIENERT, M. Der Milchfälscher 15, 77
MAIER, H. W. Die Ziele der ärztlichen Seelenforschung . . . 555, 596
MARTIN, W. Haut les coeurs! . 144
MAURER, A. Der schweizerische Nationalphilosoph 224
MAYR, W. Le reveil de l'esprit national en France 631
MENSENDIECK, O. Parsifal . 743
V. MEYENBURG, L. Zwei Gedichte ... 14
MOESCHLIN, F. Der Lederhändler 387
MOLDEN, B. Österreich-Ungarn in der Orientkrise . 150
MORAX, R. Romain Rolland 549
MÜLLER, F. Das Jubiläum 460
Schmutz : 695
OCZERET, H. Helene von Willemoes 737
V. ORELLI, B. Gedichte 338
PERRET, P. Le Salon genevois 377
PFISTER, O. Eltern und Kinder . 544
PißRARD, L. L'art en Belgique 506
Camille Lemonnier 580
PRECONI, H. G. Der Kongostaat Leopolds II 764
RIKLIN, F. Betrachtungen zur christlichen Passionsgeschichte ... 26
ROELLI, H. Lieder 390
ROGER-CORNAZ, F. Les incomparables . 339
RÖSSEL, V. La „Muse" de Flaubert 292
Une exhumation 728
RYTZ, W. Wesen und Bedeutung der Naturdenkmäler 497
SAX, K. Sprüche , 207
Die heilige Magdalene 515
SCHEIDT, C. Vereinfachung der Staatsverwaltung 321, 391, 462, 531, 613
SCHIBLI, E. Auf einem Heimweg . 71
SCHMIEDEL, P. Die Revision der Zürcherbibel ........ 281
Seite
SCHOLLENBERQER, H. Aus Ilse Frapans Werdezeit 432
SCHULER, H. Die Folgen 129
SIEBEL, J. Auf Mutters Arm 548
SINGER, S. Die Ursprünge der Poesie 419, 485
STEIGER, J. Betrachtungen zur Annahme des Gotthardvertrags 134, 194,260
Zur eisenbahnpolitischen Lage im Westen und Osten . . 449, 521
STEINBERG, S. D. Ein Lied zum Wein 612
STEFAN, P. Die Feindschaft gegen Wagner 208, 270
TROG, H. Schauspielabende 123,191,254,381,510
Ein italienischer Novellenband 635
Zur Ökonomie künstlerischer Kräfte . 761
VERHAEREN, E. Supreme Apotheose 348
WALTHER VON DER VOGELWEIDE. Irdisches Glück 694
ZIMMERMANN, J. P. La morale laique au commencement du dix-
huitieme siöcle 47, 111
ZOLLINGER, M. Viktor Hehn 299, 359
Das Sonnenland 627
Aus Chamberlains „Goethe" 319
Kurze Anzeigen 63, 384, 755
DDD
* W. FEUZ .
Korbflechter
Aus dem Schweizer
Jahrbuch für Kunst
u. Handwerk m. Q.
AUSSTELLUNGSZENTRALEN FÜR
KUNST UND KUNSTGEWERBE
Es ist heute wohl eine anerkannte Tatsache, dass Ausstel-
lungen unstreitig als eines der vernünftigsten und wirksamsten
Propagandamittel angesehen werden müssen. Sie bilden nicht nur
eine wirksame Anregung und Reklame im Konkurrenzkampfe,
sie sind ebensosehr berufen, einen mächtigen Einfluss auf die
Erziehung und Bildung der Allgemeinheit auszuüben. Praktische
Zwecke mit idealen zu vereinen, soll die Aufgabe der vorge-
schlagenen Neugründung sein. Wir wollen also keine Wohltätig-
keitsinstitution im Sinne einer bloßen ästhetischen Bildungsanstalt
schaffen, wir wollen vielmehr neue Absatzgebiete erschließen und
gleichzeitig den Geschmack des konsumierenden Publikums bilden.
Die Anregung zur künstlerischen und technischen Verbesserung
der Erzeugnisse glauben wir am besten durch die Ausstellung ge-
eigneter Vorbilder und des Guten, das bereits in Kunst und Ge-
werbe geschaffen wurde, geben zu können. In den nachfolgenden
Zeilen möchten wir einige Gesichtspunkte als für unsere Zwecke
besonders maßgebend und wegleitend betonen.
Eine den beiden genannten Zwecken dienende Ausstellung
soll nicht vom Spekulationsstandpunkte, wohl aber vom kauf-
männischen Gesichtspunkte aus organisiert werden. Wir müssen
es vermeiden, schulmäßige Pedanterie und Museumsbegriffe un-
serem Unternehmen, das praktische Zwecke verfolgt, zu Grunde
zu legen. Eine Ausstellung in unserem Sinne soll dem wirtschaft-
lich Starken wie dem wirtschaftlich Schwachen im selben Maße
1
nützen und helfen, indem sie auf der einen Seite das Beste för-
dert, auf der andern eine minderwertige Produi<tion durch gute
Vorlagen hebt. Eine solche Ausstellung soll aber auch dem
Reichen wie dem Wenigerbemittelten Gelegenheit geben, seinem
Geschmacke Rechnung zu tragen, den Produzenten durch gute
Erwerbungen zu eigenem neuem Schaffen anspornen und alle zu
ständiger Unterstützung des wirklich Schönen und Guten anregen.
Jeder Besucher besitzt in einer rationellen Ausstellung den
sichern Gradmesser für die Entwicklung und Bedeutung des Aus-
stellungsobjektes, die Ausstellung ist das beste Fähigkeitszeugnis
für jeden Interessenten, in unseren rasch lebenden Zeiten, wo
dem tiefen Eindringen in die Materie nicht mehr die bisher ge-
wohnte Muße gestattet ist, kommt es darauf an, durch Vor-
führung der Objekte ein langes Studium zu ersetzen. Durch den
Vergleich werden wir am besten unsere Ideen bilden und selbst-
verständlich auch fördern. Eine wirtschaftliche Hebung der Pro-
duktion ist die nächste Folge und damit erreichen wir selbstver-
ständlich auch ein erhöhtes Absatzgebiet für wirklich gute Ware.
Eine sorgfältig vorbereitete Veranschaulichung der verschiedenen
Erzeugnisse im Rahmen ihrer jeweiligen Bestimmung bietet ein
unerreicht instruktives Bild der Entwicklung, der Technik und
des Fortschrittes auf den betreffenden Gebieten; sie bildet für den
Besucher, speziell für den Gewerbetreibenden die beste Gelegen-
heit, sich aus eigener Überzeugung über die Qualität und die
zweckentsprechende Ausführung der Objekte ein klares und rich-
tiges Urteil zu bilden.
Dadurch, dass gerade das Beste nur noch gut genug erscheint,
überschreitet eben die Produktion in ihrem Wetteifer ihre nor-
male Leistungsgrenze — sie strebt der möglichsten Vollkommenheit
entgegen.
Hand in Hand mit der steigenden Leistungsfähigkeit geht aber
immer die erhöhte Nachfrage, deren Befriedigung wieder das
wirtschaftliche Emporblühen und Gedeihen von Gewerbe, Indu-
strie und Handel im natürlichen Gefolge hat. J. M. Cally in sei-
nen Studien über das Ausstellungswesen betont nicht mit Unrecht
die Selbständigkeit der Ausstellung. Er sagt:
„Ein hervorragendes Moment wirtschaftlichen Wertes, das der
Ausstellung als eigen zugebilligt werden muss, ist auch die der
Produktion gebotene Möglichkeit, mit dem Konsum in direkten
Kontakt zu treten, sich also aus den bedrückenden Fangarmen
des Zwischenhandels mit Erfolg zu befreien und solcher Art un-
behindert einer notwendigen wirtschaftlichen Konsolidierung ent-
gegen zu schreiten.
„Die wichtigste und bedeutungsvollste aus ihr resultierende
Konsequenz ist die Hebung des Selbstbewusstseins der Beteiligten,
die Stärkung des Vertrauens in ihre Leistungsfähigkeit und die
Aneiferung derselben, immer weiter vorwärts zu streben, um auf
der gewonnenen festen Basis immer mehr und mehr das Ziel
allen menschlichen Ringens, wirtschaftlichen Wohlstand, zu er-
reichen."
Nach der Auffassung der maßgebenden Kreise wird in der
Schweiz infolge partikularistischer Bestrebungen und mangelhafter
Organisation die große Bedeutung des Kunstgewerbes für Handel
und Industrie viel zu wenig gewürdigt. Auch die „hohe" Kunst
wird nicht im verdienten Maße gewürdigt, immerhin haben ein
regeres Kunstleben und die energische Arbeit auf den Absatz ihrer
Produktion bedachter Künstler hier bereits eine intensivere und
erfolgreiche Betätigung geschaffen. Wir besitzen jetzt einen na-
tionalen Kunstsalon, verschiedene meist regionale künstlerische
Veranstaltungen, einige bedeutende geschäftliche Unternehmun-
gen, denen allen an der Hebung der künstlerischen Arbeit sehr
gelegen ist. Wie arm steht dagegen das Kunstgewerbe da, wie
gering sind heute nicht seine Beziehungen zu unseren großen
einheimischen Industrien. Von einer Vertretung jenseits der
Grenzen kann überhaupt nicht gesprochen werden. Wie gering
sind vor allem die Mittel, die jährlich dafür ausgegeben wurden
und wie beschränkt ist nicht ihre Verwendung. Den Behörden
darf füglich der Vorwurf gemacht werden, dass sie künstlerischen
Bestrebungen, welcher Art sie auch seien, ob geschäftlichen oder
idealen Motiven entsprungen, eine gewisse Teilnahmslosigkeit ent-
gegenbringen. Es mag ein Teil falsch verstandener puritanisch-
republikanischer Einfachheit dahinter stecken, die sich in der
gegenwärtigen Zeit bei dem immer mehr sich ausprägenden Kunst-
empfinden aller Volksschichten nicht ohne Schaden für eine
Nation aufrechterhalten lässt. Der Staat fördert zwar durch verschie-
dene Subventionen i<unstgewerbh'che Lehranstahen, denen er als
Demonstrationsmaterial noch Gewerbemuseen beifügt. Der Staat
sucht auch Kunstgewerbetreibende heranzubilden, bedenkt aber
dabei nicht, dass derjenige, der den Produzenten schafft, auch
selbst als Konsument eintreten soll oder doch wenigstens für
Konsumenten besorgt sein muss. Nach dieser Seite hin soll die
vorgeschlagene Zentrale besonders tätig sein.
In ihren Ausstellungen will die Zentrale vorerst alles Gute, das
bereits in derSchweiz vom Kunstgewerbe und verwandten Industrie-
gebieten geschaffen worden ist, den interessierten Mitbürgern zur
Veranschaulichung bringen. Wir legen einstweilen das Hauptgewicht
auf die Kunst in Gewerbe und Industrie, die sicherlich ein dank-
bares Produzentenmaterial aufweisen werden, sobald sie sich
kräftig und wirkungsvoll unterstützt sehen. Ob die Kunst als
solche direkt in den Rahmen unserer Ausstellungen gehört, lassen
wir dahingestellt; für den Anfang werden wir uns wohl ganz be-
sonders des Kunstgewerbes annehmen müssen. Ich glaube zwar,
dass solange wir die vornehmen Kunstwerke vom rein dekorati-
ven Standpunkte aus betrachten, diese unbedingt auch mit ein-
geschlossen werden müssen. Wenn wir also zum Beispiel Bronze-
arbeiten auszustellen haben, werden wir uns nicht mit den Pro-
dukten der Industrien, einzelner Handwerker und Gewerbeschüler
begnügen, wir werden sicheriich auch die Kleinplastik unserer
Künstler mit ausstellen. Umgekehrt dürfen wir für unsere Aus-
stellungen aber auch nicht allgemein die absolute l'art pour l'art-
Theorie gelten lassen; bei vielen kunstgewerblichen Objekten liegt
die Lösung eben in einer Vermittlung zwischen praktischen und
ästhetischen Werten. Immerhin soll der Künstlerschaft jeder
Richtung die Aufnahme gesichert sein.
Bisher beschränkten sich unsere Ausstellungen meistens auf
einzelne Städte und Zonen, ein Überblick über unsere gesamte
schweizerische Leistungsfähigkeit in den einzelnen Gebieten des
Kunstgewerbes und der verwandten Industrie war so gut wie
ausgeschlossen. Wir bekamen wohl auch fremde „Mustersamm-
lungen" in unseren Gewerbemuseen zu sehen, ein gleichzeitiger
Vergleich an Ort und Stelle mit den einheimischen Produkten
konnte nur in den seltensten Fällen angestellt werden. Und doch,
wie lehrreich wäre dieser Vergleich nicht oft ausgefallen. Hätten
wir nicht oft den inländischen Erzeugnissen den Vorzug gegeben,
hätte eine solche Einsicht unser einheimisches Gewerbe nicht tat-
kräftig unterstützt? Es fehlt also am gegenseitigen Sichkennen,
an der häufigen Gelegenheit zum Studium unserer guten Pro-
duktion, dafür beschenkt uns das Ausland um so reichlicher mit
seiner „besten" Ware. Wir erinnern nur an die zahlreichen An-
denken, mit denen die Schweiz bei Anlass des Kaiserbesuches
beglückt worden ist, von den kurrenten Handelsobjekten der
Fremdenindustrie wollen wir nicht sprechen. Der Private und
zum Teil auch der Geschäftsmann kennt den schweizerischen
Markt auf unsern Gebieten sehr wenig, die große Zersplitterung
bildet zweifellos das Haupthindernis an diesem Übelstande. Die-
jenigen, die dazu berufen wären, Abhilfe zu schaffen, die Gewerbe-
museen und kleinen lokalen Ausstellungen erreichen in ihren
kleinen, oft sehr beengten Grenzen oft einen nur scheinbaren
Erfolg, ja man geht bei diesen Veranstaltungen manchmal aus
kollegialen Rücksichten nicht gern in das Wirkungsfeld des Nach-
barinstitutes, wiewohl vielleicht der Nachbar gerade die guten
Objekte, die ihm vorenthalten wurden, für sein Gewerbe ganz
besonders nötig gehabt hätte. Eine weitere nachteilige Folge
unserer gegenwärtigen Verhältnisse besteht darin, dass vielerorts
die Schulung der Ausstellungsleiter wie der Käufer fehlt, das
kaufkräftige Publikum wendet sich daher lieber an das Aus-
land, wo ihm für alle seine guten und schlechten Wünsche
volle Befriedigung gewährt wird. Der Mangel an Aufträgen
wirkt auf unsere Produzenten äußerst verhängnisvoll, nicht
weil wir in der Schweiz keine Konsumenten hätten, nein, weil
für unsere kunstgewerblichen Einkäufe stets noch das Ausland
bevorzugt wird. Der internationale Konkurrenzkampf zwingt uns
zur Organisation, wenn wir nicht durch ausländische Massen-
suggestion erdrückt sein wollen. So schwach der Einzelne viel-
leicht dasteht, so bestimmt darf das vereinte Gewerbe auftreten,
dank seiner vorzüglichen Qualität kann es jederzeit den Kampf
aufnehmen. Mit der Steigerung der Qualität unserer Erzeugnisse
werden wir stets verkaufskräftiger, wir mehren unseren nationalen
Reichtum nur durch ein zielbewusstes, organisiertes Vorgehen.
Wir können an dieser Stelle die für unser geschäftliches und
nationales Leben äußerst lehrreiche Schrift von Professor Dr.
P. H. Schmidt „Die schweizerischen Industrien im internationalen
Konkurrenzkampfe", Zürich 1912, nicht genügend zum Studium
empfehlen. Die darin geäußerten Bemängelungen unserer gegen-
wärtigen Verhältnisse lassen sich in der Großindustrie wie im
Kleingewerbe deutlich fühlen. Ihnen auf einem Gebiete abzuhelfen
soll die Aufgabe unserer Neugründung sein.
Ein wichtiger Faktor, der für die Schweiz ganz besonders in
Betracht fällt, liegt in der Erschließung unserer Ausstellungen für
einen möglichst ausgedehnten Kreis von internen wie auswärti-
gen Besuchern. In erster Linie sollen unsere Ausstellungen frei-
lich dem internen interkantonalen Verkehr dienen, sie sollen es
ermöglichen, wirklich Wertvolles und Gutes an verschiedenen
Orten der Schweiz einsehen zu können.
Dann aber sollen unsere Produkte auch dem Auslande ge-
zeigt werden; die meisten unserer Nachbarstaaten beschicken
unser Land mit einer Menge von größern und kleinen Ausstel-
lungen, von denen leider nur die wenigsten für uns von prakti-
schem Werte sind. In den meisten Fällen handelt es sich um
geschäftliche Unternehmungen, die einzig auf den Absatz der
fremden Ware bedacht sind. Tun wir das selbe, aber bringen
wir unsere Produkte in sorgfältigerer Auswahl und geschickterer
Kombination, dann dürfen wir sicherlich in vielen Gebieten den
Vergleich in Ehren bestehen, ja noch mehr, wir dürfen zweifellos
auch auf Absatz über der Grenze rechnen.
Unsere Ausstellungen sollen durch Vereinheitlichung in der
Beschaffung der Objekte und durch Verteilung der allgemeinen
Transport- und Installationskosten eine um so größere Abwechs-
lungsmöglichkeit bieten. Die Vereinheitlichung, bei der den Wün-
schen der einzelnen Ausstellungsübernehmer nach Möglichkeit
Rechnung getragen würde, hätte den unbedingten Vorteil eines
systematischen und bewussten Vorgehens. Für den Verkauf
würden die Absatzchancen vergrößert, das Risiko verkleinert.
Es wäre, wir hoffen es bestimmt, wohl auch berechtigte
Aussicht vorhanden, dass fortab auch der Staat als Abnehmer
auftreten würde. Mit den Jahren würde seine Wahl wohl auch
kritischer, er würde zweifellos ähnlich wie andere Länder seine
Schulen und öffentlichen Gebäude mit bleibenden Denkmalen
schweizerischen Gewerbefleißes zieren und damit die schweren
künstlerischen Vergehen so mancher sonst verdienstvoller Politiker
wieder gut machen. Unsere Kinder mögen sich dann für einen
solchen patriotischen Akt dankbar zeigen.
Der Austausch unserer verschiedenen kantonalen Eigenheiten
würde unser nationales Bewusstsein heben und eine typisch
schweizerische Gestaltung auf den verschiedensten Gebieten der
Kunst, des Gewerbes und der Industrie stärken und kräftigen,
ein Umstand, der selbstverständlich auch dem Ausland gegenüber
uns kräftiger und zielbewusster auftreten ließe. Für die fremden
Besucher einer solchen Ausstellung schafft die Schweiz damit eine
günstige Gelegenheit, durch augenscheinliche Vorführung der er-
zielten Leistungen diese dem Auslande auch rasch und gründlich
bekannt zu machen, auf billige und bequeme Art neue Beziehungen
anzuknüpfen, sie unterstützt damit auch handelspolitische Bestre-
bungen des Staates wirkungsvoll. Umgekehrt böte sie aber auch
der Schweiz Gelegenheit, durch Vermittlung der Zentrale aus-
ländische Musterarbeit zum vergleichenden Studium einzusehen.
Damit ließe sich gerade in denjenigen Gebieten, in denen die
nachbarliche Konkurrenz uns zurzeit noch überflügelt, ein neuer
Ansporn zum energischen Wettkampfe erzielen. Durch eine solche
wirkungsvolle Vermittlung von Ausstellungen bietet sich ganz be-
sonders für tüchtige junge Künstler, kleinere, strebsame Firmen
und Gewerbetreibende Gelegenheit, oft ungeahnt schnell in den
Vordergrund zu treten, und es braucht nicht betont zu werden,
dass Ausstellungen mit Aufwand geringster Mittel oft große prak-
tische Erfolge erzielen.
Es ist selbstverständlich, dass eine neu ins Leben gerufene
Ausstellungszentrale unmöglich von Anfang an die verschiedensten
Gebiete wirksam bearbeiten kann. Ebenso dürfte es in der
Schweiz genügend bekannt sein, dass wir vorderhand bei den be-
schränkten Ausstellungsräumen uns unmöglich auf größere indu-
strielle Turnusausstellungen einlassen könnten. Diese bedingen
Raum- und Finanzverhältnisse, die einstweilen nur in den selten-
sten Fällen uns zur Verfügung stehen. Wir sollten von beschei-
denerem Standpunkte ausgehen und einstweilen unsere volle Kraft
dem Aufblühen eines immer noch ziemh"ch darniederliegenden
Kunstgewerbes widmen. Wir sollten unserer Kunst, die vielfach
im Auslande mehr geachtet dasteht als bei uns, eine starke, selb-
ständige Position schaffen. An Interesse und Fähigkeiten fehlt
es in unseren Ländern nicht. Sicherlich würde es der französische
oder italienische Schweizer begrüßen, wenn deutschweizerischer
Gewerbefleiß ihnen in seinen besten Leistungen vorgeführt wird
und umgekehrt. Das Problem der Förderung des Exportes nach
dem Ausland wird in der Schweiz zur Lebensfrage. Warum sollen
wir nicht alle Mittel und Wege versuchen? Stellt sich das Unter-
nehmen auf einen interkantonalen geschäftlichen Standpunkt, dann
gewinnt das Interesse bedeutend. Eifersüchtige Reibereien und Kon-
kurrenzneid werden vermieden. Ausstellungen, die in Genf Interesse
erregten, dürften auch in St. Gallen gerne gesehen werden. Statt
dass wie bisher jedes städtische Kunst- und Gewerbemuseum auf
eigene Verantwortung und Kosten seine Ausstellungen beschaffte,
würde fortab eine Vereinbarung angebahnt, bei der den Wün-
schen und Zielen der einzelnen Interessenten nach Möglichkeit
Rechnung getragen werden sollte. Die enorme erzieherische
Wirkung, die durch eine solche Vorführung auf alle Schichten
der Bevölkerung ausgeübt würde, braucht nicht eigens erörtert
zu werden. Fachleute, die zur Kritik berufener sind, mögen
die erzieherische und volkswirtschaftliche Notwendigkeit eines
solchen Unternehmens klarlegen, sie mögen ihr maßgebendes
Urteil in ausführlicher Weise kundtun. Eines scheint uns
jedenfalls klar: dass wir auf künstlerischem Gebiete in der
Schweiz schlummernde Kräfte und Talente genügend haben,
um mit Erfolg den Kampf mit der ausländischen Konkurrenz
aufzunehmen. Was uns fehlt, ist die Anregung und das Selbst-
bewusstsein, Musterhaftes leisten zu können. Die großen Summen
schweizerischen Kapitals, die jedes Jahr nach dem Auslande ge-
tragen werden, zum Erwerb von sogenannten „schönen Gegen-
ständen", könnten größtenteils dem Lande erhalten bleiben, wenn
man der ganzen Schweiz Gelegenheit gibt, sich kennen zu lernen,
sich zu formen, sich in nur bester Auswahl zu präsentieren. Bis-
her war es ein Privilegium einzelner Städte, gute Ausstellungen
zu arrangieren, sie hüteten ihre Schätze eifersüchtig und nur un-
gern sah es eine Stadt, wenn dieselben Objekte, die sie für sich
8
als Ausstellungsmonopol gewählt hatte, auch anderswo zur Auf-
stellung kamen. Die Besichtigungsgelegenheit blieb infolgedessen
eine sehr beschränkte. Dieser engherzige Kantönligeist schadete
der guten Sache ganz bedeutend ; es ist höchste Zeit, bessere und
vermehrte Gelegenheiten zu schaffen, bei denen wirklich Gutes
und Interessantes allerorts in der Schweiz vorgeführt werden kann.
Nur so können wir auf einen sichern und wirklich großen Erfolg
nicht nur hoffen, sondern auch bestimmt rechnen.
Wir stehen am Vorabende der großen Landesausstellung; die
Gelegenheit ist einzig günstig, bei diesem Anlasse die erste Wahl
zu treffen, die erste Sichtung vorzunehmen. Wir dürfen Mittel
und Mühen nicht sparen, das Bild so vollkommen als möglich
auszugestalten; dort wo das heutige Können versagt, werden wir
vielleicht im historischen Material des Landes einige lehrreiche
Techniken finden, oder wir ziehen die musterhaften Leistungen
des Auslandes zum Vergleiche heran. Die Ausschüsse der Landes-
ausstellung werden dem Unternehmen gewiss gerne zu einem
Gelingen verhelfen, wir müssen uns nur frühzeitig an sie wenden.
Die kleine Schweiz kann als Konkurrenzgebiet nur dann auf-
treten, wenn wir uns versyndikalisieren, wenn wir als geschlos-
senes Ganzes unsere Leistungen vorführen, wenn wir unsern
Miteidgenossen und dem Ausland zeigen, was wir können und
vermögen. Wagen wir einmal den Versuch auf einem Gebiete,
dessen Vorteile praktischer und idealer Natur sind, reformatorisch
aufzutreten, dann wird der Erfolg uns sicher nicht ausbleiben und
bald auch auf andern Gebieten neue Anregung bringen. Eine
mächtige, kapitalkräftige Genossenschaft, der Deutsche Werkbund,
geht uns hier führend .voran; seit 1907 sucht er alle schaffenden
und helfenden Kräfte zu einer tätigen Gemeinschaft zu vereinen.
Er will alles zusammenfassen, Kunst und Kunstgewerbe, Hand-
werk und Industrie, Einzelstück und Massenware. Sein Programm,
auf unsere schweizerischen Verhältnisse zugeschnitten, dürfte am
ehesten unserem Anstreben entsprechen. Wir brauchen übrigens
als Ausstellungszentrale uns nicht mit dem bloßen Arrangement
zu begnügen. Wenn es den schweizerischen Interessenten daran
liegt, das geschäftliche Moment noch mehr zu pflegen, so bietet
sich hier eine äußerst vorteilhafte Gelegenheit, mit der Zentrale
neben der von vornherein zugesicherten Verkaufsgelegenheit auch
eine Auskunftei zu verbinden; diese hätte nach bestem Wissen
und Gewissen der Öffentlichkeit beizustehen. Bisher galt in den
Geschmacksrichtungen der Durchschnittskaufmann als ein not-
wendiges Übel, heute kann er zum Kulturträger einer Nation
werden, wenn ihm die richtige Hilfe geboten wird. Was Kunst
und Künstler zum Beispiel für die technischen Fabrikationen be-
deuten, lehrt uns Berlin, das in wenigen Jahren dank seiner un-
geheuren Tätigkeit auf diese Weise enorme Fortschritte gemacht hat.
♦ *
♦
Wir bringen hier selbstverständlich nur eine sehr summarische
Aufzählung, deren Hauptzweck die allgemeine Orientierung ist.
Baukunst, vertreten in architektonischen Planarbeiten, Modellen
und Raumkunstdarbietungen.
Plastik sowohl in rein künstlerischem als in gewerblichem Sinne.
Malerei in gewerblichem und mehr dekorativem Sinne.
Alle angewandten Künste im weitesten Sinne des Wortes:
Graphische Kunst einschließlich der Photographie, Bücher-
wesen,
Edelmetallarbeiten,
Arbeiten in unedlen Metallen,
Schmiedearbeiten,
Keramik,
Kunstarbeit in Glas und Glasindustrie,
Textilarbeiten : Handweberei, Stickerei, Seide, Stoffdruck,
Spitzen usw.
Buchbinderei und Lederarbeiten,
Liebhaberkünste.
Es versteht sich, dass größere, schwer transportable und noch
schwerer unterzubringende Gegenstände, wie zum Beispiel Ein-
richtungsausstattungen als Selbstzweck vorderhand nicht in den
Bereich der Ausstellungen fallen, es sei denn, dass solche speziell
gewünscht und für den Transport passend eingerichtet werden
können. In diesem Falle müssten die betreffenden Aussteller die
Kosten wohl ganz auf sich nehmen. Diese einschränkende Be-
stimmung hätte jedenfalls so lange in Kraft zu bleiben, bis mehrere
ausstellende Städte entsprechende Lokalitäten zur Aufnahme solch
großer Einrichtungen besäßen.
10
Wir verhehlen uns dabei nicht, dass Raumkunstveranstaltungen
große Anziehungskraft besitzen und sehr anregend wirken. Künst-
lerische und kunstgewerbliche Objekte können darin wohl Haupt-
punkte sein, bilden aber in den seltensten Fällen Selbstzweck.
Sache der Leitung wäre es, aus den aufgezählten Objekten ge-
wisse Gruppen auszuwählen und als künstlerisch gestimmte Zu-
sammenstellungen dem Publikum vorzuführen; nennen wir zum
Beispiel die Einrichtung eines Zimmers für einen Sportsfreund,
einen Bücherfreund usw.
Damit wäre sicherlich ein genügend weiter Kreis gezogen,
der für eine außerordentlich reiche Abwechslung bürgte. Oft ließen
sich gewiss auch einige Gebiete vereinen, während umgekehrt
dann und wann vielleicht die Gegenstände aus mehreren Gebieten
sorgfältig herausgewählt werden müssten, bald käme nur ein
Künstler in Betracht, bald bestimmte Gruppen. Bald eine bunte
Auswahl aus allen Gauen. Immer darf nur das Beste vor Augen
geführt werden. Die Ausstellung sei eher klein aber sorgfältig aus-
gewählt. Wir stellen uns einen künstlerischen Turnus ungefähr so
vor, dass vielleicht an zwei oder drei entgegengesetzten Orten
angefangen würde. Von da kämen die Objekte an die nächst-
gelegene Ausstellungsstelle usw., bis sie zulezt, nachdem sie überall
eingesehen worden wären, zur Beschickung nach dem Auslande
bereit gehalten werden könnten. Natürlich würde die Festsetzung
der Termine und Reihenfolge so frühzeitig erfolgen, dass eine
Betriebsstörung von vorneherein ganz ausgeschlossen bliebe. In
der Organisation haben wir hiefür die notwendigen Maßregeln
vorgesehen, dieselben, die es uns ermöglichen, den besondern
Bedürfnissen des Ausstellunginteressenten nachzukommen.
Als Ausstellungstermin möchten wir einen Monat, womöglich
mit vier Sonntagen, vorschlagen, dazu kämen zwei Wochen für
Transport und Aufstellung; bei einiger Routine in der Zirkulation
dürften diese Termine vermutlich genügen.
In der Abteilung Kunst würde man zum Beispiel nachfolgen-
den Turnus einhalten können. Eine Ausstellung von den moder-
nen schweizerischen Porträtisten würde zuerst in Genf aufgestellt
werden, von da ginge sie nach Lausanne, Freiburg, Neuenburg,
11
Bern, Solothurn, Aarau, Basel, Zürich, Frauenfeld, Schaffhausen,
Winterthur, St. Gallen, Chur, Luzern, Lugano.
Sechs Wochen später würde St. Gallen eine weitere Ausstel-
lung der modernen Berner Schule erhalten, die ebenfalls den
selben Weg in umgekehrter Reihenfolge ginge. Auch andere größere
und kleinere Ortschaften sollten nach Wunsch bedient werden,
sofern sie die nötigen Garantien böten.
Anschließend daran könnten vielleicht nachfolgende Gruppen
ihre Wanderung durch die Schweiz antreten: die schweizerischen
Graphiker (die Walze), das moderne Kinderbildnis (Kind in der
Kunst), Walliser Künstler und das Wallis, schweizerische Aquarel-
listen, die Tessiner Maler, Reklame- und Plakatkunst, schweizeri-
sche Independants in Paris, moderne schweizerische Historien-
malerei, Meyer-Basel und die Bodenseelandschaft, Buchillustration
und Illustrationsdruck, das Engadin in der modernen Kunst,
Schweizer in München, das moderne Schweizer Gebirgsbild,
Sportsbilder aus der Schweiz.
In der Abteilung Kunstgewerbe böte sich vielleicht zu nach-
folgenden Darbietungen Anlass: Holzschnitzerei, Uhren, Spielzeug,
Buchbinderarbeit, Gold- und Silberhandwerk, Keramik, Arbeiten
in unedlen Metallen (Kleinplastik), Spitzen und Stickerei, Seide
und Stoffdruck, Dekorationsarbeit (Rahmen, Tapeten, Stoffe),
Glasmalerei, Reiseandenken, Glasindustrie, Hausindustrie, Photo-
graphie usw.
Ob es möglich sein wird, die Kunstschöpfungen unserer Maler
und Bildhauer in unsern Kreis zu ziehen, haben wir bereits ander-
wärts in Frage gestellt. Wir möchten immerhin hier an einem
praktischen Beispiele unsere leitende Idee für das Miteinbeziehen
der schönen Künste klarlegen. Uns allen liegt es sicherlich daran,
unser Heim mit den Bildnissen unserer Angehörigen zu schmücken,
der Vermögliche wird sich daher aus diesem Grunde nach einem
Gemälde umsehen, der weniger Bemittelte muss sich bereits auf
eine farbige Zeichnung beschränken und der in beschränkten Ver-
hältnissen Lebende wird sich wohl mit einer Photographie be-
gnügen müssen. An wen sollen sich die drei Besteller wenden,
wer liefert ihnen für ihr gutes Geld das beste Bild? Nehmen
wir an, es handle sich um das Bild der eigenen Kinder. Wie
unendlich viel Gutes kann da nicht eine sorgfältig durchgearbeitete
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Kinderbildnisausstellung stiften! Von den wertvollen Gemälden
unserer besten Kindermaler bis zu den Spezialitäten gewisser
Amateurphotographen lässt sich eine Reihe von Werken ausstellen,
bei denen ein jeder auf seine Rechnung kommen kann. Fügen
wir dem ganzen noch einige der hübschen Kindersujets bei, wie
sie von einigen unserer besten Künstlern ausgeführt werden, dann
wird sich auch noch ein weiterer Kreis dafür interessieren. Unsere
Nascherei- Industrien (Schokolade) bedürfen guter Reklamen für
die Kinder, hier finden sie zweifellos eine selten gute Auswahl,
die Spielzeugindustrie wird den Stoff für neue Bilderbücher und
und Puppenspiele sich holen kommen — kurz, die Möglichkeit,
weite Kreise zu interessieren, bleibt nicht ausgeschlossen. Findet
eine solche Ausstellung noch so früh im Herbst statt, dass die
Besteller ihren Weihnachtsbedarf damit eindecken können, dann
müssen wir unbedingt einer derartigen künstlerischen Veranstaltung
volle Berechtigung einräumen.
Für das Gewerbe kommt noch ein weiterer wichtiger Faktor
praktischer Natur hinzu. Bekanntlich wird der kaufmännisch ver-
anlagte Interessent sich stets für „neue Ideen" empfänglich zeigen,
besonders wenn er durch sie auf einfachere und billigere Ver-
fahren aufmerksam gemacht wird. Ein Beispiel aus der Praxis
mag auch hier das Gesagte illustrieren. Das naturnarbige Leder
wird gewöhnlich künstlich seiner Narben entledigt (satiniert) und
nachher wieder mit einer „schönen" Kunstnarbung versehen, als
ob das, was die Natur hervorbringt, nicht viel schöner wäre als
das, was der Fabrikant fertig bringt. Durch die Vorführung einiger
musterhafter Lederarbeiten, bei denen die Naturnarbung beibe-
halten wurde, käme ein findiger Lederindustrieller leicht auf den
Gedanken, sich den umständlichen Prozess zum Teil zu ersparen,
und das naturnarbige Leder als „hochmodern" zu lancieren. Für
den Kaufmann bedeutet ein derartiges Vorgehen eine wesentliche
Ersparnis und das Publikum gewöhnt sich unvermerkt an das
edlere und unverfälschte Erzeugnis. Wenn wir den vollen Erfolg
auf unserer Seite haben wollen, dann müssen wir auch die prak-
tischen kaufmännischen Vorteile im Auge behalten, nur das in-
tensive Studium unserer Waren wird unser Auge dafür genügend
schärfen.
BERN C. BENZIGER
(Schluss folgt.)
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ZWEI GEDICHTE
von LEO VON MEYENBURQ
HERBST
Drei Bäume am herbstlichen Ufer stehn,
Violenblaue Lüfte weh'n :
adoramus.
Der eine zur Linken betet andächtig,
Sein gelbes Laub erglänzet prächtig ;
oramus.
Und der zur Rechten das feine Geäst
Rotrosig zur Erde schimmern lässt :
amamus.
Der Dritte im purpurroten Ornat
Die Arme zum Himmel erhobeu hat
Gloria Deo in exceleis.
TOTE BLÄTTER
Manch tausend tote Blätter säumen
Die stumme Straße und es stieren
Viel nackte Äste von den Bäumen
Die toten Blätter an und frieren.
So liegen viele tote Träume
Auf meinen Wegen und es stiert
Mein wundes Herz in leere Räume,
Und meine nackte Seele friert.
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DER MILCHFÄLSCHER
ERZÄHLUNG VON MEINRAD LIENERT
Im Halbdunkeln, schwerlüftigen Stall kauerte Stöffi, der
Brüüschmoosbauer, auf dem Melkstuhl unter einer Kuh und ließ
das ergibige Doppelbrünnlein in den Eimer zischen. Den blond-
lachten Krauskopf, von dem die Hirthemdkapuze lässig hing, hatte
er an das weißgraue Fell Heiterspiegels gedrückt. Über seine
melkenden Hände und in die aufquellende Milch huschte immer
wieder der Schein der am zerbrochenen Stallfensterchen stehenden
Laterne. Die Kuh schnaubte und bärschtete, das Maul halb voll
Heu, mit großen Augen nach dem Bauer, als wollte sie sagen:
He du, ich bin auch da! Was hast denn nur heute, dass du
mich nie kraulst und kein Wort mit mir redst, wo wir uns doch
sonst jeden Morgen so manches zu sagen haben. Irgendwo hinter
dem Stall krähte der Hahn. Muuh, muuh! brüllte nun auch die
Kuh. Aber der Bauer drückte den Kopf tiefer in ihr Fell und
tat keinen Wank. Jetzt ward Heiterspiegel aber unruhig und
schlug ihm den Schwanz um die Kapuze.
„He da, gib Ruh, Heiterspiegel, alte Närrin! 's ist mir heut
nicht ums Lumpereien treiben."
Jetzt brüllte auch die junge rotbraune Ziehkuh, das Rot-
schöpfchen, nebenan.
„Ja, ja," brummte der Bauer, „ihr habt gut brüllen, steht
allzeit am vollen Barren und wisst nicht, wie unsereins schwitzen
und dämpfen muss bis der Heustock zu den Gadenschwemmungen
herausschaut und bis der Zins beisammen ist. *s ist kein Leben.
Vier lebendige Buben und Eines auf dem Weg! Was hat denn
unsereins auf der Welt? Vom Morgen früh bis abends spät sich
abhunden und übelleiden kann man, für ein bisschen Milchkaffee-
gewäsch, das aussieht, als habe man's bei Hochwasser aus dem
Bach geschöpft. Und alle heiligen Tage ein Pfündchen Rindfleisch,
hart wie Sohlleder, aus dem Dorf. Und der da drüben," machte
er halblaut, ingrimmig, „der alte geizige Hinterschweigsimmeler
wattet bis an die Kniee in der Niedel und seine Speckkammer
lacht einem um Martinstag herum an, wie eine Wittfrau in der
letzten Närrsche, man hört sie völlig lachen. Alles gerät ihm in
Haus und Stall. Jede Kuh tut ihm gut und gerecht. Es täte mich
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keinen Augenblick wundern, wenn sein Brunnentrog und sein
Scheitbock eines Tags auch noch zu kalben anfingen. Sieben
Haupt Vieh hat er am Barren, lauter Prämienkühe. Sieben Jung-
fern können auf dem Kirchweg nicht hoffärtiger aufziehen als sie
auf die Sommerweide. Und ich, was hab' ich denn? Zwei weiß-
lachte Schwänze im Stall, die immer verwerfen. So muss ich
eben das Kalb selber machen. O Herrgottdonnerwetter, unsereins
hat's doch nicht gut. Jetz steh' einmal still, Alte!" lärmte er
seine Kuh an. „Oder ich hau' dir eins ans Bein, dass dir die
Hörner Fürio pfeifen."
Die Stalltüre ging.
„Guten Morgen, Stöffi!"
Ein noch junges Weib stand, einen Kessel in der Hand, in
der offenen Türe. An ihr vorbei, zu Häupten und allüberall
guckten die Sterne aus dem dämmernden Morgenhimmel in den
düstern Stall.
Die beiden Kühe begannen aus Leibeskräften zu brüllen.
„Was nimmst mir denn nicht einmal den guten Morgen ab,
Stöffi?" machte die Frau und kleinlaut setzte sie bei: „Ja, hast
aber schon recht, wie konnte ich mich nur so verschlafen? Ich
hätte dir doch beim Melken helfen sollen, dass du zeitig mit der
Milch ins Dorf magst. Sei mir nicht böse, aber weißt du, das
Wupp musste noch ab gestern Nacht; ich muss es heut Mittag
zum Ferger tragen. Und dann," sagte sie kaum vernehmbar,
„weißt du, seit uns die Klosterfrauen wieder ein Kleines ins Wieg-
lein versprochen haben, mag ich halt nicht mehr auf, ich kanns
anstellen wie ich will."
„Red nicht so einfältig," machte er, sich bedächtig erhebend.
„Es vergönnt dir den Schlaf niemand, hast ihn bitter nötig."
„Ja, es mag wohl sein, denn gestern bin ich am Webstuhl
heitern Tags eingenickt, obwohl die Kinder um mich herum
lärmten. Kann ich jezt die Milch für die Kinder haben?"
„Herrgott, Herrgott," schimpfte er, „immer die Milch, die
Milch. Kannst dir's denn nicht anders einrichten? Bist doch
sonst ein hausliches Weib. Muss denn den Fratzen immer der
Milchkaffee bereitstehen, sobald sie ab dem Laubsack mögen.
Kann man's nicht auch mit einer gerösteten Brotbrühe oder einem
Kaffeewassergeschwemm machen, wie andere Leute. Wenn ein
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Tröpflein Schnaps drein kommt, ist's doch ein Herrentrank.
Andere tun es auch und sparen die Milch, wie sie können, jetzt
wo sie so schön gilt. Der alte Hinterschweigsimmeler hat es mir
gestern, als wir zusammen die Morgenmilch ins Dorf trugen,
wieder gesagt, dass ihm jetzt kein Tropfen Milch mehr ins Pfänn-
chen komme. Jetzt, wo sie so zu gelten anfange, sei es eine
Sünde, sie so leichtlebig im Hause zu brauchen. Sie werde immer
begehrter und zuletzt noch so gesucht, dass die Dorffrauen vor
Ärger die Katzen zu melken anfangen. Da heiße es das köstliche
Brünnlein zusammenhalten. So redt der habliche Hinterschweigler.
Nur wir," schier grimmig sagte er's, „wir versauen und vertuen die
Milch mit unsern Buben als ob sie Aufzuchtkälber wären, als ob
wir das Geld am Boden auflesen könnten."
„Vater," sagte schüchtern das Weiblein, „du weißt wie des
alten Simmelers einziges Büblein aussieht. Hängt es nicht in
seinen Hosenträgern, wie eine windverwehte Windel in der Erlen-
staude? ich kann den Simmeier nicht verstehen. Er ist ja ge-
wiss der frömmste Mann landauf, landab. Aber dass er die Milch
an seinem Franzeli, den ihm doch der Herrgott in seinem
hohen Alter noch gegeben hat, so abspart, kann ich doch nicht
begreifen."
„Schweig doch!" machte er brummig und schleuderte die
Katze, die am Milcheimer, den er in der Hand trug, aufzustehen
trachtete, mit einem Fußtritt zwischen die Kühe.
„Aber Stöffi, wie kannst denn dem Tierlein so weh tun?"
„Bezapf dich, sag ich!" fuhr er auf. „Es wird jetzt da nicht
gepredigt. Du und der Pfarrer, lasst ihr nur das Predigen bleiben.
Ich seh's immer mehr ein: Das Rechttun ist ja doch für die
Katz. Die ehrlichen Leute kommen ja doch überall und alleweil
zu kurz. Ich hab's nicht nur im Viehhandel erfahren. Wer Kritze
im Kopf hat, soll sie brauchen. Mit dem Rosenkranz zwischen
den Fingern wird das Geschäft nicht gemacht, hat der Holzhändler
im Gfellrain am Wirtstisch gesagt. Ich hörte ihm's selber zum
Maul herausgehen."
„Stöffi, Stöffi! Und diesem schlechten Menschen redst du
so etwas nach?"
„Warum denn nicht? Geht's ihm denn nicht, wie er's haben
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will? Macht er nicht alleweil ein Gesicht wie ein Eiertätsch, der
frisch aus dem Butterpfännchen kommt?"
„Du hast nicht bis in sein Herz gesehen, Stöffi."
„Sei doch still, du Einfalt! Wir haben jetzt nicht Christen-
lehre."
Rasch stellte er sich auf die Türschwelle, also dass seine
Frau schier erschrocken ins Freie zurückprallte. „Da," sagte er
laut und hielt ihr den Eimer entgegen, dessen überquellender
Schaum im untergehenden Vollmond leuchtete, „da füll' den Kessel
aus dem Eimer und tu' die Milch über, wenn ihr denn durchaus
die Bäuche von kostbilliger Milch voll haben müsst. Und dann,"
er hielt die Hand an den Mund und neigte sich zu ihrem Ohr,
„und darnach, wenn du die Milch in die Pfanne übergetan hast,
gehst du zum Brunnen, füllst den Kessel mit Wasser und leerst
ihn in die Tanse. Sie steht da neben der Türe im Stall. Hast
mich verstanden, Seppetrutli?"
Sie staunte Ihn sprachlos an.
„Was gaffst mich denn so an, wie eine Kuh ein Tenntor?
Andere tuen es auch. Man muss sich selber helfen, sagt der Holz-
händler am Gfellrain, denn wenn einer zehn Psalter bete, bekomme
er deswegen doch keine Butter aufs Brot. Wer nach Butter ge-
lüstig sei, müsse eben schon den Rahm ab der Milch nehmen."
„Stöffi, Stöffi, Mann! Es wird doch nicht etwa dein Ernst
sein?!"
„Warum denn nicht, du dumme Drucke? Tu doch nicht so
einfältig. Du und die Kinder sollen ihre Morgenmilch haben.
Ich will da niemand um die Gesundheit bringen. Und gar dich,
wo du nun ein Kleines erwartest. Da, füll' den Kessel! Ob wir
dann darnach ein Tröpflein Wasser in die Milch nachschütten,
das bleibt sich gewiss gleich. So ein kleines, nichtsiges Kessel-
chen voll in die große Tanse. Uns tut's gut, kein Mensch merkt's
und wir haben die Milch und das Milchgeld. Geh', Seppetrutli,
mach zu! 's ist Zeit, ich muss mit der Milch ins Dorf."
„Nein, Stöffi, das tue ich nicht."
„Was," fuhr er wütend auf und sah sie schrecklich an, „du
willst mir nicht gehorchen?!"
„Stöffi, lieber Stöffi, tu's nicht!" bat sie jetzt, sich von ihrem
Schrecken erholend, „du würdest es in alle Ewigkeit bereuen.
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Auf den Knieen bitte ich dich, tu's nicht. Wie solltest du mit
gefälschter Milch am Friedhof, am Grabe deines braven Vaters
selig vorbeigehen können. Ich habe schon lange bemerkt, dass
du unzufriedener geworden bist, seit die Milch so gilt, und wie du
an etwas herumsinnst, das nicht ans Licht sollte. Es ist mir des-
wegen schwer genug gewesen. Tu's nicht, Lieber, der Tausend-
gottswillen, tu's nicht!"
„*s muss sein," machte er, wild in den Boden stierend, „wir
wollens uns auch nach und nach ein bisschen besser einrichten.
Die Reichen lachen die armen Leute ja doch nur aus. Man muss
sich nur nicht erwischen lassen."
„Und wenn sie dich doch erwischen? Ich stürbe vor Kummer
und du tätest dich hintersinnen vor Schande. Ich kenne dich,
Stöffi. "
„Geh' und leer jetzt die Milch in die Pfanne und dann machs
am Brunnen, wie ich dir's gesagt habe," schnörrzte er sie an,
„ich wills schon verantworten."
„Welcher böse Geist hat dir das eingegeben. Mann? Nein,
ich tu's nicht. Du würdest mich einmal später an den Zupfen
am Boden herumschleifen, dass ich schwach genug war, dir
nachzugeben."
„Tust du's nicht, so tu' ich's selber. Her den Kessel!" herrschte
er sie böse an.
Sie fuhr zurück, den Kessel hinter dem Rücken verbergend.
„Muss ich dich zuerst am Schopf nehmen," sagte er keuchend,
„bis du mir den Kessel gibst, du unfolgsames Weib!"
„Nein," machte sie auf einmal totenbleich, „nein, du sollst
es nicht selber tun. Lass mich nur, ich will's machen. Möge
der Liebgott jetzt von uns wegsehen. O, weh, weh!"
Er füllte ihren Kessel aus dem Eimer mit schäumender
Milch an.
Sie machte sich hurtig, mit hängendem Kopfe davon gegen
das nahe Haus, gefolgt vom miauenden Kätzchen.
Ein Weilchen staunte er ihr mit unheimlich brennenden Augen
nach, dann trampte er in den Stall zurück und begann sich für
den Gang ins Dorf zu rüsten, nachdem er den Kühen noch das
Bett ein bisschen gemacht hatte.
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Auf einmal fuhr er zusammen. Ein Rauschen war hinter
seinem Rücken. Wie er sich, schier erschrocken, umwandte, stand
seine Frau neben der Tanse und nahm eben den leeren Kessel'
davon weg.
„Ja so, du bist's ja. Ist's also in Ordnung?"
„Ich tat's, ob's in Ordnung ist, weiß dein Gewissen."
„Frau, sei mir nicht böse. Tu nicht so närrisch," machte
er, sich ihr nähernd, „das ist dir morgen schon nichts mehr neues.
Und in einigen Tagen, meinst du, das sei immer so gewesen und
des Landes Brauch."
Er suchte sie zu umfangen.
„Lass' mich," sagte sie kurz. „Die Kinder sind wach und
müssen zur Schule. Geh' jetzt und wenn du am Friedhof vor-,
beiläufst, so lass' deine Mutter selig von mir grüßen."
Sie huschte aus dem Stall.
„Meine Mutter?"
Eine Weile stierte er in die volle schwere Tanse. Er hob
den Fuß und es sah aus als wollte er sie mit einem gewaltigen
Tritt umstoßen. Aber dann pakte er sie an beiden Trägern, nahm
sie auf den Rücken und verließ verdrossenen Blickes den Stall.
Als er schwerfällig am Haus vorbeischuhnete, sah er in der'
schwacherhellten Küche seine Frau am Herd sitzen, das jüngste
Büblein im Schoß und das zweitjüngste am Rock, und wie im
Traum hörte er die beiden größern Knaben aus dem Fenster der
Stubenkammer rufen: „Vater, trägst du die Milch ins Dorf?"
Ja, wollte er sagen, aber er brachte es nicht heraus.
Wie er in den Weidweg kam, ging eben der Mond unter
hinter den schwarzen Berghöhen und es begann über den dunklen
Wäldern zu dämmern. Aber noch glitzerten die Sterne am Himmel
in ungezählten Heerscharen.
„Es wird ein schöner Tag," redete der Bauer in sich hinein.
Da hörte er's in seiner schweren Tanse schwappein. Es war das
erstemal, dass er's hörte. Es bedünkte ihn, es töne schier wie
das seltsame Schwappein des Wildbaches, wenn er bei Hochwasser
unheimlich um sein Hausmäuerchen spülte. Einen blitzgeschwinden
Augenblick wars ihm sogar, als schwapple auch in seiner Tanse
ein drohendes Hochwasser. Er musste laut auflachen, sah sich
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.aber rasch um, denn es kam ihm vor, hinter dem Dornenhag
habe auch jemand gelacht, 's wird doch am frühen Morgen nicht
umgehen. Und doch, lief denn dort nicht eine schwarze Gestalt
der Heci<e nach? Die Haare standen ihm auf. Gottlob, es war
nur sein eigener Schatten. Er gewahrte ihn heute zum ersten-
. maje. Und jetzt erinnerte er sich, dass, er ihn nur einmal noch,
., riesengroß wie ein Ungeheuer, vor sich her hatte gehen sehen,
.als er im Wirtshaus über seine Frau eine leichtsinnige, unfeine
Redensart getan hatte. Wollte es denn heute gar nicht tagen!
. Aber nein, 's wird besser sein, wenn's heute nicht gar so zeitig
tagt. Es gehen so allerlei Leute den Weg ins Dorf und ansehen
müsste, man sie doch. Es fiel ihm jetzt ein, wie einem die Leute
und gar die jungen, immer geradewegs in die Augen schauen, als
ob sie durch offene Türen in die Stube hineinwundern wollten.
Er würde aber heute fest vor sich hin auf den Boden blicken;
die Tanse drückte ihn so genug nieder. Irgendwo im Hag regte
sich ein Vogel. Er zuckte zusammen. Wenn heute hinter dem
Hag, wie auch schon, die Milchschauleute lauerten, der lange
Amtsschreiber und der dürre Landjäger?! Jetzt konnte er noch
zurück, wenn er leise tat. Ein Vaterunser lang hielt er an. Dann
schritt er langsam wieder fürbas und versuchte ein Liedchen zu
pfeifen, ein übermütiges Tanzliedchen. Aber nach den ersten
Tönen brach er ab und schaute misstrauisch in die dunkle Hecke,
die wie eine Riesenschlange neben ihm her sich gegen das
Dorf wand.
Es ward immer heller. Im Osten stand ein grünweißer
. Streifen. Er versuchte schneller vorwärts zu kommen, aber fast
wäre er ausgeglitscht; da es Spätherbst war, hatte der schwere
Nachttau den Weg mit einer Eiskruste überzogen.
„Jesus!"
Er hatte schon den Fuß erhoben, um sich rückwärts zu ver-
ziehen. Dort stand ja wahrhaftig jemand hinter der Hecke am
Rain, etwas ungeheuerlich Langes. Gewiss war's der Amtsschreiber.
Als er sich jedoch nochmals mit scheuen, entsetzten Augen um-
sah, hatte sich die schwarze Gesalt in das Heiligenstöcklein ver-
wandelt, das ja zeitlebens in der Schweig am Wege stand. Lang-
- aufatmend, mit unsichern Schritten, trampte er weiter. Als er
jedoch am Heiligenstöcklein vorbeischritt, war er nicht imstande,
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unter dem Hirtenhemdenzipfel lierauf nach dem dorngekrönten
Heiland aufzuschauen. Gleichwohl sah er seine traurigen Augen
so deutlich im Weg vor sich, dass er zur Seite in die Hecke
blinzeln musste. Aber auch dort schauten die Augen aus jeder
Eisperle, die in dem düstern Qedörne blinkte. Da zog er die
Kapuze fester über die Stirne und starrte bedrückt auf seine breiten
Schuhe. In der Matte drüben leuchtete eine Laterne auf und ein
helles Aufjauchzen erfüllte Berg und Tal. Sonst hatte er dem
Maitli, das dort drüben gegen den Stall zum Melken schritt, immer
das fröhliche Echo gespielt, heute verhielt er sich mäuschenstill,
ließ sich tiefer in die Knie fallen und machte sich also klein,
dass er hinter der Hecke schier verschwand. Er ärgerte sich.
Wie konnte denn des Kirchhöfern Madleni so einen Lärm machen?
Man musste sie ja bis ins Dorf hinein hören. Wie leicht konnte
da dem Amtsschreiber der Morgenschlaf gestört werden, den er,
der Brüüschmoosbauer, heute so nötig hatte. Aber freilich des
Kirchhöfern Madleni ging eben nicht die Brunnenröhre melken.
Ein Weilchen schritt er stumm vor sich hin, den eigenen schweren
Schritt verwünschend, der im vereisten Weg knirrschte. Jetzt teilte
sich der Weg. Vor ihm lag, mitten in den Matten, der einsame
Dorffriedhof. Gespenstig schimmerte und flimmerte die weiße
Wand der Beinhauskapelle Im dämmernden Morgen. Sonst war
er immer schier freudig durchs knarrende Törlein in den Friedhof
eingetreten und hatte im Durchschreiten für die Armenseelen
Fünfe und den heiligen Glauben gebetet. Heute blieb er zögernd
vor dem Törlein stehen. Lass mir dann deine Mutter selig grüßen!
geisterte seines Weibes Wort ihm im Kopf. Er ließ die Türfalle,
die er schon in der Hand hielt, wieder los und tschampete mit
gesenkten Augen den breitern Weg neben dem Friedhof weiter.
Zwar versuchte er zu beten, aber als er flüsterte: „Trost Gott
die christgläubigen Armenseelen im Fegfeuer!" fröstelte es ihn
seltsam und die Zunge ward ihm also schwer, dass er verstummte.
Er tat noch einen verstohlenen, heuchlerischen Blick nach dem
hochragenden Kreuze, das mitten im schweigsamen Garten des
Todes stand und wackelte dann schier finstern Angesichts mit
seiner Tanse weiter.
Als der Friedhof hinter ihm lag, ward ihm leichter. Die un-
heimliche Dornenhecke hatte aufgehört. Es heiterte immer mehr
22
um die östlichen Berge und der große, immer noch leuchtende
Morgenstern vereinsamte mehr und mehr.
Mit scheuen, suchenden Augen sah er sich um. Zwei Arbeiter-
frauen, die sich ihm schnellfüßig nachgemacht hatten, gingen jetzt
an ihm vorbei, ihre verhärmten Gesichter sahen ihn flüchtig an,
als sie mit halblautem Gruß an ihm vorbeieilten. Und wunder-
lich: Auch ihre Krüge, worin sie die Morgenmilch im Dorf holen
wollten, sahen Ihn mit hohlen, dunklen Augen an. Nur mit einem
Kopfnicken erwiderte er den Gruß der davonhastenden Frauen.
Schier erstaunt sah ein junges, bleiches Weib nach ihm zurück.
Was wohl der junge Bauer heute haben mochte; er, der sonst
immer ein paar herzliche Worte für sie hatte?
Es ward immer heller. Etwas wie Freude geisterte in seinen
Augen, als er den nahen Kirchenturm aus der Dämmerung auf-
tauchen sah. Nun wollte er sich sputen, dass er vor dem völligen
Tagesanbruch in die Gremplerei käme. Die Sonne sollte ihn so
nicht ins Dorf einziehen sehen. Er durfte jetzt getrost hurtiger
gehen, die Gefahr einer Entdeckung schien ihm so ziemlich vor-
über. Es war ja wie die meisten Tage. Niemand kümmerte sich
da viel um die Milch der Bauern. Man baute im Dorf auf ihre
Ehrlichkeit wie auf den Felsen Petri. Man hielt ihre ländlichen
Tätschhäuschen für wahre Tabernakel. Da durfte er ja wohl
ruhig sein. Und sollte es doch wieder einmal vorkommen, dass
die Milchschau irgendwo am Wege, etwa hinter der schlimmen
Dornhecke, lauerte, so würde er's sicherlich beizeiten merken
und sich mit Glimpf davon und auf Umwegen ins Dorf machen
können. Er taute auf und begann sich seines unternehmenden
Mutes fast zu freuen. Es lächerte ihn schon ein wenig auf den
Stockzähnen, wenn er des Holzhändlers am Gfellrain gedachte,
der allein der Gescheite im Land zu sein glaubte. Er schnalzte
mit der Zunge und ließ die Augen munter über den Weg wan-
dern. Nichts war weit und breit zu sehen ; nur ein paar Krähen
zankten sich in den Matten. Es würde heute wie die künftigen
Tage immer prächtig und glatt ablaufen. Die böse Dornhecke
war schon lang vorüber und dort versank nun auch der Morgen-
stern hinter einem unruhigen, windgestrählten Tannenkamm. Und
doch trugen ihn seine Beine so schneckenmäßig vorwärts.
„Bist heut langsam, Stöffi, langsam!"
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Zusammenschreckend wandte sich der Bauer um.
Ja so," machte er, tief Atem holend, „ja so/ du ' bist's,
Simmeier." '
„Ja, wer wollte es denn sonst sein," sagte das ältliche, glatt-
rasierte Männchen, das nun, die schwere Tanse auf dem Rücken,
neben ihm hertrampte, „du wirst etwa nicht erwartet haben, dass
mir der Bundespräsident heute die Tanse ins Dorf trägt. Bin
heut schon zum zweitenmal über Weg." Der Alte wischte mit
dem Ärmel seines Lismerkittels den vertrockneten zahnlosen Mund
und fügte mit gedämpfter Stimme bei: „Hast's auch gehört, Stöffi,
da sollen sie in Kilchwegen jenseits des Berges einen Bauern
erwischt haben, der schon zum drittenmal Wasser in die- Milch
getan hat. Fünfhundert bare Franken habe er schwitzen müssen
und ins Blatt sei's auch noch gekommen, der Sakerlot, der
Sakerlot!"
Dem Stöffi war es, als ob man ihm den Kopf in einen Kübel
voll heißen Wassers drücke. Er konnte kein Wort herausbringen,
aber seine Augen hasteten, wie die schwärmenden Bienen im
Rauch über Weg und Steg. Jesus Gott, Jesus Gott, steh mir bei!
stöhnte seine Seele.
„Ist ihm beim Eid recht geschehen, dem Hudelhund, warum
hat er sich erwischen lassen," sagte der Alte, seine tiefliegenden
Äuglein rundum gehen lassend. „Heißt das, ich will bloß sagen,
so weit bringts einer, wenn er von Gottes Wegen abkommt. Wie
kann einer denn so die Milch strecken und die armen Leute
schädigen. Aber so gehts, wenn die Leute bloß das Zeitliche im
Kopf haben und nie ans Ewige denken, ohne wenn ihnen grad
der Teufel den Kehraus um die Bettstatt tanzt. Mein Wort ist:
Gott vor Augen und jedem seine Sach."
„Ich mein, das Wetter fällt um," drückte der Stöffi mühsaTn
heraus, „der Rauch über dem Dorf ist mir zu rotlacht und .zu
schwer.''
„Freilich, es deckelt die Welt bald zu," stimmte der Alte bei,
„ich merk' den Schnee schon im linken Wadenbein."
Sie waren hart auf dem Dorf. Vor ihnen stand der „Große
Herrgott", ein gewaltiges Wegkreuz auf mannshohem Sandstein-
sockel. Gottlob, gottlob, nun war die Gefahr gewiss überstanden,
eine Milchschau nicht mehr zu befürchten. Da kam ja auch der
24
Tag spiegelheiter über die Dächer des Dorfes heraufgezogen.
Schon wiederstrahlte ein Streifen Morgenrot im vereisten Weg.
Nun rief eine Glocke zur Frühmesse und ihre Klänge gingen ihm
heute aufs Herz wie Hammerschläge, sie, die ihn sonst ange-
heimelt hatten wie Stimmen aus einer bessern Welt. Es war doch
nicht richtig und wenn es ihm nun heute gelang und wenn es
ihm noch tausendmal gelingen würde, es war doch nicht das
Richtige, was er da tat. Denn obwohl er nun die gefälschte Milch
so gut wie im Gremplerladen hatte, vermochte er sich darob
doch nicht recht zu freuen. Und was war ihm auf dem Weg
alles durch den Kopf und ans verängstigte Herz gegangen. Mit
keinem Wort vermochte er dem eifernden Männchen neben ihm,
.das alles Unheil über den Milchfrevler von Kilchwegen herab-
wünschte, beizustimmen. Hängenden Kopfes lauschte er dem
•heiligen Zorne, der auch über seine Seele ging wie ein schweres
Gewitter. Und heiß, brennendheiß stieg der einzige Wunsch mit
einemmaie in seinem Herzen auf, er möchte so brav, so fromm
und gerechtfertigt vor Gott und den Menschen den Weg ins Dorf
tun können, wie der alte Hinterschweigsimmeler.
„Guten Morgen wohl!"
Zum Tode erschrocken fuhr der Stöffi zusammen. Es war
ihm, der Blitz habe neben ihm eingeschlagen und vor seinen
Augen tanzte und surrte ein ganzer Imb von Feuerfunken. Seine
•Kniee bebten. Hinter dem gewaltigen Steinsockel des Wegkreuzes
-hervor waren der riesenmäßige Amtsschreiber und der Dorfland-
■jäger getreten.
Da glitschte der alte Simmeier plötzlich aus und plumste mit
seiner schweren Tanse mitten in den vereisten Weg hinein, also
•dass die Milch wie ein Strom aus der Tanse ging und Weg und
I Rasen weitum bedeckte, als flösse das Land von eitel Milch und
■Honig. „Heiland, Heiland!" stöhnte er, sich mühsam, mit lieber-
:göttischem Gesicht erhebend, „sakerlotabeinander, muss mir jetzt
•das Ungeschick gerade passieren, wo die Herren Milchschauer
über Weg sind. Es ist doch des Gockels. Was müsst ihr nun
denken, ihr Herren? So könnte ja einer noch in eine böse
■•Meinung kommen, ihr Herren."
• - (Schluss folgt)
■ naa ■
25
BETRACHTUNGEN ZUR CHRIST-
LICHEN PASSIONSQESCHICHTE
Als wir in einem der letzten Sommer einige Ferientage auf
dem Untersee zubrachten, fesselte uns beim Besuch der alten
Kirchen auf Reichenau mit ihren reichen Denkmalen frühmittel-
alterlicher religiöser Mystik und Symbolik ein uraltes romani-
sches Vortragkreuz. Schmerz und Todespein des Crucifixus, der
erschöpfte, geschundene Leib und das unter der Dornenkrone
blutende Haupt des Erlösers sind in so elementarem Realismus
dargestellt, dass es Grauen, Erschütterung und Mitleid erregen
konnte. Eine merkwürdige Sympathie für diesen echten Dulder
stieg in uns auf, beinahe als wären wir darüber strittig geworden,
wem er mehr zu sagen habe und wer, dank alter religiöser Ver-
ehrung und besonderem Verständnis, den größern Anspruch auf
ihn zu erheben habe. Der war echt, und die Zeit, welche ihn
hervorgebracht hat, muss ihn wohl furchtbar ernst genommen
und erlebt haben. Drüben vom Altar aber schaute lächelnd eine
heitere, rotbackige Barockmadonna, reich und weltlich angetan,
mit dem Bambino auf dem Schöße, auf den Gekreuzigten und
seine sonderbaren Andächtigen herunter, und sprach von einer
fröhlichem, vielleicht oberflächlichen Auffassung des Mysteriums
in einer Zeit, die diesem Opfer skeptisch gegenüberzustehen
schien.
Diese Episode mag sich mir gegenwärtig darum aufdrängen,
weil sie in die Anfangszeit einer für uns neuen Auffassung der
mythologischen und religiösen Gedankenwelt fällt, die für uns
von großer Tragweite geworden ist. Der fortwährende hartnäckige
Vergleich mit den Ergebnissen der täglichen psychoanalytischen
Beobachtung hat zu einem neuen lebendigen und praktisch über-
aus wertvollen Verständnis dieser Gebilde unseres Denkens ge-
führt, und schon frühe hat Fr^ad begonnen, die Brücken von der
Psychoanalyse zur Völkerpsychologie zu schlagen. Und so fühlen
wir uns ; berechtigt, an einem Problem wieder mitzusprechen,
das sich bisher vorwiegend andere Fakultäten vorbehalten
26
haben *). Ich möchte in gedrängter Kürze einiges darstellen, was wir
vom analytischen Standpunkte aus zur Passion Christi etwa zu sagen
haben. Dabei möchte ich mich gerne vor allen möglichen Miss-
verständnissen schützen, welche mir daraus erblühen könnten;
aber ich unterlasse dies, weil es mich unnötig in die Breite führen
würde. Ich will weder Transzendentales ergründen, noch die
Religion im besondern retten oder zerstören. Vielleicht ergibt sich
aus unsern Arbeiten für die Psychotherapie das erfreuliche Resultat,
mit dem religiösen Vorstellungsmaterial wieder etwas anfangen zu
können, und für die Theologen, auf rationalistische Auffassungen,
wie sie populär etwa in Frenssens „Leben des Heilandes" zu-
sammengefasst sind, zu verzichten und der Orthodoxie durch eine
Wiederaufnahme und ein psychologisches Verstehen des Mythi-
schen gleichsam mehr Ehre anzutun. Ich mache mir die Sache
leicht, indem ich mich nicht um die Streitfrage „Hat Jesus ge-
lebt?" kümmere. Wohl aber gehe ich mit jenen wichtigen neuen
Arbeiten einig, welche vor allem die reiche mythologische und
kultische Unterfütterung der Evangelien und des christlichen
Mysteriums dartun und welche in dem letzteren eine besondere
Weiterentwicklung auf schon vorhandener Grundlage erblicken.
In diesem kurzen Aufsatze ist es mir nicht möglich, überall auf
alle Ursprünge und Vergleichsmaterialien einzugehen; ich kann sie
nur da und dort beiziehen.
Ich versuche kurz einiges über den Weg zu erzählen, wie wir
in der Psychoanalyse dazu kamen, das Opfermotiv und damit
auch das christliche Opfermysterium, die Passion, näher ins Auge
zu fassen. Wer täglich das zur Analyse des sogennannten Unbe-
wussten dienende Material an Träumen, Phantasien und Kunst-
schöpfungen untersucht, dem drängen sich die Parallelen von
Motiven, wie wir sie in Sage, Märchen, Mythos und Religion
wiederfinden, ganz besonders auf. Aus diesen Vergleichen sind
denn auch eine Reihe von analytischen Bearbeitungen völker-
psychologischer Gebilde hervorgegangen.
^) Vgl. die Arbeit von C.G.y«/zg^ „Wandlungen und Symbole der Libido".
Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen. IV. Bd.
erste Hälfte, Leipzig, Deuticke, 1912. Jung hat hier dem Opfer ein beson-
deres Kapitel gewidmet.
27
.Bei der Analyse sogenannter nervöser Symptome, vor. allem
^nervöser" Beschwerden am Körper, fällt uns auf, wie der „nervöse"
-Ausdruck des Leidens durch etwas zur Darstellung gebracht wird,
was einmal Lust und Seligkeit war. Als dezentes und verständ-
liches Beispiel nenne ich unter anderm das angenehme „holde"
Erröten, das den lebhaften, guten Gefühlsrapport gewöhnlich be-
gleitet, im Gegensatz zum peinlichen, qualvollen Rotwerden des
ertappten Sünders, oder das vom Durchschnittsmenschen psycho-
logisch nicht mehr verstandene „nervöse" Erröten, das, oft mit
großer Angst verbunden, als nervöses Krankheitssymptom ange-
sehen wird; es ist ebensogut begründet wie das noch verstandene
normale Erröten, nur haben sich die Ursachen und Zusammen-
hänge der oberflächlichen Beobachtung entzogen.
Die Ambivalenz des Empfindens findet ihren Ausdruck in den
religiösen Bildern und Vorstellungen wieder, im Himmel ist der
strahlende Glanz ewigen Lichtes, das ein Sterblicher nicht aus-
halten könnte, in der Hölle als qualvolles Äquivalent das ewige,
sengende Feuer, ambivalente Qualitäten, die übrigens in unserem
großen Tagesgestirn vereinigt sind, das ebenso wohltätig als furcht-
bar sein kann. Fra Angelico hat diesen Vorstellungen dadurch
Wirkung gegeben, dass er in einem jüngsten Gericht (Galleria antica
e moderna, Florenz) das Paradies mit Strahlen, Licht, Gold, Farben,
Formenreichtum und Rhythmus ausstattete, die Hölle aber in matten,
toten Farben malte, mit dumpfem Feuer und den typischen Mo-
tiven der Höllenqual. Das Dürre, Öde, Tote gehört durch die
ganze Psychologie durch ebenso zum Quälenden, wie das sengende,
brennende Feuer. In manchen Sagen, zum Beispiel in einer Reihe
von schweizerischen, wird darum die Hölle oder Unterwelt in die
öden Moore verlegt und ebenso gehört die tote, brennende Wüste
zu den Höllenmotiven. Bezeichnend ist, dass die Versuchung
Christi in die Wüste verlegt und ebenso der israelitische Sünden-
bock in die Wüste gejagt wird (3. Mose 16).
Interessant ist die noch leicht verständliche, primitive Auf-
fassung der schweizerischen „Giritzenmoos"-Sagen i) und Riten,
dass diejenigen Mädchen in die Hölle kommen, welche nicht recht-
zeitig geheiratet haben, und daraus erlöst werden müssen. Der
') Vgl. Schweiz. Archiv für Volkskunde von Hoffmann-Krayer.
28
Vergleich mit dem DanaVdenmotiv ist gewiss gerechtfertigt. Von'
hier aus verstehen wir weiter den Sinn der Tantalusqualen als
Darstellung ewig unbefriedigter Begierde. Um nun auch die sym-
bolische Gleichwertigkeit von Hunger- und Liebesbildern in der
Darstellung der unerfüllten Sehnsucht anzudeuten, verweise ich
auf den sprachlichen Ausdruck der Bibelstelle: „Wie der Hirsch
schreit nach frischem Wasser".
Wir begegnen denn auch in den nervösen Symptomen massen-
haft den Darstellungen der Qual unerlöster Sehnsucht: Heiß-'
hunger, nervöser Durst, stundenlanges, ruheloses Herumlaufen
und vieles ähnliche. Die Analyse solcher Symptome nach Ent-
stehungsweise und Konfliktausdruck, kurzum die Individualbedeu-
tung gibt uns durchaus das Recht, diese Ausdrucksweisen mit
den mythologischen gleich zu setzen.
Eine bekannte, sehr ursprüngliche Empfindung und Darstel-
lung von Wonne ist das Schweben. Wir kennen es reichlich be-
legt aus den Traumanalysen, wie auch aus allgemein bekannten
religiösen und dichterischen Vorstellungen.
Die Lyrik ist überaus reich an solchen Bildern; Wolken und
Vögel sind ständige und schöne Ausdrucksymbole sehnsüchtiger
Gedanken; sie haben jene Eigenschaft an sich, die dem Menschen
Wonneempfindung sind. Ich erinnere mich beispielsweise an
überaus hübsche Wolkensymbolik in den Gedichten Lermontows
aus einer in einem psychoanalytischen Kreise gebotenen Studie
über diesen Dichter. So verstehen wir auch die Ausstattung der'
göttlichen Wesen, welche uns als Engel traditionell bekannt sind,
mit Flügeln, und die reiche, liebevoll dekorative Ausarbeitung
dieser Attribute bei den Malern der Frührenaissance.
Einer Bedeutung in diesem Sinne unterlag folgender Traum
eines Patienten, der sich von Zeit zu Zeit wiederholt hatte: Aus
der Ferne schwillt etwas Kleines rasch an und stürzt sich lawinen-
artig auf den Träumer. Im Moment wo er von der Lawine ein-
gehüllt wird, beginnt ein seliges, unendliches Schweben darin.
Wir erkennen im Traum die Elemente einer gefährlich schwellen-
den libidinösen Erregung (im allgemeinsten Sinne), die sich, statt'
sich in höchste Angst zu steigern, in Seligkeit auflöst. Die Ein-
fälle ergeben in erster Linie Erinnerungen an schöne Bergtouren,
die das Genießen höchster Freiheit bedeuteten, mit Wünschen, sich
29
von den weiten, luftigen Abgründen, oder von dem Flaum weicher
Nebelmeere in seligen Gefühlen aufnehmen, sich hineinfallen zu
lassen. Die letzteren Vorstellungen stehen denen vom ewigen
Geborgensein, mütterlichen Charakters, außerordentlich nahe.
Das höllische Pendant des seligen Schwebens finden wir wieder
in den Motiven ruhelosen Schwebens und Umhergetriebenwerdens
(in Dantes Inferno, im irrlichtermotiv, im Ausdruck „Hangen und
bangen in schwebender Pein". Was unerledigt ist, nennen wir „in
der Schwebe" oder brauchen das Fremdwort „pendent" dafür,
also „hängend" ^).
Für die zwiespältige Seelenverfassung ist es bezeichnend, dass
wir, uneinig mit der Triebrichtung, ruhelos getrieben werden. Wir
empfinden dies als zwanghafte Qual. Nach unserer Andeutung
über den ursprünglichen Sinn der Höllenmotive, die ja als Höllen-
strafen bezeichnet werden, dürfen wir bereits erwarten, dass die
Strafen, welche die menschliche Phantasie zur Rache für die Ge-
setzesübertretung erfunden hat, in erster Linie aus der symboli-
schen Darstellung und Aktivierung seelischer Qual hervorgehen,
und es würde nicht gar schwer fallen, dies historisch nachzu-
weisen : für das Hängen, Kreuzigen, Köpfen, Rädern, Pfählen,
Kastrieren, Blenden, Geißeln, Rösten, Spießen bis zur einfachen
Freiheitsberaubung, dem Gefangenhalten, und zur Buße.
Es sind nicht nur unsere Patienten, welche uns diese Motive
der Qual in den sinnvollsten und wunderbarsten Darstellungen
bieten; ebenso reiches Material liefern Mythen und Kulte.
Die als sexuelle Perversion gebrandmarkten sadistischen
Motive erhalten damit eine neue Beleuchtung, welche sie uns
vergtändlicher macht: In erster Linie handelt es sich um Bilder
und Empfindungen eigener Seelenqual, in zweiter Linie um ihre
motorische Entladung. Nur in einer Spezialform sind sie pervers:
wenn sie in eigentümlicher Gefühlsambivalenz lustvoll betätigt
und die vorherrschende Triebäußerung werden.
Es schadet nichts, wenn wir einmal die Darstellungen der
Qual rehabilitieren : Durch die altern Betrachtungsweisen wurden
wir verleitet, sie mit Widerwillen abzutun und die Nase darüber
zu rümpfen, oder als psychiatrisch-klinische Sexualabnormität an-
*) C. G. Jung hat verschiedentlich über das Hängemotiv gesprochen.
30
zusehen. Damit sind wir ihnen nicht gerecht geworden, weder
ihrer Bedeutung in den alten Strafgebräuchen, noch in ihrer kulti-
schen Erscheinung.
Denn es hatte einen tiefen Sinn, dass bei der Kulturentwicic-
lung, die zahlreiche Einschränkungen mit sich brachte, die Em-
pfindungen, die die kulturelle Einschränkung in der Psyche aus-
löste, die Qualbilder des Verzichts, in einer motorischen Entladung
an dem zu vollziehen, der die Schranke durchbrach. Auch wenn
wir humanere Anschauungen erworben haben, werden wir diesem
Racheprinzip gerechter, wenn wir es aus seiner Entwicklung ver-
stehen lernen. Dann ist es uns auch eher möglich, bei unsern
Reformen des Strafrechts die sinngemäßen modernen Ersatzaus-
wege zu entdecken.
Noch besseres Verständnis können wir den religiösen An-
wendungen der Qualmotive entgegenbringen. In der Religion
steckt sowohl Katharsis, also Entladung des Qualmotivs (Rache)
als vorbildliche rituelle Darstellung dessen, was im Denken ge-
schieht oder geschehen soll, respektive sich vorbereitet.
Deutlich sehen wir dies zum Beispiel in den rituellen Opfer-
vorschriften des Alten Testaments (3. Buch Mose). Dort wird die
Rache, die Qual nicht am Sünder vollzogen, sondern dieser selbst
rächt sich am Symbol, am Tiere. Eine kleine Geschichte, die ich
einem kürzlich erschienen Feuilleton des „Zeitgeist" entnehme^),
gibt den Sinn dieses Verhältnisses recht hübsch wieder.
Das Söhnlein eines Indianers ist am Sterben. Ängstlich be-
obachtet der Vater, wie ein Augurium, die sorglich gepflegten
Haustauben: Sie fliegen fort und der Kleine stirbt. Im namen-
losen Schmerz findet der Vater einen Ausweg: mit der Axt zer-
stört er den Taubenschlag, aus dem zwei hilflose junge Täubchen
fallen. Vor den Augen des um die Brut geängstigten zurück-
kehrenden Taubenpaares zerquetscht er die Jungen mit roher
Hand. Nach dieser Entladung ist er erlöst, kann sich ins Schick-
sal fügen.
Wir erkennen in den Haustauben, ihrem Kult und ihrer Rolle
alte Totemtiere, also göttliche Wesen. Wenn ein sogenannter
^) Die Tauben. Erzählung aus der Wildnis von Coelho Netto. Aus
dem Brasil-Portugiesischen von Martin Brusot.
31
„Köpfjäger" in der gleichen Lage zur Entladung der Qual und
Angst, in die sich die Liebe zum Sohne plötzlich verkehrt, einen»
andern, dem verstorbenen ähnlichen Knaben töten würde, so wird
hier die Entspannung, einer gesitteteren Stufe entsprechend, an den
göttlichen Wesen vollzogen. Die Qual verlangt zu ihrer Erlösung
einen Ausweg. Was innerhalb des Göttlichen, Religiösen geschieht;
ist aber sowohl primitive Entladung in kultischer Einschränkung,
als auch projiziertes Denksymbol. Ins Göttliche projizieren wir
die eigenen Wünsche und Tendenzen, besonders jene, welche wir
als treibende in uns wahrnehmen, ohne sie als unsere eigenen
anzuerkennen. Gott rächt, was der Mensch selbst zu rächen
aufgegeben hat. Aber der Mensch rächt sich auch an der Gott-
heit, und indem er dies tut, ist er bereits auf dem Wege hoher'
Kultur: Er erlöst sich, indem er die in die Gottheit (hier die
Tauben) projizierten Wünsche tötet, opfert. So findet er allmählich
den einzigen Weg, der erlösend wirkt: Was uns geschieht, ist
qualvoll; erst wenn wir es nachträglich durch die eigene Tat
sanktionieren, sind wir erlöst. Für jene Strebungen in uns, auf
die wir kulturell Verzicht leisten müssen, gibt es nur eine erlösende
Erledigung: Die Nachahmung dieses Wilden durch den aktiven
Verzicht, wobei die motorische Aktion sich allmählich über den,
Weg des religiösen Ritus in eine psychische Anstrengung und
Leistung des Denkens umwandelt.
Durch diese Aktivierung der unerlösten Qual wird das Opfer
ein Ersatz für die Aktivierung der Lust.
Die Psychologie des Individuums zeigt uns Schritt für Schritt,
dass in jeder Leistung, in jedem Fortschritt das Opferprinzip ent-
halten ist, sobald wir aus dem rein infantilen Lustprinzip heraus-
treten und uns an die Realität anpassen.
Das verleiht nun den sadistischen Tendenzen in uns neue
Bedeutung und verschiedene kulturelle Bewertungen: Sie enthalten
eine Neigung zur Umwandlung. Die primitive Form ist das Quälen
anderer, die uns jetzt verwerflich erscheint; eine kulturell bedeut-
samere Anwendung ist das Strafen, in den religiösen und rituellen
Formen aber kommen wir erst zu einer höheren Entwicklung^
empor: zum aktiven Opfern.
Wir sind, gemäß der historischen Entwicklung des Dramas,
berechtigt, auch Schauspiel und Tragödie zu den religiösen Aktionen-
32
zu zählen, im Dienste icultureller Tendenzen. Ihr Wert besteht,
ähnlich dem des religiösen Opferritus, an dem die Gläubigen
teilnehmen, in einer Handlung, an der wir uns mitdenkend zu
erlösen suchen. So wird uns der Sinn der Tragödie, zum Bei-
spiel des Ödipus, vergleichend - psychologisch verständlich: Der
Verzicht auf eine regressive Tendenz wird dadurch geleistet, dass
sie zwar ausgeführt wird, aber qualvoll ist und tragisch endet.
Sie muss untergehen (Motiv des Sonnenuntergangs in der Blen-
dung), muss sterben.
Unsere Analysen sind nun voller Qual- und Opferbilder. Sie
unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkte, wobei sich das
Opfer von der bloßen Vorstellung der unerlösten Qual immer
durch eine Komponente von Aktivität und Handeln unterscheidet.
Und von all den Opfermotiven ist uns gerade eines geläufig:
das Motiv des Verzichtens auf alte, sehnsüchtig begehrte Ten-
denzen, in Form des aktiven Erhöhungs- und Hängemotivs.
Wenn wir gelernt haben in der antiken Zoologie, die vor-
wiegend Mythologie ist, unsere psychischen Geschehnisse wieder
zu erkennen, so verstehen wir auch die Geschichte vom Fuchs
und den hochhängenden Trauben ; nur dass er den Verzicht nicht
anerkennt, sondern beschimpft; und dieser Fuchs gehört nicht zu
den Erlösten und Befreiten.
Wir lernen nun auch jene archaisch-religiösen Verirrungen
verstehen, die uns aus der Nähe bekannt sind: Den historischen
Mord von Wildenspuch im Zürcher Weinland, wo ein Mädchen
(also direkt das Objekt der verbotenen Wünsche statt eines alten
Symbols von phallischem oder tierischem Charakter) an einer Scheune
erhöht und gekreuzigt wurde, und jenes Ereignis pathologisch-
religiöser Degeneration, das vor einigen Jahren im Kanton Aar-
gau spielte, wo ein Kalb als Teufel (Personifizierung verbotener
Tendenzen) gemartert wurde, ich kenne auch Fälle von Kinder-
misshandlung, welche einen solchen Ursprung haben, und wie-
viel Tierquälerei mag daher kommen!
Solchen archaisch- regressiven Tendenzen sind aber gerade
jene Traumbilder gegenüberzustellen, welche in vorwärtsgerichteter,
programmatischer Form den intellektuellen Verzicht auf das Un-
zweckmäßige darstellen, in Bildern, die den schönsten religiösen
Gleichnissen nie nachstehen.
33
Auf zwei Vorläufer des christlichen Passionsmotivs möchte
ich nun kurz eingehen: Einmal auf das Motiv des geopferten
Königs („Le roi supplicie" in 5. Reinach: Cultes, Mythes, Religions;
vergleiche auch M. Robertson: Die Evangelienmythen, und M. Frazer:
The golden Bough). Durch eine Menge von Ländern geht und
ging die Sitte, zu bestimmter Zeit die Schranken von Gesetz und
Moral aufzuheben, wovon die römischen Saturnalien und deren
chistlicher Abkömmling, der Fasching, Beispiele sind. Vielerorts
waren diese Festlichkeiten, die sich uns bereits als Reste pri-
mitiver religiös-kathartischer Riten dokumentieren, von uns bar-
barisch anmutenden Sitten begleitet, von denen wir bei uns harm-
lose und heitere Relikte und Analogien kennen (den Gebrauch
in England, dass einmal im Jahre die Diener die Herren spielen
dürfen ; ferner die rituelle Verbrennung eines aufgehängten Simu-
lacrums, zum Beispiel des Böggs am Zürcher Sechseläuten); ein
Sklave, also ein auf niederer Stufe stehender Mensch, oder ein
Verbrecher wurde zum Beispiel durchs Los als König erklärt,
oder hatte den Gott des goldenen Zeitalters (ohne Kultur-
schranken) darzustellen. Er hatte das Recht, von seiner könig-
lichen Macht Gebrauch oder Missbrauch zu machen und Exzesse
zu begehen. Schließlich hatte er sich aber selbst zu töten (in der
römischen Provinz am Altar des Saturnus). Wir haben zahlreiche
Kunde von ähnlichen Gebräuchen archaischer Religionsübung und
von deren Überresten, die ich nicht einzeln anführen will, die
aber alle ein ähnliches Motiv enthalten: ein Menschenopfer unter
der Form, dass das Opfer, allmählich immer ein Verbrecher,
an dem betreffenden Feste ausgelassen sein durfte, mit könig-
lichen Insignien angetan und umgeben wurde, häufig einen Gott
darstellte, und am Schluss seiner Ehren entkleidet, oft gegeißelt,
und dann getötet wurde: zum Beispiel gehängt oder gekreuzigt.
(Sacaea in Babylon). Oder: die Rolle ist auf zwei Personen ver-
teilt: der eine Darsteller entgeht dem Schicksal und kommt zu
königlichen Ehren, der andere wird geopfert (Esthermotiv).
Während die Historiker sich bemühen, diese Geschichten zu ver-
gleichen, und ihre Einzelheiten mit der biblischen Passionsgeschichte
in Einklang zu bringen, und namentlich das Datum, vorwiegend
die Frühjahrstag- und Nachtgleiche, mit Recht bedeutungsvoll
finden, begegnen wir durchaus den gleichen Motiven in den Traum-
34
materialien: Ein Symbol, mit Sonnen- und Königsqualität (my-
thologisch und antik gesprochen ein Gott) wird grausam ge-
schunden und gequält und stirbt oder wird getötet, und auf-
gehängt. Solche Bilder erscheinen im Laufe der Analyse dort,
wo eine wesentliche Umwandlung im Anzug ist. Aber auch das
andere Motiv ist da : das der Wiedergeburt, der wiederaufsteigenden
Sonne, des neuen Königs. Und wir werden lebhaft an die ganz
elementare Fassung des Libidoproblems erinnert, wie sie das
Motiv des „Golden bough" von Frazer enthält: der priesterliche
Hüter des heiligen Baums tötete den, der den Zweig abreißen
wollte. Wem das aber gelang, der hatte das Recht, den bis-
herigen Priester zu töten und selbst Priester zu sein.
Das genaue Studium all dieser Bilder, verglichen mit dem
lebendigen Material der psychoanalytischen Behandlung, ergibt eine
kulturelle, moderne Formulierung: Die alte, rückwärtsgerichtete
gefährliche Sehnsucht ist zu opfern; in neuer, wiedergeborner
Gestalt ist sie anzuwenden, und die Gefahr nicht zu scheuen.
Die Individualanalyse erleichtert uns die Deutung insofern,
als das Einfallsmaterial uns den deutlichen Hinweis gibt, was zu
opfern und was zu wagen sei. In diesem Zusammenhang wird
auch verständlich, dass das Symbol des Aufzugebenden inzestuöser
Färbung ist; was im Mysterium geschieht, enthält ja bereits den
Verzicht auf das gleiche Tun in der realen Kultur, und enthält
einen Hinweis, dass das Gleiche nur in höherer und sublimirter
Form auszuüben sei, nämlich im Denken^).
Der zweite Vergleich gilt dem Mithraskult, einer Religion,
die in der Antike als Vorläuferin und Nebenbuhlerin des Christen-
tums große Bedeutung besaß. Dort wurde, mit archaischen
Ritualien, Mithras, ein Sonnengott, verehrt, dessen Geschichte,
wie die des Heilands, die typischen Heldenmotive aufweist: wunder-
bare Geburt, Weisheit, Überwindung des Alten (Versuchung) und
so fort. Wirksam aber ist vor allem das Opfermotiv, das als
Altarbild eine ähnliche Verbreitung hatte wie heute das Kruzifix:
der Gott opfert schmerzvoll sein animalisches Ebenbild, den
Sonnenstier, also sich selber (wir dürfen gleichzeitig sagen: sein
Tierisches, in dem Sinn des Sprachgebrauchs). Wer dem Opfer
^) Ausführliche Untersuchungen darüber siehe bei Jung, „Wand-
lungen und Symbole der Libido".
35
beiwohnt, gläubig ist, wird dadurch wiedergeboren, ist ein Un-
sterbh'cher.
Betrachten wir die reh'giösen und kultischen Vorkommnisse
als lebendige, treibende Gebilde im Dienst der kulturellen An-
passung und der Entwicklung des Denkens und der Einsicht (über
deren Endzwecke wage ich nichts zu sagen), so dürfen wir uns
wohl ein Urteil erlauben, in welcher Fassung eines ursprünglich
gleichlautenden Motivs der größere kulturelle Wert zu suchen sei.
Zwar deckt sich die praktische Moral keineswegs mit der Diffe-
renzierung des Glaubens. /?ß//zacÄ legt Wert darauf , dass die mithra-
istische Moral des Julianus Apostata der christlichen durchaus eben-
bürtig gewesen sei; Gottfried Keller behandelt einen ähnlichen
Gedanken im „Verlorenen Lachen" (Ursula und Agathchen). Gleich-
wohl bedeutet das christliche Passionsmotiv inhaltlich einen Fort-
schritt über das des Mithras^), ebensosehr, wie der christliche
Abendmahlskult die barbarischen Stieropfer überragt. Zwar ist
Milhras ein Mittler, ähnlich wie Christus, also eine Vermensch-
lichung des Symbols. Aber er bleibt uns trotzdem ferner, astro-
logischer, und erreicht bei weitem nicht die unmittelbar mensch-
liche Gestaltung, die uns ein volles Einfühlen erlaubt. Das
Wesentliche aber ist, dass der christliche Gottmensch sich selbst
opfert; in diesem Sinne reicht das Opfermotiv an Wert weit über
das des mithraistischen Stieropfers hinaus: Hier erst wird das Gött-
liche auch ganz menschlich, und der Gottmensch opfert sich
selbst und vollständig. Diese Andeutungen über den psychologi-
schen Sinn des Opfermotivs veranlassen uns, einigen besondern
Zügen der Passionsgeschichte noch genauer nachzugehen. Das
reichhaltige Material vorchristlicher analoger Kultmotive mit ihren
beständigen Verdichtungen, Entlehnungen und Verschmelzungen
berechtigt ganz besonders und stützt die Art, diese Probleme
psychoanalytisch in ihren fortwährend neuen Fassungen zu unter-
suchen.
Der Heiland ist ein niedriger Gott und verkörpert ein Motiv,
dem wir in der Mythologie, im Märchen und Traum überaus
häufig begegnen. Aus dem Unscheinbaren, Niedrigen, Gemeinen,
Verachteten geht ein Held hervor. Alles Neue und Wertvolle steigt
>) Vgl. auch die archaischen Einzelheiten in A. Dieterich, „Eine Mi-
thrasliturgie".
36
aus der Tiefe des Trieblebens herauf; damit es wertvoll werde,
bedarf es der Umwandlung, des Opfers, der Wiedergeburt. Die
Kulte, sofern sie als ursprünglich primitiv-kathartische Entladung
in Betracht kommen, beweisen diesen Gedanken durch ihre Ge-
schichte und durch ihre Rückfälle ins Primitive. Die Bedeutung
dieser Tatsache für unsere eigene Psychologie kann der am besten
beurteilen, dem sich diese Bilder in täglich neuer Variation und
Gleichheit am Traummaterial der Analysanden offenbaren. Wir
verstehen, nicht bloss aus praktischen, sondern auch aus psycho-
logisch-historischen Gründen, warum so häufig Verbrecher als
Opferobjekte dienten; und warum sich auf der andern Seite
wieder die Priester opfern oder kastrieren mussten, versteht sich
nur aus den ursprünglich intimsten Beziehungen der Gegensätze
von verbrecherisch und heilig. Im zitierten Motiv vom,, goldenen
Zweig" ist noch der der Verbrecher, dem der Raub nicht gelingt;
der, dem er gelingt, tötet den Priester und tritt an dessen Stelle, ist
also ein Held geworden.
Vom Lustprinzip, das heißt vom Innern Entwicklungsprinzip
aus beginnt die Schuld und die Angst erst da, wo es sich der
Realanpassung gegenüber nicht mehr durchsetzen kann. Auch bei
uns umleuchtet den Verbrecher noch häufiger als es einem oft
lieb wäre die Heldengloriole. Der Priester ist aber bereits der
Repräsentant eines kulturellen Niveaus, wo nur noch Gott tun
darf, was der Mensch bereits aufgegeben hat. Und darum muss
in diesem Kulturstadium der Priester zugleich rein sein und zu-
gleich den Verzicht auf das Unreine oder Primitivere rituell dar-
stellen. Diesen Gedanken enthält auch die christliche Passion.
Die Schuld der Menscheit, das heißt äquivalent die Größe ihrer
Kulturaufgabe, ist so enorm, dass nur ein Gott, der zugleich auch
Mensch ist, die Erlösung bringen kann. Im Gottmenschentum
wird etwas ganz Wesentliches seiner Verwirklichung nahe gebracht:
das ganze Problem wird wieder in den Menschen gelegt, es wird
seine eigene Angelegenheit; in dieser Beziehung ist das Christen-
tum weiter gekommen, als der Mithraskult. Was wir in der Psy-
choanalyse erstreben: ein Verständnis für die mythologisch-sym-
bolische Ausdrucksweise der Tendenzen unseres Unbewussten
(darum die Traumanalyse), findet ein Analogon in der Entwick-
lung der religiösen Kulte. Freilich hat diese Entwicklung seit den
37
Evangelien noch weitere große Fortschritte gemacht. Die kräftigen
Choräle der Bach'schen Passionen zeigen, was an Verinnerh'chung
und Symboiauflösung aus dem Evangeh'entext geworden ist.
Dem Motiv des unschuldig, aber wie ein Verbrecher geopfer-
ten Gottes, das auch im Selbtsopfer des Priesters enthalten ist,
kommt in der Psychoanalyse praktische Bedeutung zu. Solange
keine Schranken der Not oder Kultur oder fortschreitender Lebens-
aufgabe den Weg unserer primären triebhaften Entfaltung stören,
sind wir unschuldig. Wir dürfen das Schuldgefühl nicht in erster
Linie moralisch auffassen, wie es noch die Psychiatrie in der
ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts tat und wie es
noch die allgemeine Auffassung überhaupt ist, sondern als ganz
primäre Reaktion auf ein Hemmnis der libidinösen Entfaltung,
eine psychische Stauung, viel allgemeiner und in der Neurosen-
pathologie viel elementarer, als es durch die Einschränkung mo-
derner Moralgebote geschieht. Wir sprechen von den unschuldigen
Kindern, die uns ja nicht an Moral überragen. Schuldig werden
wir mit zunehmender Schwierigkeit der Anpassung an das Leben,
sofern wir da in Rückstand geraten.
In der Analyse sehen wir an dieser Stelle die Schuldgefühle
anschwellen und alte Erinnerungen von ähnlichen Hemmnissen
neubeleben und überschwemmen.
Nehmen wir den einfachen, aber häufigen Fall, jemand schei-
tere an einer der gewöhnlichsten Klippen: von der Pubertät an
zögere er, den neuen Aufgaben des Lebens gerecht zu werden;
von da an wird er schuldig. Seine Phantasien bezeichnen nun
das ganze bisherige kindliche Entwicklungsstadium als unschuldig,
die kommende Aufgabe als Begehen einer Schuld; oder das
Schuldgefühl besetzt die gegenwärtigen elementaren Triebäuße-
rungen. An dieser Stelle ist ein Opfer des reinen Lustprinzips
nötig: Wir müssen vorwärtsschreiten, und um zu leben, auf
Leben verzichten: gerade zum Beispiel die Kinder, die wir haben,
mahnen uns, dass wir mit unserm Fortschritt im Leben auch
unser Grab schaufeln und bereits unsere Erben geboren haben.
Die fortschreitende Einsicht macht uns schuldig, wenn wir
im Handeln nicht nachkommen. In „Niels Lyhne" s^nc\\\. Jacob sen
von einer Sünde, die nie vergeben werde, jene gegen den heiligen
Geist. Als solche bezeichnet er das Unvermögen, seine neu-
38
gewonnen Einsichten und Anschauungen festzuhalten oder in die
Tat umzusetzen, weil sie zu hart sind, oder weil wir uns von
liebgewonnenen kindlichen Anschauungen und Sentimentalitäten
nicht zu trennen vermögen.
Das Widerspiel des unschuldigen Opfers bildet in der Passion
das jüdische Volk, welches das Opfer verlangt; in den Analysen,
die ja nach dem bisher Angedeuteten einer Passion sehr ähnlich
sehen, ist uns diese drängende Masse in allerhand Gestaltung
wohlbekannt. Im Widerstreit innerer Tendenzen drängt eine zur
Durchsetzung der treibenden Kraft, die vom Standpunkt des Nicht-
wagens — oder des Nichtopfernwollens — schuldhaft ist.
Dieser ambivalente Charakter des Volks in der Passion zeigt
sich darin, dass es, gemäß historischer Entwicklung des kultischen
Gebrauchs, eigentlich die Opfernden darstellt. Diese Rolle des
jüdischen Volks in der Passion erhellt aus einer kulturhistorischen
Tatsache wohl nur zu deutlich: sie ist ihm schlecht bekommen.
Die Christen scheinen den Juden die Rolle, welche sie in der
Passionsgeschichte als Opferende spielen, furchtbar übel ge-
nommen zu haben. Den durch die „Juden" dargestellten (nicht
unbedingt selbst realisierten) Zwang zu weitern kulturellen Ver-
zichten mussten sie im Lauf der Geschichte oft blutig büßen ; an
allem Unglück waren ja immer die Juden schuld. Der Tugend-
hafte ist gewöhnlich recht intolerant.
Die mythologischen Untersuchungen der Passionsgeschichte
betonen deren dramatischen Charakter, was unserer analystischen
Auffassung sehr entgegenkommt. Die Rolle, die das böse, zugleich
aber opfernde Volk spielt, die Tendenz, die es darzustellen hat,
leuchtet aus Otto Julius Bierbaum's Samalio Pardulus hervor.
Das war ein Maler in der italienischen Renaissance, einsam auf
einer unheimlichen Burg hausend ; er war ein Ketzer, behauptete,
Gott habe die Welt erschaffen, weil ihm die Einsamkeit unerträg-
lich geworden sei; durch die Erschaffung sei er aber selbst
sterblich geworden (analytisch gesprochen : die Isolierung nötigt
den Menschen, nämlich den Maler, seine Phantasien in Hand-
lungen umzusetzen, mit der Umwelt in Kontakt zu kommen. Alle
Handlung ist aber ein Opfer von Millionen unverbindlichen
Phantasiemöglichkeiten und Größenideen, und wo wir mit der
Wirklichkeit in Beziehung treten, anerkennen wir gleichzeitig unsere
39
Sterblichkeit). Mit Entsetzen nennt der Chronist seine Bilder:
eines stellt den eigenen Schwester- Incest dar. Auf einem andern
aber malt er sich als Gekreuzigten mit der Dornenkrone; aber
statt der Züge des göttlichen Erlösers malt er seine eigene tierische
Physiognomie, und in einer Weise, die dem Chronisten als blas-
phemisch erscheint, malt er auch seine Entblößung. Wir werden
uns weniger entrüsten; denn diese Darstellung ist zwar archai-
scher, aber für den Eingeweihten von monumentalem Eindruck :
das Animalische (wie bei Mithras) im speziellen Sinne, die re-
gressiv-inzestuöse Tendenz, und allgemeiner die altertümlichere und
primitivere Triebtendenz ist gequält und muss geopfert werden.
Indem er dem Gekreuzigten die eigenen hässlichen Züge leiht,
stempelt er auch das Opferproblem zum eigenen.
M. John Robertson (die Evangelienmythen) setzt das Motiv
vom Leiden am Ölberg in Parallele zur Verklärung. Für den
Analytiker ist dies sehr annehmbar und einleuchtend, dank der
Umwandlung von Seligkeit in Qual durch den Widerstand vor
der Umwandlung. Die Verklärungsszene ist mit Sonnenmytho-
logie reichlich untermalt; und wie die als Sonnen- und dadurch
Libidosymbol dokumentierte Krone höchste Kraft darstellt, die
Dornenkrone aber eine, wie früher schon angedeutet, mythen-
und kultgeschichtlich wohlfundamentierte Spottkrone oder Qualen-
krone des Opferkönigs ist, die auch antiken Mythenhelden (zum
Beispiel Herakles) nach Überwindung einer Schwierigkeit zukommt,
also wird Seligkeit zur Qual im Angesicht eines schwer zu leisten-
den Fortschritts oder Opfers. Nicht umsonst sind diese typi-
schen Motive der Passion auch „Geheimnisse" des schmerzhaften
Rosenkranzes geworden. „Geheimnis", Mysterium ist ja immer
ein Symbol.
Der Verrat des Judas und die nächtliche Gefangennahme
bringt Robertson in Beziehung zur Sprache der Sonnenkulte,
deren Spuren oder lebendige Analogien wir in der Ausdrucks-
weise unseres Unbewussten immer wieder finden. Der göttliche
Held wurde dort den Häschern (den Figuren, welche unsern
eigenen psychologischen Widerstand darstellen) den finstern
Mächten, sagen: „Dies ist eure Stunde und die Macht der Finster-
nis". Ähnhich stellen Mythos und Märchen den (nur als psycho-
logisches Symbol richtig zu verstehenden) Helden in Schwierig-
40
keit und Zweifel dar. Interessant sind jene Gebräuche, welche
in der Nacht vom Gründonnerstag auf Charfreitag „den Lärm
der jüdischen Rotte nachahmen". Dieser Ritus erinnert uns all-
zusehr an alle jene Lärmgebräuche, um die dunklen Dämonen
zu verjagen und der Sonne oder dem Sonnengott zum Siege
zu verhelfen (Sylvester, Fastnacht, Johannisglocken in Rom,
kulthistorische Bedeutung der Glocken im Allgemeinen und den
„Ratschen" in den katholischen Kirchen in der Charwoche im
speziellen).
Psychologisch ist also Judas eine Art Antichrist, der Held der
Verneinung, der zugrunde geht. In gar vielen Heldenmotiven (und
Träumen) tritt uns dies Motiv entgegen: Der sonst unverletz-
liche Held ist irgendwo verwundbar, und durch eine uns nicht wohl
bewusste eigene verräterische Gegentendenz stellen wir unserm
eigenen guten Stern eine Falle. Judas ist denn auch der, der nie
erlöst werden kann, das Gegenmotiv zum Helden, der sich
selbst erlöst.
Auch Petrus ergibt sich als figürliche Abspaltung im ganzen
Motive, als Personifizierung gewisser Tendenzen. Robertson gibt
äußerst interessante Analogien, speziell zu Janus bifrons und
Mithras, als Unterlagen zum mythologischen Petrus. Janus bifrons
ist der vorwärts und rückwärtsblickende Zeit- und Sonnengott.
Er ist, wie Mithras und Petrus, Türöffner und Schlüsselinhaber.
Diese Rolle, psychologisch verstanden, kann aber auch den
Zweifel ausdrücken oder im Gefolge haben. Unser seelischer
Konflikt spaltet unsere Tendenzen in vorwärts- und rückwärts-
blickende Sehnsucht. Die Vermutung Robertsons, dass „bifrons"
bei Janus „zweifelnd" bei Petrus wird, ist aus der analytischen
Erfahrung heraus durchaus zu unterstützen; Petrus ist also eine
personifizierte Abspaltung des (Sonnen-) Helden zur Darstellung
des ambivalenten Zweifels.
Lange bevor ich mich um dieses Thema besonders kümmerte,
gab mir ein Patient folgendes monumentales Traumbild:
Eine aufrechtstehende Gestalt, ihn und seine Wünsche dar-
stellend, ist flankiert von zwei kauernden Personen, Christus und
Petrus, und zwar ist die Anordnung so, dass die Gruppe, ein
Gleichnis seines seelischen Zustandes, das völlig archaische Bild
eines Phallus mit zwei Testikeln ergibt. Ich hoffe vom Ernst und
41
der Bildung meiner Leser, dass sie an diesem Beispiel nicht An-
stoß nehmen; denn die alten Kulte wussten, welche großen Ge-
danken sie in das phallische Symbol kleideten. Die Einfälle zu
Christus und Petrus lauten: ich war getröstet und reingewaschen
im Gedanken, dass selbst Christus auch Angst vor seinem Werk
hatte wie ich, und dass Petrus ihn verleugnete. Der Patient stellt
also dar, dass er zwar den Wunsch hat, etwas zu erreichen, dass
er aber Angst vor den Konsequenzen und der Verpflichtung des
Lebens hat. Denn in den Testikeln liegt die zeugende Kraft,
gleichzeitig aber auch die Konsequenz derselben; diese Logik
ergibt sich schon aus der reinen Sexualübersetzung des Bildes.
Wie nun Christus und Petrus in diesem Traum Abspaltungen
der psychischen Persönlichkeit des Träumers selbst sind, so ist
Petrus in der Passion der mythologisch leicht verständliche Dar-
steller des Zweifels. Als Figur ist er eine Abspaltung des (Sonnen)-
Helden selbst, und hat als Symbol den Hahn, den die Sonne
vorauskündenden Vogel. In den Alpsagen ist es darum so
wichtig, bis zum erlösenden Krähen des Hahns, bis zum Tages-
anbruch, auszuharren. Dann ist man vom Alp befreit.
Wenn in der mythisch unterlegten Sprache des Traums eine
Veränderung angezeigt wird, so hat sie häufig eine der bekannten
Formen, denen das Gleichnis der Sonne, des Sonnenhelden oder
Gottes zugrunde liegt. Die Hauptfigur, der ein Sonnensuffix:
frisch angezündetes Licht (Aladins Wunderlampe in „Tausend und
einer Nacht" und verschiedenen Märchen), rotes Haar, Flügel,
Krone, Rad und dergleichen nicht fehlt, ist von einer Zahl Be-
gleiter umgeben, aktive Tendenzen verschiedenen Charakters,
personifizierte Attribute der Hauptfigur darstellend. Kaiser mit
Hofchargen, das Motiv der Engel oder der hilfreichen Heinzel-
männchen, alle diese mit der erwachenden Libido verbundenen
und sie unterstützenden Einzelstrebungen kommen in immer neuen
Variationen vor. So stellen sich die Apostel zum Heiland, und
der mythische Petrus ist also selbst ein Held, Abspaltung des
Heilandes, erster der Apostel.
Der durch Petrus dargestellte Zweifel findet nochmals Wieder-
holungen: im schwankenden Pilatus, der zur Korrektur die ri-
tuelle Handwaschung vollzieht. Und zweitens in der Szene von
Barrabas. Im Brauch des freigelassenen Verbrechers einerseits,
42
des geopferten Saturnalienkönigs anderseits haben wir die beiden
Komponenten des Problems, das ich bereits angedeutet habe
(vergleiche die Geschichte der Esther). Das niedere Volk will
den Verbrecher freilassen; die kulturell höhere gegensätzliche
Notwendigkeit ist das Opfer des unschuldigen Gottes.
Die Figur Simons von Kyrene ist auch eine der Mythologie
entnommene Heldengestalt, die hier als Nebenfigur des gött-
lichen Helden, als seine Abspaltung, sein Attribut erscheint. Die
mythologischen und psychoanalitischen Parallelen ergeben für
das Kreuztragen nicht allein den gewöhnlichen Sinn der Re-
signation, sondern die Notwendigkeit, gleich Herakles und Simson,
gleich der untergehenden Sonne, das uns Beklemmende, Belastende,
die Qual der rückwärtsblickenden Sehnsucht, zur Stätte des Unter-
gangs zu bringen, zum Opfer.
Das mythische Kreuz enhält eine so gewaltige Verdichtung
von symbolischer und historischer Bedeutung, dass ich mir nur
Andeutungen gestatten darf. Es ist ein uraltes, fast universelles
Lebens- und Triebsymbol, und in C. G. Jungs „Wandlungen und
Symbole der Libido" in seinen Bedeutungen, besonders als Opfer-
kreuz, untersucht worden. Ein Kapitel im zitierten Buche von
John M. Robertson weist uns auf eine Menge historisch-symbo-
lischer Beziehungen hin, vor allem auf die Bedeutung als Lebens-
baum, aber auch als astronomisches Bild. Das psychologische
Ergebnis ist das Opfer des tierischen Symbols (Lamm, Widder)
oder des Gottes, der die primitiven Triebtendenzen darzustellen
hat; die symbolischen Beziehungen ergeben vor allem die mütter-
lichen Attribute und Bedeutungen des Kreuzes (Kulte, wo der
Lebensbaum = Kreuz = heldenaufnehmende und heldengebärende
Mutter ist). Man vergleiche Ixion, der zur Strafe, die Himmels-
königin begehrt zu haben, auf ein feuriges Rad gebunden wird,
das im Hades ewig rollt (Höllenmotiv, Opfer oder ewig uner-
füllte, rückwärtsgewendete Sehnsucht).
Danach haben wir im Kreuzestode des Heilandes das Opfer,
den Verzicht auf das Tierische und auf alle jene rückwärts ge-
richteten Tendenzen zu suchen, welche im Muttersymbole zur
Darstellung gelangen. Und wie uns das Ixionmotiv zeigt, ist der
Kreuzestod nur erlösend als aktiver, befreiender, tätiger Verzicht.
Die Erbsünde ist das im Inzestmotive und seiner Symbolik dar-
43
gestellte rückwärts gerichtete Prinzip. Und wenn die Strafe der
Erbsünde die Arbeit ist, zeigt sich darin auch der Grund der
Erbsünde: die Scheu vor intentioneller Leistung und Kulturarbeit.
So baut sich auf weiter und tiefer Basis, die bis zu den
Fruchtbarkeitszaubern hinuntersteigt, das christliche Erlösungs-
mysterium auf; eine ganze Menschheit hat daran gearbeitet. Seine
Fortsetzung muss notwendig die sonnengleiche Auferstehung in
all ihrem Glänze sein, nachdem nochmals in besonderer Form
die sonnengleiche Nachtwanderung in die Hölle dargestellt wird,
in der die gleichgesinnten Tendenzen, die Gerechten befreit
werden. Die Muttersymbolik der Erde, des Grabes (das noch
unberührt war!) und der Unterwelt will ich nur andeuten. Die
Auferstehung ist auch eine Wiedergeburt, der Tod das Versinken
in die Arme, den Schoß der Mutter.
Aus der psychoanalytischen Praxis sind uns jene Bilder, welche
die seelische Umwandlung als ein Wiedereingehen in die Mutter,
um aus ihr wiedergeboren zu werden, als Sterben der alten Ten-
denzen, um nach längeren unterirdischen Kämpfen und Abenteuern
und unter Auffindung hilfreicher Kräfte zur Wiedergeburt aufzu-
erstehen, wohl bekannt. Das Wiedergeborene symbolisiert die zu
neuer Anwendung nach einem Opfer bereite seelische Kraft. Der
Auferstandene ist ein geistiges Prinzip. Und um das ewige Bild
der wiedererstehenden Sonne ranken sich die immer wertvollem
Motive seelischer Umwandlung. In diesem Geiste erwachen uns
die Bilder vom wiedergefundenen Osiris und von der Szene am
Grabe des Auferstandenen zu neuer, innerer Bedeutung.
Und dieser Sinn der Wiedererneuerung des Lichtes spiegelt
in jenem florentinischen Charsamstagsbrauch wieder, wo das
rituelle Feuerschlagen an einem Stein vollzogen wird, der vom
heiligen Grabe stammen soll. Wenn es eine Wiedergeburt gibt,
so wird ihre Symbolik der der Geburt ähnlich sein (Höhle in
Bethlehem, Felsengeburt des Mithras).
Wir haben es bei der Auferstehungssymbolik mit einer neuen
Variation des Motivs der untergehenden und wiederaufstehenden
Sonne zu tun, wie in den Motiven von Petrus und Barrabas.
Diesmal aber in einer vollendeteren Form: nicht in der primitiven
des freigelassenen Barrabas, sondern jener, welche das Opfer,
44
die innere Umwandlung und die Auferstehung, das Leben in neuer
Form, die Vergeistigung darstellt.
Es wäre verlockend, alle jene Erneuerungsritualien zu studieren,
welche vor allem die katholische Kirche in dieser Zeit der Helden-
opfer und Heldenwiedergeburt verwendet: Die Erneuerung des
Lichtes am Charsamstag, die Symbolik der Osterkerze, das Kerzen-
löschen bei der Mette, die Weihe des Taufwassers, die vorwiegend
in diese Zeit der Sonnenwiedergeburt fallende Einweihung neuer
Priester, die Verpflichtung zur Osterbeichte, die Entfernung des
Allerheiligsten am Charfreitag und dessen Überführung in eine
verborgene Kapelle: alles wäre ganz besonderer Beachtung wert.
Wenn ich von Kreuzestod und Auferstehung spreche, so ist
auch des Abendmahls zu gedenken ; eine Analyse des Abendmahl-
motives wäre ein Kapitel für sich. Nur auf den Zusammenhang
möchte ich aufmerksam machen: in den alten Totemriten wurde
das heilige Tier zu besondern Zeiten geopfert und dann zur Er-
langung seiner Kraft gegessen. Das ist eines der primitiven Vor-
bilder des höchstentwickelten Kults.
Wir aber versuchen, uns den schlummernden und symboli-
schen Gehalt des Mysteriums zu eigen und bewusst zu machen,
um den Weg der Menschheit und unsere eigenen Wege zu ver-
stehen. Denn wir dürfen uns weder mit einer bloß kontempla-
tiven Nachfolge Christi zufrieden geben, noch den Standpunkt des
bloßen Genügens aufrecht erhalten, dass er es getan habe (das
„ängstliche Vergnügen"). Wir haben die Vermenschiichung des
Problems ganz in uns selbst zu legen, und dann ist die Passion
für uns nicht mehr bloß rührend und mit einigen schwindsüchtigen
Ostergedanken verbunden. Sie ist unser blutig-ernstes Aktual-
problem, dessen Bedeutung in hundertfältigem Echo aus den
Analysen unserer Patienten widerhallt. Wie viele blutige Heka-
tomben, wie viel Beklagen und Betrauern des Liebsten, das ster-
ben muss, um neu zu erstehen, wird uns da erzählt.
Aber auch der asketische Standpunkt der Nachfolge Christi
ist offenbar für uns nicht der Weg. Wir wissen nicht, warum und
ob gewaltige asketische Epochen nötig sind; offenbar haben sie
ihren guten Sinn : uns ist nötig, unsere individuelle und moderne
Entfaltung so zu gestalten, dass wir unsere innern Gesetze kennen
45
lernen und vom schädlichen innern Zwiespalt bewahrt und
befreit werden.
Es gibt eine ganze Gruppe falscher Verehrer der Passion:
sie nehmen den Heiland zum Vorbild des Verzichts auf ihre Ent-
faltung. Sie sind auch gequält gleich Tantalus und Ixion, aber
ohne Verdienste und ohne Erlösung; denn sie erfüllen ihr Gesetz
nicht, das sie nicht verzichten, sondern handeln und leben hieße ;
wir haben gesehen, dass leben und opfern untrennbar sind.
Diese falschen Verehrer diskreditieren natürlich das Mysterium
und machen ihm Feinde. Ebensosehr ist es auch in seinen besten
Prinzipien und Äußerungen verkannt worden. Man spielte die
heitere Antike dagegen aus und machte aus ihr ein Paradies. Die
antike Kultgeschichte zeigt uns aber, dass sie kaum freundlicher,
heiterer war als das christliche Prinzip.
Wenn wir uns mit geschärftem Auge in der Literatur umsehen,
erstaunen wir über die Häufigkeit des bewusst und unbewusst
dargestellten Opfer- und Auferstehungsmotivs. Ich erlaube mir,
auf eine Novelle Jakob Schaffners hinzuweisen: „Die Hündin",
aus der Sammlung „Die goldene Fratze" (Berlin, S. Fischer, 1912).
Die herbe, fast abstoßende Grausamkeit des Opfers, nach all den
Peripetien des Zweifels und falscher Befreiungsversuche, erfährt
hier eine so klare und unerbittliche, aber für den, der in die
Tiefe des Verständnisses einzudringen vermag, so erlösende Dar-
stellung, wie sie mir nur bekannt sind aus den großen künstlerischen
Schöpfungen, aus den ergreifenden religiösen und rituellen Dar-
stellungen und nicht zuletzt aus den Traumschöpfungen jener
Individualhelden, deren siegreichem Kampf wir in der stillen thera-
peutisch-analytischen Arbeit beiwohnen.
Was wollen wir uns im Angesicht dieses lebendigen Anschau-
ungsunterrichts aus der Menschheitsgeschichte und den Schick-
salen jener, die uns ihr Leiden anvertrauen, noch weiter anfechten
lassen von jener blassen Gelehrsamkeit, welche „das mit der
Symbolik" immer noch nicht haben und verstehen will und
das lebendige Leben wie Blinde und Taube an sich vorbeirau-
schen lässt.
KÜSNACHT FRANZ RIKLIN
D D D
46
LA MORALE LAIQUE AU COM-
MENCEMENT DU XVII|e SIEGLE
MADAME DE LAMBERT
En 1711 entrait ä rAcademie, malgre Topposition de Boi-
leau, le vieux marquis de St-Aulaire, auteur d'un madrigal. Cette
victoire des modernes etait due au salon de la marquise de Lam-
bert. Celle-ci dispensait la renommee ä ses amis; eile se char-
geait de consacrer les reputations naissantes, et son hötel de la
rue Colbert fut pendant quarante ans l'antichambre de l'Academie
iranqaise. Mais s'ils lui devaient une promesse de gloire, eile
devait beaucoup aussi ä ses familiers. La conversation distin-
guait cette maison. On y lisait, les mardis et les mercredis,
l'apres-midi et le soir, les ouvrages parus et les ouvrages prets ä
paraitre; on les discutait avec finesse et courtoisie. Au cours
de ces entretiens serieux quoique galants, Madame de Lambert
ornait son esprit et affinait sa sensibilite. De plus eile avait, des
sa jeunesse, lu beaucoup dans la solitude et si Ton peut repro-
cher quelque chose ä ceux qui ont parle d'elle, c'est d'avoir ou-
blie trop souvent qu'elle a eu des contemporains et qui ont
ecrit ^).
On n'a pas avec assez de precision marque leur place aux
ouvrages de M^^^ de Lambert dans le courant d'idees oü ils bai-
gnent. La timidite de la forme a fait prendre le change: la
marquise avait des bienseances ä garder, la mattresse de maison
des susceptibilites ä menager. Elle etait pour Lamotte et les mo-
dernes, mais eile recevait aussi N[^^ Dacier. Elle accueillait Fon-
tenelle et le P. Ruffier, M. de Sacy et le marquis de Lassay, des
disciples de Descartes et des disciples de Locke, des croyants et
des libertins. Le cercle avait pour patron Fenelon, alors exile
de Paris, egalement venere par des chretiens et par des philo-
sophes, et dont la tete dejä s'aureolait de legendes.
On publia tardivement les Avis d'une mere ä son ßls et ä
sa fille (1726) et, en les donnant au public malgre eile, on fit ä
la marquise une violence agreable ; car si eile craignait le bruit,
^) AconsultersurMme de Lambert: Ste-Beuve: Lundis T. IV. — Ch. Gi-
raud: Journal des Savants 1880. — De Lescure, Preface de son edition des
Oeuvres morales de Mme de Lambert. Bibl. des dames 1880.
47
eile aimait la gloire. Ces ouvrages etaient ecrits en 1702 et repre-
sentent tres fidelement le mouvement d'idees et les tendances
qui caracterisent cette epoque de transition qu'est le debut du
XVI 11^ siede.
Dans les vingt-cinq dernieres annees du XVI I^, la religion
des honnetes gens de France glissait insensiblement vers le deisme.
Sous rinfluence du rationalisme cartesien, sous l'influence aussi
de la Philosophie epicurienne modernisee par Gassendi, puis par
Bernier, on voyait diminuer l'autorite des dogmes et des princi-
pes de la morale chretienne. On cherchait quelque chose qui put
la remplacer et ainsi se constitua peu ä peu une morale des
honnetes gens, qui ne reconnaissait qu'ä la conscience le droit
de juger les actions. On exaltait la raison et dejä la nature (Fe-
nelon lui-meme ne s'en defiait plus). On rehabilitait les instincts,
les passions, les plaisirs; on professait un eclectisme qui s'adap-
tait ä chaque individu, et oü il entrait un peu de toutes les phi-
losophies anciennes; on prenait position entre „la vertu rigide
et le sale interet" (St-Evremond) et les predicateurs ne cessaient
d'anathematiser „ces sages du monde, qui ne savent s'ils sont
chretiens ou non, et qui s'imaginent avoir rempli tous les devoirs
de la religion quand ils vivent en gens d'honneur sans tromper
personne, pendant qu'ils se trompent eux-memes en donnant tout
ä leurs passions et ä leurs plaisirs" (Bossuet: Maximes et re-
flexions sur la Comedie). C'est en vain qu'ils tonnaient. Le tour-
ment de la saintete ne possedait plus les hommes, et Ton sen-
tait toujours plus vivement l'impossibilite de realiser, dans les
societes modernes, l'ideal de la charite chretienne.
Cette morale des honnetes gens est l'origine de la morale
naturelle des philosophes. D'abord purement mondaine et indi-
viduelle, eile est professee par des personnes qui cherchent pour
eux-memes un art de se conduire; mais eile ne tarde guere ä
s'eiargir en morale sociale et dejä avant Montesquieu on sub-
ordonnait ä la prosperite de TEtat le bien-etre des particuliers.
C'est peu .ä peu, et sans secousse, qu'on abandonne le
christianisme; longtemps l'habitude et peut-etre aussi un peu de
crainte firent garder un peu de religion; une casuistique inge-
nieuse rassurait les consciences timides, s'efforcjant de concilier
les maximes du monde et Celles de la religion. — M'"^ de Lambert
48
a connu sans doute bien des indecisions: eile se contredit parfois,
eile se corrige, et sa pens^e sinueuse, toujours exprim^e discr^te-
ment, laisse quelquefois le lecteur incertain. II semble que cette
pensee ait peine ä prendre conscience d'elle-meme et redoute,
pour ainsi dire, de se decouvrir tout entiere.
La morale de M'"^ de Lambert n'est pas inspirde du christia-
nisme; lamarquise n'etaitpaschretienne; mais (est-ce prudence ou
modestie?) eile se conformait ä la religion etablie: „Les moeurs
du souverain dominent; elles ordonnent ce qu'il fait et defendent
ee qu'il ne fait pas". Des esprits plus hardis, Bayle, le marquis
de Lassay conseillaient aussi de se soumettre ä la religion domi-
nante, et il faut avouer que, quelques annees apres la Revocation,
de semblables conseils ne manquaient pas de sagesse. Mais pour
se conformer aux pratiques exterieures du culte, pour assis-
ter ä la messe et faire ses Päques, la conscience n'en restait pas
moins libre. M"^« de Lambert avait sa religion ä eile, religion
d'aristocrate : „Au-dessus de tous vos devoirs est le culte que
vous devez ä VEtre supreme . . . Les ämes elevees ont pour
Dieu des sentiments et un culte ä part qui ne ressemble point
ä celui du peuple: tout part du coeur et va ä Dieu**. C'est dejä
le vague sentiment d'adoration de Rousseau.
De cette religion decoule une morale dont voici le principe:
„Je ne vous demande point, dit M"^^ de Lambert ä sa fille, une
piete remplie de faiblesse et de superstition ; je demande seule-
ment que l'amour de l'ordre soumette ä Dieu vos lumieres et
vos sentiments, que le meme amour de l'ordre se repande sur
votre conduite; il vous donnera la justice et la justice assure
toutes les vertus". Ouvrez le Tratte de morale de Malebranche;
vous n'y trouverez pas autre chose: La raison universelle, bien
commun ä tous les mortels et qui se confond avec Tintelligence
divine (M^"^ de Lambert ne retiendra pas cette identification), la
raison nous porte ä aimer l'ordre immuable (Malebranche separe
nettement de cet ordre immuable celui de la nature; mais plus
tard on oubliera de faire cette distinction et l'ordre sera de se
conformer aux loix de notre nature) — aimer l'ordre, dit Male-
branche, s'est s'aimer en Dieu. II y a donc un amour-propre
regle qui n'est point oppose ä notre perfection. Cest l'intelligence,
plus que la foi qui doit nous conduire, et la gräce ne nous
49
donne proprement qu'une intelligence superieure. Avec Male-
branche, la morale tend ä s'affranchir de la theologie pour ne
dependre plus que de quelques principes ratlonnels. Madame
de Lambert a avance dans cette meme direction et sa morale est
presque completement laique.
D'apres eile, le dereglement, contraire ä l'ordre et ä la rai-
son, doit etre l'ennemi de notre bonheur; „11 faut, dit-elle, etre
persuadee que la perfection et le bonheur se tiennent, que vous
ne serez heureuse que par la vertu et presque Jamals malheu-
reuse que par le dereglement". Voilä une de ces pensees stoV-
ciennes, que S^^ Beuve dejä remarquait dans les Avis. Mais si
nous y prenons bien garde, nous nous apercevrons que M"^^ de
Lambert n'est pas si stoicienne qu'elle le parait d'abord. La vertu
qu'elle preche, n'est pas cette vertu abstraite, ce souverain bien
quasi chimerique des stoiciens; sa vertu consiste en des avan-
tages plus solides, plus tangibles, dont notre egoVsme natural
s'accommode facilement. Elle n'est pas inaccessible aux ämes
qui ne sont pas foncierement bonnes, ä ceux qui ne sont pas
des sages, au sens stoVcien du mot: „11 n'y a qu'ä avoir de bons
yeux et connaitre ses veritables interets pour corriger un mau-
vais penchant". Ainsi la vertu (quand eile n'est pas une tendance
innee au bien formel), c'est la connaissance de ce qui nous
est utile.
Ainsi la morale peut etre fondee sur l'amour-propre. Sans
parier de Malebranche, d'autres penseurs l'avaient tente avant
eile. La Rochefoucauld, non sans quelque amertume, avait mon-
tre que toutes nos plus belles actions se reduisent ä un calcu!
de notre egoVsme. La reciproque de cette proposition est vraie.
L'amour-propre est capable de conseiller des actes genereux.
Nicole, tout janseniste qu'il etait, reconnaissait que l'amour-pro-
pre eclaire peut avoir d'aussi bons effets que la charite ^) et qu'il est
tres capable de conserver les societes humaines. Et qu'importe
au fond qu'il ne nous donne que des fantömes de vertus, puisque,
pratiquement, ces fausses vertus sont aussi utiles que les verita-
bles; c'est ce que durent penser un grand nombre de lecteurs
de Nicole.
*) Voir Nicole : Essais de Morale : Sur la ressemblance qu'il y a de
l'amour-propre et de la Charit^.
50
Ainsi la morale et l'education bien comprise, ne tetidront'
pas ä detruire la nature, ä faire mourir le vieil homme; mais
seulement ä la conduire et ä la perfectionner. „Suivre et aider
la nature" disait Fenelon. Ainsi l'amour de soi, le sentiment le
plus fort et le plus tenace de tout ce qui vit, s'il est regle par
la raison et par la justice, n'est point vicieux. L'egoYsme le
plus eclaire et le plus raffine se limite lui-meme et nous
donne toutes les vertus de societe: „Si vous voulez etre heureux
tout seul, vous ne le serez jamais; tout vous contestera votre
bonheur; si vous voulez que tout le monde le soit avec vous,
tout vous aidera."
Les vices eux-memes (et ceci est tres nettement antichretien),
les vices ne sont pas mauvais en soi: „il n'y en a point qui ne
tienne ä quelque vertu ou ne les favorise". Fontenelle, au cours
de ses Dialogues des Morts, comme Remond de St-Mard, dans
ses Dialogues des Dieux, avaient montre que ni ce qu'on appelle
bien, ni ce qu'on appelle mal n'est si bon, ni si mauvais qu'on
croit; tout est relatif; verite en-decja des Pyrenees, erreur au-delä.
Sous une forme tres attenuee, ces ecrivains ont reproduit la
these de Mandeville : que les passions et les vices sont ä la base
des societes humaines.
Madame de Lambert n'est pas idealiste; eile n'inspire pas
l'amour du sacrifice. C'est qu'elle ne croyait guere aux sanc-
tions d'outre-tombe ; mais eile etait attentive ä meriter l'appro-
bation des juges d'ici-bas: la conscience et le monde; de lä
le caractere pratique et positif de sa morale. Elle definit la
conscience: „le sentiment Interieur d'un honneur delicat qui ne
se pardonne rien pour le monde." La conscience s'instruit et
s'eduque au contact du monde. Nous pouvons naitre avec une
pente naturelle ä la vertu ; nous ne saurions naitre avec la con-
naissance precise de nos devoirs. La nature nous donne la forme
de notre conscience; c'est la societe qui nous en fournit la ma-
tiere. Au cours de nos experiences successives, une Harmonie
s'etablit peu ä peu entre la voix de notre conscience et celle de
l'opinion. Ainsi la morale est une science experimentale ; eile est
relative aux societes pour lesquelles eile est faite. La fameuse
loi de l'influence des climats sur les moeurs etait dans l'air.
51
Madame de Lambert n'avait garde de la formuler; mais Locke
(que peut-etre eile connaissait par le P. Buffier) en avait pos^ les
premisses^). Bayle, Denys Vairasse d'AIlais {Histoire des Sera-
ramhes 1677) le marquis de Lassay {Relation de Vlle des Fili-
ciens) I'avaient obscurement pressentie avant que Montesquieu la
formulät avec la lucidit^ qui distingue son genie.
Les vertus de societe sont les premieres vertus, puisque
notre bonheur est lie ä celui de nos semblables. Elles peuvent
fort bien remplacer les vertus chretiennes. La modestie a les
memes effets que l'humilite et l'humanit^ que la Charit^. Ce sont
les devoirs de l'honnete homme vers 1700 que M'"* de Lambert
enseigne ä ses enfants. Montesquieu, qui s'est souvenu de son
amie^), les ramene tous ä l'honneur, principe de la monarchie
(il aurait du dire de la monarchie fran^aise moderne): „Le monde,
dit-il, est irecole de ce qu'on appelle l'honneur, ce maitre uni-
versel qui doit partout nous conduire. C'est lä que Ton voit et
que Ton entend dire trois choses, qu'il laut dans les vertus une
certaine noblesse, dans les moeurs une certaine franchise et dans
les manieres une certaine politesse." Ce sont les trois vertus que
M""* de Lambert recommande ä son fils. Verite et justice sont
pour eile des vertus cardinales; et la verite n'est, ä le bien pren-
dre, qu'une forme de la justice. Elle estimait infiniment la poli-
tesse, cette qualite liante des ämes sociables et delicates; eile se
demande si la politesse ne tient pas du vice plus que de la vertu.
Mais qu'importe au fond, puisque ses effets sont bons: „eile est
une preparation ä la charite, une imitation meme de l'humilite."
Elle est devenue n^cessaire avec la civilisation ; eile supplee ä la
vertu qui regne moins que dans les temps grossiers; et Ton n'a
point perdu au change. La politesse n'est pas necessairement
opposee ä la franchise: „eile est l'art de concilier avec agrement
ce qu'on doit ä autrui et ce qu'on se doit ä soi-meme." Ma-
dame de Lambert regrettait qu'on n'eüt point conserve la tra-
dition de cette politesse exquise qui ornait les salons de 1650 et
eile voulut que le sien restät toujours une ecole de courtoisie et
*) L' Essai sur VEntendement futtraduiten fran^ais par Coste des 1700.
2) II lui doit son fauteuil academique; et quelques chapitres des IVe et
V« livres de V Esprit des Lois.
52
de fine galaiiterie. Elle n'y tolerait point le jeu, qui s^vissait
alors dans toutes les grandes maisons^). Elle savait que toutes
les conversations ingenieuses et fines s'eteignent en presence des
des et des cartes, et qu'on y oublie jusqu'aux regles les plus
elementaires de la decence. Madame de Lambert etait un peu
precieuse; mais c'etait la plus exquise des precieuses et aussi la
plus intelligente.
„La politesse est une envie de plaire". Une femme ne de-
vait point, comme Fenelon, condamner chez les femmes „le desir
effrene de plaire". Elles sont naturellement destinees ä plaire;
la societe leur demande des charmes et presque toujours les
qualites agreables leur sont necessaires pour faire valoir les soli-
des: „11 faut donc que les femmes aient un merite aimable et
qu'elles joignent les gräces aux vertus." M'"^ de Lambert excuse
un peu de coquetterie (ce qui ne devait point plaire ä Fenelon,
quoiqu'il füt tout seduction et coquetterie, et devait scandaliser
des chretiens plus severes). Et eile donne aux femmes quelques
conseils dignes de son ami Marivaux: „II faut connaitre le coeur
humain quand on veut plaire. Les hommes sont bien plus tou-
ches du nouveau que de l'excellent; mais cette fleur de nou-
veaute dure peu et ce qui plaisait comme nouveau deplait bien-
töt comme commun. Pour occuper ce goüt pour la nouveaute,
il faut avoir en soi bien des ressources et des sortes de me-
rite. il ne faut pas se fixer aux seuls agrements; il faut presen-
ter ä l'esprit une variete de goüts et de merites pour soutenir
les sentiments et pour faire jouir dans le meme objet de tous
les plaisirs de l'inconstance."
Quant aux hommes, il faut qu'ils plaisent ä leurs superieurs.
„II faut faire sa cour aux ministres, mais il la faut faire avec
dignite". La politesse que recommandait et que pratiquait M""^ de
Lambert n'est que la forme la plus raffinee de la noblesse de
sentiments.
La vraie grandeur consiste ä se conformer exactement aux devoirs
et aux exigences de son rang: „II faut avec les superieurs savoir
plaire Sans bassesse, montrer de l'estime et de l'amitie ä ses egaux,
ne point faire sentir le poids de sa superiorite ä ses inferieurs;
^) Le Joueur de Regnard est de 1696. Voir St-Simon, Madame de
Sövigne, etc.
53
conserver de la dignite avec soi-m§me". Tels sont, resumes en
deux mots, les devoirs de Societe qu'enseigne Malebranche dans
son traite de morale. Ils decoulent tous de l'amour de l'ordre et
de la justice.
Et Tamour de la justice conduit assez naturellement ä Tamour
de Thumanit^. M""^ de Lambert vivait dans un milieu de pen-
seurs genereux, dont quelques-uns songeaient ä apporter dans
l'ordre social des reformes ä la fois chimeriques et timi-
des. Le salon connaissait les ecrits les plus subversifs de Fe-
nelon, comme VExamen de la conscience d'un roL C'est chez
eile que Montesquieu put lire des reflexions de Fenelon sur le
projet de monarchie universelle reve par Louis XIV; ce prelat,
comme d'ailleurs le marquis de Lassay, songeaient dejä ä une
Sorte d'equilibre europeen. Je soup^onne fort les Habitues des
mardis de n'avoir pas craint de discuter, avec une reserve prudente
qui n'excluait pas certaines audaces, le Systeme politique et eco-
nomique de la France; on rencontrait ä l'hotel Mazarin presque
tous ceux de l'Entresol, l'abbe Mary, d'Argenson, le marquis de
Lassay, l'abbe de St-Pierre, l'abbe de Braguelonne et, selon d'Ar-
genson, W^^ de Lambert eut avec l'abbe Mary une celebre tra-
casserie qui contribua ä häter la dissolution du club.
M""« de Lambert a respire le souffle d'humanite qui alors
courait sur la France. Elle a, comme les meilleurs coeurs d'entre
ses contemporains, comme La Bruyere, comme Fenelon, comme
Massillon et cent autres, de ces accents genereux qui etonnent
et qui charment. „Songez, dit-elle ä sa fille, que le christianisme
et l'humanite egalent tout." Cela, c'est du Fenelon; mais eile
avait plus de foi dans l'humanite que dans le christianisme; cette
marquise croyait ä l'egalite naturelle. Elle aurait voulu une aristo-
cratie fondee sur le merite: „Dans un empire oü la raison serait
la maitresse, tout serait egal et Ton ne donnerait de distinction
qu'ä la vertu." Elle appelle peuple, „tout ce qui pense basse-
ment et communement" et eile ajoute: „la cour en est remplie."
Elle dit ä son f ils: „Les premieres lois auxquelles vous devez
obeir, sont Celles de l'humanite." Elle exalte la liberalite; eile est
severe pour les avares. Puisque la vertu consiste ä assurer son
bonheur en faisant celui^d'autrui, l'avarice est foncierement im-
morale; c'est peut-etre le seul vice irreductible, puisque l'avare
54
ne jouit de rien et qu'il prive les autres d'une jouissance
legitime ^).
Fidele aux enseignements de Fenelon, M"^^ de Lambert con-
damnait )e luxe et par lä, eile retardait sur son siede; on com-
men(;ait ä le rehabiiiter: i'Angiais Mandevilie, le marquis de Lassay,
l'abbe de St-Pierre et bien d'autres avaient montre que les grands
Etats vivent du luxe des particuliers et des vices memes que le
luxe favorise, et Baudot de Juilly, en faisant l'eloge des plaisirs
delicats, se moquait finement de ceux qui condamnent toute es-
pece de luxe. Quant ä M"'« de Lambert, eile pensait qu'on ne
peut faire du superflu qu'un seul bon usage, la bienfaisance.
La generosite est un devoir de justice: „Quand vous faites du
bien, vous ne faites que payer une dette."
Mais la generosite est aussi une source d'emotions delicieuses:
„Le plaisir le plus touchant pour les honnetes gens, c'est de faire
du bien et de soulager les miserables." Non seulement la raison,
mais la sensibilit^ trouvent leur compte dans la bienfaisance; nous
sommes loin des principes de la charite chretienne (comparer par
exemple Bossuet: sur l' eminente dignite des pauvres dans l'EgUse).
A la fin du dix-huitieme siecle on commence ä reconnaitre
les droits du coeur; des chretiens comme Pascal et Massillon lui
attribuaient beaucoup et l'orthodoxe Bossuet lui-meme glorifiait
le grand Conde d'avoir eu le cceur sensible ä l'endroit de ses
amis: „Loin de nous, s'ecrie-t-il, les heros sans humanite'^). Ils
pourront bien forcer les respects et ravir l'admiration, mais ils
n'auront pas les ccEurs." C'est la sensibilite qui rendra Fenelon
si sympathique au dix-huitieme siecle, ä Rousseau, ä Chateau-
briand. Je n'ai pas besoin de rappeler les noms de La Bruyere
et de l'abbe de St-Pierre qui furent de vrais hommes sensibles.
Nous ne sommes pas loin du temps oü Ton applaudira aux
comedies larmoyantes de Nivelle de la Chaussee et ou l'on n'aura
plus honte de pleurer au spectacle.
La sensibilite, pour les contemporains de M'"^ de Lambert,
est la qualite des ämes delicates et ralsonnables qui les porte ä
') Tel n'etait pas l'avis de Remond de St-Mard (Dialogue des Dieux):
l'avarice n'est point mauvaise parce que l'avare est heureux par son or,
et que tot ou tard la societe en profite. Cette idee vient de Mandevilie.
*) C'est-ä-dire, les heros qui en meme temps ne sont pas des hommes.
55
se laisser emouvoir par les objets qu'elles ont juge attendrissantSi
Les sentiments ne prenaient pas sur la raison, et la raison (du
moins iis le pensaient) favorisait la sensibilite. Le coeur et l'es-
prit voisinent et conspirent. On aimait ä raffiner sur les senti-
ments, ä s'y attarder par une longue et complaisante attention,
ä en epuiser les delices goutte ä goutte, ä les intensifier enfin par
mille reflexions ingenieuses et amollissantes. Dejä les heros de
Racine raisonnent leurs sentiments, et la passion chez eux laisse
ä l'esprit toute sa lucidite.
M"^^ de Lambert etait une femme sensible. Elle pensait que
la sensibilite est bonne, parce qu'elle contribue ä rapprocher et
ä unir les hommes; eile est l'äme de la societe: „Ce sont les
qualites du cceur qui entrent dans le commerce; l'esprit ne lie
point aux autres et vous voyez souvent des personnes fort ha'is-
sables avec beaucoup d'esprit." Les vertus de societe sont en danger
Sans la sensibilite : „Vous ne pouvez avoir ni humanite, ni generosite
sans sensibilite; la sensibilite secourt l'esprit et sert la vertu."
C'est la nature qui en a doue les coeurs: „Le premier mou-
vement du coeur a ete de s'unir ä un autre coeur." Mais l'edu-
cation doit venir en aide ä la nature. 11 faut que notre sensi-
bilite native soit enrichie, epuree, perfectionnee par la culture;
il faut que la note primitive developpe toutes ses harmoniques.
„Je vous exhorterai bien plus ä travailler sur votre coeur qu'ä
perfectionner votre esprit, dit-elle ä son fils: ce doit etre lä l'etude
de toute la vie. La vraie grandeur de l' komme est dans Le coeur;
11 faut l'elever pour aspirer ä de grandes choses, et meme oser
s'en croire digne." La vraie grandeur de l'homme est dans le
coeur: c'est dejä et peut-etre avec plus d'ampleur le mot fameux
de Vauvenargues: „Les grandes pensees viennent du coeur."
En s'eprenant de la sensibilite, le XVI 11^ siecle devait reha-
biliter les passions. Le XVll^ siecle classique s'en etait defie et
le passionne Racine, dans le temps qu'il apprenait au public
quelles sont les delices de la passion, lui montrait aussi quels
en sont les desastres. Les jansenistes croyaient la raison impuis-
sante ä les dompter et que la gräce seule peut nous en delivrer.
Vers 1700 reapparait une conception antique, platonicienne,
d'une raison gouvernant les passions. (Tout le monde a lu dans
le Phedre la splendide allegorie du char traine par deux coursiers,
56
qui representent Tun les passions basses, l'autre les passions su-
perieures; ceiui qui conduit ce char c'est Nous, la raison). Bien
que Piaton eüt au commencement du XVlIi« siecle quelques admi-
rateurs passionnes, comme les deux Remond, on n'oserait affir^
mer que leurs idees sur les passions remontassent ä Piaton; mais
ils se plaisaient ä s'autoriser de la doctrine de ce grand homme,
dont l'influence se borne, comme celle de tous les antiques, ä
augmenter la force et ä preciser la direction d'un courant dejä
etabli. Et ce courant d'idees me parait remonter aux premiers
epicuriens du XVlle siecle, ä Bernier, ä St-Evremond, ä Ninon de
Lenclos, qui dejä pensaient que la raison ne condamne point les
passions, puisqu'elles sont l'oeuvre de la nature.
L'effet de la raison reglant les passions, c'est, tout en dimi-
nuant les dangers qu'elles peuvent faire courir ä l'individu, de
les rendre utiles ä la societe. „Nous avons, dit Remond de St-
Mard, une raison pour moderer les passions et les rendre utiles
ä la Societe." C'etait aussi l'opinion de Remond dit le Grec, son
frere, auteur de ce delicieux pastiche de dialogues de Piaton qui
s'appelle Agathon ou de la Volupte; c'etait l'opinion de Fonte-
nelle, celle de M'"^ Lambert, du marquis de Lassay; et c'etait
aussi celle de Montesquieu qui l'emprunta ä ses devanciers. L'ef-
fort de l'educateur et du legislateur doit tendre ä tirer parti, pour
le bien public, des passions en apparence les plus dangereuses:
„Les preceptes de Lycurgue et de Socrate sur l'amour pour les
gar(;ons nous fönt voir le penchant determine des Qrecs pour
ce vice, puisque les legislateurs songeaient ä faire usage de ce
penchant, en le reglant, ä peu pres comme M*"^ de Lambert et
les moraux d'aujourd'hui ont pense ä faire usage de l'amour
pour les femmes et de l'amour des femmes pour les hommes en
purifiant cet amour et en le reglant" ^).
L'ambition, la plus noble des passions, est aussi la moins
dangereuse, la plus capable de rendre un homme utile ä la So-
ciete. Les chretiens l'avaient condamnee et ce n'est pas une
le^on d'ambition que Bossuet donne ä son siecle dans ses orai-
sonis funebres. Mais dejä l'ambitieux Fenelon indiquait ä son
eleve le chemin de la gloire; il faisait ses reserves pourtant sur
^) Ce curieux passage est tire des Pensees 'et Fragments publies ä
Bordeaux en 1899 par les soins des descendants de Montesquieu.
57
les dispositions dans lesquelles il faut jouir de la renommee et
il aurait voulu que Tambition se conciliät avec l'humilite chretienne.
Madame de Lambert revait pour son fils une gloire illimitee ä
laquelle eile souffrait de ne pouvoir atteindre. Grisee par la lecture
de Plutarque et des autres historiens anciens, eile avait un im-
mense besoin de grandeur; c'^tait une äme cornelienne; et eile
disait ä safilleavec amertume: „La renommee ne se Charge poInt
de nous". Nous verrons plus loin ce qu'elle pensait du röle de
la femme et nous verrons qu'elle reclamait pour eile les memes
droits que pour l'homme; mais eile le faisait dans un ouvrage
qu'elle esperait qu'on ne publierait pas^).
Elle parle ä son fils sur un tout autre ton qu'ä sa fille:
„Vous ne pouvez aspirer ä rien de plus digne et de plus con-
venable que la gloire . . . Ceux qui sont soutenus par l'ambi-
tion marchent ä pas de geants dans le chemin de la gloire."
L'humilite ne convient pas ä un jeune homme: „Tout homme
qui n'aspire pas ä se faire un grand nom n'executera Jamals de
grandes choses." Et eile cite une anecdote des Dits memorables
des Lacedemoniens: „On disait ä Agesilas que le roi de Perse
etait le grand roi. Pourquoi sera-t-il plus grand que moi, repon-
dit-il, tant que j'aurai une epee ä mon cote?" Elle conclut: „11 y
a un merite superieur qui sent que rien ne lui est impossible."
Tout cela est inconciliable avec la doctrine chretienne, et ce
süperbe quo non ascendam erige en principe de conduite ne
laissa pas d'etonner et d'inquieter Fenelon. II ecrivait ä M. de
Sacy, l'ami de M"^^ de Lambert et le sien : „Je ne serais peut-etre
pas tout ä fait d'accord avec eile sur toute l'ambition qu'elle de-
mande de son fils." Madame de Lambert repondit aussitot: „J'ai
la hardiesse de croire que je penserais comme vous sur l'am-
bition; mais les moeurs des jeunes gens d'ä present nous met-
tent dans la necessite de leur conseiller, non pas ce qui est le
meilleur, mais ce qui ojjre le moins d'inconve'nients et ils nous
forcent ä croire qu'il vaut mieux occuper leur coeur et leur cou-
rage d'ambitions et d'honneurs que de hasarder que la debauche
s'en empare." Ainsi l'ambition est bonne, parce qu'elle est utile,
opportune. Point de morale idealiste, une morale pratique adap-
< ^) Voir l'appendice: Lettre inedite de Madame de Lambert au Presi-
dent Bouhier.
58
Ue aux cjrconstances. Tel est ie fond de la pensee de M"'^ de
Lambert et des moraux dont parle Montesquieu.
Les Avis d'une mere ä son fils furent publies d'abord sous
le titre: Reflexions sur la vraie gloire; il leur convient parfaite-
ment. Les R^f Urions sur les femmes pourraient s'appeler: „/?/-
flexions sur le veritable amour."
L'amour est plus dangereux que l'ambition, et voici pour-
quoi: „Quand il est violent, il surprend la raison, jette le trou-
ble dans Tarne et dans les sens et finalement ternit la reputation."
II peut etre immoral puisqu'il peut etre deraisonnable. II y a
des moyens d'en guerir: Les remedia amoris que M"^^ de Lam-
bert conseille ä sa fille sont les reflexions. Defions-nous de
l'imagination, qui (et ceci est encore du Malebranche) est con-
traire ä la perfection et au bonheur: „Sachons reconnaitre que
la plupart des biens que l'amour promet sont purement illusoi-
res et imaginaires et que les maux qu'il apporte sont tres reels."
Dans les Reflexions sur les femmes, M"^^ de Lambert ne
conseille plus de chercher ä etouffer l'amour. Elle etait dans son
röle quand eile conseillait ä sa fille de ne point etre trop indul-
gente pour cette passion. Elle devait parier autrement au vieil
abbe de Choisy, galant incorrigible, qui venalt de dedier ä la
marquise la peu edifiante Histoire de la comtesse des Barres.
Sans doute eile dut sourire finement au recit des debauches du
jeune abbe costume en femme. Mais en lui envoyant sa propre
confession et son apologie, eile lui faisait comme une discrete
reprimande. C'est bien, malgre les protestations de l'auteur^), une
confession que ces Riflexions sur les femmes. Sa longue et
constante tendresse pour Saint Aulaire n'etait sans doute un secret
pour personne. D'Argenson en parle ä mots couverts. Le Pre-
sident Henault assure qu'un mariage tardif et clandestin unit les
deux amants. Cela n'est pas impossible. Les mariages secrets
etaient ä la mode et leur frequence caracterise bien cette epoque
de piete decadente, oü les consciences cherchaient leur repos
dans les detours d'une casuistique subtile et oü Ton fuyait moins
le vice que le scandale.
*) Voir Lettres de Madame de Lambert ä M. de Saint Hyacinthe.
PARIS J. p. ZIMMERMANN
(A suivre)
59
BERLINER PREMifeREN
Die Angriffe auf die berliner Theaterverhältnisse mehren sich, weil die
geschäftlichen Krisen nicht aufhören wollen. Wenn man darum das Gründer-
wesen ungesund nennen muss, so darf man die künstlerische Situation nur
als ungewöhnlich gesund bezeichnen. Was geht in Berlin zugrunde? Kitsch-
und Peripherietheater. Das berliner Theaterleben reorganisiert sich von
selbst. Das Überflüssige, Faule, Schlechte wird abgestoßen, das Wertvolle,
Kräftige, Gute erhält sich. Das vielgeschmähte berliner Publikum hat in
Wirklichkeit eine Witterung für das Echte, Organische. Und es ist für das
Resultat beinah gleichgültig, ob sich dies Gefühl aus Sensations-, Bildungs-
oder inneren Bedürfnisinstinkten nährt.
Reinhardt hat jetzt mit einer seiner schmucklosesten, herbsten, ver-
schwiegensten Regieschöpfungen einen Erfolg gehabt, wie ihn in andern
Städten höchstens dieMonstre-lnszenierung seines „Ödipus" erzielen konnte.
Und dabei ist Tolstois „Lebender Leichnam" schon als Dichtung ein schweres,
langsames, sich verwahrendes Werk. Es ist in der primitiven Kraft seiner
neben einander gesetzten Bilder eine Legende des Alltags. Fedor Protassow,
der schwache Mensch, sinkt und im Sinken wird er reiner und heiliger.
Sein weiches Empfinden, sein rauschvolles Vergessenheitssuchen treibt ihn
aus der bürgerlichen Ehrbarkeit seines Heimes, von der Frau, die er liebt,
zu den Zigeunern, wo er träumen kann und die Musik hat, die ihm zu
Hause fehlt. Tief verletzt von den Lügen des Lebens, die sich als Solidität,
als Pflicht, als Menschenliebe, als Gesetz, als Obrigkeit verkleiden, flieht
er in einen Zustand der Betäubung, der die Gegensätze verwischt und ihn
vor der Zigeunerin Mascha wie vor einem Rätsel willenlos verzaubert stehn
lässt. Rein bleibt er vor ihr, die die Dunkeläugigkeit seiner Traumwelten
hat und den praktischen Wirklichkeitssinn, dem er in seiner Familie ent-
flohen ist. Aber die Wirklichkeit tritt auch von dorther an ihn heran und
verlangt Einlösung eines Versprechens. Er soll Lisa, seine Frau, freigeben.
Wieder zieht er sich zusammen. Er ist unfähig, die Unwahrheiten des
rechtlichen Scheidungsweges mitzumachen. Das Leben wird nicht aufhören,
ihn mit diesen Lügen zu verfolgen. Er will sich selbst opfern, damit die
andern glücklich werden. Und er, der im Kleinen nicht lügen konnte, lügt
im Großen. Er hat nicht die Kraft zum Tode; er täuscht seinen Selbst-
mord vor. Aber es ist, als ob nun in seinem zweiten Leben ihn von innen
eine Kraft durchleuchtete, die ihm den Schimmer eines Märtyrers gibt. Er
dämmert hin in Spelunken und Kaschemmen. Und diese Passivität — ein
wundervoller Zug von Tolstoi! — verleiht ihm einen Heiligenschein, als ob
er den Schmutz der Welt bekämpft und nicht geflohn hätte. Doch die
Dummheit der Wirklichkeit duldet kein verschwiegenes, kein träumendes
Märtyrertum. Sie will die Tatsache, den Schlusspunkt, nicht das Verglei-
tende, unmerklich sich Auflösende. Fedja wird vor den Richter geschleppt,
und, aus seinen Phantasien aufgewühlt, tut er seine erste und letzte Tat:
er erschießt sich.
In diesem Drama sind die tiefsten Gegensätze, die kompliziertesten
Verwicklungen mit biblischer Einfalt gestaltet. Ohne dass es ausgesprochen
wird, erschließt sich eine Welt des Scheines und der Wahrheit. Die Men-
schen, die abgeschlossen, klar, eindeutig durch ihre Taten sprechen, sind
die zweideutigen Menschen des Scheines. Die mit ihren Einbildungen und
60
Phantasien reden, sind die Menschen der Wahrheit. Viktor Karenin hat
zehn Jahre selbstlos auf Lisa, Fedjas Frau, gewartet, und der Altruismus
der Handlung ist der beschränkteste Egoismus des Gefühls. Fedja, der
die Tat nicht tun kann, ist innerlich der Opferwilligste. Drei Frauen sind
um ihn. Lisa will von ihm los und liebt ihn dennoch: in einer Szene bricht
es elementar hervor; Mascha hängt an ihm mit einer rätselhaften, reinen
Unreinheit; aber am tiefsten empfindet ihn seine Schwägerin Sascha. Aus
ihren stummen Gebärden und halb unterdrückten Geständnissen spricht
seine Reinheit. In ihre Seele ist ein Abglanz seiner Keuschheit geworfen.
Und wie diese Liebe sich szenisch nur in den schlichtesten Andeutungen
äußert, so haben auch andere Auftritte ihre Eindringlichkeit von der sym-
bolischen Kraft des nur halb Ausgesprochenen oder Pantomimischen. Lisa
und Karenin sprechen von ihrer Vergangenheit. „Alles ist aus meinem
Herzen verschwunden außer dir," sagt Lisa, aber ihr und Fedjas Kind sitzt
auf ihrem Schöße. Fedja und Lisa reden im ganzen Drama nur zwei Worte
miteinander. Als er sich erschossen hat, fragt sie: „Was hast du getan,
Fedja?" und „Man wird dich retten." Vorher kamen sie beim Unter-
suchungsrichter zusammen. Aber „Lisa geht an Fedja vorüber, der sich
tief verneigt."
Wenn Reinhardt diesen wundervollen Szenenschluss dadurch zerstörte^
dass er die vom Untersuchungsrichter angeordnete Festnahme Fedjas eben-
falls sichtbar vorführte, so war er sonst in seinen pantomimischen Ergän-
zungen ein fast seherischer Nachschöpfer. Stellungen, Blicke, Kontrastie-
rungen legten heimliche Beziehungen bloß. Die Umgebung wurde in die
Handlung hineingezogen. Über dem Wirtshaustisch, an dem Fedja sich
erschießen will, hängt ein Spiegel. In ihn stiert er hinein, als er den Re-
volver ansetzt. Vom eigenen Schreckensausdruck gelähmt, lässt er ihn
sinken. Und als ironisierendes Gegenspiel muss ein Trunkenbold in der-
selben Szene vor demselben Spiegel bei pessimistischen Reden sich Haar
und Bart eitel ordnen und mit spielerischer Koketterie den Revolver an die
Schläfe setzen. Moissi verschwendete an das äußerliche Verkommen und
innerliche Steigen des Fedja einen von innen quellenden Reichtum zartester
und stärkster Nuancen. Lucie Höflich als Lisa erschütterte durch herbe
Verhaltenheit und elementaren Ausbruch. Und Winterstein hatte in seinem
eindringlichen Karenin den Egoismus der Anständigkeit. Auch die episodi-
schen Rollen waren zum Teil vortrefflich besetzt. Nur für manche Lebe-
leute und Zigeuner hätte Reinhardt früher, als das Ensemble noch mehr
auf einen erhöhten Realismus eingestellt war, charakteristischere Vertreter
gehabt, und Rosa Bertens wirkte zu sehr als Schauspielerin, um für eine
schwatzende Dame des Adels die nötige Mischung aus Innerlichkeit und
Äußerlichkeit aufzubringen.
Nach dem Taumel seiner Gastspielfahrten, auf denen er den selbst-
verständlichen Drang nach autokratischer Regiekunst, nach hemmungsloser
Entfesselung seiner Kräfte ausgelebt hat, widmet sich Reinhardt jetzt auch
wieder den Kammerspielen. Das amüsante aber belanglose Lustspiel des
Franzosen Etienne Rey „Schöne Frauen", in dem Bassermann faszinierte,
wurde abgelöst durch Carl Sternheims Komödie „Bürger Schippel". Von
unten und oben wird in das Gehege des Bürgertums eingebrochen. Der
Proletarier und der Fürst begehren seinen gesicherten Besitz, konzentriert
in der fetten Schwester des fetten Bürgers Hicketier. Der Fürst hat sie
61
besessen, als der Proletarier sie noch verlangt. Aber bürgerliche Ehrbegriffe
kommen schnell. Schippel erfährt, dass sie nicht mehr unverletzt ist und
verschmäht sie. Thekla Hicketier war ihm ja auch nur — trotz einer
andern kitschigen Motivierung Sternheims — rundliches Unterpfand für
massig-solides Bürgertum. Sein Drang zu ihm ist an sich schon geschlecht-
lich. Er muss es fassen, er muss es greifen, er muss es körperlich be-
rühren. So verzehrt er sich in einer fast genialen Szene danach, den feisten
Goldschmied einmal auf den Bauch zu klopfen. Er tut es und in der Nacht
will er ihn noch einmal ans Fenster haben. Er muss sein breites Haus
bepochen, betasten. Leider sind solche Einfälle ohne Folgen. Der Schluss,
dass Schippel nach einem widerwillig bestandenen Duell in die bürgerliche
Gemeinschaft aufgenommen wird, berührt zwar das Thema, aber er wächst
nicht aus ihm heraus. Er wirkt vielmehr wie die aufgesetzte Verulkung
einer Sitte — die dabei noch nicht einmal ausschließlich bürgerlich ist! —
als wie eine grausam höhnische Notwendigkeit. Diese Szene lebte von
Reinhardt, der sie mit einer köstlich parodistischen Feierlichkeit spielen
ließ, aber nicht von Sternheim. Trotzdem Sternheim seinen kühlen, ätzenden,
verzerrenden Verstand wie in der „Kassette" dämonisch aufreizen kann,
bleibt er in der Tiefe steril. Es gelingt ihm nicht, innere Verbindungen
festzumachen. Er trennt nur. Er zerschneidet und deckt auf. Das Gerüst
ist brüchig und dünn, aber auch der innere Fond. An Literaturspielereien
stelzt er sich weiter. Manche Lebenssituation kann er nur durch Literatur-
plakate der Lächerlichkeit preisgeben. Und die spitze Knappheit seines
oft nur Hauptworte hinwerfenden Telegrammstils nähert sich wieder der
Gespreiztheit. Man hat das Gefühl, wenn er vollständiger schriebe, würde
er banal werden. Trotzdem bedeutet Sternheim die Höhe des heutigen
Lustspiels, und sein ^Bürger Schippel" ist in der von Reinhardt grotesk
hingespritzten Aufführung, die schauspielerisch vor allem Viktor Arnold
unterstützt, ein einziges Vergnügen.
Den andern Neuaufführungen waren keine dauernden Erfolge beschie-
den. Heinrich Manns „Große Liebe", die hohe Leidenschaften an den
Banalitäten, Feigheiten und Rücksichten des alltäglichen Lebens klein und
erbärmlich werden lässt, bleibt im Zwielicht, empfängt erst Bedeutung durch
die von Oscar Sauer fast mystisch gespielte Szene eines uralten Lebemannes,
der noch aufwühlende Leidenschaften gekannt hat, und wurde vom Lessing-
theater bald abgesetzt. Hartlebens „Erziehung zur Ehe", die mit Gang-
hofers geschickter, wirksamer, aber oberflächlicher und überdeutlicher
Dorfkomödie „Tod und Leben" vom selben Theater aufgenommen wurde,
mag sich eine Zeitlang behaupten. Dagegen musste der „Kampf ums Rosen-
rote", das unsagbar alberne Jugendwerk des durch „Tantris" und „Gudrun"
doch schon genügend belasteten Ernst Hardt vom Deutschen Schauspielhaus
schleunigst wieder begraben werden. Lange wird sich im königlichen Schau-
spielhaus auch nicht „Ariadne auf Naxos" behaupten. Strauß als Musiker
und noch weniger Hofmannsthal als Textdichter, der, im Zerbinetta-Teil, mit
goethischen Versen spielend, die Ariadne-Handlung durch flachen Tiefsinn
verdorben hat, haben mit der Stilmischung aus Komödie, ernster und heiterer
Oper Glück gehabt. Und im Theater in der Königgrätzerstraße war
„Macbeth" ein Misserfolg, weil die Regie aus Mangel an Innern und äußern
Mitteln die reiche Tragödie auf die armselige Reliefbühne des Münchener
Künstlertheaters übertrug, weil Wegener als Macbeth ohne Reinhardts Regie
62
bis auf zwei Szenen matt und leer blieb und die Triesch als Lady hysteri-(
sches Theater machte.
Ein erfreuliches Kapitel bildet die Entwicklung des „Neuen Volks-
theaters". Es vergreift sich zwar in der Wah! seiner Novitäten, hat bis auf
wenige Ausnahmen als Schauspieler nur handfeste Routiniers, ist aber in
seinem Repertoir trotzdem sicher und übersichtlich und in seinen Auf-
führungen tüchtig, sorgfältig und solide. Es bekommt unter Beihilfe der
Stadt Berlin ein neues großes Haus, das, sicher fundiert, von einem ersten
Architekten gebaut, zum erstenmal das Ideal eines Volkskunsthauses ver-
wirklichen will. Es hat jetzt schon die arg daniederliegenden Schillertheater
überholt und wird geschäftlich bessere Zeiten heraufführen.
BERLIN HERBERT JHERINQ '
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KURZE ANZEIGEN
In dieser Rubrik werden unter Verantwortung der Redaktion kurze Notizen über Bücher,
Zeitschriften- und Zeitungsartikel erscheinen, die eine spätere einlässliche Besprechung nicht
ausschließen. Wir bitten unsere Leser, daran nach Lust mitzuarbeiten. D. R.
Es darf als erfreuliches Zeichen ausgesprochen werden, dass ein so
strenger, sachlicher Roman wie Friedrich Huchs „Enzio" schon in sechs-
tausend Exemplaren verbreitet ist. Er stellt den Kampf und Untergang eines
jungen Musikers, dar, der als Sohn eines typischen Kappelmeisters dem
Epigonentum verfallen zu sein glaubt ; in Wahrheit geht er daran zu gründe,
dass er sich als Mensch nicht zu zügeln weiß. Empfindung und Geist halten
sich in diesem Werk aufs schönste die Wage: neben Frauengestalten, die
im Goldglanze reifer Poesie stehen, fesseln den Leser Gespräche über
Musik die zum Tiefsten und Einsichtigsten gehören, was über diese Kunst
jemals gesagt worden ist.
Im Verlag von Schulthess und Cie. in Zürich hat Dr. G. A. Frey,
Redaktor in Glarus, ein Staatsbürgerliches Lexikon herausgegeben: ist der
Name vielleicht auch für dieses kleine Wörterbuch zu hoch gegriffen, so
ist dem schweizer Zeitungsleser immerhin ein bedeutender Dienst damit ge-
leistet. Nach Schlagwörtern geordnet findet man da das Wesentlichste über
kantonales und eidgenössisches Staatsrecht, über Gesetzgebung, Wehr-
ordnung und ähnliches, alles in knapper und rühmlich klarer Fassung. Es
liegt in der Art eines solchen Buches, dass sich die Lücken erst beim Ge-
brauch zeigen und dass erst künftige Auflagen jene Vollkommenheit auf-
weisen können, die für die Brauchbarkeit auch eines kleinen solchen Werkes
fast unerlässlich ist. Mir ist bei ein paar Stichproben Folgendes auf-
gefallen :
Die eidgenössische Kunstkommission ist nicht unter diesem Schlagwort
sondern nur beim Departement des Innern genannt; über ihre Zusammen-
setzung, ihre Rechte und Pflichten erfährt man nichts. Anderseits würde
man in einem solchen Buch eine Erläuterung des Begriffes Kunstgewerbe
nicht suchen. Über die Gottfried Keller-Stiftung möchte man gerne etwas
mehr wissen, unter anderem die Gründung. Wenn man liest, dass die Dra-
63
goner- und Guidenschawdronen der Landwehr ohne Pferde, ohne Fuhrwerke
und Trainmannschaften sind, möchte man doch gern über ihre Kriegsver-
wendung erfahren. Der Naturschutz ist in dem Buche genannt, der weit
einflussreichere Heimatschutz nicht. Und wie schade, dass man nicht er-
fährt, welcher Staatsmann zuerst den prächtigen Ausspruch tat: „Dei Pro-
videntia et confusione hominum Helvetia regitur."
aaa
Der Jahresbericht der Sektion Zürich des Schweizerischen Automobilclubs enthält
stets einen temperamentvoll geschriebenen Aufsatz, der sich namentlich mit den kleinen
Verfassungsbrüchen und PoIizeiwillkQrlichkeiten befasst, die ja gegen eine Minderheit in
der Schweiz manchem durchaus berechtigt erscheinen. Dieses Jahr befasst er sich überdies
mit dem idealen Bestreben vieler Zürcher Politiker, wohlhabenden Leuten den Aufenthalt
im Land unmöglich zu machen:
Die eidgenössische Regelung des Automobilverkehrs ist im letzen Jahre
bis zu einer Vorlage an die Räte gediehen. Sie liegt zurzeit vor dem Stände-
rat. Ob angesichts der oben gekennzeichneten Kantönlipolitik überhaupt
diese Frage noch mehr als akademisches Interesse verdient, erscheint uns
fraglich. Der Bundesrat hätte mit einer solchen Vorlage in weitblickender
Weise schon vor Jahren vor die Räte kommen sollen. Heute, wo die Kan-
tone in Form von hohen Bußen und den direkt verfassungswidrigen
Straßengebühren (Brünig, Simplon, Qotthard etc.). Blut geleckt haben, er-
scheint ein auch nur bescheidener Versuch, Ordnung in das Chaos von
Vorschriften zu bringen, fast aussichtslos.
Zum Schlüsse unseres Berichtes möchten wir nicht verfehlen, unsem
Mitgliedern noch eine Erwägung zur Reflexion und gelegentlichen Ver-
wendung zu unterbreiten: Gar oft und immer wieder wird von den Gegnern
in Diskussion und Presse mit dem Gedanken an eine Initiative für ein
Totalverbot geliebäugelt. Alle möglichen Polizeimaßregeln werden aus an-
geblicher Furcht vor einer solchen eventuell möglichen Initiative empfohlen.
Wir wollen nun einmal, rein theoretisch, annehmen, ein solches Totalverbot
oder ähnliche, ihm gleichkommende Maßregeln wären durch Abstimmung
Gesetz geworden. Die direkte Folge wäre natürlich, dass diejenigen Leute,
die das Automobil als im modernen Erwerbsleben unentbehrliches Verkehrs-
mittel gebrauchen, sich beeilen würden, den Staub des Kantons Zürich von
ihren Füßen zu schütteln. Hiebei darf wohl mit einiger Sicherheit behauptet
werden, dass sich unter diesen Leuten zumeist diejenigen befinden, die dem
Staat in Form von Steuern die Mittel zu seiner Existenz und zur Erhaltung
unserer vielen Beamten und Beämtlein liefern, mit anderen Worten, einige
„Siebenstellige", wie sie einmal in einem Hetzartikel zur Zeit der Automobil-
hetze genannt worden sind.
Wenn wir aber hören, dass von den zirka 60,000 Steuerpflichtigen der
Stadt Zürich es 273 Einzelpersonen sind, die, wie sich dies durch das
Steuerregister kontrollieren läßt, dank einem Vermögen von je 500 Mille
und mehr, 34% der Gesamtvermögenssteuer der Stadt Zürich aufbringen
und wenn wir uns diese 273 „Stützen des Staates" als verärgerte Automobil-
halter vorstellen, so gewinnt die ganze Automobilfrage ein neues und viel-
leicht für manche Kreise unerwartetes Gesicht.
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
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MAX BURI
HANDORQELSPIELER
Aus dem Schweizer
Jahrbuch für Kunst
u. Handwerk m. G.
NACH DER SCHLACHT
Der Gotthardvertrag, über den wir in der Schweiz drei Jahre
lang gestritten haben, ist von den Räten angenommen worden;
am 4. April vom Nationalrat mit 108 Ja gegen 77 Nein, und
am 9. April vom Ständerat mit 33 Ja gegen 9 Nein. — Um die
Wiederholung eines solchen Fehlers zu verunmöglichen, will man
nun auf dem Wege der Initiative das Volk selbst über Staats-
verträge von längerer Dauer entscheiden lassen.
Diese scheinbar logische Erweiterung des demokratischen
Prinzipes in unserer Verfassung müssen wir entschieden be-
kämpfen. Sie ist in mancher Beziehung gefährlich, wie im nächsten
Hefte dieser Zeitschrift im Einzelnen nachgewiesen werden soll;
sie ist aber auch ganz nutzlos, denn das Übel, an dem wir viel-
leicht zugrunde gehen, sitzt nicht in dem einen oder andern
Staatsvertrag, sondern in unserem politischen Leben überhaupt
Es gilt nicht, neue Rechte zu erobern; es gilt, von den vorhan-
denen Rechten einen besseren Gebrauch zu machen.
Gewiss, der Gotthardvertrag ist und bleibt ein schwerer
Fehler, den seine Anhänger höchstens als eine unvermeidliche
Folge früherer Fehler erklären konnten. Trotz einzelner Reden,
die einen gewollten Optimismus zur Schau trugen, hat niemand
mit Freude Ja gestimmt ; viele taten es nur aus Furcht vor einer
anbestimmten Zukunft. Die Bundesräte Forrer, Motta und Schult-
hess haben ihre Sache so gut vertreten, wie man sie nur vertreten
65
konnte; kräftig, ehrlich, ja versöhnhch und ritterh'ch; wie voraus-
zusehen war, haben sie sachh'ch den Sieg errungen ; moralisch je-
doch bleibt Nationalrat Alfred Frey der Sieger . . . Jene Abendstunde
vom 2. April werde ich nie vergessen. Der Kampf dauerte seit einer
Woche und ging nun dem Ende zu; alle Argumente, für und
wieder, waren schon drei und vier mal gebraucht worden; der
Rat war müde, jede einzelne Stimme gesichert. Da erhob sich,
gegen 6 Uhr abends, Herr de Meuron, und wirkte belebend; zu
Anfang seiner Rede waren noch von 110 Räten 38 mit Zeitungen
und Briefen beschäftigt; nach einer Viertelstunde waren alle auf-
merksam und gruppierten sich um den Redner, der die Haltung
der Welschschweizer und die Volksbewegung energisch verteidigte.
Nun war rechte Stimmung da, und schon die ersten Worte des
Herrn Alfred Frey steigerten das Interesse bis zur Ergriffenheit.
Kein Laut und keine Gebärde im ganzen Saale; alle Augen auf den
Redner gerichtet; alle Herzen bebend. Die Stimme ist fest und
klar, trotz der Innern Bewegung; die Worte sachlich, korrekt,
und doch scharf wie eine Klinge. Zuerst kommen Zahlen, Tat-
sachen, Rechtsbegriffe, Vergleiche aus der reichsten Erfahrung;
dann von Stufe zu Stufe, bis über unsere Grenzen und den heu-
tigen Tag hinaus, die politisch- moralische Bedeutung des Vertrages.
„Und wenn eines Tages Frankreich die gleiche Begünstigung ver-
langt, und wir sie abschlagen, wird es fragen : Wieviel hat es denn
Deutschland und Italien gekostet"?^) Da sehen alle mit Schaudern
in den Abgrund, zu dem uns eine Kette von Irrtümern geführt
hat . . , Das soll nicht wieder vorkommen ; mitten aus der Angst
erstehen auch die Einsicht und der feste Wille, künftig die Freiheit
des Vaterlandes besser zu wahren. Und bei diesem stillen Gelübde
fühlt jeder neben der Traurigkeit die Erhabenheit der Stunde.
Diese Schlacht ist verloren; wir wollen die Lehre daraus
ziehen, auf dass wir die nächste gewinnen. Da hilft keine stür-
mische Initiative; da hilft nur stille Einkehr. Tiefe Trauer diktiert
mir diese Worte, doch eine Trauer ohne Groll und Bitterkeit.
Man konnte ja in guten Treuen verschiedener Ansicht sein,
1) Ich zitiere die Worte aus dem Gedächtnis.
66
je nach dem Standpunkt, den man einnahm. Streng juristisch,
gingen die besten Köpfe auseinander; ökonomisch wiegen sich
vielleicht Vorteile und Nachteile auf; sicher ist nur der politische
Verlust, und eben das politische Moment scheint man bei den
Verhandlungen des Jahres 1909 ganz aus den Augen verloren zu
haben. Da hat die Volksbewegung eingesetzt (wenn sie auch ge-
legentlich mit anderen Argumenten kämpfte); es war aber zu spät.
. ' Zu spät ... für diesen Fall. Doch sind wir um eine Er-
fahrung reicher; ja, um viele Erfahrungen, wenn wir die Ereig-
nisse der letzten Wochen von einer höheren Warte aus betrachten.
Ich beklage nicht nur die Annahme des Gotthardvertrages, son-
dern auch viele Begleiterscheinungen, die uns klar beweisen, dass
wir politisch noch viel zu lernen haben.
Was sollen bei uns zum Beispiel unsaubere Verdächtigungen?
Herr Calonder ändert seinen Standpunkt, er geht vom Nein zum
Ja: man hat ihn mit dem Splügen bestochen; — Herr Alfred
Frey kommt vom Ja zum Nein: er handelt aus kleinlicher Rache.
Und so weiter. Gewiss, auf beiden Seiten hat es Leute gegeben,
die aus irgend einem Interesse so oder anders gestimmt haben;
der eine wollte dem Bundesrate gefallen und der andere den
Wählern; lassen wir diese Lauen beiseite. Mit welchem Rechte
besudelt man die innere Wandlung eines Mannes, der seit Jahren
seine Ehrlichkeit bewiesen hat? Was man kürzlich in Bern
munkeln hörte und in den Zeitungen las, das war tief beschämend,
einerlei, sei es die Verleumdung oder erwiesene Korruption.
Und was bedeutet die andere Taktik, den Gegensatz zwischen
Welschschweizern und Deutschschweizern künstlich zu verschärfen?
Auf beiden Seiten geschah's; besonders aber auf Seite der Ver-
tragsfreunde, und bis in den Nationalrat hinein! Das beruht wohl
zum Teil auf Verkennung der psychologischen Verhältnisse, bleibt
aber als Gesamterscheinung ein ruchloses Vorgehen. In der stände-
rätlichen Kommission wurde bereits hervorgehoben, dass die ganze
Bewegung nicht von der Welschschweiz, sondern von Zürich aus-
ging, und zwar von Wissen und Leben. Das stimmt. Ächte
Deutschschweizer machten mich zu Anfang des Jahres 1910 auf
67
die Gefahren des Vertrages aufmerksam; ich beschloss, die Disr
kussion zu eröffnen ; so entstanden a!I die Artii<el, die ich in einer
Fußnote, in chronologischer Reihenfolge aufzähle^). Es ist mir
eine Pflicht, an dieser Stelle Herrn Dr. Steiger und Herrn Bundes-
richter Rössel den herzlichsten Dank auszusprechen. Die Ver-
bindung ihrer Namen beweist an sich allein, dass die Bewegung
eine schweizerische gewesen ist. Beide haben Großes geleistet; sie
haben die Spezialfrage zu einem vaterländischen, moralischen
Problem erweitert; in der Spezialfrage sind wir besiegt; das
Problem bleibt um so dringender. Wir sind alle stolz darauf,
dass unsere junge Zeitschrift das Problem zuerst gefasst und am
meisten vertieft hat, ohne Rücksicht auf Regionen und auf Parteien.
Was bedeutet endlich die Verachtung vieler Politiker für die
freie .Meinungsäußerung des Volkes und die höhnischen Berichte
gewisser Zeitungen über die „Landsgemeinden"? Gewiss, es
wurden da öfters die Argumente etwas knapp zusammengerafft;
man wandte sich mehr an das Gefühl als an den Verstand. Ging man
etwa beim Beutezug, beim Rückkauf der Eisenbahnen anders vor?
Könnten die Herren Gesetzgeber alles verantworten, was sie einer
größeren Wählerversammlung predigen? Und doch sind diese
ihre Wähler lauter kluge Köpfe . . . Sehen wir doch ab vom
besondern Zweck dieser Landsgemeinden: da strömen die Bürger
zusammen, aus allen Parteien, aus allen Regionen, ohne den
leisesten Wink von oben, um das Vaterland vor einer Gefahr zu
schützen; es findet keine Ausschreitung statt; die Männer sind
lauter Ernst und Begeisterung; mit entblößtem Kopf singen sie
„Rufst du, mein Vaterland . . ." Wer da höhnen mag, ist für-
^) Baur: Der Gotthardvertrag (1. April 1910. Bd. VI, Seite 1). Steiger:
Der Gotthardvertrag (Vi, 65,132,216); Zur Entwicklung der Gotthardf rage
(VII, 217). Schuler: Fiktionen (VII, 321). Bovet: Le respect de l'autorite'
(Vil, 424). Steiger: Die Bewegung gegen den Gotthardvertrag (VII, 441).
Rössel: Une mauvaise affaire (VII, 513). Baur: Verantwortung (VII, 585).
Rössel: Re'ponse ä quelques-uns (VII, 662). Boller: Zur Reduktion der
Bergzuschläge (VII, 760). Von der besseren Lösung (VIII, 617). Steiger:
Der Gotthardvertrag (XI, 10) ; Schlusswort zum Gotthardvertrag (XI, 724).
Büscher: Zum Gotthardvertrag (XI, 682, 711).
68
wahr ein armer Tropf. — Dieser berechtigte und schöne Aus-
druck der Überzeugung des Volkes darf aber nicht in Zwang und
in Drohungen ausarten, wie es leider stellenweise geschehen ist.
Auf diese demagogische Entartung komme ich ein andermal in
anderem Zusammenhang zurück. ;{
Heute will ich bloß zwei Schlüsse ziehen, die sich aus der
Annahme des Qotthardvertrages und aus den Begleiterscheinungen
ergeben.
Der eine Schluss ist rein praktischer Art. Die Notwendigkeit
einer gründlichen Reorganisation der Bundesverwaltung und ganz
besonders des politischen Departementes ist dringend. Ge-
wisse Dinge dürfen nicht wieder vorkommen. Wir brauchen
Stetigkeit und klare Verantwortlichkeit in der Leitung der aus-
wärtigen Politik; wir haben eben die Zeche des jetzigen Systems
bezahlt; sie ist zu teuer.
Und der andere Schluss betrifft unsere ganze Auffassung der
t^olitik. Hier muss in den Begriffen, in den Geistern selbst ein
Wandel vorgehen. Die Realpolitik hat überall ihre großen Ge-
fahren; einer kleinen Republik bringt sie vollends den Tod.
Man blättere bloß in der Geschichte . . . Ein einflussreicher
Journalist, der den Behörden sehr nahe steht, erzählte mir ein-
mal, ganz gelassen, merkwürdige Dinge; ich fragte: „Sind denn
bei einer Wahl in den Bundesrat die Eisenbahngeschäfte so maß-
gebend?" Er antwortete lächelnd und nicht ohne Ironie für meine
Naivität: „Jawohl; unsere Politik ist Eisenbahnpolitik". — Herr
Bundesrat Forrer hat eine lehrreiche Geschichte erzählt: der Ver-
waltungsrat der Bahn Aigle-Sepey (der wahrscheinlich aus Geg-
nern des Gotthardvertrages besteht) hat die elektrische Installation
der Bahn der Berliner A. E. G. anvertraut . . . Tausend ähnliche
Beispiele ließen sich aus der jüngsten Zeit anführen. Hat nicht
Herr Krafft in Lausanne den Satz ausgesprochen : „Queferions-
nous, en Suisse, sans les etrangers?" Und hat nicht Herr Na-
tionalrat Emery (ein Gegner des Gotthardvertrages!) ihm zu-
gestimmt? Wo jeder einzelne Bürger bloß dem „Geschäft" nach-
geht, soll man sich da wundern, wenn das Parlament Politik und
69
Geschäft verwechselt? Wo sind unsere Grundsätze und die Opfer,
die wir den Grundsätzen bringen? Es wird mit Zahlen, mit Ta-
bellen, mit Rendite operiert. Welchen Sinn hat aber die politische
Freiheit des Landes, wenn jeder einzelne seine moralische Frei-
heit aufgegeben hat?
Mit schwerem Unrecht haben die Gegner des Vertrages so-
zusagen das Monopol der Vaterlandsliebe für sich beansprucht.
Die Liebe zum Vaterlande ist bei unseren Bundesräten und bei
den Jasagern ebenso groß, ebenso glühend wie bei den andern.
Bei den meisten im Lande jedoch hat diese Liebe das höchste
Ziel aus den Augen verloren; sie wagt es nicht mehr, ein wirk-
lich politisches Ideal offen zu bekennen ; sie ist rein in materiellen
Fragen und in Geschäften befangen, die gewiss zum Leben ge-
hören wie das tägliche Brot, die aber die Existenz des Staates
gefährden, sobald der Staat nur noch den Geschäften zu dienen
hat. — Was bleibt vom täglichen Brot, wenn der Mensch durch
keinen Glauben gehoben wird und sein inneres Leben nicht be-
reichert? Und was bleibt von den schönsten Geschäften, was
von der fürsorglichsten Sozialgesetzgebung, wenn die Republik
ihrer Kulturaufgabe nicht mehr genügt? — Und wozu endlich
die Volksrechte noch vermehren, wenn das Volk selbst im Lebens-
genuss, im Egoismus entartet? Wenn ein Volk, das doch so viele
Rechte hat, keine Staatsmänner und keine Führer erzeugt, son-
dern nur noch Realpolitiker, will man ihm da selbst die Führung
anvertrauen ?
Seit einigen Jahren leben wir von Selbsttäuschungen und
verbergen die Wunden unter allerlei Pflästerchen. Unsere Parteien
führen nur noch ein künstliches Leben? Da erfindet man den
Proporz, der den Parteizwang erhöht. — Das Wahlrecht ist zu einer
bloßen Geste der Bestätigung heruntergesunken? Da erfindet man
kompliziertere Rechte. — Dem eigenen Lande und dem Auslande
gegenüber hat der Bundesrat nicht genug Autorität? Da schwächt
man ihn noch durch Initiativen des Zornes und des Misstrauens.
— Das ist unsere Logik.
70
Unser Volk hat bereits viele Mittel, um seinen Willen zu be-
kunden; warum braucht es sie nicht zur richtigen Stunde? Ge-
wiss, bei uns entscheidet das Volk selbst über sein Schicksal ;
sein Wille soll über alles siegen; weiß aber unser Volk, was es
will, wenn seine besten Söhne es nicht wissen?
Hierin liegt das ganze Problem, und hier müssen wir mit
aller Energie einsetzen, furchtlos, und trotz allem hoffnungsvoll.
Die geplante Initiative ist ein Akt des Zornes; sie ist unklug.
Einkehr tut uns not; sollte die Annahme des Gotthardvertrages
uns zu dieser Einkehr führen, so hätte sich das alte Wort wieder
bewahrheitet: Unglück ist immer zu etwas gut.
An ein trauriges Ende glaube ich trotz alledem nicht. Seit
sechshundert Jahren haben wir schon manchen Fehler begangen
und gebüßt; wir haben uns immer wieder aufgerichtet, wie wir
uns jetzt aufrichten wollen; tief in der Seele haben wir noch
Kräfte genug, um unsere Zukunft würdig zu gestalten. Der Genfer,
der von jeher mit reformfreudiger Hoffnung erfüllt war, führt im
Schilde das Wort: Post tenebras lux.
ZÜRICH E. BOVET
DOD
AUF EINEM HEIMWEG
Die Wolken ziehen ruhig und gelassen
Im Gold der Abendsonne — und verblassen.
Ein schriller Vogelschrei
Tönt fernher übers Feld. Die Wälder dunkeln.
Im blauen Raum beginnt ein Stern zu funkeln.
Vorbei ist nun der Tag.
Still kommt die Nacht und breitet über Wegen
Und Wald und Feld die Hände wie zum Segen . . .
I:MIL SCHIBLf
DD □
71
WILSON UND POINCARE
I
i
Der Historiker und Nationalökonom, der vor wenigen Wochen
von dem obersten Staatsamt der Union Besitz ergriff, hat der
Welt schon durch seine Inaugurationsrede gezeigt, dass er aus
anderem Holz geschnitzt ist als die politischen Routiniers und
Dutzendkapazitäten, die sich so gewöhnlich an die Staatskrippe
drängen. Mit dem obersten Grundsatz der Utilität, der die ameri-
kanische Politik und das ganze Staatswesen beherrscht, will Wilson
brechen. Was er in seiner Rede so schlicht und ergreifend aus-
gesprochen hat, von dem haben bisher wenige Amerikaschilderer
uns erzählt. Der lapidare Satz „Wir haben bisher den Menschen-
wert nicht hoch genug angeschlagen" gibt der Kundgebung des
Präsidenten eine Bedeutung, die weit über den Tag hinausreicht.
Der preußische Regierungsrat Kolb'hat vor einigen Jahren in einem
epochemachenden Buche Als Arbeiter in Amerika die Dessous
des amerikanischen Wirtschaftslebens gelüftet; weltfremd stand er
vorher der Anschauungsweise einer ganzen Menschenklasse ge-
genüber und das Ergebnis seines praktischen Versuches lautete: „Ich
habe viele Postulate unserer Arbeiterwelt als absolut diskutabel
erkannt." Seitdem brachten uns vornehmlich zwei amerikanische
Schriftsteller, Robert Hunter und Upton Sinclair, das Verständnis
für die Verheerungen nahe, welche das fast schrankenlose Spiel
der wirtschaftlichen Kräfte in der großen Schwesterrepublik an-
richtet, für die Schädigungen an den Menschen, die im natio-
nalen Produktionsprozesse stehen, und für die breiten Konsu-
mentenmassen. Was Wilson in seiner Rede vorbrachte, ist eine
Unterstützung der furchtbaren Anklagen, die an den amerikanischen
Großindustrialismus und Großkapitalismus gerichtet sind, in dem
Versuch, den Kampf gegen solche Zustände aufzunehmen, ist Wilson
dem liberalen englischen Finanzminister Lloyd George gleichzu-
stellen; dem Temperamente nach dürfte er ein noch kühler abwä-
gender, mit praktischen Möglichkeiten noch besser rechnender Staats-
mann sein. Die Frage muss zunächst gestellt werden: woher ist
diese mit aller Macht einsetzende Gegenbewegung herzuleiten? hat
der glänzende Aufstieg der Vereinigten Staaten nicht allen Volks-
schichten ökonomische Vorteile gebracht? haben nicht alle relativ
an der Reichtumsentwicklung teilgenommen?
72
Robert Hunter zeigte uns die Kehrseite dieser glänzenden
Entwicklung. Zwei Schriften, Armut und Das Elend der neuen
Welt lassen uns erkennen, dass neben dieser glänzenden Welt
eine ärmliche ist, von der man nicht spricht. Im Vorwort zum
zweiten Buch schreibt er: „Es hat ein Ziel: es soll nämlich die Dring-
lichkeit d^r Anwendung gewisser gesellschaftlicher, sozialpolitischer
Maßnahmen zur Abwehr des Verkommens solcher Bevölkerungs-
schichten, die am Rande der Armut leben, geschildert werden. Ich
kann nicht begreifen, warum längst und allgemein bekannte Ursachen
der Verelendung in einem menschlich fühlenden, christlichen Volke
geduldet werden". Hunter greift das Problem von allen Seiten
an; aus der Fülle seiner Feststellungen nur das eine: in Amerika
gibt es wahrscheinlich auch in einigermaßen günstigen Jahren
nicht weniger als zehn Millionen Arme; als arm bezeichnet er
die unterernährten, schlecht gekleideten und armselig wohnenden
Menschen. Gegen vier Millionen von ihnen sind „Paupers", das
heißt sie hängen von öffentlichen Unterstützungen ab. Über zwei
Millionen Arbeiter sind vier bis sechs Monate im Jahr arbeitslos.
Beinahe die Hälfte der Familien in Nordamerika ist besitzlos;
mehr als 1,7 Mill. kleine Kinder müssen erwerbstätig sein, während
sie noch die Schule besuchen sollten. Über fünf Millionen Frauen
sind gezwungen, industriell zu arbeiten, weil der Lohn des Mannes
nicht ausreicht. Das sind die feststehenden Angaben Hunters.
Wahrscheinlich, schreibt er, werden nicht weniger als eine Million
Arbeiter jährlich in ihrem Berufe verletzt oder getötet und über
zehn Millionen der heute lebenden Personen werden, wenn das
heutige Verhältnis bestehen bleibt, nach allen Regeln der Wahr-
scheinlichkeit an Tuberkulose sterben.
Amerika kennt, obwohl der Kapitalismus in dem „Lande
der unbegrenzten Möglichkeiten" eine nie erträumte Entwicklung
genommen hat, keine eigentliche sozialistische Partei, die bestim-
menden Einfluss erlangt hätte. Das gleiche ist bisher noch von
England zu sagen. Auch von nicht sozialdemokratischen Theo-
retikern wird zugestanden, dass die industrielle Expansion der
Union mit ihren Riesengebilden, den Trusts, ein Entwicklungssta-
dium zeige, das in manchen Punkten die Theorien des Marxis-
mus bestätigt. Es muss aber unterschieden werden zwischen der
73
Verbreitung sozialistischer Ideen und der Parteibildung mit so-
zialistischen Gesichtspunkten.
Die Trades-Unions bringen wie in England eine Oberschicht
qualifizierter Arbeiter in gehobene Lebenslage, während die
Hunderttausende jener Arbeitskräfte, die keinen Einfluss auf das
Lohnniveau durch die Tatsache der Organisation haben (un-
organisierte, ungelernte Arbeiter, Frauen und Kinder), zum Teil
unter sehr gedrückten Verhältnissen leben. Es kann jedenfalls
nur für die gutgelohnten, zum Teile geradezu brillant gelohnten
Arbeiter gelten, was Grünberg zur Erklärung für das Nichtbe-
stehen einer starken sozialdemokratischen Partei anführt: die
günstige ökonomische Lage und die Möglichkeit der Erringung
wirtschaftlicher Selbständigkeit auf freiem Boden. Wohl hat die
amerikanische Arbeiterbewegung den Rahmen gewerkschaftlicher
und sozial-reformatorischer Bestrebungen nicht überschritten; aber
ihren Einfluss hat sie bei Wahlen im Sinne der sozialistischen
Weltauffassung ganz gehörig in die Wagschale geworfen. Bei der
Präsidentenwahl des Jahres 1900 kamen auf den sozialistischen
Kandidaten 87 814 Stimmen, im Jahre 1904: 392 857 und
1908: 424 483.
Sombart hat uns nach seiner Studienreise in Amerika darüber
aufgeklärt, warum der Sozialismus in den Vereinigten Staaten
keine besonderen Fortschritte machem konnte. Die Tatsache, da$s
der amerikanische Kapitalismus sich in einem Lande mit un-
absehbaren Flächen von Terra libera entwickelt hat, ist in ihrer
Bedeutung für die Gestaltung der proletarischen Psyche keines-
wegs erschöpft mit der Feststellung der Zahl von Ansiedlern, die
im Laufe der Jahre sich dem kapitalistischen Dienstverhältnis
durch die Flucht nun wirklich entzogen haben. Vielmehr ist in
Rücksicht zu ziehen, dass das bloße Bewusstsein, jederzeit freier
Bauer werden zu können, dem amerikanischen Arbeiter ein Gefühl
der Sicherheit und Ruhe geben musste, das dem europäischen
Arbeiter fremd ist. Man erträgt jede Zwangslage leichter, wenn
man wenigstens in dem Wahne lebt, sich ihr im äußersten Not-
fall entziehen zu können. Dass dadurch aber die Stellung des
Proletariates zu den Problemen der zukünftigen Gestaltung des
Wirtschaftslebens ganz und gar eigenartig werden musste, liegt
auf der Hand. Die Möglichkeit, zwischen Kapitalismus und
74
Nichtkapitalismus optieren zu können, verwandelt jede auf-
keimende Gegnerschaft gegen dieses Wirtschaftssystem aus einer
aktiven in eine passive und bricht jeder antikapitalistischen Agi-
tation die Spitze ab. Noch eine andere feine Beobachtung hat
Sombart gemacht: der Sinn für das messbar Große im Zusam-
menhang mit den radikal-demokratischen Grundsätzen der Ver-
fassung hat sich beim Amerikaner zu einer blinden Verehrung
der Majoritäten ausgebildet: diese, so meint er, ist auf dem
rechten Wege, sonst wäre sie ja nicht die Majorität. Bryce be-
zeichnet diese Auffassung als „fatalism of the multitude."
Wird es nun so bleiben? Die Meinungen über den Erfolg
des Sozialismus in der Union sind geteilt. Eine wahrhaft demo-
kratische Volkspolitik, wie sie Wilson inaugurieren will, ist mög-
licherweise imstande, auf Jahre hinaus die sozialistischen Richtun-
gen auf eine radikale republikanische Politik festzulegen. Die
Zukunft muss lehren, wie weit solche Hoffnungen gerechtfertigt
sind. Sombart sah im Jahre 1906 die Verhältnisse bedeutend
trüber an, als man sie heute anzusehen berechtigt ist. Alle Momente,
meinte er, die bis heute die Entwicklung des Sozialismus in den
Vereinigten Staaten aufgehalten haben, sind im Begriffe zu ver-
schwinden oder in Ihr Gegenteil verkehrt zu werden, so dass in-
folgedessen der Sozialismus in der Union im nächsten Menschen-
alter aller Voraussicht nach zu vollster Blüte gelangen werde..
Andere Schriftsteller beurteilen den Verlauf der Dinge wesentlich
verschieden und stellen der amerikanischen Sozialdemokratie keine
günstige Prognose. Der Anschluss an die vorgeschrittensten
Gruppen der demokratischen Partei wird von manchen Politikern
der äußersten Linken als die einzig richtige Taktik einer Partei
bezeichnet, die noch zu schwach ist, auf eigenen Füßen stehen
zu können. Die amerikanische Arbeiterbewegung zeigt übrigens
in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Tendenz zur Einheit;
dies, und nicht allein die Trustausschreitungen, dürfte bei Sombart
eine so pessimistische Auffassung der Zukunft hervorgerufen haben.
Sei dem wie ihm wolle. Der Name Wilson bedeutet ein
Appell an alle Gutgesinnten, die im Namen der Kultur wirken
wollen. Unter so günstigen Auspizien hat in den letzten Jahren
selten ein Erneuerer begonnen.
75
Die Wahl Poincares bedeutet so gut wie diejenige Wilsons
eine Absage an das banale politische Strebertum und eine Wert-
schätzung der Qualität, die in den letzten Jahren leider nicht immer
ausschlaggebend war. in diesem Lichte besehen kommt beiden
Wahlen symptomatische Bedeutung zu. Sie eröffnen die berech-
tigte Hoffnung, dass auch in den Demokratien wieder mehr die
besseren Talente und die höheren Gesichtspunkte über eine lang-
weilige Mittelmäßigkeit emporwachsen und feiner gebildete Köpfe
Lust an der Politik gewinnen. Die Persönlichkeit Wilsons zeigt
vor allem, dass die Sache des Volkes dabei nichts zu verlieren
hat. Beide Präsidenten, die Aufgaben, vor die sie gestellt sind,
das Milieu, in dem sie nun wirken, sind so verschieden, dass ein
Vergleich der beiden Individualitäten nicht angängig ist. Beide
werden sich den harten Notwendigkeiten des politischen Lebens
in manchen Fragen unterwerfen und auf dieses und jenes in der
Studierstube so schön zurechtgelegte ideal verzichten müssen.
Politik ist und bleibt nun einmal die Kunst des Erreichbaren. Aber
schon das Bewusstsein, dass Männer von überragenden geistigen
Qualitäten an der Spitze des Staates stehen, gewährt ein Gefühl
der Sicherheit und der Beruhigung. Wilson hat bei seiner Tarif-
reform schon jetzt eine nicht ganz ungefährliche Opposition zu
spüren bekommen; Poincare seinerseits die Macht des Radikalis-
mus. Seine Rede in Montpellier wird mit Recht als eine An-
näherung an seine republikanischen Gegner gedeutet, nachdem
ihm das Votum des Senats zum Bewusstsein gebracht hat, dass sich
in Frankreich gegen den Radikalismus nicht regieren lasse. Der
Ideenrichtung nach unterscheidet sich Poincare wesentlich von
Wilson; er ist der Mann der gemäßigten liberalen Schule, einem
besonnenen Fortschritte zugetan, aber auf keine bestimmte wirt-
schaftspolitische Richtung festgelegt. Seine Reden verraten eine
imponierende Bildung, weise Mäßigung und kluges Einschätzen
der praktischen Möglichkeiten. Überaus bezeichnend ist für ihn,
dass er in dem glänzenden Nachruf auf Waldeck-Rousseau
(Questions et ßgures politiques, Paris 1907, Bibliotheque Char-
pentier, Eugene Fasquelle) diesen hervorragenden Staatsmann der
dritten Republik nur als Rhetoriker so absolut voll gelten lässt
und sonst gegenüber seinem Parteigänger in der „Union republi-
caine" Vorbehalte macht, die sich nur gegen die Sozialgesetz-
76
gebung Waldeck - Rousseaus richten können. Zur vollen Wert-
schätzung der Persönlichkeit Poincares kann auch sein Buch
„Idees contemporaines" beitragen, worin sich auch eine Anzahl
Reden finanzwissenschaftlichen Charakters finden, die als Glanz-
leistungen anzusprechen sind. (Le courage fiscal, La sincerite
budgetaire usw.)
Die Auffassung des Regierungsmannes Poincare ist wesentlich
verschieden von derjenigen des „Erneuerers" Wilson. Zum Be-
lege dafür möge ein Satz aus einer Rede (Gouvernement et col-
lectivisme) angeführt werden: „Un parti qui detient le pouvoir
ne peut pas se conduire comme un parti d'opposition et de
combat. Des qu'il gouverne, il represente la France entiere et
c'est pour la France entiere qu'il gouverne."
ZÜRICH PAUL GYGAX
DDO
DER MILCHFÄLSCHER
ERZÄHLUNG VON MEINRAD LIENERT
(Schluss.)
„Ja, ja, das könnte er," sagte mit verdrossenem, sauersüßem
Lächeln der Amtsschreiber und entnahm der vollen Tanse Stöffis,
der totenbleich dastand, ruhig eine Milchprobe.
„Jesus, Jesus, Herr Amtsschreiber," machte der Alte mit be-
elendrischem Gesicht, „Ihr werdet doch, in Gottes und aller Heiligen
Namen, nichts Böses von mir denken ! Zehn lauter lötige Napo-
leone wollte ich in den Opferstock legen, die beste Kuh gäbe ich
drum, wäre mir das heillose Ungeschick mit der Milchtanse nicht
gerade jetzt, wo die Milchschauherren vor mir stehen, begegnet.
Unsereinem muss es doch immer den gefehlten Weg gehen, so
tut es. Aber da könnt ihr jetzt machen, ihr Herren, wenn der
Weg alles ein Gletscher ist! Da liegt einer bald auf der Schatten-
seite, besonders wenn einer ein alter Mann ist und nicht mehr
gehörig federt, wie unsereins. Nein, zu dumm ist mir jetzt das
ergangen. Eine Heiligenscheibe wollte ich in die Rothwyler Kirche
stiften, hätte ich die heillose Tanse noch voll am Buckel. Aber
was will man jetzt da machen, draußen ist die Milch."
„Freilich, freilich, da kann man nichts mehr machen," sagte
mit seltsamem Blick und ziemlich missvergnügt der Amtsschreiber»
77
„Doch, Herr Amtsschreiber," sagte jetzt der Landjäger, der
^unbeachtet von den andern sich zur Tanse an den Boden ge-
macht hatte, „es ist noch ein Rest Milch in der Tanse gewesen,
seht, es langte gerade für eine knappe Probe."
Er wies das kleine volle Probegefäß vor.
„Sakerlot, sakerlot!" machte mit großen Augen der alte
Simmeier und sonst nichts mehr.
„So," sagte der Amtsschreiber mit schwer zu verbergendem
Schmunzeln, „das hätten wir jetzt abgetan. Es war' dann recht,
wenn ihr von der Gremplerei weg aufs Amt kämet, dass man
euch das Ergebnis der Proben gleich zu wissen tun kann. Jetzt
behüt Gott beieinander! Das nächstemal müsst ihr halt Eisen
aufschlagen lassen, Simmeier, dann habt ihr bessern Bestand.
's ist doch jammerschade um die schöne Milch. Adie wohl!"
„'s Donners, Herr Amtsschreiber, ihr werdet doch nicht etwa
meinen, mit meiner Milch sei's nicht in Ordnung?" rief ihm das
graue Männchen nach.
„Behüt mich Gott und Vater!" rief der Beamtete zurück,
„wer wollte so etwas von Euch denken. Ihr seid doch landauf,
landab als ein Mann bekannt, an dem man Rosenkränze segnen
könnte."
„'s Donners, 's Donners," brummte der alte Simmeier, wie
gebannt am Wegkreuz stehen bleibend und den Milchschauern
nachsehend, „der verfluchte Landjäger!"
Eine geraume Weile blieb er so vor dem Kreuze stehen,
dann nahm er die Tanse brummend auf den Buckel und schuh-
nete, ohne sich auch nur mit einem Blick nach seinem Weg-
gefährten umzusehen, ins Dorf hinunter.
Stöffi, der Brüüschmoosbauer, aber ging schweren Herzens
den Weg nach der Gremplerei im Mitteldorf. Es war ihm, der
jüngste Tag sei im Anzug. Keinen Augenblick hätte es ihn ge-
wundert, wenn die Sterne vom Himmel und die Berge übers Tal
gefallen wären. Er hätte sich ja sowieso am liebsten in die Erde
verkrochen. Heute war er vom rechten Wege abgewichen, trotz
den flehentlichen Warnungen seines guten Geistes, seiner Frau,
und heute ereilte ihn auch schon das Gericht. Das Gericht? Es
war ihm, als stünde er im Hemd vor der ganzen Maienlands-
gemeinde. Ja, das Gericht wird ihn abstrafen und als ein Milch-
78
falscher wird er bald im Blatte stehen. Jedes arme Kind wird
ihn i<ünftig mit großen anklagenden Augen ansehen: Also du bist's;
der mir das bisschen Milch verdirbt, der mir keine roten Wänglein
gönnen mag! Und bald werden ihm vielleicht die Dorfbuben
hinter allen Hecken hervor nachrufen: Miichfälscher, Milchfälscher!
Und die schmalen Wangen der Arbeiterfrauen werden gegen ihn
zeugen in alle Ewigkeit. Seiner Lebtag wird die Schmach nicht
von ihm genommen werden, und wenn der Jordan über ihn hin-
wegginge. Seinen Kindern wird man's noch vorhalten, was ihr
Vater für einer gewesen sei. Und wie sollte er künftig seinen
Bekannten zu Dorf und Land, die so viel von ihm hielten, noch
in die Augen sehen können. Er würde nun künftig tun und lassen
können, was er wollte, und wenn er mit seiner Rechtschaffenheit
Berge versetzen könnte, es wird halt immer hinterrücks von ihm
heißen: Stöffi, der Milchfälscher. Wie würde man ihm künftig übers
Maul fahren, sollte er's wagen, im Wirtshaus oder gar an einer
Gemeindeversammlung ein Wort mitzureden. Heute hatte er sich
Ketten um die Hände, ein Schloss an den Mund und eine Dornen-
krone aufs Haupt gelegt. „Wie wird der gute Mann mich wohl
morgen ansehen," murmelte er jetzt in sich hinein, als freundlich
grüßend ein Dorfratsherr an ihm vorbeischritt. Wie sollte er je-
mals wieder vor die Qremplerin treten dürfen, die ihm traute wie
ihrem Schutzpatron und die sich ganz gewiss morgen von ihm
seit langem betrogen glaubte. Ach, bald war er ein anderer. Und
wenn man ihn über und über vergoldete, wie den heiligen Joseph
in der Weidwegkapelle, die Leute würden durch alle Vergoldung
hindurch doch immer nur den heutigen Flecken auf seiner Seele
sehen. Bald musste es auskommen; dann war er so gut wie tot.
Während er jetzt so dahinwackelte, wusste man auf dem Rathause
wohl schon, was er für einer war. Und er musste nun von der
Gremplerei weg gleich hingehen. Die Scham würde ihn doch
wohl umbringen. Ja, der alte Simmeier hatte es gut. Der durfte
getrosten Herzens hingehen, so ein anerkannter Ausbund von
Frömmigkeit. Der Neid schielte aus seinen Augen. „Wäre ich
doch statt seiner aufs Eis gefallen und hätte die Milch verschüttet!"
redete er in sich hinein. Aber der Teufel hatte ihm den Possen
gespielt, dass er dem andern, dem Zehnmalgerechten, das Bein
vorhielt, statt ihm. Hätte er doch die Freveitat nie getan ! Gerne
79
wollte er arm sein wie der völlig ausgenüsselte Hiob auf dem
Misthaufen und zufrieden wie ein wiederkäuendes Schaf am Sonnen-
rain, könnte er die kleine Milchprobe zurücknehmen.
Ein Bübiein lief mit klirrendem Milchkessel neben ihm nach
der Gremplerei, um Milch zu holen. „Ich komme grad mit Euch,"
redete es ihn an, „dann kriege ich die Milch noch kuhwarm.
Wisst," fügte es bei, „der Doktor hat gesagt, wenn meine Mutter
die Milch kuhwarm zu trinken bekäme, würde sie eher wieder
gesund, wisst, weil sie halt die Lungenauszehrung hat." Der
Bauer antwortete nicht, aber in seinen Augen stand geschrieben:
O Bübiein, wenn du wüsstest, was für einer neben dir läuft! Der
Räuber, der deiner Mutter die Gesundheit stehlen wollte.
Jetzt trat er in den Gremplerladen. Freundlich, wie immer,
nahm ihm die Gremplerin die Milch ab und steckte ihm dann in
seine offene Tanse einen gewaltigen Birnenweggen. „Für Eure
Kinder," sagte sie. „Es ist jetzt eben die Zeit, in der die Sankt
Niklause laufen und da sollen Eure Kleinen nicht leer ausgehen."
Denn, setzte sie bei, sie sei recht wohl zufrieden mit ihm, seine
Milch habe immer eine so schöne Niedel. Er versuchte keinen
Widerstand gegen das Geschenk, war er ja doch das letztemal hier.
Zu ihrer Verwunderung dankte er kaum. Mit kurzem Gruß ging
er davon und jetzt schritt er nach dem Rathause im Oberdorf.
Als er sich dem Rathause näherte, wurden seine Schritte
immer kleiner und zuletzt schlich er den Häusern nach, wie der
Schatten eines kranken Mannes. Obwohl er jetzt die leere Tanse
am Rücken trug, war ihm doch, als trüge er, wie der heilige
Christoffel, Gott und Welt auf dem Rücken. „Jesus, Jesus, was
habe ich gemacht!" stöhnte er halblaut, „ich wollt', ich lag'
klaftertief unterm Boden ; ich kann doch meiner Lebtag nie mehr
eine ungesorgte Stunde haben. Es ist mir jetzt grad, als müsste
ich da durch die Rathaustüre in einen Kamin hineinkriechen, aus
dem ich in alle Ewigkeit nicht mehr herauskäme. Jesus, Jesus!
Alle meine Lebenstage sollten mich nicht mehr drücken als ein
Taubenfederchen, könnte ich den heutigen Morgen ab dem Buckel
bringen. Gottsnamen denn!"
Gruchsend ging er die Rathaustreppe hinauf, die Beine nach-
ziehend, als hingen Webstuhlsteine dran. Vor dem Bezirksamt
aber brachte er's nicht mehr weiter. Er ließ sich, die Tanse vor
80
sich hinstellend, aufschnaufend wie ein alter Mann, auf eine
Bank nieder.
Jetzt ging die Türe der Amtsstube. Der Landjäger, der die
Milchschau mitgemacht hatte, trat heraus und schritt, ihn kaum
beachtend, vorbei und die Stiege hinunter.
„Wie mich der schon verachtet!" stöhnte er.
Aber nun hob er schier erstaunt den Kopf. Es war ihm, in
der Amtsstube lärme die Stimme des Hinterschweigsimmeler. Und
jetzt, die Türe ging wieder auf — stand wahrhaftig der alte Simmeier,
die Fuchspelzkappe in der Hand, auf der Schwelle und hinter ihm
tauchte der Bezirksammann auf.
„Gewiss, auf Ehr und Seligkeit," machte überlaut krähend
der Alte, „ich will nicht mehr lebend da zur Ratsstube heraus-
kommen, wenn's nicht heilig so ist, wie ich's sage. Beim Eid
habe ich die Milch nicht gefälscht."
„Gewiss habt Ihr sie gefälscht, Simmeier," sagte der Bezirks-
ammann. „Ich hab's Euch nun genug gesagt und Ihr werdet's
aber auch noch schriftlich und gedruckt bekommen, wie Ihr's
verdient. Denn seht. Euch haben wir schon lange nicht getraut.
Ihr seid bisher nur immer schlauer gewesen als wir alle mitein-
ander. Aber heut hat der Fuchs das Bein im Eisen. Ein nötiges
Hühnerbäuerlein täte mich dauern, Ihr nicht. Denn obwohl Ihr
eine Suppe vermögt, die man mit der Gabel essen kann, habt Ihr
doch die Milchsuppe der armen Leute verwässert, wie noch keiner
seit ich die Milch beschaue. Ihr müsst die Tanse geradezu unter
die Brunnenröhre gestellt haben."
„Ja, beim Donner," machte jetzt der Alte plötzlich, schier
strahlenden Augs, „dasmal habt Ihr's prezis getroffen. Jetzt fällt
mir's auf einmal ein, wie's mit meiner Milch gegangen sein muss.
Hört jetzt nur, ich will's Euch erzählen. Es ist so heilig wahr,
als ich da vor Euch stehe. Nämlich, wie ich heut morgen die
Tanse an den Brunnentrog lehnte und mir noch schnell den
warmen Lismerkittel anziehen ging, kam auf einmal der Bergwind
über die Weid. Es begann um Haus und Gaden zu ziehen und
zu pfeifen wie nicht gescheit. Und wie ich nun aus dem Hause
über das Stiegenbrücklein hinunterkomme, sehe ich gerade noch,
wie der scharfe Luftzug das heraussprudelnde Wasser von der
Brunnenröhre ab bis über den Trog hinaus gegen die Milchtanse
81
treibt. Wie ich das Ungeschick wahrnehme, mache ich mich, was
gibst was hast, zum Brunnen und nehme die Tanse auf. Da wäre
es nun am End aller End wohl möglich, dass ein Güssiein oder
zwei von dem heillosen Brunnenwasser in die Milchtanse geweht
worden ist."
„Ja, das ist's auch," sagte, ein Auflachen verbeißend, der
Ammann. „Aber der Bergwind, der das Brunnenwasser in die
Milchtanse trieb, hat dasmal eine Fuchspelzkappe aufgehabt."
„Beim Eid nicht, bei allen Heiligen nicht," machte der Alte.
„Wie könnt Ihr von mir so etwas denken. Ich will im Hemd
durchs Fegfeuer watten, wenn auch nur ein Faden an allem wahr
ist. Ich lasse mich durch den krüppelten Wald jagen und vier-
teilen, wenn . . ."
„Geht jetzt, Simmeier, geht jetzt!"
„Heiliger sankt Wendel, so hört mich doch der Tausendgotts-
willen recht an! Wie sollte denn ein Mann, wie ich, dazukommen,
die Brunnenröhre für ein Milchzeichen anzusehen! Wartet, wartet,
Herr Bezirksammann, jetzt fällt's mir endlich ein, wie's gegangen
ist. Dass mir das nicht früher in den Sinn kam. Aber 's ist keii
Wunder, dass einem alles aus dem Kopf geht, wenn man einem
grundbraven Mann auf einmal so was vorhält. Wisst Ihr wie's
gegangen ist, dass das Wasser in die Milch kam?"
„Ja, ja, ich weiß es und Ihr auch."
„Nein, Ihr wisst es nicht," redete jetzt eifrig und mit einem
Gesicht, als wollte er die Offenbarung Johannis übertrumpfen,
der Alte, „und Ihr könnt's nicht wissen, denn Ihr habt nicht zu-
gesehen. Aber hört nur, ich will es Euch erzählen, wie's ge-
gangen ist. Nämlich, wie ich so kuheseldumm beim Wegkreuz
droben ausglitschte und die schwere Tanse so hart auf den ver-
eisten Weg aufschlug, muss ein Stück Eis in die Tanse gesprun-
gen sein und das hat dann die Milch so unchristlich verwässert."
Der Bezirksammann und der unsichtbare Amtsschreiber lachten
auf, dass alle Rathausgänge Echo gaben. Dann aber schob der
Ammann den Alten wortlos aus der Türe und führte ihn zur
Stiege. „So," sagte er nun ruhig, aber kurzgebunden, „bis hie-
her hab' ich Euch das Geleite geben. Nun schaut, dass Ihr den
Weg so rasch als möglich selber findet, sonst soll Euch der Land-
jäger heimbegleiten."
82
Da machte sich der alte Hinterschweigsimmeler kopfschüttelnd
davon, vor sich die Stiege hinunterbrummend: „Eine ungläubige
Welt, eine ungläubige Welt!"
So, hatte der Stöffi gedacht, als er den Bezirksammann •
wieder zurückkommen sah, nun komme ich auch ins Gericht und
die letzten Dinge werden ärger sein, denn die ersten. Es wurde
ihm dunkel vor den Augen.
„Ihr seid doch der Brüüschmoosbauer, was?"
„Ja, der war* ich."
„Euere Milch ist in Ordnung. Macht's nur Euer Lebenstag
nie diesem alten Schlauchinger nach. Denn einmal kommt der
Jäger doch hinter den Fuchsen. Adie wohl!"
Die Türe der Amtsstube ging, ziemlich geräuschvoll, hinter'
dem Ammann zu.
Da kauerte nun der Stöffi mit weit aufgerissenen Augen und
glotzte die Türe an. Ein Weilchen wusste er gar nicht, wo er
war. Aber dann wollte ihn bedünken, ein drohender Abgrund
sei vor ihm mit einemmale zugegangen. Endlich löste sich sein
ungeheures Staunen und halblaut kam es über seine Lippen:
„Euere Milch ist in Ordnung. Hat er's nicht so gesagt? Oder,"
er schielte nach seinem zerschließenen Hirtenhemd, „bin ich denn
nicht der Brüüschmoosbauer. — Heiland!" fuhr er aber bolzgrad
auf. „Er hat's gesagt, also muss es so sein. Herrgott im Himmel,
heilige Maria Mutter Gottes, es ist ein Wunder geschehen. Das
Wasser muss sich in der Tanse in Milch verwandelt haben. Hei-
land, Heiland!"
in der Amtsstube gingen Schritte.
Jetzt packte er blitzgeschwind die Tanse, hing sie lässig an
die Schulter, und dann ging er mit wahren Riesenschritten die
Stiege hinunter, den Gruß des Landjägers, der wieder heraufkam,
schier überfreundiich erwiedernd. Auf dem Dorfplatz grüßte er
rechts und links mit gewaltiger Hochachtung ein paar zankende
Marktweiber, für die er sonst kaum ein Kopfnicken hatte. Dar-
nach machte er sich so schnell als tunlich zum Dorfe hinaus.
Als er auf dem Heimweg an den Friedhof kam, ging er nicht
mehr daran vorbei. Lange, lange stand er am Grabe seines
Vaters. Gott weiß, was er ihm aus tiefstem Herzen gelobte.
83
Aber auf dem langen Heimweg überkamen ihn auf
einmal wieder Zweifel. Hatte ihn am Ende der Bezirksammann
doch für den Unrechten angesehen? Oder hatte der Amtsschreiber
die Probe nur flüchtig gemacht, um sie nachher nochmals ernst-
hafter und genauer vorzunehmen? Es musste ihm doch noch
auskommen ; es konnte ja gar nicht anders sein. Hatte er's nicht
selber gehört, wie seine Frau den vollen Kessel in die Tanse leerte?
Sie würden ihm auf dem Amt sicherlich und zwar bald auf seine
Schliche kommen, das Elend und der Jammer kamen gewiss noch
hintennach. Dann aber würde ihm's an's Leben gehen. Er
hatte jetzt heraus, was es heißt, am Schandpfahl zu stehen.
Wie näher er seinem Häuschen kam, desto unheimlicher,,
desto banger wurde ihm. Gewiss kroch die Schmach schon hinter
ihm drein. An ein Wunder konnte er nicht glauben. Der Herr-
gott würde wohl kaum eines tun, um einem Milchfälscher aus
der Klemme zu helfen. Und doch, war denn nicht auch mit dem
alten Simmeier ein Wunder geschehen? War der nicht aus einem
Halbheiligen, für den er und das ganze Tal ihn hielten, auf ein-
mal ein armer Sünder geworden? Unter peinigenden Zweifeln
und grübelndem Sinnen kam er gegen sein Haus. Sein Gang
hatte sich wieder verlangsamt. Ihm graute vor den Augen seines
Weibes. Denn vor ihr war er sowieso ein Frevler, auch wenn
die verwässerte Milch die Probe bestanden hätte. Er blieb einen
Augenblick stehen, sich umsehend, ob nicht etwa der Landjäger
schon den Weidweg heraufsteige. Aber die Weid war still und
feiertäglich. Nur aus einigen fernen Hütten und auch aus dem
Kamin seines Schindeldaches stieg ein blaues Räuchlein.
Jetzt bog er um das geweißelte Hausmäuerchen. Vom Brunnen
kam eben aufrecht und stattlich seine Frau, einen Zuber auf ihrem
heiterfärbigen Haar tragend.
„Bist du zurück," sagte sie, „geh schnell hinauf. Lieber. Du
hast vergessen, das Morgenessen zu nehmen. Es ist das erste-
mal, dass dir das vorkommt, seit wir uns haben. Aber du hattest
ja heute an andere Dinge zu denken."
Sie sah ihn ernst an.
Er aber stand mit scheuem Blick vor ihr und suchte den
Boden.
84
„Seppetrutli," machte er bedrückt, halblaut, „ich will dir's
grad sagen, ich könnte es vor dir doch nicht eine halbe Stunde
verbergen, du durchschaust mich ja wie eine Scheibe. Siehst du,
Gott hat mich rasch gefunden. Die Milchschauer haben mich
gestellt, mich und den alten Hinterschweigsimmeler."
„Und nun?"
„Ja," machte er, mit großen, schier erschrockenen Augen auf-
sehend, „und du erschrickst nicht zu Tode, du stirbst nicht auf
der Stelle?!"
„Nein, Stöffi, jetzt nicht. Was ist gescheh'n, red'!"
„Seppetrutli, Seppetrutli, so hör' doch I Ich weiß nicht, wie's
gekommen ist, aber es muss ein Wunder geschehen sein. Denke
dir: Meine Milch haben sie recht erfunden, aber dem alten Simmeier
seine erklärten sie auf dem Amt für gefälscht."
„Des Simmelers Milch, des Hinterschweigsimmelers?!" schrie
die Frau auf. „Jesus, Jesus, so ein frommlachter Mann, der
eifrigste Kirchenläufer weit und breit ein Milchfälscher! Wird nicht
sein, du heiliger Gott! Wem soll man denn da noch trauen
dürfen; der alte Simmeier, der schon graue Haare hat."
„Ja, ja, aber Frau, der Tausendgottswillen, was redst du nur
alleweil vom Simmeier und nicht von mir? Findest du's nicht
wunderlich, dass meine Milch recht gewesen sein soll, wo du
doch selbst einen ganzen Kessel voll Wasser hineingeleert hast?
O, es ist noch nicht vorüber, Frau. O Frau, sie sind ge-
wiss noch drauf gekommen und holen mich bald," machte er
kummerschwer.
„Sei ruhig. Lieber," redete sie jetzt ernst, „Gott hat es gut
mit uns gemeint. Er hat dir ans Herz geredet durch des alten
Simmelers Unglück, denn schau, der alte Simmeier war doch kein
wahrhaft frommer Mann, sondern ein Heuchler. Das Wasser
aber, nein, nein Schatz, das habe ich dir nicht in die Tanse ge-
schüttet. Ich trug einfach den vollen Milchkessel, statt Ihn ins
Pfännchen zu leeren, wieder leise, leise, wie am Beinhaus um
Mitternacht, am Brunnen vorbei in den Stall und als du gerade
der großen Kuh das Bett machtest, schüttete ich flink die Milch
in die Tanse hinein."
„Frau !"
85
Da hatte er sie schon um den Leib und klirrend fuhr der
Kessel zu Boden und triefend über und über, wie eine Bergweid
im Donnerwetter, umhalsten und küssten sie sich.
Er umhalste sie immer wieder und konnte sie nicht losgeben.
Ein Hüsteln war drüben im Weidweg.
Sie fuhren auseinander.
„Meinetwegen könnt ihr euch fressen," sagte eine Stimme,
die den beiden jetzt so merkwürdig, so ganz anders als sonst
vorkam.
Der alte Simmeier lief, die Tanse lose am Rücken, die Hecke
entlang, mit falschen Äuglein hinüberblinzend. Er sah aus wie
einer, dem der gerechte Gott auf dem Weg unversehens begegnete.
Heute zum erstenmale gewahrten sie seine verwetzte Fuchspdz-
kappe. Es war ihnen, es seien in ihrem Pelz auch noch irgend-
wo zwei listige, fuchsfarbene Augen verborgen. Sie ließen ihn
stumm vorüberziehen.
„He, ihr," rief er zurück, als er ein Stück vom Hause weg
war, „ihr braucht mir nicht so großartig nachzugaffen und eucta
auf die Braven herauszuspielen. Euer Großvater ist auch einmal
wegen Holzfrevel gebüßt worden. Er zwar hat die Buße ver-
dient, ich aber nicht. Wenn es eine Gerechtigkeit auf der Welt
gäbe und nicht immer die Schlechten Obenausschwingen würden,
so wäre mir's heute nicht so ergangen und ein anderer wäre der
Milchfälscher, denn," rief er kreischend, beide Hände am Mund,
herüber: „Ich hab's jetzt heraus und meine Kühe sollen künftig-
hin lauter rote Milch geben, wenn's nicht heilig wahr ist, dass
der Schelmenamtsschreiber die Milchproben verwechselt hat."
Dann zog er die Fuchspelzkappe über den Kopf und ver-
schwand ziemlich rasch im staudenbestandenen Hohlweg.
Der Brüüschmoosbauer bückte sich und strekte die Hand
aus, als wollte er einen Stein aufheben, aber sein Weib haschte
sie, zog ihn an ihr hochklopfend Herz und sagte, ihm ernst m
die Augen sehend: „Wie, Stöffi, du bist's, der dem Milchfälscher
einen Stein nachwerfen will?"
Da nahm er ihre Hand und ruhigen Schrittes machten sie
sich in ihr Tätschhäuschen.
aan
86
SPRACHENFRAGE IN OSTERREICH
Als im Spätherbst 1909 der österreichische Kaiser der Schweiz
die Ehre erwies, auf seiner Bodenseefart einen kurzen Aufenthalt
im Hafen von Rorschach zu machen, um sich daselbst von den
schweizerischen Behörden begrüßen zu lassen, fiel es auf, dass
ihn Bundespräsident Comtesse in französischer Sprache begrüßte.
Einige Blätter hielten sich dann auch darüber auf; doch beruhigte
man sich bald mit der Auskunft, dass ja in der Schweiz Französisch
und Deutsch völlig gleichberechtigt seien und dass Herr Comtesse
ganz gesetzlich gehandelt habe, als er in seiner Muttersprache
den fremden Monarchen begrüßte.
Etwas mehr Staub wirbelte die tessinische Sprachenangelegen-
heit gegen Ende des nun abgelaufenen Jahres auf. Die Tessiner
sind neuerdings der Ansicht, dass ihre Sprache, die gesetzlich als
Landesprache ja der deutschen und französischen gleichgestellt
ist, im Verkehr mit den eidgenössischen Behörden zu wenig zu
ihrem Rechte komme. Sie beklagten sich besonders darüber, dass
die Verwaltung der Qotthardbahn die Deutschen über Gebühr
bevorzuge, indem sie für deren Kinder im Tessin deutsche
Schulen errichtet habe und bei der Besetzung von Stellen die
Deutsch-Schweizer auf Kosten der Tessiner einen zu großen An-
teil bekämen. Ein fast vulkanischer Ausbruch dieser Stimmungen
erfolgte im Tessiner Großen Rat, fand aber nicht einen geeigneten
Boden, um sich weiter auszubreiten; im Gegenteil wurde ihm
von der Mehrheit des Rates stürmisch Einhalt geboten und
die tessinische Regierung wies in einer würdigen Antwort die
bitteren Vorwürfe zurück, die die Eidgenossen jenseits der Berge
hätten treffen sollen, im Nationalrat gab dann in schöner, tempe-
ramentvoller, aber doch gemäßigter Rede Manzoni noch einmal
jenen Stimmungen, die die Tessiner gegenwärtig bewegen, Aus-
druck ; doch fühlte man seinen Worten deutlich an, dass er als
Eidgenosse diese Sache zur Sprache bringen wollte, und damit
war dem Kampfe der Stachel genommen.
Wer diese „Sprachenkämpfe" in der Schweiz, wenn man sie
schon so nennen will, in den Tagesblättern verfolgte, wurde un-
willkürlich an die entsprechenden Streitigkeiten in unserem großen
östlichen Nachbarreiche erinnert. Gerade in der Tessiner Angele-
87
genheit wurde auch von Schweizer Blättern betont, dass wir in
unserem Vaterlande i^eine Nationah'tätenkämpfe nach Art der
österreichischen wollen. Denn seit mehr als einem halben Jahr-
hundert — im wesentlichen seit 1848 — wird die große Monarchie
in fast allen ihren Teilen von diesem Kampf der Nationen ge-
schüttelt und bis ins Innerste durchwühlt, und es ist heute noch
nicht abzusehen, ob und wie und wann dem Streit ein Ende ge-
macht werden kann. Kein Jahr vergeht, ohne dass die Zeitungen
aus verschiedenen Teilen der Monarchie von schlimmen Unruhen
melden, und fast immer ist es der Sprachenstreit, der Studenten und
Beamte, Volksvertreter und Zeitungsschreiber in leidenschaftlichem
Streit an einander geraten lässt. Nur einige Beispiele hiervon aus
den letzten Jahren:
1. In Prag haben die deutschen Studenten die Gewohnheit,
am Sonntag in ihren Farben (es sind die alten Burschenschafter-
farben schwarz-rot-gold, in Österreich das Sinnbild der deutschen
Gesinnung) auf der breiten Straße, „der Graben" genannt, auf
und ab zu bummeln. Darin sieht die in der Mehrheit tschechische
Bevölkerung der Stadt eine unerhörte Herausforderung und sucht
die Deutschen mit allen Mitteln daran zu hindern, zuletzt in den
Dezembertagen 1908, gerade als das 60jährige Jubiläum der
Regierung Kaiser Franz Josefs in der ganzen Monarchie festlich
begangen werden sollte. Die Deutschen wurden mit Steinwürfen
und Gebrüll verfolgt und die Unruhen wurden so gefährlich, dass
am 2. Dezember, gerade am Jubiläumstag, über die Hauptstadt
Böhmens das Standrecht, so viel wie der Belagerungszustand, ver-
hängt werden musste. Diese letzten Kämpfe sind nur eine sound-
sovielte Wiederholung der selben Vorgänge ; besonders heftig war
der Kampf 1897 in Prag; seither haben sich die Deutschen so
viel als möglich aus der tschechischen Hochburg zurückgezogen;
nur Professoren und Studenten, die an die Hochschule gebunden
sind, und Geschäftsleute halten auf dem verlorenen Posten aus.
2. Bekannt und berüchtigt sind auch die immer wieder-
kehrenden Unruhen in Innsbruck. Die aus dem italienisch
sprechenden Südtirol herkommenden Studenten empfinden es als
eine Schmach, an der deutschen Landesuniversität Innsbruck
deutsche Vorlesungen hören zu müssen und geben sich auch
damit nicht zufrieden, dass die Regierung dort besondere Kurse
88
in italienischer Unterrichtssprache für sie einrichten will. Sie
wünschen eine eigene Universität auf italienischem Gebiet, am lieb-
sten in Triest, wo sie ganz unter sich sind. Bis dahin sind sie Irre-
dentisten, das ist die noch Unerlösten, deshalb gefährlich, weil
sie nach ihren Stammesgenossen im Westen schauen und an
Vereinigung mit Italien denken. Die Vorgänge in Innsbruck
fanden im November 1908 eine blutige Wiederholung in Wien,
wo italienische und deutsche Studenten Umzüge veranstalteten.
Von den einen wurde das Garibaldilied, von den andern die
Wacht am Rhein gesungen, also beides ausländische Lieder; drei-
unddreißig Studenten erhielten in dem darauffolgenden Hand-
gemenge mit Revolverschüssen und Stockhieben Verletzungen, und
die Universität musste, damit weiteres Unglück verhütet wurde,
geschlossen werden.
3. Ähnliche Forderungen wie in Innsbruck von den Italienern
werden an der galizischen Universität Lemberg von den ruthe-
nischen Studenten erhoben und haben seit Jahren immer wieder
zu blutigen Zusammenstößen geführt. Am 11. April 1908 wurde
der galizische Statthalter Graf Potocki von einem ruthenischen
Studenten erschossen, nicht weil er ein besonders harter Bedrücker
der Ruthenen gewesen wäre, sondern als Vertreter der pol-
nischen Mehrheit des Landes (V? =- 57 7o), die den Ruthenen,
einem den Russen verwandten Stamm (V? = 43 7o). im Landtag
nicht die entsprechende Vertretung (21 anstatt 65 Vertreter) und
an der Universität nicht ihre eigene Unterrichtssprache durch
Errichtung von ruthenischen Lehrstühlen gewähren wollen.
4. Wie weit auch das staatliche Leben, die Verhandlungen
der Volksvertretung von den Kämpfen um die Sprache beherrscht
ist, geht daraus hervor, dass 1908 im böhmischen Landtag
von 5 Aktuariaten nicht ein einziges an die Deutschen vergeben
wurde, die doch 37 7» der Bevölkerung des Landes ausmachen,
und dass von 540 böhmischen Landesbeamten nicht weniger als
515 tschechischer Nationalität sind.
Alle diese Beispiele, die hier nur aus einer Unmenge von
Tatsachen herausgegriffen sind und bloß die letzten Jahre betreffen,
zeigen zur Genüge, dass in Österreich der Kampf um die Sprache
und Nationalität die Gemüter in einem Grade erregt und erfüllt,
von dem wir in unserem Vaterland glücklicherweise weit entfernt
89
sind, ja kaum eine Ahnung haben, soweit sie sich auf unsere
Landessprachen beziehen.
Und doch haben auch wir in der Schweiz eine Sprachen-
und Nationahtätenfrage, und es lässt sich nicht leugnen, dass da
und dort zwischen Welsch und Deutsch eine gewisse Spannung,
eine „Animosität" zu Tage tritt, die gar nicht so leicht zu über-
winden ist. Auch bei uns ist die Sprachgrenze nicht unverrück-
bar, und wer nahe an ihr wohnt, zum Beispiel in Bern oder
Freiburg, der erfährt es deutlich, dass es sich auch hier um das
Vorrücken oder Zurückweichen einer der beiden Sprachen und
Nationalitäten handelt. Man merkt dies schon an der veränderten
Schreibung der Ortsnamen wie Bienne-Biel, Tavannes-Dachsfelden,
Del^mont-Delsberg und vieler andern. Neuenburg, Waadt und Genf
werden anderseits von der deutschen Schweiz geradezu über-
flutet, nicht nur durch die Töchter und Söhne aus guten Häusern, die
im Welschland den feinen Schliff an sich erfahren sollen (das
hätte so viel nicht zu bedeuten, da die Spuren gewöhnlich nicht
sehr tief gehen !), sondern vorwiegend durch dienende Menschen :
Knechte, Mägde, Handwerker, so dass man in Lausanne oder
Neuenburg auf den Straßen schon bald so viel Schweizerdeutsch
als Französisch zu hören bekommt. Anderseits gibt es in Bern
so viele französisch sprechende Beamte, dass das welsche Kultur-
element in der Bundesstadt einen starken Einschlag bildet, be-
sonders im geistigen Leben (Theater, literarischer Geschmack).
Aber trotz diesem Hin- und Herwogen der Welschen und Deut-
schen herrscht kein eigentlicher Kampf; man kennt und versteht
sich doch ziemlich gut hüben und drüben; wir fühlen uns einig
als Schweizer durch die Geschichte, die uns zu einem Staats-
wesen zusammengeschmiedet hat, und es ist kaum zuviel gesagt,
wenn ich die Behauptung ausspreche: der deutsche Schweizer
steht und fühlt sich im allgemeinen dem welschen Schweizer
näher als dem Reichsdeutschen oder dem Deutsch-Österreicher,
und der welsche Schweizer möchte nicht Franzose werden, wenn
er vor die Wahl gestellt würde, ob er seine Schweizerische
Eigenart aufgeben solle. Er nennt sich mit Stolz: „Suisse ro-
mand", nicht „fran^ais".
Warum nun, so fragen uns die Österreicher, wenn man auf
ihren Nationalitäten- und Sprachenstreit zu reden kommt, vertragen
90
wir uns so leidlich, obschon doch die Gegensätze und Reibungs-
-flächen nicht fehlen, mit unsern romanischen Mitbürgern? Doch
wohl deshalb, weil wir gegenseitig auf dem Fuße völliger Gleich-
berechtigung stehen: alle drei Landessprachen: deutsch, die Sprache
der großen Mehrheit (70 Vo), französisch, die einer großen Minder-
heit (22 7o). italienisch, die eines kleinen Bruchteils (6,7"/«) sind
im Bundesstaat anerkannt, finden Verwendung und niemand denkt
daran, eine von ihnen in ihrem Gebrauch und ihrer Geltung zu
schmälern, so weit sich diese auf das öffentliche Leben bezieht.
Die Anwendung des Italienischen bleibt natürlich etwas beschränkt,
entsprechend dem geringen Prozentsatz der Bevölkerung, von dem
es gesprochen wird. Das Rätoromanische, die Muttersprache von
nur 1,27». hat im eidgenössischen Verkehr keine öffentliche
Geltung, wohl aber innerhalb des Kantons Graubünden; dort
werden bei der Herstellung der Primarschullesebücher sogar die
abweichenden romanischen Mundarten durch besondere Ausgaben
berücksichtigt, so dass es fünf Ausgaben der Fibel gibt: eine
deutsche, eine Italienische und drei romanische.
So steht unser mehrsprachiges Zusammenleben im wesent-
lichen auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit. Jedem wird das
Seine, und sollte sich einer einmal verkürzt glauben, so wehrt er
sich für sein gutes Recht, aber im Vertrauen, dass ihm im Grunde
niemand dasselbe bestreitet, da alle Bürger des selben Rechts-
staates und Glieder eines demokratischen Bundes sind, der die
Einzelnen im Lauf der Jahrhunderte einander näher gebracht hat,
als es die Bande der Sprache allein vermögen.
Warum geht es nun den Österreichern ganz anders? Warum
geht bei ihnen der Stammesverband vor dem staatlichen ? Warum
ist ihnen der sprachliche Zusammenhang der einzig wertvolle?
Warum streben die Nationalitäten mit aller Macht in Hass und
Leidenschaft auseinander, so dass der große Kaiserstaat immer
wieder aus den Fugen zu gehen droht? Diese Fragen stehen
zur Beantwortung; sie bilden das große Problem, die Frage für
das heutige Österreich (etwa so wie die soziale Frage für die
ganze heutige Kulturmenschheit die Hauptfrage geworden ist).
Versuchen wir im folgenden die Verhältnisse möglichst klarzu-
stellen, dann werden wir auch die uns so fremd anmutenden
Kämpfe besser verstehen und würdigen können.
91
Die österreichisch-ungarische Monarchie ist zunächst wie die
Schweiz im Laufe der Jahrhunderte aus ganz verschiedenen Be-
standteilen aneinandergefügt worden, die sich das Haus der Habs-
burger allmähhch erworben und unter seiner Herrschaft von Wien
aus zu einem Staatswesen vereinigt hat. Aber während unsere
Eidgenossenschaft ein Bund von i<leinen Nachbarrepubhken auf
engem Räume blieb, der erst neuerdings ein einheitlicheres Ge-
präge als Bundesstaat angenommen hat, verließen die einst schwei-
zerischen Grafen ihren heimatlichen Boden und fügten Reich an
Reich in den weiten Donauebenen, brachten die ganzen Ostalpen
und nach Norden die Sudetenländer Böhmen, Mähren und Schle-
sien unter ihr Szepter; nicht einmal die Nordkarpathen geboten
ihnen Halt, denn jenseits davon dehnt sich das weite galizische
Tiefland, der Anteil Österreichs am ehemaligen Polen, aus. Auf
dieser ungeheuren und vielgestaltigen Fläche von 625 000 Quadrat-
kilometern, auf der mehr als fünfzehnmal die Schweiz Platz hätte,
lebt und bewegt sich eine Bevölkerung von über 47 Millionen,
die ihresgleichen sucht in der Verschiedenheit ihrer Abstammung
und Sprache. Es ist eine wahre Musterkarte von Nationalitäten,
gegenüber deren Buntheit unsere Sprachenverschiedenheiten nicht
viel zu sagen haben.
In Ungarn sind bekanntlich die den Finnen und Türken ver-
wandten Magyaren das Herrenvolk; sie haben es verstanden, der
östlichen Reichshälfte ihre Sprache aufzuzwingen; nur die Deut-
schen in Siebenbürgen, die sogenannten „Sachsen", die im Mittel-
alter aus Lothringen eingewandert sind und sich in den Ost-
karpathen durch die Jahrhunderte hindurch behauptet haben, ge-
nießen noch einige Sonderrechte inbezug auf ihre Sprache in
Kirche und Schulwesen, die sie aus eigenen Mitteln erhalten ; die
übrigen deutschen Kolonisten, die in ganz Ungarn zahlreich ver-
streut leben, besonders in den Ebenen, müssen sich in das selbe
Los wie die andern «/cA/magyarischen Nationen in Ungarn finden,
deren Sprache im öffentlichen Verkehr der magyarischen hat
weichen müssen. Es sind dies:
im Norden von Ungarn die Slowaken,
im Osten (Siebenbürgen) die Rumänen (etwa 3 Millionen),
im Süden der Drau die Slovenen, Kroaten, die nächsten
Verwandten der Serben.
92
In Ungarn mit seinen etwa 20 Millionen Einwohnern herrscht
also ziemlich einheitlich die Sprache der 8 Millionen Magyaren;
die Kämpfe haben in dieser Reichshälfte fast aufgehört, weil der
starke Wille zur Macht, den die Magyaren zeigen, Sondergelüste
kaum mehr aufkommen lässt.
Ganz anders stehen die Dinge in der westlichen Hälfte der
Monarchie, im sogenannten cisleithanischen Österreich. Die Ver-
teilung der Nationen ist hier nicht so bunt, wie wenn man die
ganze Monarchie ins Auge fasst, aber noch bunt genug, und hier
ist der eigentliche Kampfplatz, auf dem der Sprachen- und Rassen-
kampf ausgefochten wird. Österreich ist ja ein altes Kolonialland,
von den deutschen Ansiedlern um 1100 von Bayern aus langsam
aber stetig in Besitz genommen und für deutsche Kirche, Sprache
und Gesittung gewonnen, aögewonnen den Slaven, denen der
ganze Osten Europas heute noch gehört, und die ursprünglich
auch den ganzen Osten des heute von Deutschen bewohnten
Landes besetzt hielten. Die Eroberung des Donaugebietes bis
über Wien hinaus für das deutsche Reich durch den bayrischen
Stamm machte die Ostmark, dann das Herzogtum Österreich zu
einem blühenden Grenzstaat, in dem die deutsche Arbeit und
Sangeslust wie kaum irgendwo in deutschen Landen sich entwickel-
ten : sind doch die österreichischen Bauern als die wohlhabendsten
bekannt gewesen und stammen doch die größten mittelhoch-
deutschen Dichtungen, wie die des Nibelungen- und des Gudrun-
liedes, auch Walter von der Vogelweide, aus dieser Gegend. Die
südlichen Alpengegenden aber, wie Kärnten und Krain, gehörten
zwar zur deutschen Herrschaft und blieben den Habsburgern bis
heute Untertan, wurden aber den Slaven nicht völlig entwunden;
selbst der Süden der Steiermark ist noch vorwiegend von Slaven
besetzt. Böhmen und die anderen Sudetenländer, Mähren und
Schlesien, die 1278 in den Interessenkreis von Österreich traten,
aber erst 1526 in dessen Besitz gelangten, blieben dagegen im
wesentlichen unter slavischem Einfluss. In Böhmen und Schlesien
fand unter dem Schutze der slavischen Fürsten eine starke deutsche
Einwanderung statt, die aber zunächst nicht die Oberhand bekam.
Fast gar nicht berührt vom deutschen Geist ist endlich Galizien,
die große polnische Erwerbung der Habsburger (seit 1772) mit
78500 Quadratkilometern, fast doppelt so groß wie die Schweiz
93
und mit mehr als doppelt so starker Bevölkerung (7,3 Millionen),
Durch diese großen nichtdeutsbhen oder nicht reindeutschen Er-
werbungen der Habsburger, zu denen 1526 noch Ungarn kommt,
von dem wir hier absehen können, ist das heutige Österreich zu
einem Staate geworden, in dem die Slaven den Deutschen gegen-
über die Mehrzahl haben. Die Verteilung der Nationen ist fol-
gende :
Zahl D..«,-„f-. Parlaments- \u«t,„«rf
Millionen P'o^ente Vertreter Wohnort
Deutsche 9 36 233 = 46%
[Tschechen 6 23 108 Böhmen, Mähren, Schlesien
IS^MIl j f*o'^" ^ ^^ ^^ Galizien und Schlesien
Slaven I R^^henen 3 13 33 Ost-Galizien
( Südslaven 2 8 37 Süd-Steiermark, Karten, Krai«
Italiener 0,73 3 19 Süd-Tirol, Küstenländer
Rumänen 0,23 1 5 Bukowina
Zu diesen Zahlen und Namen ist folgendes beizufügen: Die
Deutschen haben fast ganz die alten Kernlande an der Donau im
Besitz; Ober- und Nieder-Österreich, auch Tirol, so weit die Be-
völkerung nicht italienisch ist. In den Städten, besonders in Wien,
hat freilich in den letzten Jahrzehnten das tschecho-slavische Ele-
ment unter der arbeitenden Bevölkerung so stark zugenommen,
dass in den Schulen bereits darauf Rücksicht genommen werden
muss. Die Südslaven sind in Krain und den Küstenländern vor-
wiegend vertreten, in Kärnten und Steiermark dringen sie vom
Süden her immer weiter vor. Auch die steirische Hauptstadt Graz
hat schon ihre Nationalitätenkämpfe gehabt, von denen zum Bei-
spiel in Roseggers Erzählungen ein Echo zu hören ist.
Die Slaven in Galizien sind, wie wir bereits wissen, unter
einander in erbittertem Hausstreit, indem die Polen sich als das
Herrenvolk betrachten und den in starker Minderheit vorhandenen
Ruthenen (einem mit den Russen näher verwandten Stamm) nicht
die Gleichberechtigung gönnen. Diese Slavenstämme kommen
also den Deutschen gegenüber in Österreich nicht in erster Linie
in Betracht, auch stehen die Polen vielfach mit den Tschechen
nicht auf bestem Fuße. (Vgl. dazu die ganz andere Stellung der
drei Millionen Polen im Osten des deutschen Reiches!)
So bleibt den Deutschen gegenüber noch der große Block
der sechs Millionen Tschechen in Mähren, Böhmen und Schlesien,
94
die sich in bewusstem Gegensatz zu dem deutsciien Volkei
befinden. ^^
Fasst man diese Völker ins Auge, so wird man sich davon;
überzeugen, dass es nicht leicht ist, sie alle unter einen Hut zu;
bringen. Wenn es sich um die Gesamtregierung von Österreich
handelt, so wie in der Schweiz um Bundesangelegenheiten, geht
es nicht woh! an, außer der deutschen und italienischen auch noch
mindestens vier slavischen Sprachen als öffentlichen Landessprachen
die Gleichberechtigung einzuräumen ; man denke nur an das Kom-'
mando im Heer oder an das Sprachengewirr, das im Parlament
entstehen würde. Hier hat das Deutsche als die älteste von den
m Österreich in Betracht kommenden Kultursprachen entschieden
den Vorzug als öffentliche, von den Staatsbehörden anzuwendende
Verkehrssprache, und auch in der Volksvertretung, dem Abge-
ordnetenhaus und dem Herrenhaus des österreichischen Reichs-
rats ergibt es sich wie von selbst, dass zur allgemeinen Ver-
ständigung das Deutsche gewählt wird. Kommt es doch sogar
vor, dass man auf panslavischen Versammlungen zum Deutschen
als Nothelfer greifen musste, weil sich die verschiedenen slavi-
schen Stämme nicht verstanden. Das Deutsche ist eben in der
Österreich-ungarischen Monarchie im Lauf der Jahrhunderte die
internationale Verkehrs- und Kultursprache geworden; man kommt
überall durch damit, etwa wie mit dem Französischen unter ge-
bildeten Europäern und im diplomatischen Verkehr,
Jeder Slave, der im öffentlichen Leben des Gesamtreiches
eine Rolle spielen will, wird sich also das Deutsche aneignen.
Dies fällt den Slaven im allgemeinen durchaus nicht schwer, da
ihre eigene Sprache komplizierter ist als die unsrige und ihnen
eine besondere Sprachbegabung eigen ist. Sie beherrschen das
Deutsche oft in erstaunlichem Grade, ähnlich wie die Juden, die
sich in Österreich und anderswo so leicht der deutschen Sprache
und Kultur anpassen.
So gilt das Deutsche als Staatssprache in all den Angelegen-
heiten, die ganz Österreich angehen: die Postwertzeichen tragen
deutsche Aufschriften, im Heer wird selbst noch in Ungarn nur
deutsches Kommando gehört, während freilich der dienstliche
Verkehr innerhalb kleinerer Verbände und der Unterricht der
Soldaten vielfach in der Landessprache vor sich geht. Die kaiser-
95
liehen Handschreiben und Diplome, das heißt die persönlichen
Willensäußerungen des Monarchen, werden in Österreich deutsch
abgefasst und der alte Kaiser hält darauf, dass es wenigstens in
der Armee bei diesen Gepflogenheiten bleibt.
So weit wäre nun alles klar und einfach geregelt und es
scheint kein Angriffspunkt für einen Kampf vorhanden zu sein.
Aber die Slaven denken und empfinden über die gegenwärtig
noch geltenden Bestimmungen ganz anders. Für sie ist das
Deutsche nicht die Vermittlungssprache, die man sich aus rein
praktischen Gründen gefallen lassen kann, so wie man etwa im
Handel das Esperanto mit Vorteil gebraucht — für sie ist das
Deutsche die Sprache des Herrenvolkes, dessen Bevormundung
sie sich nach Jahrhunderten stummer Duldung zu entziehen be-
gonnen haben. Schon fangen die tschechischen Soldaten beim
Verlesen an, anstatt mit „Hier" mit dem tschchischen Worte „Zde"
zu antworten, was vorläufig noch eine Disziplinarstrafe mit sich
bringt, deshalb aber gerade als eine Heldentat betrachtet wird.
Hier, an einer scheinbar recht unbedeutenden Erscheinung,
zeigt sich uns in ursprünglicher Stärke die geistige Macht, welche
diese Kämpfe ins Leben gerufen hat, das Nationalgefühl. Es
offenbart sich am deutlichsten in dem Gebrauch der Sprache,
denn diese ist mit dem Leben einer Volksgemeinschaft, mit deren
tiefstem Fühlen und Denken so unauflöslich verknüpft, dass sie
nie und nimmer als rein praktisches Verkehrsmittel angesehen
werden kann, sondern als Ausdruck des inneren Lebens eines
Volkes, dessen köstlichstes Eigentum sie ist. Das wissen wir Deutsche
von unserer Sprache; sie ist unsere Angelegenheit, an deren Aus-
gestaltung wir durch den täglichen Gebrauch selber mitarbeiten
dürfen, wie Uhland uns so schön zugerufen hat:
So schaffe du inwendig
Tatkräftig und lebendig,
Gesamtes Volk, an ihr!
Ja, gib ihr du die Reinheit,
Die Klarheit und die Feinheit,
Die aus dem Herzen stammt!
Gib ihr den Schwung, die Stärke,
Die Glut, an der man merke,
Dass sie vom Geiste stammt.
96
Dieser Sinn für die Unveräußerlichkeit und Kostbarkeit der
eigenen Sprache, durch welchen sich vornehmlich das National-
gefühl kund gibt, ist nun im neunzehnten Jahrhundert in Europa
bei einer Reihe von Völkern mit niegeahnter Stärke erwacht.
Während man im achtzehnten Jahrhundert die Nationalität als
eine enge Schranke des Menschentums ansah, als eine Schranke,
die ein reifer Mensch zu überwinden habe, um zum Weltbürger
zu werden (vgl. unsere Klassiker Goethe und Schiller), wurde
zuerst den durch Napoleon unter die Füße getretenen Völkern
bewusst, was sie an ihrer Nationalität hatten ; Spanier und Deutsche
erhoben sich und schüttelten das Joch des fremden korsischen
Weltbürgers oder Weltherrschers von sich. Die erste Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts sah die Freiheitskämpfe der Griechen
und der Polen, diese leider erfolglos, aber das übrige Europa sah
sie nicht nur, es erlebte sie mit. Denn besonders durch die
deutsche Romantik war der Sinn für die Schönheit des Volkstums,
für die Eigenart in Sitte und Sprache unter den Gebildeten er-
wacht; die weltbürgerlichen Anschauungen der Klassiker traten
zurück vor der Freude am einheimischen Volkstum, das man nun
mit Begeisterung, Eifer und Innigkeit pflegte und bis in die sagen-
umwobene Vergangenheit zu erforschen begann. Deutschland
war der eigentliche Herd dieses neuerwachten geistigen Lebens,
aber das Feuer wurde auch in andere Nationen hinübergetragen
und die deutschen Forscher waren nicht die letzten, selbst fremdem
Volkstum mit der gleichen Liebe nachzuforschen. So erwachte
das Nationalgefühl und zwar mit der Richtung auf politische Be-
freiung und Einigung zunächst in Italien, wo es in den sechziger
Jahren zur glücklichen Gestaltung eines einheitlichen Königreiches
führte ; so erwachte es (nicht zum wenigsten befruchtet durch
deutschen Forscherfleiß und Eifer) auch unter den Slaven Öster-
reichs in den dreißiger und vierziger Jahren, und die Deutschen
waren die ersten, die sich darüber freuten und ihnen recht gaben.
Besonders in Böhmen wurde eifrig nach den Herrlichkeiten ver-
gangener Zeiten geforscht: Deutsche und Tschechen erbauten sich
an der stolzen Geschichte ihres gemeinsamen Königreiches, man
lebte und schwelgte im Mittelalter, in der Zeit, wo Karl Kaiser IV.
als König von Böhmen Deutsche und Tschechen väterlich regiert,
wo er Prag zur glänzenden Kaiserstadt gemacht hatte; dann
97
wurden die hussitischen Erinnerungen neu belebt; selbst deutsche
Dichter wie Lenau und Alfred Meißner verherrlichten den tschechi-
schen Nationalhelden Ziska, den einäugigen Hussitenführer. Nicht
zu vergessen ist auch die eindringliche Geschichtsforschung, mit
der damals besonders der Prager Professor Palacky einsetzte.
Allein es blieb hier nicht bei der friedlichen Begeisterung für
den Glanz der Vergangenheit Böhmens; denn bald fühlten sich die
zu eigenem Nationalbewusstsein erwachten Tschechen im Gegen-
satz zu den Deutschen, die sie in Böhmen neben sich, in Ge-
samtösterreich über sich hatten. Hier ist der eigentliche Ursprung
des Sprachenkampfes in Böhmen und Österreich; er hat zum
erstenmal in der Revolution von 1848 deutliche Gestalt ange-
nommen und seither durch ganz verschiedene Epochen hindurch
eher zu- als abgenommen. Wir wenden uns im folgenden aus-
schließlich den Verhältnissen in Böhmen zu; denn hier, nicht nur
in der Verfassung des Gesamtstaates liegt der Ursprung des
Sprachenkampfes für Österreich. Der nationale Kampf der Un-
garn ist zwar älter und auch von größter Bedeutung; aber er
ist eine Angelegenheit für sich und in der Hauptsache bereits
entschieden, so dass wir hier auf seine Darstellung verzichten.
Warum wurden die Tschechen, sobald sie sich als eigene
Nation zu fühlen begannen, den Deutschen feind? Ist es nicht
möglich, das eigene Volkstum zu pflegen, ohne das des Nachbars
als feindlich zu betrachten oder anzugreifen, ja es verdrängen zu
wollen? Musste es notwendig zu einem Kampf der beiden Nationen
kommen, wie er heute herrscht, und wenn er einmal begonnen
hatte, worauf zielten die beiden Nationen und wie wäre der Kampf
schließlich beizulegen? Dies sind einige Fragen, die wir im fol-
genden zu beantworten suchen. Zunächst wird es sich lohnen,
dass wir uns den Kampfplatz und die beiden Kämpfer, besonders
den unserm Volkstum fremden, etwas näher ansehen und sie
aneinander messen.
Schon dem Sekundarschüler prägt sich die äußere Gestalt
Böhmens als Viereck ein, das auf drei Seiten von deutschem
Reichsgebiet umgeben ist und durch die Ketten des Böhmer-
Waldes, der Erzgebirges und der Sudeten deutlich von diesem
98
geschieden wird. Nach Südosten ist das Viereck nur durch
niedrige Bergzüge von Mähren abgegrenzt, das denn auch in der
Geschichte oft mit Böhmen zusammengenannt wird und ebenfalls
in der Mehrzahl von Tschechen bewohnt wird. Böhmen hat
einen Flächeninhalt von 52 000 Quadratkilometern, ist also um
ein Viertel größer als die Schweiz; dabei ist es aber mit 6,3 Mil-
lionen Einwohner bedeutend dichter bevölkert als unser Vaterland
(122 : 82 auf 1 Quadratkilometer). Diese Tatsache lässt darauf
schließen, dass Böhmen ein an Arbeitsgelegenheit besonders reiches
Land sein muss, und in der Tat, neben Spanien gibt es wohl
kein Land in Europa, das so reich an Bodenschätzen und andern
Rohmaterialien ist; dabei wird es aber in ganz anderem Maße
ausgebeutet als das vielfach brachliegende Spanien. Böhmen
besitzt vor allem ungeheure Lager von Braunkohlen, die sich süd-
lich vom Erzgebirge viele Stunden weit in dicken Schichten aus-
breiten ; im Innern findet sich auch Steinkohle, und wie dies oft
vorkommt, gibt es in dessen Nähe Eisenerze , welche besonders bei
Kladno und Prag gewonnen werden. Im Erzgebirge war in
früheren Jahrhunderten die Ausbeute an edleren Metallen wie
Silber, Kupfer, Zinn, Zink viel bedeutender; doch bestehen heute
noch eine Anzahl Erzgruben und in den letzten Jahren hat die
Grabung nach metallartigen Stoffen, aus denen Radium gewon-
nen wird, dieser Gegend wieder eine neue Wichtigkeit verschafft.
Die Randgebirge, aber auch das Hügelland im Innern sind so-
dann reich an Waldbestand; der Holzhandel wird durch das
prächtig regelmäßige System von Wasseradern und eine von den
Waldbesitzern im Großen betriebene Flößerei, sowie durch den
Bedarf an gutem Holz für den Schiffbau sehr begünstigt. In dem
mehr flachen Lande im Innern wird die Landwirtschaft mit Erfolg
betrieben: Getreide- und besonders Rübenbau bringen auf dem
fruchtbaren und leicht zu bebauenden Boden schöne Erträge.
FRAUENFELD TH. GREYERZ
(Schluss folgt)
QDD
99
AUSSTELLUNQSZENTRALEN FÜR
KUNST UND KUNSTGEWERBE
(Schluss)
Anlehnend an schweizerische Künstlerausstellungen müsste man
wohl auch ab und zu mit der Schweiz verwandte Künstler des
Auslandes zeigen, dort, wo die eigene Produktion nicht erheblich
genug wäre, würde man musterhafte Vorbilder aus schweizerischen
Gewerben der Vergangenheit oder gegenwärtige Industrieerzeug-
nisse des Auslandes beifügen. Auch sonst müssten zwischen-
hinein die tüchtigsten Erzeugnisse des Auslandes zur Anschauung
gelangen. Eine gute Auswahl an bedeutenden ausländischen Mustern
ließe sich durch einen regelmäßigen Besuch auswärtiger Kunst-
und Gewerbeausstellungen leicht treffen; sie ist unbedingt not-
wendig, wenn wir die Konkurrenz mit Erfolg aufnehmen wollen.
Die Kunst der Meisterschaft für die Zentrale läge also mehr
in der Auswahl der Objekte als im Arrangement; doch soll auch
das letztere nicht vernachlässigt werden, einfach und gediegen
bleibe auch hier das Prinzip.
Diese Ausgleichspolitik hat jedenfalls mehr Vorzüge als Nach-
teile. Tritt sie regelmäßig und rasch ein, dann erspart sie viele
Zeit und teure Reisen und den speziellen Wünschen Einzelner wie
ganzer Gruppen kann dabei nach Möglichkeit immer entgegen-
gekommen werden. Übersichtliche Musterzusammenstellungen,
die für den Einzelnen zu teuer wären, kann sich so die Mehrzahl
bequem und leicht beschaffen.
Bei Ausstellungen von Objekten schweizerischer Herkunft
sollte in erster Linie auf eine erhöhte Absatzmöglichkeit abgestellt
werden, bei Ausstellungen von auswärtigen Produkten handelt es
sich in erster Linie um instruktive Vorführung bester Qualität.
Es ist natürlich äußerst schwierig, in aller Kürze die Richt-
linien des Unternehmens nach allen Seiten auch nur annähernd
klar zu legen, gewisse Details müssten noch eingehender bear-
beitet werden, andere würde erst die Erfahrung und Praxis regeln.
Immerhin darf betont werden, dass diese Darlegung auf jahre-
langen Beobachtungen beruht, dass sie die Resultate eines eifrigen
100
Studiums bedeutet und als solche auch Anerkennung beanspruchen
möchte. Der außenstehende, nicht direkt beteiligte Interessent
kann sich oft einen bessern Einblick in die wirklichen Bedürfnisse
des Landes schaffen, als der Administrator einer bestimmten
kunstgewerblichen Anstalt oder Schule, für deren ausschließliche
Zwecke er immer ganz einzutreten hat. Noch besser ist das
Verhältnis gegenüber dem Ausstellungsspekulanten, dessen einziges
Trachten nach einem möglichst großen persönlichen finanziellen
Erfolge geht und bei dem die Qualität Nebensache bleibt. Auch
wir wollen einen vollen finanziellen Erfolg mit aller Energie er-
reichen, aber dieser darf nicht Endzweck sein, er bleibt uns das
wichtigste Mittel zum Zweck.
Ein nicht zu unterschätzender Vorteil ist es, dass gerade die
Gebiete, die wir für unsere Ausstellung beanspruchen möchten,
zu den ausstellungsfreudigsten zählen, die Künstler, das Kunst-
handwerk, die Kleingewerbe und die gesamte gewerbliche Industrie
kennen den Erfolg und die Wohltaten derartiger Unternehmen,
sie vor allem werden, wenn es nötig sein sollte, auch gewiss
materielle Opfer bringen können. Die Großindustrie wird sich
wohl auch beteiligen, aber für sie ist die Ausstellung weniger eine
neue Erwerbsgelegenheit, sie stellt meist nur aus, um ihren Platz
zu behaupten. Aus diesem Grunde würden wir auch nie zögern,
tüchtige Arbeiten von unbekannten Kleinkünstlern und Kunstge-
werbeschülern aufzunehmen. Ihre Arbeiten würden neben den-
jenigen der Fabriken und des Gewerbes gewiss zu mancher An-
regung Anlass bieten, neue Kräfte kämen rascher zur verdienten
Anerkennung. Nötigenfalls kämen auch als Ergänzung dann und
wann typische Formen und Spezialitäten unseres Landes aus
früheren Perioden zur Aufstellung, um so die historische Ent-
wicklung dem Besucher klar vor Augen zu legen. Auf ähnliche Weise
vielleicht auch ließe sich Wettbewerbausstellungen einrichten;
diese von bestimmten Auftraggebern ausgehenden Ausstellungen
kämen für unsere Zwecke nur insofern in Betracht, als sie wirk-
lich durch hervorragende Qualität sich auszeichnen würden.
Ob man eine solche Ausstellungszentralisation offiziell oder
privat ins Werk setzen soll, kann verschieden beantwortet werden.
101
Vorerst müssen wir bei unsern schweizerischen Verhältnissen be-
tonen, dass eine endgültige Organisation weder ausschließlich
offiziellen noch ausschließlich privaten Charakter tragen kann.
Über die Organisationsfrage müssten in erster Linie die Ver-
treter der Gewerbemuseen, der Gewerbevereine, gewisser indu-
strieller Kreise, der künstlerischen Vereinigungen sich aussprechen
und zu einer ersten orientierenden Beratung eingeladen werden.
Eine Vorbesprechung unter diesen maßgebenden Persönlichkeiten
würde gleich von Anbeginn wesentlich zur Klärung der Situation
beitragen. Wir dürfen es an dieser Stelle nicht unterlassen, zu
betonen, dass die beteiligten Kreise bereits in großer Mehrheit
sich der Idee sehr sympathisch gegenüberstellen. Es bedarf nur
noch eines energischen Vorstoßes, um das Werk ins Leben zu
rufen. Kommt dann bei der beratenden Zusammenkunft ein
positives Resultat in Form einer Resolution zustande, dann mag
eine spätere konstituierende Versammlung sich mit den organi-
satorischen Arbeiten und Wahlen beschäftigen, um dem Unter-
nehmen gleich von Anbeginn ein möglichst festes Gefüge zu geben.
Dieser ersten Generalversammlung müsste jedenfalls noch eine
weitere gemeinsame Aussprache mit sämtlichen Interessenten vor-
ausgehen, sie würde die allgemeinen Richtlinien für die grund-
legende Arbeit festsetzen und die Gründungsschwierigkeiten er-
heblich abklären.
Ähnlich wie wir in Zürich eine Ausstellungszentrale für
schweizerisches Ausstellungswesen im Ausland besitzen, ähnlich
würde nach unserem Erachten eine solche parallele Institution
mit Sitz in Bern, Zürich oder Genf errichtet werden müssen. Wir
glauben, dass eine zentral gelegene Stadt der Schweiz, wie
Bern es ist, den persönlichen Verkehr vielfach erleichtern würde,
während Zürich und Genf als industrielle Zentren für Anregungen
geschäftlicher Natur Vorteile in sich schlössen. Zürich würde
überdies Anlass zu regem Kontakt mit dem Schwesterinstitute
bieten. Der persönliche Verkehr dürfte um so intensiver werden,
je beschränkter das Personal des Bureaus wäre. Zu Anfang
sollte überhaupt nicht mit einem zu großen Apparat eingesetzt
werden; ein gesundes, normales Wachstum und Erstarken erhält
auch hier vor einer gezüchteten Pilzproduktion den Vorzug. Nach
unserem Erachten erscheint es wünschenswert, mit der Protektion
102
des Bundes zu arbeiten, doch nur unter der Bedingung, dass
er seine Subventionen, ähnlich wie es auch von den kanto-
nalen Anstalten zu erwarten wäre, beisteuern würde ohne eine leitende
Rolle einzunehmen. Die Verantwortung fällt auf den leitenden
Ausschuss, dessen Mitglieder sind die Arrangeure des Unternehmens,
fehlen diese, dann kann und soll von kompetenter Seite, also
vom Bund, den kantonalen Interessenten und sonstigen Stimm-
berechtigten eingeschritten werden. Sobald ein künstlerisches und
gewerbliches Unternehmen offiziellen Charakter erhält, tritt nur zu
rasch der Bureaukratismus und die politische Günstlingskonstel-
lation ein, womit selbstverständlich das Unternehmen gleich von
Anfang dem Untergang geweiht wird. Die Organisation soll viel-
mehr ein Föderativverband bleiben mit einer wechselnden, in den
verschiedenen Spezialitäten fachmännischen Exekutive. Sie steht
unter dem Protektorate des Bundes, der Kantone und gewisser
Vereine und Gesellschaften. Politische und kommerzielle Rück-
sichten gegenüber dem einzelnen Aussteller müssen von Anfang,
sofern sie dem Unternehmen schädlich erkannt werden, fern ge-
halten werden. Dabei bleibt der praktische Vorteil für den Aus-
steller doch leitender Grundsatz für die Arrangeure, nur behalten
sich diese die definitive Entscheidung vor. Künstlerisches Ver-
ständnis auf den verschiedensten Gebieten, praktische Gewandt-
heit, strengste Unparteilichkeit und ausgesprochener Weitblick sind
die Grundbedingungen für das Gelingen des Ganzen. Es kann
dabei vielleicht vorkommen, dass ab und zu das Ausstellungs-
begehren eines Interessenten, als der Allgemeinheit zu wenig
förderlich, abgeschlagen werden muss. Findet der Entscheid des
Ausschusses keinen Beifall bei der Öffentlichkeit, dann soll die
Generalversammlung die endgültige Anordnung treffen; verlangt
sie trotzdem die Ausstellung der abgewiesenen Objekte, so scheint
es mir billig, dem Wunsche der Allgemeinheit nachzukommen.
Übrigens wird dieser Fall selten eintreten, da die Auswahl von
einer mehrköpfigen, zum Teil fachmännischen Kommission ge-
troffen wird; sie ist es, welche in Verbindung mit Vorständen
und Direktoren in den Werkstätten, Schulen, Ateliers, Fabriken
und Geschäften die definitive Auswahl trifft. Die Willkür bleibt
damit von selbst ausgeschaltet und dort, wo auswärtige Objekte
zur Aufstellung gelangen, regelt sich ebenfalls schon durch den
103
Zweck von Mustervorführung die Qualität der Gegenstände ; diese
sollen uns dann eben neue, in der Schweiz noch weniger gepflegte
Gebiete erschließen.
Einleitend sei hier bemerkt, dass der nachfolgende Organi-
sationsvorschlag vor allem die spätere positive Organisationsarbeit
erleichtern helfen will. An der Hand einer durchgearbeiteten Auf-
stellung wird es der Kritik viel leichter gemacht, praktisch einzu-
setzen und das Nützliche herauszuwählen. Erst nach der Er-
kenntnis gemachter Fehler wird es möglich sein, ein neues, muster-
gültiges Gefüge zu schaffen.
Die Ausstellungszentrale bildet den vollziehenden Ausschuss
einer freien Vereinigung von künstlerischen und gewerblichen
Ausstellungsinteressenten. Sie steht unter dem Protektorate der
hohen Bundesbehörden, der kantonalen Kunst- und Gewerbe-
museen, der schweizerischen und kantonalen Künstler- und Ge-
werbevereinigungen, der Verkehrsvereine, der Industrievereine, der
historischen Vereine, des Heimatschutzes usw.
Durch die Subvention des genannten Unternehmens erhält
jede der genannten Institutionen das Recht zu einer Stimme an
einer jährlich im Februar abzuhaltenden Generalversammlung.
Diese nimmt jeweils den Jahresbericht und die Rechnungsablage
in Empfang, sie setzt das Budget und die Grundzüge des Pro-
grammes für das kommende Jahr fest. Außerordentliche General-
versammlungen werden auf Wunsch einer noch zu bestimmenden
Anzahl von Stimmberechtigten einberufen.
Für die erste Periode ließe sich auch die Frage aufwerfen,
ob nicht die oberste Leitung dem Vorstande eines Verbandes der
schweizerischen Gewerbemuseen anvertraut werden könnte. Es
würde ein derartiges Vorgehen gewiss manche technische Schwierig-
keiten sehr erleichtern und den Verkehr für den Ausstellungs-
betrieb nur angenehm fördern.
Der leitende Ausschuss besteht aus vier von der konsti-
tuierenden Generalversammlung gewählten Vorstandsmitgliedern
und dem von der nämlichen Versammlung gewählten ständigen
Sekretär. Von den vier Vorstandsmitgliedern sollen zwei auf die
romanische, zwei auf die deutsche Schweiz entfallen, der Vorsitz
104
im Ausschusse wechselt mit jedem Jahre. Die Wahlen werden
jährlich bestätigt. Als erste Aufgabe des Ausschusses wird die
Ausarbeitung des Programmes, die Wahl der Objekte und die
endgültige Regelung des Turnus in Betracht fallen, er entscheidet
ebenfalls in ausstellungstechnischen Fragen und besitzt die volle
Vertretung nach außen. Der Ausschuss tritt nach Bedürfnis zu-
sammen und zwar, wenn kein Augenschein notwendig, am Sitze
des Sekretariates. Sind Besichtigungen mit der Zusammenkunft
notwendig, begibt sich der Vorstand selbstverständlich an der be-
treffenden Ort zur gemeinsamen Besprechung.
Dem leitenden Ausschusse stehen zur Begutachtung und
Festsetzung der Ausstellungsobjekte Vertrauensmänner zur Seite.
Diese werden vom Vorstande nach Bedürfnis von Fall zu Fall
gewählt, es sollen jeweils fachtüchtige Leute sein, deren maß-
gebendes Urteil für den Ausschuss orientierend und wegleitend
sein kann. Das absolute Mehr des Ausschusses wird für die
Anlage der Ausstellung und für die Aufstellungsberechtigung not-
wendig sein. Es soll damit nur qualitativ Gutes dem Publikum
vorgeführt werden können, eine Beschränkung in der Auswahl
bleibt von vorneherein schon räumlich geboten. Sämtliche Objekte
werden womöglich allerorts in gleicher Zahl und Qualität vorgeführt.
Der Sekretär hat die gesamte Exekutive in der Hand, bei
ihm liegt der Verkehr mit den Ausstellungsbeschickenden, mit den
Ausstellungsinstituten und mit den Besuchern. Er führt die vor-
bereitenden Geschäfte und leitet nach Möglichkeit die erste Aus-
wahl für die Ausstellung ein. Der Sekretär ist der einzige stän-
dige Vertreter des Ausschusses und bezieht als solcher einen fixen
Anstellungsgehalt. Es bleibt dem Sekretär untersagt, andere ge-
schäftliche Verpflichtungen zu übernehmen, seine Arbeit steht
ausschließlich im Dienste der Ausstellungszentrale.
Der Sekretär erhält nach Bedürfnis Hilfskräfte, denen die
laufenden Korrespondenzen und eventuelle technische Hilfeleistun-
gen angewiesen würden. Dieses Personal bleibt dem Sekretariat
unterstellt und steht ebenfalls in einem festen Anstellungsver-
hältnisse.
An Bureaulokalitäten dürfte für den Anfang eine kleinere
Installation vollends genügen. Die Hauptsache bleibt, dass die
105
Lokale bequem erreichbar und womöglich in der Nähe von Aus-
stellungslokalitäten sich befänden.
Als Ausstellungslokale der verschiedenen Städte kämen in
erster Linie wohl die permanent für solche Zwecke zur Verfügung
stehenden Räume der Gewerbemuseen in Betracht. Auf besondern
Wunsch könnten auch Städte und Ortschaften ohne eigene Aus-
stellungsräume bedient werden; in diesem Falle müsste für sie
eine besondere Anordnung getroffen werden, wie auch die Über-
nahme der Kosten von Fall zu Fall geregelt werden müsste.
Als die gegebenen Ausstellungsorte nennen wir vor allem
sämtliche größeren Städte und Industriezentren, vielleicht auch
einzelne Kurorte, von denen wir eine den Ausstellungen ent-
sprechende Garantie voraussetzen dürfen. Man dürfte aber auch
die Frage, kleinere Orte mit einzubeziehen, nicht außer acht lassen.
Sie sind für derartige Veranstaltungen oft dankbarer als die über-
sättigten Städte, ihre Kaufkraft ist bei der in der Schweiz herr-
schenden Dezentralisation von Handel und Gewerbe nicht zu
unterschätzen.
Nach den guten Erfahrungen, die die eidgenössische Kunst-
kommission mit ihrem neuen Ausstellungszelt gemacht hat, dürfte
die Frage aufgeworfen werden, ob wir nicht ein derartiges Zelt
auch in den Dienst des Kunstgewerbes setzen könnten. Es wäre
ja nicht nötig, dass das neue Zelt in den Dimensionen des Turnus-
zeltes gehalten wäre, im Gegenteil, des leichteren und häufigeren
Transportes halber wäre eine wesentlich reduzierte Fläche sogar
wünschenswert. Denn es scheint uns nicht von Vorteil, das gesamte
Kunstgewerbe auf einmal in einem solchen Zelte zu vereinigen,
die Auswahl würde darunter bedeutend leiden und wir bekämen
im besten Falle eine „Gewerbeschau", bei der eben auch das
Minderwertige auf Aufnahme rechnen dürfte. Eine wesentliche
Schwierigkeit für das Kunstgewerbezelt böte der Schrank und
Fachausbau. Während wir in den meisten bisherigen Ausstellungs-
räumen diese Objekte zur Verfügung haben, müsste hier beim
Zelt eine sehr umständliche Einbaute vorgenommen werden,
die für den jeweiligen Gebrauch immer wieder neue Abänderungen
zu gewärtigen hätte.
Als Ausstellungszeit glauben wir vier Wochen in Aussicht neh-
men zu dürfen und zwar so, dass vier Sonntage in den Zeitraum fallen ;
106
weitere vierzehn Tage dienten für den Abtransport und die Neu-
aufstellung. Eine prompte Ausführung wird zwar nur dann mög-
lich sein, wenn genügende Hilfskräfte, eine praktische Transport-
ausrüstung und die nötige Routine da sein werden, Dinge, die
jedenfalls erst durch die Praxis ihre endgültige Regelung er-
halten würden.
Die Wahl der Objekte erfolgt durch den leitenden Ausschuss
in seiner Gesamtheit oder durch eine Abordnung von einzelnen
Mitgliedern, der Sekretär soll als vollziehende Instanz stets bei-
wohnen. Für gewöhnlich wird sich diese Jury wohl aus einem
oder zwei Vorstandsmitgliedern, einem Vertrauensmann und dem
Sekretär zusammensetzen. Die mit der Auswahl betrauten Mit-
glieder haben sich an die strengste Beobachtung des Grundsatzes:
„Von Allem nur das Beste" zu halten ; es kann also nicht auf
die direkte Unterstützung von weniger Fähigen gerechnet werden;
diese Aufgabe liegt mehr im Bereiche der schweizerischen Turnus-
ausstellungen und der Gewerbeschauen, bei denen die Zulass-
grenze viel weiter gezogen wird. Wenn auch die Beschaffung der
Ausstellungsobjekte ganz in den Händen der Zentrale liegt, so
bleibt damit doch die Möglichkeit einer weitgehenden Berück-
sichtigung der Wünsche einzelner Ausstellungsinteressenten offen.
Ein von der Zentrale frühzeitig entworfenes Programm wird hier-
für an sämtliche Interessenten verschickt werden. Nach dem
Eintreffen der verschiedenen Rückäußerungen und Begutachtungen
wird der Ausschuss eine Neuredaktion des Programmes unter
Berücksichtigung der geäußerten Wünsche aufstellen und diese
sodann der Generalversammlung zur endgültigen Annahme empfeh-
len. Ein letzter Entscheid dürfte also bei der Generalversamm-
lung liegen, spätere Änderungen müssten infolge von Komplikationen
im Turnus und dergleichen auf das entschiedenste verhindert werden.
Selbstverständlich bedingt das mühevolle Aufsuchen des Ma-
terials öfters Reisen und persönlichen Verkehr mit den Ausstel-
lungsinteressenten. Der Erfolg des Unternehmens liegt hier viel-
fach in persönlichen Momenten, und diese setzen eine möglichst un-
beschränkte Aktionsfreiheit voraus. Die nötigen Kredite für Reisen
sollten infolgedessen von der Generalversammlung pauschal fest-
gesetzt werden und der Ausschuss jederzeit berechtigt sein, den
direkten Verkehr mit den Teilnehmern an Ausstellungen anzu-
107
bahnen. Übrigens dürfte erst nachdem genügend wertvolles
Material vorliegt, die definitive Festsetzung der Ausstellung ange-
kündigt werden. Liefert die Schweiz ab und zu einmal nicht
genug Material, dann erst erwächst der Zentrale die Pflicht,
durch beste ausländische Erzeugnisse die Lücken zu ergänzen
und so dem Inlande Gelegenheit zu schaffen, in Zukunft das be-
treffende Gebiet selbst mehr zu bearbeiten. Der Bereitschaftstermin
soll mit aller Energie so vorbereitet werden, dass Neuausstellungen
an ihren Ausgangsort mindestens drei Wochen vor Eröffnung der
Veranstaltung eintreffen. Diese vorsichtige Maßregel gilt beson-
ders für ausländische Ausstellungen, bei denen eventuelle Ergän-
zungen mehr Zeit beanspruchen würden. Für Reisen nach dem
Auslande genügte zur Ersparung von Kosten die abwechslungs-
weise Beschickung eines Ausschussmitgliedes mit dem Sekretär;
Fachleute an Ort und Stelle könnten dann nötigenfalls die Ver-
trauensmänner ersetzen.
Für den Transport wird es angezeigt sein, gleich von Anfang
sich mit einer ordentlichen Anzahl zweckmäßiger Transportmittel
zu versehen, ganz besonders soll das Verpackungswesen für ge-
werbliche Ausstellungen studiert werden. Während des Trans-
portes haften die jeweiligen Spediteure für den Schaden, später
nach Bezug der Ausstellungslokale die jeweiligen Ausstellungs-
anstalten. Die Versicherung ist obligatorisch und kann von sämt-
lichen Ausstellungsinteressenten gemeinsam geregelt werden. Die
Bundesbehörden sind für zollfreie Einfuhr ausländischer Ausstel-
lungsgüter anzugehen, umgekehrt ist auch Gegenrecht für nicht
verkaufte Gegenstände und Rücksendungen anzustreben. In der
Schweiz wird um ermäßigte Frachtansätze eingelangt werden
müssen. Die Termine in der Spedition werden von der Zentrale
festgesetzt; sie sollen von den Parizipanten an der Ausstellung
peinlich genau eingehalten werden. Die Transportkosten fallen
proportional den Ausstellungsinstituten zur Last, ebenso haften
diese für die pünktliche instruktionsgemäße Aufstellung. Die
Erstaufstellung wird jeweils von einem Mitgliede des Ausschusses
geleitet. Über die Anstellung eines speziellen Ausstellungstech-
nikers wird die Zukunft entscheiden.
Um dem Verkauf möglichst große Chancen zu bieten, er-
halten die verkautfen Objekte keine Etiketten ; der Aussteller wird
108
umgehend von den Verkäufen benachrichtigt, so dass dort, wo
es sich um Wiederholungen handelt, der Käufer durch Zustellung
durch den Aussteller raschestens in den Besitz des Gegenstandes
gelangt. Für den Verkauf vereinzelter Gegenstände, die nur in
einem Exemplare erhältlich sind, soll womöglich Ersatz geschaffen
werden; dort, wo solches nicht möglich und eine Wiederholung
ausgeschlossen ist, bleibt der Entscheid des Ausschusses maßgebend.
Die Preise liegen beim Aufsichtspersonal auf, im Verkaufsfalle
erhält die Zentrale 25 7» des Kaufbetrages. Es ist dies die einzige
Besteuerung der Aussteller zu Gunsten des Unternehmens, der
Betrag ist sofort bei der Abgabe des Objektes in bar zahlbar.
Die Reklame wird in erster Linie durch Artikel in der Presse
besorgt werden, wobei aber sogenannte Waschzettel nach Möglich-
keit zu vermeiden sind. Dem Unternehmen nahestehende Kritiker
würden in jeder Stadt jeweils von der Zentrale orientiert werden;
sie besorgen die Mitteilungen an das Publikum und beziehen dafür
unter Umständen eine entsprechende Vergütung. Ein weiteres
Abkommen mit einer Depeschenagentur würde die Bekannt-
machung in der ländlichen Tagespresse besorgen. In gleicher
Weise würde ferner durch regelmäßige Korrespondenzen in der
großen ausländischen Presse für die nötige Bekanntmachung im
Ausland gesorgt. Neben den Zeitungen sollten illustrierte Artikel
über ganze Gruppen in weitverbreiteten Zeitschriften veröffentlicht
werden. Die Propaganda steht unter der Anschauung, dass eine
eifrige Reklame durch die Presse dem Erfolge besser dient als
zahlreiche kostspielige Annoncen. Aus dem selben Grunde sind
wir auch der Ansicht, dass zwei wirklich wertvolle und zweck-
entsprechende Plakate pro Jahr, eines für Kunst, das andere für
Gewerbe, genügen.
* ♦
»
Über die Art und Weise der Finanzierung müsste eine spe-
zielle Kommission zur Prüfung der Frage eingesetzt werden. Wir
müssen uns immerhin klar werden, dass das Unternehmen über
bedeutende Mittel verfügen wird, wenn es wirklich praktischen
Nutzen nach allen Richtungen bringen soll. Die Auslagen zer-
fallen in zwei getrennte Posten, solche des Verwaltungsrates und
solche des eigentlichen Ausstellungsbetriebes. }]^ Das Budget der
109
administrativen Abteilung wird sich im Laufe der ersten Jahre
wohl kaum stark verändern, der Personalbestand dürfte sich in
der ersten Zeit nicht bedeutend vermehren und die Bureauaus-
lagen blieben sich auch ziemlich gleich. Anders verhält es sich
mit der Ausstellungsarbeit; für Transporte, Einrichtung, Reklame
usw. könnte man unmöglich eine stabile Summe festsetzen; die
Kosten werden sich hier von Fall zu Fall ergeben und proportional
von den Interessenten getragen werden müssen. Vielleicht ließe
sich auch ein erster Versuch machen. Das eine oder andere
bestimmte schweizerische Gewerbe würde von sämtlichen Ge-
werbemuseen zur Ausstellung eingeladen und im gemeinsamen
Einverständnisse als Turnus in der ganzen Schweiz vorgezeigt.
Diese einmaligen Ausgaben, die durch das schweizerische Gewerbe
und seine Institute zu tragen wären, würden sicherlich den besten
Anhaltspunkt für die zukünftigen Berechnungen geben, wie sich
auch gleichzeitig eine Kontrolle über den eventuellen Erfolg unseres
Unternehmens anstellen ließe. Im übrigen liegt es nicht im
Rahmen unserer Studie, die Mittel und Wege in der Geldbeschaf-
fungsfrage des weitern zu erörtern. Es muss allerdings betont
werden, dass eine private Finanzierung den Vorteil größerer Un-
abhängigkeit böte. Ein eingehendes Studium der englischen und
deutschen Ausstellungsunternehmen, die meist nur mit staatlicher
Suvention arbeiten, dürfte uns hier manchen wertvollen Auf-
schluss geben.
Zum Schlüsse erlauben wir uns noch, an sämtliche Interes-
senten die höfliche Bitte zu richten, ihre Vorschläge, Bedenken
und sonstigen Bemerkungen dem Verfasser dieser Zeilen zukommen
lassen zu wollen. Wir sind gerne bereit, bei erster Gelegenheit
die geäußerten Anregungen vorzubringen, und es soll uns freuen,
wenn die Öffentlichkeit dem geplanten Unternehmen durch ein
reges Interesse seine Sympathie bekundet. Nur durch eine sorg-
fältige Organisation und kritische Wahl in der Produktion werden
unsere heute noch vielfach darniederliegenden Künste und Gewerbe
neu erstarken und sich im In- und Auslande nicht nur die be-
rechtigte Anerkennung, sondern auch den verdienten Absatz schaffen.
BERN C. BENZIGER
DD D
110
LA MORALE LAIQUE AU COM-
MENCEMENT DU XYlll^ SlECLE
MADAME DE LAMBERT
(Fin)
„L'amour, dit M*"^ de Lambert, dans ses Reflexions sur les
femmes, est le premier plaisir, la plus douce et la plus flatteuse
des illusions; puisque ce sentiment est si necessaire au bonheur
des humains, il ne faut pas le bannir de la societe ; il faut seule-
ment apprendre ä le conduire et ä le perfectionner". Ce n'est
point chose facile que de moderer les passions: „ce sont des
cordes delicates qui ont besoin de la main d'un grand maitre
pour etre touchees".
Pour que l'amour concoure ä notre bonheur, il faut qu'il
ne soit pas oppose ä notre gloire; la honte et le deshonneur sont
des sentiments douloureux: „Notre amour ne saurait etre heu-
reux qu'il ne soit regle ... 11 y a, dans cette sorte d'amour,
des plaisirs sans douleur et une espece d'immensite de bonheur
qui aneantit la douleur et la fait disparaitre".
Cette immensite de bonheur, Remond le Grec l'appelait la
volupte, qu'il distinguait soigneusement de la debauche et des
plaisirs, tout comme M'"^ de Lambert. Elle s'est, comme lui, sou-
venue de Piaton : „Les anciens ne croyaient pas que le plaisir
düt etre le premier objet de l'amour".
Comme l'ambition, l'amour est „entrepreneur de grandes
choses". C'est encore une transposition d'un passage du Banquet,
que l'exemple qu'elle cite de ces amants „qui ont demande ä
combattre devant leurs maitresses et qui ont fait des choses in-
croyables." Ainsi l'amour concilie, dans une plenitude de jouissance,
l'amour des plaisirs et l'amour de la gloire: „il prepare, il epure
les plaisirs pour les faire recevoir aux ämes fieres et il leur donne
pour objet la delicatesse de sentiments."
Le marquis de Lassay {Relation de l'ile des Feliciens) de-
clarait que les hommes ont tort d'attacher leur honneur ä la
chastete des femmes. Comme on voit, l'apologie de l'amour libre,
presentee rationnellement, est une assez vieille chose en France.
Le marquis de Lassay ^tait dans son röle et M'"^ de Lambert
111
6talt dans le sien en faisant l'eloge de la pudeur, qui est, chez
les femmes, un sentiment naturel et raisonnable; M"^^ de Lambert
sait le prix de cette pudeur coquette qui rend les femmes plus
desirables par l'obstacle qu'elle oppose aux desirs: „Elle sert
leurs veritables intdrets; eile augmente la beaut^, eile en est la
fleur, eile sert d'excuse ä la laideur, eile est le charme des yeux,
l'attrait des coeurs, la caution des vertus, l'union et la paix des
familles."
II ne s'agit point ici de la chastete, vertu chretienne. L'amour
se propose un terme; il faut y arriver; la pudeur le recule en
prolongeant la duree des plaisirs: „ce qui s'appelle terme de
l'amour est peu de chose; pour un coeur tendre, il y a une am-
bition plus elevee ä avoir: c'est de porter nos sentiments, et
ceux de la personne aimee au dernier degre de delicatesse et
de les rendre toujours plus tendres, plus vifs et plus occupants."
Tout cela est de l'eprouve, du vecu; S^^-Aulaire, et peut-etre aussi
M. de Sacy, lui inspira cette tendresse constante et assez plato-
nique dont parle d'Argenson.
M"^^ de Lambert est surprise qu'on ne raffine pas davantage
sur l'amour; des analyses fouillees et aigues de sentiments, eile
en trouvait pourtant beaucoup dans les romans de ses contem-
poraines (par exemple de M"^^ de Villedieu), romans dont la Prin-
cesse de Cleves est le modele. Elle regrettait pourtant ceux de la
generation precedente, la Clelie, le Grand Cyrus „si pleins d'es-
prit et si epures" ; eile regrettait aussi la vieille galanterie, qui
pourtant n'etait pas morte: chagrins et regrets de femme qui se
sent vieillir! On n'avait point vers 1700 oublie „l'art delicat de
l'amour". Et le portrait qu'elle trace de l'homme galant ressemble
bien plus, ä mon avis, ä un roue de la Regence qu'ä Voiture ou
ä Montausier: „Les hommes ont fait de la galanterie un art de
plaire et ceux qui s'y sont exerces et qui y ont acquis une
grande habitude ont des regles certaines quand ils s'adressent ä
des caracteres faibles". A l'Hotel de Rambouillet, on n'avait
guere de commerce qu'avec l'esprit; vers 1700, l'amour de coeur
a remplace, dans la litterature, l'amour de tete. II y a plus de
vraie tendresse dans Chaulieu que dans Voiture, et surtout dans la
Prlncesse de Cleves que dans Clelie. Racine avait eveille des passions
et des tendresses infinies qui sommeillaient au fond des coeurs.
112
Le XVIII* siede a eu Tamour de Tamitid; on raffinait sur
ce sentiment comme on raffinait sur Tamour, et l'amitie etait,
pour les honnetes gens, le sujet de miile r^flexions attendrissan-
tes. Le Tratte de l'amiüd de M""* de Lambert plut ä Voltaire; il
devait iui plaire, comme il devait plaire ä tous les hommes du
XVIIH siede.
Madame de Lambert fait une place ä part ä un sentiment
plus tendre et plus attachant que l'amitie ordinaire. II est gene-
ralement la recompense de l'amour vertueux et n'existe guere
qu'entre personnes de sexe different; eile eprouva sans doute
ce sentiment pour M. de Sacy et pour le vieux St-Aulaire; et
sans doute aussi La Rochefoucauld et M"'* de Lafayette connurent
cette amitie amoureuse.
Madame de Lambert n'a pas sur l'amitie beaucoup d'idees
originales. Elle cite avec delices les anciens et les modernes qui
en ont parle: Ciceron, Seneque, Montaigne, La Bruyere. Les re-
flexions d'autrui aident ä donner un sens et une portee generale
ä ses propres experiences. Presque rien n'est d'elle dans ce petit
traite, rien, si ce n'est ce fremissement, cette emotion, cette ten-
dresse qui anime chaque page et par laquelle M^"* de Lambert
illumine d'une nuance personnelle la pourpre etrangere.
„En amitie, comme en amour, il faudrait menager ses goüts,
dit-elle; c'est une economie permise. II arrive souvent que le
goüt s'use, que cette pointe de sentiment s'emousse par l'habi-
tude. L'illusion disparait et vous etes reduit ä soutenir l'amitie
par raison, qualite qui est tres seche".
La moderation eternise les plaisirs et fait que rien d'amer
ne coule de la fontaine des voiuptes. Cest lä l'idee centrale de
la Philosophie des plaisirs de W^^ de Lambert et aussi de Fon-
tenelle, ce jouisseur prudent et calculateur.
Le bonheur est la recompense de la vertu. Qu'ils l'aient cher-
che en Dieu, ou dans la vertu, ou dans les plaisirs, ou dans la
tranquillitd de l'äme, tous les moralistes, tous les fondateurs de
religion l'ont promis ä leurs disciples. Vers la fin du XVI I^ siede,
on fait dans les morales antiques un choix; toutes se compene-
trent, s'adoucissent, se corrigent reciproquement. C'est ainsi qu'on
voit des disciples d'Epicure pleins de foi dans la Providence et
des disciples deZenon ne mepriser ni la douleur, ni les plaisirs.
113
Presque tous (et M"^^ de Lambert est du nombre) reconnais-
saient qu'il y a des plaisirs legitimes, qui concourent ä nous rendre
heureux. Dejä Malebranche et Bayle avaient soutenu contre Ar-
nault, au cours d'une ardente polemique, que tous les plaisirs
etant spirituels, on peut n'etre point coupable ä les goüter. Bau-
dot de Juilly (Dialogues de Patru et d'Ablancourt sur les Plai-
sirs 1701) se moquait des predicateurs austeres qui interdisent
egalement les voluptes innocentes et les debauches grossieres; il
montrait qu'il y a des plaisirs essentiellement bons et recomman-
dables et, pour les autres, il est un art delicat d'en jouir sans se
perdre: la delicatesse est la pierre de touche des plaisirs. Ainsi
pensait Remond le Grec: „La volupte est l'art d'user des plaisirs
avec delicatesse et de les goüter avec sentiment." Et il ajoute
(ceci est tout ä fait dans l'idee de Malebranche et de Bayle):
„L'homme, qui participe de l'essence divine seul sait goüter les
plaisirs par l'esprit et avec reflexion; c'est ce goüt de l'esprit,
c'est cette reflexion qui distingue la volupte de la debauche."
Madame de Lambert doit quelques idees sur les plaisirs ä
St-Evremont, cet ami de toutes les jouissances delicates; eile en
doit aussi aux Remond, que pourtant eile n'aimait guere. Mais
c'est le Traite du Bonheur surtout (de Fontenelle), qui semble
l'avoir inspiree. (Car je ne doute point que la redaction n'en soit
anterieure ä celle des quelques pages que la marquise a con-
sacrees aux plaisirs; les idees s'y lient plus naturellement et la
marquise semble avoir emprunte ä son ami au hasard de ses
Souvenirs et de l'inspiration du moment. On devait souvent, aux
mardis, discuter sur le bonheur, et l'opuscule de Fontenelle,
comme les reflexions de M'^^ de Lambert, ne sont au fond que
deux comptes-rendus sous une forme exquise des conversations
auxquelles tout le salon prenait part.)
Pour M'"^ de Lambert (et pour Fontenelle) ..la vraie felicite
est dans la paix de l'äme, dans la raison, dans l'accomplissement
de nos devoirs". On le voit, la note stoVcienne domine; mais
c'est un stoicisme rajeuni, tempere par des emprunts ä la morale
d'Epicure et ä celle de Malebranche.
La premiere conditlon pour etre heureux c'est d'ecarter, ou
de diminuer autant qu'il est en nous, la douleur; car, en depit
de Zenon, la douleur est un mal; mais ce n'est pas toujours un
114
si grand mal qu'on pense. L'imagination en augmente, la reflexion
en diminue la violence: „Examinez ce qui fait votre peine, ecar-
tez tout le faux qui l'entoure et tous les ajoutes de l'imagination
et vous verrez que souvent ce n'est rien et qu'il y a bien ä ra-
battre." 11 faut donc apprendre ä regier son imagination et la
rendre soumise ä la raison et ä la verite. Voilä du Malebranche.
11 faut se defier de l'esperance, ne point attendre trop des hom-
mes et du destin: „Dans les choses que vous craignez, mettez
tout au pis. Attendez avec fermete le malheur qui peut vous ar-
river; envisagez-le ä face decouverte: voyez-le dans toutes les
circonstances les plus terribles et ne vous laissez pas accabler."
(On trouvera peut-etre, et non sans raison, que la folle du logis,
ä peine chassee, rentre et qu'on est bien aise de jouir de ses
Services. Mais ce sont de petites inconsequences qui ne doivent
point trop nous surprendre, si vraiment inconsequence il y a.)
Madame de Lambert pense, comme Malebranche, que tout
plaisir est un bien. Les plaisirs sont des parcelles de bonheur;
ils ne sont point difficiles ä trouver. „Tout est presque plaisir
pour un esprit sain", et comme Montaigne, eile croit que „notre
äme a bien plus de quoi jouir que de quoi connaitre".
Mais il faut que les plaisirs soient nos serviteurs et non
pas nos maitres: „La premiere disposition pour goiiter les plai-
sirs est de savoir s'en passer" ; c'est lä une remarque tres fine de
quelqu'un qui a vecu. M"^^ de Lambert a observe ce paradoxe
de notre sensibilite, par lequel nous desirons toujours plus ar-
demment un objet dont nous jouissons toujours moins. „L'habi-
tude aux plaisirs les fait disparaitre. Avant de les avoir goütes,
vous pouviez vous en passer; au lieu que la possession vous a
rendu necessaire ce qui etait superflu." Ainsi la volupte, d'accord
avec la vertu, nous conseille la temperance.
II faut savoir calculer le prix des plaisirs et la jouissance
qu'ils nous procurent, et choisir les moins coüteux. C'est lä une
idee qui ne saurait etre que de Fontenelle; eile porte la marque
de sa personnalite. Les plaisirs simples sont d'un excellent usage
et on ne les paie pas trop eher, ils donnent une joie douce et
egale (l'ataraxie des Epicuriens).
Madame de Lambert qui faisait „une tres noble depense",
professa toujours le goüt de la simplicite. Elle sentait, au
115
au milieu de cette vie un peu artificielle et compliquee qu'elle
menait, le besoin d'une detente, d'un repos. Elle aimait la retraite,
la lecture, la meditation. Elle ne redoutait pas la solitude. Une
condition indispensable au bonheur (ici M""^ de Lambert et Fon-
tenelle reviennent au stoicisme) c'est d'etre bien avec soi-meme:
„Qu'on est heureux de savoir vivre avec soi-meme, de se re-
trouver avec plaisir, de se quitter avec regret". La retraite spiri-
tuelle, teile que la pratiquait Seneque, est un tonique de la mo-
ralite, pourvu que ce goüt de la retraite ne fasse point prendre
en degoüt les plaisirs et les devoirs de la vie de societe.
Le bonheur (comme la perfection) qu'ambitionnent Fonte-
nelle et M""^ de Lambert, est, on le voit, assez mediocre; il re-
sulte d'un calcul et de reflexions constantes et attentives: „la
sagesse a toujours les jetons ä la main." Ces moralistes sont
plus preoccupes de fuir ce qui peut faire souffrir, que de pour-
suivre ce qui peut faire jouir et de se preter de bonne gräce aux
plaisirs vifs et spontanes de l'imagination et des sens. Male-
branche avait enseigne ä se defier de l'un et de l'autre. La rai-
son seule (c'est-ä-dire la sagesse) peut nous donner la v^rite, la
perfection et le bonheur.
Madame de Lambert aimait les plaisirs de l'esprit; et eile
serait volontiers de l'avis de Remond le Grec, que „la verite est
la volupte de l'entendement." „Ilnefaut point, dit-elle, eteindre le
sentiment de curiosite", mais seulement le conduire et lui donner
un bon objet. Personne, sauf peut-etre les jansenistes les plus
severes, comme Arnauld, ne condamnait chez les hommes
l'amour du savoir; mais on le trouvait generalement dangereux
chez les femmes. A la fin du XVli^ siecle, elles commencent ä
s'insurger contre un prejuge qui les condamnait ä l'ignorance.
Les gens du monde s'interessaient aux sciences et couraient
en foule aux Conferences de savants ä la mode, Regis, Lemery, Va-
rignon. Les femmes suivaient le mouvement; les lunettes et les
cornues leur devinrent objets familiers; elles ne reculaient pas devant
une table de dissection, et dans les salons, les galants propos
alternaient avec des conversations serieuses sur les mondes et
les tourbillons, les infiniment petits et les esprits animaux. Ma-
demoiselle de Launay ne dissimulait point son amour pour les
116
Sciences ; eile vivait dans une cour oü Ton discutait gravement sur
ia valeur des syst&mes de Descartes et de Newton, quand on ne
debattait pas une question delicate de sentiment, (Voir Lamotte,
Correspondance avec la duchesse du Maine). -^
II entrait plus de frivolite et de vanite que de v^ritable amour
du savoir dans ce goüt des femmes pour les sciences; mais quel-
ques hommes penserent, et peut-etre avec raison, que cette fri-
volite tenait moins ä leur complexion naturelle qu'ä l'education
qu'elles avaient re?ue et] qui, n'occupant leur esprit que de ba-
gatelles, les avait maintenues dans une profonde ignorance et
une grande inexperience des choses de l'esprit.
La question de l'education des femmes se posa ä cette epo-
que. Moliere ne leur accordait que le droit d'avoir des clartes
de tout, ce qu'elles ne jugerent pas süffisant. Le plan d'etudes de
l'abbe Fleury et celui de Fenelon nous paraissent encore assez
pauvres. Tous deux ne visent qu'ä former des maitresses de
maison intelligentes; aucun ne permet aux filles les speculations
desinteressees.
II y eut ä cette epoque un champion ardent et intelligent
du feminisme, Poulain de la Barre; il publia de 1673 ä 1675
trois ouvrages qui eurent un assez grand retentissement. II posa
les bases rationnelles des revendications feministes: „Les femmes
ayant des facultes egales ä celles des hommes doivent avoir les
memes droits" ^).
Les idees feministes vers 1700, tout comme en esthetique
Celles des modernes, derivent du cartesianisme. Le salon de Ma-
dame de Lambert etait un foyer de Tun et de l'autre mouvement.
Fontenelle avait ecrit pour les dames ses Entretiens, quoiqu'il
füt peut-etre un peu sceptique sur la capacite pretendue des cer-
veaux föminins. Lamotte n'etait peut-etre pas aussi feministe que
le souhaitaient ses amies, M""^ de Lambert et Louise Benedicte
de Bouillon, duchesse du Maine. II avait sur le coeur les injures
de la trop savante M'"« Dacier. On la meprisait un peu dans
ce salon; mais on l'enviait secretement, et ce n'est pas sans
regrets que les femmes du monde, obeissant aux convenances
et aux prejuges de leur rang, dissimulaient leur goüt de l'etude.
*) Voir Ascoli: Histoire des idees feministes en France du XV I^ siede
d la Revolution. Revue de Synthese historique 1906.
117
Marivaux, le fougueux partisan des modernes, l'etait aussi des
femmes savantes, et le P. Buffier, l'auteur de V/iomere en arbi-
trage, declarait hautement dans son Examen des prejuges vul-
gaires que les femmes sont capables de toutes les sciences. Tous
deux etaient des habitues des mardis.
Madame de Lambert avait, plus que personne, le respect des
bienseances et de l'opinion ; eile redoutait extremement le ridicule
qui s'attache aux pedantes, et souffrait de ne pouvoir s'instruire
en toute liberte. Dans les Reßexions sur les Femmes qu'elle ap-
pelle ses „debauches d'esprit", eile s'est soulage le coeur. Avec
un peu de naVvete, eile accuse les Femmes savantes de Moliere
d'etre la cause de tous les desordres des femmes de son temps:
„II est dangereux, dit-elle, de repandre du ridicule sur ce qui est
bon"; or les lettres et les sciences sont bonnes: „les muses ont
toujours ete l'asile des moeurs; le dereglement et les vices sont
les suites ordinaires de l'ignorance des femmes; elles ont mis la
debauche ä la place du savoir (en realite on n'avait jamais vu
plus de bas bleus); le ridicule qu'on leur a tant reproche, elles
l'ont change en indecence".
On le voit, M'"^ de Lambert a une haute idee du röle de
la femme. 11 faut qu'elle s'occupe de choses serieuses; les baga-
telles la perdent et le desoeuvrement. Le programme d'etude
qu'elle a trace ä l'usage de sa fille est, malgre des timidites,
con(;u dans un esprit beaucoup plus large que celui de Fene-
lon. Les femmes superieures feront toutes les etudes que fönt
les gar^ons. On n'opposera aucun obstacle ä leur curiosite na-
turelle. „Toutes defenses blessent la liberte et augmentent le de-
sir." On leur permettra un peu de Philosophie, surtout de la
nouvelle, celle de Descartes et de Malebranche; „eile vous met
de la precision dans l'esprit, demele vos idees et vous apprend
ä penser juste". Plutöt que l'italien ou l'espagnol (dont le goüt
commengait ä passer), elles etudieront le latin, non pas seule-
ment (comme disait Fenelon) parce que c'est la langue de l'Eglise,
mais surtout parce que c'est la langue de la science: „Elle vous
met en societe avec ce qu'il y a de meilleur dans tous les
siecles". Elle ne defend absolument ni les romans, ni la poesie,
ni les Sciences extraordinaires ; eile voudrait faire de sa fille une
jemme cultivee, au sens tout ä fait moderne, actuel du terme,
118
une femme ä qui rien de ce qui est humain n'est etranger. Fe-
nelon n'accordait ä la femme que des connaissances pratiques.
M""^ de Lambert permet et recommande les etudes et les reflexions
purement theoriques et desinteressees, quand elles ne serviraient
qu'ä sauver une femme de l'ignorance: car l'ignorance est im-
morale et opposee au bonheur.
Le bonheur est difficile ä tenir captif dans la vieillesse; et
)a part de ce qui en depend de nous, devient de jour en jour
plus petite: „Les peines doublent et les plaisirs diminuent" et
comme disait Montaigne, aux passions ardentes succedent les pas-
sions frileuses: „Les femmes ont plus ä perdre que les hommes
dans cet äge et il y en a bien peu dont le merite dure plus que
la beaute."
Je ne trouve point, chez M*"^ de Lambert, cette resignation
stoi'que qui fait accepter, sans chagrin, les maux inevitables : on
sent une indefinissable melancolie palpiter et frissonner jusque
dans les preceptes robustes qu'elle se repetait pour s'encourager.
11 y a quelque chose de douloureux, quelque chose de pathe-
tique dans son appel aux dernieres voluptes, dans sa saisie des
dernieres jouissances. „Derobons, ecrivait-elle ä l'abbe de Choisy,
le confident de ses debauches d'esprit, derobons ces derniers ins-
tants ä la fatalite qui nous poursuit." Elle ne renonce pas ä cette
amitie tendre ou ä cet amour platonique dont nous avons parle,
et eile se platt ä citer le mot de St-Evremond, qui dans ses jeu-
nes annees vivait pour aimer et dans ses vieux jours aimait
pour vivre.
Les avantages de la vieillesse sont presque tous negatifs.
Plus de passions, par consequent plus d'esclavage. Les voluptes
passives dedommagent de la perte des voluptes actives. — Et
les devoirs de la vieillesse sont negatifs aussi. Eviter l'humeur
chagrine (si on peut), fuir le monde qu'on ne saurait plus orner;
l'opinion est plus severe pour les vieux que pour les jeunes; il
faut que leur conscience aussi se fasse plus delicate et plus exi-
gente. La resignation aussi est un devoir des vieillards; c'est
aussi un remede. „Sustine et abstine", teile doit etre leur devise.
La religion est une consolatrice, et un sentiment decent dans
les femmes.
119
On se consolera enfin en songeant que tout ce qu'on a
perdu est peu de chose aupres de la vertu, si eile nous reste,
de la liberte et de la raison. C'est sur un passage oü la pensee
stoVcienne s'allie ä un sentiment de piete que se termine le de-
licat et assez complexe traite De la Vieillesse: „Les choses sont
en repos lorsqu'elles sont ä leur place; la place du coeur de
rhomme est dans le coeur de Dieu ; lorsque nous sommes dans
sa main et que notre volonte est soumise ä la sienne, nos in-
quietudes cessent, la soumission et l'ordre nous donnent la paix
que notre revolte nous avait ötee et il n'y a point d'asile plus
sür pour rhomme que l'amour et la crainte de Dieu."
II y a peu d'idees originales dans les petits traites moraux
de M"^^ de Lambert. Elle emprunte ä toutes ses lectures, eile em-
prunte surtout ä la conversation de ses amis. Ce ne sont point
lä des Plagiats litteraires: M"^^ de Lambert ne retient de la pen-
see d'autrui que ce que son experience de femme a eu l'occasion
de verifier. De lä cette morale eclectique, souple, adaptee ä la
vie, ä sa vie ä eile d'honnete femme plutöt que de femme ver-
tueuse, consciente de ses devoirs, de ses obligations vis-ä-vis de
la societe et vis-ä-vis d'elle meme, plutöt que d'un bien theorique,
abstrait, purement formel.
La morale de W^^ de Lambert n'est point idealiste, non
plus que Celle de ses contemporains; eile ne propose pas, ä l'admi-
ration et aux efforts des hommes, une vertu absolue, sublime,
pratiquement inaccessible, comme la charite ou la saintete; eile
ne seduit point par l'attrait poetique de l'irrealisable; eile engage
et invite les esprits positifs par la facilite ou du moins la possi-
bilite apparente de la realisation; eile enseigne le moyen d'arri-
ver ä une perfection relative. Elle fait consister le bonheur dans
un calcul, une etude attentive de la realite, un effort constant pour
conserver l'equilibre entre nos facultes. Elle ne compte point sur
l'imagination, sur toutes les qualites en general, qui ne sont pas
sous le controle de la raison; eile compte peu sur les mouve-
ments spontanes, irreflechis du coeur. Elle defend les trop grands
biens, les plaisirs trop vifs, pour eviter les trop grands maux:
„Ce serait un heureux traite ä faire avec l'imagination de lui
rendre ses biens afin qu'elle ne vous fit point sentir ses maux."
120
Tout cela n'est point si faciie ä realiser qu'il parait au
Premier abord. Ce souverain bien tout relatif, qui peut pa-
rattre mediocre ä des esprits plus poetiques, ä des imaginations
plus ardentes que celle des honnetes gens de 1700, ne se peut
atteindre qu'au prix d'une attention aigue, d'un jugement exerce;
11 exige un esprit souple et lucide et il est peut-etre plus diffi-
cile de l'atteindre que de s'approcher du point ideal de perfection
oü nous convient certaines religions.
Cette morale, qui ne conviendrait point ä tous les siecles et
ä tous les hommes, convenait au XVII l^ siede; c'est une mo-
rale d'hommes ponderes, prosaTques, point reveurs, sociables;
eile convenait aux temps qui ont produit Malebranche, Fonte-
nelle, Lamotte. C'est un meme esprit qui anime M"^^ de Lambert
quand eile recommande de se defier des plaisirs trop vifs de
l'imagination, et Lamotte quand il depouille Vlliade de tout ce
qui n'est pas beaute de raison et Fontenelle, quand il substitue
ä tout le pittoresque des Idylles anciennes, d'ingenieuses, froides
et banales pensees.
L'esprit d'ordre, l'utilitarisme sevissent, et president ä tout
ce qui se fait ä cette epoque.
Les livres de M*"^ de Lambert parurent trop tard pour exer-
cer beaucoup d'influence ; ils ne sont interessants que comme des
documents qui representent un courant d'idees d'autant plus fi-
delement que l'auteur n'est que tres peu domine par des pre-
occupations litteraires, qu'il ne cherche qu'ä faire sa propre Ins-
truction morale: „Ces reflexions, dit M"^« de Lambert dans les
Avis d'une mere ä sa fille, me sont de nouveaux engagements
pour travailler ä la vertu. Je fortifie ma raison, meme contre
moi, et me mets dans la necessite de lui obeir."
Montesquieu en quelques parties de son Esprit des lois
(livres IV et V) s'est souvenu de ces petits traites. Voltaire fait
ä M""« de Lambert une place tres honorable dans son Temple du
gout, et l'on retrouve jusque dans Rousseau la trace fugitive de
quelques-unes de ses pensees.
Mais c'est sa pensee restee inedite et qui le restera toujours,
qui a exerce une influence sur son temps. C'est par les conver-
sations serieuses qu'elle eut avec ses familiers, c'est par les lec-
tures et les discussions d'ouvrages qui remplissaient les mardis
121
que pendant quaranta ans M"^^ de Lambert gouverna l'opinion, fit
triompher la cause des modernes et pendant quelque temps celle
des femmes.
Dans la lettre qui suit, j'ai respecte les fantaisies orthogra-
phiques de l'auteur et meme la ponctuation. Comme c'est le
seul autographe de M"^^ de Lambert que j'aie pu trouver, j'ai pense
qu'il pourrait etre interessant de le reproduire tres fidelement.
LETTRE DE MADAME DE LAMBERT AU PRESIDENT BOUHIER,
A DIJON^)
Ce n'est pas Monsieur pour satisfaire a I'usage que j'ay l'honneur de
vous escrire au commencement de cette annee, c'est un tribut du coeur et
des sentiments, et pour vous remercier de toutes vos politesses et vous
souhaiter tout le bonheur que vous meritez, Le livre dont vous me parlez
Monsieur ma donne Bien du chagrin^) j'ay fait l'impossible pour qu'il ne
fut pas imprimer, il me coutte 700 fr. pour retirer une autre petite ebeau-
chure (?), Elle n'a pas laisse de courir; vous mofrez, Monsieur, vos Services
si obligemment que je ne ferai pas difficulte de les axcepter. Mfs Du Do-
mainne^) mon fait une signification. Mr Dauby qui scay de quoy il est
question c'est Charge Monsieur de vous en escrire, javais autrefois ä Dijon
un procureur qui est mort que Ion appelle Jacquemain, je crain bien qu'il
ne lui soit Beaucoup reste de tittres. Comme ma terre de St Bry releve
du roy, nous avons eu besoin de ses Mrs ja, je vous serois tres obligee
si vous vouliez ordonne a quelqun de vos gens de faire chercher dans
l'estude de se procureur sil ny aurait point de titie de nostre maison, vous
voyez bien Monsieur que Ion hazarde de faire des offres ä des indiscrets
qui S(^avent si bien nous prendre au mot. M"" le President de Montesquieu
a essuye bien des traverses*) mais enfin len voila quitte, tout ce qui cest
passe est bien ä la honte de l'humanite, quant conte vous Monsieur de
revenir dans ce pays icy, il est bien triste pour moi que vous nayez fait
que vous montrer et disparaitre, une personne comme vous laisse toujours
des desirs et des Regrets je suis Monsieur avec toutte l'estime et l'amitie
que vous meritez vostre tres humble et tres obeisente servante la Mse de
Lambert A Paris ce 8e janvier 1728.
1) L'original de cette lettre est ä la Bibliothöque nationale fr. 24 412.
-) 11 s'agit des Riflexions sur les Femmes publikes pour la premiöre fois en 1727.
3) Madame de Lambert eut presque toute sa vie ä soutenir des procäs au sujet de
ses biens. Elle faillit perdre toute sa fortune ä la mort de son mari, 1686
*) Montesquieu, ä la fin de 1727, brigua le fauteuil acadömique, en remplacement de
M. de Sacy, ami de Fenelon et de Mme de Lambert. 11 ötait soutenu par tout le salon et
triompha, malgre Topposition de quelques prelats, en particulier du cardinal de Fleury qui
ecrivit ä l'Acadömie que le roi se refusait ä y laisser entrer l'auteur des Lettres persanes.
II fut regu le 24 janvier 1728, gräce aux efforts de la marquise et de ses amis. — Voir sur
les rapports de Montesquieu et de Mme de Lambert: Preface ä 2 opuscules de Montesquieu
publi^s par les descendants de l'dcrivain, ä Bordeaux, en 1897.
PARIS J. P. ZIMMERMANN
122
SCHAUSPIELABENDE
Ein junger Zürcher, Hans Ganz, genoss jüngst die Wonnen und
Schmerzen einer Premiere. Für die Hörer ergab sich kein ästhetischer
Gewinn. „Helene Brandt" nennt sich ein Kammerspiel, was entschieden
psychologische Erwartungen weckt. Mit der Einheit des Ortes, die in den
vier Akten gewahrt bleibt, ist es nicht getan. Wichtiger wäre die Einheit
in der dichterischen Konzeption. Statt dessen ist Motiv auf Motiv gepfropft,
und keines kommt zur Entwicklung und Reife. Die Titelheldin handelt
nirgends, sie erleidet nur: der alte Oberst heiratet sie, sein Sohn (ein un-
verstandener Jüngling mit Schönheitsdurst und tatenloser Erwartung des
Wunderbaren) verliebt sich in sie, der illegitime Sprössling des Obersten
(und gute Freund seines Sohnes), ein Maler seines Zeichens, vergewaltigt
(oder doch so ähnlich) sie und macht sie zur Mutter. Sie bleibt ein pas-
sives, uninteressantes, ja uns völlig gleichgültiges, weil in keiner Weise
genügend klar gemachtes Wesen. Die Technik ist von der Art, die Kerr
(der, nebenbei bemerkt, wundervoll über Hebbel bei uns gesprochen hat,
aus dem Geist heraus über einen Großen, ohne alle rhetorischen Kunst-
mittel, die man so gern entbehrte) — von jener Art, die Kerr einmal (im
„Tag") die Just-Technik genannt hat. Just in die Frau, die dem angegrauten
Obersten den Lebensabend erheitern soll, hat sich der Sohn verliebt; just
am Hochzeitstag erfährt der Alte von der Existenz seines illegitimen Sohnes,
der just der Freund seines ehelichen Sohnes sein muss; und just diese
zweite Frau, in die just der Legitimus verkracht ist, bringt dessen illegitimer
Bruder zu Fall. Man wird sich nicht wundern, dass die Komik auf der
Schwelle des Stückes lauert. Der Hörer gerät über all diesen Just-Klitte-
rungen der Handlung in eine heitere Stimmung. Wie dann im vierten Akt
der Oberst auf seinen (legitimen) Sohn schießt, den er im Verdacht hat,
bei Frau Helenen (die der Vater unberührt gelassen hat wegen einer mora-
lischen Anwandlung von zweifelhafter Einsicht) unerlaubte Vertreterrolle
gespielt zu haben — und der Sohn sich auf den Tod getroffen glaubt, in
Tat und Wahrheit aber gar nicht getroffen, sondern nur an der Hemden-
brust etwas zerknittert worden ist: da überschritt die Komik die Schwelle,
und das Auditorium geriet in ein unzweideutiges Lachen hinein. Und
der Gedanke tauchte auf, ob nicht aus diesem Kammerspiel eine überlegene
Komödie sich hätte machen lassen. Freilich dazu ist Hans Ganz noch
nicht reif genug; dazu müsste er auch über einen ganz anders fein und
scharf geschliffenen Dialog verfügen, und vor allem einen dramatischen
Organismus klar durchzudenken müsste er sich die Mühe nehmen.
Hermann Bahr's neuestes Bühnenopus — bald ist das zweite Dutzend
des bald Fünfzigjährigen voll und noch nichts für die Unsterblichkeit getan —
das Lustspiel „Das Prinzip" ist auch zu uns gelangt. Es enthält amüsante
Partien, flinke Bonmots, geistreiche Aphorismen und lässt am Schluss doch
recht gleichgültig. Warum? Man kann sich keinen rechten Vers zu dem
Stück machen. Da ist ein Vater, dem es seine Mittel gestatten, eine freie
Laien-Missionstätigkeit für eine gesündere, rationellere Menschen- und Kul-
turentwicklung auszuüben: er lebt vom Glauben an sein Prinzip, und das
123
lautet ungefähr dahin: nur kein Zwang; wie der Herr im Faust-Prolog:
„ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange ist sich des rechten Weges
wohl bewusst." Dieser Optimismus ist seine Richtschnur im Verkehr mit
den Menschen; in concreto: mit seinen beiden Kindern. Sohn und Tochter
sollen tun und lassen, was sie mögen. Ihre gute Natur wird sich darin zu
bewähren haben, dass sie immer wieder auf den rechten Weg kommen.
Nun ist man im voraus darauf gefasst, dass das Experiment nicht glatt ab-
laufen und das Prinzip des alten Idealisten eine Beule abbekommen wird.
Was denn auch geschieht. Nur geschieht es mit den Qeberden des
Schwankes. Der Sohn fängt an einer feschen Köchin Feuer, die er auf dem
Tanzboden „im Himmel" kennen gelernt hat, und will sein Verliebtsein gleich
mit einem Verlobtsein beschlossen wissen. Und der Alte hat nichts da-
gegen; wenn das Mädchen brav ist, warum nicht? Ein Glück, dass die
Köchin klüger ist als der Mann mit dem Prinzip. Ein Oberkellner mit An-
lage zum Geldverdienen scheint ihr schließlich doch das Praktischere als
ein Neunzehnjähriger, der die Gymnasiastenmütze bald an eine Studenten-
mütze zu vertauschen gedenkt. Und der Junge gibt der Köchin sofort eine
Nachfolgerin in einer Tänzerin voll hellenischen Liebreizes. Die Tochter
aber lässt sich entführen von einem gottseligen hübschen jungen Gärtner
ihres Papas und verdankt es dessen reiner Gesinnung, dass die Entführung
nicht mit Verführung endigt.
Also: das Prinzip hätte Fiasko gemacht. Aber der Inhaber des Prin-
zips gibt das doch nur bedingt zu. Er braucht es nun einmal zum leben,
und dann: was jetzt noch unvollkommen sich bewährt, das wird einmal in
Aeonen zu Kraft und Herrlichkeit erstehen, man muss nur warten können.
Ein brillanter Aphorismus fällt: Es ist leichter, die Welt erlösen, wenn sie
nicht dabei ist. Der Dr. Friedrich Esch wandelt im Wolkenkukuksheim.
Sein Oheim, ein sehr realistisch-nüchtern gerichteter Weinhändler, sorgt
für den nötigen Hohn und Spott.
Ein Eindruck von Dünnheit und Leere bleibt zurück. Das Possenhafte
zehrt das Lustspielmäßige auf. Das Geschehen versandet. Die Erfindung
lebt von Episodenhaftem. Es fehlt die Hand, die Menschen gestaltet. Am
19. Juli feiert Hermann Bahr den fünfzigsten Geburtstag. Recht interessante,
ernste neue Wandlungen (oder Anwandlungen) treten in jüngster Zeit bei
ihm zu Tage. Man möchte wünschen, dass von ihnen aus dem an Geist und
Gemüt wahrlich nicht armen Schriftsteller ein Werk von sicherer Dauer
gelänge. „Das Prinzip" ist nur ein artiges Parergon.
ZÜRICH H.TROG
D a o
zu CARL MEISSNER: CARL SPITTELER
Es gibt zwei Arten, das Oeuvre eines Künstlers zu vermitteln. Die
eine zielt auf Herausarbeitung der charakteristischen Merkmale und deren
einheitliche Gruppierung, woraus sich die Grenzen, Vorzüge und Schwächen
des Talentes von selbst ergeben. Die andere führt in erster Linie den psy-
chologischen Entwicklungsgang des Helden durch ; es handelt sich um vor-
behaltlose Durchdringung des Darzustellenden. Der Darsteller nimmt kel-
124
nen Standpunkt vor seinem Objekte ein ; er schiupft in die Haut des andern.
Charakterisierung. Einfühlung. Dort Fläcnen und Linien. Hier Stimmungs-
werte. Zwei Verfahren, verschieden in der Wirkung und den Begabungen,
die sie voraussetzen.
Wer beide vermengt, dem fehlt es in weiterem Sinne an Stilgefühl, so-
dann an Klarheit darüber, was zu sagen ist. Dieser Mangel eines Stand-
punktes, aus dem sich glückliche Gesichtspunkte ergeben, wird kaum ver-
deckt durch den Untertitel von Carl Meißners (im Verlag Eugen Diederichs
In schöner Ausstattung 1912 erschienenen) Büchlein über Carl Spitteler:
„Zur Einfühlung in sein Schaffen", eine geschickt gewählte, unbestimmte
Marke, unter der er Biographisches, Ästhetisches, Polemisches beibringt.
Ob jetzt bei Spitteler „der Versuch einer kritischen Grenzbestimmung seiner
Bedeutung" Sinn hat (Meißner meint: nein), darüber kann man verschie-
dener Ansicht sein: nur eine aber kann es darüber geben, dass das ver-
wendete Material auch verwertet werde. Wir erfahren — soweit ich sehe,
hier zum erstenmal ausführlichere — biographische Daten, dichterische
Pläne, Inhaltsangaben. Das meiste, einzelne gute Bemerkungen ausgenom-
men, bleibt totes Material.
Es fehlt der intensive Wille zur Verlebendigung oder auch der Wille
zur Erkenntnis, nach der jeder streben muss, der öffentlich gehört werden
will, und die nur privat ersetzt werden kann durch Bewunderung. „Am
Kunstgeschwätz vorbei zum Künstler gehn" ist gewiss das beste. Darüber
soll man aber nie vergessen, dass, wo es Werte zu vermitteln gilt, fähige
Ehrlichkeit unvergleichlich mehr gibt als poetisierende Ehrfurcht. In diesem
Sinne ist es Nebensache, der Wievielgrößte Spitteler sei, und nur dilettan-
tenhafter Hilflosigkeit, in Liebe ertrinkend und jeden Maßes bar, kann
der Schluss genügen: „Nachdem Ibsen und Tolstoi, nachdem nun auch
Strindberg gestorben, ist unter den Dichtern Carl Spitteler das einzige
lebende Genie."
Ein singuläres Oeuvre. Darüber sind Gegner und Freunde einig. Jedoch:
es handelt sich um die Synthese.
Von Anfang an — das geht klar aus den Äußerungen des Dichters^
namentlich aus „Mein Schaffen und meine Werke," hervor — der grandiose
Wille zur monumentalen Plastik, der einerseits der Phantasie nicht verwehrt,
Varianten auf Varianten zu häufen, so dass vor ihrer Vehemenz die dichte-
rischen Pläne zerschellen, und anderseits lange nach der Form sucht. Noch
der Siebenunddreißigjährige glaubte, „Verse zu reimen wäre so unendlich
schwierig, dass ich es nie können werde." Maler und Musiker finden im
„Prometheus" die rauschende, ekstatische Form, die der Ausdruck einer
Persönlichkeit in einem und nur in diesem bestimmten Entwicklungsstadium
und eben deshalb keine Kunstform ist. (Spitteler selbst sagte kürzlich im
«Kunstwart", er dürfe diese Form, ohne Gefahr der Affektiertheit, nicht
mehr verwenden.) Hier liegt das erste Problem. — Spitteler sucht nach
der großen Form und wohl auch nach dem großen Stoff. Die Frage: Was
verleiht einem Stoff in erster Linie die Größe, Symbolgehalt oder glänzendes
episches Geschehen ? führt ihn auf die für ihn so wichtige Scheidung
zwischen Mythus und Epos. Zunächst kosmischer Mythus: Weltschöpfung.
Aber „Extramundana" wird bald als Sackgasse erkannt. Das Symbol wächst
nicht aus der Poesie heraus. An den Mythus gliedern sich Gestalten und
Ereignisse, die aus Gründen poetischer Notwendigkeit erfunden werden.
125
Der Leser jedoch betrachtet alles als Allegorie und sucht mit Mühe und
oft vergebens nach dem Sinn.
Abkehr von der mythologischen Poesie aus äußern und wohl auch
innern Gründen. Lyrik und Prosa. In den „Schmetterlingen" spricht vor-
nehmlich der Maler, in den .Glockenliedern" der Musiker, in dieser Ent-
wicklung vom Objektiven über das Persönliche („Literarische Gleichnisse")
zum Subjektiven, zum geistreich Spielerischen und zum Gegenwartsjubel
(„Ein Jauchzer") liegt das zweite Problem. Oder besser: in der Trennung
der zwei im „Prometheus" vereinigten Elemente. Die „Balladen" — zeitlich
zwischen „Literarischen Gleichnissen" und „Glockenliedern" bilden in ihrer
Mischung von alten Tönen und Vorklängen zum „Olympischen Frühling"
einen Wendepunkt und weisen mit dem humoristischen Stück in realistischer
Technik „Die jodelnden Schildwachen" unmittelbar auf die poetische Prosa.
Da fällt vor allem auf die straffe Komposition. Dass er ein neues Genre
(„Darstellung") schafft — eine nach verschiedenen Seiten bemerkenswerte
Tatsache — ist weniger interessant, als der Umstand, dass er im Idyll ex-
zelliert. Drittes Problem, das auf die Art seiner Begabung führt.
Endlich der „Olympische Frühling", den man als sein Hauptwerk be-
trachtet, während Spitteler sich in erster Linie als den Verfasser des un-
geschriebenen „Herakles" fühlt, von dem er sagt: „er spannte und gipfelte
nach dem Schlüsse." Das führt auf verschiedene Fragen. Wie steht es mit
dem Stoffe des „Olympischen Frühlings"? Nicht mehr wie in „Extra-
mundana" Weitschöpfung. Die Welt besteht seit langem. Der Beginn einer
neuen Epoche wird dargestellt. Die Götter des „Olympischen" sind nicht
frei; Ananke zwingt sie. Selbst Ananke ist nicht frei, er, „der gezwungene
Zwang.- Diese Auffassung vom trostlos unabwendbaren Weltgeschehen
ergibt in ihren Konsequenzen künstlerische Nachteile. Kronos wird nicht,
wie in der griechischen Sage, von Zeus gestürzt. Die beiden Göttergene-
rationen treffen sich zwar einmal ; aber Kronos wird mit den Seinen von
Ananke in den Abgrund geschleudert. Somit fällt ein großer Teil, der zu
Bewegung und Spannung führen würde und aus dem sich die Herahandlung
leicht entwickeln ließe. Die neuen Götter haben ein Programm abzuwickeln
und Ananke gibt das Zeichen zu jeder Nummer. Also keine Handlung, die
nach dem Schlüsse spannt und gipfelt. Anders steht es mit dem Herakles-
stoff. Herakles wird vom Olymp gesandt und dann seinem Schicksal über-
lassen. Er hat die ganze Welt zum Feinde; aber er ist im Gegensatz zu
Prometheus kein leidender, sondern ein tätiger Held. Folglich : wilder Trotz,
Heldenkraft, Kampf, glänzende Geschehnisse.
In der realistischen Prosa straffe, im idealistischen Epos lockere
Komposition. Warum „Olympischer Frühling" und nicht „Herakles"? Das
Heraklesmotiv berührt sich mit dem Prometheusmotiv und enthält wohl
kaum die reichen Möglichkeiten des „Olympischen Frühlings". Dann ist
die Idee, dass selbst die Götter nicht frei, gewissermaßen nur Statthalter
des Schicksals mit ganz beschränkten Vollmachten sind, größer, tragischer
als die, dass Heroen im Kampfe gegen die Welt untergehen. Ist das alles?
Spitteler sagt einmal, der Dichter wähle den Stoff nicht, er müsse ihn
nehmen. Stoff und Komposition des „Olympischen Frühlings'' ist das vierte
Problem, das beleuchtet wird einerseits durch die unausgeführte Herakles-
idee, anderseits durch die poetischen Prosawerke des Dichters.
126
Diesen Problemen, die von der Form aus in die Kunst dringen, steht
eine Reihe anderer nicht minder wichtiger, aber heikler Fragen gegenüber,
die direkt auf die Struktur der Künstlerpersönlichkeit zielen, aber noch
nicht oder nur schwer zu beantworten wären. Da sind einmal die interes-
santen, von Spitteler selbst angegebenen Hemmungen, die so lange vor
seiner dichterischen Produktion standen. Ferner: Zwischen „Extramun-
dana" und „Schmetterlinge" liegen „sechs Jahre angestrengtester Arbeit":
zahlreiche Werke, die keinen Verleger fanden. Schienen nun dem Dichter das
Epos und das Drama, um zwei Hauptwerke dieser Zeit zu nennen, nach-
her, als er Verleger hatte, doch nicht reif genug? —
Ein beispielloser Kunstwille bildet das Signum dieser Persönlichkeit,
und alle Fragen gipfeln schließlich in der einen nach dem Verhältnis zwischen
Wille und Talent bei Spitteler. —
Keine Lösung, aber ein Weg. Meißner sucht weder Lösung noch Weg.
Auf Spittelers Ausspruch, er fühle sich in erster Linie als den Dichter des
ungeschriebenen Epos „Herakles", sagt er: „Wer Spitteler noch nicht kennt,
schüttelt zu diesem Satze den Kopf. Wer ihn kennt und sein Geschick,
das ich zu schildern habe, der neigt ihn, durch Wissen glaubend, in Trauer
und Ehrfurcht."
Nun erhält aber das Büchlein einen Wert, den es in absehbarer Zeit
behaupten wird: nicht wegen der biographischen Angaben, sondern wegen
des Anhangs : „Carl Spitteler. Eugenia. Eine Dichtung. Ausgewählte Stücke."
Die drei ersten Gesänge einer unvollendeten Dichtung „Johannes" erschie-
nen als selbständiges Ganzes unter dem Titel „Eugenia" in den achtziger
Jahren in der Sonntagsbeilage des „Bund".
Meißner zitiert eine Inhaltsangabe J. V. Widmanns. Es handelt sich
um einen begabten Knaben, der, aus der Schule gewiesen, von seiner Patin
Eugenia, einer schönen, jungen Witwe, aufgenommen wird. — „Eugenia"
ist in reimlosen fünffüßigen Jamben geschrieben und bildet stilistisch eine
Vorstufe, etwa zu entsprechenden Stücken in den „Schmetterlingen". Es
finden sich auch gleiche Motive und Stimmungen wie in den „Schmetter-
lingen" und „Glockenliedern".
Das erste Bruchstück schildert eine Liebesstunde der Sonne mit dem
armen Ziegenknaben Pan, das zweite die Fahrt Eugenias zum Methodium
und die Rückfahrt mit Johannes. Das dritte, ein Schlafstubenidyll, erzählt
von den Abenteuern zweier Schwesterchen mit ihren Lebkuchenmännern.
Im letzten holt sich Eugenia bei einem befreundeten Künstler Rat wegen
ihres Schützlings, der aus Liebe zu ihr einen Selbstmordversuch gemacht
hat. Auch der Meister leidet an hoffnungsloser Liebe zu der schönen
Frau, und wie sich das Gespräch auf diese Seite wendet, erklingt in den
Worten Megakles' ein Motiv aus den „Schmetterlingen" („Trauermantel"):
Ich aber habe fest bei mir geschworen,
Dass ich den Wurm, der mir seit jenem Tag
Das Herz zerfrisst, wandle zum Sonnenvogel
Golden und schön, duftig, von sammt'nen Farben ;
Der soll mir ewig fliegen durch die Lande,
Singend von Euch und Eurem stolzen Antlitz.
USTER JOSEF HALPERIN
aaa
127
KÜNSTLERTYPEN
MAX BURI
Wer da glaubt, Max Buri sei ein Genremaler, so eine Art Schweizer
Defregger, weil er sich fast nur mit der Darstellung von Brienzer Bauern
befasst, der irrt sich gewaltig. Niemals ist es ihm um ein Histörchen oder
Witzchen zu tun; was ihn reizt, ist das Bildnis, und seine großen Bilder
sind nichts weiter als Bildnisgruppen. Darum stellt er auch seine Bauern
nie bei der Arbeit dar, sondern in Feierabendstimmung, die das Porträtieren
zulässt; darum wählt er auch stets einen Maßstab, der eher über Lebens-
größe hinausgeht. Er ist auch stets bestrebt, durch den Kopf hindurch auf
die Seele zu kommen, und was er da schon an bäuerlicher Vornehmheit,
Biederkeit, charakterhafter Pfiffigkeit und an lustig komplexen Charakteren
gemalt hat, lässt ihn mit besserem Recht neben den Bauernspion Gotthelf
stellen als irgend sonst einen malerischen oder literarischen Darsteller.
So wenig es äußerlich den Anschein hat, Max Buri, der das Rezept
der Münchener Schule, die er durchgemacht hat, längt über Bord warf, in
technischer Hinsicht ein Schüler Hodlers. Er hat dessen helle Palette über-
nommen und für die Zwecke einer mehr realistischen Darstellung um-
gearbeitet. Und ganz besonders hat er wie Hodler die Umrisslinie in ihre
alten Rechte eingesetzt; er blieb dabei ganz Maler und hat nie bloß Zeich-
nungen koloriert. Seine Farbe ist saftig und lebendig, wo nicht ein Wirts-
tisch oder Spielteppich wie eine bloß angestrichene Stelle aus dem mit
flotter Handschrift gemalten Bild herausfällt. Die Stilleben Buris sind
gleichsam Bildnisse unbelebter Gegenstände und zeigen die gleiche Stili-
sierung wie seine Figuren; weniger durchgearbeitet sind die Landschaften.
Eine gut zusammengestellte Übersicht über Buris Schaffen ist bis Ende
dieses Monats im Kunstsalon Wolfsberg in Zürich zu sehen.
ZÜRICH ALBERT BAUR
D a D
„Herr von Brake seufzte und sprach: Wenn ich doch auch einmal
eine Gelegenheit fände, die Kunst zu unterstützen ! Ich habe mich schon
an Erich Schmidt gewendet, und der hat mir Ernst Zahn empfohlen, der
nach Keller und Meyer der dritte große Schweizer Dichter sei ; als ich aber
an Herrn Zahn schrieb, erhielt ich eine grobe Antwort: seine beiden Ge-
schäfte gingen gut, da sie gut eingeführt seien, er denke sogar daran, um
sich voll und ganz einer Sache widmen zu können, das Romangeschäft
seinem Oberkellner abzutreten, der eine erste Kraft sei; Keller und Meyer
mit ihrem heute veralteten Kleinbetrieb könne man überhaupt nicht mehr
mit ihm vergleichen, und er verbitte sich jede Schädigung seines Kredits."
Ich fand die Stelle, dick mit Blaustift angestrichen, in einem Buch,
das auf dem Schreibtisch eines Freundes lag. Es war eine Sammlung von
Novellen und der Brief Zahns war natürlich auch Fiktion. Der Titel lautet
Die Hochzeit von Paul Ernst, Verlag Meyer & Jessen, Berlin. Ihr könnt
euch denken, wie ich das Buch verschlungen habe.
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
128
DIE FOLGEN
Wenn irgendwo in der Schweiz ein Verbreclien begangen
wurde, das die Gemüter besonders aufregte, i<ann man häufig
genug eine ziemh'ch weite Kreise ziehende Voll<sbewegung beob-
achten, die auf eine Ersetzung der milderen Strafbestimmungen
durch schwerere abzielt. Aber im Hinbhck auf den recht um-
ständlichen Weg über eine Gesetzesänderung ebbt die Bewegung
verhältnismäßig rasch ab, und bald tritt die ruhige Überlegung
wieder an die Stelle der unter dem frischen Eindruck verständ-
lichen Erregung.
Eine ähnliche Stimmung beherrscht gegenwärtig zahlreiche
dem Gotthardvertrag gegnerisch gesinnte und über den bedauer-
lichen Ratifikationsbeschluss der Eidgenössischen Räte ungehaltene
Volksgruppen, und ganz besonders bei den wärmerblütigen Mit-
eidgenossen der welschen Schweiz hat eine Bewegung eingesetzt,
welche der augenblicklichen Mißstimmung zu einem dauern-
den Niederschlag in der Form gesetzlicher Maßnahmen ver-
helfen möchte.
Diese Vorschläge einer leidenschaftslosen Betrachtung zu
unterziehen wird um so nötiger sein, als der durch die Bundes-
verfassung vorgezeichnete Weg für die Einreichung eines Initiativ-
begehrens, wie es geplant wird, leicht zu beschreiten ist; mehr
als das: sind erst einmal die unerlässlichen Stimmen zusammen-
gebracht, so wird die Angelegenheit unaufhaltsam ihren weitern
Gang nehmen, auch wenn sich inzwischen bei den Urhebern der
Initiative das Blut abgekühlt haben sollte. Die notwendige Be-
129
ruhigung des Landes wird auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben;
Aufgaben, die ein Zusammenhahen der nationalen Kräfte ge-
bieterisch fordern, bleiben liegen, und ein Zwiespalt der Meinungen
im Land selbst kann noch lang und unheilvoll nachwirken. Denn
das muss wohl mit voller Deutlichkeit und von Anfang an gesagt
werden, dass nicht alle, die Gegner des Gotthardvertrags waren,
deswegen auch mit dem Antrag einig gehen, Staatsverträge oder
wenigstens bestimmte Gruppen solcher in Zukunft dem Volks-
entscheid zu unterstellen; die Wege vieler, die bis dahin mitein-
ander gingen, werden sich jetzt trennen.
Ist der Preis den hohen Einsatz wert?
Die zeitweise Beunruhigung des nationalen Lebens könnte
unbedenklich in Kauf genommen werden, wenn ein unbestreitbar
hohes Ziel am Ende stünde; ein allzu weit getriebenes Ruhebe-
dürfnis trägt vielleicht gerade die Schuld an manchen Erscheinungen
des öffentlichen Lebens, die uns nicht gefallen. Aber was würde
die Schweiz dauernd erreichen?
Das Initiativbegehren betreffend Ergänzung der Bundesver-
fassung, das in diesen Tagen dem großen Aktionskomitee gegen
den Gotthardvertrag vorgelegt worden ist, lautet in demjenigen
Teil, der uns hier beschäftigen soll: „Unkündbare Staatsverträge
oder solche von mehr als fünfzehnjähriger Dauer unterliegen der
Genehmigung des Volkes, insofern 30 000 Stimmberechtigte oder
acht Kantone das Begehren stellen." Der andere, nicht minder
bedenkliche Antrag, welcher diesem beigefügt wurde, soll hier
außer Betracht fallen.
Mir scheint, in der Rechnung der Urheber dieses Initiativ-
begehrens müsse schon deshalb etwas nicht recht stimmen, weil
sie einen Unterschied machen wollen zwischen Staatsverträgen
von langer und solchen von kürzerer Dauer. Wenn schon grund-
sätzlich der Glaube der Initianten vorhanden ist, die Vox populi
treffe in der Beurteilung von Staatsverträgen das Richtigere als
die parlamentarische Vertretung, so ist nicht einzusehen, weshalb
dem Volk nicht das fakultative Referendum in allen Fällen zu-
stehen solle. Man geht wohl nicht fehl mit der Annahme, dass
namentlich im Hinblick auf Zoll- und Handelsverträge jene zeit-
liche Einschränkung in das Begehren aufgenommen wurde: also
im Hinblick auf eine Gruppe von Verträgen, die den starken
130
Nährquellen des Landes, der Industrie und der Landwirtschaft,
ihre Richtung weisen und deren unmittelbar praktische Einwirkung
auf die Lebenshaltung des Volks deshalb größer ist als die fast
aller andern Staatsverträge. Warum soll gerade zu ihnen das
Volk nicht Stellung nehmen dürfen?
Offenbar, weil auch bei den Vätern der Initiative die Über-
zeugung besteht, dass damit der Abschluss von Staatsverträgen
solcher Art für die Schweiz ganz außerordentlich erschwert würde.
Denn bei allem wünschbaren nationalen Selbstgefühl ist festzu-
halten, dass die Schweiz auf diesem Gebiet nicht wie auf dem
internen allein zu verfügen hat, dass sie vielmehr mit den Mei-
nungen — vorgefassten und begründeten — anderer Vertrags-
staaten rechnen muss, und dass diese nun einmal dem unmittel-
baren Volksentscheid mindestens misstrauisch gegenüberstehen.
Und es ist ja in der Tat zuzugeben, dass mit einer Erweiterung
des Kreises von Personen, die über eine Vorlage abzustimmen
haben, die Gefahr wächst, dass an einem im Zusammenhang des
Ganzen vielleicht unwesentlichen Punkt der Widerstand einsetze,
weil gerade dieser Punkt besonders gut in seiner Tragweite über-
sehbar ist oder weil er eine leicht erregbare Saite des Volks-
gemüts in Schwingung versetzt. Die Möglichkeit, dass ein Staats-
vertrag um so leichter scheitert, je größer die Zahl der Instanzen
ist, denen er vorgelegt werden muss, besteht gewiss. Es ist daher
sehr begreiflich, dass die Vertragsstaaten, die ihrerseits ein solches
Abkommen der Entscheidung eines einzigen gesetzgebenden Fak-
tors, ihrem Parlament, unterstellen, in der Einführung einer zweiten,
einer obern Instanz durch die Schweiz eine Erschwerung für den
Abschluss von Staatsverträgen erblicken müssen. Es ist richtig,
dass alsdann die Gewichte in den Wagschalen der Vertragsparteien
nicht mehr die gleichen wären.
Aus dieser Erkenntnis heraus und offenbar um allzu häufige
Konflikte zu vermeiden soll das neu zu schaffende fakultative
Referendum also bloß für langfristige oder unkündbare Verträge
eingeführt werden. Aber es wurde bereits angedeutet, dass damit
durchaus nicht nur die wichtigsten Verträge dem Volksentscheid
vorbehalten bleiben; man denke nur etwa an eine unbedeutende
Grenzregulierung im Vergleich zu einem die wirtschaftliche Ent-
wicklung auf Jahre hinaus bestimmenden Zollabkommen. Ein
131
gewisser logischer Widerspruch klafft also von vornherein in dem
beabsichtigten Initiativbegehren: es ist eine Halbheit, weil auch
den Initianten vor den Konsequenzen des Ganzen graut.
Insofern es sich aber um unkündbare Verträge und um solche
von mehr als fünfzehn Jahren Dauer handelt, die tief in das
politische oder wirtschaftliche Dasein des einen und des andern
Staates oder der beiden Vertragsländer eingreifen, so werden die
vorher angeführten Bedenken an Gewicht noch gewinnen, und
die Schwierigkeiten, zu einer Verständigung zu gelangen, werden
wachsen.
Und noch ein Weiteres ist zu beachten. Das Volk in seiner
Gesamtheit — dies bedeutet Vorteil und Nachteil zugleich — ist
temperamentvoller und Stimmungen leichter unterworfen als seine
parlamentarischen Vertreter, denen schon ihr Amt eine gewisse
Bedächtigkeit zur Pflicht macht. Momentane politische Spannungen
ohne eigentlich tiefere Bedeutung vermöchten daher in einer Volks-
abstimmung über einen Staatsvertrag leicht einen Einfluss zu ge-
winnen, der einer sachlichen Würdigung der Vertragsbestimmungen
hindernd in den Weg träte; damit könnte eine vorübergehende
Trübung internationaler Beziehungen zu dauernden Misshelligkeiten
angefacht werden. Diese Gefahren haften einer Entscheidung
durch das Volk unbedingt stärker an als der einer parlamentari-
schen Körperschaft; darüber darf das Unbehagen nicht wegtäu-
schen, das ein von vielen bedauerter Beschluss der letztern im
Einzelfall verursacht hat.
So ist von einer Erweiterung der Bundesverfassung im Sinn
der Initianten eine Erschwerung des Verkehrs mit anderen Staaten
fast sicher zu erwarten; was aber wäre für das innere Leben der
Eidgenossenschaft gewonnen ?
Man nimmt auf der Seite der Gegner des Gotthardvertrags
an, das Ergebnis wäre anders ausgefallen, wenn die letzte Ent-
scheidung beim Volk statt bei den Eidgenössischen Räten gestan-
den hätte. Es ist wohl möglich; aber immerhin handelt es sich
um eine bloße Vermutung, und jedenfalls hätte auch da einer
kleinen Mehrheit eine ansehnliche Minderheit gegenübergestanden.
Der Kampf selbst aber hätte unzweifelhaft noch heftigere Formen
angenommen, da es sich nicht nur um eine bloß moralische Be-
einflussung wie gegenüber dem Parlament, sondern direkt um die
132
Gewinnung der Stimmberechtigten selbst gehandelt hätte. Und
wenn schon bei Abstimmungen über Fragen der Innern Gesetz-
gebung häufig eine anhaltende Mißstimmung bei den unterlegenen
Volkskreisen eintritt, so würde die Sache noch misslicher, wo die
Beziehungen zu auswärtigen Staaten mit hineinspielen. Man nehme
nur etwa an, es wäre — entgegen der jetzt vorherrschenden Ver-
mutung — auch In der Volksabstimmung der Gotthardvertrag
ratih'ziert worden, und man wird nicht Im Zweifel sein über die
geradezu unheilvolle Nachwirkung eines solchen Entscheids auf
das Innere Leben unseres Volks.
Dass sich die Wogen des Unmuts wegen der Entscheidung
der Räte noch nicht geglättet haben, Ist begreiflich; aber der Un-
mut ist — zumal In politischen Dingen — ein schlechter Berater.
Ein Fehler wird nicht dadurch gut gemacht, dass ein zweiter,
vielleicht folgenschwererer, begangen wird.
Der Kampf um den Gotthardvertrag war ohne Zweifel kein
vergeblicher, wenn auch der Ausgang anders war, als wir ihn
wünschten. Jeder von uns kann daraus sein Teil lernen. So
empfindlich der Schweizer gegen jede auch berechtigte Kritik der
Zustände seines Landes durch dritte Ist, so leicht trägt er Aus-
ländern gegenüber sein Herz auf der Zunge, wenn er selbst mit
Irgendwelchen Zuständen seines Vaterlandes nicht zufrieden Ist.
Wenn dem Industriellen oder Kaufmann das Geschäft nicht nach
Wunsch geht, muss einzig die Kleinheit des Landes daran Schuld
sein, die keine reiche Entwicklung zulasse; wenn den Bürger die
öffentlichen Zustände enttäuschen, liegt es wieder an den engen
und kleinlichen Verhältnissen der Schweiz; und diese Klagen
fließen Ins Ohr des willig horchenden Ausländers, der seine
Schlüsse zieht. Was Wunder, wenn bei manchen Ausländern in
der Schweiz die Ansicht um sich greift, die Schweizer hätten
immer mehr den Wunsch, in einem großen Staat aufzugehen, um
seiner politischen und wirtschaftlichen Segnungen teilhaftig zu
werden. Nur so ist es auch verständlich, dass ein in der Schweiz
angestellter Reichsdeutscher sich erdreisten durfte, In einem der
zahlreichen von ihm in dieser Sache bedienten schweizerischen
Blätter die von einer starken patriotischen Welle getragene Be-
wegung gegen den Gotthardvertrag als „die Verschwörung der
Kannegießer" zu verhöhnen.
133
„Bei nächster Gelegenheit werdet ihr Schweizer Farbe be-
kennen müssen," sagte mir neulich ein hervorragender Ausländer,
der mit vielen Schweizern zusammenkommt. Farbe bekennen?
Unsere Farben sind rot und weiß; noch haben wir nicht den
Wunsch, ihnen schwarz oder blau zuzusetzen.
ZÜRICH HANS SCHULER
DOD
BETRACHTUNGEN ZUR ANNAHME
DES GOTTHARDVERTRAGS
1. DIE ALTE UND DIE NEUE VOLKSBEWEGUNG
Es ist das beste Zeugnis dafür, wie die Volksbewegung gegen
den Gotthardvertrag vor der Entscheidung nicht erlahmte, dass
die 117 102 Unterschriften, die wir hier am I.Oktober letzten Jahres
meldeten (Seite 12, Band XI), bis zum 27. März 1913 auf 130163
anwuchsen, dass in Lausanne und Genf Volksversammlungen ab-
gehalten wurden, die von zehn- bis fünfzehntausend Bürgern
besucht waren, und dass an der „Landsgemeinde" in Bern vom
Ostermontag nicht weniger als zwölftausend Mann teilnahmen.
Viele Vertragsgegner hatten gefürchtet, die Versammlung könnte
unwürdig verlaufen und so dem guten Zweck der Bewegung eher
schaden; doch waren alle Beteiligten in ihrem Urteil über den
starken Eindruck, wie ihn gewaltiges Volksempfinden in einer
ernsten nationalen Sache erzeugen kann, einig. Gegenüber andern
Behauptungen sei hier festgestellt, dass höchstens drei- bis vier-
tausend Welschschweizer an der Versammlung teilnahmen; von
den sechs- bis achttausend Deutschschweizern war naturgemäß
die Mehrheit Berner; es war also dort etwa das gleiche Verhält-
nis wie auf den Unterschriftenbogen, das heißt von den rund
130 000 Unterschriften gehören rund 45 000 mit Tessin der welschen
Schweiz an, der Rest von zirka 85 000 der deutschen Schweiz
und den Schweizern im Ausland. — Nach der Annahme des
Vertrags fanden in Lausanne und in Genf gewaltige und würdige
Protestversammlungen statt.
134
Nachdem eine so mächtige Voiicsbewegung von der Bundes-
versammlung abgewiesen worden ist, versteht es sich von selbst,
dass man sich nicht mit der Tatsache abfinden mag, sondern sich
allgemein fragt, was geschehen soll, damit solche Dinge nicht
wieder vorkommen, damit nicht nochmals solche uns und unsere
Nachkommenschaft belastenden Schicksalsfragen entschieden wer-
den, ohne dass der eigentliche Souverän etwas dazu zu sagen hat.
Diese Stimmung wurde noch durch die Erfahrungen verstärkt,
die man bei der Beratung des Vertrags in den eidgenössischen
Räten machte. Im Nationalrat wurde der Vertrag mit 108 gegen
77, im Ständerat mit 33 gegen 9 Stimmen angenommen; nur
zwei Mitglieder in jedem Kollegium waren abwesend. Lehrreich
ist die Ausscheidung sowohl nach Parteien als nach Kantonen.
Nach Kantonen stimmten:
Nationalrat Ständerat Nationalrat Ständerat
Ja
Nein
Ja
Nein
Ja
Nein
Ja
Nein
Zürich
17
7
1
1
Schaffhausen
1
1
2
—
Bern
20
12
2
—
Appenzell A.
-Rh.
2
1
1
—
Luzern
8
—
2
—
Appenzell I.-
Rh.
—
1
1
—
Uri
1
—
2
—
St. Gallen
7
7
1
1
Schwyz
3
—
2
—
Graubünden
3
3
1
1
Obwalden
1
—
1
—
Aargau
10
2
2
—
Nidwaiden
1
—
1
—
Thurgau
5
2
2
—
Glarus
—
2
2
—
Tessin
8
—
2
—
Zug
—
2
2
—
Waadt
1
15
1
1
Freiburg
4
3
2
—
Wallis
1
5
1
1
Solothurn
4
2
2
—
Neuenburg
—
6
—
2
Basel-Stadt
4
3
1
—
Genf
2
6
—
2
Basel-Land
4
—
1
—
Total
108
77
33
9
Daraus geht hervor, dass bei der Abstimmung die nationalen
Gesichtspunkte die geringere Rolle spielten und dass vorwiegend
Rücksichten für eine Partei oder für eine Region vorherrschten.
Es ist doch eigentümlich, dass alle Gotthardkantone in beiden
Räten (mit Ausnahme der drei Sozialdemokraten von Baselstadt,
die wie ihre Partei gestimmt haben) lauter bejahende Stimmen
aufweisen. Es ist ferner merkwürdig, dass alle Mitglieder der
sozialdemokratischen Partei und mit einer Ausnahme auch der
demokratischen Partei (Zimmermann) gegen den Vertrag stimmten,
während die freisinnig - demokratische Fraktion der deutschen
Schweiz mit vier Ausnahmen (Frey, Usteri, Michel und Vital) für
den Vertrag eintrat und sich wie eine Leibgarde um den Bundes-
135
rat scharte. Die Rechte war weniger wegen ihrer Stellung zum
Bundesrat als aus regionalen Gründen gespalten. In beiden Räten
stimmten 29 Mitglieder dafür und 23 dagegen ; die welschen Mit-
glieder des Zentrums stimmten mit den beiden Bernern gegen,
die deutschen Mitglieder für den Vertrag.
Es ist zum mindesten sonderbar, dass alle der Gotthardzone
angehörenden und an der Debatte teilnehmenden Mitglieder des
National- und Ständerates aller Parteien von Basel bis Chiasso be-
teuerten, nur aus nationalen Rücksichten /w> den Vertrag zu stimmen,
während alle Redner der welschen Schweiz mit Ausnahme der
Herren Charbonet und Thelin nicht weniger überzeugt ihre rein
nationalen Motive gegen den Vertrag in den Vordergrund stellten.
Dass regionale Erwägungen mittelbar für und gegen den Vertrag
mitspielten, unterliegt keinem Zweifel, und zwar ohne dass man
ein Recht hat, dem Einzelnen Verletzung nationaler Interessen
vorzuwerfen. Die Gründe, die für Annahme oder Ablehnung des
Vertrages sprachen, waren in der Tat so stark, dass es mensch-
lich und natürlich ist, wenn man denjenigen Gründen am liebsten
Gehör schenkte, die einem noch aus andern Erwägungen am
nächsten lagen. Und wenn man, wie die Gotthardkantone, erst
noch den einstimmigen Beschluss des Bundesrates und die ein-
stimmige Billigung der Generaldirektion vor sich hat, die einen
jeden beschworen, für den Vertrag einzustehen, so ist es minde-
stens entschuldbar, wenn viele für regionale Interessen nicht ganz
taub blieben. Dabei soll zugestanden werden, dass mancher mit
Nein gestimmt hätte, hätte er nicht wenigstens bei der Frage der
Kontrolle eine Einmischung des Auslandes befürchtet. Darüber
konnte man in guten Treuen optimistisch und pessimistisch
denken; alle andern Fragen, die Meistbegünstigung, die Herab-
setzung der Bergtaxen, spielten daneben eine geringere Rolle.
Trotz alledem machte das einstimmige Eintreten der Zentral-
schweiz gegen den Vertrag einen bemühenden Eindruck. Man
war sonst bei ihr an ein besonders starkes Empfinden für Fragen
der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit der Schweiz gewohnt;
man denke an die Reden der verstorbenen Segesser, Wirz, Schu-
macher und anderer. Es gibt keine Urschweiz mehr! Das war
ein bitteres Wort, das man oft hören musste.
136
Eine gewisse Erklärung hiezu gab die Antwort von Regie-
rungsrat Walther auf den Vortrag von Nationalrat Gobat in Luzern;
er führte aus, Luzern verdanke der Gotthardlinie seinen Auf-
schwung und man dürfe zu nichts stimmen, was die Gotthard-
interessen gefährden könnte. Man scheint also die falsche Parole
ausgegeben zu haben, es gehe gegen den Gotthard!
Die Berner waren in einer ganz eigenen Lage. Ihre gut
schweizerische Gesinnung bewiesen sie ja zum Beispiel beim Bau
der Gotthardbahn zur Genüge. Aber jetzt, wo sie vor dem Rück-
kauf eines Hundertmillionenwerkes stehen, kann man die Vorsicht
der dem Unternehmen Nahestehenden wenigstens menschlich be-
greifen. Diese Herren mussten sich weiter sagen, dass der Lötsch-
berg, zu dessen Erstellung der Kanton Bern nach der Baubewilli-
gung für den Simplon das volle Recht hatte, die deutsche Re-
gierung geradezu darauf stieß, die Hand auf den Gotthard zu
legen, und ein nicht unberechtigtes Taktgefühl, das wir nicht
näher beschreiben wollen, stimmte sie zurückhaltend, gegen den
ausdrücklichen Willen von Bundesrat und Generaldirektion Stel-
lung zu nehmen.
Was die welsche Schweiz betrifft, so ist es eine große Un-
billigkeit, ihr anzudichten, sie habe aus Rücksicht für Simplon
oder Lötschberg eine vertragsfeindliche Haltung eingenommen,
ihre regionalen Bedenken waren höherer Art: sie befürchtete vom
Vertrag eine zunehmende Germanisierung der Schweiz in verkehrs-
politischen Fragen und dies nicht mit Unrecht. Dass diese Furcht
sie ganz anders bedrücken musste und heute noch bedrückt, liegt
auf der Hand.
Die Behandlung einer Schicksalsfrage für die ganze Schweiz,
wie sie der Gotthardvertrag darstellt, nach großenteils regionalen
Gesichtspunkten erweckt Bedenken für die Behandlung ähnlicher
Verträge für die Zukunft. Man sagt nicht ohne Recht, es sei ein
Hohn auf unsere demokratische Verfassung, wenn unkündbare,
die Nachkommenschaft belastende Verträge durch bloßen Beschluss
der großenteils von regionalen Gesichtspunkten geleiteten Bundes-
versammlung abgeschlossen werden können, ohne dass das Volk
ein Wort mitreden kann. Das einzige Recht, das es besitzt, das
Petitionsrecht, ist im Grunde des Souveräns, der das Volk nun
einmal ist, unwürdig und soll das Volk nicht ein zweites Mal in
137
eine beschämende Lage bringen. Diese Erwägung und nicht ein
übel angebrachtes Rachegefühl war der eigentliche Beweggrund
zu einem Initiativbegehren, wonach gewisse Staatsverträge dem
fakultativen Referendum unterstellt werden sollen.
Daneben hat allerdings noch das Moment mitgespielt, dass
in der welschen Schweiz über die Annahme des Vertrags eine
derartige Aufregung geherrscht hat, dass man abgesehen von
den erwähnten Gesichtspunken fast wünschen musste, durch irgend
einen Blitzableiter die gefährliche Verstimmung abzulenken. Das
ist wohl mit ein Grund, warum das waadtländische Aktions-
komitee gegen den Gotthardvertrag auf sofortige Einleitung der
Staatsvertragsinitiative drang, bevor nur das schweizerische Komitee
Zeit fand, die Sache zu besprechen.
Aus der Erwägung heraus, dass man auch den Schein mei-
den müsse, als ob es sich bei der Staatsvertragsinitiative um
einen bloßen Ausdruck des Ärgers handle, ist der Antrag auf sofor-
tige Auflösung des großen Aktionskomitees durchgedrungen. Neue
Leute sollen die Bewegung leiten, auch solche, die für den Ver-
trag eingenommen waren, aber aus Billigkeitsgefühl für die ge-
wünschte Erweiterung der Volksrechte einzutreten gewillt sind.
Der Beschluss des nunmehr aufgelösten großen Aktions-
komitees, dass die vom waadtländischen Komitee eingeleitete
Initiative unterstützt werden müsse, ergab sich von selbst, nach-
dem schon letzten Herbst zwei großenteils aus Mitgliedern des
Aktionskomitees bestehende Versammlungen in Lausanne und
Zürich zu Händen des großen Komitees eine ähnliche Initiative
für den Fall der Annahme des Vertrages angeregt hatten. Seit
letztem Herbst zeigte sich oft eine starke Strömung, unter Um-
ständen sofort, vor der Beratung der Vorlage durch die Räte, los-
zuschlagen. Man verzichtete darauf hauptsächlich auf den Rat ver-
tragsgegnerischer Parlamentarier hin, deren freie Stellung im Rat
man nicht beeinträchtigen wollte. Es handelt sich also nicht um
eine überstürzte Aktion, sondern um eine Bewegung, deren Zustande-
kommen schon seit Monaten als eine gegebene Sache galt.
Man hat nun die Frage aufgeworfen, was das Volk denn von
Staatsverträgen verstehe? und ob das Volk bei Abstimmungen
138
sich denn nicht auch vielfach nach materiellen und regionalen
Gesichtspunkten richte? Das ist zum Teil richtig, aber dann hat
wenigstens das Volk selbst über sein Schicksal befunden und trägt
nicht bloß die Konsequenz der „Realpolitik" einzelner Mitglieder
der obersten gesetzgebenden Behörden. Im übrigen ist die Bilanz,
die man über das Resultat der Referendums-Abstimmungen ziehen
kann, gewiss nicht schlecht, und durch die ganze Bewegung gegen
den Qotth ardvertrag ist dem Schweizervolk für den gesunden Sinn
und politischen Takt auch bei Staatsvertragsfragen ein glänzendes
Zeugnis ausgestellt worden.
Wenn man Bedenken gegen berechtigte Volksrechte hat, so
soll man diese überhaupt abschaffen. Da sie aber einmal da sind,
so ist die logische Konsequenz der ganzen Stellung des Volkes
als Spitze des Staatshaushaltes die Unterstellung gewisser Staats-
verträge unter den Volkswillen. Wir sagen gewisser Verträge.
Es versteht sich von selbst, dass eine Form gesucht werden musste»
die den Abschluss von Zolltarif-, Meistbegünstigungs-, Nieder-
lassungs- und andern Verträgen, die zum laufenden Bundeshaus-
halt gehören, nicht erschwert oder in Frage stellt.
Wir möchten bei dieser Gelegenheit doch an die Bemer-
kungen erinnern, die Bundesrat Forrer noch als Nationalrat im
Bericht an die Bundesversammlung über die Genehmigung der
Berner Konvention zum Schutz von Werken der Literatur und
Kunst vom Q.September 1886 gemacht hat:
Indem so der völkerrechtliche Vertrag in das materielle Privat- und
Strafrecht des einzelnen Staats eingreift, ergibt sich staatsrechtlich der
Satz, dass im einzelnen Staat die Übereinkunft nur auf dem Weg ge-
nehmigt werden kann, auf dem ein giltiges Gesetz zustande kommt.
Wendet man diesen Satz auf die Schweiz an, so sollte folgerichtig die
Genehmigung auf dem Wege des Erlasses eines Gesetzes ausgesprochen
werden. Die Bundesverfassung hat aber dieses Verhältnis anders ge-
ordnet und überlässt in Artikel 85, Absatz 5, solche Genehmigungsbe-
schlüsse dem souveränen Entscheid der Bundesversammlung, während
einem Gesetz die sogenannte Referendumsklausel beigefügt werden
muss (Artikel 89 der Bundesverfassung). Es liegt auf der Hand, dass
diese Ungleichheit oft Unzukömmlichkeiten im Gefolge hat, weil auf
diese Weise der Schweizer Aktivbürgerschaft die Teilnahme an der f
Gesetzgebung versagt wird, sobald es beliebt, die betreffende Materie
international zu ordnen.
Jedenfalls folgt aus dem Gesagten die eine Regel für das Verhalten
der Eidgenössischen Räte: Es soll nicht auf dem außergewöhnlichen
Wege des völkerrechtlichen Vertrages wichtiges neues internes Recht
139
geschaffen und nicht das auf dem Wege der ordentlilchen Gesetzgebung
zustande gekommene eidgenössische Recht durch einen völkerrechtlichen
Vertrag erheblich geändert werden.
Das bernische Patriziat daciite entschieden demokratischer
als unsere führenden Politiker, als die Regierung beim Abschluss
eines wichtigen Vertrags mit dem Herzog von Savoyen im ganzen
Land herum fragen ließ, wie man dächte, und die Volksmeinung
feststellen ließ. Die ideale Hoffnung, die bedeutsame Gotthard-
vertragsdebatte in den Eidgenössischen Räten habe auf die Dauer
regenerierend gewirkt und man werde beim Abschluss gleich be-
deutsam.er Staatsverträge vorsichtiger vorgehen, ist höchst trü-
gerisch. Auch da werden sich alle, welche die tatsächlichen Ver-
hältnisse aus eigener Erfahrung kennen, auf den Standpunkt der
„Realpolitik" stellen.
Die Frage der Unterstellung von Staatsverträgen unter das
Referendum ist keineswegs neu. Bei der Beratung über die Re-
vision der Bundesverfassung im Nationalrat hat schon Segesser
den Antrag gestellt, Artikel 89 sei so zu fassen: „Bundesgesetze
und Staatsverträge mit dem Auslande unterliegen der Abstimmung
des Volkes." Am 27. Januar 1872 wurde sein Antrag aber mit 67
gegen 31 Stimmen verworfen, also immerhin mit erheblicher
Minderheit.
Abgelehnt wurde auch die Erheblichkeitserklärung der Motion
Fonjallaz-Decurtins vom 3. Juni 1896, dass die Handelsverträge
dem Volke zur Annahme oder Verwerfung unterbreitet werden
sollen, sobald 30 000 Schweizerbürger oder acht Kantone ein
dahingehendes Begehren stellen. Die Abweisung im Nationalrat
mit 82 Nein gegen 6 Ja war vollkommen berechtigt. Niemals
kann es sich darum handeln, die Freiheit der Eidgenössischen
Räte beim Abschluss der genannten Verträge einzuschränken. Anders
verhält es sich mit eigentlichen die Nachkommenschaft belastenden
Schicksalsverträgen, wie Simplon- und Gotthardvertrag, die un-
kündbar abgeschlossen wurden.
Das waadtländische Komitee gegen den Gotthardvertrag war
bestrebt, dieser Forderung so weit als möglich nachzuleben. Es
hat für die Initiative folgenden Text festgelegt:
Art. 89, alinea 3: Les traites internaüonaux conclus pour une
dure'e indeterminee ou pour plus de quinze ans sont soumis egalement
ä l'adopüon ou au rejet du peuple, si la demande en est faite par
30 000 citoyens actifs ou par 8 cantons.
140
Der dem französischen angepasste deutsche Text lautet:
Staatsverträge mit dem Ausland, welche unbefristet oder für eine
Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind, sollen ebenfalls
dem Volk zur Annahme oder zur Verwerfung vorgelegt werden, wenn
es von 30 000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von 8 Kan-
tonen verlangt wird.
Es war dies, soweit bekannt, bis zu einem gewissen Grad ein
Kompromiss zwischen solchen, die engere Grenzen ziehen, und
andern, die weniger weit gehen wollten. Dass der Text der Er-
neuerung wenigstens den jetzt in Kraft befindlichen Handels- und
Meistbegünstigungsverträgen nicht entgegensteht, geht aus einer
amtlichen Tabelle des Bundesrates hervor.
In dieser nachstehenden Tabelle des bundesrätlichen Geschäfts-
berichts sind alle am 1. März 1913 in Kraft stehenden, ganz oder
teilweise den Handel betreffenden Verträge und Abkommen auf-
geführt. Die mit * bezeichneten Verträge sind sogenannte Meist-
begünstigungsverträge und enthalten keine Tarifvereinbarungen.
Staaten Inkrattsetzung ^^^^^
Belgien* 1899 —
Bulgarien* Notenaustausch vom \2.j\l. Februar 1906.
Chile* 1899 -
Kongostaat* 1890 -
Dänemark* 1875 —
Deutsches Reich:
Handelsvertrag .... 1892 "i ,. y,, ._._
Zusatzvertrag .... 1906/ öl. All. lyi/
Exclave Büsingen .... 1896 —
Ecuador* 1889 —
Frankreich :
Handelsvertrag .... 1906 —
Grenznachbarliche Ver-
hältnisse 1882 —
— Zusatzartikel . . . 1895 —
Genf und Zone . . . 1883 —
Grenz-Weidgang . . . 1912 —
Tunis* 1897 Unbestimmt
Griechenland* 1887 —
Großbritanien* 1856 —
Handelsmuster .... 1907 Unbestimmt
Italien 1905 u. 1906 31. VII. 1917
— Pharm. Produkte . . 1907 Unbestimmt
Japan* 1911 16. VII. 1923
Kolumbien* 1909 —
Montenegro* 1911 —
141
Staate Inkraftsetzung ^auer
Niederlande* 1878 —
Norwegen* Notenaustausch vom 5./22. Mai 1906.
Österreich-Ungarn .... 1906 31. XII. 19171)
Persien* 1874 —
Portugal* 1907 —
Rumänien* HH] 31. XII. 19172)
Russland* 1873 —
Salvador 1855 —
Serbien 1907 31. XII. 1917
Spanien 1906 31. XII. 1917
Türkei* Notenaustausch vom 22. III. 1890.
Handelsmuster .... 1912 Unbestimmt
Vereinigte Staaten 3) . . . 1855 —
Wo nichts angegeben ist, dauert der Vertrag noch bis zum Ablauf von
12 Monaten nach erfolgter Kündigung.
1) Der Vertrag kann mit Rücksicht auf das zollpolitische Verhältnis
zwischen Österreich und Ungarn schon auf 31. XII. 1915 gekündigt werden.
2) Durch das Zusatzabkommen vom 29. XII. 1904 ist die 1893er Über-
einkunft bis Ende 1917 verlängert worden.
3) Die Artikel 8 bis 12 (Meistbegünstigung) sind von der Regierung
der Vereinigten Staaten gekündigt worden und am 24. März 1900 erloschen.
Provisorisch besteht gegenseitige autonome Meistbegünstigung.
Die Zolltarifverträge (Handeisverträge) werden gewöiinlich
auf 10 bis 13 Jalire abgeschlossen, die bloßen Meistbegünstigungs-
verträge in der Regel auf unbestimmte Zeit, aber mit Kündigungs-
klausel. Die bestehenden Verträge fallen somit bei der Erneuerung
unter den selben Bedingungen nicht unter die Wirkung der Initia-
tive, ebensowenig die Niederlassungsverträge.
Nach Ansicht der Initianten ist nicht einzusehen, warum eine
solche Initiative das Land in irgend welche Aufregung versetzen
soll. Es handelt sich um die Ausfüllung einer entschiedenen Lücke
in der Verfassung, die erst durch die Gotthardbewegung und durch
die Notwendigkeit der des Souveräns wenig würdigen Petitions-
form ganz klar geworden ist. Jedenfalls ist sie allen denen sehr
deutlich geworden, die gegen den Vertrag gefochten und die eine
gewisse Scham empfunden haben, dass das Volk in der wichtigsten
Frage nur auf diese demütigende und untaugliche Weise sein
Selbstbestimmungsrecht wahren kann.
Ob der vorgeschlagene Text allen Verhältnissen so weit als
möglich angepasst ist, darüber werden die Meinungen ausein-
142
andergehen, auch in Kreisen, die der Initiative grundsätzUch sym-
pathisch gegenüberstehen. Man wird sich auch nicht ablehnend
verhalten, wenn glaubhaft nachgewiesen wird, dass die Interessen
des laufenden Bundeshaushaltes eine längere Frist als 15 Jahre
verlangen.
Die Hauptsache ist jetzt, dass man Bundesrat und eidgenössische
Räte veranlasst, sich mit einer Frage zu beschäftigen, mit der sie sich
sonst nicht beschäftigt hätten, damit nämlich, wie die angeführte
Lücke der Verfassung ausgefüllt werden kann. Es soll sich, wie
gesagt, nicht um Verträge handeln, die den laufenden Betrieb der
Staatsverwaltung betreffen, wie Zoll-, Handels- und Niederlassungs-
verträge und vielleicht noch andere. Verträge wie der Simplon-
und Qotthardvertrag gehören aber nicht zum laufenden Betrieb; das
sind Schicksalsiragen, über die das Volk ein Recht haben soll,
mitzusprechen.
Wäre es denn ein Unglück gewesen, wenn das Schweizervolk
kraft des Referendums den Qotthardvertrag verworfen hätte? Die
deutschen und die italienischen Regierungsunterhändler hätten
sicherlich den Bundesrat anfangs nicht so rücksichtslos behandelt,
wenn sie gewusst hätten, der Vertrag könne vor das Volk gezogen
werden. In der Bewegung gegen den Qotthardvertrag hat das
Volk mehr politisches Empfinden gezeigt als die Mehrheit der
Behörden und als der Bundesrat. Die Haltung des Volkes bei
der Bewegung gegen den Qotthardvertrag ist nach Ansicht der
Initianten eine Empfehlung für die Initiative und diese kann und
wird, wenn richtig formuliert, eine Stütze für unser Staatswesen
werden und nicht das Qegenteil.
Die Textfrage kann bei der Beratung durch die eidgenössi-
schen Behörden endgültig erledigt werden. Man kann sich wie
bei der Wasserrechtsinitiative über eine Form verständigen. Die
Hauptsache ist, dass die Behörden sich nicht unnahbar zeigen
und einfach vom hohen Ross herunter dem Volk die Verwerfung
der Initiative beantragen. Da könnten sie leicht die Rechnung
ohne den Wirt machen und die Qeister, die der Qotthardvertrag
rief, dürften den Behörden nochmals einen Streich spielen.
BERN J. STEIGER
(Fortsetzung folgt.)
DOD
143
HAUT LES COEURS!
La Convention du Gothard a ete acceptee, non par l'ensem-
ble du peuple suisse ni meme de ses representants, mais par
les Interesses. Parmi les deputes des cantons que traverse la
ligne, 45 ont vote pour la ratification et 7 l'ont rejetee; dans le
reste de la Suisse, 70 ont vote contre, et 63 pour. Ces chiffres
sont suffisamment clairs. Si Ton tient encore compte du vote
de Berne, interesse indirectement ä l'approbation, ä cause du
Loetschberg, la majorite rejetante s'eleve ä 15 voix, malgre la
question de confiance que le Conseil federal avait nettement
posee.
Ce serait mal connattre nos tendances que de voir, dans ce
rappel de chiffres eloquents, une tentative de dresser certains
cantons contre d'autres et d'aggraver encore le mal que nous
fera par eile meme la Convention du Gothard desormais defini-
tive. Teile n'est pas notre Intention. Nous en avons d'autant
moins le droit que, nous aussi, nous n'avons pas toujours su
mettre l'interet national au-dessus des considerations materielles^
et s'il se füt agi de la Faucille, du Mont-d'Or ou du Simplon,
au lieu du Gothard, nous aurions ä faire, en nous frappant la
poitrine, des reflexions plus ameres encore. Ne soyons pas pha-
risiens et ne remercions pas Dieu d'etre les seuls purs et d'avoir
defendu les interets sacres du pays contre les egarements de
quelques cantons. Si nous avons une action de gräce ä adresser
au ciel, c'est seulement que nos interets ne fussent pas en jeu.
Nous protestons vigoureusement contre ceux qui nous accusent
d'avoir obei ä des motifs malveillants vis-a-vis du St-Gothard.
Ce n'est pas vrai et notre bonheur a ete precisement de pouvoir
juger la question en toute independance d'esprit parce que nos
interets materiels ne se trouvaient ni engages ni menaces.
Dans l'etat actuel de notre esprit public, dans tous les can-
tons, la majorite du peuple, placee dans la Situation oü se trou-
vaient Lucerne et le Tessin, aurait agi de meme, et cette cons-
tatation doit enlever ä nos reproches toute aigreur. II n'en est pas
moins vrai que ces cantons ont impose ä la Suisse, dans un in-
teret pecuniaire, un traite nefaste.
144
Si nous n'avons pas le droit de le leur reprocher, nous de-
vons cependant saisir cette occasion pour faire un examen de
conscience. La politique materielle est le mal qui ronge la Suisse
et contre lequel nous devons reagir, A cöte des mille petites ca-
pitulations qu'ont dejä imposees ä notre pays les interets höte-
liers, qu'est donc la Convention du Gothard? une goutte d'eau
dans la vaste mer, et son importance reelle est surtout d'etre le
Symbole d'un etat d'esprit, le pus qui decele la plaie.
Cette question a un autre cöte que nous ne devons pas
passer sous silence, Tandis que, dans la Suisse romande, eile a
uni le peuple et ses representants dans une protestation presque
unanime, eile a pris nettement, dans les cantons allemands, le
caractere d'une question de parti. Sur 93 deputes de la Suisse
allemande qui ont accepte le traite, il y a 80 radicaux et les
13 autres appartiennent sans exception ä la region du Gothard;
au contraire, sur 37 qui Ton rejete, il y a au total 3 radicaux,
MM. Frey, Michel, et Vital. 11 est clair qu'on a vote comme un
seul homme sur un mot d'ordre et la conversion in extremis
de M. Odinga en est une preuve süffisante. Bien que notre droit
public ne connaisse pas le vote de confiance, le Conseil federal
s'en est fait accorder un par les Chambres et le parti radical a
commande ses bataillons pour sauver le prestige menace du
pouvoir executif.
Nous trouvons donc, dans cette question si hautement na-
tionale, les deux ennemis de notre politique ligues contre la
Suisse, l'esprit materialiste et l'esprit de parti, et Ton est parvenu
ä sauver ä la fois les interets de certains cantons et le prestige
du Conseil federal, menaces, pretendait-on, par le mouvement
populaire. Nous croyons utile de faire cette constatation de la
fa^on la plus claire, car eile doit etre la base de nos decisions
futures. Au risque d'etre en desaccord avec beaucoup des adver-
saires de la Convention, nous devons avouer que le vote du
Parlement federal nous parait plus grave moralement que par
ses consequences pratiques. II y a eu des exagerations commises
au cours de la polemique; on peut le reconnaitre sans honte,
car cela appartient ä l'essence meme d'une campagne politique.
Si le Conseil federal a decouvert la Suisse vis-ä-vis de l'etranger,
au point de vue materiel, certains adversaires l'ont decouverte
145
au point de vue moral. L'argument de la souverainete etait ä
deux tranchants et n'eiait meme pas absolument exact; on aurait
du en user avec plus de prudence.
La demonstration juridique des adversaires de la Convention
devait porter principalement sur ce point que l'assimilation de la
Suisse et des Chemins de fer federaux est abusive. Les chemins de fer
sont la propriet^ de l'Etat, mais ils ont une personnalite juridique
distincte. L'Allemagne pretendait que la Convention de 1869 ne
pouvait pas demeurer en vigueur parce qu'elle prevoyait un con-
tröle de la Confederation sur la Compagnie; la propriete passant
ä l'Etat le contröle fait defaut, et le contractant de 1869, la Suisse,
n'a plus la meme qualite; d'autre part une condition essentielle
du traite devient inapplicable et l'on est oblige de conclure un
nouvel accord. Teile etait l'opinion du rapporteur de la commis-
sion du Reichstag.
Ce raisonnement est sans force des l'instant que la Confe-
deration et les chemins de fer federaux sont deux personnalites
distinctes comme elles le sont en fait. Mais s'il en est ainsi, ce
sont les chemins de fer qui ont abandonne une partie de leur
souverainete et non pas la Suisse. C'est l'evidence meme. La
souverainete est une notion juridique qui se trouve bien au-
dessus de la clause de la nation la plus favorisee et il faut forcer
la langue pour pretendre que notre pays est maintenant diminue
vis-ä-vis de l'etranger.
La Convention du Gothard est une mauvaise affaire; eile
est le Symbole et la preuve de l'insuffisance diplomatique de nos
autorites autant que des defauts de notre Systeme politique. Mais
eile n'est pas finis Helvetiae et ceux qui, au lendemain de la
ratification, oseraient encore le pretendre, chargeraient sur leurs
epaules une lourde responsabilite. C'est un abus de mots que
de faire resider la souverainete d'un pays dans une question de
tarifs ferroviaires.
Mais si l'importance intrinseque de la Convention n'est pas
aussi grande qu'on l'a pretendu, son adoption ne risque pas
moins de dechainer sur notre pays une crise politique de la
plus haute gravite. On en aper^oit dejä les signes avant-coureurs
et la prudence exige que nous y soyons prepares.
146
Oserions-nous dire que cette crise nous paraissait depuis
longtemps necessaire et que nous en attendons plus de bienfaits
que de mal?
Nous ne parlons pas naturellement d'une aigreur qui jette-
rait les differentes parties de notre pays les unes contre les au-
tres, ou qui opposerait nos cantons les uns aux autres. C'est le
devoir de tous les patriotes de prevenir un semblable malheur
et nous avons la confiance qu'il y a assez d'hommes eclaires
dans le pays, pour opposer leur energie si cela etait necessaire,
ä des efforts anti-nationaux. L'idee que nous assistons en Eu-
rope au triomphe des races en Opposition avec les nationalites,
n'est ni une idee juste, ni une idee bienfaisante. Elle n'est pas
juste parce que la politique slave de la Russie n'est au fond
qu'une politique d'interet; eile est, de plus, dangereuse pour la
Suisse, contraire aux le^ons de son histoire et ä la direction de
son evolution, et nous nous etonnons de lui voir gagner du ter-
rain dans certains milieux.
La n'est point la question presente. Nous devons nous op-
poser en ce moment comme en tout temps aux menees centri-
fuges; mais il est ä craindre que, dans certains cantons plus
particulierement menaces, la ratification de la Convention n'ait
au point de vue patriotique des resultats funestes, au moins
de fa^on passagere. C'est une consideration qui aurait du in-
fluencer davantage, independamment du fond de la question, le
vote du Conseil national.
A cöte de cette crise du patriotisme que nous redoutons,
une autre, presque aussi perilleuse, nous menace. On parle
d'augmenter les droits populaires, de remettre au peuple la libre
disposition sur les traites internationaux; qu'on y prenne garde,
cette initiative, sans qu'il y paraisse, va exactement ä l'encontre
du but poursuivi.
Le rejet de la Convention du Qothard, contrairement aux
affirmations mille fois repetees de ceux qui la defendaient, loin
d'affaiblir la position diplomatique du Conseil federal, l'eüt ame-
lioree. C'est une force et non pas une faiblesse pour un gouver-
nement de pouvoir dire aux etrangers: non, je ne puis accepter
de pareilles conditions, le Parlement s'y opposerait, les Cham-
bres ne le permettraient pas. La voix de l'opinion publique et
147
de fa^on plus directe encore parlementaire, est Tun des moyens
de pression les plus souvent utilis^s par une diplomatie adroite.
Nous avons meme entendu Tun des connaisseurs les plus auto-
rises des questions ferroviaires en Suisse et en Allemagne affir-
mer que le moment actuel eüt ete particulierement favorable ä
des negociations nouvelles.
Le Conseil federal n'a pas voulu le comprendre; il a con-
stamment pretendu le contraire. Au Heu de prouver ä l'etranger
qu'il etait incapable d'obtenir des Chambres une adhesion ä des
conditions odieuses, il a voulu demontrer qu'il etait le seul
mattre, qu'il pouvait ce qu'il voulait, que le controle de la Con-
stitution n'existait pas dans la pratique et que des siecles de de-
mocratie nous avaient insensiblement conduits ä une autocratie
ä sept tetes.
Quelle conclusion en tirer? Celle-ci, que le droit de ratifier
les traites doit etre enleve aux Chambres? Certainement non,
car au lieu de fortifier la position internationale de la Suisse,
on l'affaiblirait davantage encore. La publicite, inseparable de la
democratie, est inconciliable avec la diplomatie. 11 faut se mefier
du doctrinarisme logique qui nous pousse aux consequences ex-
tremes de toutes nos institutions. On doit avoir le but devant
les yeux et ne pas s'attacher aux moyens. Si le but est de for-
tifier la Suisse vis-ä-vis des autres Etats, le moyen n'est certaine-
ment pas de soumettre les traites ä la sanction populaire. II
faut'plutot donner ä notre administration federale et ä notre
diplomatie, une autre Organisation et d'autres moyens d'action.
Mais surtout, plutot que d'etendre davantage les limites extremes
d'une democratie theorique, il faut reconquerir la realite d'un
pouvoir qu'un long usage a laisse se perdre. Lorsqu'il y aura
au Conseil national des deputes disposes ä obeir ä leurs elec-
teurs plutot qu'aux conseillers federaux, le peuple aura retrouve
l'influence qui lui appartient et dont il a ete frustre, le pouvoir
executif, la force que nous d^sirons pour lui et que remplace
mal un pouvoir capricieux et incontröle. C'est pourquoi la cam-
pagne qui va s'ouvrir doit etre dirigee non pas contre les com-
petences du Parlement, mais contre son esprit, non pas contre
les regles constitutionnelles mais contre la majorite. Nous ne
craignons meme pas d'ajouter que le peuple suisse a trop de
148
respect pour ses autorites. Le patriotisme n'exige pas, comme on
le croit trop souvent, que nous ayons une confiance aveugle dans
le Conseil federal. II exige, au contraire, que nous ayons l'oeil
ouvert sur nos interets et nous ne devons pas les abandonner
Sans contröle ä des magistrats inamovibles. Le jour oü la re-
election periodique du Conseil federal ne sera plus une simple
formalite et le contröle parlementaire une simple apparence, nous
aurons plus de confiance dans le fonctionnement de nos institu-
tions. En attendant, les destinees du peuple le plus democratique
de la terre sont remises ä des magistrats ä vie, assistes de con-
seils consultatifs. Teile est la realite nouvelle de notre Constitu-
tion, contre laquelle nous devons reagir ä tout prix.
Si le peuple comprend cela, les consequences bienfaisantes
de la Convention du Gothard depasseront de beaucoup ses mau-
vais resultats et la crise qu'aura provoquee sa ratification, au
lieu d'etre une crise mortelle, sera une crise de croissance. Le
peuple, dans notre pays, trop longtemps endormi, a senti sa
fierte se reveiller en face de pretentions excessives et presque
insolentes. Rien ne prouve, maintenant qu'il a les yeux ouverts,
qu'il ne saura pas voir avec un instinct tres juste le siege de ses
maux et les remedes qu'ils exigent. La crise est inevitable, mais
il faut la diriger. Si nous faisons tous notre devoir, eile ne doit
pas avoir des tendances antinationales, pas plus que des visees
demagogiques. On ne doit lui livrer ni l'unite de notre patrie,
ni sa consideration ä l'etranger. Mais on doit diriger la colere
populaire contre ceux qui Tont provoquee: l'esprit de parti qui
morcelle notre peuple, l'esprit de gain qui le ligotte et l'exploite.
On doit separer enfin le patriotisme du ministerialisme et com-
prendre que les lames de fond peuvent, elles aussi, porter le
navire vers un horizon plus large. On doit profiter de cette oc-
casion, qui a revele ä tous une Situation que beaucoup avaient
aper^ue, pour retablir dans notre politique federale le contröle;
c'est l'essence meme de la democratie, et le Conseil na-
tional l'a laisse se perdre, dans le menage Interieur autant que
dans les questions internationales. Et puisque les espoirs que
nous avions places dans certains chefs nouveaux ont ete de^us,
c'est le personnel gouvernemental tout entier qui doit recevoir
la le?on que lui donnera le peuple.
149
\ L'ennemi, dans notre pays, est l'esprit de parti qui a mis le
mot d'ordre radical au-dessus des arguments de la raison; l'en-
nemi, c'est l'esprit de servilite qui a mis le prestige du Conseil
\ federal au-dessus des interets de la patrie ; c'est enfin l'esprit
" utilitaire qui a place les avantages materiels des cantons du Go-
thard au-dessus de l'unite du pays. Sus ä l'ennemi I
BERLIN WILLIAM MARTIN
D DD
ÖSTERREICH - UNGARN
IN DER ORIENTKRISE
Im November vorigen Jahres waren die Beziehungen zwischen
Österreich-Ungarn und Russland so gespannt, dass die Sorge, es
könne zum Kriege kommen, weit verbreitet war. Serbien erhob
nach den Siegen über das rasch zusammengeraffte Heer Zekki
Paschas Ansprüche, deren Erfüllung Österreich-Ungarn unmöglich
zulassen konnte und deren gewaltsame Zurückweisung die Pansla-
visten aufs äußerste erregt hätte. Die Friedenshoffnung stützte
sich jedoch darauf, dass die russische Regierung aus verschiedenen
Gründen einen Krieg nicht wollen könne, und tatsächlich wurde
mit ihrer Zustimmung auf der Londoner Botschafterreunion an-
erkannt, dass der Grundsatz: „Der Balkan den Balkanvölkern",
wie es das Wiener Kabinett verlangt hatte, auch den Albanesen
zugute kommen müsse. Serbien lenkte ein und schließlich ver-
sprach es, sich mit einer international verbürgten Zufahrt zu einem
Adriahafen zu begnügen und die von seinen Truppen besetzten
Gebiete des künftigen albanesischen Staates zu räumen. Die Fest-
setzung der Grenzen dieses Staates durch die Botschafterreunion
verzögerte sich indes, da die russische Diplomatie ihn möglichst
eng bemessen wollte, monatelang, und die Montenegriner, denen
allmählich die Serben zu Hilfe kommen konnten, bedrängten das
belagerte Skutari, nach dessen Besitz König Nikolaus brennendes
Verlangen trug, immer mehr. Der König schwor, dass er eher
sterben als sich von Skutari zurückziehen werde, und die russi-
schen Panslavisten, deren Stimmung die Einnahme von Adrianopel
150
gewaltig gehoben hatte, jubelten ihm begeistert zu. Die Bewegung,
die sie in Russland hervorriefen, machte auf die Serben einen so
starken Eindruck, dass sie ihr Verzicht auf Nordalbanien reute
und sie neue Hoffnung fassten, es behalten zu können. So hatte
die Wiederaufnahme des Krieges eine Situation geschaffen, die
viel kritischer war als die vorjährige.
Für Österreich-Ungarn gab es kein Zurück. Es hat in der
albanesischen Abgrenzungsfrage große Zugeständnisse zugunsten
Serbiens und Montenegros gemacht, aber es konnte in der Haupt-
sache unmöglich nachgeben. Wir durften nicht gestatten, dass die
Albanesen erdrückt werden oder dass ihnen eine so rein albanesi-
sche Stadt wie Skutari, die ansehnlichste Albaniens, entrissen
werde. Ein selbständiges und lebensfähiges Albanien ist für Öster-
reich-Ungarn eine Notwendigkeit. Wie Italien nicht dulden kann,
dass die griechische Seemacht sich im Süden Albaniens allzuweit
erstrecke, so kann Österreich-Ungarn nicht dulden, dass der Nor-
den zwischen Serbien und Montenegro geteilt werde. Wenn diese
beiden Länder die adriatische Küste beherrschen, so herrscht dort
ihr Protektor Russland und die unterdrückten Albanesen würden,
nachdem Österreich sie preisgegeben hätte, in tiefstem Groll über
diese Enttäuschung und in Verachtung unserer Schwäche, sich
Italien zuwenden. Die Sieger und die Besiegten wären unsere
Feinde. Wir würden uns aber auch die Geringschätzung der süd-
slavischen Staaten zuziehen, die von da an mit gesteigertem Selbst-
gefühl ihre Agitation in Bosnien und Dalmatien fortsetzen würden,
die das Ziel verfolgt, diese Länder von der Monarchie loszureißen.
Alles hatte sich so zugespitzt, dass Österreich-Ungarn bereit sein
musste, nötigenfalls das Äußerste zu wagen.
Die französische Chauvinistenpresse sucht die Sache anders
darzustellen. In ihr erscheint Österreich-Ungarn als der Stören-
fried, der aus Eigensinn, Hochmut und Slawenhass den Serben
und Montenegrinern die Früchte ihrer Siege nicht gönnt und ein
so unzivilisiertes Volk wie die Albanesen künstlich zur Selb-
ständigkeit erheben will, vielleicht um es dereinst selbst ein-
zufangen. Serben und Montenegriner, von deren Existenz man
in Paris noch vor wenigen Jahren nur dunkle Vorstellungen hatte,
erscheinen als Kulturträger, in deren Obhut die wilden Albanesen
veredelt und zu sanfteren Sitten angeleitet würden und die sicherlich
151
irgend ein aus altersgrauen Zeiten stammendes Recht auf die Gebiete
haben, die ihnen Österreich streitig machen will. Die französi-
sche Chauvinistenpresse hält sich an Herrn Iswolski und die
Panslawisten und folgt dem Wegweiser im eigenen Gemüte, der
sie gegen den Verbündeten Deutschlands führt. Wenn Österreich-
Ungarn gedemütigt und geschwächt wird, so ist das schlimm für
Deutschland, und was für Deutschland schlimm ist, muss doch
für Frankreich gut sein, in Frankreich leben jetzt selbst vorur-
teilslosere Leute in dem Wahn, dass Deutschland sich mit dem
Plane trage, plötzlich über die Vogesengrenze zu brechen. Also
nieder mit dem Verbündeten Deutschlands, dem herrschsüchtigen,
ländergierigen Österreich, das in seiner Brutalität ein so kleines
Volk wie die Montenegriner niederdrücken und ihnen das mit
Blut Errungene abpressen will. Die wahre Ritterlichkeit würde
verlangen, dass der Große mit gelassenem Lächeln zusehe, wie
der Kleine ihm eine Bombe ins Haus legt.
An der Ringstraße in Wien erhebt sich vor dem letzten Reste
der ehemaligen Basteien ein Denkmal, das daran erinnert, dass
an dieser Stelle die Angriffe der Türken unter Kara Mustafa im
September und Oktober 1683 am hartnäckigsten waren und dass
dort am heftigsten gekämpft wurde. Mit Mühe und Not wurde
damals die größte deutsche Stadt, die Residenz des römischen
Kaisers, das Vorwerk des alten deutschen Reiches vor der
Unterwerfung durch die Eroberer Ungarns bewahrt. Die Nieder-
lage, die das Entsatzheer dem Feinde in schwerer Schlacht in dem
Weingelände zwischen Wien und dem Leopoldsberg bereitete, schloss
die fast zweihundertjährige Zeit des Türkenschreckens für die
Alpenländer endgültig ab. Glückliche ruhmreiche Feldzüge folgten,
die die Herrschaft der Sultane bis über die Save zurückdrängten.
Im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte aber zog eine neue
Gefahr herauf, die der Festsetzung der russischen Macht auf der
Balkanhalbinsel, also an der Südgrenze Österreichs, die Umklam-
merung Österreichs durch das riesig anwachsende Russenreich.
Schritt für Schritt breitete Russland, dank der Glaubensverwandt-
schaft mit den orientalischen Christen, seinen Einfluss aus, unter-
152
wühlte die Türkei und hielt sie in angstvoller Unterwürfigkeit. In
Wien wusste man wohl, dass sie sich nicht auf die Dauer werde
halten können, entwarf gelegentlich ein Zukunftsbild, das dem
jetzt verwirklichten ähnlich war, führte aber keine aktive Politik,
um sich ihm zu nähern. Was durch eine Beschleunigung des
Zerfalls der Türkei gewonnen sein würde, war nicht deutlich zu
erkennen, um so deutlicher, was man aufs Spiel setzte. Dazu
kam die finanzielle Schwäche, die Kompliziertheit der Verhältnisse
in Deutschland und Italien, wo der ererbte Einfluss — denn wer
hat den Mut, Überkommenes freiwillig aufzugeben? — bewahrt
werden sollte, die Furcht vor dem bald eroberungslustigen, bald
revolutionären Frankreich, die Furcht vor Erschütterungen über-
haupt, die das sorglich und kunstvoll gehütete Stillstandssystem
umwerfen könnten, und so achtete das von allen Seiten eingeengte
Österreich nur darauf, dass die Katastrophe nicht hereinbreche,
ehe die Zeit reif war. Man denke sich die Balkanvölker von
damals; sie wären nach dem Abzug der Türken einfach eine
Herde unter russischer Leitung geworden. Das fürchteten England
und Frankreich ebenso wie Österreich, und besonders Konstan-
tinopel wollten sie schützen.
In aller Schärfe zeigte sich der Gegensatz zwischen Österreich
und Russland zum erstenmal während des Krimkrieges. Seither
ist er immer wieder hervorgetreten, und jeder diplomatische Zu-
sammenstoß hat Spuren zurückgelassen, die den sich benachteiligt
Fühlenden, und das war immer Russland, da es an der Erreichung
seines letzten Zieles gehindert wurde, mit einem Unmut erfüll-
ten, der nie ganz zu verwischen war und die Behandlung der
jeweilig nächstfolgenden Krise erschwerte. Wenn es zum Paktieren
oder Zusammenwirken kam, wie in Reichstadt oder in Mürzsteg,
war das Ende doch ein verstimmtes Auseinandergehen. Das Hin-
ausdrängen Russlands aus Rumänien, wo es in Österreichs Flanke
stand, die Besetzung Bosniens nach dem russisch - türkischen
Feldzug, die Beschützung des von Russland selbst geschaffenen
Bulgarien gegen das tyrannische Auftreten der Schöpfer, die
schon mit dem Gedanken umgingen, es für seine Selbständigkeits-
regung durch Entsendung eines Heeres zu bestrafen, und schließ-
lich die Angliederung des besetzten Bosniens, zu der doch die ausdrück-
liche Zustimmung Russlands vorlag, all dies wurde in Petersburg
153
als schwere Verletzung empfunden und die Bitterkeit häufte sich
an. Neben der leidenschaftlichen Feindseligkeit der Panslawisten,
die den Kampf des Slawentums gegen Österreich und Deutschland
proklamieren, gibt es die elegantere, vorsichtigere, aber nicht
minder tief sitzende Reizbarkeit der russischen Diplomatie, die, je
nach der persönlichen Sinnesart, mehr oder weniger bereit ist,
bis zu einem gewissen Grade die Hilfe der Panslawisten zur Ver-
geltung an Österreich zu benützen, wobei auch das Maß und die
Form der Vergeltung verschieden gedacht wird. Und nicht nur
Vergeltung will die russische Regierung, sondern Niederdrückung,
damit sich das mit dem Deutschen Reich gleichberechtigt ver-
bündete Österreich in ein dem russischen Einfluss unterworfenes
verwandle.
Äußerlich hatte man sich in Petersburg damit abgefunden,
dass im Westen der Balkanhalbinsel der Einfluss Österreich-
Ungarns vorwiegen solle. Diesem Programm entsprach hier die
Erwerbung Bosniens, die zum Teil eine vorbauende Maßregel war.
Denn wenn Bosnien, das übrigens nur zur kleineren Hälfte serbisch-
orthodox, zur größeren mohamedanisch und katholisch ist, an
Serbien fiel, so blieb Dalmatien geographisch in der Luft hängen,
ein lockendes Objekt für das entstehende Großserbien, in dem
von da an das Schwergewicht des Südslawentums gewesen wäre.
Über Bosnien und die Herzegowina hinauszugehen gedachte man
in Wien nicht; nur handelspolitischer Anschluss eines etwa später
sich loslösenden Mazedonien v/äre das Ziel gewesen; der Plan
einer Eroberung Mazedoniens, von dem die Legende fortwährend
erzählte, hat bei keinem politisch maßgebenden Österreicher
bestanden. Der großen Mehrzahl der Serben, obwohl Graf An-
drassy dem damaligen Fürstentum auf dem Berliner Kongress
gegen den Wunsch Russlands ein ansehnliches Stück Land im
Süden verschafft hatte, genügte jedoch die Besetzung und dann
die Angliederung Bosniens, um die habsburgische Monarchie als ihren
Feind zu brandmarken, und radikale Nationale verbissen sich nun
erst recht in den Gedanken, die südslawischen Provinzen dereinst
loszureißen. Von den Panslawisten werden diese Ideen unter-
stützt und dem offiziellen Russland passt zum mindesten die anti-
österreichische Richtung. Unleidlich verstärken würde sich die
serbische Angriffslust, wenn Serbien sich bis an die Adria aus-
154
dehnen könnte. Die Serben haben eine sehr lebhafte Phantasie
und berauschen sich gern an Bildern ihrer eigenen Größe. Als
Herren von Albanien würden sie glauben, mit Österreich -Ungarn
anbinden und die stammverwandten Länder erobern zu können,
und käme es tatsächlich zu einem Kriege, so könnte eventuell
Russland auf dem Seewege ihnen Hilfe leisten.
Man darf nie vergessen, dass für Österreich-Ungarn die Balkan-
fragen auch Fragen der Innern Politik sind. Unsere innere Politik
aber ist ein sehr verwickeltes Getriebe und nicht mit einigen
Schlagworten zu erledigen. In einem Reiche, in dem neun Volks-
stämme beieinander wohnen, zum Teil in kompakten Massen,
zum Teil in Sprachinseln und Sprachhalbinseln, wo fast jeder
dieser Stämme seine besondern historischen Überlieferungen hat,
auf die er besondere Ansprüche gründet, und wo jeder kulturell
und sozial auf anderer Stufe steht, kommt man mit den einfachen
Rezepten nicht aus. Das haben Ausländer erfahren, die sich hier
mit der Zuversicht ans Werk machten, ungetrübten Blickes schnell
das Richtige zu treffen, und das hat die Sozialdemokratie erfahren,
die im Vollbewusstsein ihrer noch unabgenützten Welt- und Staats-
anschauung auch diese Frage glaubte lösen zu können. Am aller-
verkehrtesten urteilt, wer der Ansicht ist, dass die Lösung in einer
Auflösung zu finden wäre. Man braucht sich nur vorzustellen,
wie es hier aussehen würde, wenn dieses Reich nicht bestände.
Das Deutsche Reich kann es nicht darauf ankommen lassen, dass
ihm die Verbindung mit dem Adriatischen und Mittelländischen
Meer durch feindliche Staaten versperrt werde; es würde daher
die slawischen Küstenländer mit ihrem italienisch gefärbten Saum
unbedingt in Besitz nehmen müssen und dadurch würden sich
in verstärktem Maße wieder die bisherigen Schwierigkeiten ergeben
und vermutlich Konflikte mit Italien, dem der allzu starke Nachbar
unbequem wäre. Auch die zweieinhalb Millionen Deutsche in Böhmen
und Mähren würde die deutsche Nation nicht opfern wollen und
wenn ihr Gefühlsgründe nicht gälten, so würden ihr schon wich-
tige praktische Gründe verbieten, aus diesen Ländern einen Staat
werden zu lassen, der sich als ein slawisches Reich bis fast in
das Herz von Deutschland schieben würde, ein freiwilliges oder
unfreiwilliges Werkzeug Russlands. Die Tschechen täuschen sich
darüber nicht und es fällt ihnen nicht ein, die Zerreißung Öster-
155
reichs zu wünschen, in dem sie sich auf ihrem Gebiete vollständig
frei bewegen i<önnen. Sie möchten es nur im Verein mit den
Slowenen so weit wie möglich entgermanisieren, wodurch es aber
natürlich vollständig seinen Wert nicht nur für die Ungarn ver-
lieren würde, sondern auch für die Slawen antirussischer Richtung,
die Polen und Ruthenen, oder, wie sie sich jetzt nennen, Ukrainer.
Polen und Ruthenen würden in dem einen wie in dem anderen
Falle schutzlos gegen Russland werden, Ungarn würde bei einer
Lostrennung vom Reiche mit Mühe und Not seine Rumänen fest-
zuhalten suchen, Kroatien und den Zugang zur Adria würde es
einbüßen. Es würde an seiner Ungebundenheit wenig Freude er-
leben und genötigt sein, sich Deutschland anzuschließen. Aber
auch die serbokroatisch sprechenden Südslawen, die in Kroatien,
Dalmatien, Bosnien, Serbien und Montenegro beisammenwohnen,
wären in ihrem Winkel wenig glücklich zu preisen; jetzt haben
sie, haben sogar die Serben des Königreichs, kulturellen Anschluss
an Österreich, später wären sie vereinsamt und in keineswegs
freundlicher Nachbarschaft. Denn dass der alte Zwiespalt zwischen
Serben und Bulgaren fortbesteht, zeigte sich sogar, während noch
der Krieg gegen die Türkei im Gang war, und in diesem Augen-
blick entbrennt er bis zu beiderseitigen Drohungen mit Gewalt-
anwendung.
Alle Nationalitäten, die jetzt innerhalb Österreich - Ungarns
vereinigt sind, würden daher, wenn die habsburgische Monarchie
nicht bestünde, entweder schwer benachteiligt sein oder irgend
ein unzulängliches Surrogat für sie suchen. Darüber herrscht auch
fast überall Klarheit, wenngleich man fortwährend im Streit ist,
womöglich kein Opfer an nationalem Größengefühl für das ganze
bringen will und wenngleich diese Streitigkeiten bekanntlich oft
so stark werden, dass sie die Tätigkeit der Vertretungskörper
lahm legen und dringend nötige Beschlüsse, auf die ungeduldig
gewartet wird, verhindern. Eine Gefahr, dass das Volksgefühl
durch ausländische Agitation verwirrt werden könnte, besteht nur
in einem Teil jener südslawischen Länder, die wie das vor hundert
Jahren in Besitz genommene Dalmatien und das vor fünfunddreißig
Jahren in Besitz genommene Bosnien, noch zu wenig österreichische
Tradition haben; in Kroatien hat die ungarische Politik schwere
Fehler begangen, aber dort ist die Tradition so stark, dass bei
156
einiger Klugheit die serbischen Wühlereien völlig aussichtslos sein
werden. Es ist hauptsächlich Sache der ungarischen Regierung,
diese Aufgabe zu übernehmen, aber auch die auswärtige Politik
muss auf der Wache stehen; sie wäre schwächlich, wenn sie ein
Überquellen des Serbentums gestattete und würde eine ihrer wich-
tigsten Pflichten damit versäumen. Wenn Serbien vernünftig ist,
wird es sich zur Freundschaft, insbesondere zur handelspolitischen,
mit Österreich-Ungarn bequemen ; will es in Selbstüberschätzung
den Weg der Feindschaft betreten, so wird ein Zusammenstoß
schwer zu vermeiden sein. Ein großes Reich kann nicht seinen
Küstenbesitz gefährden lassen.
Die bestimmte Forderung Österreich-Ungarns, dass die Grenzen
des künftigen Albaniens von Serbien und Montenegro respektiert
werden müssen, ist so wichtig geworden, dass sie selbst auf die
Gefahr eines Krieges hin nicht missachtet werden durfte. Denn
sonst würde Österreich-Ungarn das Gespött der Balkanslawen
und der Panslawisten werden, die es schon jetzt mit der sterbenden
Türkei vergleichen und sein nahes Ende voraussagen. Wenn also
die andern Großmächte bei etwa nötig werdenden Zwangsmaß-
regeln nicht mittäten, so würde Österreich-Ungarn allein vorgehen
müssen. Die öffentliche Meinung ist hier überall, wo nicht aus
nationalen Gründen slawische Sympathien herrschen, für ein ent-
schlossenes Auftreten. Man fühlt es, dass sich Österreich-Ungarn
durch den Sturm in Russland nicht einschüchtern lassen darf und
man weiß auch sehr genau, dass Russland, welches ja gleichfalls
kein geschlossener Nationalstaat ist, dessen Nationalitäten aber
als Fremdvölker behandelt werden und daher vom Reiche los-
streben, durchaus nicht so stark ist, wie die Panslawisten glauben
oder glauben machen wollen. Ihre Kundgebungen, so lärmend
sie sind, sind noch kein Zeichen von Kraft. Die Regierung, die
von ihnen angegriffen wird und der Zar selbst, der wohl fühlt, was
bei einem Krieg in seinem tief unterminierten Lande auf dem Spiel
stünde, müssen diese Demonstrationen als störend und gefährlich
empfinden. Tatsächlich hat sie sich am Ende gegen sie ausgespro-
chen und den König Nikolaus abgeschüttelt. Denn sie ermuntern
Montenegro und Serbien zu einerTaktik, deren Fortsetzungösterreich-
Ungarn zu Entschlüssen zwingen müsste, die dann in Russland
noch viel mehr Erregung hervorrufen würden und sie verhindern
157
das Zustandekommen des Friedens zwischen der Türkei und den
Balkanstaaten, wodurch es dahin kommen könnte, dass die Bul-
garen schließh'ch doch nach Konstantinopel marschieren — ein
schrecklicher Gedanke für Russland, so viel es von slawischer
Brüderlichkeit reden mag.
Für die Auffassung der Panslawisten ist der historische Pro-
zess, der sich jetzt mit dem Zusammenbruch der Türkei vollzogen
hat, das Signal zur Zerstörung Österreich-Ungarns, zum Ansturm
gegen das Deutschtum. Würde Russland nach ihrem Sinn han-
deln, so würde es voraussichtlich einer Katastrophe entgegengehen.
Dass der Zar und seine Minister dies empfinden, darauf beruhe
die Hoffnung eines friedlichen Ausganges, die sich auch bestätigt
hat. Der Friede wird geschlossen. Mit der Lösung der Krise,
die an die Stelle der türkischen Staatsruine unabhängige Staaten
setzt, kann Österreich-Ungarn zufrieden sein, wenn die neuen
Gebilde, wie dies zuerst Rumänien gelungen ist, ihre Selbständig-
keit gegen Russland wahren und unsere Ruhe nicht stören. Tat-
sächlich ist das Gegenteil nur von Serbien zu befürchten, das auf
den russischen Panslawismus Vergrößerungshoffnungen baut, die
sich gegen uns richten, und so reduziert sich die Baikanfrage, so
weit sie nicht das Schicksal von Konstantinopel in sich einschließt,
künftig für Österreich-Ungarn auf die serbische, genauer gesagt,
die serbisch-montenegrinische. Im Zusammenhang mit der vorder-
asiatischen, die vor allem Deutschland interessiert, kann sie der
Ausgangspunkt neuer Krisen werden.
WIEN BERTHOLD MOLDEN
158
DIE GUTE
EIN ERDACHTES GESPRÄCH VON PAUL ERNST
Personen: Yagnavalkya; ein Schüler. Ort: Ein Mangohain.
Der Schüler: Ich hörte von einem Lehrer, der zu seinen
Schülern sagte: Werdet hart; sehet zu, dass ihr alle eure Kraft
zusammenhaltet, um euch selber höher zu bilden, und verzettelt
euch nicht, indem ihr eure Kraft an Geringere verschenkt.
Yagnavalkya: Der Arme soll sparsam sein, der Reiche soll
ausgeben, so leben beide verständig.
Der Schüler: Also du meinst das selbe, wenigstens für einen
Teil der Menschen?
Yagnavalkya: Freilich habe ich noch nie gesehen, dass ein
Armer durch Sparsamkeit zu Reichtum gekommen ist.
Der Schüler: Aber er kann doch zu einem kleinen Wohl-
stand gelangen?
Yagnavalkya: Vielleicht hat jener Lehrer von Leuten ge-
sprochen, welche zu einem kleinen Wohlstand gelangen wollen,
damit sie dann sagen können : Seht, so unabhängig sind wir. Und
es muss ja auch wohl Leute geben, die auf dergleichen stolz sind.
Der Schüler: Derartige Leute liebst du nicht?
Yagnavalkya: Du gebrauchst starke Worte; weshalb sollte
ich sie hassen?
Der Schüler: Aber du meinst, dass diese Leute nicht die
wesentlichen Menschen sind?
Yagnavalkya: Die wesentlichen Menschen sind selten, wie
die wirklich Reichen ; aber sie üben eine große Wirkung aus und
deshalb bleiben sie in der Erinnerung der Menschen, auch wenn
man sie nicht sieht, während die anderen vergessen werden, so-
bald sie aus unseren Augen entschwunden sind ; deshalb hält man
sie im Vergleich zu den andern für zahlreicher wie sie sind. Sie
gleichen dem Licht, das ein Zimmer erleuchtet; und wenn ein
Wanderer im Dunkeln die Straße entlang geht, so denkt er: siehe,
da muss ein Haus stehen, in dem ist ein Zimmer hell; von den
übrigen Häusern, in welchen kein erleuchtetes Zimmer ist, weiß
159
er aber gar nichts. Ist nun der Wanderer ein verständiger aber
armer Mann, so spricht er: in diesem Lande sollten die Leute
sparsamer sein; denn wenn ich in der Dunkelheit gehe, so sehe
ich hier ein Licht, und nach einer halben Stunde wieder eines,
und nach einer viertel Stunde ein drittes. Er weiß aber nicht,
dass nur die wenigen Leute ein Licht brennen, welche reich sind,
und dass es sehr viele Arme gibt, welche klugerweise im Dunkeln
sitzen. So wird also sein Rat schon befolgt von denen, welche
er angeht, noch ehe er ihn gesagt hat.
Der Schüler: Wenn ich dich recht verstehe, so meist du,
man solle überhaupt solche Ratschläge nicht geben?
Yagnavalkya: Ich habe mich freilich immer gehütet, den
Leuten Ratschläge zu geben ; denn die Narren befolgen sie doch
nicht, und die Verständigen wissen jeder selber, was für ihn das
Richtige ist.
Der Schüler: Aber weshalb geht der Schüler zum Lehrer,
oder wenn du lieber willst, der gewöhnliche Mann zu bedeutenden ?
Yagnavalkya: Um sich selber kennen zu lernen, denn der
Arme weiß nicht, dass er arm ist, ehe er einen Reichen gesehen
hat; und um Einsicht auch in die Dinge außer ihm zu gewinnen;
denn der Arme, welcher nur die vier Pfähle seines Hauses und
die vier Grenzsteine seines Ackers sieht, kann doch nicht wissen,
wodurch die Menschen unter einander zusammenhängen, sondern
er denkt nur: neben mir wohnt auch ein sparsamer Mann, und
neben dem wieder einer; und er denkt: das genügt, dass wir
verständigen Menschen so ehrbar neben einander leben.
Der Schüler: Das Eine habe ich jetzt verstanden, dass der
Schüler durch den Lehrer sich selber erkennt. Denn als ich zu
dir kam, da hielt ich mich noch für einen wesentlichen Menschen,
weil ich dachte: die Menschen, welche hart sind gegen sich und
andere, welche sparsam sind mit ihrer Kraft und aus sich das
Höchste bilden wollen, das sind die Wesentlichen. Nun ich aber
dich gesehen und dein heiteres Antlitz, die Güte, mit welcher
du Jedem mitteilst, und seit ich beobachtet, wie die Leute zu dir
mit Traurigkeit kommen und mit Frohsinn fortgehen, da habe
ich eingesehen, dass ich nicht zu den Wesentlichen gehöre, und
habe mich hierin also selber erkannt. Aber das Zweite, was du
160
sagst, verstehe ich nicht: wie soll ich durch dich einsehen, wo-
durch die Menschen unter einander zusammenhängen?
Yagnavalkya: Das ist freilich nicht so leicht einzusehen. Die
Welt gleicht einem Teig, den ein Weib geknetet hat aus Wasser
und Mehl, und die Teile von Mehl und Wasser ruhen eng bei
einander auf dem Boden des Backtroges. Der Teig aber soll
aufgehen in der Nacht und den ganzen Backtrog füllen, damit
das Weib am Morgen die Brotlaibe bilden und in den Backofen
schieben kann. Deshalb nimmt sie ein kleines Stückchen Sauer-
teig und mengt das zwischen das andere, und durch den Sauer-
teig geht in der Nacht alles auf, füllt den Backtrog und quillt über
ihn hinaus, und wie sie am Morgen aufsteht, dankt sie erst Gott,
dass er ihren Teig sich so hat vermehren lassen, knetet dann
ihre Laibe und backt das Brot.
Der Schüler: Ich glaube dich zu verstehen: du meinst, erst
durch das kleine Stückchen Sauerteig wird die große Masse zu
wirklichem Brotteig, und das ist kein besonderes Tun des Sauer-
teigs, sondern es geschieht einfach, weil es nun einmal so ist.
Yagnavalkya: Ja, wie auch das Licht noch anderen Menschen
leuchtet, als denen, die es angezündet haben und unterhalten,
und selbst solchen, die verdrossene Reden über die Lichtver-
schwendung führen; denn wenn die Besitzer es etwa unter einen
Scheffel stellen wollten, so hätten sie ja selber nichts von ihrem
Licht; oder wie das Salz alle flüssigen Dinge salzig macht, ohne
das besonders zu wollen, nur weil es einmal so ist; denn wenn
es nicht salzig machte, so wäre es ja dumm geworden und ganz
wertlos.
Der Schüler: Du meinst also inbezug auf die Worte des
Lehrers, von dem ich am Anfang sprach, dass er die Frage über-
haupt falsch gestellt hat, indem der wesentliche Mensch gar nicht
sparsam mit seiner Kraft und karg mit sich sein kann; sondern
dass er ausgibt, das gehört eben mit zu seinem Wesen; und er
gibt nicht zu irgend einem Zwecke aus, sondern weil es seine
Natur ist, auszugeben, wie ja auch die Wolke ihren Regen fallen
lässt auf den Acker des Fleißigen, der ihn benutzt und an alle
Wurzeln das Wasser leitet, und auf den Acker des Trägen, der ihn
nicht benutzt und das Wasser ablaufen lässt in den Straßengraben?
161
Aber ist das nicht nur eine bloße Behauptung, indem du sagst:
das ist nun so der wesentliche Mensch ; und könnte jener andere
Lehrer dir nicht erwidern: ich für meine Person nenne diesen
eben nicht den wesentlichen Menschen?
Yagnavalkya: Du hast wohl recht, deshalb muss ich noch
mehr sagen. Alle Gedanken, welche wir aussenden, kommen auf
irgend eine Weise zu uns wieder zurück. Wenn ein Mensch einen
andern hasst, so wird er ein Hasser, wenn er ihn beneidet, so
wird ein Neider, und wenn er ihn beschenkt, so wird er ein
Schenker. Denn alles Geistige unterliegt nicht dem Gesetz des
Körperlichen, welches weniger wird, wenn man davon nimmt,
sondern es wird mehr. Wer einen Menschen hasst oder beneidet,
der erzeugt immer neuen und immer mehr Hass und Neid in
sich, denn eine Frucht kann sein Acker nur tragen. Wer einem
Menschen Güte schenkt, der erzeugt immer mehr Güte in sich.
Die Güte hat aber dieselbe Eigentümlichkeit wie Hass oder Neid:
der Acker dieses Menschen wird nur noch Güte tragen. Dadurch
nun wird er außerordentlich reich, dass er nicht mehr andere
Pflanzen erzeugen kann, die Kraft aus dem Boden saugen und
ihm nichts einbringen: Eigennutz, Hochmut und wie sie sonst
heißen; denn er wird ja den Menschen gegenüber in allem gleich-
gültig werden. So geschieht es, dass im Geistigen der Schenker
reicher wird; und weil man die geistigen Dinge nie besitzt, son-
dern immer nur erwerben muss, so muss hier umgekehrt auch
der Reiche immer Schenker sein. Darum sage ich: wer einen
andern beneidet oder hasst, wer hochmütig ist oder eigennützig,
wer karg und hart ist, der ist kein wesentlicher Mensch. Ein
wesentlicher Mensch hat keine würdig gerunzelte Stirn und keinen
hoffärtigen Gang, er ist nicht von mürrischem Ernst und saurem
Wesen, sondern er lacht gern und ist höflich, er schenkt gern und
lässt sich gern schenken; und die Geringeren verachtet er nicht,
sondern er hat sie nicht ungern, denn sie sind doch für ihn da,
damit er jemanden hat, dem er geben kann.
Der Schäler: Das habe ich nun wohl verstanden; aber es
wird doch immer gesagt, dass die Einen Lohn erhalten und die
Anderen Strafe für ihre Taten; das sehe ich hier nun nicht; denn
Ich kann mir denken, dass ein solcher wesentlicher Mensch doch
162
viele Leute zu Feinden hat, die sicii vor ihm schämen, dass sie
nicht sind wie er; und wenn ihm auch ihre Gesinnung gleich-
gültig sein mag, so weiß er doch nicht, ob sie nicht vielleicht zu
Taten gegen ihn kommen; und wirklich hört man doch auch,
dass die Menschen oft gerade die Wesentlichen verfolgt haben.
Yagnavalkya: Wenn du so fragst, so sagst du, dass du den
letzten Grund des Lebens nicht erkannt hast. Die Menschheit
gleicht einem großen Walde, in welchem viele Arten von Bäumen
wachsen: nützliche, die Obst tragen, und schädliche, die giftige
Früchte haben, und dumme, die ganz überflüssig sind. Welche
Belohnung kann ein Apfelbaum dafür erwarten, dass er Äpfel
trägt, als die, dass man seine Äpfel pflückt und isst, und welche
Strafe ein Giftbaum, als dass man vor ihm ausbiegt? Und was
soll mit den dummen Bäumen geschehen, als dass man sie stehen
lässt, wo sie stehen? Und wenn böse Buben einem Apfelbaum
die Zweige abreißen, schaden sie sich dadurch nicht ebenso wie
dem Baum? Manche Bäume ziehen den Blitz an, weil sie be-
sonders hartes Holz haben; wäre es nicht töricht, wenn sie sich
beschweren wollten und sagten: was haben wir verbrochen vor
Anderen, dass wir so vom Blitz leiden? Die Härte ihres Holzes
zieht den Blitz an, weil der Blitz nun einmal so beschaffen ist,
dass er von ihr angezogen wird. So ziehen die wesentlichen
Menschen auch die böswilligen an, dass sie ihnen Schaden zu-
fügen, weil die Böswilligen nun einmal so beschaffen sind, dass
sie den Wesentlichen schaden müssen. Ich glaube, dass der Ge-
danke von Lohn und Strafe auch so ein Gedanke der Armen ist
wie die Härte und Kargheit; denn die Armen müssen ja freilich
immer daran denken, dass sie etwas verdienen; der Reiche hat
das nicht nötig.
Der Schüler: Es muss freilich sehr schön sein, wenn einer
ein reicher Mann ist.
Yagnavalkya: Du bist nicht der Erste, der diese Einsicht hat:
aber merkwürdigerweise ist sie bei den Reichen verbreiteter als
bei den Armen.
ODD
163
DIE ZÜRCHERBIBEL, EINE
KULTURANGELEGENHEIT
Es ist nicht sehr bekannt, dass der Kanton Zürich eine landes-
kirchh'ch eingeführte Übersetzung der Bibel hat, die in Zürich
selbst entstanden ist und sonst nirgends in Gebrauch steht. Die
Tatsache ist schon an sich geschichtlich von Bedeutung. Zurzeit
aberstehen Synode und Geistlichkeit vor einer Entscheidung, die
die „Zürcher Bibel" zur Tagesfrage machen müsste, wenn nicht
unsere protestantische Bevölkerung so gut katholisch wäre, das
heißt so sehr gewohnt, alles ihrer geistlichen Führerschaft und
dem grünen Tisch zu überlassen, auch dann, wenn es sich, wie
in diesem Falle, um eine wichtige Kulturfrage handelt.
Es ist zum Verständnis dieser Kulturfrage nötig, einige Worte
über die Entstehung und Geschichte der Zürcher Bibel vorauszu-
schicken. Als Luther das Neue Testament übersetzt hatte, wurde
es sogleich in Zürich nachgedruckt, aber sprachlich dem schwei-
zerischen Verständnis angepasst und, als man infolge des Abend-
mahlstreites dem Wittenberger nicht mehr unbedingt traute, bald
auch mit wirklichen oder vermeintlichen Verbesserungen versehen.
Ehe dann Luther mit der Übersetzung der Apokryphen und Pro-
pheten fertig war, erschien in Zürich die ganze Bibel (es war 1530).
Der größte Teil davon war in der genannten Art von Luther
übernommen, die Lücken füllte man durch eigene Arbeit aus,
indem teilweise Leo Judae, Pfarrer zu St. Peter, teilweise die unter
dem Namen der „Prophezei" gegründete Zürcher Bibelschule die
fehlenden Stücke ergänzte. So ist die Zürcher Bibel nicht das
Werk eines Genius, überhaupt nicht das eines Menschen, sondern
das Ergebnis anpassender, ausgleichender Arbeit, in Hast und
Zufall begonnen, mit Fleiß und Behutsamkeit fortgesetzt, stets
geflickt und niemals fertig. Es wurde nun, zunächst unter des
genannten Leo Judae Leitung, weiter an der Verbesserung des
Werkes gearbeitet, weiter durch all die Jahrhunderte. Zweierlei
ist dabei zu beobachten: die stetige Annäherung an Luther und
die fortschreitende Verhochdeutschung der Zürcher Bibel. Ein
Drittes ist beachtenswert: die allmähliche Verkleinerung ihres
Verbreitungsgebietes. Im sechzehnten Jahrhundert war die Zürcher
164
Übersetzung in der ganzen Ostschweiz gebraucht worden; dann
eroberte sich Luthers Übersetzung einen Kanton nach dem andern,
erst Appenzell und Schaffhausen, dann die sanktgallischen Gebiete
und Qlarus, zuletzt auch Thurgau, bis um die Mitte des neun-
zehnten Jahrhunderts endlich Zürich mit seiner Bibel allein da-
stand, ein Inselchen im Weltmeer des Protestantismus deutscher
Zunge.
Die Bedeutung der Zürcher Bibelübersetzung liegt nicht auf
dem Gebiete der Religion; das Buch konnte niemand ans Herz
wachsen, weil es gerade das aufgeben musste, was es zum Volks-
gut hätte machen können: die heimische Sprache, und weil der
Wortlaut infolge seiner fortwährenden Neubearbeitung gar nicht
Zeit hatte, festen Fuß zu fassen. Die große Bedeutung der Zürcher
Bibel liegt darin, dass sie in ihren früheren Ausgaben ein einzig-
artiges Sprachdenkmal ist. Sie ist eine Fundgrube für die Mund-
artforschung der Schweiz, und sie veranschaulicht mit ihren fort-
währenden sprachlichen Veränderungen sozusagen wie der Kine-
matograph das allmähliche Eindringen der neuhochdeutschen
Schriftsprache in unserm Lande. Zur Reformationszeit wurde
der Spruch: Niemand flicket ein altes Kleid mit einem Lappen
von neuem Tuch für Zürich zurechtgemacht: Niemand bützet ein
altes Kleid mit einem Bletz von neuem Tuch. Und dann geht
die Verhochdeutschung an und erreicht im neunzehnten Jahr-
hundert mit der Beseitigung des letzten Mundartwortes aus dem
Spruch „Wo nun das Salz seine Räße verlieret" (Luther: wo nun
das Salz dumm wird) ihren Abschluss.
Die letzte Neubearbeitung der Zürcher Bibel geht auf die
Jahre 1860 und 1868 zurück. Diese heutige Zürcher Bibel be-
friedigt niemand mehr. Die Theologen spenden ihr das wohlver-
diente Lob, sie sei genauer und richtiger als die Lutherische, er-
kennen aber alle an, dass sie trocken und unschön sei. Die
Evangelische Gesellschaft, die den Verlag der Bibel hat, verkauft
viel mehr Lutherbibeln als Zürcher Bibeln! Von 1907 bis 1911
verkaufte sie 13 223 Bibeln und Bibelteile in zürcherischer Über-
setzung, dagegen 20 068 in Lutherischer Ausgabe. Zu beachten
ist dabei, dass die genannte Verkaufsstelle die einzige Bezugs-
quelle für die Zürcher Bibel ist, während die Lutherische außer-
dem auf andern Wegen in den Kanton eindringt, so dass der
165
Unterschied zwischen den beiden Zahlen in Wirklichkeit noch viel
größer ist.
Die eifrigsten Verteidiger von „Zwingiis Erbe" gegen Luthers
Übersetzung führen in der Predigt die Bibel im Lutherischen Wort-
laut an. Auf einer ganzen Reihe von Kanzeln Zürichs, ja auf
ZwingUs eigener Kanzel im Großmünster, liegt die Lutherbibel,
nicht die „in Zürich kirchlich eingeführte Übersetzung". Der so-
zusagen klassische freisinnige Theologe Zürichs, der Urzürcher
Biedermann, machte aus seiner Bevorzugung Luthers kein Hehl
und sprach in abfälligen Ausdrücken von der Zürcher Bibel. Dass
diese für die nachgerade zahlreichen außerhalb des Kantons auf-
gewachsenen Glieder der Zürcher Landeskirche etwas ist, woran
sie sich nie gewöhnen, was sie befremdet und vielfach abstößt,
ist selbstverständlich.
Im Jahre 1907 beschloss die Synode, die Zürcher Bibel, deren
Vorrat bald zu Ende ging, nicht wieder unverändert zu drucken,
sondern neu zu bearbeiten. Sie stellte dafür einige Grundsätze
auf und ernannte für die Arbeit eine Kommission von elf Mit-
gliedern. Man dachte, bis 1910 mit der Arbeit zu Ende zu sein.
Heute (1913) liegen einige Proben vor, und bis 1918 oder 1919
meint man die Arbeit beendigen zu können. Die Verzögerung
kommt nicht daher, dass irgend etwas verschleppt oder ver-
bummelt worden wäre; die Arbeit wuchs den Beauftragten unter
den Händen und führte viel weiter als man vorausgesehen hatte.
So liegt die Hauptarbeit jetzt nicht hinter, sondern vor uns.
Deshalb ist es nicht zu spät, sondern der richtige Zeitpunkt, zwei
Fragen ernstlich zu stellen. Erstens, ob diese ganze Arbeit not-
wendig und wünschenswert sei und zweitens, ob sie, nach den
vorliegenden Proben zu urteilen, befriedigend ausfallen werde.
Für die Neubearbeitung der Zürcher Bibel macht man Gründe
geltend, die niemand überzeugen und die sich gegenseitig zer-
stören. In der Synode sagte ein Landgeistlicher, die Zürcher
Bibel sei dem Volke lieb. Aber weshalb sie dann neu bearbeiten
und zwar gründlich, so gründlich, dass sie mancherorts gar nicht
wieder zu erkennen ist? Man sprach von Zwingiis und Leo
Judaes teurem Erbe. Aber die zahlreichen Umarbeitungen haben
von der damaligen Bibel sozusagen nichts übrig gelassen. Das
„Erbe" kann also nur darin bestehen, dass man in Zürich an
166
dem Grundsatz festhält, eine eigene Bibelübersetzung zu gebrauchen
und sie immer von Zeit zu Zeit neu zu bearbeiten.
Wenn nun die Mehrheit der Synode im Jahre 1907 geglaubt
hat, dieses „Erbe der Zürcher Reformation" behalten zu sollen,
so sind trotzdem auch seither die Stimmen nicht verstummt, die
eine andere Meinung äußerten. Man muss die Frage aufwerfen,
ob heute die Bedingungen noch vorliegen, die eine Neubearbeitung
der Zürcher Bibel in früheren Zeiten rechtfertigten. Die Frage
ist unbedingt zu verneinen. Wir haben heute mit einer Reihe neuer
Tatsachen zu rechnen, die nur der Eigensinn zu verkennen ver-
möchte, und die das Zürcher Übersetzungswerk überflüssig machen.
Erstens der heute vollendete Siegeslauf der Lutherischen Bibel.
Heute steht nicht mehr, wie zurzeit der Reformation, Übersetzung
wider Übersetzung, heute ist es Tatsache, dass vierzig Millionen
deutsch sprechender Protestanten unter Bibel schlechthin die Luther-
bibel verstehen. Eine vierhundertjährige Geschichte hat diese
Frage entschieden und keine kantonale Synode, keine Kommission,
keine Fakultät ändert daran etwas. Freund und Feind gebraucht
die Lutherbibel. Sie ist mit unserm ganzen Geistesleben, mit
unsrer Stil- und Geschmacksbildung aufs engste verwachsen. Die
gesamte religiöse Literatur bringt uns auf tausend Wegen den
Wortlaut der Lutherbibel auch in den Kanton Zürich. Es mag
in der Zürcher Bibel lang heißen: der Geist ist zwar geneigt,
das Fleisch aber ist schwach; das Wort ist zum Sprichwort ge-
worden und lautet nun eben trotz allem auch in Zürich : der Geist
ist willig. Dagegen ist nichts zu machen.
Ferner: die Bibelgesellschaften. In früheren Jahrhunderten
kam es in Zürich vor, dass der Bibelvorrat ausging und die welt-
liche Obrigkeit für einen neuen Druck sorgen musste. Im neun-
zehnten Jahrhundert entstanden überall die Bibelgesellschaften
und seither werden Bibel und Bibelteile in Millionen von Abzügen
zu erstaunlich billigen Preisen vertrieben. Da das Verbreitungs-
gebiet für die Lutherbibel sich über alle Erdteile erstreckt, so
lohnt sich die Herstellung aller möglichen Ausgaben, vom Testa-
mentchen zu 15 Rappen bis zur Luxusbibel zu 50 Franken, in
jeder Größe, jedem Druck, auf jedem Papier, mit jedem Einband,
Ausgaben für Schwachsichtige in zentimeterhohen Buchstaben,
Ausgaben, die beinahe in die Westentasche gehen, Teile der Bibel
167
zu 5 Rappen, zweisprachige Ausgaben, die neben der deutschen
Übersetzung den griechischen oder den lateinischen oder den
französischen Wortlaut bieten. All das kann für die Zürcher Bibel
niemals geleistet werden. Schon heute sind sicher im Kanton
mehr Lutherbibeln zu finden als zürcherische. Die Fortschritte
des Buchgewerbes werden ausschließlich der Verbreitung der Luther-
bibel dienen und diese immer mehr auch in Zürich verbreiten.
Die Schranken sind endgültig gefallen, die früher Kantone
und Landeskirchen trennten. Wir führen kein Sonderdasein mehr.
Reichlich ein Drittel der Bewohner des Kantons wird mit der
Zürcher Bibel niemals in Berührung treten und unter den andern
zwei Dritteln wird Luther mehr Eingang finden als das Zürcher
Werk. Freilich geht ein starker Zug nach Schutz der heimatlichen
Eigenart durch unsere Zeit. Aber an der Zürcher Bibel wird er
vorbeigehen, denn nicht etwas Vorhandenes zu erhalten, nicht ein
Denkmal zu schützen gilt es hier, sondern etwas Neues zu schaffen:
eine mit den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft übereinstim-
mende Bibelübersetzung. Nicht ein einziges Wort der neuen
Zürcher Bibel wird schweizerische Eigenart aufweisen.
Endlich die heute außer der Lutherischen bestehenden Über-
setzungen. Man weist auf die vielen Fehler, die veraltete Sprache
der Lutherbibel hin und anderseits auf die Fortschritte der Bibel-
forschung im neunzehnten Jahrhundert. Ob nun außerhalb der
Fachmänner, der Theologen, zumal im Kanton Zürich das Be-
dürfnis nach einer genauen Bibel groß, ob es überhaupt vorhan-
den sei, braucht hier nicht erörtert zu werden. Aber wem die
Lutherbibel nicht genau genug ist, der hat heute die Wahl zwischen
einer Menge von allgemein zugänglichen neueren und guten Über-
setzungen jeder nur denkbaren Art. Das war noch vor einem
halben Jahrhundert anders. Da haben wir wissenschaftlich zu-
verlässige, ganz auf dem Boden der neueren Forschung stehend
die Textbibel von Kautzsch und das Neue Testament von Weiz-
säcker, wo sich jeder Auskunft holen kann, der gern wüsste, wie
es „eigentlich" heißt. Wer die Lutherbibel vorzieht, aber wenig-
stens keine eigentlichen Fehler darin haben möchte, für den ist
immer noch die berichtigte Ausgabe von Stier da. in pietistischen
Kreisen hat sich seit langem die sogenannte Elberf eider Übersetzung
der Darbysten verbreitet und in den letzten Jahren die Taschen-
168
bibel Schlachters (jetzt in verbesserter Ausgabe unter der Mitarbeit
eines im Amte stehenden Zürcher Geisth'chen herausgegeben);
beide werden als zuverlässig gerühmt. Bei Reclam ist das „Neue
Testament in die Sprache der Gegenwart übersetzt" von Kart
Stage erschienen und es erfreut sich großer BeUebtheit in den
verschiedensten Kreisen.
Am störendsten sind die Unvollkommenheiten und die Alter-
tümh'chkeit der Lutherbibel im Unterricht. Aber gerade da hat
sich in Zürich die sogenannte Glarner Familienbibel eingelebt.
Sie ist ein Auszug, das heißt eine Bibelausgabe, aus der anstößige
Stellen, unnötige Wiederholungen und sonstige für die Erbauung
wenig geeignete Stücke weggelassen sind. Der Wortlaut bietet
eine die heutigen sprachlichen Bedürfnisse und die Forderungen
der Wissenschaft befriedigende Bearbeitung der Lutherbibel mit
wenigen erläuternden Anmerkungen. In Zürich ist sozusagen das
ganze jüngere Geschlecht an diese Glarner Bibel gewöhnt, die
ohne vollkommen zu sein ihren Zweck trefflich erfüllt und zwischen
dem Streben nach praktischer Brauchbarkeit und dem nach Be-
wahrung des klassischen Lutherischen Wortlautes die richtige Mitte
hält. Es klingt wie ein Hohn auf die Zürcher Bibelarbeit, dass
in diesem Jahre das neue amtliche Spruchbuch für den kirchlichen
Unterricht „auf allgemeinen Wunsch" die Bibelworte im Glarner
Wortlaut gibt. Entstanden ist die Glarner Bibel in den achtziger
Jahren des letzten Jahrhunderts als gemeinsame Arbeit tüchtiger
glarnerischer Theologen.
Ganz neu ist die sogenannte Jubiläumsbibel der Stuttgarter
Bibelanstalt. Sie bietet den bereinigten Lutherischen Wortlaut,
enthält aber in ungezählten Anmerkungen die nötigen Erläute-
rungen und Hinweise auf alle fehlerhaften Stellen.
Vor diesen heute vorliegenden Tatsachen sollte man sich
beugen. Sie reden eine deutliche Sprache: die heutige Neubear-
beitung der Zürcher Bibel geschieht unter Verhältnissen, die bei
keiner der früheren Neuausgaben auch nur annähernd so vor-
lagen und die ihr jede Berechtigung nehmen.
Nun die begonnene Arbeit selbst. Wird sie befriedigend aus-
fallen? Die Synode hat vorigen Winter verlangt, dass Proben
vorgelegt werden sollen. Heute liegt den Geistlichkeitskapiteln
ein Heft vor, das 20 Seiten Vorbemerkungen und 40 Seiten Über-
169
Setzungsproben enthält. In den Vorbemerkungen entwickeln die Über-
setzer ihre Grundsätze und ihre Arbeitsweise. Die Proben zeigen,
wie das Ergebnis ausfallen wird. Was lässt sich davon sagen?
Die Übersetzer sind sich bewusst, „eine Volksbibel und spe-
ziell (!) eine Zürcher Volksbibel" liefern zu sollen. Aber ihre
ganze Arbeit zeigt, dass ihre Aufmerksamkeit ganz und gar dem
Grundtext gehört. Schon die Synode scheint an nichts anderes
gedacht zu haben. Denn in der elfgliedrigen Kommission sitzen
lauter Theologen, tüchtige Griechen und Hebräer, als ob es sich
um die Herstellung einer griechischen oder hebräischen Bibel
handelte. Auch nicht ein einziger Dichter oder Schriftsteller, über-
haupt kein Vertreter der deutschen Sprache ist darunter. Mit
welch kläglicher Ratlosigkeit man der gestellten Aufgabe entgegen-
sah, erhellte beim Beginn aus der Verteidigungsrede eines der
Übersetzer, der in demselben Atemzuge sagte: „man solle der
Übersetzung anmerken, dass Goethe und Schiller gelebt haben"
und „sie solle die sprachliche Eigenart Zürichs aufweisen" — und
der nicht merkte, wie sich das widerspricht.
Die ganze Arbeit geht von der Voraussetzung aus, die Schwierig-
keit liege in der Feststellung und im Verständnis des fremd-
sprachigen Grundtextes. Das ist falsch. Den Sinn des Grund-
textes kann jeder fleißige Theologe mit den heute so reichlich vor-
handenen Hilfsmitteln feststellen. Die Aufgabe für eine Volks-
bibel besteht einzig und allein in der Herstellung eines schönen,
klaren und packenden Wortlautes. Ein holpriger Satz, ein ge-
schmackloser Ausdruck ist da ebenso schlimm wie ein Über-
setzungsfehler. Es würde völlig genügen, wenn von den Herren
einer recht die Grundsprachen versteht; worin sie aber alle Meister
sein müssten, das ist die Sprache, in der sie ihr Werk heraus-
geben wollen. Statt dessen erwarten sie sogar von uns, wir
sollen ihre Arbeit mit Hilfe des Grundtextes prüfen, und beschwören
uns, doch ja die richtige hebräische Ausgabe dazu zu benutzen!
Und nun soll noch gar das „Kolorit der biblischen Zeit" ge-
wahrt werden. Darum heißt es in dem neuen Werke nicht mehr
Knechte und Mägde, sondern Sklaven und Sklavinnen. Hier muss
man nun doch fragen: soll uns durch die Übersetzung die Bibel
näher gebracht werden, oder gilt es, unserm Volk recht den Ab-
stand fühlbar zu machen, der uns von dem alten Buch trennt?
170
Wenn das zweite gilt, dann wohlan ! Nur spreche man dann nicht
mehr von irgend einem Erbe irgend eines Reformators! Und
merken die Herren denn gar nicht, dass Sklave und Sklavin das
Gegenteil von „biblischem Kolorit" gibt, da der Ausdruck unser
Volk unfehlbar an Negersklaverei, kapitalistische Plantagenwirt-
schaft und Onkel Toms Hütte erinnern wird, während Knecht
und Magd das patriarchalische Verhältnis des Altertums unend-
lich viel richtiger wiedergibt?
Was für eine schulmeisterliche Schrulle ist es, wenn die
Kommission sagt: „Sodann glauben wir nicht länger vom gali-
läischen Meer reden zu dürfen, weil der Ausdruck „Meer" für
einen so kleinen Binnensee nicht mehr anwendbar ist und man
deshalb geradezu verführt werden könnte, darunter den Teil des
Mittelmeeres zu verstehen, der Galiläa bespült." Erstens ist das
Gesagte tatsächlich unrichtig; wir haben noch heute bei Hannover
das Steinhuder Meer. Sodann heißt der See Genezareth Galiläi-
sches Meer in allen Sprachen, englisch, italienisch, französisch,
spanisch. Sollten die Zürcher allein so unbegabt sein, dass ein
erläuterndes Wort des Religionslehrers nicht genügte, vor Missver-
ständnissen zu schützen? Und ist die sprach- und bildungsge-
schichtliche, man kann sagen: die erdkundliche Tatsache, dass es
nun eben einmal Galiläisches Meer heißt, einfach beiseite zu
schieben? So springt man mit dem ererbten Bestand mutter-
sprachlicher Überlieferung um, während man ehrfurchtsvoll vor
jedem hebräischen Akzent, vor jedem von einem Gelehrten ver-
muteten Kai und fiev Halt macht. Derselben Schulmeisterlichkeit
begegnet man auch sonst in den Proben. Wozu muss es (dies-
mal mit der bisherigen Zürcher Bibel) heißen die Wegführung
nach Babylon? Richtigkeit hin, Richtigkeit her: dieses Ereignis
heißt auf deutsch die babylonische Gefangenschaft. Ein theologi-
scher Ausleger darf Wegführung, sogar Exil schreiben, ein volks-
tümlicher Übersetzer muss Gefangenschaft sagen. Hoffentlich
bekommen wir nicht an Stelle des Abendmahls das Nachtessen.
In den zehn Geboten der „Proben" stehen „die Kinder, Enkel
und Urenkel derer, die mich hassen." Diese ergreifende, in den
deutschen Spruchschatz übergegangene Stelle lautet indessen für
die gesamte deutsche Christenheit mit oder ohne Erlaubnis der
Zürcher Synode: der da heimsucht der Väter Missetat an den
171
Kindern bis ins dritte und vierte Glied derer, die mich hassen.
Der Versuch, daran zu rütteln ist kulturfeindlich.
Es ist genug an diesen grundsätzlichen Ausstellungen. Das
Deutsch der Proben ist sonst ungefähr schlecht und recht, zu
viel darf man von so tüchtigen Griechen und Hebräern nicht
verlangen und muss froh sein, dass es so ausgefallen ist.
Entschiedenen Widerspruch aber muss man erheben gegen
4ie geschmacklose Unart, im Texte eckige und runde Klammern,
Halbklammern, ja Fragezeichen anzubringen. Immer und überall
die falsche Vorstellung eines „deutschen Grundtextes", einer Ar-
beit für Leute von der Zunft, Philologen, Theologen. Eine Volks-
bibel soll schön und soll lesbar stm; solche eingestreute Zeichen,
wie auch die textkritischen Anmerkungen stören im Lesen, sind
hässlich und gegen den guten Geschmack. Sie unterbrechen,
zerstreuen und sie nützen nichts. Vollends die Fragezeichen sind
dem erbaulichen Zweck der Volksbibel zuwider. Sie erwecken
Kritik, das Gegenteil von frommem Versenken in die heiligen
Urkunden, Kritik, die Todfeindin aller Frömmigkeit. All das gleicht
dem Gerüst, das der Baumeister für die Arbeit nötig gehabt hat,
aber nach der Vollendung des Baues wieder abtragen und bis
auf die letzte Spur beseitigen soll. Das Gerüst stehen lassen,
heißt den Genuss am Bauwerk verhindern.
Wie unnütz diese Häkchen sind, lehre ein Beispiel. In der
Stelle, wo Hiob seinen Geburtstag verflucht, da steht im Hebräi-
schen bloß Tag. Diese Eigenheit der hebräischen Sprache geht
den deutschen Bibelleser nichts an. Unsere Übersetzer aber
nehmen das sehr wichtig und setzen [Geburts-] gewissenhaft in
eckige Klammer!
Von den Fußnoten sind die meisten entbehrlich, einige stoßen
durch ihre Schulmeisterlichkeit ab. Abgeschmackt ist eine Fuß-
note zu A^atthäus 1,16 über die jungfräuliche Geburt Jesu; sie
wird zur Folge haben, dass in den Kreisen, die am meisten Bibeln
zu kaufen pflegen. Misstrauen gegen die neue Übersetzung ent-
steht, die mit dergleichen Anmerkungen wie eine theologische
Parteiangelegenheit aussieht, während sie eine Sache der ganzen
Landeskirche sein sollte.
Alles in Allem genommen: die „Proben" zeugen von fleißiger
Arbeit, lassen aber keineswegs ein Endergebnis voraussehen, für
172
das man sich begeistern kann. Die Übersetzung weicht so stari<
von der bisherigen Zürcher Bibel ab, dass sie deren Anhänger
nicht befriedigen i<ann ; sie leistet als neue wissenschaftliche Arbeit
nichts, was nicht andere vorhandene Werke auch leisten ; sie reicht
sprachlich nirgends und in keiner Weise an die Lutherische heran.
Sie wird niemand befriedigen und nur den einen Vorteil haben,
dass sie in Zürich entstanden ist. Wer darauf Wert legt, wird
sie begrüßen.
Vom Druck und Aussehen der Proben möchte ich am lieb-
sten nichts sagen. Die allergewöhnlichste Zeitungsletter, ein un-
ruhiges, zerhacktes Gesamtbild (man sehe sich zum Beispiel den
Anfang der Bergpredigt an), unschön angebrachte Überschriften,
dazu die schon erwähnten Häkchen und Klammern: auch hier
wieder derselbe Fehler, dass man nicht ein schönes und würdiges
Buch herstellt, an dem der Leser Freude haben könnte, sondern
ein Nachschlagebuch, ein gelehrtes Hilfsmittel, etwas „Kritisches"
statt etwas Erhebendem, eine höchst werktägliche Drucksache, an
der die Errungenschaften des heutigen Buchgewerbes spurlos
vorübergegangen sind.
„Luthers Bibel ist, wie sie das erste war, so das letzte klas-
sische Prosabuch deutscher Sprache geblieben, wenn wir die
allerstrengsten Maßstäbe anlegen." So sagt Eduard Engel in seiner
Deutschen Stilkunst. Goethes Verse und Goethes Prosa sind
gesättigt von Anklängen an die Lutherbibel. Unsre herrlichste
Dichtung, der Faust, ist ohne Luthers Bibel nicht denkbar. Einem
nach Stilbildungsmitteln fragenden jungen Schriftsteller kann man
ohne weiteres den Rat geben: Lies dich recht in Luthers Bibel
hinein. Denn mit Recht singt von dem Wittenberger sein Zeit-
genosse Johann Walther: was Luther geschrieben
hat marck und safft, es trifft und hafft,
wers lieset oder höret.
Die Deutsche Sprach nach rechter Art
hat er aufs new poliret,
so klar, verstendlich, rein vnd zart,
wie Deutscher Sprach gebüret.
Sölchs alle die Gottfürchtig sein,
mit Gottes lob bekennen,
den Luther Deutscher Sprach gemein
als jhren Vater nennen.
173
Viel zu wenig beachtet wird der musii^alische Wert der Luther-
bibel. Man lese den 23. Psalm laut, lasse den wunderbaren Klang
dieser Jamben auf das Ohr wirken und höre, wie dann vom
vierten Vers an die Daktylen in trotziger Qlaubensfreudigkeit fort-
fahren, bis am Ende ein schlichter Creticus zur Ruhe des Anfangs
zurückführt. Oder die Weihnachtsgeschichte, Lukas am zweiten :
von Vers 10 bis 14 daktylischer Klang von unvergleichlicher Wirkung.
So auch manches in den Propheten. Außer dem letzten Akt von
Goethes Egmont und etwa noch Arndts Katechismus für den
deutschen Wehrmann haben wir wohl nichts gleichwertiges an
musikalischer Prosa. Und das will man dem Zürcher Volk vor-
enthalten ?
Luther hat nicht bloß übersetzt, er hat verdeutscht, hat aus
der Bibel ein deutsches Volksbuch gemacht, aus dem uns unser
eigenes Leben entgegenweht. Um „Kolorit der biblischen Zeit"
kümmerte er sich ebensowenig wie Zwingli. Dieser hat in seiner
deutschen Ausgabe der Psalmen übersetzt: In schöner weyd alpet
er mich, zu rüewigen waßern trybt er mich (Psalm 23, 2). Ein
ganz prächtiger Einfall, freilich nicht morgenländisches, sondern
toggenburgisches „Kolorit". Mit einem Schlage sieht der schwei-
zerische Leser sich aus Judas kahlen Höhen auf die heimischen
Bergweiden versetzt. Nun ist aus dem uralten Lied des morgen-
ländischen Königs ein Lied für Schweizerbauern geworden und
das Buch kein fremdes Buch mehr, sondern Geist von unserm
Geist. Ganz so verfährt Luther: Zelt übersetzt er mit Hütte, so
dass der deutsche Leser dabei an die eigene Behausung denken kann.
Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle heißt es Psalm 65. Wer
gibt dem sächsischen Bergmannssohn das Recht, den Bach zum
Brünnlein zu machen? Das ist ja gegen alles „Kolorit" der
hebräischen Sprache! Gewiß, es gehört aber dafür zum „Kolorit"
der gehobenen deutschen Sprache und ist geschehen aus der
Machtvollkommenheit des großen Dichters, der die weltgeschicht-
liche Aufgabe hatte, die Bibel zu verdeutschen.
Hier stehn wir im Mittelpunkt der ganzen Angelegenheit.
Luther durfte alles wagen, weil er das Bewusstsein hatte, von
Gott zum Verdeutscher der Bibel und zum Erneuerer seines
Volkes berufen zu sein. Eine aus „Vertretern" von „Richtungen"
zusammengesetzte „Kommission", die den Wortlaut ihrer Druck-
174
Sache in Mehrheitsbeschlüssen festsetzt, hat natürlich dieses Be-
wusstsein nicht. Daher die ängstlichen Fragezeichen, Klammern,
Anmerkungen, daher das rührende Suchen nach einem getreuen
„adäquaten" Ausdruck (wie die schöne Bezeichnung lautet), daher
der Mangel an Schwung und Frische, an Kraft und Schönheit.
Wenn die Synode der Zürcher Landeskirche die Kenntnis
und das Verständnis des Bibelinhalts fördern will, so sei sie da-
für besorgt, dass die vorhandenen Übersetzungen und Bibelhilfs-
mittel unter denen bekannt werden, die eingehende Bibelforschung
treiben wollen, ohne die alten Sprachen zu kennen. Die Zürcher
Bibel lasse man im Frieden sterben, das heißt man verkaufe sie
so lange sie noch verlangt wird, und lasse sie dann einfach ein-
gehen. Die Bahn frei zu machen für des Wittenbergers welt-
bewegendes Werk, das einzige Band, das die deutschen Protes-
tanten aller Weltteile verbindet, wäre ebenso eine Kulturtat, wie
es rückschrittlich, kleinlich und kulturfeindlich wäre, sich dem
Siegeslauf der Lutherbibel im Kanton Zürich durch eine neue
Übersetzung in den Weg stellen zu wollen.
Einen Hauptnachteil des bisherigen Zustandes will ich nur
kurz erwähnen : für den Unterricht und für das gesamte kirchliche
Leben ist dies Nebeneinander zweier Übersetzungen höchst störend.
Seitdem Luther eingedrungen ist, kann man nicht mehr recht
Bibelstellen anführen, weil der Wortlaut unsicher geworden ist.
Es wäre von großem Nutzen, wenn die Einheit hergestellt
würde, und da Luther nicht mehr zu verdrängen ist, müsste die
Zürcherbibel weichen.
Können aber die Zürcher Gelehrten das Nachdolmetschen
nicht lassen, so wäre ihnen dringend zu raten, ihr Werk vor der
Drucklegung einer Vereinigung von Sprachkundigen zu unter-
breiten, die womöglich nicht hebräisch und griechisch können,
sondern nur deutsch, und unbarmherzig alles „Adäquate" streichen,
um dafür Ebenmaß, Tonfall, Kraft und Schönheit hineinzubringen
— so gut wie so etwas nachträglich geht. Unterliegen wird die
neue Zürcher Bibel im Wettbewerbe auch dann, aber sie wird
dann doch besser aussehen.
ZÜRICH EDUARD BLOCHER
D DD
175
SPRACHENFRAGE IN ÖSTERREICH
(Fortsetzung)
In mehr als 100 Fabriken Böhmens werden Rüben zu aus-
gezeichnetem Zucker verarbeitet. Damit haben wir einen wichtigen
Industriezweig genannt, der durch die Rohproduktion begünstigt
wird. Böhmen ist aber auch sonst, besonders um Prag herum,
dann im nördh'chen Dreieck und der ganzen Länge des Erz-
gebirgs und den Sudeten nach, ja bis in deren oberste Täler und
arme, öde Hochflächen hinein in einer Weise von Industrie er-
füllt, die wir in der Schweiz glücklicherweise nicht kennen. Durch
die Kohlen- und Eisenschätze ist wie in England die stoffliche
Grundlage für Dampfkraft und Maschinen gegeben. Dazu kommt
noch, dass die Gebirgsbewohner, die in früheren Zeiten wie die
Thüringer vom Bergbau lebten, jetzt nach dessen Rückgang auf
die Einführung und Erhaltung kleinerer Industrien angewiesen
sind. Dies gilt besonders vom Erzgebirge, wo die Erzeugung von
Spielwaren und Musikinstrumenten eine große Rolle spielt, da
die Ergiebigkeit des Bodens bereits auf der Höhe von 800 bis
1000 Meter über Meer ganz armselig ist. Im Riesengebirge ist
seit Jahrhunderten die Glasfabrikation zu Hause (böhmisches
Glas ist so berühmt wie venetianisches); in anderen Teilen der
Sudeten blüht schon lange die Weberei und hat dort die Ein-
wohnerschaft auf eine gewisse Höhe der Lebenshaltung gebracht,
die von derjenigen der Braunkohlengebiete angenehm absticht.
In den Bergen herrscht wie bei uns noch die Hausindustrie vor,
unten in der Ebene der Großbetrieb mit der ganzen Grausam-
keit des modernen Industrielebens. Ein erschütterndes, aber wahres
Bild davon gibt die Selbstbiographie des tschechischen Tagelöhners
Holek^).
Doch der Leser wird ungeduldig fragen, was diese Darstellung
der böhmischen Industrie mit der Sprachenfrage zu tun habe,
und in der Tat hat sie nur dann einen Sinn, wenn ich beifüge,
dass diese ungewöhnliche Ausbeutung der Bodenschätze und der
Arbeitskräfte vorwiegend dem Beginnen der Deutschen zuzu-
1) Wenzel Holek, Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters
Jena, Diederichs 1909, geb. Mk. 5.50.
176
schreiben ist, welche denn auch ^3 des Steueri<apitals in Händen
haben. Damit komme ich zur Gegenüberstellung der beiden
Volksstämme.
Die Verteilung der beiden Völker über das Land ist folgende:
Die gebirgigen Randgebiete gegen das Reich zu sind vor-
wiegend deutsch, nur im Riesengebirge steigen die Tschechen bis
weit hinauf. Das nördliche Dreieck ist bis da, wo die Ebene beginnt,
fast ganz deutsch, soweit nicht in neuerer Zeit die deutschen
Fabrikanten und Bergwerkbesitzer Massen von tschechischen
Arbeitern herbeigezogen haben. Das Innere des Landes, das wel-
lige, fruchtbare Hügelland, wird ganz von den Tschechen bewohnt.
Nur die Industriebezirke weisen dort wieder Deutsche als Unter-
nehmer und Beamte auf.
Die Deutsch-Böhmen gehören nach meinem Eindruck, so-
weit sie nicht den Böhmerwald und die Gebiete gegen Österreich
zu bewohnen, mehr dem norddeutschen Schlag an ; es sind nicht
die „gemütlichen Österreicher", wie man sie aus Rosegger und
aus der Wiener Literatur kennt, sondern unternehmende Ver-
standes-Menschen, die wissen, wo es gilt, ihren Vorteil wahrzu-
nehmen. Die Fabrikanten sind übrigens vielfach aus dem benach-
barten Sachsen eingewandert und erst neuerdings in Böhmen
heimisch geworden. In geistigen Dingen hält der Deutsch-Böhme
viel auf die Überlegenheit der deutschen Kultur; oft scheint ihm
der Zug nach einer weltbürgerlichen Auffassung des Lebens ab-
zugehen, während die Liebe zu seinem Volkstum sehr stark aus-
gebildet ist. Weniger bedeutsam ist für ihn die religiöse Über-
zeugung; er ist im allgemeinen stark antiklerikal gesinnt, obschon
dem Namen nach die überwiegende Mehrzahl römisch-katholisch
geblieben ist und sich nicht von der „Los von Rom"-Bewegung hat
mitreißen lassen. Doch wird ein Protestant keineswegs gering
geachtet und genießt völlige Freiheit in der Befriedigung seiner
kirchlichen Bedürfnisse. Stark empfindet der Deutsch-Böhme eigent-
lich nur in nationalen Angelegenheiten; er ist ein Feind der Juden,
die einen spürbaren Einschlag besonders in der gebildeten deutschen
Bevölkerung (nicht nur als Handelsleute, auch als Ärzte und
Juristen) ausmachen, und dann ein Feind der Tschechen. Gegen-
über den Gewohnheiten und Anschauungen dieser zwei ihm gegen-
überstehenden Rassen hat der Deutsch-Böhme eine hohe Meinung
177
von der Kulturstufe seines Stammes. Dass übrigens die deutsche
Bevöli<erung nicht rassenrein ist, das heißt dass sie nicht nur
germanische Ahnen hat, bemeri^t man einmal an Gestalt, Augen,
und Gesichtsbildung (blonde Haare, blaue Augen trifft man in
Deutschböhmen nicht häufig), dann auch an den vielen fremden
Geschlechtsnamen von Deutschen, selbst von Führern der all-
deutschen Partei, wie Maly, Iro, Lipka, und andern; es handelt
sich offenbar bei den Deutschen Böhmens ähnlich wie im König-
reich Sachsen und in Preußisch-Schlesien um eine starke Ver-
mischung der eingewanderten deutschen Ansiedler mit der ein-
gebornen tschechischen oder slawischen Bevölkerung.
Die Deutschen machen in Böhmen 37, in Mähren sogar nur
28 Prozent der Einwohnerschaft aus; die Mehrheit bilden in
beiden Ländern die Tschechen oder Tschecho-Slawen, die zusam-
men mit den in Schlesien und in den deutschen Kronländern an-
säßigen Volksgenossen etwa sechs Millionen zählen. Sie sind ein
eher kleiner, blonder Schlag mit schmaler Gesichtsbildung, ziem-
lich lebhaft in ihrem Gebaren und Reden, mit einer gut ent-
wickelten Sprache, welche vorzüglich zum Ausdruck sinnlicher Wahr-
nehmungen geeignet sein soll. Wenn wir uns die russischen
Studenten und Studentinnen vergegenwärtigen, die jetzt so zahl-
reich an unseren Schweizer Universitäten zu finden sind, so be-
kommen wir eine Vorstellung von ihren böhmischen Rassen-
verwandten, nur dass bei diesen die helle Farbe der Augen und
Haare vorwiegt. Die Sprache ist, wie die russische, reich an
Zischlauten, sodann reicher als die deutsche an Beugungsformen,
deshalb für uns schwer zu erlernen, auch aus dem Grunde, weil
wir in ihr wenig Wurzeln finden, die mit solchen aus germanischen
oder romanischen Sprachen verwandt sind, wenn man sich nicht
auf indogermanische Sprachvergleichung einlassen will. Als Schrift
wird die lateinische benutzt, in alten Drucken auch etwa die
deutsche Frakturschrift. Man merkt den Tschechen an, dass sie
ein Volk von verhältnismäßig junger Kultur sind; sie lassen sich
rasch für etwas begeistern, darin den romanischen Völkern, etwa
den Italienern, Franzosen vergleichbar; mit diesen verbindet sie eine
wahre Wahlverwandtschaft; sie verbrüdern sich gern mit ihnen an
rauschenden Festen, und wenn ein Schweizer gute Aufnahme bei
ihnen finden will, so braucht er sich nur der welschen Sprache
178
zu befleißen. (Schweizer Studenten, die auf der Durcfireise in
Prag ein Fest mitmachten, wissen davon ein hübsches Abenteuer
zu erzählen.) Ähnlich wie die südlichen Völker haben die
Tschechen in ihrer Lebhaftigkeit und Sinnenfreudigkeit etwas
Kindliches; sie schmücken sich gerne mit grellen Farben, häufen
auf ihre Lieblinge einen Reichtum von Kosenamen, deren die
deutsche Sprache kaum fähig wäre; aber ebenso schnell sind sie
in Harnisch zu bringen, fangen gern Streit an und benehmen
sich dann so kindisch, dass sie auf einer recht bescheidenen Kultur-
stufe zu stehen scheinen. Doch spricht man ja den romanischen
Völkern wegen der gleichen Eigenschaften nicht die Fähigkeiten
zu den schönsten Leistungen in Kunst und Wissenschaft ab. Und
auf diesen Gebieten sind auch die Tschechen nicht zurückgeblie-
ben. Besonders in den Künsten sprechen ihnen sogar die Deut-
schen, ihre erbitterten Gegner, eine besondere Begabung für
Musik und Malerei nicht ab. Wer zum Beispiel die großen Ge-
mälde von Brozik im Prager Rathaus (unter anderen Hus in Kon-
stanz, Georg Podiebrad) betrachtet hat, wird diesen tschechischen
Maler aufrichtig bewundern und unter die ersten der Gegenwart
stellen. Von den Tonkünstlern nenne ich nur die bekannten
Namen Cerny und Dvoi^äk; bekannt sind auch die sogenannten
böhmischen Musikanten, die besonders früher die Länder durch-
zogen und wenn nicht von hoher Künstlerschaft, so doch von
künstlerischer Begabung auch des einfachen Volkes zeugten. Es
mag sein, dass, wie von den Deutschen immer hervorgehoben
wird, die Tschechen, die in der Wissenschaft etwas Hervor-
ragendes geleistet haben, erst durch die deutsche Schule mit ihrer
Gründlichkeit und Methode hindurchgegangen sind; dann darf
aber gesagt werden, dass den Tschechen und den Slawen über-
haupt eine große Fähigkeit eignet, das Gelernte für ihr eigenes
Volkstum fruchtbar zu machen. Schöpferisch sollen sie besonders
auf dem Gebiete der Sprachbildung gewirkt haben, indem sie eine
Menge Wörter, für die wir griechische und lateinische Ausdrücke
beibehalten, durch eigene Wortbildungen ersetzt haben. Eine genaue
Schätzung der Leistungen der Tschechen entzieht sich meinem
Urteil, da ich ihre Sprache zu wenig kenne.
Den Slawen im allgemeinen und den Tschechen im beson-
dern wird große UnreinUchkeit vorgeworfen. Dass die Slawen als
179
Angehörige einer Rasse, die noch nicht so lange wie die Deut-
schen unter dem Zeichen der Kultur steht, im täglichen Leben
noch weniger das Bedürfnis der Reinlichkeit in Kleidern, Nahrung
und Wohnung verspüren, muss man wohl zugeben ; sie ist ihnen
weniger selbstverständlich als uns. Eine Stadt wie Prag, das
goldene Prag, Slata Praha, die Hochburg und der Stolz der
Slawen, kann sich neben dem sauber asphaltierten, tadellos rein
gehaltenen Dresden im benachbarten Sachsen nicht sehen lassen,
und es wird manchem Westeuropäer grauen, wenn er in die in-
neren Viertel der Altstadt kommt, wo die jüdischen Trödler ihr
Wesen treiben. Prag hat noch nicht einmal eine rechte Wasser-
versorgung und der Typhus herrscht dort beständig wegen des
unsauberen Moldauwassers, in dem sogar das Baden gefährlich
ist. Wenn aber der Vorwurf der tschechischen Unreinlichkeit
von den Deutsch-Böhmen erhoben wird, so muss ich gestehen,
dass ich auf mehreren Fahrten ins Innere Böhmens, wo nur
Tschechen wohnen, recht saubere Dörfer und besonders Städt-
chen wie Melnik, Gitschin, Laun getroffen habe, die wohl den
Vergleich mit entsprechenden Dörfern und Städten Deutschböh-
mens aushielten, ja diese nach meinem Eindruck sogar manchmal
an Sauberkeit übertrafen.
Der schlimmste Vorwurf, der den Tschechen von den Deut-
schen gemacht wird, ist der der Kriecherei, der Servilität. Man
sagt, dass die Tschechen sich im Laufe der Jahrhunderte so sehr
an die Herrschaft der Deutschen gewöhnt hätten, dass ihnen die
Untertänigkeit jetzt im Blut liege, dass sie also mit Ergebenheit
und Demut ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen suchten. Auch
jener Handarbeiter Holek, selbst Tscheche von Geburt, klagt über
die erniedrigende Demut seiner Volksgenossen und fühlt sich
wohler unter den deutschen Arbeitern, weil diese ein höheres
Bewusstsein vom menschlichen Wesen in sich trügen. Das mag wahr
sein; wenn aber jetzt die Tschechen sich als eigene Nation frei
und unabhängig den Deutschen gegenüber zu fühlen gelernt
haben, so zeigt das, dass sie auf dem Wege sind, diesen beschä-
menden Charakterzug abzulegen. Sind die Slawen einst den kolo-
nisierend vordringenden Deutschen als der Inbegriff eines un-
freien Volkes erschienen, so dass der Ausdruck „Sklave" direkt
von „Slawe" herzuleiten ist, so haben sie sich seither den Ruf
180
eines auf seine Ehre stolzen und eifersüchtigen Volkes erworben.
Welcher Unbeteiligte würde ihnen zu diesem Erfolge nicht Glück
wünschen ?
Wenn wir oben die Frage gestellt haben, warum die Tsche-
chen, sobald sie sich als eigene Nation zu fühlen begannen, den
Deutschen feind. wurden, so wird deren Beantwortung nun auf
Grund der Charakteristik der beiden Volksstämme, wie ich sie zu
geben versuchte, schon leichter sein. Sie ist meines Erachtens
in wenige Worte zu fassen : die Deutschen wollten ihr lange aus-
geübtes und nicht bestrittenes Herrenrecht über die Tschechen
nicht aufgeben, auch als die Tschechen sich als selbständige
Nation zu fühlen begannen ; die Tschechen haben sich die Gleich-
berechtigung erkämpft und machen nun, nachdem sie die Oberhand
gewonnen haben, von dem Rechte des Stärkeren Gebrauch, indem
sie die deutsche Minderheit an die Wand drücken und ihr nun
ihrerseits die Gleichberechtigung nicht mehr zugestehen.
Diese Behauptung müsste freilich erst bewiesen werden; ich
versuche meine Auffassung zu rechtfertigen, indem ich einen kurzen
Überblick über die Geschichte des Zusammenlebens der beiden
Nationen gebe.
Die Deutschen wurden als willkommene Ansiedler von dem
tschechischen Fürstengeschlecht der Prschemisliden, besonders von
dem berühmten Ottokar 11. herbeigerufen (im dreizehnten Jahr-
hundert) und selbst in den Vorstädten der königlichen Stadt Prag
gern gesehen. Grillparzer lässt in seinem Drama „Ottokars Glück
und Ende" den energischen König zu seinen eignen Landsleuten,
die sich über die fremden Eindringlinge beklagen, folgendes sagen :
ich weiß wohl, was Ihr mögt, ihr alten Böhmen !
Gekauert sitzen in verjährtem Wust
Wo kaum das Licht durch blinde Scheiben dringt;
Verzehren, was der vor'ge Tag gebracht,
Und ernten, was der nächste soll verzehren ;
Am Sonntag Schmaus, an Kirchmess plumpen Tanz
Für alles andre taub und blind;
So möchtet ihr, — ich aber mag nicht so!
Wie den Ertrinkenden man fasst am Haar,
Will ich Euch fassen, wo's am meisten schmerzt:
Den Deutschen will ich setzen Euch in Pelz
Der soll Euch kneifen, bis Euch Schmerz und Ärger
Aus Eurer Dumpfheit wecken und Ihr ausschlagt
181
Wie ein gesporntes Pferd. Ihr denkt der Zeit,
Da Eure Fürsten saßen an dem Herd
Und einen Kessel führten in dem schnöden Wappen :
Ich bin kein solcher! straf mich Gott! — seht her,
Der Mantel ward in Augsburg eingekauft!
Das Gold, der Sammt, die Stickerei, das ganze,
Könnt ihr das machen hier in Eurem Land ?
Ihr sollt, bei Gott, Ihr sollt, ich wills Euch lehren !
Mit Köln und Wien, mit Lunden und Paris
Soll Euer Prag hier stehen in der Reihe
FRAUENFELD TH. GREYERZ
(Schluss folgt)
CDD
L'INSTITUT J.-J. ROUSSEAU A GENEVE
(£COLE DES SCIENCES DE L'EDUCATION)
II existe ä Geneve, sous la presidence de M. le professeur Bouvier,
une Societe Jean-Jacques Rousseau, destinee ä favoriser les etudes rous-
seauistes. L Institut J.-J. Rousseau, dont nous nous proposons d'entretenir
les lecteurs de Wissen und Leben, n'a de commun avec eile que le nom
du boheme philosophe. Qu'on veuille donc bien ne pas confondre la So-
ciete et rinstitut, encore que tous deux rendent hommage ä leur maniere
ä l'immortel Genevois, dont on a celebre l'annee derniere le bicentenaire.
C'est precisement ä l'occasion de cet anniversaire que l'Institut a ete
fonde il y a quelques mois, encore que I'idee de sa creation remonte dejä
ä quelques annees. II s'intitule aussi Ecole des Sciences de l'Education,
et, Sans demander ä Jean-Jacques un programme qu'il ne pourrait fournir,
l'institution poursuit la ligne de l'auteur de VEmile. Le fondateur de l'Insti-
tut, M. Ed. Claparede, place ce mot de Rousseau en tete des pages qu'il
a consacröes dans les Archives de Psychologie (fevrier 1912) au projet qui
lui tenait ä coeur: „Commencez-donc par etudier vos eleves, car tres assu-
rement vous ne les connaissez point." Et M. le professeur Pierre Bovet,
appeie ä diriger l'Ecole, ecrit lui aussi, dans VAnnee psychologique
(Tome XVIII): „Jean-Jacques Rousseau a vu l'enfant comme on ne l'avait
pas vu avant lui, et de ses vues nous sommes loin d'avoir tire encore en
theorie et en pratique tout ce qu'elles renferment. Si la psychologie fonc-
tionnelle peut se reclamer de Jean-Jacques, les idees modernes sur les en-
fants continuent les siennes."
Ainsi place sous l'egide de celui que l'enfance a tant Interesse, l'Institut
J.-J. Rousseau a ouvert ses portes le 21 octobre 1912. II a son organe,
VIntermediaire des Educateurs, qui le met en rapport avec ses collabora-
182
teurs ; il public une collection d'actualites pedagogiques. Le Comite de
patronage compte des noms connus de Suisse et de l'etranger comme
pedagogues, medecins, psychologues, hygienistes, professeurs. II y a un
conseil d'administration, un directeur et un comite de direction. L'affaire,
comme on le voit, est serieusement menee. Que se propose-t-on ?
„L'Ecole, dit le programme que nous avons sous les yeux, a pour
but d'orienter les personnes se destinant aux carrieres pedagogiques sur
l'ensemble des disciplines touchant ä l'education. Elle vise notamment ä les
initier aux methodes scientifiques propres ä faire progresser la psychologie
de l'enfant et la didactique. L'enseignement est donne essentiellement sous
la forme de Conferences de seminaire, les eleves faisant sous la direction
des professeurs un travail personnel."
Precisons cette indication generale d'apres les donnees des publi-
cations de MM. Claparede et Bovet, indiquees plus haut.
L'idee de l'lnstitut Rousseau est nee de la double constatation de
l'insuffisance de preparation scientifique des educateurs et de la necessite
d'assurer les progres de la science de l'education.
II est affligeant de voir combien les jeunes educateurs connaissent mal
l'enfant. lls repandent la semence dans un sol qu'ils ne savent ni labourer
ni preparer, et dont ils ignorent la constante evolution. Le corps enseignant
lui-meme fait souvent l'aveu de son incompetence en matiere de psycho-
logie infantile. L'enseignement scolastique devrait faire place ä une educa-
tion basee sur une preparation vraiment scientifique. On eprouve le besoin
de cette transformation non seulement dans le domaine de l'instruction
primaire, mais aussi en Instruction secondaire, dans les cours agricoles
et jusque dans les Universites. A tous les degres on se rend compte avec
une nettete croissante que la question didactique est ä revoir. Les con-
gres insistent les uns apres les autres sur l'importance d'une Initiation
des maitres ä tout ce qui concerne la science de l'enfant. Des cours se
donnent ici ou lä qui s'efforcent d'ouvrir la voie trop longtemps negligee:
cours de psychologie medico-pedagogique, cours de psycho-pedagogie ex-
perimentale, Conferences de Physiologie et d'hygiene infantiles et de Psy-
chopathologie des anormaux. II y a dejä un Institut de pedagogie et de
Psychologie experimentales ä Leipzig et un institut psycho-pedagogique ä
Munich. La creation d'etablissements analogues est ä l'etude egalement en
Angleterre. Bref, de tous cötes on sent le besoin de preparer scientifique-
ment l'instituteur ä sa täche.
Et dans tous ces efforts une pensee domine, qui est le renversement
de ce qu'on a vu et pratique jusqu'ä maintenant: l'enfant devient le centre
da Systeme e'ducatif. On en arrive ä comprendre qu'il n'est point fait pour
l'ecole, mais bien l'ecole pour lui. „Reform vom Kinde aus!" dit la devise
du Bund für Schulreform fonde recemment en Allemagne. Les methodes,
les procedes, les programmes doivent se mesurer aux capacites de l'enfant.
Ce n'est pas ä l'enfant ä se courber devant le Systeme, c'est le Systeme
qui doit se plier ä l'äge et aux aptitudes des eleves.
On le sait d'ailleurs depuis longtemps, on l'a repete sur tous les
tons. On l'a trop peu pratique. Rousseau, dans X Emile, et dejä Montaigne,
dans les Essais, ont ete en ces matieres les grands initiateurs, et si, assu-
rement, leur influence n'a point ete vaine — qui le soutiendrait? — on
est reste bien en-dessous de l'ideal que ces renovateurs ont pose et la
183
routine a eu trop souvent raison de l'esprit de progres. Les efforts des
Pestalozzi, des Herbart, des Froebel n'ont reussi pratiquement qu'ä corri-
ger certains defauts Interieurs de I'edifice. Cest quelque chose. Ce n'est
pas süffisant. Ce que nous pourrions appeler le petit logement d'ä cöte
des ecoles enfantines a ete transforme. Le grand bätiment de l'instruction
primaire et secondaire est encore ä reconstruire ou plutöt ä construire sur
le fondement pose par Rousseau. On est loin d'avoir rompu partout, tant
s'en faut, avec l'emmagasinage des details inutiles en histoire, avec la no-
menclature seche sous forme de listes et d'enumerations en geographie,
avec la regle de grammaire presentee comme un „probleme de pure me-
moire livresque", avec l'etude du vocabulaire en dehors des textes en ma-
tiere de langues mortes. Meme en sciences, quelle memorisation souvent
fastidieuse et souvent inutile de „noms de plantes, de coquilles et de fos-
siles". 11 n'est pas jusqu'aux mathematiques, oü tout devrait etre jugement
et reflexion, qui ne soient infectees du „microbe de savoir par coeur."
Tout cela, c'est la negation du genie propre de l'enfant. Cest la cer-
velle qu'on bourre de force de notions qui ne peuvent etre assimilees, c'est
le Systeme livresque ä la place du travail pratique et fructueux. „Oh! edu-
cateurs inattentifs ! s'ecrie Jean Aicard; quelle fleur m'apportez-vous lä?
Je ne veux pas de ronces pour le bouquet des Souvenirs de mon fils."
Pareilles methodes empechent l'enfant de vivre sa vie, elles lui rendent
l'etude amere, et avec une absence complete de logique et de bon sens
elles moulent tous les enfants, intelligents ou non, dans les memes cadres,
elles ont pour tous les memes exigences, elles etouffent l'elite sous la pe-
danterie du nivellement et la grosse masse sous le poids d'un bagage trop
lourd.
Connaissons donc mieux l'enfant, et respectons ses droits! Juvenal
avait dejä dit: Maxima debetur puero reverentia. Nulle part mieux qu'en
education cette formule doit trouver sa place. Elle est encore loin de l'avoir,
et les educateurs de la jeunesse sont les premiers ä s'en plaindre.
A qui la faute ?
Les instituteurs, qui deplorent cette Situation, ne peuvent en etre ren-
dus responsables, d'autant moins qu'un grand nombre d'entre eux rachetent
en une certaine mesure par leurs qualites naturelles et leur devouement les
defauts du Systeme et s'efforcent malgre tout de tenir compte de l'indivi-
dualite de leurs eleves, bien qu'en fin de compte ils soient obliges de sa-
tisfaire au gavage pour remplir les programmes et preparer les examens.
L'Etat ne peut pas davantage etre incrimine, encore que les gouver-
nements aient ete plus soucieux de repandre l'instruction que d'approfondir
le Probleme pedagogique. „11 n'existe malheureusement pas d'organisation
destinee ä rechercher d'une fagon methodique quel est le rendement sco-
laire de teile methode, de tel programme, quelles sont les fautes commises
qu'il faudrait eviter, quelle est la cause des educations manquees, ce que
deviennent les anciens ecoliers, ce qu'etaient au College ceux qui sont deve-
nus plus tard des hommes de talent ou, au contraire, des malfaiteurs,
quelles sont les causes de l'arrieration mentale ... et c'est cependant une
Organisation de ce genre qui seule permettrait ä la pedagogie de progres-
ser d'une fac^on süre et normale" (Claparede). Cette negligence n'est ce-
pendant pas le fait des pouvoirs publics, brides forcement par l'ambiance,
l'opinion et les traditions admises.
184
Oü git donc le mal? II vient essentiellement de ce que les verites
pedagogiques ont manque, pour s'imposer, de la base scientifique indis-
pensable. On n'a pas apporte la ve'rification experimentale du principe
pose' par Rousseau. Donnez ä la pedagogie un fondement rigoureusement
scientifique et psychologique, et vous entrainez l'opinion publique et les
reformes necessaires. Herbart lui-meme, avec tous les Services qu'il a ren-
dus, a eu le tort de s'en tenir ä une Psychologie speciale de l'enfant; il a
oublie aussi de maintenir sa doctrine en contact continuel avec les faits,
alors que Vexperimentation doit sans cesse controler la psychologie.
Mais nous possedons aujourd'hui des connaissances et des methodes
psychologiques qui nous permettent de donner ä la pedagogie l'assise qui
lui manque. La psychologie est sortie de son caractere purement phiio-
sophique pour devenir scientifique. La psychologie de l'enfant, en particu-
lier, fille de la biologie, nous a revele les etapes de l'evolution infantile,
avec leurs centres speciaux d'interets, et la signification de l'enfance; eile
nous a fourni des methodes d'investigation, tels les tests d'Alfred Binet
pour mesurer l'intelligence des enfants.
Comment penetrer la pedagogie de ces donn^es et de ces methodes
scientifiques?
P En creant des organes qui recueillent le materiel documentaire et
en degagent les conclusions et, si possible, les lois.
2" En initiant les maltres aux regles de cette methode scientifique.
C'est lä precisement la raison de la creation de l'Institut Rousseau,
et nous comprenons maintenant son but (voir plus haut): orienter les per-
sonnes se destinant aux carrieres pedagogiques sur l'ensemble des disci-
plines touchant ä l'education, les initier aux methodes propres ä faire pro-
gresser la psychologie de l'enfant et de la didactique, les faire travailler
elles-memes, directement, sous la direction des professeurs, dans des Con-
ferences de seminaire.
On peut faire, et on a dejä fait, dans le corps enseignant en parti-
culier, des objections diverses aux principes scolaires psycho-pedagogiques
et experimentaux que l'Institut Rousseau espere acclimater. On se recrie
au nom de l'instinct inne que tout educateur porte en lui et qui le dispense
d'une methode basee sur la science. Mais en realite le don pedagogique
n'est-il pas l'apanage d'un petit nombre seulement, et s'il faut attendre que
les annees aient forme l'instituteur, combien ses eleves n'auront-ils pas ä
pätir de ses tätonnements?
On pretend egalement que l'ecole publique ne doit pas etre un champ
d'experience, et au nom des enfants on proteste contre l'espece de vivi-
section morale (le mot a ete prononce) qu'on veut pratiquer ä leurs de-
pens. Mais il est permis de demander qui donc martyrise le plus l'eleve,
de l'educateur qui exerce ä leur endroit ses procedes empiriques, au risque
de les degoüter souvent de l'ecole et de vicier des le debut leurs facultes
d'assimilation et de raisonnement, ou de l'educateur, qui, avec une experi-
mentation raisonnee, critiquee et toujours verifiee ä nouveau, cherche les
moyens vrais et scientifiques de penetrer jusqu'ä l'intelligence de l'enfant.
En realite, „aucune raison theorique ne s'oppose ä ce que les ques-
tions pedagogiques soient soumises, comme toutes les autres questions de
fait, ä l'experimentation", et l'on n'a pas de raison de craindre des obser-
185
vations systematiques dans les ecoles. L'enseignement ne peut qu'y gagner
en sürete, et l'enfant loin d'en souffrir est traite „comme un etre humain;
l'institution scolaire est appropriee ä ses besoins, parce que les ecoles sont
creees pour lui, et non lui pour les ecoles" (Millioud, cite par Claparede).
Rien ne doit empecher l'educateur de contröler dans sa classe une nou-
velle methode pedagogique ou le rendement d'un Systeme special. D'autres
experiences pourront et devront tendre ä connattre toujours mieux la men-
talite de l'enfant. L'eleve, souvent, ne se doutera meme pas de l'etude
dont il est l'objet, et le maitre, en cherchant ä penetrer la maniere de
penser et de sentir de l'enfant, decouvrira toute sorte d'idees nouvelles
utiles pour son enseignement, qui en deviendra plus pratique et plus cap-
tivant, Sans compter que ce qui ne sera pas trouve immediatement utili-
sable pourra recevoir plus tard son application.
Sur quoi les investigations devront-elles porter? On n'a que l'embar-
ras du choix: developpement de la pensee de l'enfant, questions d'hygiene,
d'alimentation, d'education morale et sociale; etude des diversites indivi-
duelles, traitement des anormaux et des surnormaux (entre parentheses,
les arrieres scolaires ont ete recemment l'objet de la sollicitude des auto-
rites vaudoises qui prennent ä ce sujet des mesures de protection qu'on
ne saurait assez louer); economie du travail scolaire (depense minimum
d'energie cerebrale pour un maximum de rendement), procedes de memori-
sation, de repos, d'entrainement, horaires, examens, etc.; recherche des
meilleures methodes pour chaque discipline, suivant Tage ou l'etat mental
de l'enfant; rendement non pas en quantite d'erudition, bien entendu,
mais en assimilation des matieres enseignees: et aussi qualites requises du
maitre, effets de son caractere sur ses eleves. Donc, une foule de points,
dont seule une inveteree routine peut contester l'importance.
On voit des lors, ä quels besoins imperieux repond un Institut de la
nature de l'Institut Rousseau. 11 sera un centre didactique, oü le futur edu-
cateur pourra se documenter rapidement sur tout ce qui touche ä l'edu-
cation, notamment sur la reforme pedagogique elle-meme; et surtout 11
apprendra comment il ne faut pas experimenter, crainte d'erreurs, et com-
ment il faut s'y prendre pour aboutir avec des chances de succes. L'Insti-
tut centralisera les recherches, le materiel, les statistiques, et ses propres
eleves eux-memes s'emploieront ä ce travail avec les professeurs. 11 cen-
tralisera de meme les informations; nous avons dejä dit qu'il a son Jour-
nal, il a de meme son musee et sa bibliotheque, il pourra posseder son
Service de consultation. II agira sur le public pour tout ce qui touche non
seulement ä l'instruction de l'enfant mais ä son bien general. 11 completera
et achevera les institutions analogues, mais quelquefois embryonnaires,
d'Europe et d'Amerique. A cöte des ecoles normales, qui pr^parent les ins-
tituteurs ä remplir des programmes dejä fixes, il etudiera les programmes
eux-memes en meme temps que les methodes en usage.
Un principe superieur dirigera l'enseignement de l'Institut: la con-
ception fonctionnelle de i'education, posee par Rousseau, et que M. Cla-
parede resume ainsi : „I'education de l'enfant doit se faire du dedans, non
du dehors: eile doit consister non dans une action exterieure exercee par
le maitre sur l'eleve, mais dans un acte meme de l'enfant, acte consecutif
ä l'eclosion de mobiles inteiieurs. Connattre ces mobiles propres ä declan-
cher l'action et l'effort, et, une fois qu'ils sont connus, les mettre en jeu
186
en pla(;ant l'enfant dans les conditions convenables, tel doit etre le but de
l'educateur." Autrement dit, le point de depart est et doit rester, tant que
l'experience ne l'aura pas contredit, la psycho-biologie de l'enfant et l'ob-
servation de son activite. Cela est conforme aux lois de l'evolution et de
la Psychologie generale, bref aux lois de la vie; tout l'effort de la peda-
gogie fonctionnelle tendra ä susciter la contrainte Interieure ä la place de
la methode coercitive. Ainsi essayent dejä de faire les „ecoles nouvelles."
L'lnstitut Rousseau prolongera et perfectionnera cette experience et en
synthetisera les resultats.
Une caracteristique interessante de l'Ecole est qu'elle regoit des eleves
Sans grade ni diplome. 11 suffit pour pouvoir etre inscrit d'avoir dix-huit
ans et de posseder une culture generale süffisante. L'Ecole est ainsi ou-
verte ä toute personne capable de suivre des etudes superieures, et con-
formement au principe d'individualisation qu'on reclame pour les enfants,
on n'astreindra les eleves de l'lnstitut qu'ä ceux des cours adaptes au but
qu'ils se proposent. Le reglement porte qu'un plan d'etudes est propose
par le Comite directeur ä chaque eleve, tot apres son arrivee, en tenant
compte de ses desirs et de ses aptitudes. Des diplomes et des certificats
termineront les etudes, mais l'eleve ne sera pas „ecrase par l'instruction
livresque et terrorise par l'examen final." Ce qu'on lui demandera c'est une
participation personnelle et active aux travaux de l'Ecole, et le diplome
mentionnera la direction que l'etudiant aura specialement poursuivie, (en-
seignement des tout petits, Instruction secondaire, etc.). L'essentiel sera
qu'il mette du sien dans la recherche et le depouillement des documents,
et que, sous la direction des professeurs, il arrive ä tirer par.i par lui-meme
des faits et des experiences qu'on mettra sous ses yeux. Preparation toute
pratique, comme on voit, oü le professeur est moins un mattre qu'un guide,
et oü l'on fait appel aux qualites et aux ressources individuelles et ä
l'esprit d'initiative de chacun, L'eleve, par exemple, preparera lui-meme des
le^ons qui seront discutees et critiquees par ses coUegue- et par le pro-
fesseur. On le mettra de meme en contact direct avec des enfants et des
classes, et nous savons dejä tel directeur d'ecole qui ne demande qu'ä
recevoir la visite des futurs ^ducateurs dans les etablissements ä lui confies.
On sent que dans toute cette conception l'lnstitut entend non seule-
ment instruire ses eleves sur l'education fonctionnelle mais la pratiquer ä
leur egard. MM. Ciaparede et Bovet le disent tous les deux: il ne s'agit
pas d'endoctriner mais d'orienter. „Enseigner, sur l'enfant normal et anor-
mal, ce que l'on sait, et les moyens de rechercher ce que l'on ne sait pas
encore; sur les methodes d'enseignement ce qui se fait et la fa^on dont
on peut contröler la valeur de ce qui se fait: sur les efforts scolaires et
extra-scolaires d'education morale — d'education religieuse, esthetique et
sociale aussi — renseigner encore, en cherchant toujours une methode
pour apprecier les resultats. Et, pour apprendre tout cela, autant que pos-
sible le faire voir; suivant les aptitudes et la vocation des eleves, les ame-
ner ä collaborer aux entreprises scolaires, de fa^on ä ce que l'on s'exerce
ä voir et ä profiter de ce que Ton a vu" (Bovet). Et pour parer ä la gri-
serie possible des eleves, qui pourraient oublier la realite concrete quand
on leur parlera de psychoIogie, de pathologie ou d'analyse, le professeur
dirigera lui-meme l'etudiant de fa^on graduee et il le suivra de tres pres
tout en lui laissant le plus de liberte d'action possible,
187
On appreciera l'esprit de recherche aussi complete et aussi compa-
rative que possible qui anlme l'Institut Rousseau quand on saura qu'ä cöte
de ses Services ordinaires, il sera dote, si la chose est possible, d'un labo-
ratoire de psychologie animale. Le psychisme animal et le psychisme in-
fantile ont plus de rapports qu'on ne pourrait penser au premier abord.
Et puis surtout, en se livrant ä des exercices de psychologie animale, le
futur educateur s'habitue ä comprendre d'autres esprits que le sien et ä
regier sa conduite en consequence. En agissant avec un enfant, on est
volontiers porte ä s'en prendre ä lui des insucces constates, et Ton oublie
qu'on a peut-etre brusque les voies que la nature a tracees ä l'acquisition
des habitudes. Mais en manipulant un animal, force est de s'armer de pa-
tience et de douceur, et de ne point se laisser effrayer par de perpetuels
recommencements.
Un membre de Commission scolaire, dont j'apprecie le sens praiique,
racontait un jour, ä propos d'education, la fa(;on dont son professeur de
manege, au Service militaire, recommandait de s'approcher du cheval:
„Allez ä lui comme ä une jolie femme, et vous ferez de lui tout ce que
vous voudrez!" tant il est vrai que le dressage demande du tact, de la
retenue, et une veritable politesse. Et la personne dont je parle ajoutait
avec un parfait serieux: „Faisons donc pour Tenfant ce qu'on exige ä l'en-
droit de la bete, et nous aurons toute sorte de chances de reussir!" Pen-
see tres juste, et nous sommes persuade qu'une Ecole des sciences
de l'education qui s'annexerait un laboratoire de psychologie animale,
comme espere le faire l'Institut Rousseau, donnerait ä ses eleves un doigte
et une sürete de main dont les enfants retireraient un incontestable bene-
fice dans l'enseignement scolaire.
Si l'Institut n'est pas encore outille ä cet ^gard, au moins le Pro-
gramme des cours et Conferences du semestre d'hiver 1912—1913, que nous
avons sous les yeux, montre que d'emblee on a cherche ä repondre aux
besoins dans les directions les plus diverses. A cöte des le(;ons du fon-
dateur et du directeur, on a fait appel ä de nombreux professeurs et spe-
cialistes, pedagogues, medecins, voire ä des artistes qui donnent ou bien
un enseignement suivi ou des series de causeries. Les sujets sont groupes
sous les grands chefs: l'Enfant, l'Enseignement, l'Education.
On etudie ainsi la psychologie de l'enfant, la psychologie experimen-
tale, la psychologie speciale (types mentaux, art d'observer). Dans les me-
thodes de recherche, il y a place pour les experiences en classe, l'anthro-
pometrie scolaire, les enquetes sociales sur I'enfance, la technique psycho-
logique, la graphologie infantile. On aborde la puericulture, les questions
de croissance et de maladie des enfants, les anomalies mentales, les clas-
ses d'arrieres. Voilä pour l'Enfant.
Pour l'Enseignement, je note la didactiqne generale (technique du
travail scolaire, attention, memoire, association), le röle de l'energetique,
la didactique speciale en matiere d'enseignement des tout petits ou d'en-
seignement du fran<;ais, des langues etrangeres ou des langues anciennes,
de Thistoire, de la geographie, des sciences, des mathematiques elemen-
taires; la culture physique, la gymnastique rythmique; Organisation des
classes (classes mobiles, examens, ecoles nouvelles); l'hygiene scolaire,
(bätiment et individus, mesure prophylactiques et hygieniques) , formation
de la voix du maitre; röle du dessin pour illustrer l'enseignement.
188
Dans ie domaine enfin de l'Education proprement dite, on discute
et etudie les questions d'education morale (sports, jeux, travaux manuels,
education esthetique, education sexuelle, coeducation, autonomie scolaire,
sanctions, education civique, les oeuvres laiques ou religieuses (Eclaireurs,
Espoir, ecoles du jeudi), les types d'education religieuse, l'energie psychique,
la criminalite juvenile, les agents qui agissent sur la race, l'ecole au point
de vue sociologique, enfin l'histoire et la philosophie des grands educateurs
anciens, modernes et contemporains.
Teile est, rapidement esquissee, l'oeuvre avec ses principes et son
Organisation, ün le voit: c'est une entreprise considerable. Nous autres
Suisses ne pourrons jamais assez nous feliciter qu'elle soit nee en terre
helvetique, dans la patrie de Rousseau. Dejä les etudiants arrivent des
endroits les plus divers et les plus lointains. 11s remporteront chez eux une
semence de prix. Nous souhaitons seulement que les educateurs de notre
pays ne s'en laissent pas ravir tout le benefice, et qu'il n'en aille pas de
I'Institut Rousseau ce qui est advenu de mainte autre initiative feconde que
nous avons iaisse tomber avec une parfaite incomprehension de nos in-
terets les plus immediats. La ville de Rousseau devait cette creation au
monde. Nous, Suisses, devons ä nous-memes d'en profiter les tout premiers.
NYON LOUIS GOUMAZ
D D D
PARSIFAL
Das Unbeschreibliche, hier ist's getan. Was Richard Wagner an tiefster
Religiosität der inbrünstigen Musik seinem Bayreuther Bühnenweihfestspiel
anvertraute, hier in Zürich wurde es nun Ereignis. Wenn ich auch nie
ernstlich Zweifel daran gehegt habe, dass Parsifal auch außerhalb Bayreuths
wirken könne, so hätte ich mir doch nie ein so begeisterndes Erlebnis von
unserer Zürcher Bühne versprochen. Und doch ist es nun so: wer mit
leiser Bangnis das sonntägliche Theater betrat, verließ es als ein beglückter
Optimist, und wenn eines die Begeisterung noch hätte steigern können, so
wäre es nur das gewesen : ganz aus der Sphäre des Alltags herausgehoben
zu sein, weit entfernt von der Stadt, irgendwo, aber nahe an der Stille der
Natur. Wer im Innersten bewegt ist, will seine Gedanken nicht durch die
Außenwelt in alltägliche Bahnen lenken lassen. Das war etwas schmerzvoll:
nach dem Zauber des Grals und seiner Entrücktheit die alten Häuser und
Straßen zu sehen und den gewohnten Gang zu gehen wie immer und alle
Tage, wo doch jeder sein persönlichstes Verhältnis zu den Offenbarungen
des Weihespieles sich zurechtzulegen hatte. Man hätte sich selbst verlieren
mögen in die Mystik des Parsifals und fand sich aus all diesen sonntäglichen
Betrachtungen plötzlich in den Werktag unserer guten alten Stadt zurück-
versetzt. Und doch wieder: wer zwischen den Akten ein paar Schritte vor
dem Theater an der frischen Luft machte und die Bucht von Zürich so
friedlich daliegen sah im abendlichen Lichte, und dahinter die stille Stadt
und den frischen Schnee der Albiskette, der empfand durch den Anblick
eine unendliche Beruhigung, und der Gedanke war so selbstverständlich,
dass nun gegenüber dem grünen Hügel das letzte Werk dessen aufgeführt
wird, der dort so viel geliebt und gelitten hatte.
Welche Welt trennt dies Werk von all seinen früheren Schöpfungen!
Die Antithese kann eine letzte, größte Sensation bedeuten, und dieser Macht
189
konnte ein so sensibles Künstlernaturel wie Richard Wagner nicht wider-
stehen. Wer menschliche Leidenschaft, Sinnenglut und Körperkraft so ver-
herrlicht hat wie er, den konnte schließlich nichts mehr reizen als deren
Verneinung und so wurde denn Wagner der Sänger des Grals und des
Parsifals, des reinen Toren, der nur durch inneres Heldentum, durch bloßes
Mitleid sein Ziel erreicht. Ähnlich wie Philipp II. am Schlüsse seines Lebens
eine Steinwüste in ein prunkendes Schloss verwandeln ließ und den Rest
seines sonst so übermächtigen Erdenwallens in Resignation und Weltflucht
auf diesem seinem Escurial zubrachte. So groß ist die Antithese bei Wagner
allerdings nicht; sie ist bei ihm begreiflicher und deshalb auch weniger
sensationell. Dass der bald Siebzigjährige noch neue musikalische Gebiete
der Bühne urbar machte, die der Religiosität und Innerlichkeit, zeigt wieder,
wie groß die Selbstkritik Wagners und seine Anpassungsfähigkeit an die
Physiologie des Alterns war, so dass Parsifal nicht das Werk des Alterns,
sondern eines erkennenden und könnenden Alten wurde.
Das Unaussprechliche hat er hier ausgesprochen. Weniger in Worten
als in Tönen, Symbolen, Stimmungen. Was uns Menschen so schwer fällt,
unsern Nächsten mitzuteilen: das Innerste, unser Verhältnis zur Natur und
zur Gottheit, die Gebiete der Religiosität, die weniger Glauben als Gefühl
sind und uns deshalb so schwer über die Zunge wollen: Wagner hat für
das alles den adäquaten künstlerischen Ausdruck gefunden. Dass er dies
am Ende seines Lebens tat, macht das Werk um so wertvoller als den
Ausdruck seiner letzten Lebensweisheit. Diese war bei ihm nicht in allen
Lebensperioden gleich optimistisch; er ist zu lange in die Schule Schopen-
hauers und in die der bitteren Not gegangen ; dass er sich durchgerungen
hat zu einem überzeugten Optimismus, beweist die Sicherheit in der Grund-
stimmung des ganzen Parsifals, diese Wärme im Kolorit, die überall so
wohltuend durchdringt und die, wenn sie auch oft stille Resignation zu-
decken muss, doch ihre Träger in die reine Sphäre edler Menschenliebe
hinaufhebt. Seinen Helden aber, Parsifal, den verkannten Sucher des Ideals,
lässt er das Ziel erreichen und milde und verklärt leuchtet ihm schließlich
sein Gral.
Man ist versucht, den Parsifal von seiner historischen Seite her zu
erklären und darob zu vergessen, wie sehr Wagner die Parsifalidee umge-
ändert hat für seinen Zweck, seine Gedankenwelt. Aber auch darin wird
man bald buddhistische und pantheistische Ideen, bald einen großen Idealis-
mus und Optimismus vorfinden, und zwar jeder gerade so viel, wie in ihm
selbst drin steckt. Ich will deshalb darüber gar nicht schreiben und nur
dem künstlerischen großen Eindruck das Wort reden, den das Werk in der
Aufführung auch außerhalb Bayreuths auslöst. Lasse jeder das Werk auf
sich wirken und setze sich mit ihm auseinander: es wird ihm zum Erlebnis
werden, denn jeder Mensch ist Parsifal.
Was nun die Zürcher Parsifalaufführung anbetrifft, so ist der Kritiker
in einer beneidenswerten Lage: er kann nur rühmen. Und beim rühmen ist
es immer besser, sich zu kurz zu fassen als zu lang zu werden. Ich habe
in Zürich noch nie eine so weihe- und stimmungsvolle Festvorstellung ge-
sehen wie die Parsifalaufführung. Alles zeugte von großem Eifer und großer
Anstrengung, sodass dann auch eine Gesamtleistung herauskam, die hoch
über dem Durchschnitt unserer Oper steht. Wundervolle Szenerien, prägnant
und doch poetisch, entworfen und ausgeführt von den Herren Gamper und
190
Isler; eine Inszenierung, die bis ins Kleinste durchdacht und künstlerisch
wirksam war und der Regie der Herren Reucker und Rogorsch alle Ehre
machte ; ein Orchester endlich, das mit Liebe und Wärme das Musikalische
wiedergab unter der so sicheren Leitung des Herrn Dr. Kempter. Von
Solisten nenne ich zuerst Fräulein Krüger, von der wir gewohnt sind, das
Höchste zu erwarten und die uns denn auch in der Kundry eine unüber-
treffliche künstlerische Schöpfung bot. Je schwieriger die Rolle, um so
größer scheint ihre Kunst zu werden. Wie ihre Auffassung der Rolle ge-
sanglich und mimisch verschmilzt zu einer Einheit, ist künstlerisch einwand-
frei. In jedem Akt war sie eine andere: Naturweib im ersten, das liebende
Weib im zweiten und endlich das demütig dienende Weib im dritten Akt,
und doch immer dieselbe gute Kundry. Auch Parsifal war durch Herrn Ulmer
gesanglich und darstellerisch recht erfreulich vertreten, während die enorm
schwere Rolle des Gurnemanz nicht recht zur Geltung kam: Herr Gritzbach
war zu wohlwollend-greisenhaft, und das fesselt nicht auf die Dauer. Am-
fortas und Klingsor wurden durch die Herren Bockholt und Janesch cha-
rakteristisch dargestellt. Herrlich war die Blumenmädchenszene, an Ton-
reinheit, Grazie und bildlicher Schönheit geradezu unübertrefflich, während
der Ritterchor leider besonders in gesanglicher Hinsicht viel schuldig blieb
an Rundheit und Reinheit des Tones. Doch mochten die erwähnten kleinen
Mängel der Stimmung des Ganzen keinen Abbruch zu tun, sodass es zu
Recht besteht: Parsifal ist eines der großen künstlerischen Ereignisse für
Zürich geworden. Dass es gerade Zürich war, das den Bann brechen durfte,
der dreißig Jahre über dem Werke schwebte, und dies dazu noch in so
uneigennütziger, von rein künstlerischen Erwägungen diktierter Weise, das
soll uns mit zukunftsfroher Freude erfüllen.
ZÜRICH OTTO HUG
Dan
SCHAUSPIELABENDE
Mit Strindberg, dem erbarmungslosen, sind wir jüngst in letzte Tiefen
des Ehe-Inferno hinabgestiegen. Die beiden Teile der zu Beginn dieses
Jahrhunderts entstandenen Dichtung „Totentanz" wurden an zwei aufein-
anderfolgenden Abenden im Pfauentheater, auf unserer Schauspielbühne
aufgeführt. Die Darsteller setzten ihr ganzes Können ein, so dass das
Werk unvergessbaren Eindruck machte.
Eine Ehe vor der silbernen Hochzeit. Aber es sieht nach nichts weniger
als nach einem freudigen Familienfest aus. Die Frau Edgars, des Kapitäns
bei der Festungsartillerie, am Meer, in einem alten, düstern, feuchten Festungs-
turm — Frau Alice spricht von „unserm fünfundzwanzigjährigen Elend", das
sie eher verbergen als feiern sollten. Ihrem Vetter Kurt, der als Quaran-
tänemeister auf diese militärische Station kommt, spricht sie von dem Gatten
als einem für sie fremden Mann, „ebenso fremd wie vor fünfundzwanzig
Jahren" : „wir trennten uns als Verlobte zweimal, seitdem haben wir uns
jeden Tag, der kam, zu trennen versucht . . . aber wir sind zusammenge-
schmiedet und können nicht loskommen. Einmal waren wir getrennt —
im Hause — fünf Jahre lang. Jetzt kann nur der Tod uns trennen ; das
wissen wir und darum warten wir auf ihn als den Befreier." So lautets
gleich in den Eingangsszenen. Und das Thema wird durchgeführt, unbarm-
191
herzig, mit eiserner Konsequenz, das Thema vom Tod-Befreier. Immer
wieder scheint die schaurige Hoffnung der Frau in Erfüllung zu gehen. Der
Mann ist Apoplektiker; auch die Arterienverkalkung sitzt ihm im Leibe.
Er hat Anfälle, denen ein Wiedererwachen nicht mehr zu folgen scheint,
und die Lebensgier regt sich in der Frau. Und nach dem Vetter, den sie
einst geliebt, züngelt schon ihre Lust, dass sie ihn betörend in den Wirbel zu
ziehen droht. Aber noch ists nicht so weit. Der Alte kommt wieder auf
die Beine. Wohl ist er gleichsam nur noch eine galvanisierte Leiche; aber
zum Bösestun ist er immer noch rechtzeitig zur Stelle— zum Quälen, zum
Spionieren, zum Ruinieren. Kurt wird sein Opfer: teuflisch untergräbt er
ihm seine ganze Position, seinen kleinen Wohlstand, seine Hoffnung auf
des Sohnes Karriere. Mit der eigenen Tochter treibt er Schacher: einen
alten Obersten soll sie heiraten, damit der Kapitän am Schluss seines von
lauter Feinden oder doch Nichtfreunden umlagerten Lebens doch noch zu
Ehre und Ansehen käme, dem ganzen Pack, wie ihm seine Umgebung er-
scheint, zum Trotz. Da schnellt die Tochter, die Kurts Sohn liebt, den
tödlichen Pfeil auf ihn ab: durch eine Impertinenz gegen den Obersten
macht sie die Heiratsaussichten ein für allemal zu nichte. Das bringt den
Kapitän zur Strecke. Dämonisch triumphiert Frau Alice. Die Tochter ist
ihre Rächerin geworden. Und sie schreckt nicht davor zurück, dem röcheln-
den Gatten ins Gesicht zu schlagen, als dieser nach ihr ausspuckt.
Der Totentanz, der infernale Tanz, den Lebende mit einem im Grunde
schon Toten aufführen mussten, ist vorbei — scheinbar; denn mit seinem
letzten Worte versalzt er ihnen noch das befreiende Uff. Verzeih ihnen,
denn sie wissen nicht was sie tun — so hat er noch gelallt. Damit setzt
er sie noch nach seinem Tod ins Unrecht und appliziert ihnen Gewissens-
bisse. Am Ende hat ers doch bei all seiner Tyrannis, bei all seiner uner-
gründlichen Widerwärtigkeit gut gemeint mit den Seinen. Schließlich war
er doch auch selber ein Opfer der Umstände: seine Karriere war verpfuscht
worden ; man hat ihn nicht emporkommen lassen ; das hat ihn so arg ge-
macht; und er dachte nur daran, schließlich doch noch hochzukommen,
seine Familie zu heben. Diese Gedankengänge macht das fromm drapierte
Schlusswort bei der Witwe, selbst bei Kurt locker, und sie flechten einen
Märtyrerkranz samt zugehöriger Gloriole um sein totes Haupt. Alice be-
sinnt sich auf ihre Liebe zu dem Gatten ; allerdings auch auf ihren Hass.
Den gibt sie auch zu ; aber einen Knacks hat er doch erlitten. Kurt und
Alice werden sich gewiss nicht heiraten. Der Tote steht zwischen ihnen.
Mit Meisterhand ist das alles geformt. Das Trivialste wird zum psy-
chologischen Werte. In Höllen wird hinabgezündet, dass man erschreckt
zurückbebt, in Höllen der Alltäglichkeit, ohne alle Größe. Tatbestände
werden aufgedeckt, die über den Individualfall hinausreichen ins allgemein
Zutreffende (wenn auch in wesentlich abgeschwächten Nuancen). Grund-
instinkte (trennender, nicht einigender Art) werden von Strindberg grausam
kalt bloßgelegt. Liebe und Hass als Geschwister, wie Schlaf und Tod.
Abgründe tun sich auf. Dante hat an diesen Höllenkomplex nicht gedacht.
Strindberg hat ihn erlebt, und den Weg zum Ehe-Paradies fand er nie.
ZÜRICH H.TROG
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
192
CHINESENFEST IN SINGAPORE
Bei den wehenden Lichtern
Oben auf dem bekränzten Balkon
Kauern sie ruhevoll in der festlichen Nacht,
Singen Lieder von lang verstorbenen Dichtern,
Horchen beglückt auf der Laute schwirrenden Ton,
Der die Augen der Mädchen größer und schöner macht.
Gläsern wie Flügelschlag großer Libellen
Klirrt durch die sternlose Nacht die Musik,
Braune Augen lachen in lautlosem Glück,
Keiner, der nicht den Glanz im Auge hat!
Drunten wartet schlaflos mit tausend hellen
Lichteraugen am Meere die glänzende Stadt.
HERRMANN HESSE
DDC
193
BETRACHTUNGEN ZUR ANNAHME
DES GOTTHARDVERTRAGS
DIE ALTE UND DIE NEUE VOLKSBEWEGUNG
(Fortsetzung)
Zwei Gründe sind es also, die aus der Volksbewegung gegen
den Gotthardvertrag die Staatsvertragsinitiative herauswachsen
ließen. Erstens erwiesen sich im Gang der Beratung und bei der
Abstimmung^) nicht vorwiegend nationale, sondern parteipolitische
und regionale Gesichtspunkte bei vielen eidgenössischen Räten
als maßgebend, und nichts bürgt dafür, dass das künftig besser werde ;
der starke patriotische Eindruck der Reden von Frey, Usteri,
Planta, Ador zerfloss bei der Abstimmung unter den Parolen,
die Parteien und Regionen ausgegeben hatten. Und zweitens ist
es der Stellung des Volkes als Souverän nicht würdig, wenn es
sich mit einer Bittschrift an seine Vertreter wenden muss, ganz
besonders, wo es sich um Entscheidungen handelt, die man als
Schicksalsfragen bezeichnen kann. Beides ruft nach einer Er-
weiterung des Selbstbestimmungsrechts des Volkes für jene Fälle,
wo es sich um unabänderliche, unkündbare und folgenschwere
Verträge mit ausländischen Staaten handelt.
Diese Erkenntnis ist nicht erst aus dem Gotthardvertrag her-
ausgewachsen, wie behauptet wird, sondern sie herrschte schon
beim Abschluss des alten Vertrags, als über 70 000 Unterschriften
gegen den Vertrag vornehmlich aus der Ostschweiz unter Führung
erster Vertreter des Handels und der freisinnigen Poh'tik nach Bern
gesandt wurden. Man lese die Berichte aus damaliger Zeit nach;
man wird finden, dass man es ebenso ungehörig fand wie heute,
1) In der auf Seite 135 des letzten Heftes mitgeteilten Tabelle haben
sich verschieden Druckfehler eingeschlichen. Es soll dort heißen:
Nationalrat Ständerat
Ja Nein Ja Nein
Bern 20 12 1 — (Herr Kunz stimmte
Zug 1 — nicht als Präsident)
Schaffhausen 1 — 2 —
Zu den welschen Mitgliedern, die mit Ja gestimmt haben, gehört Herr
Bonjour; die sechs deutschen Mitglieder des Zentrums haben, zur Hälfte mit
Ja, zur Hälfte mit Nein (die beiden Berner Herren und Herr von Planta)
gestimmt.
194
dass das Volk zu Verträgen, die auf immer die Nachkommen-
sciiaft belasten, nichts zu sagen haben soll. Die „St. Galler
Zeitung" bemerkte nach der Genehmigung des alten Gotthardver-
trags vor dem Kriegsausbruch Ende Juli 1870 resigniert:
Aber das Volk in der Schweiz hat zu solchen Dingen nichts zu sagen ;
ein paar Herren lenken die Geschicke des Landes, und doch gehört das
Land dem Volk!
Am 16. Juni 1870 findet man in dem selben Blatt ein Stim-
mungsbild, das genau zu den jüngst gemachten Erfahrungen passt:
's wird noch erlaubt sein. Durch die Blätter geht die Nachrichte, dass
nächsten Sonntag in Aarau eine Versammlung stattfinden werde, um zu
beraten, wie hinsichtlich des Staatsvertrages mit dem Ausland, betreffend
die Gotthardbahn, die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft zu wahren sei !
Das Tagblatt der Urkantone sagt, es handle sich bloß darum, dem
Gotthard ein Bein zu unterschlagen und setzt bei: Gute Patrioten, die „Ost-
und West-''Schweizer!
Wir haben auch von einer solchen Versammlung gehört, wissen
aber, dass auch eifrige Freunde und Förderer des Gotthardunternehmens
dabei sind, — die aber nicht um jeden Preis, nicht um denjenigen der Un-
abhängigkeit des Landes, sich in Staatverträge mit dem Ausland einlassen
wollen. Anderseits sind Ost- und Westschweizer genug, welche diese Un-
abhängigkeit ebenso gut bei Staatsverträgen hinsichtlich des Splügen und
des Simplon, als hinsichtlich des Gotthard zu wahren entschlossen sind.
Die Unabhängigkeit des Vaterlandes aber über Eisenbahninteressen,
selbst über die höchsten zu stellen, wird noch erlaubt sein. Oder?
Darum handelt es sich in der Tat auch heute. Dagegen
kommen alle Theorien nicht auf. Um diesen Zweck zu erreichen,
braucht man nicht die kurzfristigen oder auf ein Jahr künd-
baren Handels-, Meistbegünstigungs- und Niederlassungsverträge dem
fakultativen Referendum zu unterstellen. Die selben Leute, die da
aussetzen, es sei nicht „logisch", dass man das nicht tue, könnten
sich nicht genug tun in Entrüstung, wenn man es verlangt hätte!
Da könnte man wohl eher sagen, die Vertragsfähigkeit der Schweiz
stehe in Gefahr; heute aber nicht. Im Gegenteil.
Es ist gesagt worden, die heutige Ordnung der Dinge (Re-
ferendum für Bundesgesetze, aber kein Referendum für Staats-
verträge, auch wenn sie in das Gesetzesrecht eingreifen) bilde
eine staatsrechtliche Anomalie, deren Beseitigung mit guten Grün-
den verlangt werden könnte. Das ist vollständig richtig und in
dieser Erkenntnis sind eine ganze Reihe Vertragsgegner dringend
ersucht worden, in der Bundesversammlung darauf aufmerksam
195
zu machen und die Unterstellung des Vertrags unter das Referen-
dum zu verlangen, nicht als Demonstration, sondern zum Zweck
der Feststellung, ob es anerkannt werde oder nicht.
Man sagt, man hätte vorerst die Erfahrungen mit der neuen
Organisation des Bundesrats abwarten sollen. Wir geben ohne
weiteres zu, dass die Reorganisation des politischen Departements
sehr wichtig sein kann und wird, um bessere Staatsverträge als
die der letzten 15 Jahre vorzubereiten. Aber abgesehen davon,
dass es in niemandes Macht gelegen hat, die Westschweiz von
der sofortigen Anhandnahme der Initiative abzuhalten und dass
diese sogar in einem internen politischen Interesse gelegen hat,
soll die Frage der Berechtigung eines Volksrechtes oder der Aus-
dehnung eines bestehenden Rechtes nicht von der Organisation
des Bundesrates abhangen, sondern von Innern Gründen, die sich
nicht erst bei der Gotthardbewegung, sondern schon früher, beim
alten Gotthard- und bei Simplonvertrag, geltend gemacht haben.
Wer bürgt denn dafür, dass wir nach 15 oder 20 Jahren nicht
wieder einen etwas altersmüden Bundesrat besitzen, wie wir ihn
noch vor einigen Jahren besaßen, der trotz Reorganisation des
politischen Departements die Zügel nicht in der Hand hätte, wie
es sein sollte? Es ist hier ähnlich wie beim Proporz. Wer ihn
grundsätzlich nicht will, der findet unzählige Schwierigkeiten; wer
ihn will, der findet sich mit einigen nicht zu leugnenden Schwierig-
keiten ab. Rein theoretisch gesprochen kann man gewiss die
Ansicht vertreten, die Genehmigung von Staatsverträgen dürfe
niemals Sache des Volkes werden. Wer aber mit den tatsäch-
lichen Verhältnissen rechnet, mit der vom mehrheitlich regionalen
Gesichtspunkte geleiteten, gegen die eindrucksvollsten Vorstel-
lungen tauben Bundesversammlung, wie man dies bei der Gott-
hardvertragsdebatte erlebt hat, der findet es gerechtfertigt, dem
Volk zum mindesten in Fragen, die die Nachkommenschaft
dauernd belasten, die Verantwortung für den Entscheid selbst zu
überbinden. Der Bundesrat ist, wie gesagt, wandelbar. Heute
mögen wir einen sehr energischen jugendfrischen Bundesrat haben;
später kann das ändern, wie es sich auch schon geändert hat.
Die Aussichten für die Mehrung der Unabhängigkeit unseres
Parlamentes sind nichts weniger als rosig. Schon jetzt haben wir
zwei von Mitgliedern der Bundesversammlung geleitete Vereini-
196
gungen: die eine für die Wahrung der Verkehrsinteressen des
Slmplon-Lötschberggebietes, die andere für die Gotthardinteressen
Es liegt außerordenth'ch nahe, dass diese Vereinigungen sich nicht
bloß hin und wieder bekämpfen, sondern dass sie sich auch
Konzessionen machen, „Kuhhändel" abschließen. Es fehlt jetzt
nur noch das dritte Glied im Bunde, eine Interessenvereinigung
für das Gebiet der Ostalpenbahn. Sie wird sofort entstehen, sobald
man sich über die Bahnführung geeinigt hat und der Betrieb in
Sicht steht. Dann liegen sich plötzlich die feindlichen Brüder von
der Greina und dem Splügen versöhnt in den Armen.
Man sieht also heute schon den Moment der verkehrs-
politischen Dreiteilung des Landes vor sich. Wo bleibt da die
Garantie, dass die Bundesversammlung nach vorwiegend natio-
nalen Gesichtspunkten urteilen werde? Da soll doch das Volk
bei wichtigen Entschließungen sein Schicksal lieber selbst be-
stimmen.
Alfred Frey sagte über die kurzsichtige Interessenpolitik im
Nationalrat:
Aufrichtig bekümmert es mich, zu gewahren, wie man wohl in vielen
Kreisen die Bedeutung der Frage ahnt und fühlt, ihre endliche Beurteilung
jedoch nur oder doch verwiegend vom Befund darüber abhängig macht,
ob die Gutheißung des Vertrages mit den eigenen nächstliegenden Interessen
vereinbar sei oder nicht. Ob der Vertrag den Schweizerischen Bundes-
bahnen ein bisschen mehr oder weniger Schaden tut, ob er ihnen so oben-
hin berechnet für absehbare Zukunft sogar Gewinn brächte, ob er dem
Lötschberg oder dem Simplon oder beiden eher günstig oder ungünstig
sei, und was dergleichen Erwägungen mehr sind: die Entscheidung über
den Vertrag muss von rein vaterländischen Gesichtspunkten aus erfolgen —
und dann ist sie nicht schwer. Am allerwenigsten verstehe ich darum die
sogenannten Gotthardkantone, die für etwas zittern, das nicht bedroht ist
und nie verloren gehen kann und das man ihnen von lästigen Fesseln frei
schenken möchte. Und da die Ermäßigung der Bergzuschläge im verein-
barten Maß ohnehin erfolgen soll, so ist dem Tessin auch bei Ablehnung
der übrigen Vertragsbestimmungen ebenfalls geholfen.
Wir fürchten, diese Worte werden ihre Bedeutung je länger
je weniger verlieren; da heißt es sich vorsehen.
Wir erwähnten im letzten Heft verschiedene Tatsachen, die
erweisen, dass eine Volksbefragung bei Staatsverträgen schon zur
Zeit der alten Eidgenossenschaft geübt worden ist, so von der
aristokratischen bernischen Regierung anfangs 1590 beim Abschluss
eines Vertrages mit Savoyen; auch in neuerer Zeit habe man ein
197
solches Recht mehrmals wieder einführen wollen. Dazu ist nach-
zutragen, dass Bundesrat Zemp am 19. Juni 1884 noch als Na-
tionalrat bei der Begründung der Motion Zemp-Keel-Pedrazzini
folgende Gedanken aussprach:
Wenn wir nun von einer Ausdehnung der Volksrechte sprechen, so
haben wir zunächst im Auge, dass dem Referendum, möge dasselbe in
welcher Form immer statuiert werden, auch Staatsverträge mit dem Aus-
lande zu unterstellen sind. Diese Erweiterung ist nicht ein Gedanke von
heute; aber Erfahrungen aus der letzten Zeit haben denselben reifer ge-
macht. Die Bundesversammlung hat zweimal in Staatsverträgen Bestim-
mungen sanktioniert, durch welche bestehende konstitutionelle Rechte ver-
letzt worden sind.
Die Staatsvertragsinitiative ist nun in vollem Gang, und
man darf annehmen, dass während der nächsten Tagung der
Bundesversammlung die erforderlichen fünfzigtausend Unter-
schriften beisammen sein werden. Gleichzeitig wurde am 4. Mai
vom frühern schweizerischen Proporzkomitee in Ölten beschlossen,
durch eine neue Initiative für das proportionale Verfahren bei den
Nationalratswahlen einzutreten. Man hofft so Volksvertreter zu
erhalten, die weniger nach parteipolitischen oder regionalen Ge-
sichtspunkten ihre Stimme abgeben müssen. Ob zwar unter einem
so gewählten Nationalrat Staatsverträge nationaler behandelt
würden, bleibt noch eine offne Frage. Immerhin würden die
Minderheitsparteien, besonders die sozialdemokratische Partei, ver-
mehrt, und eine stärkere Opposition im Nationalrat kann unter
keinen Umständen schaden; sie würde besonders den Bundesrat
bei Vertragsabschlüssen vorsichtiger stimmen. Die Rücksicht auf
eine Volksabstimmung, wie sie die Staatsvertragsinitiative mit
sich bringen würde, und auf eine stärkere Opposition im Parla-
ment, wie sie die Folge des proportionalen Wahlverfahrens wäre,
müsste in Verbindung mit der in Aussicht stehenden Reorgani-
sation des politischen Departements zu einer besseren Wahrung
unserer Interessen führen, als wir sie beim Simplon und Gotthard-
vertrag wie beim Niederlassungsvertrag mit Deutschland und bei
noch weiteren Gelegenheiten erfahren haben.
Die Folgen der Gotthardbewegung in ihrer Gesamtheit kann
man erst übersehen, wenn man weiß, wie die Fehler, die gemacht
wurden, verunmöglicht werden sollen. Mit Jammern und Klagen
über Regionalismus und Parteigeist wird da nichts erreicht,
198
sondern nur dadurch, dass man die Autorität des Volkes gegen-
über seinen Behörden und dem Auslande verstärkt.
Hierfür Bahn geschaffen zu haben, ist das direkte oder in-
direkte Verdienst der Bewegung gegen den Gotthardvertrag, die
auch einen sachgemäßen Entwurf für die Reorganisation des
Bundesrates und des politischen Departements ins Leben ge-
rufen hat.
Das einstweilige Ergebnis der Gotthardbewegung hat das
nunmehr aufgelöste Aktionskomitee in seiner Schlußsitzung vom
12. April 1912 in Bern durch folgende Kundgebung ausgesprochen:
Der Gotthardvertrag ist von den Eidgenössischen Räten in den Tagen
vom 25. März bis 9. April behandelt und nach bewegten Debatten geneh-
migt worden, trotzdem die Opposition energisch und mit unwiderlegbaren
Gründen die Ablehnung durchzusetzen versuchte.
Das Aktionskomitee hat seine Aufgabe erfüllt, wie sie ihm von seinem
patriotischen Gewissen diktiert und bestimmt war.
Es lehnt alle Verantwortung für die Konsequenzen ab, die sich aus
der Annahme des Vertrages für unser Land ergeben. Diese Verantwortung
fällt auf die Mitglieder der Eidgenössischen Räte, die dafür gestimmt haben,
dass der Schweiz eine gefahrbringende, unkündbare Servitut aufgeladen
wird. Möge das Schweizervolk sie eines Tages nicht anzuklagen haben.
Die entgegenkommende Note der deutschen Regierung ist eine direkte
Folge der Volksbewegung. Sie gestattet eine gewisse Hoffnung, dass der
Vertrag einmal revidiert werden könnte.
Sieht nun zwar das Aktionskomitee seinen direkten Zweck, die Ab-
lehnung des Vertrages, nicht erfüllt, so hat es nichts destoweniger materielle
und moralische Erfolge erzielt, die von großer, sehr großer Bedeutung für
unser Land sind. Durch die Bewegung sind die Eidgenössischen Behörden
veranlasst worden, sich über die Tragweite der einzelnen Vertragsartikel
ganz anders Rechenschaft zu geben, für Gegenwart und Zukunft, als das
sonst der Fall gewesen wäre. Das Aktionskomitee kann demnach auf eine
nutzbringende und ehrenvolle Kampagne, die nunmehr 3V2 Jahre gedauert
hat, zurückblicken. Der Volksbewegung kann ein guter Patriot die Aner-
kennung nicht versagen; das ist in den Eidgenössischen Räten und auch
vom Bundesrat anerkannt worden.
Die Mitglieder des großen und des engeren Aktionskomitees
dürfen mit Befriedigung auf ihre Arbeit zurückschauen. Die weni-
gen unvermeidlichen Auswüchse, die die Bewegung zeitigte, können
ihnen nicht zur Last gelegt werden ; man hat es an nichts fehlen
lassen, sie abzuschneiden und zurückzudämmen. Besonders die
iVlitglieder des engeren Aktionskomitees haben alle zum Teil sogar
beträchtliche Opfer an Zeit und Geld gebracht Drei Bundesräte
und zahlreiche Freunde des Vertrags, mit Ausnahme immerhin
199
eines Vertreters der Urschweiz und des Tessins, haben während
den Verhandlungen mit großer Achtung von der Volksbewegung
und ihren Führern gesprochen ; ein Grund mehr, dass diese mit
Stolz auf ihre uneigennützige Tätigkeit zurückblicken dürfen.
DAS ERGEBNIS DER BERATUNG
Es ist für die Räte nicht besonders schmeichelhaft und
stimmt bedenklich für die Zukunft, dass, wie mehrfach erwähnt,
hauptsächlich in parteipolitischem und regionalem Sinne ge-
stimmt wurde.
Einen großen Einfluss übte das Schreiben des deutschen Ge-
sandten, das am ersten Sitzungstag bekannt gegeben wurde, auf
die Abstimmung aus. Es lautet:
Bern, den 22. März 1913.
Erhaltenem Auftrage zufolge beehrt sich der Unterzeichnete dem hohen
Schweizerischen Bundesrate das Nachstehende ganz ergebenst mitzuteilen:
Von der Erwägung ausgehend, dass die Bestimmungen, die in dem
neuen Gotthardbahnvertrag vom 13. Oktober 1909 über die Meistbegünsti-
gung enthalten sind, den deutschen und den schweizerischen Interessen,
namentlich was die Meistbegünstigung der Gotthardroute anlangt, in gleicher
Weise entsprechen, gibt die Kaiserlich Deutsche Regierung die nachstehende
Erklärung ab:
1. In Bestätigung einer bereits im Jahre 1911 mündlich gemachten
Mitteilung erklärt sich die Kaiserlich Deutsche Regierung für den Fall, dass
sich die Art. 7, 8 und 9 des neuen Gotthardvertrages später wider Erwarten
als den schweizerischen Interessen zuwiderlaufend herausstellen sollten,
bereit, alsdann in eine Revision dieser Bestimmungen einzutreten.
2. Die Kaiserlich Deutsche Regierung erklärt weiter, dass sie die frag-
lichen Bestimmungen nicht in dem Sinn auslegt, dass die schweizerischen
Bahnen hierdurch irgendwie gehindert werden sollen, mit Bahnen dritter
Staaten wirksam zu konkurrieren.
Endlich benützt die Kaiserlich Deutsche Regierung den vorliegenden
Anlass, um noch zu erklären, dass sie die Auslegung, die der Schweizeri-
sche Bundesrat in dem der Bundesversammlung unter dem 18. Februar
dieses Jahres erstatteten Ergänzungsbericht auf S. 52 — 55 über die Tragweite
der Bestimmung des Schlussprotokolls zu dem neuen Gotthardvertrage,
Abs. IV, betreffend die Materialbestellungen für die Gotthardbahn, gegeben
hat, ihrerseits als zutreffend erachtet.
Mit Vergnügen benutzt der Unterzeichnete auch diesen Anlass, um
Seiner Exzellenz, dem Schweizerischen Bundespräsidenten, Herrn Müller,
die Versicherung seiner ausgezeichnetsten Hochachtung zu erneuern.
Der Kaiserlich Deutsche Gesandte:
Romberg.
Ohne die Volksbewegung und die durch sie herbeigeführte
Mehrheit der nationalrätlichen Kommission gegen den Vertrag
200
wäre niemals diese Note geschrieben worden, die wesentliche
Punkte des Vertrags abklärt und namentlich die Auslegung der
deutschen und italienischen Regierung für den unklaren und fa-
talen Artikel des Schlussprotokolls festlegt. Die Auslegung des
Bundesrates in der Nachtragsbotschaft wäre ohne diese Note
durchaus nicht verbindlich und könnte je nach dem Fall von
den Vertragsstaaten angenommen oder zurückgewiesen werden.
Es ist kein Zweifel, dass dieses Zugeständnis nicht dem Bundes-
rat, sondern der Volksbewegung und der Mehrheit der national-
rätlichen Kommission gemacht wurde. Darüber hat im National-
rat kein Zweifel geherrscht, u'ie unter anderm aus den Worten
von Raschein hervorgeht:
Volle Beruhigung darüber gibt uns aber in dieser Beziehung erst die
Note der Kaiserlich Deutschen Regierung. Ich will unumwunden anerkennen,
dass ich der Opposition dafür dankbar bin, soweit sie das Verdienst
daran hat, dass durch energisches Auftreten diese Erklärung provoziert
worden ist.
Man darf ruhig sagen, die deutsche Note allein sei die Be-
wegung gegen den Gotthardvertrag wert gewesen. Ihre unmittel-
bare Folge war, dass jene Räte, die schweizerischen elektrischen
Werken nahestehen, dem Vertrag nun eher zustimmen konnten.
Bei den Verhandlungen in beiden Räten lag ohne Zweifel
der moralische Sieg bei den Vertragsgegnern. Bei den wuchtigen
und eindrucksvollen Reden von Planta, Frey, Usteri, Ador, de
Meuron, Richard fühlte ein jeder, dass nicht die Vertragsgegner,
sondern der Bundesrat auf der Anklagebank saß, allerdings nicht
seine einzelnen Mitglieder, sondern die Behörde als solche. Von
Anfang an sah sich der Bundesrat in die Verteidigungsstellung
gedrängt, und wenn sich nicht die freisinnig-demokratischen Rats-
mitglieder der deutschen Schweiz wie eine Leibgarde um ihn ge-
schart hätten, es hätte leicht anders herauskommen können.
Darüber kann kein Zweifel herrschen, dass es dem Bundes-
rat nicht gelang, sich von den diplomatischen Fehlern rein zu
waschen, die man ihm vorgeworfen hatte. Die Neue Zürcher
Zeitung brachte folgende Ausführungen über die Rede von National-
rat von Planta:
Fragen wir nach dem Ergebnis und Erfolg der Rede, so lag ihr Schwer-
punkt unzweifelhaft im ersten historisch-kritischen Teile. Hätten wir es nicht
lange gewusst, so würden die Darlegungen Plantas uns haben überzeugen
201
müssen, dass bei der Verstaatlichung der Gotthardbahn und bei der ganzen
Behandlung der Vertragsangelegenheit während zwölf Jahren, 1897—1909,
bedauerliche Fehler und Unterlassungssünden begangen worden sind, nicht
zu reden davon, dass der Bundesrat und die ihn beratenden Organe sich
in der ganzen Angelegenheit von Anfang an auf eine Auffassung festlegten,
die nicht genügend untersucht war, deren Berechtigung Deutschland und
Italien von Anfang an bestritten und die unsere Behörden 1909 praktisch
aufgeben mussten. Der diplomatische Verkehr scheint, wie längst bekannte
Vorgänge, zum Beispiel das Schweigen Zemps über eine formelle Verwah-
rung des deutschen Gesandten, beweisen, durchaus primitiv und rückständig
gewesen zu sein. Und nur das scheint festzustehen, dass im Namen des
Bundesrates vor der Bundesversammlung Erklärungen abgegeben wurden,
die weniger sorgfältig überdacht als apodiktisch waren. Das sind bedauer-
liche Dinge, aber sie gehören der Vergangenheit an und bilden heute nur
die beste Illustration zu der von allen anerkannten Notwendigkeit der Ver-
waltungsreform, zumal der Wiederherstellung eines ständigen Politischen
Departementes. Für den Entscheid, ob der vorliegende Gotthardvertrag an-
zunehmen oder zu verwerfen sei, sind jene Irrtümer ohne wesentlichen Belang.
Auch Herr Usteri führte im Ständerat Ähnliches aus :
Wir haben uns 1903 in eine Zwangslage versetzen und uns zu einem
Vertrag drängen lassen, der unseren billigen Ansprüchen nicht entspricht.
Ein Ausweg tut sich aber auf. Die Note der deutschen Regierung bietet die
Brücke zu neuen Verhandlungen. Es muss gesagt werden, dass die schwei-
zerische Delegation zur Konferenz von 1909 nicht sachgemäß zusammen-
gesetzt und organisiert war. Den Herren vom Flügelrad sind Aufgaben
zugemutet worden, denen sie nicht gewachsen sein konnten. Es handelte
sich doch in erster Linie darum, Leute, die in politischen und völkerrecht-
lichen Fragen Routine haben, in die Konferenz abzuordnen. In der Teilnahme
eines Bundesratsmitgliedes sah der Bundesrat mehr Nachteile als Vorteile.
Diese einseitige Bestellung der Delegation ergab ein entsprechendes Resultat.
Das Journal de Geneve berichtete von einer Unterredung
mit einem höheren deutschen Offizier, der die Geschicklichkeit
der deutschen Unterhändler bei der Beratung des Gotthardver-
trages pries: „Wir sind gescheit gewesen und Sie nicht. Das ist
alles." Das hat auch seine Richtigkeit, weniger noch für die Be-
ratung des Vertrags als für die früheren diplomatischen Verhand-
lungen, die unsere Unterhändler von Anfang an in eine geschwächte
Verteidigungsstellung brachten.
Nicht reinwaschen konnte sich der jetzige Bundesrat von den
schweren und berechtigten Vorwürfen, er habe die Räte mit der
Ergänzungsbotschaft vom letzten Herbst in eine noch größere
Zwangslage versetzt, als es mit der Botschaft von 1909 geschehen
202
war. Die Ausführungen über die Ertragsfähigkeit bildeten entschie-
den den schwächsten Teil der sonst sachlichen und schönen Rede
von Bundesrat Schulthess. Er verbreitete sich insbesondere über
die Broschüre Leuzinger, in der ganz unrichtigen Annahme, sie
hätte den Vertragsgegnern als Grundlage ihrer Berechnung ge-
dient, trotzdem sie der Verfasser, wie schon Finanzdirektor Müller
andeutete, auf eigene Verantwortung ohne Hinzutun des Aktions-
komitees schrieb und verbreitete. Ohne dem Inhalt der Schrift
nahe zu treten konnte sie für das Aktionskomitee schon deshalb
nicht entscheidend sein, weil sie sich bloß auf die Ertragsergeb-
nisse der Gotthardbahn bis 1908 stützte. Herr Müller hat sie
nur insoweit verwertet, als er auf Grund der Gotthardbahnrech-
nungen und der Ergänzungsbotschaft auf eigenem Wege zu ähn-
lichen Ergebnissen gelangt war.
Der Bundesrat hat den Vorwurf nicht wiederlegt, dass die
Ertragsberechnung von 1908 bis 1912 in tendenziöser Art auf-
gestellt war. Das wurde hier am 15. März (Bd. XI, S. 726 usf.)
mit aller Deutlichkeit ausgeführt. Immerhin sei das Wesentliche
nochmals für später festgelegt:
1. Um das Gotthardnetz richtig in Stand zu setzen, müssen
nach Ansicht der Bundesbahnen, des Bundesrates und seines
juristischen Beraters, des Ständerats Scherrer, für rund 40 Millionen
Bauten ausgesetzt werden. Rechnet man die Tieferlegung der
Monte-Cenere-Linie dazu, die heute als dringlich betrachtet wird,
so kommt man auf eine noch viel höhere Summe.
2. Diese Ausgaben waren schon 1909 bekannt, ebenso die
Tatsache, dass die Lötschbergbahn die Gotthardbahn zwingen
werde, den elektrischen Betrieb einzuführen, was eine weitere
Ausgabe von 60 bis 70 Millionen bedeutet, die in der Hauptsache
keinen Mehrwert darstellt. Über die Frage, ob der elektrische
Betrieb billiger oder teurer als Dampfbetrieb sei, mit andern
Worten, ob die Baukosten der Elektrifizierung durch Betriebs-
ersparnisse gedeckt werden können, ist man sich auch bei der
Leitung der Bundesbahnen noch nicht einig; das wird sich erst
nach mehreren Jahren elektrischen Betriebs herausstellen.
3. Man wusste schon 1909, dass die Lötschbergbahn der
Gotthardbahn einen in die Millionen gehenden Einnahmenausfall
verursachen werde; seither hat man die Summe amtlich auf 3V2
203
Millionen für Personen und Güter berechnet. Auch hier wird
man sich erst dann ein richtiges Bild machen können, wenn die
Gotthardbahn einige Jahre neben der Lötschbergbahn betrieben
worden ist.
Wie hätte nun angesichts dieser Tatsachen die private Gott-
hardbahn ihre künftigen Erträgnisse berechnet? Sie hätte unter
allen Bedingungen diese sicher kommenden Ausgaben und Ein-
bußen in Rechnung gestellt. Sie hätte sogar verschiedene Millionen
jährlich in Rechnung stellen müssen, die für die allmähliche
Deckung der genannten Ausgaben nötig sind, um zu vermeiden,
dass spätere Jahre unnatürlich schwer belastet würden. Deutsch-
land vor allem und auch Italien hätten die Verwaltung zu dieser
kaufmännisch allein richtigen Rechnungsweise ermuntert, die den
deutschen Bahnen die Konkurrenzfähigkeit gegenüber den fran-
zösischen und belgischen Zufahrtslinien zum Lötschberg ge-
sichert hätte.
Herr von Planta wies darauf hin, wie verschieden die An-
sichten bei der Aufstellung solcher Berechnungen in guten Treuen
sein können, je nachdem einer ein Interesse hat, optimistisch
zu rechnen; die Verlustrechnungen, die die Generaldirektion und
die Splügenfreunde für die Gotthardbahn aufgestellt haben, gehen
ja auch um viele Millionen auseinander. Die Bundesbahnen
rechneten dort pessimistisch, ihre Gegner optimistisch ; beim Gott-
hardvertrag war genau das Gegenteil der Fall. Schon darum,
abgesehen von unseren Erwägungen, ist man bei der Beurteilung
solcher Berechnungen zu größter Vorsicht verpflichtet.
Die Richtigkeit unserer Darstellung wird durch die Gründung
einer „neuen Gotthardvereinigung" bestärkt, die als ihre Ziele
den Ausbau des Gotthardnetzes und die Hebung seines Verkehrs
bezeichnet. Das Programm beschäftigt sich vorerst mit der
Elektrifizierung der Strecken Basel-Chiasso und Schaffhausen-
Chiasso, mit der Verbesserung der Rampe Rotenburg ohne Ver-
längerung der Strecke Olten-Luzern, welche Doppelgeleise erhält,
mit der Herabsetzung der Monte-Cenere-Rampe auf 10 Promille
Steigung, mit der linksufrigen Vierwaldstätterseebahn, der Doppel-
spur Brunnen-Flüelen, der Randenbahn, der Normalspur der
Brünigbahn und mit der Schöllenenbahn.
204
Nun stelle man sich vor, was diese schon 1909 geplanten,
besonders von Vertragsfreunden geforderten Bauten kosten! Die
Elektrifizierung der Strecke Erstfeld-Chiasso und die Tieferlegung,
des Monte-Cenere kommen aliein auf hundert Millionen zu stehen,
von der Doppelspur Brunnen-Flüelen und anderem nicht zu reden.
Und angesichts solcher gewaltiger Ausgaben hat man behauptet,,
die Schweiz käme in die Lage, den Vertragsstaaten Dividenden
bis zu 13 Prozent vorzurechnen!
Wir betrachten es nach wie vor als ein Unrecht, dass der
Bundesrat so willkürlich oder jedenfalls so unkaufmännisch be-
rechnete Erträgnisse einer Botschaft einverleibt hat. Hätte das
eine Privatgesellschaft in dieser Form veröffentlicht, so hätte man
sie ohne weiteres einer Irreführung der öffentlichen Meinung ge-
ziehen. Jedenfalls war es die klare Absicht des Bundesrates und
nicht eine bloße Ungeschicklichkeit, die eidgenössischen Räte so
in eine unwürdige Zwangslage zu versetzen. Das ist nicht nur
vom allgemein politischen, sondern auch vom moralischen Stand-
punkt aus für unser und anderer Empfinden das peinlichste Vor-
kommnis in der ganzen Gotthardvertragssache.
Selbst wenn der Bundesrat die ganze Berechnung als richtig
angenommen hätte, was man um seiner Ehre willen annehmen
muss, so müsste es als unerhört bezeichnet werden, dass unsere
Positionen während der Verhandlungen in dieser Form bekannt
gegeben und so dem Ausland gegenüber geschwächt wurden.
Das ist in der Debatte viel zu wenig betont worden.
Wir haben ein volles Verständnis für die schwierige Lage des
Bundesrates vor und während den Verhandlungen, glauben auch
nicht, dass es ihm bloß darum zu tun war, die eigene Ehre zu
wahren; aber der Druck, der auf die Räte ausgeübt wurde, kann
niemals gebilligt werden.
Auf die wuchtige Wiederlegung der bundesrätlichen Theorie
der Ausdehnung der Meistbegünstigung von der alten Gotthard-
bahn auf die Bundesbahnen wollen wir nicht mehr eintreten. Es
sei auf die Reden der hier mehrfach genannten Räte verwiesen.
Wir beschränken uns auf die Wiedergabe folgender Worte von
Herrn Alfred Frey:
205
Kein Staat, der nicht zum mindesten in den Knien liegt, kann ein
Meistbegünstigungsrecht einem andern Staat unbefristet und dazu noch ein-
seitig gewähren, ohne unverzeihliche Verkümmerung seines Selbstbestim-
mungsrechtes. (Lebhafte Zustimmung.) Hier ist sie da, nicht etwa als
unabwendbare Folge der Verträge von 1869—78, sondern lediglich als Er-
gebnis nicht hinlänglich bedachten oder dann vermessenen Handelns. Sie
hätte sich vermeiden lassen, sie lässt sich noch vermeiden, wenn die rati-
fizierende Behörde, die Vertretung des Volkes, sich darüber klar wird, dass
ihr die beschworene Pflicht verbietet, einen Vertrag mit einer solchen Be-
stimmung gut zu heißen. . . .
Mit dem, was in diesem Punkte der neue Vertrag getan hat, lässt sich
zurzeit überhaupt kein Vertrag, nicht einmal der Frankfurter Friedensvertrag
vergleichen, denn der legt in seinem viel berufenen Art. 11 eine Meist-
begünstigung gegenseitiger Art fest, während die Schweiz für ihr auf alle
Zeiten hingegebenes Meistbegünstigungsrecht keine entsprechende Meist-
begünstigung von der andern Vertragsseite zugesichert bekommen hat.
Es klingt wie bittere Ironie, wenn man die Erwägungen zum
Bundesbeschluss vom 22. Juli 1870 liest, wodurch dem Staats-
vertrage vom 15. Oktober 1869 die Genehmigung erteilt wurde
und mit deren Wiedergabe wir unsere Betrachtung schließen:
Die Bundesversammlung, in Betracht, dass durch dieselben keinerlei
Monopol noch Privilegien für den Bau und Betrieb der Gotthardbahn kon-
stituiert wird, vielmehr die Freiheit des Baus und Betriebs auch anderer
Alpenbahnen auf schweizerischem Gebiet unangetastet bleibt ; dass das
Recht der Schweiz, im Wege der Gesetzgebung über die Anwendbarkeit
der Differenzialtarife im internen und im schweizerisch-ausländischen
Verkehr frei zu verfügen, durch die Verträge nicht geschmälert wird, be-
schließt . . .
Der allgemeine politische Eindruck der Verhandlungen in
den Räten im Ausland war ein durchaus guter; die ganze aus-
ländische Presse hat die Verhandlungen mit großer Aufmerk-
samkeit verfolgt. Ein forschrittlicher deutscher Politiker, der mit
leitenden Kreisen Fühlung hat, äußerte sich laut Basler Nach-
richten, wie folgt:
Ich habe die Verhandlungen im Nationalrat an Hand der Sitzungs-
berichte in schweizerischen Blättern genau verfolgen können und möchte
nun mit meiner Bewunderung nicht zurückhalten. Welche Würde und wie
viel politische Bildung zeigten alle diese Redner! Natürlich glaube ich, dass
eine Ablehnung des Vertrages für die Schweiz vom Übel wäre; vor allem
hätte es in ganz Europa herum einen schlechten Eindruck gemacht, wenn
die oberste Exekutive durch die Verwerfung eines von ihr schon gebilligten
Vertrages von der Legislative derart bloßgestellt worden wäre, ein Fall,
der den auswärtigen Regierungen für den Verkehr mit dem Bundesrat und
für dessen ungehemmte Entschlussfähigkeit als eine schlimme Vorbedeutung
hätte erscheinen müssen. Trotzdem sind wahrhaft staatsmännische Reden,
206
wie die Ausführungen des Zürchers Frey, der Form und dem Gehalt nach
als wahre Meisterstücke zu bezeichnen. "Wo haben wir solche Leistungen
in unserem Reichstag? Auch die Reden der Welschschweizer, eines Ador
zum Beispiel, scheinen, so weit sie sich wenigstens aus den Übersetzungen
beurteilen lassen, durchaus auf der selben Höhe zu stehen.
Eine aggressive Gesinnung gegen Deutschland ist darin, in gutem
Glauben, nicht zu finden. Vollends, wie einige unserer Alldeutschen es tun,
aus der Verschiedenheit der Temperamente einen Gegensatz zwischen
Deutsch- und Welschschweizern zu konstruieren, muss jeder nur ein klein
wenig einsichtige Kenner der Verhältnisse als übelwollende Verkennung be-
zeichnen. Ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte: Das weltpolitische
Interesse Deutschlands verlangt, dass das Reich in ehrlicher Freundschaft
mit der Schweiz auskomme. Vollends für uns Liberale ist die große schwei-
zerische Demokratie etwas wie unser besseres Selbst. Meiner Ansicht nach
dürfte die imponierende Bewegung um den Gotth ardvertrag kraft ihrer
reinen und bisweilen stürmisch geäußerten Vaterlandsliebe und kraft ihres
so ruhig und würdig betonten Willens zur Unabhängigkeit auf das Ausland
einen großen Eindruck machen ; die Debatte war also jedenfalls ein be-
deutender Erfolg für das allgemeine Ansehen der Schweiz.
Dieser Erfolg ist eine unmittelbare Wirkung der Volksbe-
wegung, die eine denkwürdige Episode in unserer Qeschiclite
bilden wird.
BERN J. STEIGER
(Schluss folgt.)
aaa
SPRÜCHE
Von KARL SAX, ZÜRICH
Wenn zwei oder drei erschossen werden, telegraphiert ihr bis Peking
und San Franzisko, aber was unter der Dummheit stündlich verendet,
zählt nicht!
*
Die vereinzelten Großen sind nur für die Menge geschaffen, oder viel-
leicht die Menge nur, dass ein Großer wird!
Ein geschultes Organ, ein prächtiger Redner!
die Rede, das Organ den Schwätzer!
Der Geist aber macht
Er ist ein Schwätzer! Er spricht über alles! Den Dichter der Deutschen
trifft dieses Wort vor allen. Aber er hat doch in allem und im einzelnen
eher den Sinn erkannt als unsere Geister, die auch das einzelne spalten.
DDD
207
DIE FEINDSCHAFT GEGEN WAGNER
eiNE GESCHICHTLICHE UND PSYCHOLOGISCHE
UNTERSUCHUNG
Ich sehe fünferlei Feindschaft gegen Wagner: die der Zeit-
genossen, insonderheit der Philister; die der Feuilletonisten ; die
des Genies: Friedrich Nietzsche; die Feindschaft des letzten Jahr-
zehnts; und endlich die Feindschaft, eine Art Feindschaft Wagners
gegen Wagner, und damit eine verborgene Feindschaft in uns.
Die Feindschaft der Zeitgenossen : Jede geniale Begabung ist
ihrer Zeit fremd und feindlich. Das Talent bringt immer das
Erwartete und doch das Assimilierbare, das leichter Verständliche,
das Gefällige. Das Genie, das uns durch den großen Wurf weiter
bringt, hat nur Feinde unter den Gleichzeitigen, so weit die große
Zahl, der Durchschnitt in Frage kommt. Der Einzelne freilich,
der Erkennende hat um so mehr die Pflicht, dem Genie, und
auch dem unbekannten, zu dienen und der sittliche Wert des
Beispiels, das Wagner und die Seinen in dieser Beziehung gegeben
haben, ist nicht das Mindeste, was uns diese wunderbare Erschei-
nung zurückgelassen hat. Selbst die „Wagnerianer", gegen die
noch manches einzuwenden sein wird, selbst sie müssten allen
Achtung einflößen, die hingebende Treue zu verstehen noch be-
fähigt sind. Es gibt auch einen billigen Spott.
Manche aber, und auch sie sind vielleicht eben dadurch Feinde
Wagners geworden, hassen Wagner um dieser Anhängerschaft
und Gegnerschaft willen als Urheber des „großen Irrtums". Er
ist ihnen das schlimme Beispiel, der Sieger über alle Verfolgungen!
So werde sich denn jetzt (nach der Meinung dieser Leute) jeder
Verfolgte für einen Wagner oder doch für einen Verkannten,
jedesfalls für ein Genie halten. Und die Verfolger, sagen wir
doch gleich „Kritiker", getrauten sich nicht mehr aufrichtig abzu-
lehnen. Sie fürchteten, einst gerichtet dazustehen, wie heute
manche der wütendsten Feinde Wagners von ehedem ! Man er-
widere darauf, dass gegen den Wahn noch nie ein Kraut ge-
wachsen ist. Bedeutet aber einer wirklich etwas, dann bleibe ihm
der Trost, den die Betrachtung von Wagners Schicksal gewährt!
Übrigens ist Wagners Werk „glücklich" gewesen, nicht Wagner;
208
und eben das Glück dieses Werkes hat Wagner, trotz Bayreuth,
nicht mehr gesehen. Wer spielte doch an seinem letzten Lebens-
tage so beziehungsvoll den Gesang der Rheintöchter „Traulich
und traut ist's nur in der Tiefe?" Wer hat den Tristan erlebt,
gestaltet und überlebt? Eines solchen Menschen „Glück" ist
nicht neidenswert; ist nur ein Trost für die, die jedes Glückes
würdig wären.
Die „lobenden" Kritiker aber würden keinen Schaden an-
richten, auch wenn sie noch viel mehr lobten. Schon weil sie
selten genug sind. Und weil über einen Geretteten, Ermutigten
mehr Freude sein darf als über neunundneunzig Mittelmäßige,
falls sie solche großgezogen hätten.
Zurück zu den Zeitgenossen Wagners. Nicht ihr Widerspruch
ist heute noch einer Betrachtung wert, nur noch der Ton, in dem
sie widersprechen. Je geringer einer ist, je weniger er gilt, und
im Geheimsten auch vor sich selber gilt, desto gröber wird er,
desto leichter witzelt er. Aber auch Menschen von einigem An-
sehen und Wert machten sich damals gern gemein. Einige Proben
verwerfen mit Absicht eine Scheidung dieser beiden Gruppen und
nicht minder eine Wertung der so merkwürdig Wertenden ^).
Ferdinand Hiller fand in den meisten Werken Wagners „das
tollste Attentat auf Kunst, Geschmack, Musik und Poesie, welches
je dagewesen" ; die Signale bezeichneten sie als „Berg von Albern-
heit und Plattheit in Wort, Gebärde und Musik". / L. Klein
schreibt in einer „Geschichte des Dramas" am Ende eines bom-
bastischen Zornausbruches: „Nur ein solcher Höllendampf husten-
der, pedantisch hölzerner Wagner konnte die Meistersinger von
Nürnberg komponiert haben". Qumprecht sah in den Meister-
singern „das Ende der Musik". Kdde nannte den Tag, an dem
er zum erstenmal „anstandshalber" die Meistersinger hören musste,
„den scheußlichsten, widerwärtigsten seines ganzen Lebens". Der
Musikhistoriker /l/nöros sagt: „In dem Tönecharivari der Meister-
singer-Ouvertüre stehen wir eine wahre Pein aus." Der Kunst-
historiker Liibke meint, die ganze Partitur der Meistersinger sei
nicht so viel wert, wie ein einziges Lied von Gumprecht; sie
würde sich freilich weiter verbreiten, aber wie eine Seuche. Es
') Diese Proben sind zitiert aus der Biographie Wagners von Batka
und aus Wilhelm Tapperts „Schimpflexikon".
209
ist auch nicht richtig, dass nur die „späteren" Werke Wagners
übel aufgenommen worden seien, die früheren aber aligemein
freundlich. Die Tannhäuser-Ouverture ist nach einer zeitgenössi-
schen Kritik „eine Dornenhecke, welche durch bengalisches Feuer
beleuchtet wird". Über das selbe Stück schrieb Moritz Haupt-
mann, ein viel gerühmter Theoretiker der Musik: „Die Tannhäuser-
Ouverture ist ganz grässlich, unbegreiflich ungeschickt, lang und
langweilig für einen so gescheiten Menschen ... Er ist kein junger
unerfahrener Mensch mehr und wer da noch so ein Ding machen
und stechen lassen kann .... dessen Künstlerberuf scheint mir
sehr wenig entschieden." Der selbe Moritz Hauptmann in einem
Briefe an Otto Jahn: „Wie es bei Wagner in den Akkorden her-
umfaselt, ebenso auch im Metrischen; könnte man nur solche
Absurditäten auf eine andere sichtbare oder handgreifliche Weise
darstellen, das Kunstnichts müsste auch dem Borniertesten offen-
bar werden . . ." Berliner Zeitungen über die Musik des Lohen-
grin noch 1866: „. . . ein frostiges, Sinn und Gemüt gleichmäßig
erkaltendes Tongewinsel, ein Abgrund der Langweile ; jedes Gefühl
für das Würdige und Edle in der Kunst reagiert gegen eine solche
Verneinung des innersten Wesens der Musik." Ganz allgemein
waren es die „Gebildeten", die „guten Musiker", die sich gegen
Wagner kehrten. Sehr natürlich. „Wollt ihr nach Regeln messen,
was nicht nach eurer Regeln Lauf?" Heute sagt man, erst eine
von Wagner verführte Kunstgeneration lasse erkennen, wie sehr
diese guten Musiker von damals Recht gehabt hätten. Sie hätten
eben Mozart und Beethoven als Vorbilder angesehen, zu denen
wir heute wieder „zurück" müssten. Aber mit Mozart, dem heute
so gern gegen Wagner ausgespielten Götzen, haben die ewig^
Gestrigen das selbe Spiel gespielt. Von Mozart schrieb der Opern-
kapellmeister Sartl, „die Musik müsse zugrunde gehen, wenn solche
Barbaren sich einfallen ließen, komponieren zu wollen . . . Mozart,
der Dis von Es nicht zu unterscheiden wisse, müsse mit Eisen
gefütterte Ohren haben." (Auch jener früher genannte J. L. Klein
hatte von dem „eisenstirnigen, mit Blech und Holz ausgefütterten"
Wagner gesprochen . . .) Und von einem Streichquartett Mozarts
sagt eine zeitgenössische Musikzeitung: „Kann man so die Musik
zum Besten haben? Und wird sich wirklich jemand finden, der
solche Musik drucken wird?"
210
Nach der Groteske die Sache. Was wollten die Zeitgenossin
sehen Gegner Wagners widerlegen? '
Den Menschen: er sei, immer überreizt, maßlos in seinen
Forderungen und tyrannisch ; dazu verschwenderisch und ein Aus-f
beuter seiner Umgebung. Eine gar nicht voreingenommene Bio-
graphie Wagners könnte sie leicht abwehren, wenn es solcher
Abwehr noch bedarf (und das scheint allerdings, denn die Angriffe
kehren immer wieder). Aber: die Erscheinung Wagners war
etwas so Umwälzendes, dass sie notwendig wie ein ungeheures
Ferment wirken musste, wie eine Kraft, die nicht nur fortwährend
bewegt, sondern auch selbst Bewegungen erleidet, verändert wird;
eine Kraft, die ungeheure Kräfte bindet, die ein ungeheures Feld,
eine weite Leere um sich braucht. Ja, Wagner brauchte und ver-
brauchte Menschen, Mittel, Geld — sich selbst. Ein Krampf trieb
ihn, der unerhörte Wille sich durchzusetzen, menschlich, künst-
lerisch durchzusetzen, und dieser Wille forderte Opfer. Und wenn
die Opfer aus seinem innersten, aus seinem Künstlerwesen und
Künstlerschaffen geholt wurden, er gab sie hin. Oder sind wir
nicht vor der Größe eines Schauspiels, wie es seine Selbstbio-
graphie bietet, für immer zu ehrfürchtigem Schweigen verpflichtet?
Gewiss, er schaltete wie ein eifernder Gott, aber eben wie ein
Gott, und mochte er alles opfern, Freunde, Mitbürger, sich selbst,
sein Werk: nicht etwa für Ästheten, die den Ablauf eines solchen
Lebens als Spiel auf der Bühne betrachten, nein, für den einfach
menschlichen Menschen bleibt das gewürdigte Erlebnis Wagner
darum mehr und größer als jedes andere dieser letzten Zeit. Das
ist die Feindschaft Wagners gegen Wagner: er selbst in seinem
ungeheuren Fordern gegen sich und andere war sein Feind, sein
eigentlichster, vielleicht sein einziger Feind. Aber er ist's gewesen,
ist es heute nicht mehr. Davon später.
Vorwürfe gegen den Künstler Wagner: der Mann der Wand-
lungen. Erst Weltbejaher, dann Weltverneiner, Antichrist aus der
Sinnlichkeit des jungen Europa, später aus der Lehre Feuerbachs,
Christ im Parsifal. Parallel die Wandlungen vom Revolutionär
zum Royalisten. Alle diese Wendungen ohne inneren Sinn, nur
aus Schauspielerei. Dies der Hauptvorwurf: Schauspielerei.
Positum, non concessum. So wäre dennoch dieser Wand-
lungsreiche, dieser „Schauspieler" die selbe bewunderungswürdige
2t f
Persönlichkeit eben inmitten des Schauspiels. Und es blieben
die Werke.
Aber gerade gegen diese richten sich die Vorwürfe. Hier nur
von den allgemeinen. Wagner sei kein Dichter. (Das sagten
besonders gern die Dichter und mutzten ihm einzelne Verse auf,
über deren größeres oder geringeres Glück sich streiten lässt.)
Aber was ist er doch für eine Gestalt in der traurigen Epoche
der deutschen Dichtung, ja des deutschen Geistes, die Wagner
durchschreiten musste! Und über seine Sprache sagt Friedrich
Nietzsche :
Leiblichkeit des Ausdrucks, der Weg in die Gedrängtheit, Gewalt
und rhythmische Vielartigkeit, ein merkwürdiger Reichtum an starken
und bedeutenden Wörtern, Vereinfachung der Satzgliederung, eine fast
einzige Erfindsamkeit in der Sprache des wogenden Gefühls und der
Ahnung, eine mitunter ganz rein sprudelnde Volkstümlichkeit und Sprich-
wörtlichkeit— solche Eigenschaften würden aufzuzählen sein, und doch
wäre dann immer noch die mächtigste und bewunderungswürdigste
vergessen . . . Wo eine solche allerseltenste Macht sich äußert, wird
der Tadel immer nur kleinlich und unfruchtbar bleiben, der sich auf
einzelnes Übermütige und Absonderliche, oder auf die häufigeren Dunkel-
heiten des Ausdrucks und Umschleierungen des Gedankens bezieht.
Übrigens war denen, welche bisher am lautesten getadelt haben, im
Grunde nicht sowohl die Sprache als die Seele, die ganze Art zu
empfinden und zu leiden, anstößig und unerhört.
Wagner sei kein Musiker. Das ist wieder Vorwurf der zeit-
genössischen Musiker, wie denn Wagner einmal gesagt hat, die
Dichter seiner Zeit hielten ihn für einen großen Musiker, die
Musiker für einen großen Dichter. Es geht aber nicht an, Wagner
abzulehnen und die moderne Musik, die auf ihm fußt, anzuer-
kennen; oder umgekehrt. Beides oder nichts. Es ist ehrlich,
wenigstens ehrlich, wenn man beides ablehnt.
Wagner sei aber auch kein Dramatiker. Das sagen die selben,
die Wagner als Schauspieler hinstellen, der alles und jedes, auch
das menschlichste Verhältnis, nur unter dem Gesichtspunkte fassen
könnte: wie wird das auf dem Theater aussehen? Sieh da! Kommt
es einmal dazu, so weiß nun auf einmal Wagner nicht aus noch
ein. Beispiel: „Ist es dramatisch, wenn der betrogene Gemahl,
statt ans Schwert zu greifen, dem freundlichsten der Freunde eine
umständliche, sanft gerührte Erbauungsrede hält?" Dramatisch im
Sinne der alten Oper nicht. Dramatisch im Sinne einer neuen
Tragödie — allerdings.
212
Vorwürfe gegen Wagner als Lehrer; denn er will die Regene-
ration des Menschengeschlechtes. Sein ganzes Tun wird nur ver-
ständlich als Kampf gegen das Bestehende, als Erziehung zu einer
neuen Welt und Menschheit. Man sagt dagegen, es sei ihm nicht
ernst gewesen und seine Vorwürfe und Forderungen gingen zu
weit. Aber wenn sie es taten, musste eine extatische Natur wie
die Wagners nicht überall den Bogen überspannen? Und die
Arbeit eines halben Lebens Schauspielerei zu nennen, bleibt denen
vorbehalten, deren eigener Ernst, deren innere Wahrhaftigkeit
noch ganz und gar nicht über allem Zweifel steht.
Im Zusammenhange mit der Regenerationslehre schrieb Wagner
die Schrift über das Judentum in der Musik. Sie hat natürlich
zu den heftigsten Angriffen geführt, zumeist von solchen, die sie
nicht gelesen hatten. Auf die Erweiterung ihrer Ausführungen
bei Weininger möchte ich besonders aufmerksam machen. Auch
darauf, dass viele den Spieß umkehrten (darunter Gustav Freytag)
und geradezu Wagner und seine Kunst als typisch jüdisch be-
zeichneten. Wer sich über diese Dinge seine eigenen Gedanken
macht, wird sich bei solchem Hin und Her eines Lächelns wohl
kaum erwehren können.
♦
Wer waren die zeitgenössischen Gegner? Man sagt: nicht
nur Größen zweiten oder geringeren Ranges, sondern auch andere,
zu denen wir heute noch mit den reinsten Gefühlen aufblicken,
wie Grillparzer, Hebbel, Jakob Burckhardt, ja selbst Schopenhauer.
Müssen wir deshalb wirklich an Wagners Sendung verzweifeln,
weil auch solche Geister, in ihr eigenes Wesen versponnen, mit
dem Recht des Großen zur Verneinung jedes Nichtich begabt,
sich seiner erwehrten? Doch wohl kaum. Ein Grillparzer hatte
schon gegen Beethoven Einwände. Machen wir sie uns zu eigen?
Ein Hebbel hätte seine Nibelungen nicht zu denen Wagners stellen
können, wenn er eben nicht ein ganz anderer Genius gewesen
wäre; und so fort. Schließlich könnte man ja auch einige Zeit-
genossen, oder nur um weniges Spätere nennen, die für Wagner
waren : Liszt, Brückner, Wolf, Cornelius, Bülow, Herwegh, Renoir,
Beardsley, Baudelaire, d'Annunzio, Mahler, Richard Strauß, Shaw;
gewiss nicht die schlechtesten.
213
Die Besprechung einer Gegnerschaft habe ich mir bis jetzt
aufgehoben: als Feindschaft der Feuilletonsten bezeichne ich die
Gegnerschaft nicht nur einzelner Männer gegen Wagner, sondern
einer ganzen Richtung, jenes Liberalismus vor und nach 1873, der
etwa von dem Liberalismus von 1848 gar weit entfernt war. Eine
etwas oberflächliche, sensuell materialistische, eine reiche, aber
geistig verarmte Zeit, die Zeit der Geistreichen gegen den Geist,
die Zeit, in der ein großer Wirbel den Rausch ersetzen musste,
das Gefällige das Große verdrängte, die Zeit der Freudenopfer,
insbesondere nach dem schweren Leid der Kriege von 1864, 1866
und 1870. Diese Lustigkeit, dieser Hedonismus wollte manches
verdrängen. Vergessen wir nicht, dass auch er zu kämpfen hatte
und betrachten wir die Frucht dieses Zeitalters, den Feuilletonis-
mus, mit dem großmütigen Blick, mit dem glücklichere Nach-
kommen über vieles hinwegsehen dürfen. Bei weitem der Be-
gabteste dieser Zeit, also der gefährlichste Feind Wagners, ein
Feind für sich, war Hanslick. Dennoch wird man seine Bedeutung
einigermaßen örtlich, auf Wien und die Geschichte der Wiener
Musik, beschränken dürfen. Insbesondere muss sich diese Be-
trachtung auf knappem Raum versagen, hier ausführlicher zu
werden. Auch ist die Zeit über diese Gegnerschaft hinweggegangen.
Einer anderen wird sie nichts anhaben können: der Tragödie
Friedrich Nietzsches. Tragödie vor allem darum, weil sie erst
die erhabenste Freundschaft hielten und sie vielleicht insgeheim
auch nach dem Bruch immer gefühlt haben. Friedrich Nietzsche,
Student der Philologie in Leipzig, etwa 24 Jahre alt, schreibt an
seinen Jugendfreund Rohde nach einer Aufführung des Tristan -
und des Meistersingervorspiels: „Ich bringe es nicht übers Herz,
mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten ; jede
Faser, jeder Nerv zuckt in mir." Bald darauf lernt er Richard
Wagner persönlich kennen. Wieder nicht lange und er ist Pro-
fessor in Basel. Wagner wohnt in Tribschen bei Luzern. Inniger
Verkehr. Nietzsche schreibt: „Dazu habe ich einen Menschen
gefunden, der, wie kein anderer, das Bild dessen, was Schopen-
hauer ,das Genie' nennt, mir offenbart . . . Dies ist kein anderer
als Richard Wagner, über den Du kein Urteil glauben darfst, das
sich in der Presse, in den Schriften der Musikgelehrten usw. findet.
Niemand kennt ihn und kann ihn beurteilen, weil alle Welt auf
214
einem anderen Fundamente steht und in seiner Atmosphäre nicht
heimisch ist. In ihm herrscht eine so unbedingte Idealität, eine
solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solch erhabener
Lebensernst, dass ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des
Göttlichen fühle." Nietzsche geht in Wagner auf. Um für den
Freund einzutreten, verfasst er die „Geburt der Tragödie" und
verankert die Ideale des Freundes bei seinen geliebten Griechen.
Damit kompromittiert er sich bei den Fachgenossen, die ihm das
Ausbiegen in die Kunst und gar in die Zukunftsmusik durchaus
verargen. Das Idyll von Tribschen geht zu Ende. Wagner siedelt
nach Bayreuth über. „Fehlten mir diese drei Jahre," schreibt
Nietzsche damals, „was wäre ich?" 1873 ist der Fortgang des
Bayreuther Unternehmens bedroht. Die Wagnervereine wenden
sich auf Wagners Wunsch an Nietzsche mit der Bitte um einen
Aufruf an die deutsche Nation. Nietzsche verfasst ihn, die Vereine
nehmen den Text zu Wagners Verdruss nicht an. Aber eine
Spannung bereitet sich vor. Im Sommer 1875 kommt Nietzsche
nicht zu den Bayreuther Proben. (Die Bayreuther sorgen sich um
ihn, halten ihn für verschlossen.) Aus der Sehnsucht des Ab-
wesenden entstehen die ersten fünf Abschnitte von Nietzsches
Schrift „Richard Wagner in Bayreuth". Sie wird sein Abschieds-
geschenk an den Freund. Zur ersten Aufführung des Ringes in
Bayreuth widmet er sie ihm. In einem Entwurf des Begleitbriefes
steht der Satz: „Meine Schriftstellerei bringt für mich die unan-
genehme Folge mit sich, dass jedesmal, wenn ich eine Schrift
veröffentlicht habe, irgend etwas in meinen persönlichen Verhält-
nissen in Frage gestellt wird und erst wieder mit einem Aufwand
von Humor eingerenkt werden muss. Aber Sie haben mir ein-
mal, in Ihrem allerersten Brief an mich, etwas vom Glauben an
die deutsche Freiheit gesagt; an diesen Glauben wende ich mich
heute: wie ich auch nur aus ihm den Mut finden konnte, das zu
tun, was ich getan habe."
Wagners Antwort: „Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! —
Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her? — Kommen Sie
nur bald und gewöhnen Sie sich durch die Proben an die
Eindrücke."
Aber er gewöhnte sich nicht. Er reiste nach Bayreuth, aus
seinen Idealen in die Wirklichkeit. Und sah — vielleicht war es
215
so — „Menschliches, Allzumenschliches". Schon vor der General-
probe verlässt er die Festspielstadt. „Mein Fehler war der, dass
ich nach Bayreuth mit einem Ideal kam: so musste ich denn die
bitterste Enttäuschung erleben ... Ich habe hoch über Wagner
die Tragödie mit Musik gesehen — und hoch über Schopenhauer
die Musik in der Tragödie des Daseins gehört."
Er ist dann freilich wieder zurückgekommen. Aber der Ab-
fall war vollzogen. Was war geschehen ? Kam dieser Bruch plötz-
lich? War er eine Laune, ein Zufall? War er von menschlichen
Kränkungen eingegeben? Meldete sich, wie gewisse Wagnerianer
behaupten, Nietzsches Krankheit?
Es hieße Zartestes, die Beziehungen zweier genialer Freunde,
entweihen, wollte man den unerforschlich tiefen Grund in rauhe
Worte fassen. Die Sprache vermag vieles nur anzudeuten. Hier
nur das Wichtigste aus Briefen und Werken.
Leitmotiv: „Die allmächtige Gewalt unserer Aufgaben trieb
uns auseinander und jetzt können wir nicht mehr zueinander.
Wir sind uns zu fremd geworden." (Nietzsche)
Wagner sieht in Nietzsche den besten, jugendlichsten, leiden-
schaftlichsten, aber auch begabtesten Freund. Er soll ihm helfen,
soll seine Bayreuther Blätter redigieren, er soll fortsetzen, was er
mit der „Geburt der Tragödie" und der Schrift „Richard Wagner
in Bayreuth" begonnen hat. Er sieht nicht, dass Nietzsche einen
ganz andern Weg geht. Dass die eigene Erkenntnis diesen Denker
unter den bittersten Schmerzen in die furchtbarsten Konflikte mit
seiner Natur, mit seinem Leben und seinen Lebensbedingungen,
mit seinen Freunden, mit seiner Vergangenheit drängt. Er sieht
nicht voraus und niemand konnte es voraussehen, wie Nietzsche
endet: der kranke deutsche Professor, der Pfarrerssohn, der
gütigste, liebevollste, rücksichtsvollste Mensch als Antichrist, als
Zertrümmerer der Jenseitsmoral, als Verkünder des Übermenschen,
als Feind des neuen deutschen Wesens, Feind Kants, Schillers,
des letzten Beethoven, Feind jedes „Geistes der Schwere" und
darum Feind Wagners. („Die Wagnerei," schreibt er 1888, „ist
nur ein einzelner Fall.")
ZÜRICH PAUL STEFAN
(Schluss folgt)
na D
216
L'ßTABLISSEMENT DES
GERMAINS EN SUISSE
Peu de branches de l'activite scientifique ont donne lieu ä
autant d'erreurs manifestes que l'etude des races. Nos livres
d'histoire classiques nous fönt de la pretendue Invasion des Bar-
bares en Helvetie un tableau d'une candeur psychologique in-
Gomparable. Les theories des hommes ä systemes, pour lesquels
l'etiage de la vie inteliectueile reside dans la forme du cerveau
ou la couleur des cheveux, ne sont gueres plus exactes. Ces
gens-lä ont-ils regarde autour d'eux? Quel est l'observatecr sin-
cere capable de declarer en bonne conscience que l'Allemagne
est peuplee de „Germains" et la France de „Latins" ! Pour con-
fondre ces maniaques — maniaques souvent ingenieux — il suf-
firait le plus souvent de publier, avec leur Photographie, leur
propre taille et leur indice cephalique. Neanmoins on ne peut
que repeter apres M. Eugene Pittard: „II est singulier de voir
avec quelle legerete on reproduit de vieilles suppositions ayant
traine dans tous les livres et avec quelle legerete aussi on con-
sidere ces suppositions comme des faits averes". C'est ä se de-
mander, en effet, quelle opinion pourront se faire nos descen-
dants de la conscience scientifique de beaucoup de nos „lettres".
Nous possedons d'ailleurs une pleiade de savants qui se
sont donne pour täche d'etudier ces problemes avec impartialite.
L'an dernier, M. F. Schwerz a apporte ici-meme la tres utile
collaboration de ses recherches scientifiques^), qui confirment les
conclusions de ses devanciers et notamment de M. Pittard, qui
ecrivait, dans le Dictionnaire geographique de la Suisse: „La
conclusion provisoire . . . c'est que notre pays est peuple sur-
tout de brachycephalesleptorosopes. Ils constituent ce qu'on ap-
pelle en anthropologie le groupe des Celtes-Alpins, Celto-Ligures,
Celto-Rhetiens etc. Dans l'ensemble, les dolichocephales ne fi-
gurent que pour une faible part. C'est dans la Suisse centrale,
les Grisons et le Valais que le type brachycephale est le plus
accentue". Parmi les historiens, nous avons vu MM. Hugo de
*) Die Alemanen und die heutige Bevölkerung der Schweiz. „Wissen
und Leben" 1er et 15 juin 1912.
217
Claparede, Paul-Edmond Martin et Marius Besson, pour ne citer
que ceux de ce siecle, projeter une lumiere subite sur Tetablisse-
ment des Germains en Suisse. Qu'on me pardonne de mettre
en evidence l'oeuvre de trois de mes concitoyens romands. „Qräce
ä MM. Besson et Martin, ecrit M. Ch. Benziger, la partie ro-
mande de notre pays nous semble en avance (ä cet egard) sur
la partie germanique" ^).
Remarquons qu'au debut de notre ere, on ne constate pas,
en dehors des deux grands etablissements de peuplades germa-
niques, d'invasion importante au point de vue ethnique. Certes
plus d'une tribu traverse le pays sans s'y arreter. Mais ii n'est
rien reste, pour ainsi dire, de ces Alemanes qui ravagerent la
Gaule en 259, saccagerent Aventicum en 260, et passerent ensuite
en Italic oü ils disparurent; rien de ces soixante mille Alemanes
qui furent vaincus par Constance Chlore presde Vindonissa; rien
non plus de ces bandes qui detruisirent quarante-cinq villes et
firent un desert de l'Alsace, pour etre repousses, en fin de compte,
par l'empereur Julien.
Un examen attentif de cette periode nous revele d'aiileurs
une Rome singulierement plus energique et plus combattive que
Celle que nous connaissions; ses generaux ne se lassent pas de
construire de nouvelles forteresses, et, se multipliant, ils infligent
defaite sur defaite ä ceux d'entre les Germains qui ne passent
pas ä son Service. C'est ainsi que les Burgondes, qui, etablis pres
de Worms, etaient devenus des soldats auxiliaires de l'Empire
— foederati — et s'etaient laisse aller ä des actes de deso-
beissance, se voient infliger une cruelle le^on par Aetius en 436,
puis, en 437, par les Huns, que le general romain avait su
habilement exciter contre eux. Aetius assigne aux debris de ce
peuple des cantonnements en Savoie-). Ils s'y apprivoisent
en quelque sorte au contact de la culture latine, se con-
vertissent au christianisme, si bien que les Romains peuvent
bientot songer de nouveau ä s'en servir. En 488 Odoacre, roi
J) Les etudes sur le haut moyen-äge en Suisse. „Les Feuillets"
1912, p. 136.
2) Voir Hugo de Claparede, Les Burgondes jusqu'en 443, Geneve 1909,
page 49 et suivantes; P. Edmond Martin, Etudes critiques sur la Suisse ä
l'e'poque me'rovingienne, Geneve 1910, page 7 et suivantes.
218
d'ltalie, retire les garnisons de l'Helvetie. C'est ä cet instant pre-
eis que les Bürgendes se transportent sur les bords du Riiin,
invites, semble-t-il, par le souverain h^rule ä y constituer une
manche assez solide pour proteger l'Helvetie contre la menace
grandissante d'une invasion alemanique. En traversant l'Helvetie
occidentale privee de maitres, les Burgondes y installent leur
gouvernement militaire, puis leur protectorat, ä la plus grande
satisfaction des populations affolees.
Jusqu'oü penetrerent les Burgondes? On admettait au siede
dernier qu'ils etaient restes ä l'ouest de l'Aar, et que ce n'est
qu'au IX^ siede que la seconde Transjurane aurait pousse ses
frontieres jusqu'ä la Reuss. Aujourd'hui, le doute n'est plus guere
permis sur ce point: Ton reconnait que c'etait une erreur. En
517, Bubulcus, eveque de Vindonissa, participait ä Epaone ä un
congres des prelats burgondes; M. Besson a etabli que le siege
de l'eveche fut transfere ä Avenches apres 549 — plus probable-
ment en 561 — puis, ä la fin du meme siede, ä Lausanne^).
Vindonissa apparait ainsi comme le premier siege de l'eveque de
Lausanne, fait d'autant plus caracteristique que les frontieres entre
les eveches — le cas est en tout cas certain pour ceux de Coire
et de Constance — furent etablies d'apres la repartition des ra-
ces. Les peuplades burgondes semblent ainsi s'etre fixees tout
d'abord le long du Rhin, specialement dans le canton d'Argovie.
Quant aux Alemanes, ils s'etaient etablis dans le courant du
cinquieme siede en Souabe, maintenus par les Romains ä dis-
tance, soit au nord du Rhin et du Danube. Au commencement
du siede suivant — plus exactement entre 501 et 507 — Clovis, roi
des Francs, remporte sur eux une victoire decisive; dans la bataille,
le roi et la noblesse des Alemanes sont tombes avec une grande
partie du peuple ; une autre partie a ete reduite en esclavage. Les sur-
vivants de la defaite se refugient alors dans le royaume ostrogoth,
dont faisait partie l'Helvetie Orientale; le roi Theodoric leur fait
bon accueil, mais en les obligeant ä accepter son protectorat et
ä devenir les gardiens de l'empire, custodes imperii^). C'est donc
en qualite de vaincus implorant un asile, et nullement en con-
') Marius Besson, Les origines des eveches de Geneve, Lausanne^
Sion, Fribourg 1908, page 140 et suivantes.
2) P. Edmond Martin, Ibid. page 54 et suivantes.
219
querants, que les Alemanes ont pris domicile chez nous. On
comprend aisement, dans ces conditions, qu'ils n'aient pas
aneanti la population gallo-romalne qu'ils avaient ä Charge de
proteger. Ils etablirent leur domination politique en Souabe, et
du cote sud, sur le territoire occupe actuellement par les cantons
de Schaffhouse, Thurgovie, Zürich, Zoug, autant que nous en
pouvons juger par les limites de l'eveche de Constance, celui de
Coire formant, au point de vue politique, la „Rhetie de Coire".
Or, jusqu'au IX^ siecle, l'eveche rheto-romanche comprenait outre
les Grisons, la partie Orientale du canton actuel de Schwytz, la
vallee de la Linth, le haut Toggenbourg et la majeure partie du
Rheintal saint-gallois; au XI h siecle, sur le Rhin, la frontiere est
ä Montlingen ou au Hirschensprung. Je n'apprendrai rien ä qui
que ce soit en rappelant la signification si claire des termes Walen-
stadt et Walensee; selon M. Kollmann, le canton de Glaris est
encore aujourd'hui celui oü Ton rencontre le plus de bruns;
dans tout le sud du canton de Saint-Gall, la persistance du sang
gallo-romain est evidente. Quant ä la langue rheto-romanche, ce
n'est peut-etre que le plus pur des dialectes gallo-italiens — c'est
ainsi que les appelle Ascoli — qui couvrent tout le nord de
ritalie, mais s'y sont corrompus bien davantage que ce pouvait
etre le cas dans des vallees difficilement accessibles, dont les
montagnes constituaient une puissante sauvegarde pour l'integrite
de l'idiome; notons en passant la ressemblance du romanche
avec le patois tessinois, avec le roumain, et, dans une mesure
beaucoup plus faible, avec le proven^al.
La Reuss fixa longtemps la frontiere officielle entre les Ale-
manes et les Burgondes. On sait que l'influence de la loi gombete
en matiere successorale se retrouve dans les droits coutumiers
de l'Argovie et jusque sur les bords de la Limmat; l'architecture
jurassique a laisse des vestiges jusqu'ä nos jours dans les can-
tons de Lucerne et d'Unterwald; dans la Suisse centrale, la bra-
chycephalie — type du cerveau gallo-romain — est plus accen-
tuee que partout ailleurs en Suisse: selon MM. Schurch, His et
Rutimeyer, la proportion des brachycephales, dans les cantons
de Lucerne, Unterwald et Uri, serait du 86,6 % des individus.
220
Neanmoins il est ä presumer que les Alemanes ont fait
rapidement breche dans la frontiere burgonde de l'Est. Dejä le
transfert ä Avenches de l'^veque de Vindonissa semble indiquer
que ce prelat ne se sentait pas suffisamment en sürete sur ces
confins. Un autre indice de ce phenomene nous est fourni par
la bataille de Wangen, au sud-ouest de Berne: en 610 — 611 en
effet, des bandes d'Alemanes penetrent dans la Transjurane, bat-
tent les defenseurs du pays ä Wangen, et s'en retournent avec le
butin conquis sans etre autrement inquietes. On peut admettre,
en raison de la superiorite miiitaire apparente des Alemanes,
que des expeditions de ce genre ne furent pas isolees, et que les
cantons actuels d'Argovie et de Soleure, comme le nord de
celui de Lucerne, furent l'objet d'une penetration constante, plus
ou moins pacifique.
Dans l'Helvetie occidentale comme au-delä du Jura, les Bür-
gendes, qui ne devaient constituer qu'une infime minorite, adop-
terent rapidement les moeurs des habitants du pays et recoururent
ä leur collaboration pour le gouvernement; c'est ainsi qu'en 574
Ton rencontre parmi les patrices un certain Mommulus, Celto-
Romain d'Auxerre, fils du comte de cette ville. II est fort douteux
au demeurant qu'entre l'Aar et la Reuss les Burgondes, nom-
breux dans ces parages, se soient tous assimiles. Albert Jahn note
expressement l'existence d'influences burgondes sur le dialecte
allemand-bernois^). Toutefois il est vraisemblable que ces Bur-
gondes restes Qermains se seront trouves dans une Situation
fort difficile, places qu'ils etaient entre la Transjurane gallo-ro-
mane et les Alemanes turbulents et batailleurs; et, entre ces deux
influences, celle de la similitude du langage aura du l'emporter.
Remarquons qu'au point de vue politique le territoire compris
entre l'Aar et la Reuss fut tres dispute, peut-etre precisement
en raison du caractere mal determine de la popuIation qui l'ha-
bitait. C'est ainsi qu'en 806 il est incorpore ä la Transjurane
sous la domination de Charles, fils atne de Charlemagne, deci-
sion qui permet de supposer qu'il avait fait partie un certain
temps de Vimperlum alemanique. En 843 il echoit (de nou-
veau?) en qualite de fief ä Louis le Germanique, mais en 888
^) A. Jahn, Geschichte der Burgundionen und Burgundiens bis zum
Ende der ersten Dynastie. Halle, 1874, 11, pages 402—410.
221
il est attribue ä nouveau ä la Transjurane, dont il a fait partie jus-
qu'en 1032, date de la mort de Rudolphe III, le dernier des rois
de Bourgogne^).
Le rattachement progressif au pays alemanique du territoire
situe entre l'Aar et la Reuss s'effectua sans doute fort ientement.
Lors de l'etablissement de la Reforme, l'eveche de Lausanne
s'etendait encore jusqu'ä Berne et ä Soleure, ce qui n'exclut
d'ailleurs aucunement l'hypothese d'une extension de rallemand
ä l'ouest de l'Aar. La disparition des barrieres qui separaient
l'Alemanie de la Burgondie germanique exigea en tous cas six
ou sept siecles, et put s'operer insensiblement sans que l'histoire
eüt ä l'enregistrer. Teile est du moins Texplication qui nous
parait la plus naturelle.
Ni les Burgondes ni les Alemanes n'ont donc eu roccasion,
lors de leur etablissement pacifique en Helvetie, d'aneantir la
Population gallo-romaine qu'ils venaient proteger. Comme cette
derniere possedait indubitablement la superiorite numerique, on
s'explique aisement les resultats — provisoires il est vrai — aux-
quels ont abouti les investigations des anthropologistes.
Remarquons d'autre part que, du temps de l'Helvetie ro-
maine, I'immigration italienne avait ete tres faible, et que les
Gallo-romains etaient en realite des Qaulois, ou plutöt des Gel-
tes. Encore aujourd'hui le type courant en Suisse n'est-il pas
celui des Celtes, dont les caracteristiques sont: taille moyenne,
forte ossature, brachycephalie, traits irreguliers, cheveux chätains,
et au moral le caractere obstine, renferme, conservateur, l'esprit
de clan, l'aversion de la centralisation et du „pouvoir per-
sonnel", le culte de la natuie vierge? En tous cas il parait qu'il
faut definitivement renoncer aujourd'hui ä voir les deux seuls
termes du probleme ethnique dans les Latins et les Germains,
1) Notons toutefois qu'en 922 des terres situees sur les frontieres in-
certaines de l'Argovie provoquent un conflit entre Rodolphe II de Bour-
^ogne et Bourcard, duc d'Al^manie. Rodolphe est battu ä Winterthour,
mais Bourcard lui donne en mariage, comme un gage et comme un Sym-
bole de l'union des deux Helveties, sa fille Berthe, la fameuse reine Berthe,
dont la douce gloire rayonne encore sur le pays romand.
222
ces deux races, meme prises ensemble, n'ayant qu'une part re-
duite dans la Constitution de notre sang.
D'ailleurs, au fait et au prendre, qu'est-ce qu'une „race",
sinon l'ensemble des personnes se rattachant ä un type commun,
type qui subit l'influence du sol, du climat, des melanges reci-
proques, et meme de la maniere de vivre? On peut presque par-
ier, aujourd'hui dejä, d'un type anglais, d'un type fran(;ais, d'un=
type espagnol, les Fran<;ais, les Espagnols et les Anglais formant
en quelque sorte trois familles vivant chacune en commun depuis plu-'
sieurs siecles; en tous cas, on ne saurait contester l'existence de
types provinciaux, normand, toscan, wurtembergeois ou ecossais.
Les types provinciaux ou nationaux se substituent toujours davan-
tage aux types originaires en voie de disparition. Tous les jours,
les savants decouvrent des cränes qui ne repondent plus ä au-
cun type actuel.
Successivement Jaunes, pygmees, negroides, Celtes, Gaulois,
Romains, Germains et d'autres encore ont appose leurs alluvions dans
riotre pays sans que l'on puisse nettement distinguer aujourd'hui,
dans le melange qui en est resulte, la part afferente ä chacun
d'eux. Ce probleme perd d'ailleurs de son importance au für et
ä mesure que l'instinct fait place ä la raison dans les determi-
nations de l'homme, et que s'affirme ainsi la predominance de la
culture intellectuelle sur l'influence du sang.
BERNE RICHARD BOVET
DDD
Le bienheureux FraiKjois avait coutume de dire que les tiödes, qui ne
savent s'appliquer ä aucune affaire simplement et humblement, le Seigneur
les vomirait promptement de sa bouche ; et personne ne pouvait demeurer
oisif devant lui qu'il ne le dechirät ä belies dents. Lui-meme aussi, l'exemple
de toute perfection, travaillait humblement de ses mains, defendant qu'on
läissät rien perdre du temps, qui est le meilleur des presents.
11 disait en effet: „Je veux que tous mes freres travaillent et s'exercent
humblement ä des travaux utlles, afin de peser moins lourd aux hommes,
et de peur que le cceur ou la langue ne s'egarent dans l'oisivete."
Quant au gain et au benefice du travail, 11 disait qu'il devait etre laiss6
au jugement non de l'ouvrier, mais du gardien ou de la famille.]
Version fran^aise de Paul Budry. Paris. FR£RE LßON: Miroir de la perfection
Librairie Plön 1911. du bienheureux Franfois d'Assise.
223
DER SCHWEIZERISCHE
NATIONALPHILOSOPH
Der 1895 dahingeschiedene Charles Secretan war ein echter
Lausanner von aUem Schrot und Korn. In seiner Vaterstadt
nannte man ihn nur den Philosophen und das mit vollem Recht,
war er doch zugleich ein weiser Mann und ein systematischer
Denker.
„Secretan, ein weiser Mann!" unterbricht mich hier vielleicht
etwas erstaunt ein Leser, der das kürzlich erschienene und schon
wieder in neuer Auflage veröffentlichte Buch durchmustert hat,
welches Louise Secretan dem Andenken ihres Vaters gewidmet
hat. „Ja, wo denken Sie denn hin, den Namen eines Weisen
einem stürmisch auftretenden Patrizier beizulegen, der sich noch
ganz jung, ohne Vermögen und ohne sichere Stellung mit einem
zwar aus guter Familie stammenden, aber ebenfalls unbemittelten
Mädchen verheiratet, der sich in die politischen Händel mischt
und die Regierung angreift, von der die philosophische Professur
abhängt, die er provisorisch bekleidet!"
Freilich mäßigt er sich allmählich unter dem Einfluss seiner
Freunde und seiner gemütvollen Frau; allerlei erschütternde Er-
fahrungen, die er durchzumachen hat, besänftigen nach und nach
sein jugendliches Ungestüm, so dass er, der sich aus den Ge-
danken anderer Leute wenig machte, der im Vollgenuss seiner
Kraft ungenügend motivierte Einwände und Behauptungen un-
barmherzig zu Boden trat und nichts tat, um seine geistige Über-
legenheit nicht allzufühlbar zu machen, mit der Zeit so bescheiden
wurde, dass er, um mit Felix Bovet zu reden, in vielen Fällen,
wenn er angegriffen wurde, seinem Gegner bereitwillig Recht gab,
ja sogar manchmal einen Mangel an einschlägigen Kenntnissen
offen eingestand. In seinem ersten Mannesalter kann er also
kaum als Muster eines weisen Mannes gelten; aber unter dem
Eindruck seines spätem Lebens muss man zugeben, dass er es
geworden ist.
Ebenso und noch mehr lässt sich die Behauptung bestreiten,
Secretan sei ein systematischer Denker gewesen. Er hat sich
niemals einem scharf umrissenen Gedankenkreis angeschlossen.
224
Die Schweizer werden oft als Anhänger einer nüchternen Nütz-
h'chkeitslehre angesehen. Gegen eine solche Zumutung hat sich
aber Secretan zeitlebens gewehrt. Sein ganzes Leben hindurch
hat er die bloß auf Nutzen gestützte Erfahrungsphilosophie be-
kämpft und einige male überrascht er uns sogar mit dem Feld-
geschrei: Nieder mit dem Empirismus! Wenn er auch in Locke
den ersten Begründer der Erkenntnistheorie und den Gegner des
übertriebenen Rationalismus der Cartesianischen Schule respektiert,
so klagt er doch seine wesentlich auf Sinnesempfindungen fußende
Psychologie an, den materialistischen Neigungen Vorschub zu
leisten und solchermaßen das Denken als bloße Begleiterscheinung
des universellen Mechanismus aufzufassen.
Über alle Systeme, welche auf sinnlicher Erfahrung beruhen,
erhebt er die Qedankengebäude der deutschen Lehrer, zu deren
Füßen er gesessen. Und doch wird es ihm mehr und mehr un-
möglich, sich ihnen vollständig anzuschließen. Eine wahre Apostel-
natur möchte er überzeugen und Nachfolge stiften. Es leuchtet
ihm aber ein, dass eine Weltanschauung, für welche der Geist
allein wirklich existiert, nur wenigen zugänglich ist. Er verzichtet
daher auf den abstrakten Idealismus, je mehr er in nähere Be-
rührung mit dem wirklichen Leben tritt.
Bei der Lebhaftigkeit seiner Angriffe gegen den Determinismus
fühlt man sich oft versucht, ihn den Skeptikern anzureihen ; man
entdeckt aber bald, dass er die verschiedenen Lösungen der
Lebensrätsel nicht durchmustert, um seine Neugierde zu befrie-
digen, sondern dass es ihm um Aufschlüsse über die beste Lebens-
führung zu tun ist.
Will man ihn durchaus in einer bestimmten Kathegorie von
Philosophen unterbringen, so könnte man ihn allenfalls zu den
Mystikern rechnen. Wenn man jedoch bedenkt, mit welcher
Legion von Vernunftschlüssen er die geheimnisvolle Vereinigung
Gottes mit dem Menschen zu erhellen sucht, so kommt man un-
willkürlich dazu, Secretan einen Platz im Lager der kühnsten
Rationalisten anzuweisen. Seine Philosophie der Freiheit, in der
er sein mystisches Glaubensbekenntnis ausspricht, ist übrigens
kein System, falls wir, wie wir müssen, unter System eine ein-
heitliche Zusammenfassung von Begriffen verstehen. Stellt er
doch in diesem Bekenntnis Gott und den Menschen als zwei von
225
einander unabhängige, also freie Wesen auf. Das Übel, das in
der Welt existiert, soll ausschließlich das Werk des Menschen sein,
und, um dies zu erweisen, beruft er sich auf die alte Idee eines
vorhistorischen Sündenfalls. — Nun ist aber diese ins Christentum
übergegangene orientalische Sage im Lauf der Jalirhunderte auf
sehr verschiedene Weise interpretiert worden. Die Anhänger der
sogenannten natürlichen Religion benutzten dieselbe, um die An-
klage gegen die Verderbnis der Zeit auf die Schultern der Kirche
abzuwälzen. Den Vertretern des deutschen Idealismus galt sie
als der sinnbildliche Ausgangspunkt einer neuen, fortschreitenden,
sich mehr und mehr differenzierenden Menschheit, während sie
im Gegenteil von der theokratischen Schule der Joseph de Maistre
und de Bonald dazu ausgebeutet wurde, um die Übelstände, unter
denen die moderne Menschheit leidet, auf Rechnung der rationa-
listischen Bewegung zu schreiben, welche von der Reformation
ausgehend bei der freigeisterischen Anarchie des achtzehnten Jahr-
hunderts anlangt. — Doch welcher Art nun auch die Deutung
dieser Sage sein mag, so trägt sie jedenfalls in allen ihren Wand-
lungen nicht das Gepräge einer einheitlichen, sondern einer dua-
listischen Weltanschauung und kann deshalb nur dazu dienen, um
den Übergang zwischen Theologie und Philosophie, zwischen
polytheistischem Pluralismus und theistischem Monismus an-
zudeuten."
Hier wird man mir erlauben, meinem improvisierten Gegen-
part das Wort abzuschneiden und ihm folgendes zu erwidern:
Gewiss ist es Secretan nicht gleich von Anfang an gelungen,
der weise Mann zu werden, der in unserm Andenken weilt. Ebenso
muss man zugeben, dass er es niemals zu einem abgeschlossenen
System gebracht hat. Was uns aber durchaus nicht verhindern
soll, ihn zu den bedeutendsten Denkern des neunzehnten Jahr-
hunderts zu rechnen. Weit davon entfernt, sich auf eine einmal
angenommene Gedankenbildung zu versteifen, hat er nicht auf-
gehört, sich bis ans Ende seines Lebens fortzuentwickeln. In
seiner Jugend trat er als unerschrockener Reaktionär auf, während
er in seinem Alter zum Fahnenträger des weitgehendsten Fort-
schrittes wurde. Es fällt einem unwillkürlich ein, ihn mit Pascal
zu vergleichen, welcher, obgleich er der religiösen Reaktion des
siebzehnten Jahrhunderts angehörte, sich dennoch im Innern der
226
Orthodoxie als ein Neuerer gebärdete, dessen gewaltiger Simsons-
griff die Säulen des überlieferten Heiligtums erschütterte.
Beim Studium der Geschichte der Philosophie wird es einem
oft zu Mut, als ob die philosophischen Systeme sich ohne Zu-
ziehung des Lebens so zu sagen aus sich selbst immer neu er-
zeugten. Dieser Eindruck löst sich aber in bloßen Schein auf,
sobald man die Systeme in Verbindung mit der Gesamtheit der
sozialen Äußerungen bringt.
Descartes hat nicht nur den mittelalterlichen Dualismus auf
die äußerste Spitze getrieben und auf solche Weise den Anbruch
einer neuen Weltanschauung beschleunigt. Durch die unvermittelte
Zusammenjochung der geistigen und der materiellen Welt formu-
liert er eine Lebensauffassung, in welcher er das scharfe Aufein-
anderprallen kirchlicher und weltlicher Interessen ausspricht, das
von jeher bis auf den heutigen Tag das französische Leben ge-
kennzeichnet hat. — Locke, Leibniz und Spinoza sind von Des-
cartes beeinflusst worden. Aber in der Gedankenwelt eines jeden
dieser Philosophen spielt das Volk, dem sie angehören, eine
determinierende Rolle. — Als richtiger Engländer versetzt Locke
den spekulativen Rationalismus seines französischen Lehrmeisters
mit englischem Erfahrungsgeist. — Als Deutscher, der in seiner
Philosophie, wie in Küche, Kirche und Kunstanschauung das
Prinzip der Mischung vertritt, begnügt sich Leibniz in seinen
Monaden nicht damit, geistiges und materielles Wesen ineinander
zu arbeiten; unwillkürlich spiegelt er in denselben auch die Hun-
derte und Aberhunderte von souveränen oder halbsouveränen
Staaten ab, welche sich im alten Deutschland unabhängig von
einander um ein gemeinsames, mehr traditionell als wirksam ein-
greifendes kaiserliches Zentrum bewegten. — Als unabhängiger
jüdischer Denker entfernt sich vom cartesianischen Dualismus der
von seinen orthodoxen Glaubensgenossen ebensowohl wie von
streng und freigläubigen Christen verketzerte Spinoza nur, um
in moderner Form den religiösen Monismus der alttestament-
lichen Propheten zu verkünden. — Als guter Königsberger und
guter Preuße versteht es Kant zwar wie Descartes, in Denken und
Sein, Wissen und Leben, Theorie und Praxis die Grundlagen des
menschlichen Daseins anzuerkennen ; er weiß aber auch seiner
Philosophie das Siegel seiner Zeit und seines Volkes aufzu-
227
drücken, indem er trotz weitausgreifendem Scharfsinn nichts anderes
h'efert als einen Kommentar zu dem Worte, welches Friedrich der
Große an seine Untertanen richtete, da er sagte: Räsonniert so
viel ihr wollt, tut aber euere verdammte Pflicht und Schuldigkeit.
Zieht man dies alles in Betracht, so wird man sich nicht
wundern, dass Secretan es gerade so macht wie seine großen
philosophischen Vorfahren, und dass er wie diese, meist ohne es
zu wollen, zum Dolmetsch der Gedanken seines Volkes und
seiner Zeit wird.
Während der sechzig Jahre seines philosophischen Apostel-
tums sind die Interessen der geistigen Welt nicht immer die selben
geblieben. So bemühten sich zum Beispiel die leitenden Persön-
lichkeiten der Restaurationszeit vor allem, die durch Revolution
und napoleonisches Kaisertum stark geschädigten Mächte der Tra-
dition wieder zu neuem Ansehen zu bringen, den überall sich
regenden Emanzipationsgelüsten entgegenzutreten, Reformation
und Renaissance wegen ihres Bruches mit der nächsten Ver-
gangenheit zu bekämpfen, die moderne Geistesbewegung als einen
neuen Sündenfall zu verpönen und das sittliche Bewusstsein durch
Rückkehr zum naiven Glauben des Mittelalters zu stärken.
Ganz anderer Art waren aber die Bestrebungen der Gene-
ration, welche sich zwischen der Julirevolution und dem Fall des
zweiten napoleonischen Kaiserreichs um die Fahne des utilitaristi-
schen Evangeliums scharte. Während dieser Zeit wurde Europa
zu einem Kampfplatz, wo es galt, die weltbewegenden Ideen von
drei Revolutionen durchzusetzen : Das politische Erdbeben, welches
1789 von Frankreich ausgegangen war, erschütterte nacheinander
die morschen Staatsgebäude der alten Zeit bis in ihre Grund-
festen. — Der wirtschaftliche Umschlag, der sich von dem geschäf-
tigen England aus mit fieberhafter Schnelligkeit über die Welt
verbreitete, veranlasste die mit neu entdeckten Maschinen arbei-
tende Industrie weit über die Bedürfnisse eines geschlossenen
Marktes hinaus zu produzieren, für die aufgestapelten Waren
immer neue Absatzgebiete zu suchen, alle den Verkehr hemmen-
den Schranken in Verruf zu bringen und womöglich niederzu-
reißen, im Wettbewerb skrupellos alle Mittel anzuwenden, um
minderkräftige Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. — Eine
gewaltig gährende Gemütsbewegung trieb Wilhelm Meisters und
228
Fausts Gesinnungsgenossen dazu an, die größtmögliche Ausbildung
und Verwertung ihrer Fähigkeiten zu verfolgen, zu diesem Behuf
die gewagtesten Versuche anzustellen und, wenn es nicht anders
ging, selbst die Bande zu lösen, welche das Individuum an Fa-
milie, Heimat und Vaterland fesseln. In ihrer vollen Entwicklung
drohte die Nützlichkeitsidee geradezu jedes Gefühl zu ersticken,
welches sich dem Durst nach Freizügigkeit, Reichtum, Genuss-
und Ausbildungssucht entgegenstemmte.
Freilich weckte der utilitaristische Wellenschlag überall und
namentlich auch in unserm Vaterlande manche verborgene Kraft
und spornte sie zu gemeinnützigen Leistungen an. Aber indem
er die Entfaltung individueller Energie begünstigte, drängte sich
einer wachsenden Anzahl praktischer Leute die Überzeugung auf,
dass planvoll konzentrierte Massenmanöver über kurz oder lang
den Sieg über vereinzelt auftretende Unternehmungen davontragen
müssen. Dies ist denn auch die Quelle der imperialistischen
Tendenzen, welche für das Ende des neunzehnten und den An-
fang des zwanzigsten Jahrhunderts so bezeichnend sind. Persön-
liches Wirken gilt wenig, wofern es nicht durch Achtung gebietende
Massen unterstützt wird. Die großen Staaten begnügen sich nicht
damit, ihre militärischen Hilfsmittel straff zusammenzuziehen, sie
schließen auch noch Schutz- und Trutzbündnisse mit andern
mächtigen Staaten. Und ebenso machen es auch die industriellen
Kampforganisationen : die kapitalistischen Großmächte kombinieren
ihre Kräfte, um den Weltmarkt zu beherrschen, während die
Arbeitervereine den Klassenkampf organisieren und in vielleicht
nicht allzu ferner Zukunft den internationalen Streitmächten die
Stange halten werden.
Von all diesen manigfaltigen Bestrebungen ist nun Secretans
Tätigkeit vielfach berührt worden; und glücklicherweise entwickelte
sich seine Laufbahn in einem Lande, wo zwei große Kultur-
strömungen sich kreuzen und sich wechselseitig beeinflussen.
Man kann als Schweizer geboren sein, man wird es aber heutzu-
tage, wo unser Vaterland immer mehr und mehr auch für die
Geisteszüge zur Drehscheibe unseres Kontinents geworden ist,
nur dann in vollkommener Weise, wenn man Nord und Süden,
Ost und Westen auf sich einwirken lässt. Das ist nun aber bei
Secretan in ganz eminenter Weise der Fall gewesen. Schon früh
229
ist seine Seele von Samen befruchitet worden, die sowohl der
germanischen wie auch der lateinischen Kultur entstammen.
Die romanische Welt hat zwei Philosophien gezeitigt, welche
den getreuen Abdruck einer Gesellschaft bilden, die in zwei von
einander getrennten Lagern haust. Katholischer Spiritualismus
auf der einen, materialistische Freigeisterei auf der andern Seite
zeichnen sich in Italien und Spanien, namentlich aber in Frank-
reich durch eine so scharf ausgeprägte Form aus, dass sich die
selbe auch den dualistischen Denkern der übrigen Länder unseres
Weltteils aufdrängt. So haben denn Joseph de Maistre und de
Bonald durch straffe Formulierung des theokratischen Gedankens
Schelling und Friedrich Schlegel stark beeinflusst, während die
materialistische Strömung hauptsächlich durch die englischen An-
hänger dieser ursprünglich französischen Richtung gewirkt hat.
Wie Maistre und Bonald sind auch ihre deutschen Jünger erklärte
Feinde der Revolution, und um sie nun zu bekämpfen, greifen
sie die Revolution nicht nur in ihren Wirkungen, sondern auch
in ihren Ursachen an.
Die seit Reformation und Renaissance dahingeflossenen Jahr-
hunderte scheinen den Verteidigern der Theokratie die Ordnung
dem Fortschritt, die Vergangenheit der Gegenwart, den Geist dem
Stoff aufgeopfert zu haben. Anstatt wie Cartesianer, Baconianer
und Sensualisten vom individuellen Bewusstsein auszugehen, be-
haupten sie, dass die Quelle aller sozialen Ordnung im kollektiven
Bewusstsein zu finden sei und stellen deshalb dem Individualismus
ihrer Widersacher die Autorität der Rasse und der Überlieferung
entgegen. Secretans einstiger Lehrer, der berühmte Schelling,
vertritt ihren Standpunkt seit dem Jahre 1803. In seiner Frei-
heitslehre behauptet er, die Einzeldinge verdankten ihren Ursprung
dem Abfall vom absoluten göttlichen Sein. Das menschliche Ge-
schlecht habe von Anfang an eine Offenbarung von Kunst, Wissen-
schaft und Religion empfangen, und zwar durch das Mittel über-
menschlicher Wesen, welche, nachdem sie den göttlichen Samen
einer höhern Kultur ausgestreut hätten, wieder verschwunden
wären. Dieses Verschwinden habe eine Verschlechterung der
Lebensbedingungen unseres Planeten nach sich gezogen, und die
Geschichte dieser Entartung sei wie Iliade und Odyssee eine
Epopöe in zwei Teilen, wovon der eine berichte, wie sich der
230
Mensch von Gott getrennt habe, während der andere die Rück-
kehr zum Urquell alles Daseins erzähle. In dem Kampfe zwischen
Einzel- und Gesamtwillen bilde die Fleischwerdung Christi den
wichtigsten Zeitpunkt der menschlichen Geschichte, in welchem
der engültige Sieg des Guten über das Böse entschieden
worden sei.
Noch schärfer und ausführlicher, als dies durch Schelling
geschehen, ist die Philosphie des theokratischen Frankreichs durch
Friedrich Schlegel formuliert worden.
Der Sündenfall, sagt er in seiner 1827 erschienenen Philo-
sophie der Geschichte, ist der Anfang, von welchem eine von
Gott geplante und progressiv sich entwickelnde Rettungserziehung
anhebt. Der Mensch gehört keineswegs zum Tierreich. Von Be-
ginn an trägt er in seinem Innern einen göttlichen Keim, aus
dem in der Folge Sprache, Denken und alles das hervorgeht,
was den Menschen zum Herrn der Erde stempelt. Die Geschichte
der gefallenen und wieder aufgerichteten Menschheit ist eine
Restaurationsbewegung, die sich vom südöstlichen Asien nach
dem nordwestlichen Europa hinzieht und sich durch vier Perioden
hindurch entwickelt, von denen die erste im Orient, die zweite in
der klassischen Welt Persiens, Griechenlands und Roms, die dritte
im christlichen Europa des Mittelalters, die vierte im modernen
Europa abspielt. — Die Geschichte der orientalischen Welt beruht
auf einem wesentlich Innern Prozess, während dessen Verlaufs
die vier Hauptvermögen des Menschen zur Entfaltung kommen:
der Verstand bei den Chinesen, die Einbildungskraft bei den In-
dern, die praktische Intelligenz bei den Ägyptern, der Wille bei
den Hebräern. — Eine durchaus entgegengesetzte Richtung schlägt
die Geschichte von Persien, Griechenland und Rom ein. Bezieht
sie sich doch wesentlich auf die äußere Organisation unseres
Geschlechtes, welche sie durch eine Reihe von Versuchen zu be-
werkstelligen trachtet, die wie die Reiche von Cyrus, Alexander
dem Großen und Cäsar auf die materielle Einheit der mensch-
lichen Gesellschaft hinzielen. — Unter der Ägide des Papsttums
offenbart sich im christlichen Mittelalter zugleich das äußere und
innere Leben der Menschheit, eine Zeit des höchsten Glückes,
welches leider durch die Wirren der Reformation und der aus
ihr entstehenden revolutionären Regungen getrübt werden sollte,
231
bis endlich die Restauration der angestammten Autoritäten die
Welt wieder in die alten Bahnen zurücklenkte.
Diese spekulativ historische Erklärung des Sündenfalls bringt
also die deutschen Anhänger der theokratischen Schule dahin, in
der Freiheit die wirkliche Ursache des in der Welt hausenden
Übels zu sehen und sie deshalb wie überhaupt jede Unterbrechung
der überlieferten Denkgewohnheiten mit aller Macht zu be-
kämpfen.
Wie kommt es nun, dass Secretan, der doch von den Prin-
zipien der theokratischen Schule ausgegangen ist, dennoch zu
ganz andern Schlussfolgerungengelangt, dass für ihn die Geschichte,
weit entfernt auf eine Unterbindung der individuellen Kräfte hin-
zuleiten, im Gegenteil den Endzweck hat, eine allmähliche Be-
freiung der sittlichen Persönlichkeit, den Aufstieg zu einer immer
vollkommeneren sozialen Organisation herbeizuführen, wo jeder
berufen wäre, eine seiner besondern Natur angemessene Rolle zu
spielen? in der Seele Secretans hat sich eben unter dem Einfiuss
unseres nationalen Geistes eine religiöse Änderung vollzogen; an
die Stelle der römischen Idee eines nach dem Muster Philipp II.,
Ludwig XIV. oder Napoleons zentralistisch regierenden Gottes ist
nach und nach das Bild eines Gottes getreten, welcher sich in
den von der eidgenössischen Verbrüderungsidee beseelten Indivi-
duen offenbart,
Secretan begreift immer mehr und mehr, welch zersetzende
Trockenheit das religiöse Denken der lateinischen Welt beherrscht,
die das Universum in zwei absolut getrennte Hälften zerlegt: die
Mächte des Guten und des Bösen, Gott und Natur, Geist und
Körper, Mann und Weib, Priester und Laie, Kirche und Staat.
Alles unvermittelte Gegensätze, deren Widerstreit nur durch die
völlige Niederlage eines der antagonistischen Elemente beseitigt
werden soll. Ergriffen vom mystischen Odem des romantischen
Deutschlands und des wiederum religiös erwachten Englands
sucht nunmehr Secretan für das Rätsel des Lebens eine Lösung,
die ihn weniger chimärich anmutet als der absolute Dualismus.
Er sucht eher zu vereinigen als zu trennen, gesellig zu verbinden
als über- und unterzuordnen. Gut und Bös, soziales und indi-
viduelles Wesen hören für ihn auf, sich von einander zu scheiden
wie Tag und Nacht; er ahnt, dass sie sich gegenseitig bedingen
232
und durchdringen. Gott und Natur, Geist und Körper betraciitet
er nicht mehr als durchaus von einander geschiedene, abstrai^te
Wesen, sondern als lebendige, konkrete Einheiten. Mann und
Weib erscheinen ihm als zwar differenzierte aber gleichwertige
Wesen, welche dazu bestimmt sind, sich gegenseitig zu ergänzen,
anstatt in sklavischer Abhängigkeit oder gesondert von einander
ihr Leben zu führen. Priester und Laien, das heißt entweder
ausschließlich für geistige oder nur für materielle Interessen lebende
Menschen sind für ihn Monstruositäten, von denen uns die Zu-
kunft zu befreien hat, und mit ihnen soll auch verschwinden der
radikale Antagonismus zwischen Kirche und Staat, zwischen rein
sittlichen und rein materiellen Mächten.
Nach diesen Ausführungen hüte man sich jedoch davor, in
Secretan einen verkappten Monisten zu wittern. Er ist vielmehr
ein föderalistischer Denker, für den die entscheidende Schicksals-
macht nicht einem monarchisch eingreifenden Oberwillen, sondern
einer Kraft entstammt, die sich im freien Kampfspiel der Einzel -
willen entfaltet; für den Sittlichkeit nicht einen von oben herab
regulierten gesellschaftlichen Zustand, sondern eine allseitig gute
Sitten schaffende Tätigkeit bedeutet. Als eifriger Apostel der freien
Persönlichkeit ist er gegen die erschlaffende Lehre der Optimisten
aufgetreten, welche in weichlichem Daseinsdusel vermeinen, der
Fortschritt beruhe nicht sowohl auf dem handelnden Eingreifen
der Einzelnen, als auf der automatischen Abwicklung eines not-
wendig erfolgenden Naturprozesses. Und als die wachsende Macht
des militärischen, kapitalistischen und sozialistischen Imperialismus
die selbständige sittliche Entwicklung des Individuums bedrohte,
stellte Secretan mit jugendlichem Feuereifer dem egoistischen
Ansturm der Massenpolitik die Handlungsweise der heldenhaften
Seelen entgegen, welche für die höchsten Güter der Menschheit
streiten. Daher auch sein mehr auf die Zukunft als auf die Ver-
gangenheit gerichteter Blick, seine Vorliebe für das vom histori-
schen Recht verdrängte idealistische Naturrecht, seine tiefe Sym-
pathie für alle Bemühungen, um den Übeln des Krieges und des
sozialen Elendes zu steuern, sein Feldzug zugunsten schützender
Frauenrechte; daher endlich seine unerschütterliche Überzeugung,
dass die Aera sozialer Gerechtigkeit nur dann anbrechen kann,
wenn ihr ein sittlicher Wandel vorangeht, der uns aus der engen
233
Sphäre egoistischer Interessen zu den h'chten Höhen emporreißt^
wo universelle Ewigkeitsideen hausen.
In den Geschichten der Philosophie wird Secretan nur als
Verfasser der „Philosophie de la Liberte" erwähnt, und als solcher
der Schule Schellings angereiht. Seine Schriften über das Prinzip
und den Wert der Sittlichkeit, über die sozialen Fragen und
namentlich sein wichtiges Werk über Kultur und Glauben (la Ci-
vilisation et la Croyance) werden stillschweigend übergangen. Läge
vielleicht der Grund dieser Auslassung in der Schwierigkeit, sich
in den meist registerlosen Werken zu orientieren, die sich über-
dies keinem bestimmten System anschließen; oder in dem Hin-
und Herschwanken zwischen lebendiger Anschauung und abstrakt
beweisendem Verfahren; oder in der Tatsache, dass Secretan
weniger auf die Architektur seiner Gedanken als auf ihre prakti-
sche Wirkung bedacht war? Vielleicht steckt etwas von alldem
in dieser Übergehungssünde. Jedenfalls hieße es sich um die von
Secretan vertretenen Ideen verdient zu machen, wenn jemand es
unternehmen wollte, eine Ausgabe seiner Schriften zu veranstalten,
die mit allen praktischen Zutaten versehen wären, welche sie
dem Publikum zugänglich machen würden. Ebenfalls von Nutzen
dürfte es sein, wenn Secretans gedankliche Leistungen in einem
Auszug erschienen, wo die langen dialektischen Auseinander-
setzungen getilgt würden, um die genialen Anschauungen hervor-
treten zu lassen, welchen man auch in den Schriften der größten
Philosophen der Gegenwart begegnet und denen man so leb-
haften Beifall zollt.
Gewisse Stellen in „Kultur und Glauben", wo Secretan die
Evolution als die wesentliche Form der Schöpfung preist und wo
er in der Entwicklung des individuellen Menschen das natürlichste
Symbol der universellen Entwicklung sieht, nehmen sich aus wie
ein Präludium zu Bergsons „Evolution creatrice". — Ist Secretans
Behauptung, dass diejenigen Dinge die besten sind, welche den
größten Ewigkeitswert besitzen, nicht auch der Grundgedanke des
Pragmatismus von James? — Und finden wir Secretans reifste
Gedankenbildungen nicht auch wieder in Euckens Ansichten vom
Zusammenwirken des Ganzen und des Teils, Gottes und der
Menschen, des Ideals und der Wirklichkeit, sowie auch in Euckens
anbetender Verehrung der erhabenen Idee des Christentums, der
234
zufolge Gott zum Menschen wurde, damit wiederum der Mensch
zur Gottheit emporgehoben würde?
Secretan hat auch dadurch vorbildlich gewirkt, dass nicht nur
alle europäischen Geistesströmungen ihren Wiederhall in seiner
Seele fanden, sondern weil er auch in seinem Leben wie in
seinen Schriften die tiefsten Eigenheiten unseres Volkes zum
Ausdruck brachte.
Während eine mannigfach gestaltete Natur uns Schweizer zu
vielfältig verschiedenen Bildungen hindrängt, weist uns im Gegen-
teil die Geschichte darauf an, die verschiedenartigsten Elemente
einander näher zu bringen, um in Gemeinschaft mit ihnen am
Werk gesitteter Freiheit zu arbeiten. Hat sie doch nacheinander
Wald-, Land- und Stadtkantone, katholische und protestantische,
germanische und romanische Völkerschaften, örtliche, soziale,
religiöse und ethnische Sonderinteressen aneinandergebunden und
so ein reiches Zusammenwirken zustande gebracht, dessen unwill-
kürliche philosophische Formulierung Secretan vollzogen hat.
Kooperatives Wirken ist sein eigentliches Losungswort. In Reli-
gion, Metaphysik, Psychologie, Moral und Soziologie sieht er das
Zusammenwirken von Gott und Mensch, des Allgemeinen und
des Besondern, des Denkens und der Empfindung, des Ideals und
der Wirklichkeit, des kollektiven und des individuellen Bewusstseins.
Und diese eigentümliche Zusammenfassung hat nicht nur sein
Denken, sondern auch sein Leben geleitet.
Zu den wesentlich lateinischen Elementen seiner ersten Er-
ziehung gesellten sich schon früh deutsche Geistesgewohnheiten.
Seine Heirat mit einer Katholikin, an deren Seite er fünfzig Jahre
in ungetrübter Harmonie verlebte, erhob ihn zu dem Begriff eines
über den kirchlichen Spaltungen schwebenden Christentums. Am
Abend seines Lebens sprach er gern in öffentlichen Versamm-
lungen mit ansteckendem Enthusiasmus von einer Lebensweise,
nach welcher körperliche Arbeit wo möglich in freier Luft mit
sitzenden Beschäftigungen mehr geistiger Art einander ablösen
sollten, wie dies in manchen Gegenden unseres Vaterlandes noch
oft der Brauch ist. Mit seinen heißesten Wünschen sehnte er
sich nach einer sozialen Organisation, welche sich auf koopera-
tiver Grundlage mit brüderlicher Beteiligung von Kapital und
Arbeit erheben sollte.
235
Dieses anregend anziehende Leben, welches einer Idee ge-
widmet war, die im Grunde die Idee unseres Voli<es ist und die
vielleicht die Anwartschaft hat, einmal der leitende Impuls der
zukünftigen Welt zu werden, spiegelt sich mit besonderem Reiz
in dem schönen, soeben in neuer Auflage erschienenen Buch ab,
in dem Louise Secretan Leben und Schriften ihres Vaters schildert^)
und uns zu Gemüte führt, wie die Geschlechter der Vergangen-
heit mit denen der Gegenwart durch das Medium eines werbenden
Denkers zusammenhängen, wo von Vater auf Sohn übergegangene
Überlieferungen und Krrungenschaften der angestammten Heimat
sich mit denen des Auslandes verschmelzen, um eine reich aus-
gestattete, edle Persönlichkeit hervorzubringen.
Die Gebiete, in welchen sich die Philosophie bewegt, stehen
nicht im Ruf, angenehme Zerstreuungen aufzuweisen. Wer das
Buch von L. Secretan in die Hand nimmt, wird jedoch von dieser
Meinung abkommen, weil er überall darin das vorbildlich an-
regende Leben eines Denkers entdeckt, der, wie wir alle, gehofft,
geirrt, gelitten und gekämpft hat, und der uns noch überdies
tröstende Ausblicke auf eine Menschheit eröffnet, die wohl besser
organisiert sein dürfte als die gegenwärtige.
LAUSANNE ALEXANDER MAURER
aan
über die Berechtigung des Hässlichen zwischen der Dichtung und der
Malerei zu unterscheiden, hat gar keinen Sinn. Die Begierde der Salome
nach dem Blute des Johannes ist, wenn wir sie unkünstlerisch, stofflich,
als Perversität erfassen, in der Dichtung ebenso ekelerregend, wie in der
Malerei. Und wird die Salome nicht von der Unkunst, sondern von der
Kunst verarbeitet, so ist sie der Malerei ebenso wertvoll, wie der Dichtung.
So erfüllt uns ein Hässliches bald mit Ekel, bald mit dichterischer oder
malerischer Schönheit, wie auch ein Schönes durch die Unkunst zur Wollust
wird, möge es in der Malerei Adam und Eva oder in der Dichtung Faust
und Gretchen gehören.
Vierte ergänzte Auflage Von Stoff zu Form
Verlag Huber, Frauenfeld, 1913. Essays von Oscar Miller.
D D D
1) L. Secretan : Charles Secretan, sa vie et son ceuvre 1 vol. in 16.
Quatrieme edition. Lausanne, Payot, 1912.
236
SPRACHENFRAQE IN ÖSTERREICH
(Schluss)
So sind auch hier wie überall im Osten Europas die Deut-
schen im Mittelalter als die Bringer höherer Kultur angesehen
worden und sie waren es offenbar auch ; sie waren damals die
große kolonisierende Macht in Europa, wie einige Jahrhunderte
früher ihre normannischen Stammesverwandten, später die Hol-
länder und endlich die Engländer auf der ganzen Erde. Böhmen
hat dann im vierzehnten Jahrhundert unter dem luxemburgischen
Herrscher Karl IV. eine große, bei uns noch wenig bekannte
Kulturblüte erlebt, in der Prag zur herrlichen Kaiserstadt wurde.
Die Deutschen in Böhmen haben daran gewiß einen großen,
wenn auch nicht ausschlaggebenden Anteil; denn der römische
Kaiser war von Nationalität eher Franzose und überhaupt mehr
international gesinnt. Von einem Streit zwischen den Nationen in
Böhmen hören wir denn auch damals noch nicht viel; an der
neugegründeten Universität Prag gab es vier sogenannte Na-
tionen, die böhmische, polnische, bayrische und sächsische, von
denen jede gleich viel zu sagen hatte. Erst im Anfang des fünf-
zehnten Jahrhunderts, als Magister Jan Hus an der Universität
lehrte und predigte, zeigt sich ein Gegensatz nationaler Art. Hus
ist ein eifriger Tscheche und will der böhmischen Nation allein
drei Stimmen, den übrigen zusammen nur eine gewähren. Diese
Umgestaltung der Universität im tschechisch-nationalen Sinne
gelang; aber die Folge davon war, dass im Jahre 1409 die deut-
schen Studenten, etwa 5000 an der Zahl, die Universität verließen
und nach Leipzig übersiedelten, dessen Hochschule nun auf ein-
mal anstatt Prag zum Mittelpunkt deutscher Bildung wurde. Hus
aber ernannte der König zum Rektor in Prag und seine reforma-
torischen Gedanken fanden vor allem beim tschechischen Volk
und Adel Anklang, während sich die Deutschen in Böhmen eher
zu der alten Richtung hielten. Die husitische Bewegung, welche
dann im Anschluss an Husens Verbrennung in Böhmen entstand
und einen furchtbaren Bürger- und Raubkrieg entflammte, ist
deshalb nicht nur aus religiösen, sondern auch aus nationalen
Antrieben zu verstehen. Die Züge der Husiten wandten sich mit
237
Vorliebe gegen die Deutschen in und außerhalb Böhmens. Als
dann das Basler Konzil 1433 den Husiten Recht gab, insofern
als ihnen (in den Prager Kompaktaten) der Laienkelch und die
freie Predigt des Bibelwortes gestattet wurde, so bedeutete dieser
Sieg der Husiten in nationaler Beleuchtung die Oberherrschaft
der Tschechen, besonders des tschechischen Adels über das
deutsche, katholische Element im Land. Die Tschechen waren
also dadurch emporgekommen, dass sie den reformatorischen
Gedanken 100 Jahre vor Luther ergriffen und sich zu eigen ge-
macht hatten.
So blieben die Verhältnisse im Wesentlichen fast 200 Jahre
lang. Die Tschechen waren, nachdem auch die lutherische und
die kalvinische Lehre eingedrungen war, ein überwiegend pro-
testantisches Volk geworden und wachten, besonders seit sie 1609
den Majestätsbrief vom Kaiser erzwungen hatten, eifersüchtig über
ihren religiösen Freiheiten, die zugleich ihre nationalen waren.
Denn der katholische, von Jesuiten beratene Kaiser begünstigte
im allgemeinen das deutsche Element, und so stellt sich der erste
Teil des dreißigjährigen Krieges, der sogenannte böhmische
Aufstand, vom nationalen Standpunkt aus wieder als ein Kampf
zwischen den kaiserlich gesinnten Deutschen, die zu den deut-
schen Habsburgern halten, und den böhmisch-national gesinnten
Tschechen dar, die die Selbständigkeit und Wahlfreiheit ihres
Königreiches behaupten wollen, indem sie sich von Habsburg
abwenden und sich mit der internationalen protestantischen Partei
verbinden.
Aber der Kampf fiel diesmal völlig zu Ungunsten der tsche-
chischen Nationalität aus: nach der Schlacht am weißen Berge (1620)
war es mit der Selbständigkeit und Wahlfreiheit des Königreichs
Böhmen aus; die tschechischen Adligen, die am Aufstand teil-
genommen hatten, wurden enthauptet oder verbannt und ihrer
Güter beraubt und die deutschen Habsburger nahmen über Böh-
men als über ein Erbland ohne Vorrechte Besitz und sind bis
heute Herren darin geblieben. Das bedeutete nun einen Sieg für die
Deutschen in Böhmen, die ja schon vorher eher zu Habsburg
gehalten hatten. Die herrschende Schicht in Böhmen, die sich an
die Wiener Regierung anlehnte, war nun bis ins neunzehnte
Jahrhundert unbestritten deutsch und es scheint auch nicht zu
238
eigentlichen nationalen Kämpfen gekommen zu sein. Die Tsche-
chen gewöhnten sich (wie die Slawen an anderen Orten) daran, von
den Deutschen abhängig zu sein und das Verhältnis zwischen
beiden Nationen muss vielfach sogar ein freundliches gewesen
sein: die Deutschen dachten damals nicht daran, die Sprache des
ungebildeten Volkes auszurotten, sondern schenkten ihr vielfach
ein freundliches Interesse, indem sie sich forschend damit be-
schäftigten.
Als nun die nationale Bewegung, durch die deutsche Ro-
mantik ins Leben gerufen, erwachte, wurden die Verhältnisse all-
mählich anders; die Tschechen fingen an, sich als die Unter-
drückten zu fühlen und strebten nach völliger Selbständigkeit, im
Frühling 1848, als ein belebender Sturmwind durch das alternde
Europa fegte, brechen diese neuen Gedanken durch, und in Prag
nimmt die revolutionäre Bewegung ein ausgesprochen tschechisch-
nationales Gepräge an. Wie in Frankreich, Deutschland und
Italien wird in Prag auch für die Tschechen eine Trikolore er-
funden und die Tschechen lehnen es ab, mit den Deutschen
zusammen zu tagen. Zwar findet nach einiger Zeit wieder eine
tschechisch-deutsche Verbrüderung statt, dem internationalen Zuge
der Zeit entsprechend, der zwar nationale Ziele hat, aber doch das
Gemeinsame, das die nach Freiheit strebenden Völker verbindet,
wahrnehmen will. Aber schon damals kamen auf einer Insel in
der Moldau die Vertreter verschiedener slawischer Nationen zu
einem sogenannten panslawischen Kongress zusammen (unter
dem Vorsitz des schon mehr erwähnten Historikers Palacky).
Was wollten diese Slawen? Warum arbeiteten sie nicht
brüderlich zusammen mit den ebenfalls im Aufstand begriffenen
Deutschen, um ein freiheitlich regiertes Österreich ins Leben zu
rufen? Das Sonderziel der Tschechen, das hier zum erstenmal
auftaucht, ist das sogenannte böhmische Staatsrecht, das noch
heute in den Köpfen vieler Tschechen als Ideal ihres Strebens
steckt. Böhmen, Mähren und österreichisch-Schlesien, also die
drei Länder, in denen die Tschechen zu Hause sind, sollen ein
eigenes slawisches Königreich bilden, das gleich wie Ungarn nur
in Personalunion mit den übrigen Erblanden von dem Hause
Habsburg regiert wird. Der österreichische Kaiser soll sich erst
mit der alten Wenzelskrone, die im Schlosse Karlstein in Böhmen
239
schonseit Jahrhunderten ohne Gebrauch verwahrt wird, zum König
dieses groß-tschechischen Reiches i<rönen lassen ; erst dann finden
sich die Tschechen mit der habsburgischen Herrschaft zurecht.
Allein dazu ist es bis zum heutigen Tage nicht gekommen; die
Wenzelskrone ruht noch immer im Schlosse zu Karlstein, während
Franz Josef schon vor mehr als 40 Jahren die ungarische
Stefanskrone in feierlicher Zeremonie sich hat aufsetzen müssen.
Ais nämlich die österreichische Regierung im Laufe der Jahre
1848 — 49 über die Revolution in Prag, Wien und Ungarn wieder
Herr geworden war, wurde mit allen Sondergelüsten energisch
aufgeräumt und Österreich-Ungarn sollte als einheitlicher Staat
wieder absolut regiert werden (Aera Schwarzenberg). Es leuchtet
ein, dass dieses einheitliche Regiment von Wien aus den Deut-
schen in Böhmen eher gefallen musste als die Verwirklichung
jenes böhmischen Staatsrechts; sie hatten im Qesamtverbande
Österreich und in Anlehnung an das deutsche Fürstenhaus mehr
Aussicht auf Geltung und Macht, als wenn sie in einem slawischen
Königreich die Minderheit bildeten. So sind die Deutschen in den
nun folgenden Kämpfen Zentralisten, österreichisch, nicht böh-
misch gesinnt, die Tschechen dagegen geschworne Föderalisten.
Man muss es den Tschechen lassen: sie haben sich in diesem
Kampfe um ihr böhmisches Staatsrecht charaktervoll benommen :
durch Jahrzehnte hindurch, und das will in der Politik, wo die
Kompromisse eine so große Bedeutung haben, viel sagen, haben
sie sich geweigert, sowohl in den böhmischen Landtag, als auch
besonders in das österreichische Gesamtparlament, den sogenannten
Reichsrat, ihre Vertreter zu senden, weil sie an ihrer staatsrecht-
lichen Auffassung festhielten. Die Folge davon war, dass in dem
Österreich nach 1848 die Deutschen lange die Oberhand behielten
und selbst im böhmischen Landtag die Mehrheit hatten. Die Tsche-
chen verfolgten diese Politik des passiven Widerstandes offenbar nach
ungarischem Vorbild, und die Gegenwart zeigt, wie viel die Ungarn
durch ihren hartnäckigen Eifer bereits erreicht haben. Die Tsche-
chen sind nicht so glücklich gewesen; zwar einmal waren sie
nahe daran, ihr Ziel zu erreichen. 1871, unter dem Eindruck der
deutschen Siege im französischen Krieg, als Österreich fürchtete,
dass ihm die Deutschen zu mächtig würden, „dass durch die An-
ziehungskraft des deutschen Nationalstaats die deutschen Nägel
240
aus dem habsburgischen Staatsschiff gezogen werden könnten" (Egel-
haaf) suchte der Kaiser eine Verständigung mit den Slawen, um
sich auf sie im Parlament stützen zu können. Die im Prager Landtag
ausgearbeiteten Fundamentalartikel, nach denen die Länder der
Wenzelskrone innerhalb der habsburgischen Monarchie innere Selb-
ständigkeit erhalten sollten, wurden vom Kaiser anerkannt und er ver-
sprach, sie mit seinem Krönungseid zu bekräftigen. Aber nun
wehrten sich die verantwortlichen Minister Beust und Andrassy
so lebhaft, dass der Kaiser umgestimmt wurde, und das schöne
tschechische Ideal verschwand bis heute in den Wolken. So blie-
ben die Deutschen noch weiter am Ruder, während die Tschechen
im Landtag und im Reichsrat noch einige Jahre ihre ablehnende
Politik fortsetzten; unterdessen aber begann im Innern des
Landes durch Vereine und Presse eine unermüdliche Werbetätig-
keit für das Tschechentum, und die Deutschen wurden in Böh-
men allmählich aus ihrer Machtstellung verdrängt. Das Blatt
wandte sich ganz zu ihren Ungunsten, als 1878 Österreich die
slawischen Länder Bosnien und Herzegowina besetzte. Da die
Deutschen diesen Zuwachs an slawischer Bevölkerung für Öster-
reich nicht für gut erachteten, stellten sie sich der Regierung ent-
gegen, und diese musste sich nun doch, wenn sie ihren Kurs ver-
folgen wollte, auf die Slawen stützen. So verloren auch im Reich
die Deutschen ihre Führerstellung. 1879 trat Taaffe an die Spitze
eines Kabinetts, das die „Versöhnung der Nationalitäten", ihre
Gleichberechtigung in Österreich verkündigte. Diese bestand von
Rechtswegen schon lange, sie war einer der von der Regierung
angenommenen Grundsätze von 1848 und wurde in das damals
(1879) und noch heute in Geltung stehende österreichische Staats-
grundgesetz vom 21. Dezember 1867 aufgenommen, dessen §19
wie folgt lautet:
„Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und
jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung
und Pflege seiner Nationalität und Sprache.
„Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in
Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.
„In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen,
sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet
sein, dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer
241
zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen
Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält."
Nun traten die Tschechen in den Reichsrat ein; hier wie im
böhmischen Landtag gaben sie ihre „Abstinenz" auf, da sich ihnen
große Aussichten eröffneten, Im Landtag hatten sie bald die
Herrschaft an sich gezogen, und das erste Zeichen ihres Erfolgs
war 1882 die Teilung der alten deutschen Prager Universität in
eine deutsche und eine tschechische. Von 1880 an bis zur Ge-
genwart, also über dreißig Jahre, währt nun der eigentliche Kampf
der Deutschen gegen die unaufhaltsam vordringenden Tschechen
in Böhmen. Er ist je länger je mehr zu einem erbitterten Ver-
teidigungskampf der Deutschen geworden; denn sobald sich die
Tschechen einmal in Vorteil wussten, gingen sie rücksichtslos
mit dem Rechte des Stärkeren vor; auch bei ihnen ist von ge-
rechter Würdigung der Ansprüche einer starken Minderheit nichts
zu spüren; sie erinnern an die ins römische Reich einstürmenden
Germanen vor und während der Völkerwanderung, und man
kann sich fragen, ob in diesem unaufhaltsamen Vordrängen der
slawischen Rasse auf Kosten der germanischen nicht eine Art
geschichtlicher Notwendigkeit zu erkennen ist. Vielleicht hat der
Germane im Osten Europas seine Mission als Kulturbringer
erfüllt, wie seinerzeit der Römer gegenüber den Germanen, und
es kommt eine Zeit heran, in der die Slawen in den Vordergrund
der europäischen Geschichte treten werden. Die jugendliche Kraft,
die sich in dem Vordringen der Tschechen kundgibt und die auch
aus der für die moderne Geistesentwicklung so wichtig ge-
wordenen russischen Literatur (Tolstoi, Turgenjew, Dostojewsky,
Gorki) spricht, scheint dieser Vermutung nicht Unrecht zu geben.
Vielleicht gerade deshalb, weil die Deutschen in Böhmen diese
innere Kraft und Überlegenheit der Slawen nicht leugnen können,
wehren sie sich so erbittert gegen ihre Verdränger. Ob sie es
aber mit richtigen Mitteln tun, das ist eine andere Frage.
Der Kampf dreht sich in den drei Jahrzehnten bis heute haupt-
sächlich um die amtliche Verkehrssprache, um die Abgrenzung
einsprachiger Gebiete für den amtlichen Verkehr, um die Errichtung
von Schulen für die Minderheit und um die Bewegungsfreiheit
der Deutschen in Prag, das überwiegend von Tschechen bewohnt
ist. Sehen wir uns diese Streitpunkte etwas näher an.
242
1. Die amtliche Verkehrssprache und die Beamtenfrage.
Wie oben erwähnt, sind von 540 Landesbeamten in Böhmen nur
25 deutsche. Wie ist das zu eri^iären? Es werden offenbar nur
solche Beamte angestellt, die sich über die Kenntnis beider Landes-
sprachen ausweisen können ; denn es wird verlangt, dass zum
Beispiel ein Gerichtsbeamter die Verhandlungen in der Sprache führt,
in der die Klage eingereicht wird. Das kann auch in einem vorwiegend
deutschen Gebiet die tschechische Sprache sein, da überall Tsche-
chen wohnhaft sind. Während nun, wie wir oben gezeigt haben,
die Slawen im allgemeinen sich das Deutsche ohne Schwierigkeit
aneignen, halten es die Deutschen fast durchweg für ihrer un-
würdig, die Sprache eines „kulturell minderwertigen" Volkes zu
lernen oder gar zu gebrauchen. Sie sagen, man könne ihnen nicht
zumuten, ein Idiom, das nur in 3 österreichischen Kronländern
gesprochen werde, zur Amtssprache zu erheben. Sie anerkennen
also die Gleichberechtigung der zwei Sprachen nicht einmal in
Böhmen, wo die Tschechen bedeutend in der Mehrheit sind.
Dieser Standpunkt erscheint mir durchaus unhaltbar und un-
praktisch, und wenn die Deutschen sich immer wieder über Zu-
rücksetzung bei Ernennung von Landesbeamten beklagen, so ist
offenbar dieser einseitigen Auffassung die Schuld beizumessen.
2. Die Abgrenzung von einsprachigen Gebieten ist gegen-
wärtig die Hauptforderung der Deutschen. Böhmen soll in zwei
Teile mit gesonderter Verwaltung getrennt werden. Innerhalb
dieser Gebiete soll nur eine Sprache gelten und die anders-
sprechende Minderheit müsste sich wie in Ungarn bedingungslos
der Mehrheit fügen, also ihre Sprache und Nationalität aufgeben.
Diese Forderung scheint ebenso schön wie sie radikal ist, aber
sie ist wohl kaum in dieser Einfachheit durchzuführen; denn da
der Kampf der Nationalitäten einmal so weit gediehen ist, so
kann man kaum erwarten, dass sich die derzeit so großen Minder-
heiten in den zwei zu bildenden Landesteilen ihrer bisherigen
Rechte begeben würden. Wie sollte zum Beispiel Prag behandelt
werden? Es hat etwa 420 000 Einwohner, davon vielleicht noch
30000 Deutsche, meist Gebildete, welche wegen der hohen
Bildungsanstalten (Universität, Kunstakademie, Theater, Gymnasien)
oder wegen des Geschäftsbetriebs oder wegen der Regierung an
Prag sozusagen gebunden sind. Soll man sie verjagen oder wird
243
itian sie zu Tschechen mächen können? Doch ist es möglich,
dass durch eine beschränkte Abgrenzung der überwiegend ein-
sprachigen Gebiete etwas Ruhe geschaffen werden kann; in den
gemischten müsste dafür unbedingte Zweisprachigkeit gelten.
3. Die Errichtung von Schulen für die sprachliche Minder-
heit der Bevölkerung wird jedesmal zu einem Stein des Anstoßes.
Nach der Verfassung von 1867 hat jede Nation ausdrücklich das
Recht, die Schulbildung in ihrer eigenen Sprache zu erhalten.
Wollen aber die Tschechen in einer bisher deutsch verwalteten
Stadt, wohin sie durch die Industrie zu Tausenden gezogen wor-
den sind, eine eigene Schule errichten, so müssen sie sie jahrelang
durch nationale Sammlungen als Privatschule erhalten, bevor
die betreffende Gemeinde sie übernimmt. Während bei uns die
deutsche Bevölkerung und die Lehrerschaft die Errichtung be-
sonderer Schulklassen für die zugewanderten Italienerkinder
geradezu als eine Erleichterung empfindet und sie herbeiwünscht,
sehen es die deutsch-böhmischen Lehrer als nationale Pflicht an,
die Kinder der Tschechen in der deutschen Schule weiter zu
unterrichten, auch wenn jene in der Mehrzahl sind und dann
einen gedeihlichen Unterricht in der ihnen fremden Sprache zum
mindesten sehr fraglich erscheinen lassen. Sie glauben nämlich
diese Kinder dauernd dem Deutschtum zu gewinnen, sie zu ger-
manisieren. Umgekehrt erhält der deutsche Schulverein, ein na-
tionaler Bund, dem jeder Deutsch-Gesinnte sein Scherflein ent-
richtet, in den Gebieten, wo die deutsche Bevölkerung stark in
der Minderheit ist, seit Jahren mit großen Opfern deutsche Pri-
vatschulen, etwa so, wie wir Reformierte im katholischen Frei-
burg oder Wallis reformierte Schulen für unsere Glaubens-
genossen unterhalten.
4. Die Bewegungsfreiheit der Deutschen in Prag. Hiervon
war bereits mehrfach die Rede. Es ist an eine Verlegung der
Universität und der technischen Hochschule in deutsche Städte
des Nordens gedacht worden, wenn es dazu kommen sollte, dass
die Deutschen Prag als verlorenen Posten endgültig aufgeben
müssten. Einstweilen halten sie sich mit größter Anspannung ihrer
Kräfte, bei beständiger Befehdung durch den tschechischen Pöbel
und nur ungenügend geschützt von den Behörden, noch in der
Hauptstadt, und die Studenten suchen immer wieder ihren Aus--
244
gang in farbigen Mützen zu erzwingen. Wenn es aber weiter zu
solchen dauernden Unruhen wie im Herbst 1908 an sieben Sonn-
tagen hintereinander i^ommen sollte, so scheint der Augenblick
gekommen, wo die Deutschen am besten den Staub von der
slawischen Skandalstadt abschütteln und ihr Heim anderswQ
suchen.
Überblicken wir als Unbeteiligte die ganze Frage, an deren
Lösung sich die beiden Volksstämme in Böhmen seit Jahrzehnten
abquälen, so bietet sich nur eine radikale Lösung, die Aussicht
auf endgültige Beilegung des Streites gibt: die im ganzen Land
durchgeführte Zweisprachigkeit. Die Sprachenverordnungen, die
zu verschiedenen Zeiten und jetzt wieder 1909 von der Regie-
rung aufgestellt worden sind, gehen darauf hinaus, jedem das
Seine zu geben, möglichst sein Gebiet zu schonen; sie wagen
aber nicht, zur Gleichstellung der Sprachen in Böhmen zu schrei-
ten. Einer hat es gewagt, aber es ist ihm schlecht bekommen:
Badeni, der österreichische Ministerpräsident von 1897, ein ener-
gischer Politiker. Als aber seine Verordnungen bekannt wurden,
entfesselten sie einen Sturm der Empörung unter den Deutschen
hin und her, besonders in den Städten, und in Wien glaubten die der
alldeutschen Partei Abgeordneten ihre Gesinnung am besten dadurch
zu bezeugen, dass sie im Parlament eine jener großen Lärmszene
veranstalteten, die bald von ihnen, bald von den Tschechen her-
rührend, nun schon nicht mehr zu den Seltenheiten im parla-
mentarischen Leben Österreichs gehören: Pultdeckel werden laut
zugeklappt, der Präsident überschrieen und jegliche Verhandlung
unmöglich gemacht durch die Störung aller Ordnung. Der Prä-
sident griff zuletzt, als nichts mehr half, zu der für das Parlament
allerdings gefährlichen und erniedrigenden, aber durchaus begreif-
lichen Maßregel, die Ruhestörer durch eine Abteilung Polizisten
aus dem Saal entfernen zu lassen. In Wien wurde nun aber die
Haltung der Bevölkerung so gefährlich, dass der Kaiser seinen
Minister fallen ließ: der Chauvinismus hatte gesiegt, mit andern
Worten: die Politik der Straße.
Viele Deutsche in Böhmen haben jede Anhänglichkeit, jeden
inneren Zusammenhang mit dem Staate Österreich verloren. Wer
von vaterländischer, patriotischer Gesinnung spricht, kommt in
den Verdacht, ein Kriecher und Streber zu sein; nur „deutsche
245
Gesinnung" gilt als mannhaft. Dem Reichskanzler Bismarck, der die
Österreicher anno 1866 gedemütigt hat, wurde vor einigen Jahren
in Böhmen ein Denkmal errichtet. Auf den Vorwurf, dass die All-
deutschen nach Deutschland hinüberschielten, ertönte die Antwort
aus deren Lager: „Wir schielen nicht, wir schauen hinüber in das
Reich", und einer ihrer Abgeordneten schloss im Parlament seine
Rede mit einem Hoch auf die — Hohenzollern! Ob aber von
diesen den Deutschböhmen Hilfe kommen wird? — Die ge-
mäßigteren Nationalen arbeiten denn auch noch nicht (direkt)
auf einen Anschluss ans Reich hin, sondern suchen innerhalb
Österreichs die Gewähr ihrer Rechte. Ich zweifle aber, ob sie sie
je auf anderem Wege als auf dem völliger Gleichberechtigung
finden werden. Vielleicht wird der Tod des alten Kaisers auch
für die Entwicklung der nationalen Frage in Österreich große
Überraschungen bringen.
Das beste, was dieser erbitterte Kampf bis jetzt gezeitigt hat,
ist die warme Liebe der Deutschen zu ihrem Volkstum, das sie
gefährdet sehen. Alle ideale Gesinnung betätigen sie in dem an-
gestammten Volke. Mit großem Nachdruck pflegen sie besonders
ihre Sprache, suchen sie von fremden Bestandteilen zu reinigen
und haben in diesem Streben schon viel erreicht. Darin haben
auch wir deutsche Schweizer von ihnen zu lernen. Unsere Sprache
ist nicht durch den feindlichen Ansturm einer fremden, unauf-
haltsam vordringenden Rasse bedroht, aber ein bisschen mehr
Gefühl für [die Schönheit einer reinen Sprache gegenüber allen
den französischen und englischen Brocken, die sich besonders in
unser Hotel- und Sportdeutsch eingeschlichen haben, würde uns
wirklich nichts schaden. Auch wir lieben unsere Sprache und
wollen sie, soviel an uns ist, nicht herunterkommen lassen, sie
vielmehr ^durch eine sorgfältige und liebevolle Pflege zu Ehren
bringen.
FRAUENFELD TH. GREYERZ
246
LE THfiATRE ET LES LETTRES
LA TRILOGIE DE M. MATHIAS MORHARDT
M. Mathias Morhardt, qui est d'education et d'origine genevoises, a
fait representer les 15, 16 et 17 avril, ä Geneve, une serie de trois pieces:
A la Gloire d'aimer, La Princesse Helene, La Mort du Roi.
Cet ^venement dramatique etait prepare depuis longtemps. On avait
constitue un comite d'honneur qui reunissait une quantit^ de noms con-
nus des Arts, des Lettres et de la Politique. Le groupe qui avait assume
de mener ä bien cette entreprise difficile, s'appellait le „Comite genevois
de decentralisation theätrale". Ce titre est malheureux. La decentralisation
theätrale n'est point une idee de ces derniers mois. Je ne vois pas tres
bien ce que Ton veut decentraliser. Une teile expression aurait peut-
etre un sens de Province — je parle de Province fran^aise. En ce qui con-
cerne Geneve, les choses sont un peu differentes. II s'agit simplement
d'aider ä la realisation scenique d'oeuvres dramatiques inedites ou non,
de valeur indiscutable, dues ä des ecrivainsj de naissance ou d'education
romandes. On doit meme, si j'ai bien compris, ne pas attacher plus d'im-
portance qu'il ne sied ä cette question de nationalite, puisque j'ai entendu
parier du Parsifal de Wagner.
Bref, pour la premiere annee, le comite de decentralisation a fait
monter trois pieces de M. Morhardt, une par les soins de la Societe des
Amis de l'lnstruction : A la Gloire d'aimer \ et deux sur la scene du Grand
Theätre de Geneve, par les soins d'un metteur en scene de grand talent,
M. Chabance, et d'une troupe de professionnels recrutes pour la cir-
constance.
M. Morhardt est un travailleur modeste. Aucune des nombreuses
pieces qu'il a äcrites n'avaient encore ete representees. Pour la premiere
fois ses creations vivaient aux feux de la rampe. Le retentissement qu'ont
souleve ces representations a ^te tres grand. Les drames de M. Morhardt
sont des oeuvres originales, d'une technique hardie et particuliere ; les plus
deconcertantes ne sont point cependant des oeuvres mediocres. A la Gloire
d'aimer, representee par des amateurs sur une scene exigue a ete tres
discutee; lelendemain La Princesse Helene a etonne et emu, et le troisieme
soir La Mort du Roi fut un des plus beaux triomphes d'enthousiasme aux-
quels j'aie jamais assiste. Cette derniere piece est vraiment une tres belle
ceuvre, logiquement construite, noblement congue, et ecrite dans un style
d'une veritable grandeur. Ces trois pieces ont ete composees ä des
epoques differentes, et cela explique ce qu'on a pu reprocher de gauche-
rie, ä la Gloire d'aimer ou meme encore ä la Princesse Helene.
M Morhardt a pris dans l'histoire les sujets de ses pieces. A la Gloire
d'aimer est une transposition du drame de Meyerling, La Princesse Helene
est inspiree par la retentissante aventure d'une princesse allemande que
l'on reconnaitra sans peine, La Mort du Roi, enfin, c'est, embellie, transfi-
guree, la folie du roi Louis II de Baviere. Ces trois pieces cons-
tituent donc la trilogie allemande, si l'on veut, tandis que VEsprit nouveau,
La loi du Martyre et La circulation des ide'es, qui sont encore inedites,
constitueraient une trilogie frangaise. Mais - et ceci apparente M. Mathias
Morhardt aux plus grands dramaturges — s'il prend ses sujets dans l'his-
toire, il les depouille de toutes leurs paiticularites du moment pour les
247
hausser au rang de sujets universels, universeilement humains. Les criti-
ques I'ont dit et repete avant et apres les repr^sentations: le theätre de
Morhardt est du theätre d'idees, ce qui fait que leur auteur est plus un ideo-
logue qu'un animateur, un magnifique orateur lyrique qui s'exprime par la
bouche des personnages de ses pieces plutöt qu'un createur de types vi-
vant de notre vie, souffrant comme nous, et aux souffrances desquels nous
participons directement.
A la Gloire d'aimer comporte trois actes, dont le premier n'est qu'un
hors d'oeuvre. li represente une auberge de banlieue, oü les amis du prince
Robert — Valene, le professeur de Philosophie, Halese, Pelade et le capi-
taine — se livrent ä des faceties de rapins en attendant le prince heritier
lui-meme qui doit venir partager leurs plaisirs. Tout cela est un peu long
et n'est guere utile ä l'action de la piece. Enfin le prince arrive. II annonce
que, pour aimer librement, il a renonce ä ses droits au tröne de l'Empire.
II ne veut vivre que dans la gloire d'aimer. Nous voici donc maintenant au
coeur du sujet. Un prince, dont I'heritage est un des plus formidables em-
pires du monde, se libere et devient un homme ordinaire pour pouvoir
librement aimer. Le second acte, qui semble un peu brusque, nous montre
la famille de Romana, epioree par la faute de Madeleine, leur fille, qui s'est
donnee au prince Robert. Le scandale a eclate, et pour comble, le prince
rend le deshonneur des Romana public puisqu'il a renonce au tröne pour
vivre avec sa maitresse. Cette scene est la contre-partie de la derniere scene
du premier acte. Mais voici Madeleine elle-meme. Elle avoue ce qu'ils appellent
sa faute. Elle reclame son „droit au bonheur", et comme son frere Achille
de Romana veut la saisir pour l'enfermer chez eile, eile le cravache et
s'enfuit. Rideau. Ce second acte est dramatique, mais il ne semble pas tres
amene. Encore une fois, le theätre est l'art des preparations. Le troisieme
acte est le meilleur. II est meme, par endroits, d'une singuliere beaute. II
se scinde en trois dialogues, ecrits en une belle langue, forte, elo-
quente et pure. Le premier fait parier Robert et son professeur Valene.
Robert indique les mobiles de son action. II aime; l'amour contient en lui
sa volonte, son but, son destin. II se suffit ä lui-meme. II est au-dessus
des hommes et des volontes humaines. En vain Valene tente-t-il de mon-
trer au prince qu'en aimant, qu'en se donnant ä cet amour tout entier, il
ne s'est pas libere, mais qu'au contraire il a perdu sa liberte . . . le prince
s'obstine. Le second duo, c'est le grand duo d'amour de Madeleine et de
Robert: Ils s'exaltent Tun l'autre jusqu'au moment oü paratt l'Empereur.
Troisieme duo. Le Souverain reproche ä son fils d'avoir trahi son rang,
son nom, sa race. II lui represente son epouse epioree, sa mere en larmes,
lui-meme enfin, Empereur Charge d'annees, prive d'un heritier direct. Le
prince repond qu'il s'est libere, que tous les serments qu'il avait pretes dans
l'ignorance n'existent plus pour lui, et qu'il ne saurait „rentrer dans la nuit".
„Le mensonge s'est dissipe comme un nuage; il n'y a plus de force hu-
maine qui puisse ramener les tenebres jusqu'ä moi, je suis un homme
nouveau". Madeleine a tout entendu, et pour ne pas etre la cause de mal-
heurs monarchiques, eile se tue. Robert aftole se tue sur son cadavre.
Le drame finit sur cette double mort. C'est une transposition idealisee
grandie, epuree, du drame de Meyerling. Le dernier acte est impression-
248
nant. La piece de M. Morhardt date d'une vingtalne d'annees; eile paralt
encore incomplete et fragmentaire. C'est le dessin d'une tres belle oeuvre
qu'il refera peut-etre plus tard.
La Princesse Helene, la seconde piece de la trilogie, lui est infiniment
superieure. II y a entre ces deux oeuvres la difference d'une oeuvre de jeu-
nesse ä une oeuvre de maturite. Le sujet de cette piece est pris, lui aussi,
dans i'histoire contemporaine. Les lecteurs de Wissen und Leben verront
eux-memes de quoi il s'agit.
Le prince Helie de Los-Lilienbourg est un amant de la liberte, de la
iiberte absoiue, sans contrainte, sans entraves d'aucune espece. Comme le
prince Robert il a renonce ä tous ses droits. Son frere, le prince regnant
de Los-Lilienbourg l'a exiI6, puis rappele. Au declin de la vie, il a epouse
la jeune comtesse Helene de Harz. II l'a epousee, parce que jadis il a aime
la m^re, et qu'il veut rendre Helene heureuse, en la rendant libre. Helene
est une creature d'amour faite pour aimer, pour etre aimee. Sa vie ne peut
etre qu'une vie d'amour. Le prince Helie l'a bien compris. En fait il n'a
Jamals ete l'epoux de sa femme. 11 la lalsse independante et libre — abso-
lument. Le premier acte nous presente ce menage princier. Malheureuse-
ment, la nuit meme, Helene a ete arretee pour scandale, en compagnie
de quelques-uns de ses admirateurs. Le prince regnant donne ä Helie le
choix entre le divorce et l'exil. Helie choisit l'exil. Mais Helene desesperee
de ne pouvoir se dominer, s'ecrie — et c'est un des plus beaux mots de
la piece: „En me livrant ä la liberte tout entiere, vous m'avez livree au pire
esclavage." La nuit est tombee. Helle reflechit, et lorsque par hasard il
rencontre M. de Hohenbourg, l'amant actuel d'Helene, qui se rend chez
eile, il l'arrete habilement . . .
Le second acte se passe en exil — en Suisse, au pied de la Jung-
frau. Le prince Helie, toujours philosophe et toujours ami de la liberte
integrale, a invite les amis de sa femme ä les rejoindre. Voici d'abord
Hohenbourg qui reproche ä Helene de ne plus l'aimer et d'en aimer un
autre: „Je me suis donnee ä vous, lui dit-elle, je ne vous ai pas donne
ma fidelite". Elle aime en effet Fritz Molders: cela la desespere, mais eile
n'y peut rien. Elle demande conseil ä son vieil ami le professeur Blumen-
feld, qui ne sait que lui dire. Elle conclut alors melancoliquement: „Nous
sommes les victimes de nous-memes." Puis Fritz Molders, arrive, lui aussi,
est jaloux, jaloux de Hohenbourg. „Mon Dieu! s'ecrie Helene, que ne
suis-je süre de vous aimer jusqu'ä la mort!" Mais son amour engendre la
haine, et les deux amants, jadis amis, en viennent presque aux mains. Le
troisieme acte est la replique du second. Helene n'aime plus Molders,
eile aime Frederic, ä qui eile s'est donnee. „Quelle misere que nous-
meme" s'ecrie-t-elle devant sa propre vie. Mais les deux premiers amants?
Molders s'en ira, oublier loin du monde l'amour d'Helene. Hohenbourg,
un violent, apres une explication, la tue. Helie qui survient lui tend le re-
volver, et l'amant meurtrier tombe sur le corps de celle qu'il a aimee jus-
qu'ä la mort! C'est le drame de la fatalite de l'amour. J'imagine bien que
ce n'est pas sans raison que M. Morhardt appelle son heroine Helene. II
a songe ä l'Helene antique, ä celle dont l'amour etait irresistible et fatal, et
qui, sans le vouloir jamais, engendra la haine, le meurtre et la guerre. La
Princesse Helene contient de magnifiques parties, mais il semble bien que
ce soient les parties purement intellectuelles. La psychologie de la prin-
249
cesse Helene reste partielle plutot que complexe. Cela s'expliqae.
M. Morhardt est un poete — meme un grand poete — qui fait du theätre
d'id^es, et qui prend des personnages plus ou moins reels pour en faire
les incarnations de ces id^es. D'un evenement en somme banal — car
que sont au fond ces deux aventures princieres? — il prend l'idee pure et
la magnifie, l'idealise. Le personnage le mieux reussi, c'est le prince Helie.
11 ressemble ä Rank de Maison de poupe'e. Raisonneur melancolique et
äpre il profere des sentences parfois admirables, admirablement exprimees
en un style d'une richesse prestigieuse.
La Mort du Roi, la derniere piece de la trilogie, est aussi la derniere
en date dans la succession des pieces de M. Morhardt. C'est la plus belle,
la plus parfaite. II s'agit ici de peindre un roi fou — ou que son entourage
tientpour fou. — Evidemment, il s'agit de Louis II de Baviire, et de sa mort
dramatique. M. Morhardt, comme dans les pieces precedentes, a reduit
l'action ä son minimum. Comme Shakespeare s'est servi, pour exhaler
son lyrisme, d'Hamlet, ou du roi Lear, M. Morhardt s'est servi de ce Roi que
le conseiller professeur Billingdorff tient pour un fou dangereux . . . Voyons
la piece. Au premier acte le roi fait part ä ses chambellans et ä son architecte
Weissenkranz de ses reves grandioses. II veut incarner l'ideal, sa vision
en une oeuvre humaine, un temple magnifique, au bord du lac, dans le-
quel s'eleverait la statue en or du Poete, CEuvre du genial sculpteur Feuer-
strom. Mais Billingdorff qui assiste ä la scene, veillera. On ne peut dire
cependant au peuple que le roi est fou, le peuple ne le croirait pas . . .
Au second acte nous sommes chez Feuerstrom. C'est l'acte qui a le plus
porte ä la representation. Le rideau est descendu au milieu d'acclamations
formidables. Voici ce que c'est: Feuerstrom, le vieux sculpteur de genie, est
au milieu de ses eleves. 11 expose les idees cheres ä Rodin. L'Art est l'imi-
tation de la nature et de la vie. La vie est parfaite, l'homme est „un temple
vivant qui marche". La nature est incomparable parce qu'elle est la nature . . .
Les conseillers du Roi surviennent alors et informent Feuerstrom que le sou-
verain a perdu la raison et qu'il sied de l'enfermer. Feuerstrom ne peut
les croire: lui et le Roi sont de la meme famille. Et lorsque le chancelier
Donnertweg lui demande de se faire leur complice pour l'attirer dans un
lieu designe et l'interner, il refuse avec indignation. 11s se retirent. Le Roi
lui-meme, comme chaque jour, vient rendre visite ä Feuerstrom. Le Roi et
i'artiste s'exaltent Tun pour l'autre, et leur dialogue est d'une puissance,
d'une ampleur, d'un lyrisme prodigieux. Cela n'a d'egal que les plus belies
imaginations d'Ibsen ou de Villiers-de-l'lsle-Adam (Axel) et meme l'on
songe sans peine ä Shakespeare" „Dire!" — s'ecrie le Roi — „qu'il aurait
suffi que chaque siede dressät, ä la lisiere d'un champ, la Silhouette du
laboureur, pour ecrire l'histoire indestructible de l'humanite."
Le troisieme acte est plus court. Un parc delaisse. Deux jardiniers
ramassent des feuilles mortes, car c'est octobre. Le Roi survient, tete nue,
echevele. Comme Hamlet aux fossoyeurs, il leur tient de magnifiques dis-
cours, sur l'impossibilite de realiser son Reve. Mais Billingdorff et les con-
seillers sont ä sa poursuite. Comprenant que tous ses reves sont des folies
pour le commun des hommes, il monte sur le rocher oü devait s'elever le
temple du Poete. Billingdorff va l'y rejoindre, et le Roi, l'entratnant avec
lui, se precipite dans le lac! Avec lui meurt le Genie que tue sa propre
impuissance!
250
Je n'ai pas accoutum^, pour juger !me piece, de tenir compte du suc-
ces que lui fait le public. Le public se trompe souvent. Si A la Gloire d'aimer
— Oeuvre indecise — avait laisse une impression mitigee; si La Princesse
Helene — ceuvre encore fragmentaire — avait force l'admiration, La Mort
du Roi a connu le triomphe. Ce triomphe est merite. C'est une oeuvre
magnifique, enorme, grandiose, eclairee par la flamme du genie. Je le dis
parce que c'est ma conviction absolue, profonde. Cette oeuvre sera jouee
ailleurs, eile sera traduite et prendra place ä cöte des plus belles oeuvres
de theätre que l'on connaisse. Elle est emouvante; plusieurs scenes pro-
curent — sans image — le frisson de la ßeaute. Mathias Morhardt est un
solitaire. Ses oeuvres sont le fruit de trente ans de travail obstine, loin de
la Foire sur la place, loin des officines qui fönt et defont les reputations.
II a voulu que sa ville natale füt la premiere ä le connattre et ä l'admirer.
Le succes de La Mort du Roi, de cette oeuvre si haute, est la legitime r€-
compense d'une foi, d'une probite emouvantes. Et maintenant, s'il faut con-
clure, il sied de se rejouir grandement du succes qu'a empörte M. Mor-
hardt. Ce n'est point un succes de snobisme, c'est encore moins un succes
de bluff. La Suisse romande a un dramaturge et un grand ecrivain de plus
— ou plutot eile vient de le consacrer. Et puisque, en dehors des efforts
du Theätre de la Comedie, il est question de creer une Saison de Geneve,
chaque printemps, souhaitons qu'elle contribue, en nous revelant des oeu-
vres de la valeur des pieces de M. Morhardt, ä donner au theätre d'idees
et au veritable theätre d'art la place qui lui revient.
GENEVE GEORGES GOLAY
ODD
BERLINER FRÜHJAHRSSAISON
Im April, u'enn die Theater ihre Erfolgstücke in die Provinz oder ins
Ausland tragen, wird es in Berlin stiller. Das Repertoire besteht aus alten
Ladenhütern, die Besetzung aus zweiten, dritten oder gar siebenten Kräften.
Die Größen gastieren, der Fremde lernt die hauptstädtischen Bühnen nicht
kennen. Nur an leichtere Schwanke wendet man noch einen Rest von
Mühe. So gab es in den Kammerspielen, die immer mehr ein Konversations-
theater geworden sind, ein Lustspiel von Sacha Guitry: Die Einnahme
von Berg- op- Zoom. Es ist amüsant, weil Guitry geschickt mit szenischen
Pointen arbeitet. Der Titel deutet darauf hin. Ein Polizeipräfekt prophe-
zeit der Frau, die er liebt, dass er am Datum der Einnahme von Berg-op-
Zoom ihren Widerstand besiegt haben wird. Einige Minuten später liegt sie
in seinen Armen und reißt die trennenden Kalenderblätter verschämt ab.
Dieser Requisitenwitz weist über die sonstigen Kulissenscherze des französi-
schen Schwankes hinaus. Und man könnte bei geringen Ansprüchen fast an-
nehmen, dass Guitry eine Entwicklung der französischen Boulevardleichtig-
keiten bedeutete, wenn er im ersten und zweiten Akt nicht den alten Schwindel
mitmachte. Trottelkomik, Gegenstandsulk, Wirrwarr, sich öffnende Logen-
türen, Milieuwitze schaffen ein Durcheinander und lenken ebenso auf eine
andere Gattung wie auf einen andern Inhalt. Erst im dritten Akt erfährt
man, auf welches Niveau und auf welche Handlung man sich einstellen soll.
Dieser Zwiespalt macht das als Partitur für Darsteller und Regisseur oft
251
feine und anregende Lustspiel lebensunfähig. Der Regisseur hatte die Par-
titur wenig, die Darsteller Hans Wassmann und Jakob Tiedtke hatten sie
vortrefflich verstanden. Den größten Beifall allerdings heimste Leopoldine
Konstantin in der Rolle der sich verweigernden, nachgebenden und doch
anständigen Frau ein. Leopoldine Konstantin ist Berlins beliebteste Salon-
schauspielerin. Sie ist schön, wenn auch ein wenig puppenhaft, sie geht
leicht, wenn auch ein wenig duvieurhaft, und versteht sich zu kleiden. Vor-
teile genug 1 Nur dass ihre schauspielerischen Fähigkeiten über eine äußere
Gewandtheit nicht hinauskommen, und in großen Rollen die sprachliche Nüan-
cierung arm bleibt. Eine Darstellerin wie Tilly Waldegg ist ihr überlegen,
die kitschig wird, wenn sie sich auf anspruchsvolles Gebiet wagt, die aber
in der Salonkonversation nicht ohne Reiz ist. Tilly Waldegg gab im The-
ater in der Königgrätzerstraße die ehebrechende Gattin in Lothar Schmidts
Lustspiel: Das Buch einer Frau. Hier ist französische Technik, französi-
scher Witz, französischer Stoff berlinisiert. Aber das Berlinische hat keine
Durchschlagskraft. Es hat nicht geschärft und gehärtet, es hat vergröbert.
Die Morallosigkeit ist nicht frei, sondern lüstern, die Leichtigkeit schwitzt
und die Pointe kommt nicht ohne Kommisgrinsen zustande. Aber damit
niemand sich beunruhigt fühlt: zwischen Deutlichkeiten weht es sanft wie
in den Fliegenden Blättern. Dennoch hätte Lothar Schmidt die Begabung
zu einer neuberlinischen Komödie. Das Erfordernis wäre nur, dass er alle
französischen Lustspiele vergäße, sowohl die alten, unanständigen wie die
neuen, anständigen, und höchstens das herübernähme, was seinem eigenen
Talente, wie die besten Szenen im Buch einer Frau zeigen, auch liegt:
die Ausbildung der szenischen, der pantomimischen Pointe. Denn hier, im
rein Technischen, nicht in einer andern ethischen Einstellung, scheint mir
fürs erste die Entwicklung des Unterhaltungsstückes zu liegen. Diese szeni-
sche Punktierung soll nicht mit Tricks, Verwandlungen und Überraschungen
arbeiten, sie soll nicht die alte Situationskomik erneuern, sie soll keine
Beschwerung, sondern eine Entlastung des Wortwitzes bilden. Das Spiel
wird leichter, phantastischer und im Gewagtesten reiner, wenn eine pan-
tomimische Symbolik die Dialogpointen entmaterialisiert, indem sie sie
ironisiert. Das hat nicht nur Sacha Guitry mit seinen abgerissenen Ka-
lenderblättern gezeigt, das zeigt auch ein Schauspieler wie Eugen Burg, der
für die Deutlichkeiten Lothar Schmidts marionettenhaft karrikierende Be-
gleitgebärden erfindet, die den Witz distanzleren. Wenn Herr Burg nicht
manchmal noch schmunzelnd auf seine eigenen Gesten hinwiese und so
wieder verdeutlichte, wäre das der Stil, den ich meine und den Otto Gebühr
für den betrogenen Gatten nur deswegen nicht nötig hat, weil er alles auf
sein humoristisches Naturell zurückführen kann.
Die Wagnisse waren musikalische. Der Kapellmeister Richard Falk
veranstaltete eine Sonderaufführung von Paisiellos Barbier von Sevilla.
Zweifellos würde Paisiello heute im Repertoire der besseren Bühnen stehen,
wenn Rossini später den selben Stoff nicht noch einmal komponiert hätte.
Ohne Vergleiche behauptet sich Paisiello durchaus. Er ist witzig in einigen
Ensemblesätzen und, hier darf man nebeneinander stellen: lyrisch wahrer
als Rossini. Was fehlt, ist markante Betonung, durchgehender Strom, Fülle
des ganzen. Im übrigen scheint die Verwandtschaft mit Mozart größer als
mit Rossini. Mozart hat Paisiello überwunden, weil er seine Art steigerte
und vollendete, Rossini, weil er mit sicheren Mitteln einen ähnlichen Text
252
komponierte. Für singende Darsteller ist Paisiellos Oper ein Vergnügen.
Die Musik ist an vielen Stellen geradezu mimisch. Francesco d'Andrade
sang den Barbier. Wenn es zwei Gruppen von Sängern gibt, eine, die mit
der Sinnlichkeit ihrer Stimme ohne körperliche Aktivität körperlich-schau-
spielerische Eindrücke geben — ihr vornehmster Vertreter ist das Stimmen-
genie Jadlowker — und eine andere, denen der Gesang die Folge körper-
lichen Spieltriebs ist, so bedeutet d'Andrade die letzte Ausprägung der
zweiten Art. Sein Gesang ist Akzent und Gebärde. Romanisches Rassen-
temperament gibt eine Nüancierung ohne gleichen. Alles ist Beweglichkeit,
Laune, Schwerlosigkeit, Grazie. Die übermütigsten Einfälle sind phan-
tastisch legitimiert. Eine Gestalt d'Andrades ist eine geniale Improvisation.
Das Opernhaus in Charlottenburg gab, als deutsche Uraufführung,
Puccinis Mädchen aus dem goldenen Westen. Gewiss, es ist ein Reißer
von gewalttätigster Agressivität : die Häufung der Spannungen geht bis zur
äußersten Grenze, wo die Erregung sich selbst durch Lachen befriedigt.
Trotzdem habe ich eine versteckte Schwärmerei für diese Oper, weil sie
sich zu ihrem Reißertum bekennt. Die Musik Puccinis täuscht nicht vor
und übernimmt sich nicht. Sie brutalisiert, aber sie hat das künstlerische
Recht auf ihre Brutalität, weil sie die Energie, die Kraft und das Tempera-
ment dazu hat. Auf jeden Fall sind mir musikalische Nervenattacken lieber
als blasse Mythenopern schwächlicher Wagnerepigonen. Das Deutsche
Opernhaus gab von der schwierigen Massenoper eine ausgezeichnete ge-
schlossene, durchgearbeitete Vorstellung, die auch im Dekorativen geschickt,
nur nicht ganz kitschfrei war. Ebenfalls im Deutschen Opernhaus wurde
Ernst von Dohnänyis Pantomime Der Schleier der Pierette aufgeführt.
Die szenische Unterlage stammt von Arthur Schnitzler. Sie ist energisch,
wirksam. Sie hat Empfindung für die Verdeutlichung durch die Gebärde.
Aber dieses Gefühl war nicht stark genug, alles Ballettmäßige abzustoßen.
So kommt es zu Geistererscheinungen und überflüssigen Gesellschafts-
szenen. Die letzte Konzentration fehlt, die die Musik Dohnänyis hat.
Sie ist drängend, zwingend. Sie ist körperlich, deutlich. Sie hat etwas
Unerbittliches in dem Verlangen nach Ausdruck und Geste.
Auch diese Pantomime kam in Charlottenburg überzeugend heraus.
Im Hinblick auf die ungewöhnliche Leistungsfähigkeit der Volksoper er-
scheint die Trägheit des Königlichen Opernhauses nur noch beschämender.
Was ist das für ein Institut, das in acht Monaten eine Premiere und drei
Neueinstudierungen gewagt hat! Das Königliche Schauspielhaus ist schon
längst dem Gelächter ausgeliefert. Dabei könnte alles besser sein, wenn
das Abgeordnetenhaus den Etat verweigern und die Tagespresse sich end-
lich zu einem einmütigen Protest aufraffen würde. Anzeichen des Unwillens
melden sich. Aber so lange es Kritiker gibt, die primanerhafte Albernheiten»
wie das sogenannte Künstlerdrama Veit Stoß von Tim Klein ernst nehmen,
wird eine Reform aussichtslos sein.
Man kann nicht über Berliner Theater schreiben, ohne sich mit dem
Kientopp zu beschäftigen. Täglich wachsen ihm neue Stätten zu und es
ist ein beliebtes Zeitungsthema, seine Gefahren für das reguläre Theater
abzuschätzen. Die Konkurrenzmöglichkeit wird übertrieben. Gerade die
ernsten Bühnen haben von ihm wenig zu fürchten. Niemand wird sich
durch Filmdramatik von Shakespeare abhalten lassen. Ängstlich müssen
hur die Unterhaltungstheater werden, denn der Kientopp versucht sie auf
253
ihrem eigenen Felde zu schlagen. Er appelliert an die selben Instinkte,
die das Publikum zur Posse und zur Kolportageromantik treiben und be-
friedigt sie auf bequemerem Wege. Aber ist es ein so großer Verlust, wenn
einige Amüsiertheater zugrunde gehen? Wird nicht im Gegenteil eine rein-
lichere Scheidung möglich sein: das Theater der Kunst, der Kientopp der
Unterhaltung? Dabei ist im Augenblick für ein originelles Possenunter-
nehmen noch nicht einmal eine Konkurrenz zu besorgen, weil die Film-
schwänke blöde sind. Nur die Vorstadttheater sind jetzt schon erledigt,
weil die grausigen Räubergeschichten, die sie pflegen, an Verwegenheit
längst vom Kientopp übertroffen sind. Das künstlerische Theater wird
auch deshalb nicht verdrängt werden, weil die Entwicklung des Filmschau-
spiels, wenn es eine solche geben sollte, nach entgegengesetzter Seite gehen
müsste: vom Drama zum Epos, von der Szene zum Bild, vom Schauspie-
lerischen zum Pantomimischen. Eine Gefahr besteht nur für die Bühnen-
darsteller, Da ihre Filmtätigkeit gut bezahlt wird, werden sie sich nicht
überzeugen lassen, dass Filmdarstellung und Bühnendarstellung Gegensätze
sind. (Bassermann war im Film einfach schlecht; Asta Nielsen, die doch,
weiß Gott, kitschig, leer, temperamentlos und schauspielerisch ohne Belang
ist, weiß wenigstens, worauf es im Film ankommt und hat Stil.) Der Schau-
spieler wird unsicher, zwingt sich zu einer fremden Ausdrucksart, verdeut-
licht und verliert auf der Bühne das Gefühl für Diskretion. Aber vielleicht
geht auch diese Gefahr vorüber, die Berufe teilen sich, man wird Film-
schauspieler oder Bühnenschauspieler. Dann haben die Lichtspiele den
Zustrom der Theatermitglieder nicht nötig und bezahlen den Bühnenkünstler
nicht mehr.
BERLIN HERBERT JHERINQ
D D D
SCHAUSPIELABENDE
Herbert Eulenbergs Belinde. Das „Liebesstück" hat den Volks-Schiller-
preis erhalten. Weder mit dem Volk noch mit Schiller hat es das Mindeste
gemein. Sicherlich hat der Dichter nie, auch nur von ferne beim Konzi-
pieren und Schreiben seines Werkes an das Volk oder an Schillers Drama
gedacht. Hat er überhaupt an die reale Bühne gedacht? Es ist, als hätte ein
nachgeborner Romantiker das Stück, oder sagen wir besser: das Spiel, dieses
Liebesspiel geschaffen. Man schlägt das Buch auf. Bei den Personen
stoßen wir auf folgende Zusätze : Hyazinth, „ein Mensch vom letzten Adel",
Roger, „der Jüngling", Moritz, „ein schönlicher, kleiner Buckel". „Der Schau-
platz aller fünf Akte ist Belindens Haus und Herz, gestern, heut und
morgen". Wir drehen die Seite und finden vier Stanzen: „Verse auf ihre
Urne gestreut". Die zweite Strophe lautet:
Ich träumte dich im violetten Schatten
Des geist- und blutsverwandten Bruders stehen.
Du dachtest stumm an den verschollenen Gatten
Und sahst ihn immer weiter von dir gehen
Auf fernen Meeren, Inseln, wüsten Watten,
Die Zeit ließ seine letzte Spur verwehen.
Da musste selbst ein Herz wie deins ermatten.
Und es begann ganz leise sich zu drehen.
Auf solche Melodien ist das Stück angelegt : auf Zärtliches, Sehnsüch-
tiges, Verschwimmendes, Verzeihendes. Aber die romantische Ironie bleibt
254
nicht aus — „und es begann ganz leise sich zu drehen". Wir finden sie
auch sonst: in der Vermischung abgeblühter Namen mit Gegen wartsatmo-
sphäre, in der Wahl von Todesarten, die dem Heroismus (des Todes für
ein heiß- und einziggeliebtes Wesen) einen Stich ins Komische geben: dem
Sicherschießen einem amerikanischen Duell zufolge; dem Sichverhungern,
beginnend mit dem schlagkräftigen Abweisen eines Zinntellers mit Austern.
Und Belinde, die aus dem Leben und damit ihren Herzenskonflikten aus
dem Wege geht (wem soll sie die Treue halten : dem Gatten, der wieder
heim kam, während er für verschollen galt, oder seinem Ersatzmann, dem
Jüngling, der lieber aus der Welt ging, als freiwillig auf Belinde zu ver-
zichten?) — Belinde stiehlt, um sich den Tod beizubringen, dem Bruder
Hyazinth die Morphiumpulver, die ihm einzig und allein das gemeine Leben
erträglich machen.
Die Ironie spöttelt in das Drama hinein. Sie hat sogar in diesem Hya-
zinth eine Figur geschaffen, um die sämtliche Romantiker Herbert Eulenberg
beneiden dürfen: den aus Ästhetizismus nur par distance Liehenden — „ich
liebe in die Ferne, so etwas Herrliches lässt man doch nicht erwidern. Ich
lebe der unsterblichen, unerfüllten Liebe", so spricht er zu Belinde — , den
Mann mit den Handschuhen, der vor der Sinnenwelt zurückschreckt; sich
ein Wolkenkukuksheim zurecht macht, in dem nur mit irrealen Größen
gerechnet wird und die Dinge dieser Welt mit einer pflichtwidrigen Nach-
lässigkeit, mit einem selbstbewussten Zynismus behandelt werden, die ans
Strafbare grenzen ; der sich zum Gericht an sich selbst durchaus nicht ent-
schließen kann, weil er alles Irdische zu sehr als irrelevant zu betrachten
sich gewöhnt hat und darum auf den sogenannten Ehrenkodex pfeift. Trotz
den zärtlichen, liebkosenden Stanzen an Belinde kommt man von dem
Eindruck nicht los, als ob Eulenberg dieser Hyazinth immer mehr die Haupt-
person seines Stückes geworden wäre, nicht bloß als genial erdachte Kon-
trastfigur zu den drei Liebenden, Belinde, ihrem Gatten und „dem" Jüng-
ling, die an ihrer Leidenschaft zugrunde gehen, während Hyazinth für etwas
zu sterben, was wir in Wirklickeit gar nicht besitzen, was er nur aus der
Ferne adorieren will, nicht die mindeste Lust hat, auch dann nicht, als er
sieht, dass er mit seinem Phantasie-Ideal recht schlimm in den Kot hin-
eingeraten ist.
„Und alles war ein Spiel." Das ist's, was letzten Endes dieses Liebes-
stück zu einem schlechten Drama macht. Es ist, als habe der Dichter ab-
sichtlich alles getan, um in uns keine tiefere Anteilnahme an seinen Figuren
des Liebesdramas aufkommen zu lassen. Wir hören sie nur reden, wir
sehen ihnen nicht ins Herz. Sie kämpfen auch nicht. Sie bleiben hinter
einem Schleier. Bezeichnend, wie in diesem Stück die Personen auf die
Bühne treten und von ihr abgehen. Wie in einem Taubenschlag. Sie sind
da, sie verschwinden nach reiner Dichterwillkür. Er braucht sie just, er
braucht sie just nicht: das regelt die Türbewegungen. Hat Eulenberg wirk-
lich an die Bühne gedacht?— In den Stil seiner Verse (und neben diesen
steht, auch wieder mehr willkürlich als aus innerer Notwendigkeit oder
tieferer seelischer Konsequenz, Prosa; Hyazinth wird der Vers versagt) —
in den Stil dieser Verse, in ihre Form hat Eulenberg sein poetisches
Künstlertum voll und rein einströmen lassen. Schade, dass diese dichteri-
schen Schönheiten mehr nur wie ein prachtvolles Kleid sich ausnehmen;
dass das geistvoll Gedachte, seelisch Erleuchtete so vieler Stellen wesent-
255
lieh den funkelnden Glanz aufhellender Aphorismen hat. Und wir lechzen
danach, Menschen von Fleisch und Blut reden zu hören, den tiefen Seelen-
klang von Menschen zu hören, die an Eros höchste Seligkeit erleben und
höchste Bitterkeit erleiden.
Kerr schrieb einmal von Eulenberg — bei Anlass des Dramas Der
natürliche Vater: „Ist Eulenberg ein Dichter? Menschlich ist er es: im
Sinn eines innerlich dahinblühenden Mannes, Künstlerisch? Es lässt sich
äußern : er hat mancherlei Stoff zu einem Dichter . , . Dies aber äußern
wir nun schon seit zehn Jahren, zum Donnerwetter, Wann macht er Ernst?*
Das war Anfang 1910. Auch die Belinde von 1912 ist noch keine Erfüllung.
Aber auch von ihr kann gesagt werden, was der Berliner Kritiker damals
beifügte: „Trotz alledem singt in mir beim Gedanken an dieses Stück auch
ein Gedanken an Schönheit." Und dann, wie gesagt, bleibt die Gestalt
des Hyazinth.
ZÜRICH H. TROG
D D D
KURZE ANZEIGEN
Im Verlag von Herder, Freiburg i. B., ist der dritte Band des Lehrbuches
der Nationalökonomie von Heinrich Pesch S. J. erschienen. Es hat einen
Umfang von beinahe 950 Seiten und behandelt die allgemeine Volkswirt-
schaftslehre. Der Verleger will in diesem Teile „die aktiven Ursachen im
volkswirtschaftlichen Lebensprozesse" klarlegen. Schon die ersten beiden
Bände des hochbedeutenden greisen Jesuiten haben auch bei der religiös
total indifferenten deutschen Fachkritik die verdiente Anerkennung gefunden.
Der katholisch-soziale Standpunkt tritt nirgends aufdringlich hervor, wohl
aber treffen wir überall eine tolerante Haltung gegenüber anderen Lehr-
meinungen an. Das Werk von Pesch darf neben die besten Lehrbücher
der modernen Nationalökonomie gestellt werden ; die theoretischen For-
mulierungen sind so scharf und klar und die Darstellung hält sich absolut
frei von allem überflüssigen Beiwerk, dass die Lektüre des Werkes zum
erhabenen Genuss wird. Die meisten Urteile, die Pesch fällt, gründen sich
auf sorgfältige theoretische Kenntnisse und eine tiefe Einsicht in die mo-
dernen wirtschftlichen und sozialen Zusammenhänge. Wie gewandt Pesch
schwere theoretische Probleme meistert, zeigen die Ausführungen über die
gegenwärtige Krisis in der Nationalökonomie.
Die ersten beiden Bände sind bei uns wenig bekannt. Sollen wir das
Gute, ja das Hervorragende, wenn es von der „anderen Seite" kommt, grund-
sätzlich ignorieren? Das wäre eine Borniertheit, die sich rächen könnte.
Oder sollte uns ein Gruseln befallen, wenn zufällig einer die Buchstaben
S. J. hinter seinen titellosen Namen setzt? E. Fueter hat in seiner groß-
angelegten Geschichte der neueren Historiographie gegen allen Usus auch
der Geschichtschreibung der Jesuiten Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Darf man es, wenn sie auf nationalökonmischem Gebiete etwas Tüchtiges
leisten, nicht auch tun?
ZÜRICH PAUL GYGAX
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750'
256
SARAJEVO
MAX BUCHERER 1912
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Depuis longtemps on n'a vu Situation aussi embrouillee pour
une election au Conseil Federal. C'est une melee confuse des
partis, des regions et des interets; on invoque les „principes"
les plus divers; mais je cherche en vain l'idee federale.
Au moment oü j'ecris ces lignes (mercredi 28 mai), voici la
liste des candidats: M. Calonder, presente par les radicaux grisons;
M. Marc Peter, candidat officiel des radicaux genevois; le colo-
nel Audeoud, energiquement soutenu par le Journal de Geneve;
M. Couchepin, presente par le Confedere. Neuchätel hesite entre
M. Pettavel et M. Calame. Les jeunes-radicaux genevois semblent
ne pas renoncer ä la candidature Rosier; et d'autres encore reser-
vent (dit-on), pour le dernier moment, une candidature Char-
bonnet. M. von Planta s'efface devant M. Calonder, et c'est un
geste chevaleresque ä remarquer tout particulierement.
Verrons-nous surgir d'autres candidatures encore? C'est tres
possible, puisque nos hommes politiques semblent avoir perdu
le sens de l'orientation. D'oü provient ce foisonnement inusite?
La Suisse romande estime que M. Motta represente au Con-
seil Federal, non le Tessin, mais la minorite catholique, et des
lors, eile demande ä avoir, ä cote de M. Decoppet, un deuxieme
representant. En admettant que ces premisses soient justes, il
importait de se mettre d'accord sur le nom d'un candidat de
valeur indiscutable; si la Suisse romande avait presente M.Eu-
gene Borel, l'election etait assuree; mais M. Borel, ne Neuchäteiois
et habitant Geneve , est un „deracine" ; defaut physique, auquel
s'ajoute cette tare morale: de n'etre pas aveuglement soumis ä
la discipline radicale. Voilä pourquoi on a ecarte d'emblee un
homme de tres grande valeur . . . Resultat? le gächis. M. Peter,
257
inconnu en dehors de Qeneve, n'a aucune chance de reussir;
M. Audeoud, de premier ordre comme homme et comme chef
militaire, n'a point encore accepte de candider contre M. Calon-
der, et reconnait lui-meme, avec une belle franchise, que ses
soixante ans sont un obstacle serieux. Le nom de M. Couche-
pin est-il presente avec son consentement? La candidature est cer-
tainement interessante, tres sympathique; il ne faut pas la perdre
de vue; mais dans les circonstances presentes, eile a peu de chan-
ces. — En resume: la Suisse romande ecarte, sans discussion,
Thomme le plus qualifie, qui serait M. Borel ; et eile eparpille
ses voix sur six ou sept candidats. Si ia Suisse allemande choisit
ailleurs, la faute n'en sera vraiment pas ä eile.
Du reste, les premisses posees plus haut sont-elles bien
exactes? M. Motta ne represente-t-il que la minorite catholique?
Le Vaterland l'affirme, et se trouve d'accord, pour une fois,
avec le Journal de Geneve; mais pour des raisons tres differen-
tes. Le caractere et la grande intelligence de M. Motta lui don-
nent certainement une autre notion de ses devoirs actuels; il peut
fort bien defendre les interets legitimes d'une minorite sans
s'enfermer dans cette minorite; et il me parait qu'il represente,
d'une fa^on tout ä fait remarquabie, la mentalite latlne au Conseil
Federal ; on grandit les hommes en faisant appe! ä ce qu'ils ont
de plus hautet de plus libre; voir en M. Motta exclusivement le
Tessinois et le catholique, c'est contredire etrangement la recep-
tion faite en mars au poete Chiesa, c'est pratiquer des idees
etroites et intolerantes, funestes ä l'idee suisse.
De fait, la Suisse latine a deux representants au Conseil
Federal; je voudrais qu'elle en eut trois et je vais plus loin en-
core: ä toutes les raisons organiques qui parlent en faveur d'un
Conseil de neaf membres, s'ajoute cette raison pratique qu'une
repartition plus equitable des Sieges en serait tres facilitee. Dans
un Conseil de neuf membres, les cinq cantons ä grandes villes
devraient etre toujours representes, s'ils ont les hommes neces-
saires (Bäle, Berne, Qeneve, Vaud, Zürich); et les quatre autres
Sieges serviraient ä equilibrer la representation des minorites,
langues et regions. Avec le Systeme de sept membres on se heurte
fatalement ä des difficultes, qui sont ressenties par quelque region
comme autant d'injustices.
L'an dernier, lors de la succession Deucher, M. Calonder
etait dejä en premiere ligne, et l'election de M. Schulthess fut une
258
surprise. li n'y a pas lieu de revenir sur les 'details de cette sur-
prise, si ce n'est pour constater que les Grisons ont ete froisses
par le mode de proceder plus encore que par l'echec de leur can-
didat; ils ont manifeste leur colere bruyamment, et ils ont meme
boude ; dans la vie politique, la bouderie est une taute plus grave
encore que dans la vie individuelle; mais enfin, le fait essentiel c'est
que les titres indiscutables de M. Calonder n'ont pas varie depuis
un an. Lui reprocher son vote dans l'affaire du Gothard, ou
combattre en sa personne le projet du Splugen, c'est un vilain
procede. II Importe que le Splugen se discute loyalement, au
grand jour, et non au scrutin secret d'une election. Les affaires
de chemins de fer introduisent chez nous des moeurs de suspi-
cion et des ostracismes indignes d'une saine democratie. On
parle de quelque Outsider de la Suisse allemande qui, au dernier
moment, distancerait M. Calonder; je me refuse ä admettre la pos-
sibilite d'une pareille manoeuvre.
Malheur ä nous, si nos deputes en arrivaient ä oublier les
regles elementaires qui doivent determiner le choix d'un conseiller
federal: En premiere ligne, la valeur morale et intellectuelle de
Thomme; ensuite, l'equilibre entre la Suisse allemande et la Suisse
latine; en dernier lieu, les interets regionaux. Voilä les principes;
le reste, c'est de la cuisine.
Cela etant, la Situation se debrouille: M. Borel n'est pas
porte ; M. Audeoud, d'ailleurs trop äge, a declare ne pas candider
contre M. Calonder; M. Couchepin estaffaibli par lesefforts qu'on
fait pour d'autres. II ne reste vraiment que M. Calonder.
II faut souhaiter que la Suisse fran<;aise fasse un de ces
gestes genereux que la Republique demande tour ä tour ä cha-
cun de ses enfants; geste de renoncement, dur ä l'amour-propre,
mais profitable ä la patrie entiere. Entre Suisses ne faisons pas
trop d'arithmetique, mais pretons-nous les uns aux autres. Rabe-
lais ecrivait en 1546: „De cestuy monde rien ne prestant, ne
sera qu'une chienerie . . . Entre les humains. Tun ne sauvera
l'autre: il aura beau crier ä l'aide, au feu, ä I'eau, au meurtre,
personne n'ira ä secours. Pourquoi? 11 n'avait rien prete, on ne
lui devait rien. Bref, de cestuy monde seront bannies Foi, Espe-
rance, Charite: car les hommes sont nes pour l'aide et secours
des hommes."
ZÜRICH E. BOVET
DD D
259
BETRACHTUNGEN ZUR ANNAHME
DES GOTTH ARDVERTRAGS
(Schluss.)
EISENBAHNVERSTAATLICHUNG UND ALPENBAHNEN
Man hat in letzter Zeit oft ein Wort des 1894 verstorbenen
Bundesrats Schenk angeführt: „Das Ausland wird uns nicht durch
Waffen unterwerfen, — die Verträge werden uns erwürgen.'*
An diesem Wort ist gewiss etwas Wahres und diese Erkennt-
nisliegt ja auch der Staatsvertragsinitiative zu Grunde. Daran ist aber
nicht das Ausland, sondern der UmstandSchuld, dass es in der Schweiz
immer schwerer hält, große Entscheidungsfragen anders als vom
engen Gesichtspunkt der Regional- oder Parteipolitik zu beurteilen.
Das hat man nun beim Gotthard- und Simplonvertrag wie bei
Anlass der Verstaatlichung der Eisenbahnen zur Genüge erfahren.
Das Wort von Bundesrat Schenk macht die Forderung noch be-
rechtigter, das Volk selbst solle sein Bestimmungsrecht bei wichti-
gen Verträgen nicht an eine, gerade bei Eisenbahnfragen in der
Hauptsache mehr von regionalen und parteipolitischen Gesichts-
punkten geleitete Bundesversammlung endgültig abtreten, sondern
sich das letzte Wort selbst wahren.
Es wäre ungerecht, die wenig erbauliche, durch Simplon-
und Gotthardvertrag entstandene heutige Lage einfach auf die
Eidgenössischen Räte abschieben zu wollen. Die Grundlage, dass
Verträge wie der Simplon- und der Gotthardvertrag überhaupt
entstehen konnten, bildet die vom Volk 1898 mit großem Mehr
genehmigte Verstaatlichung der schweizerischen Hauptbahnen,
eine Tatsache, die sich jedenfalls für die innerpolitische und
finanzielle Unabhängigkeit der Schweiz bis jetzt nicht als so glück-
lich erwies, als man uns damals glauben gemacht hat.
Es fällt uns trotzdem nicht ein, die uns in unsrer Bewegungs-
freiheitstark einengenden Verträge über Simplon- und Gotthard ohne
weiteres in das Schuldbuch der Eisenbahnverstaatlichung zu
schreiben. Man hätte zum Beispiel nur die Verstaatlichung der
Gotthardbahn hinausschieben oder sie vorsichtiger betreiben sollen,
so hätte sie keinerlei Störungen verursacht. Das ist heute klar
nachgewiesen.
260
Wir betonen nur, dass jene Recht gehabt haben, die als Folge
der Verstaatlichung Situationen vorausgesehen haben, denen sich
die Führer des Landes möglicherweise nicht gewachsen zeigen
könnten. Das war ein Hauptgrund, warum man einst unter Führung
von Numa Droz energisch Stellung gegen die Verstaatlichung
genommen hat. Auch der Schreiber dieser Zeilen gehörte zu den
Schuldigen. Bundesrat Forrer hat im Nationalrat auf eine Schrift
von 1897 gegen den Rückkauf Bezug genommen, worin geschrie-
ben steht:
Die Annahme der Rückkaufsvorlage ist mit Recht als ein Sprung ins
Dunkle bezeichnet worden. Sie bringt uns in eine sichere dauernde Ver-
schuldung gegenüber dem Ausland, sie gefährdet unsere finanzpolitische
und in Zeiten der Not sogar die politische Unabhängigkeit, sie begünstigt
das politische Strebertum und eine ungesunde wirtschaftliche und finanzielle
Abhängigkeit der Kantone vom Bunde, welche die Kantone allmählich ihrer
Würde entkleidet und ihnen alle Selbständigkeit nimmt."
Dazu bemerkte Bundesrat Forrer:
Zur Begründung dieses Verdammungsurteils ist aber in allen voraus-
gehenden 184 Druckseiten mit keinem Worte der besondern Stellung der
Gotthardbahn und der daraus entstehenden Schwierigkeiten Erwähnung
getan.
Man muss zugeben, dass dazu Anlass vorhanden gewesen
wäre, vollends nach den Worten von Ständerat Isler bei der
Verstaatlichungsdebatte. Er bemerkte unter anderm:
Für mich war von Anfang an klar, dass die vier Hauptlinien Jura^
Simplonbahn, Zentralbahn, Nordostbahn und Vereinigte Schweizerbahnen
in dem Rückkaufsprogramm zu stehen haben. In bezug auf die Gotthard-
bahn lag für mich die Sache -nicht so einfach.
Warum ich von der Gotthardbahn rede.geschieht aus folgendem Grunde.
Es war früher eine Art Rätsel, ob man den Gotthard verstaatlichen könne
oder nicht, ob Staatsverträge da entgegenstehen oder nicht. Wer sich nicht
näher mit der Sache befasste, hatte das Gefühl, es gehe nicht wohl an.
Man dachte an die Subventionen, die die Staaten leisteten, und sagte,
die Schweiz könne dieselben doch nicht wohl zurückzahlen. Später kam
man dahin, zu erklären : es geht viel leichter, als man glaubte: die Schwie-
rigkeit, die man voraussetzte, ist im Grunde nicht vorhanden, und ich gebe
gerne zu, dass in dieser Beziehung die Botschaft die Bedenken ziemlich
zerstreut und die Sache sich für einen, der logisch und juristisch die An-
gelegenheit sich zurecht legt,sehr vereinfacht. - - • •
Nun bin ich für mich nicht ganz sicher, ob bezüglich der Subventionen
das das letzte Wort sein kann oder sein wird, dass man einfach eine ge-
trennte Verwaltung einführt und alles im übrigen beim Alten lässt, und ob
wirklich die am Staatsvertrag Beteiligten sich damit zufrieden geben. Ich
weiß darüber gar nichts; aber mir ist, der Bundesrat sollte uns darüber
261
eine Aufklärung geben, jetzt oder später, ob man in dieser Beziehung auf
keine Schwierigkeiten stoße. Denn Schwierigkeiten, die sich aus dem
Staatsvertrag ergeben würden, könnten wir von uns aus nicht lösen.
Mat hat den Herren Isler und Berthoud das Gutachten der
Herren Speiser, Scherz, Ador und Comtesse entgegengehalten und
die Gemüter zu beruhigen gesucht. Es war wirkhch nicht die
Aufgabe der Gegner der Verstaatlichung, die jede Verstaatlichung
bekämpften, auch die der Gotthardbahn, noch die Verstaatlichungs-
mögllchkeit der Gotthardbahn zu untersuchen. Wir geben aber
gerne zu, dass sich über die Frage des Rückkaufs der Gotthardbahn
alle getäuscht haben : juristische Subkommission, Bundesrat, Eid-
genössische Räte, Freunde und Gegner der Eisenbahn Verstaat-
lichung, sonst wäre dieser Kernpunkt im Kampfe für und gegen
die Eisenbahnverstaatlichung viel mehr ausgenützt worden. Inso-
fern war der Einwurf des Herrn Forrer nicht ganz unbegründet.
Im übrigen aber ist zu sagen: Noch nie ist die ungesunde
wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit der Kantone vom
Bund als indirekte Folge der Eisenbahnverstaatlichung klarer vor
Augen getreten als während der Beratung des Gotthardvertrages.
Und nicht minder die Gefährdung der politischen Unabhängigkeit.
Der Simplon- und der Gotthardvertrag haben es vollauf gerechtfertigt,
wenn die Eisenbahnverstaatlichung als „ein Sprung ins Dunkle"
bezeichnet wurde. Es scheint am Platz, diesen Punkt näher zu
erörtern. Er gehört zu den wichtigsten Erscheinungen, die bei
Anlass der Beratung des Gotthardvertrags zu Tage getreten sind.
Wenn man über die Folgen der Eisenbahnverstaatlichung
urteilen will, so muss man zwei Dinge klar auseinanderhalten:
die politi.schen und finanzpolitischen Wirkungen nach innen und
außen einerseits, und anderseits das wirtschaftliche Verkehrsergebnis
für das Innere der Schweiz. Es gibt Leute, die es fast als ein
Vergehen betrachten, wenn man die Frage der Zweckmäßigkeit
der Eisenbahnverstaatlichung heute überhaupt noch aufwirft. Auch
Herr Forrer scheint aus diesem Gefühl heraus gesprochen
zu haben.
Bevor wir auf die politische Seite eintreten, mögen einige
Worte über das wirtschaftliche Ergebnis folgen, das unter Um-
262
ständen ja so groß sein kann, dass man auch Einbußen auf einem
andern, dem politischen Gebiet verschmerzen kann.
Der abgetretene Präsident der Generaldirektion der Bundes-
bahnen, Herr Weißenbach, hat das wirtschaftliche Ergebnis der
Eisenbahnverstaatlichung im Archiv für Eisenbahnwesen 1912,
Heft 4 und 5, einer Besprechung unterzogen. Er gelangt zu
den nicht sehr ermutigenden Schluss:
Bei vorsichtiger Geschäftsführung ist die Lage der Bundeshahnen
auch für die Zukunft als gesichert zu betrachten, und es sind die großen
volkswirtschaftlichen Vorteile der Verstaatlichung ohne finanzielle Opfer
erreicht worden.
Er unterliegt keinem Zweifel, dass in den ersten zehn Jahren
der Verwaltungstätigkeit der Bundesbahnen sehr viel erreicht
worden ist. Die große und verdienstliche Arbeit, die in den letzten
Jahren von General- und Kreisdirektionen für die finanzielle Re-
konstruktion der Bundesbahnen geleistet wurde, hat die gebührende
Anerkennung gefunden. Aber das berechtigt nicht zu der im
Schlußsatz der besprochenen Abhandlung enthaltenen Annahme,
dass das Ziel, das man bei der Verstaatlichung im Auge hatte:
Die Schwdzerb ahnen dem Schweizervolk! schon erreicht sei.
Die Bundesbahnen haben ihre Aufgabe in erster Linie gegen-
über ihrem Personal erfüllt. Der Referent der ständigen Kommis-
sion hat in einer der letzten Verwaltungsratssitzungen ausdrücklich
betont, dass „mit diesen Zugeständnissen die Grenze erreicht sei,
bis zu welcher das Wohlwollen gegenüber dem Personal mit
Rücksicht auf die finanzielle Lage der Bundesbahnen ausgedehnt
werden dürfe. Allen weitergehenden Postulaten der Personalver-
bände, welche noch aufrecht erhalten werden sollten, müsste des-
halb die ständige Kommission entgegentreten".
Den Hauptvorteil von der Verstaatlichung hatte also ganz
entschieden bis heute das Personal. Die Besoldungsfragen bildeten
neben den Baufragen der Hauptgegenstand der Beratungen des
Verwaltungsrates und die Darstellung dessen, was alles auf diesem
Gebiete geleistet worden ist, nimmt einen wesentlichen Teil der
erwähnten Arbeit in Anspruch. Eine richtige Behandlung des
Personals liegt ja auch im Interesse eines jeden Geschäftes, das
leistungsfähig sein will, und vor allem einer Verkehrsanstalt. Aber
zu den volkswirtschaftlichen Aufgaben, derentwegen man geglaubt
263
hat verstaatlichen zu müssen, hat die Personalfrage nicht gehört;
denn die Leistungen der Qotthardbahn hat man auch heute erst
knapp erreicht und das Personal hätte sich dank seinen starken
Verbänden auch ohne Verstaatlichung geholfen.
Auch das Lokomotiv- und Wagenmaterial ist bedeutend besser
geworden. Man hat viele wertvolle Zugsverbindungen eingeschaltet,
große Bahnhofumbauten sind oder werden ausgeführt; neue Linien
mussten allerdings so zu sagen keine erstellt werden. Das rei-
sende Publikum hat unbestritten viel gewonnen.
Damit soll nicht gesagt werden, dass die Privatbahnen viel
weniger getan hätten oder hätten tun müssen, hätten sie kon-
kurrenzfähig bleiben wollen; eine richtige Kontrolle für Instand-
haltung der Bahnen und der Bahnhöfe von Bern aus, woran es
vor der Verstaatlichung mehr mit als ohne Absicht bedenklich
gehapert hat, hätte ein übriges getan.
Viel zu wenig von der Verstaatlichung gespürt haben bis
heute Industrie und Handel, die in der Hauptsache immer noch
die alten hohen Tarife bezahlen; die Reorganisation der Güter-
tarife ist eine Aufgabe, die erst noch gelöst werden muss. Die
Verstaatlichung hatte nur einen wirtschaftlichen Sinn, wenn man
energisch entschlossen war, die ohnehin schwierige Exporttätig-
keit durch angemessene Tarife zu unterstützen und dem internen
Handel und der Fabrikation aufzuhelfen. Das ist bis jetzt nur
in ganz ungenügendem Maß geschehen. Die Schweiz hat bis zur
Stunde immer noch fast durchgehend viel höhere interne Güter-
tarife als die uns umgebenden Staaten. Der Tonnenkilometer
kostet durchschnittlich in der Schweiz 8 Rappen, auf den preußi-
schen und hessischen Staatsbahnen 4,5 Rappen, in Frankreich
zirka 4 Rappen.
Was auf diesem Gebiet noch zu leisten wäre, ist durch die
Bewegung zu gunsten der Rheinschiffahrt und der Förderung der
südlichen Getreidezufahrten zur Genüge gezeigt worden {Wissen
und Leben, Bd. XI, S. 513, 1. Februar 1913: Brotversorgung der
Schweiz und Rheinschiffahrt). Und was man gegenüber den so-
genannten schweren Industrien, wie Granit, alles bis jetzt nicht
getan hat, ist in letzter Zeit ebenfalls vor aller Öffentlichkeit laut
geworden anlässlich der Verhandlungen über den Zusammenbruch
264
der tessinischen Qranitwerke, an dem allerdings nicht nur un-
günstige Frachtenverhältnisse mitgewirkt haben. ' ''
Aus diesen wenigen aber wichtigen Erscheinungen geht allein
schon mit aller Klarheit hervor, dass man nicht das Recht hat,
zu sagen, die großen volkswirtschaftlichen Vorteile der Verstaat-
lichung seien erreicht worden.
Jedenfalls sind sie bis jetzt nicht so groß, dass man die politi-
schen Nachteile darob vergessen könnte.
Diese politischen Nachteile nun sind derart, dass unter allen
Umständen festgestellt werden muss, dass die Eisenbahnverstaat-
h'chung die staatsrechtliche Stellung der Schweiz nicht verbessert
sondern verschlechtert hat. Dazu ist kein langer Kommentar er-
forderlich. Man braucht, abgesehen vom Gotthardvertrag, nur
auf die keineswegs harmlose Milliardenverschuldung gegenüber
Frankreich hinzuweisen und auf den fatalen Slmplonvertrag, der
die Schweiz unter anderm zwingt, einen zweiten Tunnel zu bauen,
ob sie will oder nicht.
Auch die internen politischen Gefahren, die durch die Ver-
staatlichung geschaffen worden sind, darf man nicht gering an-
schlagen. Sie bestehen darin, dass die maßgebenden Politiker
jederzeit über ein großes Beamtenheer verfügen können, wenn
sie ihm nur die nötigen Konzessionen machen. Es sei an die
letzte Versicherungskampagne erinnert, wo man in ungesetzlicher
Weise den Eisenbahnern noch kurz vor der Abstimmung Zusagen
gemacht hat, zu denen man gar nicht berechtigt war, bloß um
einer Vorlage durchzuhelfen, die sie sonst hätten verwerfen müssen.
So wird man auch in Zukunft vorgehen. Die Politik und Popu-
laritätssucht haben auch im Schöße des Verwaltungsrats der
Bundesbahnen hin und wieder eine viel zu große Rolle gespielt,
die nicht zum Nutzen der Bundesbahnen war.
Das sind allerdings Begleiterscheinungen, die man mit der
Verstaatlichung ohne weiteres in den Kauf nehmen musste, ebenso
den Umstand, dass durch die infolge der Verstaatlichung ent-
stehende Abhängigkeit vieler Regierungen vom Bund die politi-
schen Minderheiten politisch zum Teil entwurzelt werden, was
sich auch seither zur Genüge bewahrheitet hat.
265
Man braucht alle diese Punkte bloß anzudeuten, um sich
klar zu werden, dass heute jedenfalls noch nicht der Moment da
ist, um über Licht- und Schattenseiten der Eisenbahnverstaatlichung
das Endurteil zu fällen, sowie darüber, ob sie der Schweiz zum
Segen oder Unsegen gereiche. Man kann nur sagen, die Bundes-
bahnbehörden haben die Aufgabe der Verstaatlichung so gut als
möglich gelöst, und so weit es die Generaldirektion betrifft, ist
dies geschehen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Die
Bundesbahnbehörden und vor allem die General- und Kreisdirek-
tionen haben wesentliche Erfolge aufzuweisen; aber dass sie am
Ziel der Aufgabe auch nur annähernd angelangt seien, davon ist gar
keine Rede. Über diesen Punkt kann man dann vielleicht einmal
in zehn Jahren reden, wann man sieht, was die Bundesbahnen
für die Hebung der Exporttätigkeit des internen Handels und der
Fabrikation, sowie für die Lösung der großen wirtschaftlichen
Fragen des Landes (Brot- und Kohlenversorgung, Rheinschiffahrt
usw.) mit und ohne Hilfe des Bundes geleistet haben, und wann
die Gotthard-, Simplon- und Ostalpenfrage sich noch mehr ab-
geklärt haben werden.
Diese Erörterungen haben lediglich den Zweck, dass man
sich über den Stand der Dinge klar werden soll. Die großen Ge-
fahren, die für ein demokratisches Staatswesen die Verstaatlichung
der Hauptbahnen und die damit in Zusammenhang stehenden
Alpenbahnverträge bedeuten, sind während der Verhandlungen
über den Gotthard vertrag fast mit erschreckender Deutlichkeit zu-
tage getreten.
Über die Simplon- und Gotthardverträge, die mit der Eisen-
bahnverstaatlichung zusammenhängen, braucht man nicht weiter
zu reden. Darüber ist genügend geschrieben worden.
Auch der alte Gotthardvertrag hätte die Schweiz dank der
Verstaatlichung in eine Abhängigkeit für den Verkehr von Nord
nach Süd gebracht. Die Frage war nur, bei welchem Vertrag
die Interessen und die Würde der Schweiz am wenigsten verletzt
werden. Baut man noch den Splügen, wozu natürlich ein Staats-
vertrag mit Italien gehört, einerlei, ob der Bund die Bahn baute
oder nicht, dann ist die eisenbahnpolitische Einkreisung der Schweiz
266
vollendet. Es dürfte dann mehr als wahr werden, was Professor
Burkhardt im „Pohtischen Jahrbuch" sagt: „Berechtigte Sorge be-
reitet die Einsicht, dass die Schweiz trotz ihrer völkerrechtlichen
Unabhängigkeit die Gefahr läuft, durch ihre wirtschaftlichen und
personellen Beziehungen mehr und mehr in die tatsächliche Ab-
hängigkeit ihrer mächtigeren Nachbarn zu geraten."
Beunruhigend ist ferner, dass sich die Schweiz als Folge der
Eisenbahnverstaatlichung immer mehr in drei Alpenbahnregionen
scheidet, die alle möglichst viel von den Bundesbahnen begehren:
die Lötschbergregion, die Ostalpenbahnregion, und in der Mitte
hat die Vereinigung der Gotthardfreunde eine Verteidigungsstellung
bezogen, die sehr viel besagt. In dieser Erscheinung liegt die
größte Gefahr für unser Land und für die Unabhängigkeit des
Parlamentes. Sie erklärt, warum die große Mehrheit nach rein
regionalen Gesichtspunkten in Sachen des Gotthardvertrages ge-
stimmt hat, wenn man auch die nationalen Gesichtspunkte in
den Vordergrund schob. Wir fürchten, es wird nicht besser
werden, sondern die wirtschaftlichen Gegensätze dürften sich noch
schärfer gestalten.
Auch die Freunde der Ostalpenbahn haben bei der Gotthard-
vertragsdebatte ihre Kampfstellung mit aller Energie bezogen.
Wir können nicht umhin, mit Rücksicht auf die nächste Entwick-
lung der Dinge in Sachen von Eisenbahnverstaatlichung und Alpen-
bahnen auf die gemachten Feststellungen hinzuweisen. Zunächst
hat sich der Chef des Eisenbahndepartements wie folgt geäußert:
Herr Calonder hat in der Kommission des Ständerates seine Bedenken
mit Bezug auf den vorliegenden Vertrag geltend gemacht und gewisse
Fragen gestellt, ihm hat unter andern der Sprechende geantwortet, und
zwar was? Ich habe erklärt, dass er nach meinen Begriffen die Sache, der
er einen großen Teil seiner Zeit, ja seines Lebens gewidmet habe und
widme, nicht fördere, wenn er gegen den Gotthardvertrag auftrete, weil ja
unzweifelhaft von der Anhandnahme der Frage, die ihn beschäftigt, keine
Rede sein könne, bevor die Gotthardfrage erledigt sei. Ich fügte bei, dass
er um so mehr annehmen könne, es sei mir mit dieser Bemerkung ernst,
als ich, wie er ja ganz genau und seit vielen Jahren wisse, mit den Be-
strebungen, für die er einstehe, durchaus sympathisiere . . .
Auch der erste Berater des Herrn Forrer, Herr Pestalozzi,
Chef der verwaltungstechnischen Abteilung, hat sich schon längst
als Anhänger der Splügenbahn bekannt. Das Eisenbahndeparte-
ment hat also mit der Erklärung seines Chefs mehr oder weniger
267
Stellung genommen, nicht aber der Bundesrat. Herr Schulihess
äußerte sich :
In Beziehung auf die Ostalpenbahn möchte ich nicht ermangeln, noch
diejenige Erklärung zu wiederholen, die ich bereits im Nationalrate im
Namen des Bundesrates abgegeben habe. Der Bundesrat hat, solange ich
ihm angehöre, und auch vorher, so viel ich weiß, nie ein Wort über Greina
oder Splügen, nie ein Wort über das System Staatsbahn oder Privatbahn
verhandelt.
Die Herren Raschein und Calonder haben, was nicht zu ver-
wundern ist, den Anlass benutzt, um in den beiden Räten für die
Splügenlinie Propaganda zu machen. Herr Raschein bemerkte
unter anderm:
Wir haben also den neuen Gotthardverträg von den zwei großen Ge-
sichtspunkten aus zu betrachten: Erstens kann er vom eidgenössischen
Standpunkt aus und zweitens kann er vom Splügenstandpunkt aus an-
genommen werden . . .
Dagegen hat Herr Bundesrat Forrer gesagt, für den Bau der Ost-
alpenbahn sei ein Bundesgesetz nötig, das dem Referendum zu unterstellen
sei. Dagegen müssen wir Einsprache erheben. Der Bund mag, wenn er
will, den Splügen selber bauen; wenn aber etwa die Absicht bestände, mit
Bundesgesetz und Referendum, mit Volksabstimmung, wie auch schon ge-
droht worden ist, unsere Rechte auf eine Splügenbahn zu vernichten, so
müssen wir dagegen Protest erheben. Art. 3. des Eisenbahngesetzes von
1872 und der Kompromiss von 1878 besteht auch für das Volk.
Die gegnerische Seite im Ständerat vertrat Heinrich Scherren
Ein Redner für den Vertrag hat die Ostalpenbahn mit dem Splügen
identifiziert und erklärt, der Splügen sei gesetzlich garantiert. Das ist
nicht richtig. Gesetzlich garantiert ist nicht der Splügen, sondern die Ost-
alpenbahn. Ich verweise auf den Text der gesetzlichen Bestimmungen im
Eisenbahngesetz von 1873, im Nachsubventionsgesetz von 1897. Dafür
gibt es übrigens neben mehreren keinen bessern Kronzeugen als Herrn
Nationalrat Forrer, den jetzigen Bundesrat, der seinerzeit bei der Beratung
einer solchen Gesetzbestimmung /örm//cÄ und ausführlich konstatiert hat,
ohne widersprochen zu werden, dass unter einer Ostalpenbahn auch eine
Linie verstanden werden könne, die durch das Tessin führe. Im übrigen
dürfte es verfrüht sein, heute diese Frage zu diskutieren.
Bemerkenswert ist, wie sich der erste Vertreter der Lötsch-
bergbahn, Nationalrat Hirter, zur Frage stellte :
Von verschiedenen Seiten und auch von Herrn Vizepräsident von
Planta und gestern von Herrn Weber wurde namentlich mit Bezug auf die
Ostalpenbahn das Bedenken erhoben, es könnte die Annahme des Gott-
hardvertrages das Zustandekommen der Ostalpenbahn verhindern. Vor
allem habe ich die Meinung, dass die Ostalpenbahn durch den Bund zu
erstellen ist. Ich habe die Meinung namentlich auch deswegen, weil ich
aus nun mehrjähriger Erfahrung das Gefühl bekommen habe, dass es wohl
268
besser sein wird, wenn der Bund, der Staat selbst, den Schwierigkeiten und
Hindernissen eines Bahnbaues gegenübersteht, als wenn dies nur eine Pri-
vatgesellschaft tun muss.
Aber auch mit Rücksicht auf die Tarifgestaltung ist es unbedingt not"
wendig, dass der Bund die Ostalpenbahn baut; wenn dies der Fall sein wird,
so glaube ich, fallen die Bedenken, die mit Bezug auf die Tariffrage erho-
ben wurden, dahin. Sie werden wohl alle mit mir einverstanden sein, dass
eine Ostalpenbahn nicht im Zeichen des Tarifkampfes gebaut werden kann,
sondern dass sie nur auf dem Wege der Verständigung entstehen wird.
Des Schutzes der Bergzuschläge wird sie nicht entbehren können, und
wenn sie diesen Schutz haben will, bietet der neue Gotthardvertrag ihr
mehr Gewähr als der alte mit seinen veränderlichen Bergzuschlägen.
Wir wollen uns über diese Feststellungen nicht weiter äußern,
wir weisen bloß darauf hin, dass sich während der Gotthard-
vertragsdebatte das kommende Gewitter in der Ostalpenbahnfrage
bereits mit aller Deutlichkeit angekündigt hat, wiederum einer
der „dunklen Punkte" der Eisenbahnverstaatlichung, der ohne sie
kaum oder gar nicht da wäre. Wie ein Hoffnungsstern leuchtet
zwar das Wort Calonders:
Nun ist doch klar und wird durch die Geschichte des Qotthardver-
trages deutlich bewiesen : wenn wir nach außen eine kräftige, zielbewusste
und umsichtige Eisenbahnpolitik betreiben wollen, müssen wir nach Innen
einig sein und die regionalen Gegensätze überbrücken. Wir dürfen nicht
mehr in die Lage kommen, infolge von Innern Zwistigkeiten schnell ein
Angebot des Auslandes anzunehmen, um die Sache zum Abschluss zu
bringen, trotzdem nicht alle Punkte der internationalen Beziehungen genau
abgeklärt und im Vertrag genau geregelt sind.
Wir wollen abwarten, wie man im Kanton Graubünden dieses
schöne Wort auslegt.
Es rechtfertigt sich, unsere Betrachtungen mit dem Hinweis
auf die nun unmittelbar bevorstehende schwierige Lösung der
Ostalpenbahnfrage abzuschließen und mit dem Wunsch, dass sie
sich nicht so schwierig gestalten möge, als es heute den Anschein
hat. An Bedeutung übertrifft sie wesentlich die Gotthardvertrags-
sache, und erst an der Art der Lösung wird offenbar werden,
ob die verhängnisvollen Beziehungen der Eisenbahnverstaatlichung
zu unsern Alpenbahnfragen und den Alpenbahnverträgen der
Schweiz nicht endgültig zum Verhängnis werden. Vergessen wir
nie das eingangs erwähnten Wort von Bundesrat Schenk: „Das
Ausland wird uns nicht durch Waffen unterwerfen, — die Verträge
werden uns erwürgen."
BERN J. STEIGER
D D D
269
DIE FEINDSCHAFT GEGEN WAGNER
EINE GESCHICHTLICHE UND PSYCHOLOGISCHE
UNTERSUCHUNG
(Schluss)
Was verkündet der Freigewordene gegen Wagner? Bizet,
Musik, die „nicht schwitzt", Musik ohne Schauspielerei, Musik des
Südens, Mozart, den Tänzer Zarathustra, den Rausch, „Dionysos
gegen den Gekreuzigten".
Nietzsche wiederum sah nicht, und er war 30 Jahre jünger
und hätte es vielleicht leichter sehen können, welches Wagners
Bahn werden musste. Er erwartete eine Umkehr, ein Bekenntnis
des Allzumenschlichen vom letzten Bayreuther Sommer. Die
Umkehr kam nicht, sondern eine andere, wenn dies eine Umkehr
war. im Herbst 76 spricht in Sorrent Wagner mit Nietzsche über
den Parsifal. Wagner ist also Christ geworden! Zwei Jahre
später kreuzen sich zwei Sendungen: Nietzsche schickt „Mensch-
Jiches, Allzumenschliches" an Wagner, dieser die Parsifaldichtung
an Nietzsche. Von da an verstummen beide für einander.
Kommen sie einander auch aus dem Sinne? Heinrich von
Stein hat den Eindruck, dass Wagner immer einen Ersatz für
Nietzsches Freundschaft gesucht hat. Ein Jahr vor seinem Tode
sagt Wagner zu Nietzsches Schwester: „Seit Ihr Bruder nicht
mehr bei mir ist, bin ich allein." In Nietzsches Leben spielen die
geheimen Beziehungen zu Wagner fort. Erst der Tod Wagners
schafft ihm einige Erleichterung: „Ich bin nicht groß genug zu
einer Gegnerschaft" schreibt er und kündigt seinen Entschluss
an, das Erbe des jungen Wagner anzutreten. Es erfüllt ihn mit
Freude, dass ihn zwei so wichtige Anhänger Wagners, wie Seyd-
litz und Levi nicht verlassen. Und es ist sein Schmerz, dass er
den Parsifal in Bayreuth nicht hören kann. „Hat Wagner je etwas
besser gemacht?" fragt sein Brief. Er bewundert diese Musik, und,
das Merkwürdigste, er erkennt sie wieder: in seiner Jugend hat
er ganz ähnliche Oratorienmusik komponiert.
Dann, etwas später, ein Brief an Gast: „die ganze Stellung
der Kunst ist mir zum Problem geworden, und psychologisch
geredet . . . was ging eigentlich in mir vor, als ich mich Wagner
270
entfremdete? (Und vor Wagner schon der Schumannschen Musik.)
Ich will dahinter kommen.*'
Nun wohl, er kommt dahinter. Er versucht es und dieser
Versuch wird „Der Fall Wagner". War es wirkhch nur Psycho-
logenleidenschaft, die ihn zu diesem Ausbruche veranlasste? War
es nicht auch Sehnsucht, wiederum Sehnsucht und Schmerz um
das Verlorene? Nicht ein Betäubungsversuch, wie seine vielen
Schlafmittel, die er damals brauchte, kurz vor dem Erlöschen des
Geistes in seinem Körper?
Genug, dieser Fall Wagner ist der wildeste Angriff. Er war
nötig für Nietzsche. Aber wir von heute, wir dürfen diese Schrift
nicht so lesen wie sie gedruckt, sondern wie sie geschrieben ist.
Im selben Jahre, an seinem 40. Geburtstage, beginnt Nietz-
sche sein erschütterndes Selbstbekenntnis, das Buch „Ecce homo.
Wie man wird, was man ist". Auch hier besonders viel Psycho-
gisches zum Fall Wagner. „Der Instinkt der Wiederherstellung
[von einem immer Kranken ist die Rede] verbot mir eine Phi-
losophie der Armut und Entmutigung ... Ich empfand Wagner
[zuerst] als Protest gegen alle deutschen Tugenden. Jetzt ist der
Wagnerianer Herr über Wagner geworden. Ich habe Wagner ge-
liebt, den Angriff lange zurückgehalten . . . aber ich konnte nicht
anders." Er konnte nicht anders, denn (hier steht es mit seinen
eigenen Worten) „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit".
Und noch einmal ein Wort Nietzsches „Wir sind zwei Schiffe,
deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat".
So hätten wir, was man den „sachlichen Kern" nennt. Es
geht ganz schematisch. Aufgang gegen Niedergang, Antichrist
gegen Christ (hiezu wäre zu sagen, dass Nietzsche Wagners
Christentum für neu und nicht für echt hielt, für ein Theater-
requisit; die Christen, die nach Bayreuth gingen, waren ihm „zu
bescheiden".) Und damit, mit diesem sachlichen Gegensatze, haben
sich die meisten Erklärer und Biographen begnügt. Aber vielleicht
ist es erlaubt, nach den inneren Gründen der Wendung, und zu-
nächst bei Nietzsche, dem Überlebenden der Tragödie, zu fragen.
Alle Psychologenschliche im „Fall Wagner" erklären sie nicht,
erklären nicht die Verschärfung des Tons in dieser Schrift, selbst
wenn man für Nietzsche das Erlebnis der Enttäuschung gelten lässt.
271
Vielleicht lässt sich eine solche Lösung des Wagnerkom-
plexes bei Nietzsche andeuten. Er schreibt 1886 an Rohde: „Ein
Mensch, der mir gleich geartet ist, „profondement triste", kann
es auf die Dauer nicht mit Wagners Musik aushalten. Wir haben
Süden, Sonne um jeden Preis, Mozarthelle, harmlose, unschuldige
Glücklichkeit und Zärtlichkeit des Tones nötig," Dazu die Stelle:
„Der Instinkt der Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie
der Entmutigung", Und nun urteile man! Manche von uns ken-
nen Menschen dieser Art, Menschen von heute und gestern, Süd-
landmenschen, todestraurig, wenn die Sonne nicht scheint, himmel-
hoch jauchzend, wenn sie am Himmel steht. Mediziner mögen
sie anders nennen, in Sachen der Musik weiß ich, dass solche
Menschen zu Mozart halten und gegen Wagner empfinden. Und
wenn sie eine Mission zu haben glauben, gegen Wagner agitieren.
Man wählt seine Freundschaft, seine Liebe nicht. Man wird zu
allem bestimmt geboren. Man wird, was man ist.
So wurde Nietzsche, so werden viele andere. Und eine
Quelle der Feindschaft gegen Wagner wäre etwa doch gefunden.
Gegenüber solchen ungeheueren Tragödien der Geburt, gegen-
über diesem Drama der Erlebnisse tritt zurück, was Nietzsche in
beiden Schriften aus dem letzten lichten Jahr gegen Wagner ge-
sagt hat. Und doch müssen wir es beachten. Denn es gewinnt
Wert nicht nur dadurch, dass es Nietzsche gesagt hat, sondern
auch darum, weil es so ziemlich alles erschöpft, was gegen
Wagner überhaupt noch gesagt werden konnte.
Also: Wagners Musik ist schwer, sie kann nicht tanzen, sie
ist krank, dekadent und allem Dekadenten verwandt, sie ist schau-
spielerisch-literarisch, wie der Künstler Wagner, der Theorie und
Literatur für seine Rechtfertigung brauchte. Wagner hängt mit
dem neuen „Reich" zusammen, mit dem klassischen Zeitalter des
Krieges und der Kriegsentnervung. Aber — er ist nicht deutsch.
Seine Kunst läuft parallel mit den französischen Spätromantikern,
mit Flaubert und Delacroix. Er schreibt für Laien, für nerven-
verderbte, süchtige Frauen, für erlösungsbedürftige Scheinchristen;
und endet mit dem Parsifal: das ist Roms Glaube ohne Worte.
Aber trotz diesen Vorwürfen, die in ihrer Form oft maß-
los sind, in ihrem Vortrag neben der Hellsichtigkeit des bald
Vollendeten auch die Spuren naher Zerstörung zeigen (man denke
272
nur an die Stelle „typisches Telegramm aus Bayreuth: bereits
bereut"): trotzdem noch immer Lob und V^erehrung für die
außerordentliche Erscheinung Wagners. Andere Musiker, er nennt
ausdrücklich Brahms, kommen neben ihm gar nicht in Betracht,
immer neue verborgene Schönheiten zeigt ihm Wagners Musik,
und er preist die Verdienste Wagners um Vortrag und Aus-
führung. Und schließlich : „Wagner ist einer, der tief gelitten hat . . .
Ich bewundere Wagner in allem, worin er sich in Musik setzt."
Was sagen uns diese Schriften? Dass man vieles verwerfen
kann und dennoch lieben. Dass man lieben kann und manches
preisgeben; manches einräumen, manches zugeben und dennoch
lieben und verehren. Und dass all diese Vorwürfe, begründet oder
nicht, die gewaltige Erscheinung nicht von ihrem Fleck rücken.
Solange sie uns gegenwärtig bleibt, ist sie nicht zu erschüttern.
Sobald sie uns entschwindet, vermöchte sie nichts, auch unsere
Liebe nicht zu stützen.
Und entschwindet uns Wagner ? Ist er uns in den 25 Jahren seit
Nietzsche entschwunden? Gedanken üben eine mystische Macht
aus. Sie dringen langsam, aber unaufhaltsam vorwärts. Wohin
sind diese Gedanken gedrungen?
Zu einer Gruppe jüngerer Menschen. Sie hängen unter ein-
ander und wohl auch mit Nietzsche ideell zusammen. Aber ich
löse hier zuerst einen Musiker von ihnen los, Debussy.
Von der Wirkung Wagners auf die französische Musik kann
man sich kaum eine Vorstellung bilden. Es gab eine Zeit, und
ihre Zeugen leben noch, in der französische und Wagnerische
Musik eins war. Der Rückschlag ging von Debussy aus. Er ver-
tritt eine Art Praerafaelismus gegenüber der vielfach als Barock
bezeichneten Kunst Wagners. So hat er denn auch alle Einwände
der Primitiven gegen den komplizierten Mechanismus und die
Intellektualität von Wagners Musik, vermehrt um die national-
französischen: seine Kunst will nicht in deutschen Meistern wurzeln.
Beethoven und Bach lässt er ebensowenig als Vorbilder gelten.
Nur Rameau und die Seinen.
„La courbe de Wagner me semble accomplie. Maintenant
Wagner est et restera un tres grand artiste." Hier ist ein Künstler
273
gegen den anderen, ein Selbständiger gegen den anderen. Eine
Gegnerschaft, die man gelten lassen kann, ohne dass sie weitere
Anregungen gäbe.
Und nun zu jener jüngeren Gruppe. Nietzsches Schwester
sagt von den letzten Schriften ihres Bruders: „Wenn . . . seine . . .
Schrift oft harte Worte . . . findet, so wird das jeder begreifen . . .
Deshalb haben aber andere Menschen durchaus nicht das Recht,
den .Fall Wagner' als den Ausdruck ihrer Gesinnung zu be-
zeichnen." Dass sich manche dieses Recht genommen haben,
wird uns nicht wundern. Unterschätzen wir doch Mode und
Bequemlichkeit nicht!
Die, von denen ich jetzt sprechen werde, möchte ich mit
den Modemenschen, den bequemen, denen, die von dem großen
Gedanken eines anderen leben, nicht verwechseln. Wenn sie trotz-
dem zu Ergebnissen kommen, die Nietzsches Vorwürfen oder
noch älteren so ähnlich sind, so wird uns das vielleicht manches
deuten. Ich spreche hier als von typischen Gegnern Wagners,
von drei jüngeren Schriftstellern, von Leopold Ziegler, Julius Bab
und Emil Ludwig.
Ziegler schreibt in der Zeitschrift „Logos" 1910 einen Auf-
satz über „Die Tyrannis des Gesamtkunstwerks". Er leugnet die
ausschließende Notwendigkeit von Wagners „rein menschlichem"
Drama, die sich aus der Ablehnung des Historischen ergibt. Aus
dem Fehler dieser Einführung des Mythischen in das Drama
folgt für Ziegler der weitere, dass Wagner nur noch mythisch,
aber nicht dramatisch motiviert und dass wir sein Fatum häufig
nur noch als Zufall und äußerliche Zauberei erkennen. Der nächste
Einwand ist gegen die Verknüpfung des dramatischen, nicht mehr
wie in der Oper lyrischen Geschehens mit der Musik zu erheben.
Die Musik entfernt unsere Aufmerksamkeit vom Sinn der Worte.
Die Musik ruht aber auf dem Klang dieser Worte, nicht auf ihrem
Sinn. Das wusste die Oper. Das Musikdrama aber führt nur
mehr zum Sinn (deutsche Gründlichkeit!). Überhaupt ist jede ab-
solute Musik vollkommener als Musik in Verbindung mit dem
Wort, weil diese die Phantasie des Zuhörers in Fesseln schlägt.
Aber die Musik ruht nicht auf dem Klang des Wortes (sonst
wäre jede Lied- oder Opernübersetzung unmöglich), sondern auf
der Sprachmelodie, die sogar bis zu einem gewissen Grade dem
274
„Sinn" parallel geht. Den alten Streit zwischen der absoluten
und der Worttonmusik zu erörtern, ist vollkommen müßig. Und
ebenso müßig sind, mit Verlaub, die Einwände dieser Unter-
suchung. Über das Mythische im Drama und über die dadurch
bedingte Motivierung kann man theoretisch den verschiedensten
Ansichten huldigen. Die Lebensfülle der Werke Wagners bleibt
davon unberührt. Dass aber Wagners Theorie nur für Wagner
gilt, hat Theorie und Praxis seither wiederholt durch die Tat
bezeugt.
Bab (in einem Aufsatz der „Schaubühne" 1911): schon
Gehörtes, besonders stark aufgetragen. Wagner, der sinnlichste
Mensch, verlästert die Sinnlichkeit (Tristan! Es trifft nicht einmal
für Parsifal zu). Aus der überall durchbrechenden Sinnlichkeit
stammt Wagners Massenerfolg. (Nietzsche!) Die schon erwähnte
Flucht von der dramatischen Kausalität in den Mythos. Babs Bei-
spiel hierfür ist die Antwort Tristans an Marke: „Oh König, was
du fragst, das kann ich dir nicht sagen"! Er nennt sie „feig,
frech, zynisch, die sittliche Schuld eines Künstlers, der sein Ma-
terial ... nie voll ernst nimmt, der mit mystischer Eitelkeit dar-
über hinspielt". Wagner ist der Anti-Goethe, der Dekadent, der
Romantiker, wird daher von jeder romantischen Welle von neuem
emporgetragen. Seine Romantik führt zur Dekoration, zum Kitsch :
Bab zieht die schon von Hanslick gezogene Linie Wagner-Makart-
Hamerling (darüber später). Auch die Schlösser des Königs Lud-
wig von Bayern mit ihrem sinn- und geschmacklosen Prunk müssen
zum Vergleich herhalten. Dialog des Autors mit einem Freunde:
„Haben Sie noch Aktien auf Wagner? Der Autor: Seit meinem
19. Jahre nicht mehr viele. Der Freund: Verkaufen, verkaufen!
In ein paar Jahren stehen sie auf Meyerbeer". Und der Autor
fügt hinzu: „Was sagt die Gemeinde der Gläubigen dazu, dass
es solche Lästerer gibt?" Ach ja, was sagen sie nur dazu! diese
„Gemeinde", diese „Gläubigen!"
Emil Ludwigs Buch heißt „Wagner oder die Entzauberten";
es steht (in wenigen Wochen) vor der dritten Auflage. Hat Nietz-
sche das Wildeste, Genialste, bei aller Verzerrtheit Hellsichtigste
gegen Wagner gesagt, so sagt Ludwig das Ruhigste und Klarste.
Er kennt das neue Material, die Selbstbiographie und die neueren
Briefe, den vollendeten Glasenapp. Und sieht mit scharfen Augen.
275
Er ist hier vielleicht ein feuilletonistischer Psychologe, aber er
ist einer. So zeichnet er auf hundert von seinen dreihundert
Seiten ein Bild des Menschen Wagner: Theater von Jugend an;
es steckt in der Familie. Dann überall Krampf. Überall wildes
Begehren ohne Erlebnis. Wenn zum Beispiel Wagner sagt, er
müsse sich, vierzigjährig, gestehen, dass er eigentlich noch gar
nicht gelebt habe, so wird das eindeutig erotisch gewendet. Das
Wesen Wagners: er steht gegen alle Welt und darum ist alles
für ihn da, jede Theorie pro domo erdacht. Das Erlösungsmotiv
taucht auf ; das Motiv der Vertiefung, also die Flucht in den My-
thos. Gehemmte Vitalität (bei Wagners Gelegenheiten !), mangelnde
Harmonie, mangelnder Natursinn (Charfreitagszauber und Wald-
weben!), gespieltes Martyrium (Paris!); Wagners Menschenver-
brauch, Wagners Konzessionen, Wagners wildes Verlangen zu
wirken und nur zu wirken, und wenn es in der Kunst nicht geht,
bloß im Leben. Wie, fragt Ludwig, kann das einen Künstler
geben? Nun, aber vielleicht einen Menschen? Nein, sagt Ludwig,
nur einen Schauspieler, einen, der die Wirkung um ihrer selbst
willen liebt (Wagners Wort von der „Wirkung ohne Ursache"!).
Überhaupt kommen jetzt bekannte Themen: die „Wandlungen",,
die „Erlösung" um jeden Preis; Wagner kein Dichter, als Musiker
ein Literat. Wagner kein Dramatiker. Wagner kein Deutscher,
schon wegen seiner Wirkung auf Nichtdeutsche. Nur die geistige
Bourgeoisie hat Wagner für sich, weder die Kenner noch das
Volk. (Man denke einerseits an Strauß und Mahler, andererseits
etwa an die Wiener Arbeitersymphoniekonzerte!) Und wenn er
überhaupt eine Wirkung hatte, so war es die des Anti-Mozart.
Mozart aber ist das Heil.
N'est-ce que cela? Der Mensch, die Erscheinung, die Wirkung
Wagners, das steht alles so gewaltig, so greifbar da. Was unser
Verstand auch immer zugeben möge, was sagt unser Gefühl?
Es bejaht. Und auch dieser Angriff schrumpft in sich zusammen^
Und doch, unser Gefühl hat einen Gegner Wagners zu
fürchten: Wagner selbst. Hier sein Bekenntnis (aus einem Briefe
an Röckel): „Ich sehe nur, dass der meiner Natur, wie sie sich
nun einmal entwickelt hat, normale Zustand die Exaltation ist . . ..
276
In der Tat fühle ich mich nur wohl, wenn ich außer mir bin:
dann bin ich ganz bei mir. Wenn Goethe anders war, so beneide
ich ihn darum nicht."
Aus diesem Zustand der Exaltation erklärt sich wirklich
Wagners ganze Art, sein Wirken, seine Gegnerschaften und seine
Kunst. Da es Richard Wagner zugibt, dürfen wir es umso ruhiger
zugeben. Dies alles ist uns auch so lieb und in Liebe und Hass
etwas so Vollendetes, wie eine große Dichtung, wie ein großes
Theaterstück des Weltgeistes. Aber vielleicht war diese Exaltation
gar nicht das Primäre. Vielleicht war sie gar nicht Ursache, son-
dern Wirkung, Wirkung dieser Umwelt und dieser Zeit auf den
Umstürzler, den Künstler, den Erneuerer, den Lehrer Wagner.
Der ein gewaltiges Selbst durchzusetzen hatte gegen eine Zeit,
die alles andere dachte als Richard Wagner.
Aber dieses Bekenntnis muss uns zugleich eine Ermahnung
sein: in allem, was Wagner angeht, ruhiger zu werden, seine
zeitlich bedingten Meinungen, Lobpreisungen, Verdammungen,
ja selbst Vorschriften zeitlich zu nehmen, ich halte es zum Bei-
spiel für ein Zeichen abgeklärter und richtiger Wagnerverehrung,
gegen die Beschränkung des Parsifal auf Bayreuth zu sein, wenn
auch vielleicht nur aus dem rein praktischen Grunde, dass dem
sogenannten Gralschutz ein Erfolg nach den Gesetzen und Ver-
trägen gar nicht werden kann. Es ist ja nicht angenehm, mit
gewissen Gegnern Wagners einer Meinung zu sein; aber, man
verzeihe das Bekenntnis, auch in der Gesellschaft gewisser An-
hänger fühh man sich nicht wohl. Um es mit Nietzsche zu sagen,
man muss einmal Wagnerianer gewesen sein. Und man sollte
seine Verehrung für Wagner behalten. Aber ich weiß nicht, ob
man sich noch Wagnerianer nennen und wie ein Wagnerianer im
Übeln Sinne des Wortes benehmen darf. Treue ist schön; Blind-
heit bedenklich. Es ist gewiss dankenswert, dass wir durch die
aufopfernde Genauigkeit Glasenapps um jeden Tag aus dem
Leben Wagners Bescheid wissen. Aber wie wissen wir darum Be-
scheid? Weil es einmal Gegnerschaften zwischen Wagner und
Schumann oder zwischen Wagner und Nietzsche gab, so spricht
Glasenapp von Schumann etwa so: „Dieser Musiker ohne Seele,
ohne Einfälle . . ." Oder von Nietzsche: „Ein hohler Schall, ein
hochtrabendes, leeres Nichts ..." Derlei geht doch gegen den
277
guten Geschmack. Der Meister darf alles zu seiner Zeit; der
Nachfahre tut so, als ob er es heute noch dürfte.
Oder die „Vorschriften" Wagners. Noch in einem der letzten
Hefte der „Musik" ergeht sich Alfred Heuss in Lamentationen
darüber, wie Mahler auf eine, wie mir scheint, sehr sinnreiche
Weise eine solche Vorschrift abgeändert hat. Mahler, ein Refor-
mator im Sinne Wagners, daher den eingefrorenen Wagnerianern
höchst unbequem, hat da überhaupt viel hören müssen. Seitenlang
quält sich Heuss ab, die höchst unbedeutende „Vorschrift" zu
Gunsten des Buchstabens zu verteidigen. Warum? Es steht ge-
schrieben.
Geben wir doch das alles preis ! Jede Zeit verehrt ihre Meister
anders. Unser Wagner ist vielleicht nicht Wagners Wagner, son-
dern eben der unsere . . .
Die Strömung gegen Wagner zu leugnen, wäre töricht, sie
gering zu achten, törichter, sie zu deuten — vielleicht nicht zu
vermessen. Ich habe bei Nietzsche zu deuten versucht. Nun denn :
seither hat die „tristesse profonde" noch um sehr vieles zuge-
nommen. Noch viel lebhafter ist die Sehnsucht nach einem
Süden des Klimas und der Kunst, einem neuen Paradies, einem
lichten Traum geworden. Ludwig zum Beispiel wünscht ein Leben
ohne verminderten Septimenakkord. Ach nur Septimenakkord!
Dieses alte Rüststück der Romantiker. Was sagt er zu den Quar-
tenakkorden, zu unserer atonalen Musik? Und wer ist der Mu-
saget dieser Sehnsucht? Wer anders als Mozart? Von Nietzsche
bis Ludwig, alle fliehen sie zu Mozart, und es gibt keine Ver-
dammung Wagners, die nicht mit einem Lobe Mozarts endigte.
Heute nämlich ! Heute, nach anderthalb Jahrhunderten. Seiner
Zeit galt Mozart nicht als heiter, als unkompliziert, als harmonisch,
als anmutig. (Die „Fachgenossen!") Aber es ist ehrlich, wenn
einer, erschöpft von den Problemen des Tages, dieses ganze 1913,
diesen Norden nicht mag. Ehrlich, wenn sich einer nach seiner
Jugend sehnt. (Unter den Schwärmern sind manche, die auch
den heute gewiss verkannten Mendelssohn und seine Zeit zurück-
wünschen, eine Zeit, deren Ausläufer sie etwa noch miterlebt
haben.) Jeder hat das Recht so zu denken. Aber man möge uns
278
daraus kein Prinzip, möge uns aus dem Ruf „Zurüci< zu Mozart"
i<ein Literaten- und Musikantencredo machen. Man möge uns
die Abneigung gegen Wagner nicht als „entscheidungsvollsten
Kulturkampf unserer Zeit" einreden. Man nehme sich, nehme
auch seine Antipathien nicht zu wichtig. Niemand ist heute in
Notwehr gegen Wagner, wie es Wagner gegen eine ganze Zeit
war; und wäre es ein Künstler, so gibt ihm die Notwehr kein
Recht, Notwehrexzesse zu begehen.
Aber wenn es nicht Notwehr ist, was treibt dann manche
immer wieder gegen Wagner? Die Ermüdung, die vor einer großen
Kunst nicht tapfer sein kann. Der Drang der letzten Jahrzehnte,
selbst etwas zu schaffen, ein Drang, dem die große Erscheinung
Wagners theoretisch und praktisch Hemmungen bereitete. Die
Erkenntnis von der Unfruchtbarkeit eines Epigonentums, das Er-
lösungsmysterien stammelte und Musikdramen nachstümperte.
Wohl hatte Wagner wie jeder Große für sich selber Recht. Wir
wollen es ihm danken, wollen hingehen und nicht desgleichen
tun. Aber indem wir ausweichen, müssen wir darum nicht zertreten.
In diesem Streben Selbst zu sein, kennen wir dank Wagner
die Mittel, kennen sie vielleicht besser als Wagner selbst und
sehen Wagners Mittel, etwa seine szenischen, schon historisch.
Hier wäre auf Appia hinzuweisen, auf Mahler, auf Roller und
seine Nachfolger. Befreien wir Wagners Bild von den Spuren des
Makartzeitalters I Fort mit dem sogenannten altdeutschen Stil aus
seinen Werken ! Fort mit den falschen Barten, dem Nibelungen-
apparat, der Wandeldekoration, dem Zaubertheater einer Wirk-
lichkeit von 1873 oder einer Qrottenbahn von heute. Es ist nicht
gleichgiltig, wer uns von diesen Dingen erlöst und Kapellmeister
und Direktoren, die nichts vermögen als hassen und streichen,
mögen die Hand von den Werken lassen. Aber das Genie, das
unserer Erkenntnis kommen muss, war da und wird da sein,
wenn es gebraucht wird. Denn Erkenntnis und Tat sind ewig.
Noch eines ist es, was heute manche von Wagner trennt.
Ludwig hat es denn auch aufgespürt und wirft es Wagner vor,
dass er, immer nur auf Wirkung bedacht (diese Gruppe ver-
wechselt nämlich Wirkung und Wirksamwerden), dass er also
nicht nur Wirkung durch die Kunst suche, sondern auch Wirkung
279
ins Leben. Wagners Briefworte „hätten wir das Leben, so hätten
wir i<eine Kunst nötig", sollen ein Einwand sein . . .
Wahrhaftig, Wagner dachte anders. „Oh Ihr Menschen! fühlt
gesund, handelt wie ihr fühlt, dann wollen wir Kunst machen".
Oder: „Ich würde mit Freuden alles, was ich schaffe, darangeben
für Wahrheit und Gerechtigkeit." Immer wieder ist Wagner sozial
bewegt, denkt er an Menschen und Tiere, schwingt er das reli-
giöse Band um ein Weltall, in dem auch Kunst ist, und Kunst
als Stufenleiter vom Niedersten zum Höchsten, aber nicht nur
Kunst. Und es gibt heute mehr als je solche, die nur Kunst
wollen. Ich werte nicht, ich zeige dieses Zweierlei : die einen sind
zu Wagner geboren, die anderen passen nicht zu ihm.
Es gibt in der Tat auch hier Wahlverwandtschaften, und im
letzten Grunde löst sich das Künstlerische im Menschlichen.
Seien wir größer, haben wir den weiteren Blick, die leichtere
Verzeihung. Weiten wir unser Reich. Ein Meer brandet vor uns,
und es hat Gezeiten, hat Ebbe und Flut. So schwindet und wächst
die Liebe zu einem Großen, dessen heiliger Bau am Strande
steht, an einem Ufer jenseits von Liebe und Hass. Den Ver-
klärten lasst uns sehen, nicht den Endlichen, den Hass und Not
umtosten. Nicht im Sinne des Eifernden wollen wir wirken, son-
dern wie ein glücklicheres Geschlecht von Späteren, das gekämpfte
Kämpfe nicht noch einmal kämpfen will. Wir wollen seine Größe
verkünden, seine Schlacken verwerfen, seine Milde üben, die
Milde seiner besten Tage, die ihm so viele Herzen einfacher
Menschen gewann. Vielleicht gelingt es so, manche zu gewinnen,
die nicht zu widerlegen sind. Und die auch nicht gewonnen werden
können, einfach zu fragen: Was ereifert ihr euch? Wenn dieses
Werk aus der Lüge ist, so wird es von selbst vergehen. Wenn
es aber aus der Wahrheit ist, so werdet ihr es doch nicht
stürzen.
WIEN PAUL STEFAN
aaa
280
DIE REVISION DER ZÜRCHER BIBEL
Im ersten Maiheft des laufenden Jahrganges dieser Zeitschrift
ist die Beibehaltung und die jetzt im Gange befindh'che Revision
der Zürcher Bibel als ein kulturfeindliches Unternehmen bezeichnet
worden. Dazu möchte sich der unterzeichnete Mitarbeiter am
Tieutestamentlichen Teil dieser Revision^) freundliches Gehör für
ein Wort der Entgegnung und der Aufklärung erbitten.
Was versteht Herr Pfarrer Blocher in der Frage der Bibel-
übersetzung unter Kultur? In erster Linie die Alleinherrschaft
der Lutherschen Übersetzung, die er über alle Maßen preist.
Sodann ein schönes, klares und packendes Deutsch; doch sind
alle seine Beispiele hiefür bis auf eins der Lutherbibel entlehnt,
und so wird dieser zweite Punkt wohl stark mit dem ersten zu-
sammenfallen. Endlich fordert er, dass die Übersetzung direkt
zu frommer Versenkung in die heiligen Urkunden geeignet sei.
Nun sind Kultur und Sprache zwei Dinge, zu deren Wesen
es gehört, sich fortzuentwickeln. Was zu Luthers Zeiten ihren
Höhepunkt bildete, kann heute leicht überholt sein. Doch wollen
wir durch diese Betrachtung noch nichts bewiesen, sondern nur
die Frage begründet haben, ob es eine so einfache Sache sei,
ein seit 400 Jahren unverändert gebliebenes Werk als den Höhe-
punkt der Kultur auch für heute zu bezeichnen. Darin besteht
nämlich der Unterschied in der Geschichte der beiden Über-
setzungen: die Zürcher ist, wie Herr Pfarrer Blocher auch angibt,
von Jahrhundert zu Jahrhundert dem fortschreitenden Verständnis
des Grundtextes und der sich von selbst vollziehenden Änderung
des deutschen Sprachgebrauchs gemäß berichtigt worden, während
die Luthersche eine so maßlose Verehrung genoss, dass über
300 Jahre lang nur geringfügige Kleinigkeiten geändert wurden
und auch die von einer Reihe deutscher Kirchenregierungen be-
stellte Kommission trotz sechzehnjähriger Arbeit (1865 — 1881)
kläglich wenig eingriff.
Die Vorzüge, durch die die Lutherbibel unerreicht dasteht,
haben wir in unsern Vorbemerkungen aufs nachdrücklichste an-
^) Die unlängst erschienene Probe (57 Seiten) ist in der Buchhandlung
der Evangelischen Gesellschaft an der Peterstraße sowie durch jede andere
Zürcher Buchhandlung für 20 Cts. zu haben.
281
erkannt, indem wir erklärt haben, es sei uns nie in den Sinn
gekommen, sie bieten zu können. Daneben enthält sie aber so
viel Mängel, dass sie als Ganzes eben doch völlig unzulänglich ist.
Hierüber ist freilich schwer mit einem Manne zu rechten,
der sich so ganz in sie eingelebt hat. Nur zu leicht vergisst ein
solcher, dass er vieles in ihr am Ende nur deshalb schön findet,
weil er von Kindheit an damit vertraut ist. In unserer Kommis-
sion wenigstens ist es ein deutlicher Erfolg der mehrjährigen
Arbeit unter Vergleichung anderer Übersetzungen, dass bei den
an die Zürcher Übersetzung gewöhnten Mitgliedern die naturge-
mäße Hinneigung zur Bevorzugung ihres Wortlauts immer mehr
der Bereitwilligkeit zur Annahme eines andern, wo diese nötig
schien, Platz gemacht hat.
Belege für die Mängel der Lutherschen Übersetzung darf ich
hier natürlich nur in ganz geringer Zahl bringen, und ich lege
mir weiter die überaus große Beschränkung auf, sie lediglich den
Abschnitten zu entnehmen, für die unsere Proben vorliegen, damit
man diese vergleichen kann. Trotzdem hoffe ich bei einigen
Lesern dieser Blätter auf Zustimmung, wenn ich frage, ob wirk-
lich heute noch festgehalten zu werden verdient, was Jesaja 5J3
bei Luther steht: „Darum wird mein Volk müssen weggeführt
werden unversehens, und werden seine Herrlichen Hunger leiden,
und sein Pöbel Durst leiden". Bei uns lautet die Stelle: „Darum
wandert mein Volk in die Verbannung, unversehens ; seine Edlen
sind kraftlos vor Hunger, und die Menge brennt vor Durst". —
Oder nehmen wir Psalm 16.4 bei Luther: „Aber jene, die einem
andern nacheilen, werden groß Herzeleid haben. Ich will ihres
Trankopfers mit dem Blut nicht opfern, noch ihren Namen in
meinem Munde führen". Ich frage: ist das heute noch deutsch?
Ich frage weiter: kann man sich, auch wenn man von der Frage
der Sprachrichtigkeit absieht, etwas dabei denken? Ich frage
drittens: kann man sich mit Erbauung in einen solchen Text ver-
senken? Bei uns lautet er: „Viel sind der Schmerzen derer, die
andern [Göttern] nacheilen. Ich aber werde ihnen nimmer Trank-
opfer von Blut spenden, noch ihren Namen auf meine Lippen
nehmen". — In demselben Psalm heißt es in Vers 7 bei Luther:
„Ich lobe den Herrn, der mir geraten hat; auch züchtigen mich
282
meine Nieren des Nachts"; bei uns: „Ich preise den Herrn, der
mich beraten; auch des Nachts mahnt mich mein Inneres". Hier
trifft Luthers Übersetzung der Vorwurf, den Herr Pfarrer Biocher
immer wieder der unsern macht, dass sie zu wörth'ch ist. Im
Hebräischen gelten die Nieren so gut wie das Herz als Sitz der
geistigen Regungen des Menschen, im Deutschen nicht. — Doch
nur noch zwei Beispiele, wo bei Luther ein Missverständnis vor-
liegt. Im Römerbrief 5.8 übersetzt er: „Darum preiset Gott seine
Liebe gegen uns, dass Christus für uns gestorben ist, da wir noch
Sünder waren". Ist das eine Gottes würdige Vorstellung, dass
er seine Liebe auch noch preist? Kann man sich an ihr erbauen?
Der Apostel Paulus hatte sie nicht; wir hatten zu übersetzen: „Es
beweist aber Gott seine Liebe gegen uns dadurch, dass Christus
für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren". Oder sollte
uns jemand nachweisen wollen, dass bei Luther „preisen" so viel
sei wie „verherrlichen", also doch gleich „erweisen", „beweisen"?
Ich weiß es nicht, ob jemand das unternehmen kann. Aber jeden-
falls müsste er sich einen Erforscher deutschen Altertums als
Zuhörer suchen ; uns, die wir eine Bibel für heute herzustellen
haben, würde so etwas in keiner Weise interessieren. — Endlich :
sollen wir glauben, dass Herodes beim Kindermord in Bethlehem,
um Jesus ganz sicher mitzutreffen, auch die Mädchen hat töten
lassen? Luther sagt es: alle Kinder (Matthäus 2.16).
Zu diesen Beispielen nur noch eine Frage. Wie wird der
Luthertext in der Schule wirken? Herr Pfarrer Blocher weiß zu
sagen, das Nebeneinanderbestehen zweier Übersetzungen sei im
Unterricht störend, und da nun die Lutherbibel nicht mehr zu
verdrängen sei, müsse man die Zürcher eben aussterben lassen;
für unsere Frage hat er kein Wort. Und doch ist klar, dass die
sprachlichen und sachlichen Anstöße bei Luther und die selbst
bei einem wohlwollenden Lehrer unvermeidliche Kritik derselben
einem nicht sehr religiös angelegten Kinde die Achtung vor seiner
Bibel und die Liebe zu ihr nur zu leicht beeinträchtigen können.
Es hilft auch gar nichts, darauf hinzuweisen, dass sie doch mit
Segen gebraucht wird. Von dem, was sich die Kinder im Stillen
denken oder nicht einmal denken und doch als Empfindung in
sich aufnehmen und behalten, erfährt der Pfarrer in den seltensten
Fällen etwas.
283
Im ganzen haben wir in unsern Vorbemerkungen als unsere
drei Hauptziele aufgestellt, „dass man genau erfährt, was wirklich
im Urtext steht, womöglich so genau wie der Kenner des Urtexts
selbst; dass auch für den schlichtesten Leser jedes etwaige Miss-
verständnis nach Kräften von vornherein abgeschnitten wird ; dass
das Ganze sich in ein vom Standpunkt der heutigen Schule aus
einwandfreies und dabei doch stets kirchlich würdiges Deutsch
kleidet". Für den letzten Punkt hat Herr Pfarrer Blocher, was
die Schule betrifft, wie schon erwähnt, kein Wort. Für den
zweiten, der uns unsägliche Mühe macht und für eine Volksbibel
so wichtig ist, hat er überhaupt keins. Den ersten als grundver-
fehlt zu bezeichnen kann er sich gar nicht genug tun.
„Die ganze Arbeit", sagt er, „geht von der Voraussetzung
aus, die Schwierigkeit liege in der Feststellung und im Verständ-
nis des fremdsprachigen Grundtextes. Das ist falsch. Den Sinn
des Grundtextes kann jeder fleißige Theologe mit den heute so
reichlich vorhandenen Hilfsmitteln feststellen". Auf welcher Insel
der Seligen mag wohl Herr Pfarrer Blocher wohnen, dass er das
glauben kann? Psalm 19.5 heißt es bei Luther von den Himmeln:
„Ihre Schnur geht aus in alle Lande, und ihre Rede an der Welt
Ende". Herr Pfarrer Blocher weiß zu sagen, Nichtkenner der
Ursprachen könnten sich völlig genügende Auskunft über den
wirklichen Sinn des Alten Testaments in Kautzschs Textbibel holen.
Was steht dort? „In alle Lande geht ihre Meßschnur aus, und
ihre Worte bis ans Ende des Erdkreises". Hier erfahren wir also,
was bei Luther völlig dunkel bleibt, dass mit der Schnur eine
Meßschnur gemeint ist. Aber was soll die Meßschnur der Himmel
neben deren Worten? Wir empfehlen nun, beispielsweise noch
das sehr gediegene Werk von Reuß über das Alte Testament auf-
zuschlagen. Dort findet man, manche Ausleger übersetzten: „über
die ganze Erde geht ihr Gebiet, und ihre Töne bis ans Ende der
Welt", was offenbar einen etwas bessern Sinn gibt. Reuß selbst
aber gibt den Text so: „und doch geht ihr /(/fl/z^ durch die ganze
Erde, ihre Töne bis ans Ende der Welt". Ganz ähnlich unsere
Probe, und zwar deshalb, weil statt des hebräischen Wortes qaw,
das „Meßschnur" heißt und zur Not auch „Gebiet" heißen kann,
in der schon vor Jesu Zeiten angefertigten griechischen Über-
setzung dasWort qol, das heißt „Stimme", wiedergegeben ist und einen
284
sehr guten Sinn gibt. Das ist unter tausenden nur ein verhält-
nismäßig sehr einfaches Beispiel dafür, wie uneinig die Gelehrten
über den Sinn vieler Bibelstellen sind, wie ratlos ein Nichtkenner
ist, den man auf einige einander so widersprechende Bücher als
untrügliche Auskunftsmittel hinweist, und welche umfassende Sach-
kenntnis dazu gehört, um in jedem Falle eine Entscheidung zu
treffen. Nun möge man ermessen, was es mit dem Ausspruch
von Herrn Pfarrer Blocher auf sich hat: „Es würde völlig genügen,
wenn von den Herren einer recht die Grundsprachen versteht".
Sie verstehen sie alle recht, Kautzsch, Reuß und die von ihm ge-
nannten Dritten. Aber wen von ihnen sollte man für diesen
Fall in die Kommission berufen ? Dem nächsten Satze von Herrn
Pfarrer Blocher: „worin sie aber alle Meister sein müssten, das
ist die Sprache, in der sie ihr Werk herausgeben wollen", stimmen
wir mit einem Seufzer über unsere Unzulänglichkeit gern zu; der
vorhergehende aber ist einfach unerhört. Und wird den Lesern
von „Wissen und Leben" als ausgemachte Wahrheit geboten.
Im Zusammenhang hiermit rühmt Herr Pfarrer Blocher Luther,,
dass er die Erzväter statt in Zelten vielmehr in Hütten wohnen
lässt, wobei der „deutsche Leser an die eigene Behausung denken
kann". Er entsetzt sich über unsern Grundsatz, das Kolorit der
biblischen Zeit möglichst zu wahren. Nun, nehmen wir einmal
die Geschichte von dem Gichtkranken (oder müssen wir im Inter-
esse der Kultur mit Luther sagen: von dem Gichtbrüchigen?),,
der wegen des Volksandranges nicht zu Jesus ins Haus gebracht
werden kann und deshalb durchs Dach zu ihm herabgelassen
wird. Kann man das verstehen, ohne zu wissen, dass ein orien-
talisches Haus ein gemauertes flaches Dach hat? Oder hat Luther
auch hier dafür gesorgt, dass „der deutsche Leser an seine eigne
Behausung denken kann"? Nein. Er übersetzt bei Markus (2.4) r
sie „deckten das Dach auf, da er war, und gruben's auf, und
ließen das Bette hernieder", bei Lukas (5.19): sie „stiegen auf
das Dach, und ließen ihn durch die Ziegel hernieder mit dem
Bettlein". Die Vorstellung von einem orientalischen Dache hat
er; wer sie aber nicht hat, ist nicht genügend davor bewahrt,
an ein schräges deutsches Ziegeldach zu denken und die Sache
höchst wunderlich zu finden.
285
Sollen wir nun, um Herrn Pfarrer Blocher zu genügen, über
Luther hinausgehen und, wie aus dem Zelt, so hier aus dem Haus
eine Hütte machen, damit sich die Durchbrechung des Daches
leichter vorstellen lässt? Sollen wir die Einzelheiten des Acker-
baus, der Viehzucht, der Handwerke, der Kriegführung, sollen wir
die Hausgeräte, die Waffen, die Kleidungsstücke, die Speisen, die
bloß im Morgenland vorkommenden Tiere und Pflanzen — um
nicht noch weiter zu gehen — so benennen und darstellen, dass
es zu unserm heimischen Anschauungskreis passt? Wenn nicht,
dann verfallen wir dem Urteil, das Herr Pfarrer Blocher so aus-
spricht: „Soll uns durch die Übersetzung die Bibel näher gebracht
werden, oder gilt es, unserm Volk recht den Abstand fühlbar zu
machen, der uns von dem alten Buch trennt? Wenn das zweite
gilt, dann wohlan!" Und wenn das erste gilt? Dann bekommen
wir ein Buch, dessen Vorzüge ich nicht zu beschreiben brauche;
nur eins zu sein wird es immer mehr aufhören: die Bibel.
Noch weiter geht Herr Pfarrer Blocher, wenn er behauptet,
sogar aus Gründen der Sache und des Sprachgebrauchs müsse
zum Beispiel — wir dürfen nur noch ganz wenige Punkte be-
rühren — ein Sklave des Altertums nicht ein Sklave, sondern
wie bei Luther ein Knecht heißen, und der See Genezareth, der
mit diesem Namen doch auch in Herrn Pfarrer Blochers Bibel
(Lukas 5,1) und in seinem eigenen Aufsatz steht, nicht der galiläi-
sche See, sondern wie bei Luther das galiläische Meer. Das Ver-
hältnis des Herrn zu seiner in Rede stehenden Dienerschaft nennt
er ein patriarchalisches. Findet er wirklich etwas so sehr Patri-
archalisches in der Vertreibung der „Magd" Hagar samt ihrem
doch von Abraham selbst gezeugten Sohne Ismael, oder in der
Stelle (wohlgemerkt: aus einem Gesetzbuche, 2. Mose 2L20 f.),
bei der bekanntlich einst ein Zulukaffer dem englischen Missions-
bischof Colenso die Bibel vor die Füße geworfen hat: „Wer seinen
Knecht oder Magd schlägt mit einem Stabe, dass er stirbt unter
seinen Händen, der soll darum gestraft werden. Bleibt er aber
einen oder zween Tage am Leben, so soll er nicht darum gestraft
werden; denn es ist sein Geld". In unserm Ausdruck „der gali-
läische See" sieht Herr Pfarrer Blocher „eine schulmeisterliche
Schrulle" ; wir erblicken darin eine pflichtmäßige Beachtung des
veränderten Sprachgebrauchs. Auf dessen Nachweis gehe ich
286
jetzt natürlich nicht ein. Aber das hätte ich von einem Manne,
der auf Sprachsinn und Sprachverständnis Anspruch macht, nicht
erwartet, dass er sich zugunsten eines deutschen Ausdrucks („das
gahläische Meer") auf das Engh'sche, Italienische, Französische
und Spanische berufen würde. Und gegenüber unserer Befürch-
tung, dass der Ausdruck missverstanden werde, weiß er nur zu
sagen: „Sollten die Zürcher allein so unbegabt sein, dass ein
erläuterndes Wort des Religionslehrers nicht genügte, vor Miss-
verständnissen zu schützen?" Ich hätte geglaubt, er wünsche
gleich uns seiner Bibel auch solche Leser, die keinen Religions-
lehrer zur Stelle haben.
Je weniger er uns zugestehen will, dass wir uns bemühen,
unserer Übersetzung die Eigenart einer Volksbibel zu erhalten,
desto schwerer müsste uns sein Vorwurf treffen, dass sie „als
neue wissenschaftliche Arbeit nichts leistet, was nicht andere vor-
handene Werke auch leisten". Wir sehen aber hierüber dem
Ausspruch anderer Beurteiler getrost entgegen. Aus unserer un-
säglich mühsamen Vergleichung von nahezu dreißig Übersetzungen
wissen wir, wie selten in ihnen (mit Einschluss der von ihm so
hoch gepriesenen Glarner Bibel) die Goldkörner sind, die wir be-
nutzen können, und wie erstaunlich oft sie das Brett bohren, wo
es am dünnsten ist; und davon vollends, dass eine bestimmte
einzelne von ihnen die Anforderungen auch nur von fern erfüllte,
die wir an uns stellen, kann nach unsern Beobachtungen gar
keine Rede sein. Ob Herr Pfarrer Blocher eine ebenso müh-
same Vergleichung angestellt hat, ehe er sein Urteil sprach,
wissen wir nicht.
Über Druck und Aussehen der Proben urteilt er so ungünstig
wie nur möglich: „Die allergewöhnlichste Zeitungsletter, ein un-
ruhiges, zerhacktes Gesamtbild, . . . unschön angebrachte Über-
schriften" usw. Er hat also gar nicht gesehen, was doch jedem
irgend achtsamen Betrachter geradezu ins Auge springen muss,
dass wir in den verschiedenen Teilen unserer Proben eine ganze
Anzahl von Druckeinrichtungen absichtlich verschieden geben,
damit jedermann sagen kann, was ihm besser gefällt; die Schluss-
seite der Vorbemerkungen, auf der wir diese zur Wahl gestellten
Einrichtungen einzeln aufführen, hat er gar nicht gelesen. Und
trotzdem dieses Verdammungsurteil vor den Lesern von „Wissen
287
und Leben", die auf solche Dinge sicher Gewicht legen. — Gerade
für sie sei deshalb noch erwähnt, dass unsere Probe inbezug auf
Schriftart, Schriftgröße, Papier usw. noch gar nichts Endgültiges
bieten will und dass man alle Anregungen hierüber gern prüfen
wird, so weit die Geldmittel reichen.
Dass die Klammern und die andern Zeichen mitten im Text
für die erbauliche Benutzung der Bibel nicht förderlich sind, em-
pfinden wir mit Herrn Pfarrer Blocher sehr wohl, und wir würden
sie sehr gern weglassen, wenn er uns nur sagen wollte, wie
wir ohne sie dem Leser die Auskünfte geben können, die wir
ihm nun einmal schuldig zu sein glauben. Sie für unnötig zu
erklären hilft gar nichts; wir wissen sehr genau, wie willkommen
sie denen sein werden, die, um einen von Herrn Pfarrer Blocher
fast geringschätzig gebrauchten Ausdruck aufzunehmen, „gern
wüssten, wie es eigentlich heißt", und wie oft man ohne sie
völlig ratlos sein würde. Der Kürze halber sei nur auf die oben
(Seite 312) abgedruckte Klammer in Psalm 16.4 verwiesen. Was
ist das kleinere Übel, was ist insbesondere für die Erbauung
weniger störend: dass man, wie bei Luther, keine Ahnung hat,,
warum es so viel Herzeleid bringt, einem andern nachzueilen,,
oder dass man in einer Klammer erfährt, es handle sich darum,
nicht andern [Göttern] nachzueilen?
Das Gleiche wie von den Zeichen im Text gilt von unsern
Fußnoten, von denen Herr Pfarrer Blocher die meisten — also
doch nicht alle — entbehrlich, einige durch ihre Schulmeisterlich-
keit abstoßend findet. Eines Wortes bedarf nur die eine, über
die er sagt: „Abgeschmackt ist eine Fußnote zu Matthäus 1.16 1)
über die jungfräuliche Geburt Jesu; sie wird zur Folge haben,
dass in den Kreisen, die am meisten Bibeln zu kaufen pflegen.
Misstrauen gegen die neue Übersetzung entsteht, die mit dergleichen
Anmerkungen wie eine theologische Parteiangelegenheit aussieht.
*) Den Bibeltext geben wir hier, ohne wesentliche Abweichung von
der bisherigen Zürcher und der Lutherschen Übersetzung, so : Jakob zeugte
den Joseph, den Mann der Maria, von der Jesus geboren wurde, welcher
der Christus genannt wird.
Dazu folgende Fußnote: Christus bedeutet: der Heiland (wörtlich: der
Gesalbte). — Einige Zeugen, zum Teil von hohem Alter, lassen in ver-
schiedener Weise erkennen, dass Jesus einer andern Gestalt des Textes,
zufolge als ehelicher Sohn des Joseph und der Maria betrachtet wurde.
288
während sie eine Sache der ganzen Landeskirche sein sollte".
Das Erste, was man hier beobachten kann, ist dies: der Vorwurf
der Abgeschmacktheit wird im weitern Verlauf des Satzes nicht
begründet; das Urteil wird als ein ästhetisches eingeführt, ist aber
ein dogmatisches oder, wenn man lieber will, ein kirchenpoliti-
sches. Sodann weiß Herr Pfarrer Blocher, dass in der neutesta-
mentlichen Sektion, die für diese Fußnote ganz allein verantwort-
lich ist, die freisinnige Richtung nur über eine Minderheit von
zwei Mitgliedern verfügt. Bei Entscheidung der Frage stand ihr
übrigens eine Mehrheit von vier konservativen gegenüber, drei
durch das zürcherische Bibelkomitee der Evangelischen Gesellschaft
gewählte und Professor Kägi, der zu unserm großen Bedauern
inzwischen aus Gesundheitsrücksichten zurückgetreten ist (an seine
Stelle kam Pfarrer Kägi in Oetwil, der sich keiner von beiden
Richtungen zuzählt). Herr Pfarrer Blocher sagt aber seinen Lesern
nicht, dass die freisinnige Richtung stets nur zwei Stimmen hatte,
und tut somit nichts, um den wirklich naheliegenden Schluss aus
seinen eigenen Worten zu verhüten, die freisinnige Partei habe
diese Fußnote aus Parteiinteresse durchgesetzt. Ich darf ihm mit-
teilen, dass die konservative Mehrheit anfangs ebenfalls keine Fuß-
note wollte. Sie hat sich aber gemäß dem treuen Wahrheitssinn,
der uns bei allen Meinungsverschiedenheiten immer wieder zu-
sammenführt, überzeugt, dass das, was jetzt in der Fußnote steht,
eine Tatsache ist und dass diese Tatsache — andere Wortfassung
vorbehalten — um der Wahrhaftigkeit willen unbedingt mitgeteilt
werden muss. — Herr Pfarrer Blocher will mit Recht, dass die
neue Übersetzung eine Sache der ganzen Landeskirche sein soll.
Zur ganzen Landeskirche gehört doch wohl auch für ihn die frei-
sinnige Richtung ebenfalls, deren Anhängern die Lehre von der
jungfräulichen Geburt Jesu so ernsten Anstoß bereitet und einen
engen Anschluss an die offizielle Kirche so sehr erschwert. Unsere
Probe trägt nun aber dieser Richtung keine weitergehende Rechnung,
als dass sie die der jungfräulichen Geburt Jesu entgegenstehende
Textgestalt in einer Fußnote bespricht; im Bibeltext selbst lässt
sie den bisherigen Wortlaut stehen, der die jungfräuliche Geburt
Jesu ausspricht. Bei diesem Tatbestand kann die Streichung der
Fußnote, wenn von Parteiinteressen die Rede sein soll, nur aus
einem ganz einseitigen, engen Parteiinteresse gefordert werden.
289
Doch zum Schluss. Es ist mir noch nie ein Theologe be-
gegnet, der so wie Herr Pfarrer Biocher imstande gewesen wäre,
auf die Richtigkeit der Bibelübersetzung, die er in seinem Amte
gebraucht, zu verzichten und sich mit ihrer Schönheit zu begnügen,
auch wenn diese Schönheit der wirlclichen Bibel gar nicht eigen
ist. Mit dem größten Erstaunen ruft er aus : „Statt dessen (näm-
lich: dass sie im Deutschen Meister wären) erwarten sie sogar
von uns, wir sollen ihre Arbeit mit Hilfe des Grundtextes prüfen!"
Ja, wonach prüft denn er eine Arbeit, die eine Übersetzung ist?
Um so mehr möchte ich betonen, dass wir alles bereitwillig
prüfen werden, was er uns etwa an positiven Vorschlägen bieten
will, von denen sein Aufsatz, abgesehen von den Hinweisen auf
Luther, so völlig leer ist. Wir sind sicher alle überzeugt, von
ihm lernen zu können.
Aber das muss doch noch ausgesprochen werden: zur Kultur
rechne ich auch das Durchdringen des Wahrheitsinteresses in der
Erforschung der Bibel so gut wie auf andern Gebieten des mensch-
lichen Wissens, und die Erschließung ihrer gesicherten Ergebnisse
für die weitesten Kreise des Volkes, das bei Befolgung der Grund-
sätze von Herrn Pfarrer Blocher verurteilt ist, ewig in seiner
Unwissenheit zu bleiben. Die von mir gemeinte Kultur aber
schreitet fort, und deshalb betrachte ich es als eine Kulturtat — nicht,
dass man die Lutherbibel für ewig gültig erklärt, sondern dass
man die Zürcher Bibel immer von neuem verbessert hat. Gewiss,
die zahlreichen Umarbeitungen haben zwar keineswegs, wie Herr
Pfarrer Blocher mit riesiger Übertreibung sagt, von ihr sozusagen
nichts übrig gelassen, aber sie haben allerdings nicht weniges an
ihr geändert. Das waren jedoch eben Verbesserungen, die die
ursprünglichen Übersetzer nur zu gern angebracht hätten, wenn
sie dazu schon imstande gewesen wären. Um den Hinweis
auf Zwingiis und Leo Juds teures Erbe als nichtig, ja als lächer-
lich hinzustellen, sagt Herr Pfarrer Blocher: „Das Erbe kann also
nur darin bestehen, dass man in Zürich an dem Grundsatz fest-
hält, eine eigene Bibelübersetzung zu gebrauchen und sie immer
von Zeit zu Zeit neu zu bearbeiten". Wider Willen spricht er
damit gerade das Richtige aus, das zudem in der Geschichte der
Bibelübersetzungen einzig dasteht. Und so wollen wir hoffen,
dass andere Beurteiler unser Werk nicht von vornherein ver-
2Q0
werfen, sondern lediglich darauf hin prüfen werden, ob wir die
Vorschrift der Kirchensynode von 1907 ausgeführt haben, welche
lautet :
„Der neuen Übersetzung ist in erster Linie der Wortlaut der
Zürcher Ausgabe von 1892 zugrunde zu legen. Überall aber ist
derselbe auf seine Richtigkeit genau zu prüfen, und wo er im
Widerspruch steht mit dem wirklichen Sinn oder mit dem richtig
erstellten Grundtext, oder wo er sonst unschön, ungenau, unklar
ist, soll er verbessert werden. Hierbei sind die besten vorhan-
denen Übersetzungen in erster Linie zu benutzen; nur wo diese
ungenügend sind, ist neuer Ausdruck zu suchen".
ZÜRICH PAUL SCHMIEDEL
NACHSCHRIFT
Auf den von Herrn Pfarrer Blocher am Schlüsse seines Artikels uns
gegebenen Rat, wir möchten unser Werk „vor der Drucklegung einer Ver-
einigung von Sprachkundigen unterbreiten, die womöglich nicht hebräisch
und griechisch können, sondern nur deutsch, und unbarmherzig alles
,Adäquate' streichen, um dafür Ebenmaß, Tonfall, Kraft und Schönheit hin-
einzubringen", bin ich absichtlich nicht eingegangen, weil es dann selbst-
verständlich eine Torheit wäre, unsere Arbeit überhaupt weiterzuführen,
und weil Herr Pfarrer Blocher ja ohnehin im Ernst gar nicht ihre Ver-
besserung, sondern ihre Einstellung wünscht. Da ich aber erfahren habe,
dass seine Meinung in anderer Form Anklang zu finden scheint, sei noch
die Bitte ausgesprochen : man möge doch ganz genau sagen, wie man sich
die Ausführung der Sache denkt. Sollen diese Sprachkundigen ihre Vor-
schläge uns schriftlich einreichen und auf schriftlichem Wege die Antwort
erhalten, wie viele davon sie wegen Unvereinbarkeit mit dem Urtext durch
neue ersetzen müssten? Sollen sie an unsern Sitzungen zweimal in der
Woche je vier Stunden teilnehmen und darin endlose Aufklärungen über
den Sinn des Urtexts nötig machen? Wer soll die entscheidende Stimme
haben? Und wer, der sie nicht bekommt, soll überhaupt Freude an der
Arbeit finden?
aua
291
LA „MUSE" DE FLAUBERT
. . . „Puis ce bruit mensonger se tut en meme temps que
se ternissait sa beaute. Rien ne resta de tant d'adoration. Et
malgre tout ce qu'a de deplaisant la reclame effrenee qu'elle
s'appliqua sans reläche ä se faire ä elle-meme, le coeur se serre
ä voir finir dans un tel abandon une vie ä ses debuts si bril-
lante. Victime d'elie-meme, de son milieu, de son epoque, Ma-
dame Colet est certainemem moins encore ä blämer qu'ä plain-
dre." Ces lignes sont les dernieres du livre piquant et neuf que
M"^ J. de Mestral-Combremont a ecrit sur La Belle Madame
Colet (in-12, Payot et Cie, editeurs, Lausanne). J'ai dit: „neuf",
et je ne m'en dedis point, car si la tumultueuse amie de Gustave
Flaubert, et de quelques autres, a trop mele sa vie ä sa litte-
rature pour n'etre qu'une demi-inconnue, on ne savait d'elle que
ce qu'il lui avait plu d'en apprendre elle-meme ä ses contem-
porains; je concede que la correspondance de l'auteur de Sa-
lammbö a mis bien des choses au point et que cette „deesse des
romantiques" n'a pas manque de detracteurs feroces, mais il
restait du mystere sur eile. La tres fine et tres attentive etude
de M"^ de Mestral, gräce ä des documents inedits utilises de
fa^on experte, gräce ä Tintelligente et libre maniere de la bio-
graphe, nous permet de suivre, des les debuts jusqu'ä la fin, la
destinee de cette jolie femme qui chercha la gloire pour recueil-
lir le bruit et ä laquelle des adulateurs interesses donnerent du
talent ou du genie.
Comme un jeune alcyon, le jour oü je suis nee,
Mon regard embrassa la Mediterranee . . .
Madame Louise Colet a beaucoup rime ; eile s'est copieuse-
ment racontee en vers et en prose. Ces deux alexandrins, si nous
ne nous en etions doute, nous annonceraient qu'elle est du Midi.
En revanche, ils ne nous conduiraient pas ä Aix-en-Provence,
oü fut son berceau, puisque l'on n'ignore point que, de la ville
d'Aix, la mer n'est pas visible. Un petit mensonge, dans lequel
on pourrait n'apercevoir qu'une assez venielle licence poetique;
ilestsignificatif cependant. M"^^ Colet, parmi toutes les amours qui
se sont Offertes ä eile, n'a pas choisi l'amour de la verite. Elle
a la passion des travestissements qui la flattent. Elle joue avec
292
ses Souvenirs comme eile jouera plus tard avec les coeurs, et
comme Ton jouera vivement avec le sien.
Elle se crut la vocation d'une muse. D'insuffisantes notions
de prosodle ne l'empechaient nullement d'affirmer:
La Poesie m'a dit: „Tu seras reine!"
Malgre tous les eloges que lui prodiguerent Victor Cousin,
Gustave Flaubert et d'autres, eile fut, bien plutöt qu'une „reine"
du Parnasse, la „Venus de Milo en marbre chaud" qu'Alfred de
Musset ne dedaigna point apres la quarantaine. Mais quoi!
Victor Hugo l'avait portee aux nues: „Planez, c'est votre devoir
d'aigle". II rencherissait simplement sur Chateaubriand, et sur
^me colet elle-meme:
J'entrevols sur ma tombe une foule soumise,
Un immortel vieillard me dit: „Tu m'es promise!"
Et mon front couronne s'appuie au front du Temps.
Sa famille, qui etait de petite bourgeoisie, s'appliqua vaine-
ment ä contrarier des goüts litteraires qu'elle jugeait ridicules.
Louise Colet se gardera bien de ne pas nous en informer:
Nos sentiments luttaient dans d'eternels combats;
Les miens planaient trop haut, les leurs rampaient trop bas.
A douze ans, eile a dejä les pretentions et les manies du
bas-bleu. Elle grandit, et comme le note spirituellement M"^ de
Mestral, on pouvait penser que „sa figure vaudrait mieux que
ses vers". Apres M"^^ de Stael et avec le meme insucces, eile
attendit „l'aureole", — le feerique mariage qui la sortirait de sa
province et, par des routes fleuries, la menerait au pays de
renommee.
Le Prince Charmant se deroba, ou ne vint point. C'est alors
que M. Hippolyte Colet surgit ä l'horizon. Professeur d'harmonie
au Conservatoire, s'il n'etait qu'un parti modeste, il avait du
moins cette superiorite sur d'autres fiances possibles: il installe-
rait son menage ä Paris. Or, Paris, n'etait-ce pas, pour celle ä
laquelle la Poesie avait dit: „tu seras reine", n'etait-ce pas la no-
toriete et la fortune?
Un des premiers soins de M'"^ Colet fut de publier ses vers,
qui sombrerent dans un cruel silence. Malheureusement, l'Aca-
demie fran^aise la couronna en 1837 pour une poesie sur le
293
„musee de Versailles". La jeune laureate perdit la tete. Elle se
Vit promise ä rimmortalite. Au cours des visites qu'elle fit ä
des academiciens qui avaient vote pour eile, Louise Colet monta
l'escalier du philosophe Victor Cousin. Elle aurait pu, dans la
suite, rectifier ces deux phrases de Jules Simon sur l'inventeur
de l'eclectisme: „11 n'y a pas de femmes dans sa vie, ou du
moins il n'y a pas de femmes Vivantes. 11 reste cette grande
lacune dans son coeur et dans son talent". Une allusion de Cou-
sin ä un certain „colombier de Passy", dans l'une de ses lettres
ä M"^^ Colet, nous dispense d'appuyer sur les melancoliques et
candides regrets de Jules Simon. L'aventure, d'ailleurs, fut tres
banale, l'amour yetant moins encombrant que l'interet et la vanite.
Une belle maitresse, un protecteur puissant. Cela explique tout.
„Pour n'etre pas en reste de bons procedes, ajoute M"^ de Mes-
tral, Cousin pilotait assidüment, dans les theätres et dans les
revues la litterature de son amie". La liaison dura un lustre ou
deux, traversee de recriminations, de querelies et de brouilles.
Devenu ministre en 1840, Victor Cousin usa et abusa de sa
Situation pour imposer la copie de sa muse un peu partout.
Alphonse Karr s'en divertit mechamment dans les Guepes: par
un grossier jeu de mots, il insinua meme que l'enfant attendu par
M"!^ Colet avait pour pere quelqu'un qui n'etait pas le mari, mais
le . , . Cousin. Lä-dessus, une scene de melodrame. M"^^ Colet se pre-
cipite chez Alphonse Karr. Elle s'est armeed'un couteau . . . Laissons-
lui la parole; „Je le trouvai sur sa porte, en manches de chemise.
Je ne lui dis que ces mots: — J'ai ä vous parier. II m'engagea
ä entrer chez lui, et comme il se penchait vers la löge de son
portier, je le frappai dans les reins. Quelques gouttes de sang
jaillirent. Le couteau avait glisse". Karr la reconduisit poliment
et, pour toute vengeance, il se contenta de suspendre dans son
cabinet de travail, comme un trophee, l'instrument tombe des
mains de M"^^ Colet. Avec cette amüsante suscription : „Donne
par M'"^ Louise Colet . . . dans le dos".
Quand Victor Cousin eut obtenu du ministere une pension
pour son impetueuse amante, quand il fut las, moins de lui ren-
dre des Services, que de supporter un caractere violent et om-
brageux ä Texces, il rompit definitivement avec M"^^ Colet. Celle-
ci ne negligea pas de cultiver les reiations utiles qu'elle avait
294
nouees par rintermediaire de Cousin: Beranger, Ampere, Ma-
dame Recamier. Elle etait femme de lettres avant tout; decidee
ä reussir, coüte que coüte, et n'y parvenant point par ses pro-
pres forces, eile ne meprisait pas les concours profitables.
Celle que Barbey d'Aurevilly baptisa „la Muse turbulente,
Imprecatoire et spumeuse" n'en etait pas moins dans une position
etroite et precaire. Elle etait condamnee aux expedients pour
vivre. Mais son salon attirait encore les celebrites du jour. On
y rencontrait Villemain, Mignet, Theophile Gautier: „Alfred de
Vigny lui-meme, raille l'impitoyable Barbey d'Aurevilly, Alfred de
Vigny, ce cygne, s'abattit un instant sur cette mare". Et, d'apres
M"^ de Mestral, „le mot de l'enigme ne serait, je le crains, guere
ä la louange du poete que Ton se represente enferme dans sa
tour d'ivoire, les yeux imperturbablement fixes sur les etoiles",
— les etoiles de theätre, helas! comme M'"^ Dorval, ou les etoi-
les de cenacle comme M"^^ Colet!
Au mois de juillet 1846, avant meme d'avoir echange des
adieux assez froids avec Cousin, Louise Colet s'enflamma pour
Gustave Flaubert. Comme l'indique M"^ de Mestral: „La partie
etait trop inegale entre le jeune provincial de vingt-quatre ans,
presque Ignorant de la femme, et l'experte coquette qui resolut
d'emblee de s'en faire aimer. Elle-meme d'ailleurs fut prise ä
son piege: car, si Ton peut dire que Louise Colet connut l'amour,
je crois bien que ce fut par Gustave Flaubert." L'idylle, avec
beaucoup de litterature autour, enchanta d'abord le plus novice
des deux amoureux. Quelle tendresse et quelle ivresse ne res-
pirent pas certaines lettres de Flaubert ä celle qui le traitera plus
tard de „larron polluant les voluptes ineffables qu'il m'a dero-
beesi". 11 a re<;u le coup de foudre, quoique, des les premieres
semaines, il sente que son reve ne sera pas eternel. C'est que,
si le coeur est touche, le cerveau n'abdique pas. Flaubert, aux
pieds de M*"^ Colet, n'en est pas moins l'esclave de son art.
Elle a de furieuses exigences de passion. Elle n'admet point
que son ami ne lui sacrifie pas tout. Quand il persiste ä de-
meurer au Croisset, pour consoler sa mere en deuil, et n'accourt
pas au moindre signe ä Paris, eile l'accable de sa Jalousie soup-
^onneuse et de ses impatiences ameres. Comme il tient bon, et
comme eile a peur qu'il ne la congedie dans un acces de colere»
295
eile bat prudemment en retraite. Mais eile est trop le „bei orage*
que fut M"^^ de Stael pour se resigner aux concessions necessal-
res. On se raccommode, on se boude, on s'accuse, on se revoit,
et cela continue ainsi, deux ans durant. En avril 1848, Flau-
bert, qui est excede de tout ce manege, part pour l'Egypte avec
Maxime Du Camp. Son absence se prolongea jusqu'en 1851.
A son retour, 11 retomba sous le joug. Mais la ferveur d'an-
tan est bien morte. L'amour n'est plus que la survivance d'une
tyrannique habitude. M*"« Colet gemit de Tinsuffisance sentimen-
tale de Flaubert, lorsqu'elle ne s'en indigne point. II plaide les
circonstances attenuantes: il est „vieilli", il est „nerveux ä s'eva-
nouir", il est „plein de doute du dedans et du dehors". Et puis,
il est en proie aux affres du style: „Quel lourd aviron qu'une
plume et combien l'idee, quand il faut la creuser avec, est un
dur courant!" Faute de mieux, il envoie ä sa muse des conseils
litteraires et de l'encens confraternel : „Soigne bien tes vers; au
point oü tu en es, tu ne dois plus te permettre un seul vers
faible ... La correction fait ä la pensee ce que l'eau du Styx
faisait au corps d'Achille; eile la rend invulnerable et indestruc-
tible". La desillusion se demasque, l'ennui est lä.
De l'humeur et du temperament dont eile est, M*^^ Colet
s'exaspere ä la lecture de ces epttres. Son depit s'exhale en fou-
gueuses apostrophes. Flaubert essaie de la raisonner, ou de rire: „Sa-
cree|[Muse, va, que tu es drole!" La derniere entrevue qu'il eut avec
eile faillit tourner au tragique. 11 ne revint plus. En 1859, il man-
dait ä Ernest Feydeau: „Veux-tu te distraire? Fais-moi le plaisir
d'acheter Lui, roman contemporain par M"i^ Louise Colet. Tu y
reconnaitras ton ami arrange de belle fa(;on. Mais, pour com-
prendre entierement l'histoire et surtout l'auteur, procure-toi
d'abord: 1". La Servante, poeme oü le gars Musset est aussi
ereinte qu'il est exalte dans Lui, et 2°. Une hlstoire de Soldat,
roman dont je suis le principal personnage. Tu n'imagines pas ce
que c'est comme canaillerie". Et voilä comment s'achevent les
amours oü il y eut trop d'encre d'imprimerie!
Le „gars Musset" fut de la galerie de Louise Colet. Et d'au-
tres. Nous pouvons tirer le rideau.
11 serait injuste de taire que M'"^ Colet a ete une laborieuse.
Les besoins de son menage et les frais de ses receptions l'obii-
296
geaient ä produire infatigablement. Sans treve, eile bäclait des
articles, des nouvelles, des volumes qu'on lui payait mal, mais
qui, leur nombre aidant, representaient un peu d'or. Elle se
lan9a meme dans les historiettes pour enfants. II est vrai que le
Pamphlet ou le roman ä clef etaient davantage dans sa note.
Elle y deposait tout le fiel de ses deceptions, tout le poison de
ses rancunes. Son ambition eüt ete d'avoir une place dans les
Lundis de Sainte-Beuve; le critique, en depit des plus adroites
et des plus pressantes solllcitations, fit obstinement la sourde
oreille.
Tout pres de la cinquantaine, eile gardait des charmes. On
ne cueille plus les fleurs qui vont se faner. Remuante et tapa-
geuse comme toujours, eile versa dans la politique. Puis, eile
parcourut le Midi de la France et 1' Italic. A Rome, toute sa di-
plomatie se brisa contre la finesse peninsulaire. A Milan, eile
echoua dans son projet de fonder un Journal oü eile s'etait
assure cinqcents francs d'appointements par mois. En 1864, eile
eut la mortification d'apprendre qu'on ne la tolererait plus ä
Rome; eile s'y rendit quand meme, et la mansuetude des auto-
rites romaines eut sans doute des causes identiques au silence
de Sainte-Beuve. En 1869, eile intrigua si bien qu'elle fut invitee
ä participer aux fetes de l'inauguration du canal de Suez. Elle
etait ä Tage oü les femmes de sa reputation fönt le vide aupres
d'elles. Litteralement, on la fuyait, un peu pour les scandales de
son passe, beaucoup parce qu'elle etait vieille et qu'on redoutait
sa langue comme sa plume. Theophile Gautier feint de ne pas
la reconnattre. Fromentin, Berthelot, Pelletan sont de glace. Elle
sefigurequesil'ons'ecarted'elle, c'est parce qu'elle a publie sa „Sa-
tire Paris-Matiere qui flagellait les vices de la cour imperiale".
Pour eile, les „agressions tacites" des „hommes officiels" n'ont
pas d'autre raison. Elle se drape dans son orgueil. Elle brave
le sort.
Du moins, eile put abondamment narrer ses peregrinations,
qu'elle entremela de ses Souvenirs. Le fantöme de Gustave Flau-
bert n'est pas absent de cette litterature; il est maltraite ä sou-
hait. Avoir exerce une sorte de royaute amoureuse et n'etre plus
que ce qu'elle etait, il faut avouer qu'un philosophe meme aurait
pu montrer de l'aigreur. A Paris, on ne prete plus qu'une atten-
297
tion distraite ä ses livres. Elle signe une affiche feministe en sep-
tembre 1870. Quelques mois apres, eile se ränge du cote de la
Commune. Revolte et decadence!
Louise Coiet mourut en 1876. Maxime Du Camp iui dedia
cette epitaphe:
Ci-git
Celle qui compromit Victor Cousin,
Ridiculisa Alfred de Musset,
Vilipenda Gustave Flaubert
Et tenta d'assassiner Aiphonse Karr.
Que la „Muse" füt une aga(;ante, envahissante et mediocre per-
sonnalite, nul n'y contredira. Et pourtant, ses lautes et ses faiblesses
ne seraient-elles pas le fait de son visage, de son epoque et de son
milieu tout autant que de son caractere? M"^ de Mestral indine
ä le penser: „Car enfin, meme en l'an de gräce 1840, si M"^«
Colet avait ete laide, tout porte ä croire qu'elle aurait coule ob-
scurement et paisiblement, ä Aix ou ä Paris, son existence de
petite bourgeoise . . . Son tort ä eile tut de ne pas compren-
dre qu'en pronon^ant esprit, talent, genie, ses adorateurs ne
voulaient [jamais dire que beaute." L'Academie couronna les
larges yeux bleux et les süperbes boucles blondes. Cousin, Flau-
bert, Vigny, Musset admirerent les magnifiques epaules de cette
„Venus de Milo en marbre chaud". Le coeur masculin, aux plus
grandes heures de la periode romantique, accomplissait des pro-
diges d'egoisme et d'hypocrisie. Louise^ Colet s'imagine qu'elle
est aimee, et pour son intelligence non moins que pour son
visage. Apres la fin des courtes illusions, des rapides vertiges,
eile en est reduite ä lire le bout de phrase de Flaubert: „Sacree
Muse, va, que tu es drole!"
VIRQILE RÖSSEL
?•••?•
298
VIKTOR HEHN
Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten!
Bleibt in euren Hütten, euren Zelten I
Und ich reite froh in alle Ferne,
Über meiner Mütze nur die Sterne.
(Buch des Sängers)
Es lohnt sich, Viktor Hehn näher zu treten, auch wenn kein
äußerer Anlass dazu herausfordert. Dank einer umfassenden selbst-
erworbenen Bildung durfte er in die verschiedensten Provinzen
der Gelehrsamkeit schweifen, ohne irgendwo als wildernder Frev-
ler zurückgewiesen zu werden, und überall ließ er deutlich sicht-
bare Spuren zurück, die auch die Zukunft nicht leicht verwehen
wird. Manches bedarf vielleicht schon jetzt der nachbessernden
Feile des modern geschulten Gelehrten, doch sein naturwissen-
schaftlich-linguistisches Hauptwerk „Kulturpflanzen und Haustiere"^)
ist noch heute ein unentbehrlicher Berater des Pflanzengeographen
und Kulturhistorikers, wer nach Itahen zieht, tut noch heute
gut daran, zu Jakob Burckhardts „Cicerone" Hehns „Ansichten
und Streiflichter" in die Tasche zu stecken, und der erste, leider
einzige Band seiner „Gedanken über Goethe" gilt noch heute
manchem Kenner als das Feinste und Gehaltvollste, was über
unsern größten Menschen und Dichter gesagt worden ist, und
überdies versucht dieses Werk, so unmodern es sonst sein mag, zum
erstenmal das topographische und stammesgeschichtliche Moment
für die Analyse des dichterischen Talentes zu nutzen. Er selbst
vermochte nur einen Teil der ungeheuren Ernte seines Sammel-
fleißes unter Dach zu bringen; verständige Vertraute seiner Denk-
weise, wie Theodor Schiemann, Albert Leitzmann, Eduard von
der Hellen, haben nach seinem Tode den reichen literarischen
Nachlass, den die Krallen der russischen Geheimpolizei nicht hatten
erwischen können, kundig verwaltet; ihrem Eifer verdanken wir
die interessanten italienisch-französischen und russischen Tage-
bücher, die wundervolle Schrift über „Hermann und Dorothea"
und neuerdings aus Hehns Frühzeit ein größeres Buch über
^) Hehns eigene Publikationen haben Gebr. Borntraeger in Berlin, die
Schriften aus seinem Nachlass y. G. Coftas Nachfolger in Stuttgart verlegt;
bei Cotta ist auch Theodor Schiemanns biographisches Werk : „Viktor Hehn.
Ein Lebensbild" (1894) erschienen.
299
Goethes Gedichte, das, wie der berufene Herausgeber bezeugt,
manches ahnend vorwegnimmt, was erst die neueste Forschung
klar eri<annt hat.
Trotz der bunten Mannigfaitigi^eit seiner Studien geht ein
großer einheitlicher Zug durch Viktor Hehns Lebenswerk. Das
Kernproblem seiner naturwissenschaftlichen Tätigkeit ist die Frage:
wie hat sich die Natur unter der Herrschaft des Menschen ver-
ändert? Alle seine kulturgeschichtlichen Arbeiten, zu denen er in
seinen Notizenheften eine Unmenge von Details aufspeicherte,
erscheinen so als Bausteine zu einer Darstellung der gesamten
Kultur des modernen Europa in ihrer geschichtlichen Entwicklung;
jede Beobachtung wird seinem episch-plastischen Temperament
sofort zum Ereignis, überall wittert er mit feinem Spürsinn das
Typische heraus, und die rupfende Ziege gestattet seinem scharf-
sichtigen Auge ebenso wie der von Schlingpflanzen umwucherte
Säulenstumpf fördernde Blicke In weite geschichtliche Fernen.
Mit der Andacht des deutschen Gelehrten hegt er das Kleine, das
Einzelne; aber es fesselt ihn nur insofern, als es sich ihm als
Glied einer langen Entwicklungskette darstellt, als sich in ihm
das Allgemeine spiegelt. „Müsset im Naturbetrachten immer eins
wie alles achten!" ruft Goethe der verknöchernden, sich im Ein-
zelnen verlierenden Wissenschaft zu, Goethe, zu dem nur wenige
Deutsche ein so inniges persönliches Verhältnis gewannen wie
der Russe Hehn. Nicht die eigene Zeit, die Gedankenwelt Goethes
und der in ihm wiedergeborenen Antike ist der Wurzelboden
seines Geistes; hier findet er, was er in der Nähe vergeblich ge-
sucht: die edle Einfalt und stille Größe wahrer innerer Kultur.
Wer sich in sattem Behagen mit dem Bewusstsein begnügt, „wie
wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht," mag sich nase-
rümpfend von dem Vertreter eines wolkigen, gegenwartsfremden
Ästhetizismus abwenden — wer tiefere Bildungswerte zu würdigen
versteht, wird in Viktor Hehn etwas anderes erkennen: eine zwar
einseitig orientierte, aber in dieser Beschränkung harmonische
und unendlich reiche Persönlichkeit.
I.
Livland, Viktor Hehns Heimat, hat als das nördlichste Boll-
werk deutschprotestantischer Kulturarbeit schon im achtzehnten
300
Jahrhundert an der Entwicklung der deutschen Literatur teilge-
nommen; in Riga durfte der junge Herder zuerst Anker werfen,
aus einem livländischen Pfarrhaus ging der geniale Lenz hervor,
und ein anderer Stürmer und Dränger, Klinger, landete nach
einem abenteuerlichen Leben als General und Kurator der 1802
nach deutschem Vorbild neu gegründeten Universität in Dorpat.
Im ersten Band des Sammelwerkes „Aus baltischer Geistesarbeit"
(Riga 1908) entwirft Julius Eckardt ein überaus ansprechendes
Bild des deutschen Livland in der ersten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts: Lebensweise, Sitte, Sprache, alles ist kerndeutsch,
bis um die Mitte der vierziger Jahre das kleinbürgerliche Stilleben
mit jähem Missklang abbricht: eine slawische Sturzwelle überflutet
das Land, russische Beamte ziehen in den Städten ein, der Bauer
opfert sogar den ererbten Glauben, und selbst die Universität
Dorpat, die Akropolis der deutschen Kultur in Livland, muss vor
der brutalen Übermacht kapitulieren. Doch die Balten haben es
auch heute noch nicht vergessen, dass ihr geistiges Vaterland
jenseits der Weichsel liegt.
Viktor Hehn fühlte sich durch und durch als Deutscher. Auf
seinem ersten Flug nach dem Süden biegt er in Bamberg nach
Nordwesten vom Weg ab, um den Quellen seines Geschlechts
nachzugehen und dabei die Erklärung für manche Rätsel der
eigenen Seele zu suchen ; auf diesem Streifzug gewinnt er die Ge-
wissheit, dass seine Familie dem selben gesegneten Land entstammt,
das Goethe hervorgebracht: der fränkischen Rhein-Maingegend,
wo Sitte und Leben zwischen dem düsteren Puritanismus des
Nordens und der fessellosen Sinnlichkeit des Südens die glück-
liche Mitte halten. Der Theologe Johann Martin Hehn, mit dem
sich ein Zweig der Familie in Livland ansiedelte, scheint seinem
Enkel die Freude an linguistischen Studien vererbt zu haben; dem
Vater, der früh aus dem Predigertalar herausschlüpfte und in
Erlangen zum Dr. jur. promovierte, mag Viktor den beweglichen
kritischen Verstand und die Neigung zur Polyhistorie verdanken.
Kurz vor der Völkerschlacht bei Leipzig, am 8. Oktober 1813,
ist Viktor Hehn in Dorpat zur Welt gekommen. Wie sein Bio-
graph Theodor Schiemann erzählt, verriet schon der Gymnasiast
außer großem Lerneifer respektable Belesenheit und eine unge-
wöhnliche Beherrschung des sprachlichen Ausdrucks, und in
301
frühen poetischen Versuchen schaute er schon nach dem fernen
Süden aus, „wo der Himmel blau ist, und wo die Dichtung, die
Freude und die Freiheit wohnen". In Viktors zehntem Lebens-
jahr stirbt der Vater, und da er als das älteste von drei Kindern
aus dieser Ehe so bald als möglich auf eigenen Füßen stehen
soll, ergreift er noch als Student der alten und neuen Sprachen
den Schulmeisterbakel und leistet nach bestandenem Examen vier
Jahre lang in verschiedenen, zum Teil ungebildeten und unbild-
samen adeligen Familien als Hauslehrer bittere Frohndienste. Im
Januar 1838 darf er das verhasste Joch endlich abschütteln und
aufatmend dem nordischen Nebel entfliehen, in Hamburg betritt
er deutschen Boden ; über Köln und Frankfurt, wo ihn die naive
Lebensfreude des Süddeutschen erquickt, eilt er auf den Beginn
des Wintersemesters nach Berlin. Mit einem Bildungshunger ohne
gleichen wirft er sich hier polyhistorischen, besonders aber philo-
sophischen Studien in die Arme; „das Bewusstsein der Kraft-
entwicklung" steigert seine Lebenslust, aber zugleich bemächtigt
sich seiner jene einsame „Düsterkeit des tiefen Denkers", die sein
Hegel in Spinozas Gesichtsausdruck fand; sein gesunder Sinn für
die Wirklichkeit bewahrt ihn freilich trotz seiner Hingabe an die
Hegeische Philosophie vor dem völligen Aufgehen in der bloßen
Gedankenwelt der philosophischen Spekulation. Der Verkehr mit
einem hochbegabten Landsmann, Georg Berkholz, bringt eine
Fülle fördernder Anregungen ; aber nach einem überreichen Winter
vermag ihn auch Berlin nicht länger zu halten: seine Sehnsucht
nach Italien ist jetzt erfüllungsreif. Auf den selben Pfaden, auf
denen Goethes Reisewagen im Herbst 1786 dem Süden zurollte,
zieht Hehn in Italien ein. Wie Goethe folgt er in Vicenza
und Venedig andächtig den Spuren Palladios; auch ihn vermögen
nur die Erben der Antike dauernd zu fesseln : San Marco erscheint
ihm „von ausschweifendem, wollüstigem, gewundenem Geschmack,
wie ein Opiumtraum", Sant Antonio in Padua ist ein „uraltes
byzantinisches Ungeheuer". Nach längerem Aufenthalt in Florenz
erreicht er am letzten August Rom; von hier aus durchstreift er
das Land östlich bis in die Bergtäler der Apenninen und südlich
bis Neapel und Salerno. Kunst und Volksleben, Land und Leute
ziehen ihn, wie das von Schiemann herausgegebene Reisetagebuch
bezeugt, gleichermaßen an; aber schon jetzt ist ihm die Entwick-
302
lung interessanter als die gegenwärtige Erscheinung: die Lage
Roms regt ihn zum Nachdenicen über die frühere Bodengestalt
Mittelitahens an, emsig pirscht er in der alten Literatur nach Mit-
teilungen über die Kulturpflanzen und Haustiere im alten und
neuen Italien, und auf Capri studiert er das Gesicht einer schönen
Blumenverkäuferin, um zu erfahren, ob Griechen, Sikuler oder
Etrusker die ersten Bewohner der Insel gewesen seien ; als rechter
Hegelianer findet er in der „Kette der Ereignisse nichts als die
in der Zeit entfaltete Vernunft, die sich in sich selbst bewegt".
Am 16. März 1840 schied Hehn von Rom, wie Goethe mit
dem Gefühl, dass er der Verbannung entgegenziehe. Frei und
leicht, so hatte er wohl gehofft, sollte ihm auf der Heimreise zu
Mute sein; statt dessen schleppte er als schweres Reisegepäck
eine Fülle von Ideen mit sich, die doch nur dann reifen konnten,
wenn sie die Sonne Italiens von Zeit zu Zeit streifte. Der Riviera
schadet die Konkurrenz des Golfes von Neapel; bei Nizza
beobachtet er den Übergang des italienischen Landschaftstypus
in den französischen, und mit wachsendem Entzücken fährt er
durch die Provence und über Lyon nach Paris. Noch lauter als
die Trümmer der Cäsarenstadt reden die Straßen, Türme, Paläste
von Paris zu ihm von großen Zeiten; alle Jahrhunderte haben
da ewige Spuren zurückgelassen, und ein seltsames Getöse schwebt
über dem Koloss: „es ist der Dampf der Gedanken, der Nebel
der Weltgeschichte, der Schatten unzähliger Existenzen, der Dunst-
kreis großer Verhältnisse und Taten und das Gegenbild, das sich
über unergründlichen Tiefen zeichnet."
Auf der Rückreise hält er sich noch einmal längere Zeit in
Berlin auf. Zu Beginn des Jahres 1841 übernimmt er, jedenfalls
der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb, die Stelle eines
Oberlehrers der alten Sprachen an der höhern Kreisschule des
frommen baltischen Städtchens Pernau; erst 1846 findet er als
Lektor der deutschen Sprach- und Literaturgeschichte an der
Universität Dorpat ein seinem Können angemessenes Arbeitsfeld.
Doch die Dorpater Lehrjahre nehmen ein unerwartetes Ende:
im Juli 1851 wird der Ahnungslose nach seiner Rückkehr aus der
Sommerfrische ohne weiteres verhaftet und nach Petersburg ins
Gefängnis der sogenannten dritten Abteilung, das heißt der Ge-
heimpolizei, geschleppt; in der Briefkassette einer vornehmen
303
Livländerin, die mit den deutschen Freiheitshelden sympathisiert
und sich noch rechtzeitig auf deutschen Boden zurückgezogen
hatte, fanden sich auch — übrigens ganz unverfängliche — Briefe von
Viktor Hehn. Da Hehn wie alle Gefangenen der dritten Abtei-
lung Stillschweigen geloben musste, sind wir über den Gang der
Verhandlungen nur mangelhaft unterrichtet; ein Erlass des Zaren
Nikolaus II. verurteilte ihn endlich zu drei Monaten Festungshaft
und zur Verbannung in einer beliebigen großrussischen Stadt, die
aber weder Haupt- noch Universitätsstadt sein durfte; das Recht
zu lehren wurde ihm für immer entzogen, dagegen sollte er eine
Anstellung im öffentlichen Dienst und einen seinem Rang ent-
sprechenden Titel erhalten.
In Tula, südlich von Moskau, wo Hehn sein Exil abzubüßen
beschloss, hatte er nicht unter äußerer Not zu leiden ; ein Oheim
führte ihn in die großenteils deutsche Gesellschaft ein; er galt
offiziell als Staatsbeamter, wurde aber nie mit einem Auftrag be-
lästigt; Klavierstunden verschafften Abwechslung und etwelchen
Erwerb, und im Kartenspiel brachte er es zu anerkannter Meister-
schaft, Aber eines empfand er schmerzlich : den Mangel an Büchern.
Zum Glück hatte er wenigstens seine Goetheliteratur gerettet; sie
bewahrte ihn vor dem geistigen Hungertode. Was Bismarck im
Tischgespräch zu Versailles geäußert haben soll: „Mit den neun
ersten Bänden Goethe könnte ich ziemlich lange auf einer wüsten
Insel existieren," das hat Hehn in Tula fast buchstäblich erfüllt.
Eine Menge von Auszügen, Bemerkungen, Dispositionen geben
Rechenschaft davon, mit welcher Gründlichkeit Hehn damals
Goethes Leben und Werke durcharbeitete. Alle diese Vorarbeiten
sollten sich zu einer großen Goethe-Monographie zusammen-
schließen ; in Tula gelang ihm nur das eine nach seinem Tod ge-
druckte Büchlein über „Hermann und Dorothea"; ein Teil des
übrigen Materials wurde nach dreieinhalb Jahrzehnten in den
„Gedanken über Goethe" geborgen.
Nach dem Tode Nikolais, im April 1855, erhielt Viktor Hehn
endlich die Freiheit zurück, und bald darauf fand sich für ihn auch
ein bequemer Posten an der kaiserlichen öffentlichen Bibliothek
zu Petersburg. Die vielen freien Stunden, die ihm sein Amt ließ,
nutzte er durch rastloses Sammeln von Materialien zu einer
Kulturgeschichte Europas. Die ganze ungeheure Stoffmasse zu
304
bändigen überstieg die Kräfte des einen Menschen ; dafür weiteten
sich einzelne Abschnitte zu großen Monographien aus, von denen
drei noch zu Lebzeiten Hehns erscheinen konnten: 1864 „Italien,
Ansichten und Streiflichter" ; 1873 „Das Salz, eine kulturhistorische
Studie** und 1869 das Werk, das ihn mit einem Schlage zum be-
rühmten Manne machte: ,, Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem
Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das
übrige Europa; historisch - linguistische Skizzen**. Nebenher
sammelte er in einer Art verschwiegenem Tagebuch eine Menge
Notizen über Russen und Russland, die Schiemann nach dem
Tode Hehns unter dem Titel „De moribus Ruihenorum" veröffent-
licht hat; sie sind wohl das Schärfste, was je über den russischen
Nationalcharakter gesagt worden ist, und bilden als authentische
Quelle den besten Realkommentar zu den Werken der jüngeren
Russen, vor allem auch zur Dichtung Gogols, in dessen Realis-
mus Russland nach Hehns Urteil „sein wahres Organ, seine wahre
Form** gefunden habe. Als Puschkin Gogols Meisterroman „Die
toten Seelen** aus der Hand legte, ächzte er: „Ach Gott, wie
traurig ist unser Russland!** und die selbe Klage stöhnt auch
Hehns Petersburger Tagebuch. Die Russen sind für ihn ein se-
niles Volk; „alle ihre Fehler sind keine jugendliche Roheit, son-
dern gehen aus asthenischer Entartung hervor.** Trunksucht,
Bestechlichkeit, Unreinlichkeit, Aberglaube, Dummheit, Geckerei,
Unsittlichkeit zeichnen den Russen aus; vor allem zeigt er eine
unüberwindliche Abneigung gegen jede Art von tieferer Bildung; er
besitzt keine Spur von produktiver Originalität — Russland hat
im Gegensatz zu dem jungen Amerika nichts erfunden — und
damit hängt endlich der Mangel an Idealität zusammen, der den
russischen Nationalcharakter auszeichnet: alles ist niedrig, gemein,
selbst Schädel und Gesicht des Menschen. Vielleicht bedürfte
Hehns schroff ablehnendes Urteil über die Russen seiner Zeit heute
ebensosehr der dämpfenden Korrektur wie sein Hymnus auf die
Italiener.
Nach mehr als dreißigjähriger Tätigkeit im öffentlichen Dienst
konnte Hehn im Oktober 1873 mit einer kleinen Pension und
einem ansehnlichen selbsterworbenen Vermögen nach Berlin über-
siedeln. Ein alter Wunsch ging dadurch in Erfüllung, aber Hehn
ahnte doch, dass seiner in der neuen Heimat manche Enttäuschung
305
harrte. „Ein neuer Lebensabschnitt beginnt," seufzte er, „der
letzte Akt des Trauerspiels, wo der Held in beschleunigtem Gange
zum Ende geführt wird." Trotzdem ihm alle denkbaren kleinen
und großen Ärgernisse die letzten Lebensjahre verbitterten, konnte
er wenigstens den ersten Teil seiner „Gedanken über Goethe''
abschließen ; zum zweiten lagen die Vorarbeiten schon auf seinem
Schreibtisch, als ihn der Tod am 21. März 1890 nach dreitägiger
Krankheit abberief.
Als ein Einsamer, der den Kontakt mit der lebendigen Gegen-
wart schon lange verloren hatte, ist Viktor Hehn gestorben. Vor
allem verdross ihn die innere Entwicklung des geeinigten konsti-
tutionellen Deutschland. „Vor vierzig Jahren," brummt der Siebzig-
jährige, „war der stumpfen Masse gegenüber jeder reichere, um-
fassender gebildete Geist liberal; jetzt ist jede tiefere Natur
konservativ und überlässt den Fortschritt den Männern von der
Bierbank." Der schrille Lärm der Tagespolitik verletzt sein
vorwiegend inwärts lauschendes Ohr, und wie Kellers Martin
Salander hegt er schwere Zweifel an der politischen Mündigkeit
der Masse. In der „demokratischen Plattheit und Seichtigkeit,
von der man millionenfach in Wort und Schrift umwimmelt wird",
ist sein Trost und seine Erbauung einzig Bismarck, zu dem er
begeistert aufschaut, ohne unbedingt auf die konservative Partei
zu schwören ; Bismarck ist in seinem — und Goethes — Sinne
konservativ, das heißt, wie die Vorrede zur dritten Auflage der
„Ansichten und Streiflichter" es klipp und klar ausdrückt: „in
historischer Anknüpfung progressiv." Ebenso peinlich wie der
Phrasen-Demokratismus, den die üble Pressfreiheit gezeitigt hat,
ist ihm der wachsende nationale Dünkel der Deutschen; jedes
einzelne Volk erscheint seinem immer auf das Allgemeine gerich-
teten Blick nur als Teil eines großen Ganzen : „Nationalität ist
Organ der sich bewegenden Menschheit, ihre Erhaltung in den
Augen des Weisen nur so lange wichtig, als sie der Entwicklung
der Menschheit dient." Wie die Schlussworte der „Kulturpflanzen
und Haustiere" ausführen, ist es nutzlos und borniert, sich den
Lehren der Fremde zu verschließen; wahre Vaterlandsliebe sucht
auch den Kulturgewinn des Auslandes zu nutzen, und selbst das
verachtete Fremdw.ort kann, ohne die nationale Würde zu ver-
306
letzen, das überlieferte Kulturgut der Muttersprache bereichern:
„viel entlehnt, viel gelernt."
Neben dem Demokratismus trägt nach Hehns Überzeugung
das Judentum, das die Literatur und das öffentliche Leben be-
herrscht, die Hauptschuld am Verfall der modernen Kultur. Der
einzelne Jude galt Hehn im persönlichen Leben so viel wie der
Christ; aber das spezifisch Jüdische, dessen Vertreter Heine ist,
ist ihm der Inbegriff des Verderblichen und Verachtenswerten.
„Wir sind die Unterdrückten, nicht siel" ruft er erbittert aus; „sie
zerstören systematisch den idealen Grund unseres Lebens, und
wir dürfen nicht einmal murren!" Jüdischer Einfluss richtet vor
allem, wie ausführliche Vorstudien zu einer stilistischen Arbeit
nachzuweisen versuchen, die deutsche Muttersprache zugrunde.
Kein Jude, versichert Hehn, kann reines Deutsch schreiben; der
Jude ist geistreich, aber abgeschmackt; er sagt nichts natürlich,
sondern zieht alles ins Gemeine herab oder steigert es ins Un-
gereimte. Der Humor fehlt ihm; dafür besitzt er das traurige
Surrogat der beißenden Satire, des zersetzenden Witzes; er strebt
nach dem Auffallenden, nicht nach dem Schönen; sein Stil ist
prickelnd, er verschmäht die „schöne Wellenform", und seine
faszinierende Wirkung verdankt er lediglich dem traurigen Kniff,
„das Ideale, das Heilige, die Welt des Gemüts und der Phantasie
durch Zusammenstoß mit der vulgärsten Prosa der Tagesgeschichte,
des gemeinen Lebens und grober, natürlicher Bedürfnisse zu zer-
trümmern; es ist ein ewiges Beinstellen".
Unaufhaltsam geht unter dem Einfluss des Judaismus die
deutsche Sprache dem Verfall entgegen. Eins könnte sie retten:
die Schule, aber sie erfüllt nach Hehns Ansicht ihre Kulturmission
nicht. Das lebendige Sprachgefühl des Kindes — das dürfen auch
wir uns noch merken! — verkümmert unter dem Drucke der
Schulerziehung; „der Bauer, der in keiner Schule gewesen ist,
spricht besser als der aus der Schule gekommene." Vor allem
aber stellt sich die Schule immer mehr in den Dienst der Natur-
wissenschaften, die das ganze Gebiet des menschlichen Wissens
gepachtet haben und sich nun sogar die Philosophie selbst be-
sorgen, und damit vermittelt sie statt der rein menschlichen Kultur,
das heißt der „natürlichen Liebenswürdigkeit und Humanität", die
iür Hehn das letzte Ziel .jeglicher Bildung bedeutet, bloße „höhere
307
/
Commisbildung**. Wie der Demokratismus macht die Schule vom
eigenen Wert viel Aufhebens; doch „die beste Schule", heißt es
in den „Ansichten", „ist die, von deren Dasein man kaum weiß;
nur in der Stille bringt sie ihren Segen und auch den erst nach
Jahren."
So dringt von allen Seiten her verwirrender Lärm auf den
modernen Menschen ein und droht die zarten Stimmen der eignen
Brust brutal zu übertönen. Aber noch stehen dem Verständigen
die Fenster offen, durch die das nördliche Europa zur Zeit der
Renaissance und des deutschen Klassizismus sein hellstes und
wärmstes Licht empfangen; im romanischen Süden, auf dem
Trümmerfeld der Antike, findet die heimatlose Sehnsucht ihr
Delos, doch in einem Deutschen verkörpern sich ihr die ewigen
Kulturwerte der Menschheit.
ZÜRICH MAX ZOLLINGER
(Schluss folgt)
DDD
ERICH SCHMIDT UND DIE
SCHWEIZERISCHEN DICHTER
In einem Aufsatz über „Erich Schmidts Schaffen und Per-
sönlichkeit" hat neulich Hans Trog in der „Neuen Zürcher
Zeitung" auch der besonderen Beachtung, der sich die schweize-
rischen Dichter von Seiten des Verstorbenen erfreut, rühmend
gedacht. Wenn auch Erich Schmidt mancher Kranz mit Recht
gebührt, gerade diesen wird ihm aber die Geschichte dereinst ab-
sprechen. Und um deswillen erfordert jene Behauptung einer
berichtigenden Ergänzung.
Erich Schmidt hat, soviel ich weiß, nur einmal einem schwei-
zerischen Schriftsteller zum Durchbruch verholfen: als er in den
neunziger Jahren Walter Siegfrieds Künstlerroman „Tino Moralt"
mit Nachdruck in der Deutschen Literaturzeitung besprach. Er
hat dann vor einigen Jahren in einer Staunen und Aufsehen er-
regenden Abhandlung der Deutschen Rundschau — — Ernst
Zahn den Kranz der Unsterblichkeit gereicht. Damit ist aber sein
Interesse für schweizerische Dichtung der Gegenwart erschöpft;
308
wenigstens soweit es sich in der Öffentlichiceit geäußert hat. Wer
wird danach noch nach einem Menschenaiter fragen? Niemand.
Wenn aber ein Historilcer der Literatur dereinst nach der Auf-
nahme forschen wird, die jenes Weric, das wie ein einsamer
Granitblock das wogende Meer der Produi^tion dieser Zeit über-
ragt, bei den representativen Kritikern gefunden habe, so wird es
unter diesen dem Namen Erich Schmidts nicht begegnen. Und er
wird sich wohl bei dieser Gelegenheit die Erwähnung der er-
heiternden Tatsache nicht versagen, dass in den Jahren, da man
in der deutschen Literatur das Wunder des „Olympischen Früh-
lings" von Carl Spitteler erlebte, Erich Schmidt nacheinander
Paul Heyse und Gerhart Hauptmann für die Auszeichnung durch
den Nobel-Preis vorgeschlagen hat . . .
Man wird freilich eine Erklärung hiefür leicht finden können.
Erich Schmidts literarischer Geschmack stammte, was nicht ge-
nügend beachtet wird, aus der Schule seines Namensvetters, des
kritischen Aristarchen der „Grenzboten", Julian Schmidt. Ihm
erschien der gemäßigte Realismus Otto Ludwigs und Gustav
Freytags — man verzeihe, dass ich die Beiden zusammen nenne!
— als der einzige mögliche Weg, der der deutschen Literatur
nach dem durch die Klassiker einmal erreichten Gipfel noch zu
gehen bestimmt war. Was sich in diese Tradition nicht einfügen
lassen wollte, das existierte für ihn nicht, das lehnte er schlank-
weg ab. Es war die gleiche Taktik, die auch Schmidts Freund
Rodenberg seit jeher in der Deutschen Rundschau befolgt hat
und über die der Biograph Spittelers dereinst ein erbauliches
Kapitel zu schreiben haben wird. So kam es denn, dass Erich
Schmidt, wie er vor einem Menschenalter dem schmächtigen Talent
Carl Busses wegen einiger volksliedartiger Almanach - Verse
öffentlich ein „Morituri te salutant" zugejubelt, so auch später
wohl Ernst Zahn als den Erben der Kunst Gotthelfs und Kellers
ausrufen konnte — aber die selbständige Poesie Spittelers, die
wie die Erfüllung der Sehnsucht eines ganzen Jahrhunderts an-
mutet, bis zum letzten Augenblicke ignorierte.
Das soll um der Wahrheit willen nicht verschwiegen werden.
BÜMPLIZ JONAS FRÄNKEL
aaa
309
»
GYGES UND SEIN RING"
Wenn Friedrich Hebbel an die Ausführung eines Dramas
heranging, stand ihm gewöhnlich nichts so klar im Bewusstsein,
wie die sittliche Idee oder vielmehr der dialektische Gang der
sittlichen Idee. Bei „Qyges und sein Ring" war das anders. Er
kam ohne eigentliche Vorbereitung zu diesem Stoff, „wie der
Knabe zum Vogel; er fängt ihn, weil er gerade da sitzt". „Ich
war mir sonst bei meinen Arbeiten immer eines gewissen Ideen-
hintergrundes bewusst, wegen dessen ich keineswegs produ-
zierte, der aber doch wie eine Gebirgskette zu betrachten war,
welche die Landschaft abschloss. Daran mangelte es diesmal
ganz; mich reizte nur die Anekdote, und nun das Stück
fertig ist, steigt plötzlich zu meiner eigenen Überraschung wie eine
Insel aus dem Ozean die Idee der Sitte, als die Alles bedingende
und bindende, daraus hervor." (Brief vom 14. XII. 1854an Uechtritz.)
Also schuf Hebbel bei diesem Stück viel unmittelbarer, viel un-
bewusster, als es sonst bei ihm der Fall war.
Er hatte die Geschichte von Kandaules und Rhodope erstmals
in einem Lexikon gelesen — später diente ihm Herodot als Quelle —
der Stoff „zündete und noch den selben Abend entstand eine der
Hauptszenen, die zwischen Gyges und Kandaules zu Anfang des
zweiten Aktes". Dies beweist zur Genüge, dass ihn diesmal die
Idee nicht plagte.
Die Anekdote war für eine Tragödie gewiss geeignet, doch
ein roher Block, der schwere Meißelarbeit erforderte. Der Lydier-
könig Kandaules will seinen Liebling Gyges überzeugen, dass er
das schönste Weib besitze ; er soll es in nackter Schönheit sehen.
Tief verletzt, verlangt die Königin, nachdem das geschehen ist, von
Gyges, dass er den König töte und ihr Gatte werde. Sie schenkt
ihm darauf einen Sohn. Den Weg ins Schlafgemach der Königin
findet Gyges mit Hilfe eines unsichtbar machenden Ringes, aber
er sucht und findet mit dem selben Ring auch den Weg zum Herzen
der Königin.
Die Schwierigkeit für den Dichter lag vor allem in einer rein
psychologischen Motivierung der Handlung. Sie musste aus allge-
meinen menschlichen Regungen abgeleitet, sie musste dem Kreise
310
des Besondern entrückt und in die Sphäre des Allgemeinen gehoben
werden. Erst dann konnte der Gegenwart lebendig werden, was
um fast drei Jahrtausende von ihr getrennt war.
Wie wahr ist nun diese Motivierung in der Tragödie durch-
geführt! Aus dem Frevel des Königs an der Gattin wird ein Ver-
gehen an der ganzen, den König umgebenden Welt. Dieses Vergehen
ist nicht mehr ein Fehltritt, der auch hätte unterbleiben können, es
ist die notwendige Verteidigung des eigenen Ichs gegenüber der Ge-
samtheit. Das individuelle Leben überhaupt wird Gegenstand der Tra-
gödie. Rhodopens Kränkung wird zur Verletzung der Natur; darum
kann die Königin nicht wie bei Herodot darüber hinweg zu einer
neuen glücklichen Ehe schreiten. Gyges braucht sie auch nicht
nackt zu sehen ; es ist schon zu viel, wenn er ihr ins entschleierte
Antlitz blickt. Ich sprach vom unbewussten Arbeiten des Dichters
an dieser Tragödie, weil schon jene sofort entstandene Szene
eine dialektische Ordnung des Stoffes verrät. Es war eben so sehr
Hebbels Überzeugung, dass aller Fortschritt nur vom Individuum
ausgeht, dass alle Entwicklung sich als ein Kampf zwischen Indi-
viduum und Gesamtheit vollzieht, zwischen dem Bringer des Neuen
und der Verehrerin und Behüterin des Alten, in dem das Indi-
viduum immer unterliegen muss, die Gesamtheit aber, um den
individuellen Wert bereichert, als Siegerin hervortritt, dass diese
Dialektik für den Dichter gewissermaßen zu einer Anschauungs-
form für alles historische Geschehen wurde. So gestalteten sich ihm
die drei Hauptcharaktere Rhodope— Kandaules — Gyges zu These-
Antithese — Synthese, ohne dass es ihm klar ins Bewusstsein trat.
Rhodope ist eine Tochter Indiens. Ihre Herkunft weist, weil
nach Osten, nach der Vergangenheit. Ihr Schleier ist das Symbol
für die alternde Welt, die sie vertritt. Ihr den Schleier rauben,
ihr Empfinden verletzen und missachten, heißt sich an der Natur
vergreifen. Und da die Natur immer stärker ist als ein Einzelnes,
so kann das ungestraft nicht geschehen. Die Welt im Schlafe
kann man Rhodope nennen, und wenn man an ein ungedrucktes
Hebbelwort „Schlaf ist Zurücksinken ins Chaos" denkt, von ihr
sagen, sie möchte immer weiter zurück in die Vergangenheit,
wogegen Kandaules sagt: „man kann doch nicht zurück". „Wecke
den Irrenden sanft und lasse ihn schelten und um sich hauen.
Erst wenn der Mensch (selbst) erwacht, räumt er Dir ein, dass
311
er geschlafen hat." (Tagebuch III. 4831, Ausgabe Werner, zweite
Auflage.)
Das ist die Warnung, die Kandaules gilt. Mit ihm stößt eine
neue Welt auf die alte. Er steht auf einem höhern Standpunkte;
die ganze Vergangenheit soll umgewertet werden. Im Schleier
vermag er nichts zu erblicken als den Rest eines alten Aberglau-
bens, der ausgerottet werden muss. Sein Streben ist für ihn ein
völliges Recht; denn er gehorcht, wenn er sich behaupten will,
einem Lebensgesetze. Nur erkennt er, trotz seiner höhern Intelli-
genz, nicht, dass, wenn er die alte Form zertrümmert, die neue,
die er bietet, umfassender und kräftiger sein muss, um das Chaos
wieder aufzunehmen. Er vergisst, dass er kein Fertiger, sondern
selbst ein Werdender ist, dass er auf einer Grenze steht. „Jedes
Geschöpf, das zwischen zwei Welten in der Mitte steht, soll sich
zu der Welt, aus der es hervorwuchs, und nicht zu der, der es
entgegen wächst, rechnen. Für jene hat es Überfluss, für diese
dagegen Mangel." (Tgb. II. 2281.) Kandaules, indem er die
Zukunft zur Gegenwart machen will, indem er den natürlichen
Gang der sittlichen Idee beschleunigen möchte, vergewaltigt das
sittliche Gesetz. Er besitzt keine Pietät für das Bestehende, durch
das er geworden ist. Dieses Bestehende aber ist, obwohl nur
im Schlafe und nicht positiv, „doch unendlich mehr wie alle zu-
gespitzte Einzelheit". Unter Schlaf versteht Hebbel das sittliche
Gesetz in der Gesellschaft, im Staate. Es ruht eigentlich in jeder
Brust, aber es tritt in dem individuellen Bewusstsein nur ganz
dunkel oder gar nicht hervor. Es ist aber dennoch ein sicherer
Führer und lässt das naive Individuum nicht im Stich. Es ist das
/rra//o/za/ß im Individuum. Das Gesetz liegt verborgen, es schlaf t.
„Pietät ist, wie der Schlaf, die Hauptwurzel des sittlichen
Menschen, die Nabelschnur, durch die das Individuum mit dem
Weltall zusammenhängt."
Mangelt ihm die Pietät, so ist es auch schon losgelöst vom
Weltganzen und es muss untergehen. Diese Pietät fehlt dem
König vollständig, aber nur, weil er zu sehr mit neuem sittlichem
Stoff geladen ist. Er stirbt als Pionier der sittlichen Idee, der
Hebbel bekanntlich absolute Existenz zuschreibt.
Aber aus dem Kampfe der beiden Welten, der Rhodopens
und der des Königs, erhebt sich als Synthese eine neue Welt.
312
Sie findet ihre Veri<örperung in Gyges. In ihr sind die Gegen-
sätze ausgeghchen, es lebt das Individuelle weiter, es wird in ihr,
von der individuellen Form befreit, allgemeines Gesetz, was ehe-
dem in Kandaules als reine Willkür wirkte. Die kommende Welt
urteilt wie er. Seine Schuld lag nicht in einem bestimmten V^oWqti,
sondern vielmehr im Wollen an sich. Das ist die erschütternde
Tragik, dass der Held überall Recht hat und nur deshalb scheitern
muss, weil eine Generation noch nicht zu billigen vermag, was
die nächste schon zum Gesetze erhebt. Hebbel hat den Helden
sehr sympathisch gestaltet, indem er ihn zu einem einheitlichen
Charakter machte, der, wo er geht und steht, sich immer gleich
bleibt. Das Spezielle, dem er zum Opfer fällt, ist nicht frevel-
hafter als sein übriges Tun. Er sträubt sich gegen alles, was
nicht von morgen kommt.
Gleich die erste Szene zeigt uns seinen antithetischen Geist.
Man feiert das Heraklidenfest, zu dem er mit Diadem und Schwert,
die schon seit fünf Jahrhunderten die Könige schmückten, er-
scheinen soll. Aber er weigert sich, den alten Reifen und das
rostige Eisen zu tragen
Das neue Diadem! Was soll mir dies?
Hast du dich auch vielleicht im Schwert vergriffen?
und ob ihn Thoas auch warnt, ihn daran erinnert, dass beim
letzten Feste das Volk das neue Diadem und das neue Schwert
nur mit Entsetzen erblickte, ihn versichert, dass die Lydier im
alten Schmucke zugleich alle seine Ahnen mitverehren, er bleibt
bei seinem Entschlüsse:
So darfs nicht länger bleiben! Nimm denn hin
Und tu, was ich gebot.
Schon jetzt sehen wir, dass er einem Konflikte entgegengehen
muss. Er darf zwar als König wagen, zum zweitenmale, den
Wunsch des Volkes zu missachten, weil man ihm als dem Herr-
scher Gehorsam schuldig ist; aber das Verhängnis ist da, so bald
er seinesgleichen trifft.
Er verlangt von der Königin, was diese nicht tun darf, dass
sie am Feste teilnehme und sich dem Volke zeige. Sie bleibt
jedoch im Schleier, wie es ihre Sitte gebietet.
Wie kann ich!
Du holtest dir von weitentlegner Gränze
Die stille Braut und wusstest, wie sie war.
313
und er
Genug! ich bin ja an dies Nein gewöhnt!
Bläst auch der frische Wind an allen Orten
Die Schleier weg: du hältst den deinen fest.
Das ist eine der Stellen, die deutlich dartut, dass es sich
nicht um den Schleier im buchstäblichen Sinne handeh und die
deshalb auf der Bühne auch nicht bloß vorbeigeredet werden
darf, wenn der Zuschauer nicht zu einer falschen Auffassung ge-
langen soll. So wie Rhodope den Schleier, das durch die Tra-
dition Geheih'gte, verehrt, so fürchtet sie den unsichtbarmachenden
Ring. Denn er ist es, mit dem man den Schleier zu heben ver-
mag, mit ihm durchbricht man das Sittengesetz. Sie ängstigt sich
vor dieser unheimlichen Kraft; sie ahnt schaudernd das Unheil
vorweg, das er bringen muss. Der König aber schätzt ihn als ein
Machtmittel. Es kann aber nicht gut werden, denn dieser Ring
kommt zu einer gefährlichen Zeit. Der Zustand des Königs ist
der der Gereiztheit. Er findet überall Widerstand und so kommt
er sich in der Rolle des „Grenzpfahlkönigs" doppelt erbärmlich
vor, er, der doch ein König der Gesinnung, ein Gesetzgeber sein
möchte, den der eigene Wert zum Könige adelt, der nicht erst
von der Größe seiner Ahnen zu borgen braucht. Der Widerstand
stärkt gar oft den, der ihn erleidet, deshalb werden seine Wünsche
nur umso heftiger. In dieser Verfassung trifft ihn Gyges, aber
nicht der alte Gyges, sondern der Sieger, der gefeierte Held des
Tages. Er hat zugleich den Ruhm, der dem Könige gehörte,
mit eingeerntet, so dass Thoas von ihm sagt, er sei für das Volk
„wenn noch nicht Phöbus selbst, so doch sein Sohn." ,Wie fein
ist es psychologisch gedacht, dass gerade jetzt der Ring eingreift.
Denn Kandaules verträgt solche Größe nicht neben sich. Gyges
muss irgendwie besiegt werden. Hat er auch alle Kränze sich er-
obert, den einen vermag er dem Könige nicht zu entreißen. Kan-
daules besitzt das schönste Weib ! Das soll der Grieche fühlen und
gestehen. Deshalb versichert er: „Du sollst sie sehen!"
So fängt denn der König an, das gefährliche Werkzeug zu
gebrauchen, um seinem Freunde die Schönheit Rhodopens zeigen
zu können. Dieser unsichtbar machende Ring aber hätte kein Recht
in der Tragödie, wenn er mehr bedeutete als menschliches Ver-
mögen, und ein Dramatiker wie Hebbel, der gerade für „Gyges"
6\A
den vollsten Realismus in Anspruch nahm, hätte auch nie eine
Handlung auf die Bühne gebracht, die ohne Wundermittel nicht
zustande kommen könnte. Denn eine Handlung gehört dem
Drama an, nur soweit sie menschlich ist. Darin irrte sich Hebbel
nicht. Freilich ist der Realismus, wie der Dichter selbst sagt, in
das psychologische Moment verlegt, weil ein Dichter immer nur die
Menschen und nicht den Kosmos kennt. „Nie gestatte ich mir aus der
dunklen Region unbestimmter und unbestimmbarer Kräfte, die ich
hier vor Augen habe, ein Motiv zu entlehnen ; ich beschränke mich
darauf, die wunderbaren Lichter und Farben aufzufangen, welche
unsere wirklich bestehende Welt in einen neuen Glanz tauchen,
ohne sie zu verändern. Der Qyges ist ohne Ring möglich, die
Nibelungen sind es ohne Hornhaut und Nebelkappe." (Brief vom
23. 11. 1863 an Engländer.) Für diese unbestimmten Kräfte hatte
die Mythologie Symbole. Hebbel hat sie beibehalten: den Ring
und den Schleier. Kandaules und Rhodope sind die Lichter und
die Farben dazu. Diese Kräfte sind heute noch ebenso real, wie
vor dreitausend Jahren, nur leuchtet heute unsere Erkenntnis
hinein. Die Handlung ist vorgeschichtlich. Der Dichter liebte es,
die Fabel ihres mythologischen Gewandes nicht ganz zu entklei-
den ; denn es war nicht seine Meinung, dass man etwas gewinne,
wenn man den Eselskinnbacken der Bibel in ein Schwert ver-
wandle. Der Ring hat so im Stücke nur Platz, wenn er eine all-
gemein menschliche Regung vertritt. Er ist ein Symbol für das
individuelle eigenmächtige Bewusstsein.
Es gibt einen Punkt im einzelnen Menschen, der diesem
nicht mehr angehört; er ist das, was ihn mit dem Universum
verbindet, was er mit der Gesamtheit gemein hat. Alles, was
in ihm außer diesem Allgemeinen noch existiert, ist das ei-
gentlich Individuelle, und es kommt für den Einzelnen darauf
an, dass er das Verhältnis des Individuellen zum Allgemeinen
richtig ordne. Es kann schon von Natur aus richtig sein,
bei dem Menschen, der, wie Rhodope, schläft, der im Grunde
gar kein individuelles Bewusstsein besitzt. Anders bei dem
Menschen, der erwacht ist, der als Individuum lebt. Bei ihm
muss das Verhältnis erst hergestellt werden und zwar so, dass das
Besondere dem Allgemeinen untergeordnet bleibt, weil nur das All-
gemeine die gültige Form des Sittlichen darstellt. Nun ist möglich,
315
dass der Einzelne sich dem Ganzen unterzuordnen vermag; es
ist aber auch möglich, dass dies nicht gelingt. Das erste ist der
Fall bei Gyges, das andere bei Kandaules. Jener besitzt den
Ring nur, dieser besitzt und gebraucht ihn. Deshalb kann aus
dem Ring sowohl das Gute wie das Böse hervorgehen, je nach
dem Menschen, der ihn trägt. Jeder besitzt ein eigenes Streben;
aber nicht jeder mäßigt es, dass es über die Grenzen des All-
gemeinen nicht hinausgeht. Das kräftige Individuum sündigt daher
vor allem; je stärker sein Wollen, desto größer wird die Ent-
fernung und deshalb auch die Loslösung vom Ganzen. Der Ring
schafft bei ihm das Böse. Nur ein Individuum vermag mit ihm allein
das Gute zu tun. Das ist Gott. Denn er ist als höchstes Indivi-
duum zugleich das vollendete Allgemeine, das sich nicht von sich
selbst entfernen kann. In diesem Sinne sagt Rhodope, der Ring
stamme „aus der Zeit, wo Gott und Mensch noch miteinander
gingen und Liebespfänder tauschten". Damals, zur Zeit der Halb-
götter, wirkte er noch das Gute; heute kann er nur Böses stiften.
Den Ring gebrauchen ist daher nur der symbolische Aus-
druck für ein gesteigertes individuelles Streben, das die Einheit in
einen Dualismus auflöst, indem es dem Besonderen eine Selb-
ständigkeit verleiht.
In dem Momente, wo der König den Ring benützt, durch-
schneidet er, um beim Hebbelschen Bilde zu bleiben, jene oben
erwähnte Nabelschnur, durch die ihm das Leben zuströmt. Er
vergisst, dass seine eigene Begrenztheit weniger ist als der Kos-
mos, dass sie bei weitem nicht ausreicht, um der ins Chaos auf-
gelösten Natur wieder Gesetz zu geben, dass sie nicht einmal
durch sich selbst zu existieren vermag. Ein wenig Ehrfurcht hätte
ihn retten können, aber sie fand neben dem kühnen Drange nach
vorne keinen Platz.
Gyges dagegen ist von einer schonenden Vorsicht erfüllt, die
ihn zugleich auch gerechter macht. Ihm erscheint die Tat frevel-
haft und er tritt deshalb nicht als einer, der verurteilt zu werden
braucht, vor die Königin, sondern als ein Gerichteter, der schon
selbst das harte Urteil für sich fällte. Darum packt ihn, als er es
aus dem Munde der Königin vernimmt, auch kein Schaudern,
„wie es jeden Menschen packt, wie es den Jüngling doppelt
packen muss". Ganz im Sinne der Synthese sucht er die Gegen-
316
Sätze auszugleichen. Wie er den vernichtenden Schmerz der
Königin nachempfindet, so hat er auch für den König, nachdem
ihn Rhodope als Frevler erkannt, milde, entschuldigende Worte:
Er glich dem Priester, der die selbe Flamme,
Die ihn durchlodert, zu des Gottes Ehre
Auch in der fremden Brust entzünden mögte :
Wenn dieser leidenschaftlich — unvorsichtig
Die heiligen Mysterien enthüllt,
Um dumpfe Sinne rascher zu erwecken
Und falsche Götzen sich'rer zu entthronen:
Fehlt er so schwer, dass man ihm nicht verzeiht?
Er fand die Strafe, als sie ihm galt, gerecht; er kann sie
jetzt, da sie Kandaules trifft, nicht zurückweisen. So fordert er
denn als Rächer beim Könige die Schuld, damit nur einer lebe,
der Rhodopen entschleiert sah. Damit dieser eine ihr Gatte sei,
führt ihn die Königin zum Altare, bevor sie stirbt.
Unter dem neuen Lydierkönig — Thoas zeigt sehr klar, wie
das Volk ihn auf den Thron erhebt — gelangt das, was Kan-
daules erstrebte, zum Siege; es wird ein anderer Schleier gewoben
und der Kampf wird von neuem beginnen.
Der Kern des ganzen Dramas liegt in der Schlussbetrachtung
des Helden. Des Dichters eigene Weltanschauung spricht aus
diesem Evangelium. Rückwärts schauend, erkennt er den Irrweg,
den ihn seine rein persönlichen Tendenzen führten:
O, dieser Ring! Du meinst, er wäre besser
In seiner Gruft geblieben! Das ist wahr!
Denn nicht zum Spiel und nicht zu eitlen Possen
Ist er geschmiedet worden, und es hängt
Vielleicht an ihm das ganze Weltgeschick
— — — — _ _ _ und wäre ich
Dir gleich, so hätte er mich nicht verlockt.
Ich hätt' ihn still der Nacht zurückgegeben,
Und alles würde stehen, wie zuvor.
Aus dieser leisen Wehmut ringt er sich zu einem frohen
Optimismus empor. Die Kurzsichtigkeit weicht einem weiten,
klaren Blick, der ihn das unabänderliche Verhältnis des Einzelnen
zur Gesamtheit schauen lässt. Sein tragisches Schicksal wird
ihm die notwendige Bedingung für das Wohl der Gesamtheit. Eine
dämmernde Gewissheit überzeugt ihn, dass die Kraft, welche in
ihm wirkte, ebenso göttlich ist, als der Schleier, den er zerstörte.
317
Im Glauben, dass er das Werkzeug eines Höheren sei, empfindet
er auch das Sterbenmüssen nicht mehr als eine persönliche Sache.
Bei den Worten vom Schlaf der Welt erscheint der König so stark
geläutert, so frei von jeglicher Schuld, dass wir uns gegen seinen
Untergang sträuben möchten und sein Ende nur ertragen, weil wir
die alte Welt mit Kandaules ersterben, ihn aber in Gyges wieder
auferstehen sehen.
Was die Tragödie zu unserer Angelegenheit macht, das ist
das Verhältnis des Individuums zur Gesamtheit in der allgemein-
sten Form. Der Kampf ist im Grunde ein Kampf zwischen Ring
und Schleier, jener gleich ursprünglichen Kräfte, die als Trieb zum
Individuellen und als Macht der Tradition ewig mit einander
ringen werden.
Die Tragödie wird daher vollständig falsch aufgefasst, wenn
aus dem Schleierrecht ein Recht der freien Selbstbestimmung des
Weibes gemacht wird. Dadurch würde Rhodope zu einer moder-
nen Frau, die mit persönlichem Bewusstsein eine Forderung für
sich stellt.
Das tut sie aber nicht. Sie lebt gar nicht als Individuum,
wie etwa Mariamne, und darf als solche auch auf der Bühne nicht
erscheinen. Sie hat symbolisch das Allgemeine zur Darstellung
zu bringen und die Schwierigkeit liegt für sie darin, dass sie nur
individuelle Ausdrucksmittel zur Verfügung hat. Der Vorwurf,
dass sie als Weib zu wenig Gefühle zeige, ist somit für die Dar-
stellerin ein Lob im Sinne Hebbelscher Kunst. Denn sie muss,
um dem Dichter gerecht zu werden, möglichst weit vom Individu-
ellen sich entfernen. Die Distanz, die sie halten muss, wird
fälschlich als Kälte ausgelegt. Wem aber diese Kälte fremd vor-
kommt, der sollte wissen, dass er Rhodopen nur so weit ver-
stehen kann, als er selbst über das Individuum hinaus, zum Allge-
meinen vorgeschritten ist.
Hebbel hat schon solchen und ähnlichen Vorwürfen geant-
wortet in dem Epigramm: Selbstkritik meiner Dramen"
Zu moralisch sind sie! Für ihre sittliche Strenge
Stehn wir dem Paradies leider schon lange zu fern,
Und dem jüngsten Gericht mit seinen verzehrenden Flammen
Noch nicht nahe genug. Reuig bekenn' ich euch dies.
ZÜRICH LOUIS GLATT
DDD
318
AUS CHAMBERLAINS „GOETHE"
„. . . Am besten vielleicht, da es sich um ein kaum Fassbares handelt,
wir erhaschen diese der Natur gewachsene Phantasie in dem Augenblick,
wo sie sich am Werke zeigt, das heißt in dem Augenblick, wo unser Dichter
sich selber verbessert, indem er herkömmliche Redensart oder knapp an-
liegende Naturtreue oder grammatische Zaghaftigkeit oder rhythmischen
Zwang beseitigt. Dazu bietet die Entstehungsgeschichte Goethescher Ge-
dichte und Prosawerke viele Belege. Greifen wir zuerst weit zurück zu
dem einfachen Fabelliedchen, wie der erste Druck es nennt. Da lesen wir:
Es sah ein Knab' ein Rösiein stehn,
Ein Rösiein auf der Heiden.
Er sah, es war so frisch und schön,
Und blieb stehn, es anzusehn,
Und stand in süßen Freuden.
Goethe und Herder werden wohl an dieser Fassung, die sie eingestandener-
maßen „aus der mündlichen Sage" erhielten, kaum ein Wort geändert haben.
Bei dem zweiten Druck aber, sechs Jahre später, lautet das jetzt Rösiein
auf der Heide genannte Gedicht:
Es sah ein Knab' ein Rösiein stehn,
Rösiein auf der Heiden :
Sah, es war so frisch und schön,
Und blieb stehn, es anzusehn,
Und stand in süßen Freuden.
Wie viel Leben ist durch Streichung von nur zwei Wörtern hineingekommen!
Das Rösiein tritt uns jetzt im zweiten Vers ohne das fatale „ein" wie ein
Individuum aus dem Einerlei der Heide entgegen; und die Tilgung des nur
logisch geforderten „er" — „sah, es war'', statt „er sah, es war" — schenkt
dem Blicke des Knaben eine merkwürdige Unmittelbarkeit; und doch ist
wenigstens diese zweite Änderung gewiss grammatikalisch nicht unanfecht-
bar. Nun aber emanzipiert sich Goethe vollends von Herders Mitwirkung
und dichtet das Liedchen so um, dass er es als eigenes Heidenröslein in
die erste Ausgabe seiner Werke aufnehmen darf.
Sah ein Knab' ein Rösiein stehn,
Rösiein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah's mit vielen Freuden.
An einem einfachsten Beispiel haben wir hier die Metamorphose aus einem
lieblichen „Naturwerk" menschlicher Dichtung in ein vollendetes „Kunst-
werk", und zwar vermittelst der Befreiung der Phantasie. Das „war" im
dritten Vers bezöge sich nach den Regeln der Grammatik auf den Knaben;
doch wird wohl nie ein Leser auch nur einen Augenblick bezweifelt haben,
die Rose sei gemeint; wir aber verfolgten die Entstehungsgeschichte: erst
das erbarmungslos logisch ausführliche „er sah, es war"; dann, schon
wesentlich entlastet vom Verstandesballast, „sah, es war"; jetzt kommt das
Genie und sagt „war" ! Es trägt auch kein Bedenken, den folgenden Vers
mit einem „lief" zu beginnen, das ebenfalls sprachlich — wenigstens vor-
übergehend — in der Schwebe bleibt; denn da das „er" und das „und"
gfefallen sind und „war" sich auf das Rösiein beziehen soll, so wäre nach
den Regeln der Logik vorauszusetzen, „lief" bezöge sich auch auf das Rös-
iein ; erst das Fürwort „er" deckt grammatikalisch die Rückkehr zum ersten
ßfttzsubjekt auf. Die Phantasie setzt; sich über die Grammatik hinweg:
319
mit welchem Erfolg, das sage sich jeder beim Vergleich. Und nun der Ein-
fall, das Stehenbleiben in ein Hinlaufen umzuwandeln I Wie klein und harm-
los das Gebilde auch ist, man muss doch sagen, dieses r
Lief er schnell, es nah zu sehn
gleicht dem „Es werde Licht!" der Schöpfungsgeschichte. Mit einem Schlag
ist alles Bewegung und Bewegung ist Leben. Nicht bloß erhalten wir hier-
durch die Ferne und die Nähe, das Schlendern und das Laufen, also Raum
und Zeit — die Perspektive eines Geschehnisses, sondern namentlich kommt
die innere Bewegung jetzt erst zur Geltung. Stehenbleiben in süßen Freu-
den, weil man an eine schöne Rose zufällig geraten ist, das bringt jedes
träge Durchschnittswesen fertig, wogegen Hinlaufen, ja, „schnell" Hinlaufen,
weil der Seele nach der Anschauung des Schönen gelüstet, weil das Schöne
wie ein Magnet auf die Seele wirkt, weil jeder Eindruck Wille erweckt und
jede Willensregung sofort in Tat umschlägt: das zeigt uns einen regen,
feurigen Knaben. Da kann der Poet ruhig die weichliche Redensart „süße
Freuden" aufgeben und durch das schlichte „viele Freuden" ersetzen; denn
jetzt haben wir die Freude erlebt und bedürfen keiner überschwänglichen
Versicherungen. Und nun die von Goethes auserwählter Schutzgöttin ihm
eingegebene Umgestaltung von „es war so frisch und schön" in
War so jung und morgenschön I
Frisch ist nur ein Gegensatz zu verwelkt ; es ist Naturtreue, nicht Geistes-
poesie; „jung" zaubert die Anmut der Natur, wie sie die Seele ewig von
neuem entzückt, in das Herz. Und „morgenschön" ! Nichts finde ich be-
zeichnender für Goethe als die Sparsamkeit in der Anwendung solcher Ein-
gebungen ; nur für diesen einen Fall erfand und gebrauchte er das herrliche
Wort ; nie wieder sprach er es aus ; dem Heidenröslein gehört es auf ewig.
Derartige Neubildungen sind bei ihm nicht Münzen, die er in Umlauf setzt,
sondern geprägte Kunstformen, die der einen Gestaltung ihr Dasein ver-
danken und nun mit dem einen einzigen Werk als organische Bestandteile
verknüpft bleiben. Das ist Phantasie, Phantasie, die der Natur gewachsen ist.
Noch sei auf die Umdichtung in der dritten Strophe aufmerksam ge-
macht. Ursprünglich las man:
Das Röslein wehrte sich und stach,
Aber er vergaß darnach
Beim Genuss das Leiden.
„Er" ist der Knabe. Eine recht nüchterne, hausbackene Moral, würdig des
stehenbleibenden Knaben. Wogegen der wahre Poet dichtet:
Rösiein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Musste es eben leiden.
Eine Wendung, die in ihrer unsentimentalen Tragik etwas Hellenisches an
sich hat." (S. 521—524.) Dazu die Anmerkung: „Die erst in der Ausgabe
letzter Hand eingeführte Änderung des zarten „ihr" in „ihm" ist ohne
Zweifel dem unheilvollen Philologen und Pedanten Göttling zuzuschreiben,
der, Goethes Vollmacht missbrauchend, noch so manchen anderen feinen
Zug verwischt hat. Auch ist die Lesung „musste" der ersten Ausgabe von
Goethes Schriften, die sowohl Herder wie Goethe selber korrigiert hatten,
der jetzigen Lesung „musst" vorzuziehen, welche sich erst in der Ausgabe
von 1806 bis 1810, mitten in den Kriegsunruhen, einschlich."
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
320
VEREINFACHUNG
DER
STAATSVERWALTUNG UND ERLEICHTERUNG
DER STAATSLASTEN
„Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!"
Hamlet
I.
Der zürcherische Kantonsrat hat den Steuerfuß für das Jahr
1913 auf 4^4 7oo vom Vermögen festgesetzt. Darnach richtet
sich dann auch der Steuerfuß vom Einkommen, indem laut Gesetz
so viel mal als 1 %o Vermögensteuer erhoben wird, 2 7» Ein-
kommenssteuer zu bezahlen sind — von der Aktivbürgersteuer,
die nur Vs ^^^ Betrages des Vermögensteuer/«/ß5 ausmacht,
nicht zu reden. Es trifft also für 1913 neben 474 °/"o Vermögens-
steuer eine Einkommensteuer von9V2 7o- Maßgebend aber bleibt
der Steuerfuß vom Vermögen, und davon ist auch auszugehen.
Bis zum Jahr 1904 war die Steuer vom Vermögen nie über
4 7oo hinausgegangen, und das war schon eine ganz ansehnliche
Belastung des Steuerzahlers, wohl die höchste unter den Kantonen.
Das neue Jahrhundert hat dann im Kanton Zürich eine Finanz-
misere eingeläutet. Als infolgedessen der Steuerfuß zum ersten-
mal auf 4^2700 erhöht wurde, erhob sich dagegen alsbald eine
Volksinitiative, die sogenannte Steuerfußinitiative, welche verlangte,
dass der vom Kantonsrat festzusetzende Steuerfuß niemals den
bisherigen Ansatz von 4 7oo übersteigen dürfe. Es war ihr, um
sie zu diskreditieren, gelegentlich der Sinn unterschoben worden,
321
dass der Steuerfuß überhaupt nie über dieses Maß hinausgehen
dürfe, als ob er gesetzlich darauf festgelegt werden wollte. Zwar
würde auch das nicht unerhört sein ; St. Gallen und Luzern zum
Beispiel haben den Steuerfuß gesetzlich beschränkt und auf ein
weit geringeres Maß (2^2, iVaVoo; ja, diese iVaVoo werden in
Luzern sogar nur alle zwei Jahre erhoben), müssen also damit
schlecht oder recht auskommen. Aber die Initianten wollten
offenbar nur, dass über mehr als 4 7oo hinaus das Volk anzu-
fragen sei und nicht der Kantonsrat aus sich in alle Höhen hin-
auf Steuern dekretieren könne. Die Beschränkung der kantons-
rätlichen Kompetenz durch das Referendum ist nun noch viel
weniger eine Seltenheit, sondern in einer ganzen Reihe von Kan-
tonen hergebrachtes Recht, und wieder tritt dort das Referendum
nicht erst von 4 7oo an, sondern schon früher und zum Teil viel
früher in Wirksamkeit. Aber der zürcherische Kantonsrat, eifer-
süchtig auf seine Oberhoheit, wurde empfindlich, und seine Mit-
glieder haben es sich denn wie kaum je angelegen sein lassen,
an allen Versammlungen zur Besprechung der Initiative zu er-
erscheinen, um die Diskussion zu beherrschen und dieses er-
weiterte Volksrecht niederzustimmen.
Nun also ist der Steuerfuß noch weiter erhöht worden. Um
so mehr schiene eine Kontrolle vonnöten. Wir haben nichts da-
gegen, wenn diese weder in ein Finanzreferendum, noch gar in
ein Gesetz gelegt wird, sondern dem Kantonsrat selbst überlassen
bleibt. Zwar erscheint ein äußerer Zwang zum Maßhalten in den
Ausgaben immer heilsam. Bei der privaten Wirtschaft, wenn sie
anders ordentlich ist, liegt er in der Rücksicht auf die Einnahmen,
das heißt der Private hat sich nach der Decke zu strecken. Wir
wissen schon, dass für das Gemeinwesen, Staat und Gemeinde,
gewissermaßen der umgekehrte Grundsatz gilt, es hätten sich die
Einnahmen nach den Ausgaben zu richten. Aber das doch nur,
so weit die Ausgaben nötig oder doch wirklich ersprießlich sind;
verplempern darf auch das Gemeinwesen nichts — von eigent-
licher Verschwendung nicht zu reden, an die wir überhaupt nicht
denken. Auf dieser Seite bestände der Zwang eben in einem
über dem Kantonsrat stehenden Volksvotum, sei es in einem
Steuerreferendum oder in einer gesetzlichen Maximalbegrenzung
des Steuerfußes, so dass für ein Mehr das Volk in der einen
322
oder andern Form angerufen werden müsste. Das schiene um
so eher gerechtfertigt, als das Volk daran mehr interessiert ist,
als an manchem Gesetz. Aber wir wollen, wie gesagt, die Kon-
trolle nach wie vor vertrauensvoll dem Kantonsrat selbst über-
lassen. Nur soll er dann auch wirklich Selbstkontrolle üben und
sich an ein gewisses Höchstmaß der Steuer für gebunden halten,
so gut als wäre es ihm vom Volk vorgeschrieben; er ist ja für
das Volk da und hat in seinem Sinn zu walten. Dazu erschienen
4"/oo für ordentliche Zeilen nachgerade genug, und es sollte da-
mit außer im Falle von Krieg und andern Landeskalamitäten
auszukommen sein. Es sollte also an eine Erhöhung gar nicht
gedacht werden, bevor nicht alle zulässigen Ersparnisse versucht
wären. Wenn noch andere Einnahmequellen zu Gebote ständen,
hielte man auch sie besser für ungewöhnliche Lagen zurück, wie
ein kluger Feldherr seine Reserven. Es kommt also immer
darauf hinaus, die ordentlichen Ausgaben unerbittlich auf den
Belauf der ordentlichen Einnahmen zu reduzieren, so weit es
immer möglich ist, ohne ersprießliche Aufgaben bloßzustellen.
Darin bestände die Selbstkontrolle, von der wir sprechen, und
diese erscheint von Segen für das Gemeinwesen und als Gerechtig-
keit gegen den Steuerzahler. Es liegt darin eine Selbstzucht, die
keine Verwöhnung und Verweichlichung aufkommen lässt, son-
dern strafft und kräftigt, den Staat wie den Mann zum Charakter
macht und für das private Leben zum Vorbild würde. Gerecht
aber gegen den Steuerzahler ist eine solche Kontrolle insofern,
als dieser sich in schwierigen Zeiten auch einschränken muss,
mehr als man glaubt, und vernünftigerweise ohne besondere Not
gewiss nicht auf Kosten seiner Selbsterhaltung und Vervollkomm-
nung, sondern er wird sich eben das mehr oder weniger Über-
flüssige oder Nebensächliche versagen. Oder soll er um so mehr
sparen, damit das Gemeinwesen es um so weniger nötig hat und
sich um so eher gehen lassen kann? Übrigens gibt es für den
öffentlichen Haushalt eine Art Careyschen Gesetzes, das ihm be-
sonders zu gut kommt. Wie mit der Kultur die Produktions-
fähigkeit der Erde sich steigert, so dass eine Übervölkerung im
Sinne der Überschreitung der Ernährungsmöglichkeit für den Ein-
zelnen nie eintreten könnte — so vermehren sich mit den Be-
dürfnissen und Aufgaben des Gemeinwesens auch ohne weiteres
323
die Mittel zu deren Bestreitung ; die vermeiirten Bedürfnisse sind ja nur
die Folge der erhöhten Lebenslage der Einzelnen, im ganzen und
grundsätzlich also sollten, von außerordentlichen Umständen ab-
gesehen, die gewöhnlichen Einnahmen immer an die erforderlichen
Ausgaben, wenn sie richtig zusammengehalten werden, hinanreichen,
ohne dass es überhaupt einer übermäßigen und insofern gewalt-
mäßigen Steigerung des Steuerdruckes bedürfte.
Jedenfalls passt es sich schlecht, den Steuerfuß zu erhöhen
in einer Zeit, wo man in voller Arbeit ist, die Taxation zu ver-
schärfen. Das heißt, die Steuerschlinge an beiden Enden zuziehen.
Ein guter Hirte müsse seine Herde scheren, aber nicht schinden,
hat schon Kaiser Tiberius gesagt. Eine Erhöhung des Steuer-
fußes lässt man sich eher gefallen, wenn nicht zugleich die Schraube
der Taxation angezogen wird und umgekehrt. Welches der bei-
den Mittel für einmal zu wählen ist, wird sich jeweilen aus den
Verhältnissen ergeben. Wo der Steuerfuß bereits sein ordent-
liches Maximum erreicht hat, wie es mit 4 7oo der Fall scheint,
bleibt nur das Mittel ergiebigerer Taxation. Deren Verfahren zu
vervollkommnen war denn auch ein Hauptzweck und ein haupt-
sächliches Verdienst der Vorlage des Regierungsrates vom Jahr
1899 für eine Revision des Staatssteuergesetzes. Aber bei den
Taxationen sollte gewissermaßen der umgekehrte Weg, als ge-
wohnt, eingeschlagen werden. Statt bei den kleinen und mittleren
Leuten anzufangen und sie bis zum letzten Quentchen zu quängeln
und zu drängeln, sollten zuerst die Größten und Großen daran
kommen. Das ist nicht nur gerechter, sondern auch verdienst-
licher und ergiebiger. Es ist leicht, einen armen Teufel von
Stromer festzunehmen; aber eine gute Polizei wird eher ein Dutzend
kleiner Schelmen laufen lassen, um nicht Zeit und Mühe dafür
zu verlieren, Hochstapler und Kapitalverbrecher zur Strecke zu
bringen. Nach diesem Rezept hat auch die Steuerkommission zu
verfahren. Wenn in der Steuersache Brandt, die sich einen großen
Aufwand von Rekursen und Gutachten hat leisten können und
dadurch allgemein Aufsehen gemacht hat, die Steuerkommission
den vielfachen Zehntmilllonen nur halbwegs nahe gekommen
wäre, statt bei einer einzigen oder gar nur einer halben Million
stehen zu bleiben, wie vielen kleinen Leuten hätte man dafür die
Mehrtaxation und damit vielleicht eine eigentliche Härte erlassen
324
können? Es scheint allerdings die richtige Taxation um so
schwieriger, je größer der Mann oder das Geschäft, aber unmög-
lich ist sie doch nicht; es gibt immer mehr oder weniger sichere
Anzeichen dafür. Angenommen den Fall des Direktors einer
Aktienbank. Man kennt den Umsatz der Bank aus den Jahres-
berichten und weiß, wie ihm die Honorare und Tantiemen zu
entsprechen pflegen ; ergibt sich daraus ein Jahreseinkommen des
Mannes von 250000 Franken, so muss man sich nicht mit einer
Steuer für 25 000 begnügen, und wenn er sich in der Zeit hat
schätzungsweise zwei Millionen zurücklegen können, so lässt man
sich nicht mit einem Zugeständnis von 200 000 Fr. abfinden. Was
wollen dagegen wieder ein paar hundert Franken mehr, die man
aus den Lohnlisten einem kleinen Beamten vorrechnet, besagen?
und was ist für ein großes Verdienst dabei? Dazu kommt,
wohlgemerkt, dass in den obern Lagen die gleiche Summe für
die Besteuerung mehr wert ist, wegen der Progression. Freilich
muss man sich in diesen großen Geschäften auskennen und dar-
nach sollten auch die Steuerkommissäre ausgewählt werden und
nicht aus den Kreisen, die nicht über sich hinaussehen. Dann
fänden sie auch den nötigen Mut, den es um so mehr braucht,
je höher der Steuerzahler steht. Kurz, der Steuerkommissär
muss, wie ein Staatsmann, mehr auf das Große sehen, und es muss
ein größerer Zug in die amtlichen Taxationen kommen. Man soll
nicht Mücken seigen und Kamele verschlucken. Dann wird das
große Publikum auch mehr Vertrauen zur Steuerbehörde ge-
winnen und seinerseits ihr mehr und lieber entgegenkommen.
Wir wollen die Progression nicht abgeschafft wissen; nur muss
sie durch eine um so schärfere Taxation ergänzt werden, und
zwar, wohlverstanden, nach oben, sonst ist sie wirkungslos und
bleibt die größte Steuerlast nach wie vor auf den kleinen und
mittleren Leuten liegen, wie es aus Schuld einer verkehrten
Taxationsmethode zurzeit wirklich der Fall zu sein scheint.
Bei alledem aber hat der Staat seine Pflicht als Verwalter
von Volksgeldern nicht zu vergessen. Man redet uns immer nur
von „Steuergewissen" vor, und erst jüngst wieder. Es dürfte aber
auch ein Finanzgewissen geben, das heißt ein Gefühl der Ver-
antwortlichkeit auf Seiten des Staates für das, was er dem Volke
schuldig ist, nämlich dem Volksvermögen nicht mehr zu entziehen
325
als notwendig und mit den Bezügen sorgfältig und sparsam um-
zugehen.
Es ist etwas Schönes um ein solides Gemeinwesen, wie um
eine solide Privatwirtschaft. Ja, die Solidität ist an beiden das
Beste, weil Notwendigste. Sie zeigt sich in der Kreditwürdigkeit,
und diese ihrerseits beruht auf dem Gleichgewicht von Einnahmen
und Ausgaben — wenn also jene nicht unerschöpflich sind, auf
der Einschränkung dieser, kurz auf der Sparsamkeit. Mag man
diese altbacken nennen, ohne sie geht öffentliche und private
Wirtschaft aus Rand und Band. Die besten Staaten waren immer
die sparsamsten ; das lehrt die ganze Geschichte ohne Unterbruch
und Ausnahme. Nur darf man den Satz nicht umkehren, um
ihn ad absurdum zu führen; es kommt auch darauf an, wo und
wie gespart wird. Man muss nur die Banken fragen, was einer,
Staat oder Privatmann, wert sei ; sie stellen die zuverlässigsten
Leumundszeugnisse aus. Ein weises Bankinstitut beurteilt die
Person nicht nur nach ihrem Besitz und Erwerb, sondern nicht
weniger zieht es auch ihre geistigen und moralischen Eigenschaften
in Rechnung: Leistungsfähigkeit, Solidität und Sparsamkeit. Die
Gehaltsprobe für ein öffentliches Gemeinwesen ist namentlich der
Weg, der ihm für die Emission von Anleihen offen steht: ob es
noch so viel Kredit besitzt, dass es eine Anleihe zur öffentlichen
Subskription auflegen kann und dabei die nötige Zeichnung oder
gar Überzeichnung findet, oder ob es das gewünschte Geld um
teuren Preis bei Banken aufnehmen muss, um dadurch desto
tiefer in Schulden zu versinken. Eine Großstadt, ganz nahebei
von Zürich, ist schon längst auf diesen letzten Weg gewiesen
und hätte also auch schon längst alle Ursache gehabt, darin
ein Warnungszeichen zu sehen, um Einkehr zu halten und
sich zur Umkehr anzuschicken. Und nun sollten sogar Schatz-
scheine ausgegeben werden, die freiwillig zu ordentlichen Be-
dingungen niemand kaufen wird. Es fehlte nur noch der Zwang
zum Kaufe; dann wären wir glücklich bei den berüchtigten Assig-
naten der französischen Revolution angelangt, nur dass sie da-
mals doch unter etwas außerordentlicheren Umständen ausgegeben
wurden und um das entschuldbarer erscheinen. Die Finanz-
kontrolle durch den Staat hat sich als leere Formel erwiesen,
wie zu erwarten war, so lange der Staat im gleichen Geleise fährt.
326
Man sieht nur, wie wichtig das Finanzwesen in Staat und Ge-
meinde ist, eigentlich das wichtigste, insofern alles davon abhängt.
Aber ein Finanzdirektor braucht ein festes Rückgrat gegen all die
vielen und vielfach übertriebenen Anforderungen an den Fiskus,
wie es ein Walter Hauser in Kanton und Bund gehabt hat. Es
sollte daher bei einer Regierung jedes Mitglied wenigstens einmal
durch die Finanzdirektion hindurch, um aus der Nähe zu erkennen,
was es alles braucht und wofür alles es schlechterdings nicht
reicht; so würde jedes Mitglied das richtige Augenmaß gewinnen
für die Begehren an den Staatssäckel, auf die es sich, wieder zu
seinem Departement zurückgekehrt, beschränken müsste. Die
Budgets sähen dann gewiss glatter aus und gingen leichter durch
die Siebe. Es schiene das sogar wichtiger als der periodische
Wechsel im Regierungspräsidium, dessen Aufgabe, wenn ich sie
nicht unterschätze, eigentlich in nicht viel anderem besteht als
im Aufschneiden der Briefe für das Kollegium.
11.
Man hat sich zwar auch schon nach Ersparnissen umgesehen,
aber keine oder nichts von Erheblichkeit gefunden; jeder häh für
sein Departement natürlich alles und noch mehr für nötig und
nichts als unentbehrlich, wenn er nur auf sich und nicht auf das
Ganze schaut. Aber viele kleine Vögel geben auch einen Braten,
sagt der Volksmund, und im Evangelium steht: „Leset die Bro-
samlein zusammen, dass sie nicht verloren werden." Es gibt aber
neben diesen noch ganze Laibe von Ausgaben, von denen es sich
fragen könnte, ob sie sich nicht entbehren oder für Besseres auf-
heben ließen. Sehen wir uns einmal das Beamtentum im ganzen
an, nach Zahl und Löhnung. Je größer die Zahl der Angestellten,
um so teurer selbstverständlich die Wirtschaft. Jeder Geschäfts-
mann weiß das und hält sich daher an das Verhältnis, in welchem
die Unkosten zum ganzen Umsatz stehen müssen, damit das Ge-
schäft noch rentabel erscheine. Ähnlich soll es das Gemeinwesen ;
nur dass den Umsatz hier das vorstellt, was es für die Bürger
leistet. Dabei gibt es ja allerdings auch unproduktive Leistungen
(nicht zu verwechseln mit unproduktiven Gütern), die schlechter-
dings keinen Geldwert darsteilen, wie Polizei und Rechtspflege,
im Gegensatz zu Armen- und Schulausgaben, den Ausgaben für
327
Straßen und Anstalten usw. Solche Leistungen aber sind tun-
lichst einzuschränken oder umzulegen. So war gerade die Polizei,
die heute ohne weiteres und im ganzen Umfang als Aufgabe des
Gemeinwesens gilt, früher, auch im Kanton Zürich, so weit es
die Gewerbe betraf, den Handwerksverbänden übertragen, die sie
gewiss mit größerer Sachkunde und deshalb nicht schlechter be-
sorgten, und so könnte es beim Wiederaufleben der Berufsge-
nossenschaften aufs neue geschehen. Diesem Vorgang ließen sich
vielleicht noch andere polizeiliche Funktionen anschließen, so dass
die Polizei sich auf ihre erste und eigentliche Aufgabe, die Sicher-
heitspolizei, beschränken könnte. Das geschähe nicht allein zum
finanziellen Vorteil des Gemeinwesens, sondern auch zur Erlösung
der Bürger von öffentlicher Polizeiaufsicht auf Weg und Steg, die
unlieber als jede genossenschaftliche Kontrolle ertragen wird. Was
sich aber verrechnen lässt, soll das Gemeinwesen nicht an sich
tragen, namentlich gegenüber Personen, welche die ihnen geleisteten
Dienste sehr wohl zu vergüten imstande wären, wie es zum guten
Teil bei der Rechtspflege der Fall scheint, von der nachher noch
speziell zu reden ist.
Nun sollte man meinen, eine Demokratie brauche am wenig-
sten Beamte, weil sie ja auf dem Grundsatze beruhe, dass sich
die Bürger selbst beherrschen können, also um so weniger einer
besondern Herrschaft, des Beamtentums, bedürften. Aber unbe-
streitbar ist das Umgekehrte der Fall: sie weist verhältnismäßig
die größte Zahl der Beamten auf. Woher das kommt? weil alle
nicht nur gehorchen, sondern auch regieren wollen? Das könnte
sich der Staat schließlich wohl gefallen lassen, wenn es unent-
geltlich, ehrenhalber, geschähe. Aber die Beamten der Demo-
kratie wollen wie andere bezahlt und möglichst gut bezahlt sein.
Es ist also eine Art Versorgungsanstalt, was man beim Staate
sucht. Wer aber sollte, schließlich den Staat unterhalten? Bei
einer gewissen Freiwilligen- und Einwohnerarmenpflege kam es
vor, dass sie von einem Ausgabenbudget von zirka 160000 Fr.
ganze 70000 für ihre Beamten brauchte, also an die 40 7o. Ein
Armenverein für seine Beamten, könnte man fast sagen. Würde
ein Privater das Geschäft wohl auch mit solchen Unkosten be-
treiben? So stark ist das Missverhältnis von Umsatz und Be-
amtenkosten beim Staat nun allerdings nicht. Bei einem zürcheri-
328
sehen Ausgabenbudget von rund dreißig Millionen macht es für
die Beamten, Irrtum vorbehalten, gegen fünf Millionen, die Be-
soldung für Lehrer und Pfarrer ungerechnet, die nicht zu den
eigentlichen Beamten, sondern zu den sogenannten Pflegern zählen,
die Bildung und Erziehung des Volkes besorgen. Es lässt sich
das Beamtendevis zwar nicht durchgehend genau feststellen, indem
namentlich in den Anstaltsrechnungen manche und gerade die
erheblichsten Posten für Beamte und Insaßen zusammengefasst
sind, eine Vermischung, die ein Privatgeschäft nicht litte, weil es
wissen will, wie hoch die Angestellten kommen und was die
Gäste und Kostgänger verbrauchen. Immerhin machte also der
ganze Beamtenkonto 16 bis 17 "/o aller Ausgaben aus, und das
erscheint zu viel, auch zur Größe des Staates, nach Bevölkerung
wie nach Gebiet. Man wird nicht glauben, dass ein Privater bei
100000 Fr. Umsatz für Angestellte 16 bis 17 000 Fr. bezahlte, wo
der ganze Bruttogewinn noch lange nicht so viel betrüge. Wir
verkennen den Unterschied zwischen beiden Arten von Wirtschaft
nicht; aber es tut doch gut, immer wieder Vergleiche mit der
Privatwirtschaft anzustellen, um sich möglichst zu deren gesunden
Rechnungsweise zu erheben, statt sich mehr und mehr gehen zu
lassen. Auf diesen Vergleich ist man um so mehr angewiesen,
als es immer noch an einer Wissenschaft für die Normen der
Staatskostenberechnung fehlt, während das Recht der Staats-
verwaltung und im übrigen auch deren Politik ausgebildet
genug sind.
Eine Überzahl von Beamten kommt aber den Staat nicht
nur um so viel teurer zu stehen, sondern erzeugt auch das viel-
köpfige Ungeheuer der Bureaukratie, vor dem eigentlich die Demo-
kratie am meisten bewahren sollte. Demokratie ist Volksherr-
schaft und steht als solche im Gegensatz zur Beamten Wirtschaft.
Und zwar zeigen sich darin die Hauptmerkmale, an denen die
Bureaukratie erkennbar wird. Die Überzahl schon ist ein solches.
Es handelt sich nicht um Ehrenämter, wo das Volk als solches
an der weitern Leitung des Staates beteiligt ist, und die daher
gewissermaßen nur als eine Erweiterung der politischen Volks-
rechte und insofern selbst volkstümlich erscheinen — sondern
um bezahlte Ämter und um eine Bezahlung, die möglichst zum
Leben ausreichen soll und damit die Stelle zum Berufsamt macht.
329
Dadurch tritt der Gegensatz des Beamtentums zum Volk hervor,
und das Beamtentum wird, je zahlreicher es ist, um so über-
mächtiger und um so mehr unvolkstümlich und bureaukratisch.
Daraus entwickelt sich dann der andere Übelstand, die bureau-
kratische Behandlung der Geschäfte: der Durchzug durch die
vielen Bureaux und die damit verbundene Verschleppung, und die
formale, mechanische Art der Erledigung. Mit der Verteilung
wäre zwar, sollte man meinen, eine um so raschere Behandlung
gegeben; aber dann kommen die mehreren Instanzen und für ein
und das gleiche Geschäft oft noch die Zersplitterung in verschie-
dene Spezialbehandlungen. Die mechanische Methode aber be-
steht darin, dass der einzelne Fall in der Schreibstube einge-
schlossen und schriftlich bearbeitet, von einer Aktennummer zur
andern gewälzt wird, statt dass man auf eine möglichst rasche
und sachgemäße Erledigung sähe. Zu dieser gehörte möglichst
wenig Schreiberei und dafür lebendige Verhandlung durch Be-
sprechung mit den Parteien, persönliche Anschauung der Zustände
usw. Dadurch geht nicht nur ein schnelleres Licht über die Sache
auf oder wird eher eine Verständigung erzielt, die vielmal eine
förmliche und umständliche Entscheidung überhaupt entbehrlich
macht, sondern es bleibt der ständige Kontakt mit dem Volke
erhalten, und ein schließlicher Entscheid findet um so mehr Kredit
bei den Beteiligten und im Volke. Die andere Art büßt erstens
diese großen Vorteile ein und erfordert überdem, weil je länger
ein Geschäft dauert, um so mehr neben einander herlaufen, wieder
nur desto mehr Beamte. Ein falscher Zirkel!
Wie aber wird eine Überzahl von Beamten, Berufsbeamten
vermieden? Der Weg ist schon im Vorstehenden angedeutet.
Einmal, was an öffentlichen Interessen sich zur Besorgung irgend-
wie für das Volk selbst eignet, soll diesem, das heißt dafür
geeigneten Verbänden, die bereits vorhanden sind oder sich dafür
bilden ließen, überlassen werden, so dass der Staat sich auf die
Aufsicht beschränken könnte. Die Aufsicht ist des Staates eigent-
lichstes Gebiet, dass alles in Ordnung vor sich geht und sich
wohl befindet, nicht die Verwaltung selbst, die eigentlich nichts ist
als Bevormundung oder in solche ausartet, und dabei wird auch
die freie Betätigung, die bürgerliche Freiheit am besten gewahrt,
die das höchste Gut des Menschen darstellt. Ordnung und doch
330
Freiheit, oder Freiheit, aber Ordnung, das ist die wahre Parole.
Immerhin meinen wir nur eine Freiheit, bei der alle bestehen
können, worauf nachher zurückzukommen ist. Es ist einfach ein
verkehrter Zug, wenn alles, was von öffentlichem Interesse er-
scheint — und was gehört nicht nachgerade alles dazu! — zu
einer obrigkeitlichen Institution gemacht und dafür ein weiteres
Beamtentum eingesetzt werden will. Sogar der Kaminfegerberuf
und die Leichenbitterinnen. Aus diesem Betracht ist auch das
Elektrizitätswerk als staatliche Einrichtung eine fragwürdige Er-
rungenschaft. Der Staat hat sich damit nur eine neue Aufgabe
aufgesackt und ein weiteres Beamtentum geschaffen, und zwar
einen wirtschaftlichen Betrieb, für den er nicht geschaffen ist und
sich auch nach allen Erfahrungen weniger eignet als der Private.
Zu einem ergiebigen wirtschaftlichen Betrieb gehört nun einmal
das private Interesse, der private Vorteil, der als treibende Kraft
unersetzlich und daher wohl zu berücksichtigen und nicht schlecht-
hin zu ertöten ist, soll nicht der Kulturfortschritt selbst einen
tötlichen Schlag erleiden. Im Staat fehlt dieser Trieb schlechter-
dings, ein Mangel, der sich in allem und nicht zuletzt in der Ren-
dite zeigt, und der Staat ist auch gar nicht dazu da, mit den
Privatwirtschaften zu konkurrieren, sondern steht auf dem höheren
Standpunkt, sie zu überwachen. Gewiss soll ein so wichtiges
Element der Volkswirtschaft, wie die Wasserkraft es namentlich
durch die Erfindung der Umsetzung in elektrische Kraft geworden
ist, nicht bedingungslos der Ausbeutung überlassen werden; aber
wenn die bloße Aufsicht ungenügend erschien, so gab es noch
eine mittlere Form der Einmischung, auf die sich der Staat hätte
beschränken können: die Beteiligungan einer entsprechenden Privat-
unternehmung, um von deren besonderem Vorteil zu profitieren
und sie zugleich zu überwachen. Doch das nur als Beispiel für
die Darlegung des ersten Mittels zur Beschränkung des Beamten-
tums und damit der Bureaukratie. Jedenfalls sollte man nach
diesem Schritt Halt machen, um sich auf die Umkehr von einer
falschen Richtung zu besinnen.
Sodann die bestehenden Beamtungen. Sie wären darauf
nachzuprüfen, ob sich ihr Personal im ganzen oder einzeln nicht
vermindern ließe. Das erscheint lächerlich für alle diejenigen, die
nichts anderes wissen, als dass sich die Aufgaben des Staates
331
täglich vermehrten und damit auch der Beamtenkörper stetig ver-
größert werden müsste. Aber jenes ist nicht viel mehr als eine
Annahme, und dieses nicht die ohne weiteres gegebene Folge.
Wir denken beispielsweise an die Statistik. Wir unterschätzen sie
nicht, haben sie im Gegenteil schon mehr benutzt und ihr laut
und im stillen schon mehr gedankt, als vielleicht andere, die an
ihren Bestand auch nur zu rühren für ein Sakrilegium halten. Es
gilt ja überhaupt immer als ein Sakrilegium, wenn man das Be-
stehende in Frage zieht, und gar eine Beamtung, wo noch die
persönliche Empfindlichkeit mitspielt. Aber schon Dickens hat
die Statistik einen großen brüllenden Ozean der tabellarischen
Übersichten genannt, aus welchem noch nie ein Mensch, der bis
zu einer gewissen Tiefe niedertauchte, gesund wieder heraufge-
kommen sei. Sie ist zum guten Teil mehr wissenschaftliche Mode,
um nicht zu sagen Spielerei, als praktische Notdurft. Wenigstens
wenn man das, was sie liefert, vergleicht mit dem, was vom Ge-
meinwesen davon benutzt wird und insofern, was sie ihm nützt.
Bloß für private Liebhabereien aber ist eine amtliche Statistik
nicht da. Wie viele langwierige und mühsame Arbeiten, Armen-
statistik, Gemeinde-, landwirtschaftliche Statistik etc. etc., werden
von ihr erstellt, die nur dem Staub der Akten verfallen, und ge-
rade das sprichwörtlich gewordene „unschätzbare Material" der
Archive rührt hauptsächlich von ihr her — unschätzbar nach den
Kosten, aber nicht für den Gebrauch. Zurzeit ist eine Statistik
der Finanzen der Kantone in Vorbereitung. Wozu das, wo die
Finanzmisere der Kantone auf flacher Hand liegt? oder soll dar-
aus erst der Ansporn und die Richtschnur für eine Sanierung
gewonnen werden? Man hat es schon zu oft erlebt, dass statisti-
sche Umfragen unternommen wurden, nur um sich den Anschein
zu geben, in der Sache etwas zu tun, und dass für diese schließ-
lich nichts gewonnen wurde. Insoweit könnten sich Staat und
Gemeinde die Aufgabe und damit das Persona! und die Kosten
dafür ersparen. Das Volk aber nimmt die Ergebnisse nicht zur
Kenntnis, versteht sie wohl nicht einmal. Zu diesem Zweck
müsste die Statistik auch anders eingerichtet sein, nicht nur in
Zahlen reden, sondern, was diese beweisen sollen, in lebendige Worte
umsetzen.
(Fortsetzung folgt.)
332
BEI ARISTIDE BRIAND
Im September 1911 nach einer Ferienreise in den industriellen
Norden Frankreichs lernte ich Aristide Brland kennen. Der Pre-
mier ruhte sich damals von den Strapazen seiner Ministertätigkeit
aus und bewohnte als simple depute eine einfache Mietswohnung
an der Avenue Kleber weit draußen bei den Champs Elysees.
Ohne großen Aufwand an Zeit konnte ich zu Briand gelangen und
wurde von ihm mit so natürlicher Herzlichkeit empfangen, wie sie
berufsmäßigen Interviewern wohl nicht zu teil wird. Die Audienz
trug den Charakter eines Besuches und ließ mich vor allem die
Bekanntschaft des Menschen Brland machen. Dass ich das durfte,
verdankte ich jedoch größtenteils der Empfehlung des Herrn
Zebrowski in Zürich, der einst in Nantes mit dem jungen Briand
auf der Schulbank saß.
Kaum war das einführende Billet überreicht, saß ich auch
schon im Empfangssalon des ehemaligen Ministerpräsidenten,
einem nicht gerade großen, rondellartigen Raum mit stilvollen
Möbeln. Ein großes Ölgemälde, Briand im Studierzimmer dar-
stellend, gab dem Salon die charakteristische Note. Aus den Ge-
sichtszügen des Mannes, den man auf diesem Gemälde erblickte,
leuchteten die Eigenschaften, die man ihm nachrühmt: Geist, Ge-
wandtheit und hervorragende Tatkraft. Aber auch etwas Gütiges
sprach aus diesen tiefschwarzen Augen. Unwillkürlich erinnerte
ich mich an einige besonders sympathische Züge aus dem Leben
des Politikers, von dem Adolphe Brisson einst schrieb, dass er der
zärtliche Sohn seiner Mutter war, so anhänglich wie einst Gam-
betta an seine Mutter. Der vielbeschäftigte Abgeordnete setzte
sich an Sonntagen in den Schnellzug nach der Touraine, nur um
das alte Mütterchen in St. Nazaire auf ein paar flüchtige Augen-
blicke wieder zu sehen.
Das Antichambrieren löste noch allerlei andere Erinnerungen
und Gedanken aus. Wenn man auch nicht von übermäßigem
Respekt vor offiziellen Machthabern angekränkelt ist, so sitzt es
sich vor der Türe zum Kabinett eines Mächtigen doch wie auf
feurigen Kohlen. Und eigenartige Reflexionen und Stimmungen
sind's, die uns beschleichen. Ich musste immer wieder an die
333
Laufbahn dieses rätselhaften Mannes denken, an seinen meteor-
artigen Aufstieg vom Pubh'zisten und Advol<aten zur obersten
Macht, an Guizots Wort: Le journah'sme mene ä tout. Der,
dessen Stimme ich vom Arbeitskabinett aus ganz gedämpft ver-
nahm, konnte auf keine Protektion rechnen; die Coterie, die Clique
ging an ihm vorüber, er hatte keinen Vetter im Ministerium, keine
Familientradition, keinen regionalen Deputierten, der schützend über
ihm die Hand gehalten hätte. Kleiner Leute Sohn aus St. Nazaire
konnte er weder auf Geld pochen, noch auf Beziehungen, noch
auf Protektion und Konnexion. Er musste sich seinen Weg ganz
anders bahnen als der gewöhnliche Karrieremacher. Und er
bahnte sich ihn durch seine Intelligenz, sein Rednertalent, seine
zähe Ausdauer und ein löwenhaftes Vertrauen in die eigene Kraft.
Nachdem er die Trennung von Staat und Kirche durchgekämpft,
war auch sein Name als der eines leadingman endgültig gemacht.
Während ich in derlei Betrachtungen versunken bin, entleert
sich der Wartesalon ziemlich rasch ; einige Audienzen fanden eine
so prompte Erledigung, wie ich sie für die meinige nicht wünschte.
Neben mir saß nur noch ein älterer würdiger Herr mit distinguier-
ten Manieren; Briands Sekretär versicherte ihn, er werde bald
vorgelassen. Und es ging auch nicht mehr lange. Nun saß ich
als zuletzt Angekommener noch allein da. Es war also so weit.
Doch nicht, denn schon war wieder eine halbe Stunde verstrichen,
seitdem mein Vorgänger über die Schwelle huschte. Die Uhr rückt
gegen zwölf und meine Hoffnungen reduzieren sich auf ein Mini-
mum. Da kam Briands Sekretär wieder, ein Mann mit einem
rundlichen, vertrauenerweckenden Gesicht, und bemerkte: Monsieur
Briand lässt Ihnen sagen, Sie möchten nicht fortgehen, Sie kämen
so bald als möglich an die Reihe. Es sei nämlich ein Botschafter
bei ihm, bemerkte mit entschuldigender Miene der Sekretär. Nach
wenigen Minuten öffnete sich denn auch die Türe des Arbeits-
kabinetts, und was ich bisher nur im Bilde vor mir hatte, wurde
lebendige, sprechende Wirklichkeit. Ein mittelgroßer Mann in den
besten Jahren im schwarzen Jacketanzug trat auf mich zu und
schüttelte mir freundlich die Hand, unter Entschuldigungen, dass
ich etwas lange habe warten müssen.
Eine eigenartige Wirkung geht von dem schmächtigen Manne
mit den feingeschnittenen Gesichtszügen aus. Das ist nun also
334
Briand, sagt man sich, der überall anerkannte Briand, der ge-
wandte Politiker, der einstige Ministerpräsident und vielleicht wieder
der kommende Mann. Und doch nahm die Art, wie Briand sich
gab, sofort jede Befangenheit; sie war so herzlich, fast heimelig,
dass bei mir die erwartungsvolle Unruhe sich gleich in eine ruhige
Sicherheit verwandelte.
Im Arbeitskabinett des Ministers kam denn auch die Unter-
haltung sofort in Gang. Nach einigen mehr konventionellen Rede-
wendungen nahm sie die von mir herbeigewünschte Richtung.
Auf ein Interview war ich nicht eingerichtet, ich wollte auch nicht
den Politiker, sondern vielmehr den Privatmann kennen lernen,
und meine ganze Disposition bestand in vier Worten: Innere
Politik, Einkommensteuer, Kulturkampf, Sozialismus. Alles andere
war dem Spiel des Zufalls anheimgegeben. Was konnte eine
mechanisch zurechtgelegte Vorbereitung helfen, musste doch alles
aus dem Moment herauswachsen ! Briand saß mir gerade gegen-
über und ich konnte reichlich den Gesichtsausdruck des interes-
santen Mannes studieren. Die Augen sind schön, groß und
fragend; sie blicken ruhig und sind unablässig auf das Gegenüber
gerichtet. Der buschige Schnurrbart legt sich leicht um die Mund-
winkel. Das schwarze, glänzende Haar kontrastiert mit dem
bleichen, nicht gerade vollen Gesicht. Die Stimme ist ruhig und
von weichem Wohllaut. Briand spricht ohne Geste, ohne Hast,
kurz und bestimmt, aber alles was er sagt ist von einer klassi-
schen Form, mit allem, was er einwirft, trifft er gleich den Nagel
auf den Kopf. Er ist vor allem liebenswürdig, das personifizierte
Wohlwollen.
Die Unterredung kam zunächst auf die innere Lage Frank-
reichs; die äußere anzutönen erschien mir wegen der Marokko-
krise nicht ratsam. Das Land hat sich durchaus beruhigt, bemerkte
Briand, die Kämpfe sind vorübergegangen. Ich sagte ihm, auch
in der Schweiz hätte sein großes Werk, die „Separation", viel Be-
wunderung gefunden, was er mit den Worten quittierte: „Je suis
touche de ce que vous me dites." Man sprach dann von den
Kämpfen gegen die Reaktion, welche die dritte Republik auszu-
fechten hatte, von den Männern, deren Namen mit ihnen ver-
knüpft bleiben. Für Gambetta „le grand tribun" hatte er manches
übrig, noch mehr aber für Waldeck-Rousseau. „C'etait un homme
335
splendide." Die Entwicklung der Parteiverhältnisse im modernen
Frankreich führte uns zur herrschenden radikalen Partei. Er ver-
kannte ihre Verdienste um die Laisierung des Staates nicht, sie
erliege aber dem Schicksal aller großen Parteien : „le parti radical
n'a pas assez de mouvement, il n'est pas assez large dans ses
idees." Das Verhalten radikaler Politiker gegenüber der Einkom-
mensteuer leitete uns zum Projekt Caillaux über. Hat es eine
Zukunft? Briand lächelte in seiner überlegenen Art und meinte:
„Sous cette forme il ne passera pas." Die Frage sei sehr subtil,
eine letzte Formel noch nicht gefunden. Was Briand selber von
dem Problem hält, konnte ich nicht herausbekommen. Die sozialen
Fragen, die der Hebung der ärmeren Volksklassen, beschäftigen
Briand ebenfalls. Wie die wachsende Kluft zwischen Be-
sitzenden und Besitzlosen überbrücken, die Schäden des modernen
großindustriellen Zeitalters mildern? Briand meinte, neben der
auf eine ökonomische Besserstellung ausgehenden Arbeiterbewegung
müsse eine Hebung der untern Stände überhaupt erfolgen, da
ganze Kreise von erkämpften Arbeiterforderungen nicht berührt
werden (Frauen, Kinder, unqualifizierte Arbeiter).
Bis zu welchem Grad er der französischen Sozialpolitik Ver-
dienste einräumt, konnte ich nicht erkennen. Seine Kritik des
Radikalismus, dahingehend, dass er modernen Ideen zu wenig
zugänglich sei, war wohl in erster Linie auf die sozialen Leistun-
gen der radikalen Mehrheitspartei gemünzt. Weder über den
politischen Sozialismus noch über den revolutionären Syndikalismus
sprach Briand sich aus; so viel war aber aus seinem Mienenspiel
abzulesen, dass er nicht ohne Sorge das Wachsen des revolutio-
nären Syndikalismus verfolgt. Von den älteren heute noch die
französische Großbourgeoisie beherrschenden wirtschaftspolitischen
Lehrmeinungen der Walras, Molinari, Paul Leroy-Beaulieu scheint
er nicht viel zu halten. „C'est un reactionnaire," sagte er lächelnd
von Leroy-Beaulieu, „c'est ce qu'on dit vieux j'eux." So viel kam
mir aber klar zum Bewusstsein, dass Briand, der auf eine bestimmte
Richtung kaum festzulegen ist, dem Interventionismus freundlich
gesinnt ist. Die Lex Briand, die eine direkte Folge des Streikes
der Eisenbahner der Nordbahn war, atmete einen gewissen esprit
d'equite. Mir schien aus den Äußerungen Briands hervorzugehen,
dass er auch der Gewinnbeteiligung in industriellen Unternehmun-
336
gen große Bedeutung beimisst und allen übrigen Maßnahmen,
welche das gegenseitige Verhältnis erträglicher gestalten könnten.
Einige Worte über die Schutzzollpolitik Frankreichs schlössen den
Besuch bei Briand ab; mir schien, man dürfe den gewandten
Staatsmann eher als freihändlerischen Argumenten zugeneigt be-
zeichnen. Ich ließ durchblicken, dass der Tarif Meline und der
Zollkrieg mit der Schweiz nicht Frankreichs Vorteil war und dass
man wenigstens später zu einem etwas besseren Übereinkommen
gelangt sei, worauf Briand bemerkte: „Cetait sous mon ministere."
Dass Aristide Briand der Schweiz mit freundlichen Gefühlen gegen-
übersteht, ist so selbstverständlich, dass es kaum gesagt werden
muss. „Savez-vous, en France on aime bien la Suisse," diese
Worte gab er mir mit auf den Heimweg.
Die Unterredung mit Aristide Briand hat bei mir eine Er-
innerung zurückgelassen, die nicht auslöscht. Un homme supe-
rieur, ein Mann von großen Linien, ein wahrhaft glänzender,
reichtalentierter Mensch, der sofort gefangen nimmt und den man
nicht vergessen kann, der nicht durch eine feurige Dialektik wirkt,
sondern durch diese absolute Vernunft, den bon sens, die kristall-
helle Logik, die er stets für sich hat.
Das „Problem" Briand hat oft die Essayisten beschäftigt.
Wie viel verzerrte Porträts haben wir von ihm ! So viel Tinte ist
noch selten über einen französischen Staatsmann vergossen wor-
den. Und seine Wandlungen? Mein Gott, wie viele bedeutende
Menschen haben umgelernt, frühere Anschauungen revidiert, Götzen
verbrannt, zu denen sie einst beteten. In Briand nur einen ge-
scheiten Streber, einen Emporkömmling zu erblicken, einen Ehr-
geizigen, den eine günstige politische Woge emporgetragen hat, heißt
dem Mann nichtgerechtwerden, dessen Psyche für den Fernstehenden
schwer zu enträtseln ist. Seine republikanische Gesinnung, sein
Credo an den Fortschritt, an einen humanen Ausgleich, seine
Loyalität, seine Ehrlichkeit und persönliche Uninteressiertheit
stehen außer Zweifel. Nicht seiner Redekunst allein, wie Gambetta,
dankt er alles, sondern auch seinem superioren politischen Emp-
finden, der Fähigkeit, das Mögliche abzuschätzen und mit ihm
auf dem parlamentarischen Fechtboden durchzudringen, seiner
geradezu genialen Gewandtheit.
337
Des andern Morgens früh auf der Heimkehr erwachte ich
im Nachtschnelizug bei Vesoul. Mir war beim Abschied von der
France süperbe, als ob ich einen seiner besten und bedeutendsten
Repräsentanten kennen gelernt hätte. Und ich bh'eb unter dem
Zauber eines Wortes: das Talent!
ZÜRICH PAUL GYGAX
aaa
GEDICHTE VON BERTHA VON ORELLl
AM TURMFENSTER
Um mein Fenster hoch im Turm
Heult und brandet heut der Sturm,
Rauscht durch dunkle Tannennacht,
■ Pappeln schüttelt er mit Macht,
Schlägt den Regen mir ins Haus,
Löscht mein Licht mit Lachen aus.
Wolken jagen wild vorbei;
Auffliehn Raben mit Geschrei,
Und im Nussbaum kracht ein Ast.
Aufgeschreckt aus Ruh' und Rast
Zittr' ich bang in Nacht und Sturm
An dem Fenster hoch im Turm.
DER SCHNELLZUG
Es irrt mein Blick durch dunkle Ferne
In tiefer Einsamkeit.
Verhüllt sind heute selbst die Sterne;
Kein Licht glimmt weit und breit.
Da zittert plötzlich durch die Ferne
Des Schnellzugs lichtes Band,
— Gleich einer Kette goldner Sterne —
Und lischt am Hügelrand.
Ich weiß, dass er aus lieber Ferne
Mir deine Grüße bringt,
— Gleich einer Kette goldner Sterne,
Die dich und mich umschlingt.
aaa
338
LES INCOMPARABLES
Je ne parle pas du pastiche involontaire et naif qui est,
chez les tres jeunes ecrivains, un signe touchant de leur admi-
ration pour les maitres. Je parle de cette delicate imposture litte-
raire, qui se nomme aussi pastiche, et qui est aussi vieille que
le monde, j'entends que le monde civilise. Imiter le style des
ecrivains en renom, de maniere ä donner le change au lecteur
et ä lui faire prendre des vessies pour des lanternes, est un jeu
habituel ä toutes les societes raffinees qui donnent quelque prix
aux amusements litteraires. Sans remonter aux Alexandrins, aux
Romains de l'Empire ou aux Byzantins, on sait que La Bruyere
a pastiche Montaigne, parce qu'il l'aimait, et que Boileau a pas-
tiche Voiture et Balzac, parce qu'il ne les aimait pas. C'est une
Sorte de monstrueux pastiche que VOssian de Macpherson, et
c'est un veritable pastiche que le Theätre de Clara Gazul de
Merimee. Salvandy fit d'etonnants pastiches de Chateaubriand.
Les Contes drölatiques de Balzac sont des pastiches du seizieme
siede; et la Ballade ä la lune de Musset est un pastiche de
toutes les ballades romantiques, de meme que les Deliquescences
d'Adore Floupette en sont un de toutes les deliquescences deca-
dentes. Becq de Fouquieres qui etait pourtant critique avise et
qui connaissait Andre Chenier mieux qu'homme au monde, a
cependant admis dans sa celebre edition le fragment:
Proserpine incertaine . . .
que M. Anatole France pretendait avoir retrouve, et qu'on sait
maintenant qui n'est qu'un adroit pastiche de M. France lui-meme.
Mais Jamals peut-etre le pastiche n'a ete plus en faveur que
de nos jours^). II est devenu parmi nous un vrai genre litteraire.
On le nomme A la maniere de . . . Sous cette nouvelle forme,
il ne cherche plus ä mystifier. II ne veut plus qu'amuser le pu-
blic en se moquant des ecrivains. C'est une fa^on de critique
litteraire. MM. Muller et Reboux qui lui ont donne son nom
et qui en ont fourni les exemples les plus acheves, n'en sont
') Evelyne Moncoeur: VIncomparable, Oesse de Noailles: Le visage
emerveille, La nouvelle esperance, La Dotnination. Gerard d'Houville:
l'Inconstante, VEsclave, Le Temps d'aimer. Colette Willy : La Retraiie sen-
timentale, La Vagabonde. M^ie Burnat-Provins: Le Livre pour toi.
339
point cependant les inventeurs, je crois bien que l'inventeur en
est M. Jules Lemaltre qui donna en 1887, dans un article intitule
Pronostics, une serie de petits ä la maniere de . . . qui me
semblent bien avoir servi de modeles ä tous ceux qu'on a com-
poses depuis.
Le genre ä la maniere de . . . se distingue du pastiche en
ce que celui-ci veut se moquer du public en le trompant, tandis
que celui-lä veut se moquer des ecrivains en revelant perfide-
ment, par une exageration legere, leurs defauts et leurs ridicules.
C'est donc ä ce genre-lä, plutot qu'au pastiche, que se rat-
tache VIncomparable, ce petit roman paru recemment sous la
signature enigmatique d'Evelyne Moncoeur et qui a fait une pinte
de bon sang ä tant d'honnetes gens. L'Incomparable n'est point
tout-ä-fait un pastiche; on n'y voit aucune Intention serieuse de
mystifier; ii ne se donne pas vraiment pour un roman de femme.
Je pense que personne ne s'y est iaisse prendre. C'est une
„Charge" ; une Charge tres fine, mais une Charge. On pouvait
hesiter apres avoir lu i'epigraphe:
Ici bien-aime s'offre l'Incomparable
Car je suis la plus tendre et la plus geniale
Mais il me sembie qu'on etait fixe apres avoir lu la dedicace:
„A celui dont la forte caresse est la seuie chose au monde
que je comprenne".
Quel est l'auteur de YIncomparable? Quel nom obscur ou
fameux se cache sous celui d'Evelyne Moncoeur? Je crois que
c'est encore un mystere. Et ce mystere ajoute un attrait plus
piquant ä la lecture de ce petit livre.
C'est en effet, un petit livre, un tout petit livre. Mais il est,
en verite, bien plus grand qu'il ne sembie. 11 est considerable, il
est incomparable. 11 est tout simplement, sans l'ombre de pedan-
terie, et avec un sourire continuel, une critique complete, defi-
nitive, cruelle sans doute, mais non point injuste, de la litterature
feminine en France depuis dix ou quinze ans.
Car il y a en France, depuis dix ou quinze ans, non pas
seulement des femmes qui ecrivent, qui ecrivent comme des
hommes et vont ä la remorque des hommes; il y a une veri-
340
table iitterature feminine, tres differente de la masculine et bien
reconnaissable ä ses brillantes qualites comme ä ses dclatants
defauts. Les historiens litteraires qui parieront de notre epoque
ne pourront se borner ä faire entrer teile ou teile femme auteur
dans tel ou tel groupe d'ecrivains. II faudra bien qu'ils consa-
crent un chapitre, ou du moins un paragraphe, ä la Iitterature
de femmes.
C'est ä cette Iitterature tout entiere qu'en a l'auteur de Vln-
comparable, et non pas ä l'une ou ä l'autre de ces dames poe-
tiques. C'est pourquoi son livre est plus qu'un simple amuse-
ment; c'est pourquoi il a une vraie valeur et une vraie signi-
fication.
Quels sont donc, d'apres Evelyne Moncoeur, les traits les
plus remarquables de cette Iitterature?
11 faudrait, d'abord, vous conter l'histoire de VIncomparable.
Mais vraiment je ne saurais, car c'est une histoire qu'on lit pour
soi avec mille petits delices intimes; ce n'est pas une histoire
qu'on puisse lire ni meme raconter ä haute voix. D'ailleurs vous
la connaissez sans doute, et si vous ne la connaissez pas, vous
ne laisserez point passer un jour de plus sans l'apprendre.
Aussi bien, Tun des traits, et peut-etre le plus apparent de
cette Iitterature de femmes, semble etre l'indecence. Sous ombre
de franchise, ces dames disent les choses les plus fortes
avec une tranquillite parfaite et une naive effronterie. Elles rejet-
tent hardiment les volles de la pudeur qu'on avait pris tant de
peine ä tisser pour elles. Elles ne fönt pas mystere de leurs
goüts les plus simples. Elles etalent leur sensualite. Car c'est par
les sens surtout qu'elles semblent vivre. De quelque lyrisme
qu'elles l'embellissent, de quelques guirlandes qu'elles l'adornent,
leur amour s'appelle surtout desir. Ce n'est point pour leur äme,
ni pour leur esprit qu'elles aiment leurs amants. „La forte ca-
resse est la seule chose au monde qu'elles comprennent." Dans
la Maison du peche, Augustin de Chantepie est un petit nigaud;
mais il est jeune et charmant, et c'est pourquoi la pauvre Fanny
en est folle. Dans le Visage emerveiUe qui est donc l'ami de la
petite nonne? Je ne sais ni eile ne sait non plus. Elle sait seule-
341
ment qu'il est tres jeune, tres beau, avec des cheveux blonds. Et
cela lui suffit bien. Dans VEsclave de M"^^ Gerard d'Houville, si
M""^ Mirbelle echoue dans ses efforts louables pour aimer le
joli blond et retombe aux bras du beau brun, c'est que le beau
brun lui fait une Impression physique que le joli blond ne lui
fera jamais. Quant au Livre pour toi de M""^ Burnat-Provins,
c'est un hymne ä la beaute de Thomme.
Voilä donc l'amour des femmes quand ce sont les femmes
qui en parlent. Et, je le crois bien, voilä l'amour tout simple-
ment, l'amour veritable, l'amour qui n'est plus une amitie plus
ou moins amoureuse ou une habitude plus ou moins bourgeoise.
Remarquez que c'est precisement l'amour de Roxane pour Bajazet
et l'amour de Phedre pour Hippolyte.
Fier et meme un peu farouche,
Charmant, jeune, trainant tous les coeurs apres soi,
l'amour de Tristan et d'lseult. Nous le connaissions depuis long-
temps; et nous n'avions pas besoin des romans de femmes pour
nous y rendre attentifs. Mais ce qu'il y a d'assez piquant, c'est
que ce soient les femmes qui l'aient represente avec le plus de
franchise, avec le moins d'ornements, dans sa complete et un
peu triste nudite.
Tout cela est vrai; on l'a beaucoup dit, et Ton a eu raison
de le dire. Mais on l'a trop dit, et il ne faut rien exagerer. Si
cette sensualite des romans de femmes nous frappe, sl eile
nous parait nouvelle, ce n'est pas que les hommes n'en aient
dit souvent tout autant, et bien pis. Seulement nous nous faisions
des femmes une idee fausse. Nous les parions d'une ridicule de-
ücatesse; nous en faisions des etres plus etheres, plus immate-
riels que nous. II y avait des choses que nous nous reservions
le droit de penser et de dire. Longtemps, car elles sont do-
ciles, elles ont cru, elles ont du moins laisse croire que nous
avions raison. Mais enfin elles se sont lassees de jouer la come-
die. Elles ont dit le fond de leur coeur. Elles ont ecrit des Livre
pour toi. Cela est fort contrariant.
Et puls, si la sensualite qu'elles etalent dans leurs ouvrages
ne laissait pas d'etre connue et tres connue, il faut avouer
qu'elles nous l'ont montree, si l'on peut dire, par un autre cöt^.
342
Et c'est ce qui nous a fait, un peu injustement, crier au scan-
dale. Les compliments trhs directs que les hommes se permet-
taient de faire aux femmes, ce sont les femmes maintenant qui
les fönt aux hommes. Cela nous surprend, et nous charme peut-
etre, mais nous gene un peu. Qu'un homme dise ä une femme:
„Vous etes belle!" rien de mieux. Mais qu'une femme dise ä
un homme: „Vous etes beau!" nous ne pouvons nous empecher
d'etre choques. Nous ne pensions pas que nos cheveux,
nos dents et notre teint eussent pour les femmes precisement la
meme valeur qu'ont pour nous le teint, les dents et les cheveux
des femmes. Cela nous trouble. Cela trouble surtout ceux
d'entre nous qui ont entre quarante et cinquante ans, les che-
veux rares et le teint brouille.
Tant y a que beaucoup de critiques se plaignent aigrement
de cette franchise feminine. Apres tout, ils ont peut-etre tort.
J'avoue qu'il y a des precisions d'assez mauvais goüt chez
M"^^ Burnat-Provins et meme chez M"^"^ de Noailles, et meme
chez M""^ Colette Willy, et meme chez la gracieuse M^"^ Gerard
d'Houville. Et c'est un defaut dont Evelyne Moncoeur s'est mo-
quee presque ä chaque page de VIncomparable. Mais enfin c'etait
peut-etre le droit des femmes de parier un peu de nous comme
nous parlions d'elles. Et, si tous les poetes ont compare la joue
fraiche de leur amie ä un fruit vermeil et duvete, pourquoi la
Vagabonde de M"^^ Colette Willy ne dirait-elle pas de la joue
rasee de M. Dufferein-Chautel qu'elle est „douce comme une
pierre ponce tres douce". Et, apres tout ce que les hommes ont
repete de charmant sur les mains des femmes, pourquoi Sabine,
dans la Nouvelle Esperance, ne remarquerait-elle pas la main de
Gerome, „le bras, le poignet et la main, d'un blanc poli, les
doigt fins, un peu larges aux phalanges"?
Mais, pour qui veut etre offense, ce qui rend souvent cette
franchise des romans feminins plus offensante encore, c'est que
beaucoup sont ecrits, comme VIncomparable, sous forme d'auto-
biographie, de memoires ou de Journal intime. L'auteur a l'air
de parier pour son propre compte, de nous faire une confession
ou une confidence, d'utiliser sa derniere petite aventure. 11 se
pose non en spectateur mais en acteur. Gillette Vernon dans
343
VInconstante comme M'"^ St-Helier dans le Temps d'aimer, Clau^
dine dans la Retraite sentimentale comme la cabotine de la Va-
gabonde, et la petite nonne naive du Visage imerveille comme
l'ardente amoureuse du Livre pour toi, nous content elles-memes
leur histoire.
Cest, peut-etre, qu'elles seraient bien empechees de nous
conter autre chose; car un autre trait de la litterature feminine,
fort bien mis en valeur par Evelyne Moncoeur, semble etre le
manque d'invention. Je ne dis pas d'imagination : il y a, dans les
livres de femmes, une Imagination de details souvent charmante,
parfois abondante. Mais il n'y a aucune invention. La trame de
ces romans est des plus legeres et des plus insignifiantes. On
aime un homme, et puis on ne l'aime plus et on se met ä en
aimer un second; ou bien on aime un homme et on essaie d'en
aimer un autre, mais decidement c'est le premier que Ton aime;
ou bien on aime un homme, et cet homme s'en va, et Ton
pleure. Je ne songe pas ä blämer cette simplicite. On peut bro-
der, on a brode des chefs-d'oeuvre sur des canevas aussi tenus;
et c'est Birenice. Mais encore faut-il reconnattre que ce manque
d'invention est un trait commun ä presque toutes les femmes.
II y a ä peine une intrigue dans la Princesse de Cleves, ou dans
les meilleurs romans de Georges Sand — et l'extraordinaire et
folle complication de Consuelo ou des Beaux Messieurs de Bois
dore est aussi, tout compte fait, une preuve d'impuissance. S'il
y a des femmes poetes, des femmes romanciers ou meme des
femmes philosophes, remarquez qu'il n'y a guere de femmes
dramaturges. C'est que, pour reussir au theätre, il faut avant
tout, — ä moins d'etre Racine ou Marivaux, — cette force d'in-
vention qui manque aux femmes.
Incapables d'imaginer une forte intrigue, les femmes sem-
blent ne pas l'etre guere moins de creer des caracteres. _11 y en
a ä peine chez M'"^ Tinayre ou chez M""^ Colette Willy ; et chez
M*"^ Gerard d'Houville ou chez M^"^ de Noailles, il n'y a que
des silhouettes vite oubliees. Occupees uniquement d'elles-me-
mes, et, comme dit VIncomparable, de leur „tendre coeur", elles
n'ecrivent jamais ni roman de moeurs ni roman de caracteres.
Elles pourraient etre psychologues, et elles le sont souvent, et
avec une finesse ravissante. Mals leur veritable veine est le ly-
344
risme. Le genre ou elles excellent, oii, du moins, elles se com-
plaisent, c'est le „roman lyrique". Elles sont lyriques ä tout pro^
pos et parfois hors de propos. Toute occasion leur est bonne
ä s'epancher en tirades; les conjonctures les plus ordinaires leur
inspirent des developpements poetiques. Cela ne va pas toujours
sans un certain comique. C'est ce que l'auteur de VIncomparable
a tres bien compris; de cette disproportion, il a tire ses effets
les plus amusants. Un matin, en voyage, son hero'i'ne passe par
une petite ville dont eile ne peut lire completement le nom sur
le mur de la gare. Elle ne perd pas une si belle occasion de
s' exalter: „Chätel" . . . Quel Chätel? Chätel-Quyon? Chätel-
aillon? Je ne le sais pas; j'ignore la geographie qui n'importe
guere ä l'amour; je ne le sais pas; je ne le saurai jamais . . .
Quelles que soient, petite ville, les dernieres syllabes de votre
nom, vous etes une pauvre petite ville remplie de trop de calme,
de silence et de paix, une petite ville honnete, une petite ville
morte, et voilä, ö Chätel inconnu, 6 Chätel anonyme, que je
pleure sur vous . . ."
Ce lyrisme perpetuel est la source de toute sorte d'enfantil-
lages dont le plus constant et le plus remarquable est Tabus de
la „prosopopee", comme disent les vieux manuels de rhetorique.
Les auteurs feminins ne se lassent point d'interpeler. Elles inter-
pellent les inconnus, les absents et les morts, les tables, les
portes et les arbres, et l'amour, et leurs cheveux, et leurs mains,
et leur coeur, leur tendre coeur. La nonne du Visage emerveille
ne se borne pas ä dire, ce qui est dejä assez precieux: Mon
couvent me fend le coeur d'amour. Elle s'ecrie: „Mon couvent,
vous me fendez le coeur d'amour; vous etes, ce matin, comme
une belle turquoise douce." Non seulement eile interpelle Sainte
Therese, mais eile s'adresse ä la bouche de cette bienheureuse
et lui dit, avec une naive incoherence: „Bouche de Sainte The-
rese, ouverte et pleine de gräce, que buvez-vous que vous ayez
ainsi la figure parfaite, morte et noyee". Et ainsi VIncomparable:
„Elle s'est ouverte; vous vous etes ouverte, 6 porte!" ou bien:
„Votre nuance, 6 Qaves, plus que le bleu rüde du ciel, etc."
ou encore: „Ah! jours d'amour ! C'etait donc vrai, doux amours,
que, mon tendre coeur, vous l'empliriez de plenitude!" ou enfin:
„Ah! splendeur de la viel Douceur d'aimer! Folie! Sagesse!
345
H«ure eternelle! Je vous tiens donc enfin, mon bonheur ephe-
mere, qui sur ma tendre paume, comme un oiseau farouche, un
instant vous vous posiez!"
Mais si ce lyrisme tourne facilement et trop souvent ä la niai-
serie, il a, souvent aussi, sa valeur. II pousse au beau style, au
grand style, ou simplement au style. II laut bien reconnattre que
dans notre litterature contemporaine, sauf quelques exceptions,
les femmes ecrivent mieux que les hommes. Si elles manquent
parfois de rigueur et de precislon, elles ont, presque toujours,
l'elegance, Tharmonie et le nombre. Leurs romans, generalement
mal composes, offrent au moins aux faiseurs d'anthologies, quel-
ques pages parfaltes. Elles savent, comme on dit, „enlever le mor-
ceau". II n'est presque pas un de leurs livres qui ne laisse dans
la memoire le souvenir d'un episode ou d'un tableau, d'un dis-
cours ou d'une conversation. II y a ainsi des passages delicieux
dans la Retraite sentimentale et dans la Vagabonde. Et dans
VInconstante avez-vous oublie la visite de Gillette ä Marion
dans le vieux cloftre fleuri? ou, dans le Temps d'aimer, le
voyage de noce de Pascal et de M'^^ La Charmotte, et la Serenade
que fit ä Laure sa blonde amie costumee en page? Quant ä
M"^« de Noailles, eile s'est montree souvent tres grande artiste
en langage. Teile de ses phrases nous revele toute la subtile
beaute, toute la mysterieuse Harmonie oü peuvent atteindre les
mots ordonnes par des mains inspirees et savantes. II y a dans
sa prose un echo de Chateaubriand et de Renan. La Prlere ä
l'amour dans le Visage emerveille sera belle tant que les mots
qui la composent offriront un sens aux oreilles humaines.
„Amour ... Je vous donne aussi toutes les violences, les
crimes et les coleres: les dagues teintes de sang, le flacon de
jusquiame, le gant et la rose empoisonnes, le mouchoir qui
perdit Desdemone, l'epee qu'Hippolyte laissa dans la main de
Phedre, et, en temoignage du temps de la chevalerie, ce coeur
chaud de l'amant qu'on fit manger ä l'amante.
„Et je vous offre, Amour, comme rose derniere et plus belle,
et pour que soient eternellement charmees vos sensibles oreilles,
le son le plus brülant, le plus voluptueux, qui n'est pas la voix
de Juliette au balcon, ni la tendre plainte d'lphigenie, mais le
346
divin eclat d'or que fit, en se brisant, la chaine etroite des pieds
de Salammbö . . .**
Et que pensez-vous de cette invocation, ä Pan? N'est-elie
pas digne de sauver de l'oubli cette mediocre Dominatlon?
„O Pan, reviens dans le bois parfume! Que mon äme qui
depuis trois miile ans garde ton culte champetre voie luire cette
nativite! Tous les poetes, et, mon eher Pan, il est beaucoup de
poetes, t'attendent dans les jardins. Ne les crois pas lorsqu'ils se
pensent mystiques et convertis aux religions de Judee. S'ils disent
que leur äme est alteree de mystere, c'est parce qu'ils te cher-
chent et qu'ils ne t'ont point trouve. Ah ! qu'un matin de Päques
quand sur les villes chretiennes les cloches danseront, vaines
poupees de metal, la foret enfin se ranime! que l'aulne entende
revenir sa nymphe aux jambes mouillees, que les bergers s'en-
lacent, que le bouc et la biche resplendissent au soleil, et que,
plus haut que les cloches d'argent sur les villes, tout le feuillage
chante: Pan est ressuscite! . . ."
Cette aisance du langage qui semble naturelle aux femmes,
Evelyne Moncoeur ne la conteste pas. Llncompaiable n'est point
mal ecrite. Si Ton y trouve quelque galimatias et quelque am-
phigouri, on n'y rencontre pas cette lourdeur, cette platitude,
cette impropriete qu'il faudrait bien imiter si l'on pastichait tant
et tant de livres d'hommes! Voici meme un petit passage qui,
malgre l'auteur peut-etre, est vraiment bon, parce qu'il est la
moquerie legere de beaucoup de passages excellents:
„O douceur de la caresse premiere, faite de toutes les atten-
tes finies, de toutes les craintes rassurees, de toutes les joies
approchees, du flechissement infiniment heureux des nerfs trop
longtemps tendus ... je ne veux pas que ctte caresse finisse,
parce qu'apres eile, quand eile sera morte, ce ne sera plus,
jamais plus, la caresse premiere ..."
Cette Incomparable sera sans doute tout ä fait in utile ; eile
ne changera rien au cours impetueux de la litterature feminine.
Qu'importe? Elle vaut par elle-meme, non pas seulement parce
que la moquerie, comme dit Pascal, est une oeuvre de justice,
347
mais parce que rire est une des meilleures choses de ce monde,
et que nous devons de bons rires ä Evelyne Moncoeur.
II faudrait seulement que VIncomparable mit les femmes en
garde contre quelques defauts qui empoisonnent leurs plus heiles
qualites, qu'elle leur fit reconnattre en elles-memes, l'ivraie du
bon grain. 11 faudrait que, capables de nous donner encore beau-
coup d'ouvrages charmants, de Vagabonde, de Visage ^merveiUi,
d'Inconstante, elles fissent, en souvenir d'Evelyne Moncoeur, le
ierme propos de ne nous plus jamais donner de . . . Mais je
jie veux citer aucun titre, car il ne faut desobliger personne.
PARIS F. ROQER-CORNAZ
aoa
SUPREME APOTHEOSE
Lourde de siecles, mais fiere et tragique encore,
Avec sa tour fendue et ses mille ecussons
llluminant I'orgueil carre de ses maisons,
Toute la ville ecoute en ses echos sonores,
Toujours les memes glas, lui predire sa mort.
Elle est vieille, la ville, et sa place est deserte,
Et son fleuve ensable, et ses vagues inertes
Ne poussent plus les vaisseaux clairs jusqu'ä son port.
Mais tout ä coup, comme un faisceau de feux et d'ailes
Paratt au ciel le Saint-Georges, patron hautain;
„Elle ne choira pas dans le neant certain,
Ma ville, et sa muraille et son donjon fideles.
Ni le vulgaire emoi d'un touriste gante
De sa canne d'ennui ne frappera ses pierres:
Heros en vos cercueils, et vous dames guerrieres,
Dormez sans peur sur vos coussins d'eternite."
Et l'archange d'argent süperbe et debonnaire,
Debout sur un orage eclabousse d'eclairs,
Ulumina la ville avec ses grands yeux clairs
Et l'emporta, on ne sait oü, dans le tonnerre.
EMILE VERHAEREN
ann
In Paris-Neuilly (20 rue de Chartres) erscheint seit dem 1. April unter dem Titel La
Vie et les Lettres eine vorzügliche periodische Anthologie der neuern französischen Lite-
ratur, der wir dieses Gedicht entnehmen.
D a D
348
DIE SCHULD DES GOTTLOB
SCHLEICHER
NOVELLE VON ROBERT JAKOB LANG
So kam der Frühling schon im Februar: die Sonne schien
warm und freudig auf die i<ahien Zweige. Die Finken schlugen
verwundert im Geäst; der Himmel war von einem tückischen
blassen Blau.
Hinter dem Dorf streckte sich eine breite, weiße Straße, an
welcher Pappeln standen. Zwischen der fünften und sechsten
Pappel lag das Haus. Es war so gewöhnlich, dass man seine
bescheidene Hässlichkeit übersah und ihm eine Berechtigung in
der Natur zuerkennen konnte wie jedem grauen Feldstein. Hinter
dem Haus fing das Gewirr der Baumgärten an. Die Dächer lagen
über den Kronen wie braunrote vielgestaltige Eier in einem Rie-
sennest. Unter der obersten Fensterreihe des Hauses lief eine
lange hölzerne Laube. Über dem Geländer war eine Schnur ge-
spannt, daran flatterten rote und weiße Windeln. An einer der
hölzernen Stützsäulen hing eine kleine Eisentafel, auf welcher die
Rostflecken üppig wucherten, nur die Buchstaben der Aufschrift
verschonend. Von der Straße aus war nichts zu lesen und es
hatte auch keine Not, denn dass da oben der Schneidermeister
Gottlob Schleicher seine Werkstatt hatte, das wusste ein jeder
im Dorfe. Wenn man sich aber über das Geländer der Laube
lehnte, las man mit Befriedigung, dass der Schneidermeister nicht
ein gewöhnlicher Kleidungskünstler war, sondern ein „marchand-
tailleur". Über die Bedeutung dieses Ausdrucks war sich der
Meister nicht im Klaren und dachte sich die Sache so, dass
marchand wahrscheinlich Schneider und tailleur demzufolge Meister
bedeute. Es war da vor einigen zehn Jahren ein fremder Geselle
beim Maler Fischer untergekommen, der hatte ihm den Firmen-
schild gemalt und als er damit fertig war, zeigte das Schneider-
lein einen hellen Stolz über seinen neuen Titel, getraute sich aber
nicht aus der löblichen Furcht heraus, ungebildet zu erscheinen,
nach dem Sinn zu fragen. Er ahnte wohl dessen Herkunft aus
der französischen Sprache und grämte sich ein wenig, nicht
349>
Schangi oder Schaggi zu heißen. Mit einem solchen feinen Namen
wäre die Tafel sein ganzes Glück gewesen und seine biderbe
deutschschweizerische Wesenheit hätte dann den höchsten Grad
erreicht.
Er hatte ein schönes Geschäft, der marchand-tailleur Gottlob
Schleicher. Er flickte zum mindesten sechs Paar Mannshosen und
ein Paar Herrenhosen in der Woche. Auf diese letzte Arbeit
bildete er sich etwas ein. Es ist nämlich ziemlich zweierlei, einen
viereckigen Fleck Stoff auf ein Loch zu nähen ohne besondere
Berücksichtigung des Grundgewebes, oder mit viel Sach- und
Farbkenntnis den Fleck auf der Innenseite des Loches anzubringen
und den Übergang in den Stoff der Hose so zu bewerkstelligen,
dass man ihn gar nicht merkt; ebenso zweierlei wie das Bügeln
einer Zwiilichhose und eines Beinkleides aus englischem Hosenstoff.
Jetzt lehnte sich der kleine Mann mit dem großen Kopf
über das Lauben-Geländer und sah mit dunkeln Augen, in denen
eine pfiffige Wohligkeit blitzte, auf die Straße hinunter. Um ihn
herum flatterten die Windeln seines Jüngsten. Es war zwischen
zwölf und ein Uhr. Ein paar Arbeiter gingen geschäftigen Schrittes
dem Dorfeingang zu. Mitten auf der Straße lag ein schwarzer
Köter und sonnte sich. Der Schneidermeister sog die Frühlings-
luft mit offenem Munde ein und pustete sie durch die zusammen-
gekniffenen Nasenflügel wieder aus. Die Finken schlugen in den
Bäumen und die Spatzen quietschten in den staubigen Pappeln.
Der Schneidermeister Gottlob Schleicher freute sich an den Finken
und an den Spatzen. Über ihm aber hatte der Himmel ein giftig
blasses Blau. Schulbuben gingen vorbei. Der schwarze Köter
schnupperte in die Luft, stand auf, streckte sich und trollte sich,
bevor ihn der erste Stein erreichte, davon. Um die Ecke aber
klang ein mehrstimmiger Spottruf: „Schneider meck meck!
Schneider meck meck!"
Der Meister zog die Stirne kraus, ärgerlich ging er an die
Arbeit. Mit lässiger Behendigkeit zog er seinen Rock aus und
stand nachdenkend in seiner Werkstatt. Die dünnen Beine in zu
kurzen hellen Hosen, den Oberkörper ohne Hosenträger in einem
weichen grauen Kamisol, das bauschig über den Hosengurt
herabfiel.
350
Das war des Meisters Werkstatt: Drei Meter im Geviert,
von denen ein schön Stüclc abging, weil zwei Türen zu öffnen
waren, eine auf die Laube und eine in die Küche. Die vier Wände
strahlten im Glanz einer grün- und rotblumigen Tapete. An klo-
bigen Nägeln hingen des Schneiders Schnittmuster, Scheeren und
Elle; bei der Küchentür über dem Kundensessel hing, am Ehren-
platz, die Photographie des Gemischten Chors. Durch das Fenster,
das auf die Laube ging, fiel das Licht von rechts auf den mäch-
tigen Arbeitstisch; dem Fenster gegenüber stand hart neben dem
Tisch ein Schrank, dessen Türen beim Öffnen knapp an der Tisch-
platte vorbeirieben und neben dem Schrank glühte der kleine
eiserne Ofen. Die Laubentür war verglast. So war in dem Stüb-
chen eine nette Helligkeit; aber weil der Meister der frischen Luft
alle möglichen Untugenden zuschrieb und die Fenster mit allen
erdenklichen Listen zuzuhalten wusste, eine jämmerliche Atmungs-
gelegenheit.
„Die verdammten Buben!"
Misslaunig holte Gottlob Schleicher sein Kohlenbügeleisen vom
Schrank herunter und füllte es mit Glut aus dem Ofen. Dann
schwang er es auf der Laube einige zwanzig Mal hin und her,
netzte bedächtig seinen Zeigefinger, fuhr vorsichtig über die Bügel-
fläche und brachte ein gutes Zischen zuwege, in seiner Werkstatt
faltete er ein Paar Hosen umständlich auf den Tisch, legte ein
schwarzes Schutztuch darüber und bügelte mit viel Anstrengung
und genug Wasser vier vorzügliche Bügelfalten.
Bei seiner Arbeit war Gottlob Schleicher mit seinen Ge-
danken allein.
„Die verdammten Buben! Seinerzeit . . ."
Da ging ihm ein Begegnis durch den Sinn, das er gerne
vergessen hätte und das ihm doch immer wieder aufkam:
Die Bäume blühten. Hinter dem „Mohren" stand eine
Kutsche. Der Gaul scharrte ungeduldig. Auf dem Bremsbacken
lag ein glimmender Zigarrenstummel. Weiß der Teufel was den
Schlingel, den Gottlob Schleicher, ankam. Auf einmal stak der
Stummel zwischen Lederzeug und Pferdefell. Der Bub aber stand
hinter Brunnenstock und wartete und sah zu, wie der Gaul Reißaus
nahm und Leute aus dem „Mohren" stürzten, dem herrenlosen
Gefährt nach. Der Gottlob Schleicher ist nie mit dem Gesetz
351
und seinen Vertretern in Konflikt gekommen, aber seit jenem
Jugendstreich hat er ein verdammt empfindh'ches Gewissen und
die Sache will sich ihm nicht verjähren. Schheßlich hatte ja nie-
mand etwas gesehen als seine Frau, die damals ein kleines Mägdlein
war und die er — ein klein wenig auch — wegen ihres Mitwissens
geehlicht hatte. So kam vielleicht die Hälfte der Schuld auf sie.
Das Mägdlein war ein Jüngferlein geworden. Schmal und bleich
mit großen dunklen Augen, in denen immer die Frage zu stehen
schien: warum schaust du mich an? Wenn sie angezogen war,
legte sie ihr Umtuch ins Dreieck, schlug's um die Schultern, band
zwei Zipfel davon kreuzweis um die Brust und im Rücken zu-
sammen und ließ den dritten unter ihrem schwarzen Haar wie
ein braunrotes Wimpelchen flattern, wenn sie mit raschen Schritten
durch die Straßen ging. Das war die Frau Schleicher und war
früher die Jungfer Steiner gewesen und noch früher das Steiner
Miggeli. Aber das Umtuch war immer dasselbe. Vor Jahren ein-
mal war sie an einem schönen Sonntag nachmittag durch die
Wiesen gegangen und der Schneider hatte sich zu ihr gesellt. Sie
sah ihn gern, weil er ihr Schulkamerad gewesen. Dass sie seine
Frau werden würde, daran dachte sie nie. Sie ließ ihre Träume
nicht so hoch fliegen. Darauf dass einmal ein scheu gewordenes
Pferd durch die Straßen gerast und der Qottlobli hinter dem
Brunnenstock gestanden, hatte sie vergessen, und dachte jetzt,
wo der junge Schneider neben ihr durch die Wiesen ging, erst
recht nicht daran.
„Weißt du noch Miggeli?"
„Was denn?"
„Hedann, weißt beim Mohren?"
„Nichts weiß ich!"
„Der Wagen mit dem Gaul?"
„Was für ein Wagen?"
„Weißt doch, der wo wild geworden ist!"
Miggeli Steiner sah Gottlob Schleicher mit sonderbaren Augen
an. Was der für wunderliche Sachen berichtete.
„Da bin ich schuld daran."
Die Augen der Jungfer nahmen einen immer verwunderteren
Ausdruck an und wurden so groß wie der Schneider sie noch
nicht gesehen.
352
Oh lätz, dachte er traurig, jetzt ist's aus. Und er wusste nicht,
ob er da noch berichten solle, dann nahm er sich ein Herz:
„Aber weißt Miggeh", das hab ich auch nie mehr getan,
meiner Seel nicht!**
Das Miggeli war dran ihm zu sagen, dass ihm das doch
gleich sein könne, und was er denn etwa wolle mit seinem Qered.
„Weißt, aber ich weiß nicht, was ich denkt hab selbiges Mal.
Auf einmal hab ich dem Gaul die zündige Zigare zwischen das
Lederzeug und das Fell gesteckt, da ist er davon ! "
Das Mädchen sah auf den Boden und wusste nicht, ob der
Gottlob am heiterhellen Tag schon besoffen oder sonst über sei.
„Magst du mich jetzt gleich noch? fragte der nach einer Weile?
Da stieg der Jungfer ein roter Schein ins Gesicht und sie ließ
die Augen nicht mehr vom Boden los.
„Jetzt wirst mich denk nimmer mögen?" fragte der Gottlob
weiter.
Da fing das Miggeli ein Lächeln an, dass die Vögel in
den Bäumen darob zu staunen schienen.
„Ja wenn dir so viel daran gelegen ist, mögen tu ich dich
schon."
„Gleich, auch wegen dem Gaul?"
Darauf hat sich der Schneidermeister Gottlob Schleicher nicht
länger besonnen und hat das Miggeli Steiner zur Frau genom-
men, und ist trotz der Gaulgeschichte nicht übel dabei gefahren.
Aber verrechnet hat er sich dabei doch. Die Angst vor der
Polizei und vor allen uniformierten Beamten ist er nicht los ge-
worden
Jetzt wo er auf seinem Tisch saß und sinnierend auf seinen
Fingerhut guckte, war es ihm genau, als höre er die Stimme
eines Wächters der Ordnung. Da kam sein Gesicht in ein son-
derliches Aussehen. Eine herrische Angst hockte sich in Mund
und Augenwinkel und versteinerte seine Züge. Das gab ihm einen
entschlossenen Ausdruck, den ihm niemand kannte. Er lauschte
hinaus. Da verklang die Stimme wieder. Mit einem scheuen
Seufzer zog er eine Armlänge Zwirn von der Spule, fädelte ein
und nähte Stich an Stich.
Schon in der Schule hatte ihm diese Furcht im Nacken
lesessen. So war er immer für Sich allein geblieben, weil er sich
353
vor neuen Bubenstreichen fürchtete. Vor den Lehrern zitterte
er, weil sie für ihn Staatsgewalt waren. Und die Lehrer brauchen
keine Pyschologen zu sein, die waren bald fertig mit ihm. Duck-
mäuser war die Qualifikation, die ihm sein Wesen eintrug. Er
hat den rechten Namen, glossierte der Oberlehrer dazu. Und es
war schließlich niemand Schuld daran, als er — Gottlob Schlei-
cher — selbst, wenn er sich immer mehr weg und herumschleichen
musste wie ein Aussätziger und nur lustig sein konnte, wenn
nicht ein Schulerbub oder ein Gaul seinen Weg kreuzte.
Beim Kaffeetrinken meldete ihm das Miggeli, die Frau Studer
habe ihre Steuern scheints noch nicht bezahlt. Der Steuerzettel
stecke noch in der Türspalte und es sei jetzt doch schon zwei
Tage her, seit man sie vertragen habe.
Gottlob Schleicher war schlechter Laune. Seine Gedanken
hatten ihn gegen die Menschen erbittert. Das sei immer so,
meinte er, denen, die etwas zum Versteuern hätten, denen lasse
man Zeit bis zum ewigen Feiertag, und den armen Keiben, wenn
die nicht fast auf die Kanzlei sprängen, bevor der Zettel komme,
denen werde gepfändet.
„Es muss dich dann nicht wunder nehmen, wenn ich an
einem schönen Tag Sozi werde!"
Frau Miggeli machte ihre großen Frageaugen; als ob sie
friere, kreuzte sie sich zusammenkauernd die Arme. Die drei
schwarzhaarigen Mägdlein sahen den Vater verwirrt an und nur
im Zimmerwagen krähte das Jüngste unentwegt weiter.
„Wenn ich das Geld hätte, wo die Studerin hat, die Alte,
dann könnte mir meinetwegen alles andere gestohlen werden!"
„Das Zilli hat gesagt," plauderte die Grete, die Älteste, „sie
habe gar nicht so viel!"
„Halts Maul, das weiß denk ich besser!"
„Aber Vater — Frau Miggeli hielt etwas auf gute Erziehung
und hörte nicht gern wenn Gottlob grob kam, weil das leicht
abfärbe — das kann doch das Zilli ganz gut wissen, die geht doch
bei der Frau Studer auf die Stör!"
„Ich weiß, was ich weiß!" beharrte der Schneider.
ff. Dann saß er wieder auf seinem Tisch und nähte Stich an
Stich. Unter dem Fenster aber saßen die drei schwarzhaarigen
354
Mägdlein und erzählten sich Geschichten von der reichen Frau
Studer und den fürchtigen Sozi.
Eine Woche später stand Gottlob Schleicher mit dem leeren
schwarzen Tuch, in dem er die Kleidungsstücke seiner Kunden
ablieferte, unter seiner Wohnungstür. Drei Stockwerke unter ihm
ging jemand durch den Hausgang. Es war der Polizeiwachtmeister
Brunner. Ein böser Schreck fuhr dem Schneidermeister in die
Kehle. Er räusperte sich dreimal kläglich, dann blieb er wie ge-
bannt stehen und wartete. Zwei Stockwerke unter ihm bei der
Frau Studer läutete man ; läutete zum zweiten und drittenmal.
Dann stieg der Wachtmeister weiter.
„Jetzt wird er drunten läuten" dachte Schleicher.
Der Wachtmeister stieg weiter und stand vor dem „marchand-
tailleur".
„Seit wann ist die Frau fort?" brummte er das Männchen an.
Gottlob Schleicher knickte zusammen.
„Seit Samstag, das heißt seit Freitag oder auch Donnerstag."
„Hm" schnautzte der Wachtmeister und es gelang ihm sein
vom Steigen glänzend erhitztes Gesicht in dunkle Amtsfalten zu
legen, „hm, also fast eine ganze Woche. Eine alleinstehende Frau!
Da kann was passiert sein. Muss von Gesetzeswegen nachsehen
lassen. Hm". Dann warf er einen musternden Blick auf den
Schneider und ging.
Der Schneider saß auf seinem Tisch und sah durchs Fenster.
Der Regen fiel in Fäden auf die braunen Bäume und zerstäubte
auf dem nassen Laubenboden. Fingerhut und Scheere, Nadel und
Zwirn lagen zwischen den Knien des Meisters. Der dachte und
dachte und die Angst, die herrische, die ihm in Augen und
Mundwinkeln hockte, wuchs und wuchs und würgte ihn und geis-
selte ihn mit hundert Schauern am ganzen Leib.
Jetzt kam das Gericht. Oh sie konnten ihm nichts anhaben.
Er war doch der ehrbare Schneidermeister Schleicher. Ha! Aber
der Duckmäuser war er auch, und der, welcher den rechten
Namen trug. Einen Gaul hatte er scheu gemacht aus Jux! Aber
sonst konnten sie ihm nichts vorwerfen. Beweisen wollte er ihnen
das, beweisen. Was beweisen? Dass er mit der alleinstehenden
Frau als der einzige im Hause verkehrt hatte, dass er in ihrer
355
Wohnung gewesen war, wo doch sonst niemand Zutritt hatte,
dass er Gold gesehen hatte auf dem Tisch der alten reichen
Geizhälsin, dass er das alles erlebt, er der arme Flickschneider
Schleicher. Was sollte das beweisen ? Nichts bewies das, und der
„marchand-tailleur" saß im Zuchthaus, weil er eine Frau umge-
bracht und beiseite geschafft haben sollte, und konnte nachdenken
über seine Schuld. Da half ihm kein Miggeli darüber hinweg. Er
hörte die Buben fötzeln und die Gäule wiehern. Beweisen, ja
beweisen! Seine arme Frau aber, und seine drei Kinder, seine
vier Kinder, was sollten die beweisen? Dass er ein braver Mann
und ein guter Vater war. Was bewies das? Er war ja ein Duck-
mäuser, er trug ja den rechten Namen. Sein Vater würde sich
im Grabe umdrehen und sein Großvater und sein Urgroßvater,
und sie würden ihm erscheinen in den langen Kerkernächten und
würden auf ihn zeigen: Seht da, der von unserm Blut, der da,
dem der Schneidermeister nicht mehr genug war, der sich von
einem hergelaufenen fremden Malergesellen einen fremden Titel
aufschwatzen ließ! Seht ihr ihn da, so weit ist es mit ihm ge-
kommen! Und er, was konnte er dagegen vorbringen? Dass
er keinen Unterschied mache zwischen arm und reich. Bah, das
würde ihm keiner glauben, das glaubte er ja selber nicht. Er
flickte doch auch die Mannshosen anders als die Herrenhosen.
Er, der Gottlob Schleicher mit den aufrührerischen Gedanken!
Hatte er nicht schon oft gedacht und gesagt, Sozi wolle er
werden! Beweisen? Er konnte nichts beweisen.
Der Schweiß ging ihm über die Wangen und seine Hände
zitterten. Aber so schnell verloren geben wollte er sich nicht.
Wehren wollte er sich. So schnell sollten sie ihm's nicht an-
merken, dass es nichts zu beweisen gab. Lachen wollte er.
Lachen! So . . . ganz gut ging's! Weh tat's! Aber es ging! So.
Und laut reden. Allerhand Zeug! Auch von der Frau Studer. Ja,
nur nicht merken lassen wie wehrlos er war. Und singen auch!
Warum sollte er nicht singen? Er hatte doch früher auch ge-
sungen. In der Schule und die paar Wochen um seine Hochzeit
herum im gemischten Chor. Was wollte er denn jetzt singen?
Ein lustiges Lied, ein ganz lustiges, dass sie nichts merkten, gar
nichts. Aber was für eins. Es fiel ihm kein Lied ein. Das war
356
sonderbar. Vorher hatte er doch auch lustige Lieder gewusst. So
sang er halt ein ernstes. Was sollte er da singen? Ein vater-
ländisches Lied. Und er sang: „Bei Sempach der kleinen
Stadt . . . und sang weiter und es kümmerte ihn nicht, dass er
mit der zweiten Strophe anhub, und allerlei Flickwerk aus den
übrigen Strophen herbei holte; er sang: „Wir singen heut ein
heilig Lied . . ." laut und keck zuerst, dann nachdenklich und
zart und schrecklich traurig zuletzt.
Seine Frau, das Miggeli, war unter die Türe getreten und
stierte ihn mit großen Augen an. Die drei Ältesten drückten sich
in die Rockfalten der Mutter und kicherten und das Jüngste lag
im Zimmerwagen und krähte. Er, Gottlob Schleicher, sah nichts,
hörte nichts und sang: „erhaltet mir Weib und Kind . . ." und
zuletzt flüsterte er nur noch und es war kein Ton höher als der
andere, keiner länger als der andere „die eurer Hut empfohlen
sind . . ." Frau Schleicher fuhr sich mit dem Handrücken über
die Augen und ging auf ihren Mann zu:
„Gottlob," sagte sie zärtlich, „bist du krank?"
Der Schneidermeister Schleicher sah auf seine Frau und
sah auf seine Kinder und murmelte: „in kurzem bringt euch
blutig rot. . ." — „Gottlob, Gottlob ist dir nicht wohl?"
Da besann sich Gottlob Schleicher auf seinen Gesang und
warum er singen wollte. Nein, auch sie sollten nichts merken,
auch sie nicht, und laut und keck wiederholte er: „in kurzem
bringt euch blutig rot . . ."
Da warf das Schluchzen Frau Miggeli auf einen Stuhl und
die drei Mägdlein mit den schwarzen Haaren legten sich um sie
und fingen zu weinen an. Draußen fiel der Regen in grauen
Fäden in die braunen Äste. Ein Bächlein ging von der Lauben-
tür bis zum Tisch, auf dem Gottlob Schleicher saß, mit Augen,
in denen wie ein schwarzes Feuer die Angst wuchs, und sang:
„ein Eidgenoss das Morgenbrot ..." Jetzt fasste Frau Miggeli
ihren Mann mit zitternden Händen an, und lehnte ihren Kopf an
den seinen.
„Gottlob, du sollst so nicht tun! Ich hab Angst und die
Kleinen haben Angst und wir wissen nicht, warum du so bist.
Gottlob gelt!"
357
Da erwachte der Schneider aus seiner Verlassenheit und
legte einen Arm um seine Frau und sah auf seine drei Mägdlein
und schwieg.
Draußen fiel der Regen. Von der Laubentür her rann ein
Bächlein zum Tisch des Meisters. Niemand sah das Rinnsal, als
die kleine Line, die sich mit ihren Füßen darin zu spielen machte
und nasse Spuren durch das ganze Stübchen verschleppte. Da
kam in Frau Miggeii wieder die Erziehungspflicht oben auf. Mit
einem energischen Ruck stellte sie ihre Zweitälteste vor die Türe.
Der böse Zauber war gebrochen. Das Geschrei der Line und
das Kreischen des Jüngsten läuteten den Alltagzustand wieder ein.
Der Schneidermeister Gottlob Schleicher fuhr sich mit einer
scheuen Bewegung über Stirn und Hinterkopf: dann zog er eine
Armlänge Zwirn von der Spule und nähte Stich neben Stich.
Am Nachmittag grüßte er im Hauptgang die Frau Studer mit
einem verlegenen Seitenblick. Am Abend aber trank er im „Moh-
ren" am Tisch des Polizeiwachtmeisters Brunner einen Halben
Letztjährigen und es machte ihm keine Gedanken, dass ihn der
Gestrenge forschend musterte, als er nachfüllen ließ.
QDD
FRÜHE, ZWISCHEN NACHT UND TAG ...
Frühe, zwischen Nacht und Tag
Hört' ich eine Amsel singen.
Was kann wohl das Jauchzen bringen ?
Ob der Frühling kommen mag?
Alle Hügel waren grau,
Nur ein matter gelber Schimmer
Glitt vom Hügelrand durchs Zimmer
Und hielt eine erste Schau.
Und auf allen Wegen lag
Jauchzend eines Liedes Klingen. —
Eine Amsel hört' ich singen
Frühe, zwischen Nacht und Tag.
R. J. LANG
DDO
358
VIKTOR HEHN
II.
Als romantisch-schwärmerischer Wallfahrer ist der sechsund-
zwanzigjährige Viktor Hehn zum erstenmal durch das gelobte
Land gepilgert, für jeden Eindruck äußerst empfindlich, aber doch
schon erfüllt von dem Drang, überall das Walten ewiger Kräfte
zu erlauschen. Viermal ist der Petersburger Hofrat nach dem
Süden gezogen, und was ihm Italien ward, das hat er in seinem
Buch über Italien, dem 1844 als eine Art Objektivierungsversuch
der Tagebuchnotizen eine feine Skizze „Über die Physiognomie
der italienischen Landschaft" vorausgegangen war, in klassisch
schöner, plastischer Sprache bekannt. An alle deutschen Lands-
leute, die hungern und dürsten nach wahrer Kultur, wendet sich
das Buch, an die Menschen, die
. . . das Bedürfnis fühlen, ein Ganzes zu werden und wahre Menschlichkeit
in sich zu entwickeln, die endlich, um das letztere zu erreichen, aus der
Dürre der Technik und Mechanik, des gemeinen Verstandes und groben
Nutzens, gern zu Kunst und Altertum, zu der Naturgestalt und uralten Kultur
des Südens wie zu einem reinen Bildungs- und Lebensquell flüchten, . . .
aber es stellt sich zugleich bewaffnet mit der scharfen Klinge der
Satire als Tempelhüter an die Pforte, um dem Unberufenen den
Eintritt zu wehren. Den Eilfertigen vor allem, die in einem hasti-
gen Flug Italiens Wunder zu erhaschen wähnen, ruft Hehn ein
gebieterisches Apage! entgegen. Mancherlei hat der Italienfahrer
dringend nötig: jugendfrische, durstige Sinne, eine gründliche
humanistische Vorbildung und Zeit, viel, viel Zeit, ein volles Jahr
zum mindesten, denn wer dem Lande gerecht werden will, braucht
alle vier Jahreszeiten, und die gemächliche Fahrt im Vetturino
bietet weit höheren Genuss als das atemlose Dahinrasen im Eisen-
bahnzug mit der vorgespannten, rauchhustenden Lokomotive, der
„fernen.ffremden, amerikanischen Erfindung". Wurden ungestümen
Eindringling empfängt Italien mit einem Heer von Unannehmlich-
keiten, mit lärmenden Portiers, unverdaulichen Speisen, mogelnden
Krämern, zudringlichen Bettlern, mit Stechmücken, sengendem
Sonnenbrand und bitterkalten Frühlingsnächten.
Auch die Natur enthüllt ihre Reize nur dem ernstlich Suchen-
den. Wer von den Alpen mit ihren grünen Tälern und giganti-
schen Felsmassiven, den sprühenden Wasserfällen und stillen
359
Wäldern und blauen Seen in die Poebene hinabsteigt und da
^gesteigerte nordische Natur" zu finden hofft, wird sich bald ent-
täuscht nach Norden zurückwenden : weite, schmachtende Ebenen,
durchzogen von wasserleeren Flussbetten, dehnen sich vor ihm
aus, zu beiden Seiten der mehlweißen Landstraße brechen be-
stäubte Stachelkräuter aus Mauern und Felsritzen, abgebrochene
Agaven, triste Ölbäume, zerzauste Pinien beleben notdürftig die
Hänge welliger Hügel. Aber gerade in dieser scheinbaren Öde
und Armut der Landschaft erkennt der verständige Gast die „Fülle
der wirkenden Natur, die bis zu reiner und ganzer Darstellung
ihrer selbst gelangte". Die Schweizer Landschaft „versperrt sich
selbst", die norddeutsche Ebene, „verliert sich ins Vage", in Italien
dagegen erscheint
. . . alles eigensinnig Maßlose in seinen Umrissen von einer versöhnenden
Hand oder einem immanenten Prinzip sich selbst beherrschender Schönheit
vertilgt und zur Grazie zurückgeführt. . .
Da sind Inhalt und Form vollkommen versöhnt; die ganze Natur
ist ein harmonisches Kunstwerk, in dem das Innere vollkommen
im Äußern aufgegangen ist. Wie der italienischen Kunst die Dar-
stellung der menschlichen Gestalt und Tat besser gelang als die
der Natur, so ist auch die italienische Landschaft eher plastisch-
architektonisch als lyrisch-musikalisch;
. . . sie reicht nie in leerer Sehnsucht über die Wirklichkeit hinaus; mit
der stillen Gleichgültigkeit eines antiken Marmorbildes ruht sie selbstge-
nugsam über den Tiefen ihres unendlichen Inhalts. . .
Wie ein gewaltiges plastisches Bild liegt sie vor dem Auge da,
das sehen gelernt hat, und verzichtet gleichmütig auf jegliche
Ergänzung und Steigerung durch die nachschaffende Phantasie.
Wie die Natur drückt auch die Architektur „ruhiges Dasein"
aus; statt der steilen Giebel und spitzen Türmchen, womit die
deutschen Häuser „unruhig zum Himmel fliegen", krönt die itali-
enische Villa ein flaches Dach mit zierlicher Bailustrade oder
würdevoller Kuppel, und während im Norden plumpe Pfeiler die
Wände mühsam stützen, ruht hier das Dach auf schlanken, heitern
Säulen. Was die südeuropäische Vegetation vorgedacht, das
dichtet das italienische Landhaus architektonisch um, und so um-
gibt es mit dem kunstvoll angelegten Park den Besitzer „in stillen,
reinen Umrissen wie eine humanisierte, ideale Natur".
360
Die klare innere Harmonie, die die Landschaft ausdrückt, ist
auch dem Itahener eigen; in seiner Gestalt hat die ihn auszeich-
nende „Geistes- und Empfindungsfülle volles, sinnliches Form-
dasein gewonnen". Der Nordländer ist massiv, langsam, unge-
lenk; selbst die gewöhnlichen Gebärden, die die Rede begleiten,
erscheinen als mühevolle Überwindung der Schwere — am Italiener
dagegen ist alles Form, und auch der Geringste erscheint im
edlen Anstand seiner Haltung und Bewegung als der Erbe der
Alten: der Hirtenknabe, der, auf seinen Stab gestützt, sinnend in
die Ferne schaut, die Bäuerin, die den Korb mit dem Säugling
in würdevoller Grazie auf dem Kopf balanciert, der trotzige Bur-
sche, der sich grätschbeinig, beide Hände in den Gürtel gesteckt,
mitten auf der Straße aufpflanzt — selbst der Bettler „stellt sich
da als ein König im Elend dar". Dabei bleibt der Italiener aber
doch stets eine runde, ganze Persönlichkeit; das deutsche Philister-
tum, die Geistesstumpfheit der „phantasielosen und wohlmeinenden
Söhne der Gewohnheit" ist seinem Wesen durchaus fremd, und
«benso sinkt er niemals durch Amt oder Beschäftigung zum
„bloßen Fragment herab, das nichts enthält, als was das ihm auf-
gedrückte Berufszeichen sagt". Aber der Italiener lungert doch
so gerne tatlos auf Straßen und Plätzen umher und schläft am
hellichten Tag auf den Steinfliesen vor dem Kirchenportal I Ge-
wiss — er ist eben auf der Straße faul, der Deutsche dagegen
vergisst in seiner Entrüstung, wie manche Stunde er zu Hause
„in der Gemächlichkeit des Schlafrocks mit wenig Witz und viel
Behagen verdehnt". Und darf man sich wirklich so sehr darüber
entsetzen, dass die angeborene Pfiffigkeit den Italiener reizt, aus der
schwerfälligen Trägheit des Nordländers Nutzen zu ziehen?
Freilich, ganz blind ist Viktor Hehn für die Schwächen des
italienischen Nationalcharakters durchaus nicht. Zugegeben: der
Italiener zeigt im Verkehr mit den Tieren eine entschiedene Nei-
gung zur Grausamkeit, aber den Grund dafür findet Hehn in der
ererbten antiken Sinnesart, die noch kein sentimentales Verhältnis
des Menschen zum Tier kennt; er hat kein besonderes Talent
für die Behaglichkeit des Familienlebens, aber das Leben des
Südländers spielt sich eben zum größten Teil draußen im Freien
ab. Immerhin könnte die Freude der Italiener an äußerlichem
Pomp, der „deklamatorische Kothurn", die politica spettacolosa —
361
der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ver-
hängnisvoll werden ; das geeinte Italien wird erst beweisen müssen,
dass es neben verfrühtem Siegesjubel auch die „mannhafte, ernste,
wortkarge, zähe, dauernde, immer streitbare Tugend kennt, die
allein den realen Forderungen des Tages gewachsen ist".
Die Nachtseiten der italienischen Volksseele zeigen sich am
deutlichsten bei den Sizilianern, und zwar besonders bei den Be-
wohnern des westlichen Sizilien, das wohl von Afrika aus besiedelt
worden ist. Sizilien, ein halb barbarisches Land, das kein acht-
zehntes Jahrhundert gehabt hat, sondern geradewegs aus dem
Mittelalter kam, ist für die Freiheiten, die der moderne Staat dem
Einzelnen einräumt, einfach nicht reif; die Pressfreiheit hat einen
Schwall von Revolverblättchen gezeitigt, die der Menge törichten
Tyrannenhass einimpfen und sich daneben doch vor der allmäch-
tigen Maffia ducken, das Strafgesetzbuch ist zu milde, der Geld-
verkehr infolge der wirtschaftlichen Freiheit unglaublich leichtfertig,
und die Eisenbahnen vermögen diese Schäden so wenig zu heben
wie die pilzartig emporschießenden Schulen, die nach Hehns An-
sicht der Überlieferung und der Rasse gegenüber ohnmächtig sind.
Was dem Lande not täte, wäre ein straffes, gerechtes absolutisti-
sches Regiment.
Die Insel selbst allerdings, die Goethe den Schlüssel zu allem
nannte, ist auch Hehn erst Italien; das sind sie, „die Berge, die
Linien des Südens, dies die kristallene Luft, das energische,
alle Dinge in einen zitternden Schleier hüllende Licht".
Selbst die vegetationslose Natur ist in ihrer Erstarrung klassisch
schön; das „edel schöne Medusenantlitz" trägt hier auch die
ganze Landschaft, und schauend, nicht mehr bloß ahnend, erfasst
der Wanderer das Wesen des griechischen Altertums, das die
strengen, maßvollen Linien des altdorischen Tempelstils schuf
und die Furcht vor den Göttern predigte.
Das ist das Eigenartige an Viktor Hehns Naturbetrachtung:
nicht auf das Malerische, das Tableau kommt es ihm an; das
Landschaftsbild spricht zu diesem ausgesprochen episch empfin-
denden Geist erst durch die große geschichtliche Vergangenheit,
von der es dem Kundigen erzählt. Hehns „Kulturpflanzen und
Haustiere" leisten den Nachweis, dass die für unser Empfinden
typische Natur Italiens ihren heutigen Charkter wesentlich erst
362
durch die kulturelle Tätigkeit des Menschen in der Übergangszeit
vom Altertum zum Mittelalter gewonnen habe;
... die Natur gab Polhöhe, Formation des Bodens, geographische Lage;
das übrige ist ein Kern der bauenden, säenden, einführenden, ausrottenden,
ordnenden, veredelnden Kultur, . . .
und in keinem Land Ist die harmonische Durchdringung von
Natur und Kultur so glatt gelungen wie in Italien. Italien ist
Natur, veredelt durch Kultur und dadurch zur wahren Natur ge-
worden. Nicht mit dem farbendurstigen Auge des Malers, das
hier, wie Ihm scheint, wenig Fesselndes fände, schaut Hehn von
der Höhe der Villa Mellini auf die ewige Stadt herab ; doch er
fühlt alle Schauer der Jahrtausende um die sieben Hügel wehen,
und andächtig staunend findet er den Wurzelboden der eignen
Existenz unter den Ruinen der Kaiserstadt. Gerade so wie Goethes
Wanderer — er hat das Gedicht selbst meisterhaft analysiert —
wird ihm Italien darum besonders teuer, well ihn überall die
Spuren ordnender .Menschenhand, die Reste heiliger Vergangen-
heit von dem bildenden Geist auf die Knie niederzwingen: ein
moosbewachsener Architrav, eine halbverwischte Inschrift auf
ausgelaufener Marmorplatte, oder gar die Trümmer eines heitern
Tempelchens, mit Epheu bekleidet, und daran angeklebt die dürf-
tige Hütte, die Herberge gesunden, einfältigen Lebens. — Ein
ähnliches Bild fängt — bei Andersen, den Hehn kaum gekannt
hat — der romantische Maler im dänischen Glebelstübchen auf,
wie ihm der Mond von Rom erzählt, von dem armseligen Lehm-
haus zwischen den geborstenen Marmorsäulen des Kapitols und
dem kleinen, barfüßigen Mädchen, das weinend vor den Scherben
des Wasserkruges steht und die Hand nicht nach der am Bind-
faden hängenden Hasenpfote auszustrecken wagt, dem Glocken-
zug der Kaiserburg!
Unsichtbar begleitet Hehn auf allen seinen Fahrten durch das
gelobte Land der Geist des größten Italienpilgers aller Zeiten,
dem selbst der unliebenswürdige Heine mit dem bewundernden
Worte huldigte: „Die Natur wolle wissen, wie sie aussah, und
sie erschuf Goethe"; Mignons Lied gibt die Melodie, die das
Werk Viktor Hehns mannigfach variert und zur gewaltigen Sym-
phonie ausspinnt.
363
III.
„Sein Leben gestaltete sich ihm in letzter Linie zu einem
Aufgehen in Goethe," so bezeichnet Theodor Schiemann Ziel und
Grenze von Viktor Hehns Entwicklung. Doch das „Aufgehen in
Goethe" ist nicht so zu verstehen, als ob Hehn die eigne Per-
sönlichkeit der größern, fremden vollständig geopfert hätte; auf
ihn könnte gemünzt sein, was die erste Epistel sagt:
. . . liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde . . .
Zu einem Eckermann II war Viktor Hehn zu bedeutend. Ebenso
predigt keines seiner Bücher blinden Goethe-Kultus; von Anfang an
scheidet er den Goethe der Sesenheimer Lieder und der Iphigenie
scharf von der alternden Exzellenz, die im zweiten Teil des Faust
der erschlaffenden Schöpferkraft einige mühsame Einfälle abtrotzt
und im west- östlichen Diwan eine herbstliche Spätblüte treibt.
Ein Gang vom Äquator zum Erdpol veranschaulicht dem künf-
tigen Verfasser der „Kulturpflanzen" Goethes Entwicklung:
Dort in der Glut der Jugend die üppigste Vegetation, oft im Erzeu-
gungsdrang über die Form hinauswachsend; dann im Mannesalter die ge-
mäßigte Zone reiner Bildung, sittlichen Menschengefühis, tief müden Ernstes;
endh'ch, je weiter vorrückend, desto mehr werden die Gewächse einförmiger,
halten sich niedriger am Boden, und die Farben erlöschen.
Hehns Goethe ist fast ausschließlich der Apollo Trippeis oder Tisch-
beins Wanderer: der Goethe der italienischen Reise und der Dich-
tungen, die die Sonne Italiens mit vollem Glanz oder doch mit einem
letzten Scheideblick durchwärmt. Neben dem einen Zentralgestirn
verblassen für ihn alle die größern und kleinern Lichter voll-
ständig: Schiller, dessen Pathos ihn anfänglich berauscht, rückt
mit den Jahren mehr und mehr in die Ferne: er ist dem Gereiften
zu abstrakt, zu konstruiert, zu wenig organisch; die Romantik
will lediglich „überwundenen Dunkelmächten" wieder zum Sieg
verhelfen, und die Dichtung der Jahrhundertmitte zeigt Deutsch-
land auf dem Wege, die errungenen ästhetischen Werte im Getöse
des politischen Lebens einzubüßen. Wenn auch die eine oder
andere Stimme zu aufhorchendem Stillstehn lockt — der Ver-
ständige kehrt doch immer wieder zu der Stelle zurück, wo Goethe
singt, der Goethe der Iphigenie, der Hymnen, des Liedes von
Hermann und Dorothea.
364
Viktor Hehn begnügt sich nicht mit einem rein persönlichen
Verhähnis zu Goethe; auch an ihn tritt er nicht in letzter Linie
als Historiker heran. Weitausschauend, großzügig wie auf dem
Gebiet der Kulturgeschichte ist Hehn auch als Literarhistoriker;
bloße Belesenheit — so führt er in seinem aufschlussreichen Auf-
satz „Goethe und das Publikum" aus — vermag die notwendige
eigene Lebenserfahrung niemals zu ersetzen, und die junge Goethe-
Philologie verliert über der ängstlichen Fürsorge für allerlei
orthographischen Kleinkram und dergleichen die Persönlichkeit
des Dichters aus dem Auge. Wie jede andere Erscheinung ist
Goethe für Hehn ein Glied, und zwar das letzte, höchste Glied
einer Entwicklungsreihe; er ist als Mensch genau das selbe was
Italien als Landschaft: die von neuem Gegenwart gewordene
antike Kultur. Nach dem Erlöschen des Altertums gab es keinen
ganzen, schönen und gesunden Menschen mehr — Augustin
war für den Protestanten Hehn, wenn er ihn überhaupt näher
kannte, vielleicht ein schöner, aber keinesfalls ein gesunder
Mensch — bis der Humanismus, dem Hehn 1866 einen fein-
sinnigen Aufsatz gewidmet hat, die Antike zu neuem Leben weckte.
Das Mittelalter, das den Fünfundzwanzigjährigen im Weihrauch-
dampf des Kölner Domes berauscht hatte, ist dem Abgeklärten für
die Erde und den Menschen eine „ungeheure Unterbrechung des
stetigen Kulturganges", eine Zeit vollständiger kultureller Dürre,
eine schwere Krankheit;
... ein längeres Verweilen in Kunst und Poesie des Mittelalters ist be-
ängstigend wie der Fackelqualm einer Tropfsteinhöhle, und man atmet
wieder auf, man begrüßt den Tag, wenn man zu den Griechen sich flüchtet
und dort, im Scheine der Sonne, mit befreundeten Gestalten ewiger Men-
schenwahrheit verkehren darf.
Der „Zeugungsmoment für die neuere Kultur" waren jene wenigen
Wochen, da Petrarca in Avignon andächtig zu Füßen des vaga-
bundierenden griechisch-calabresischen Mönches von der Regel des
heiligen Basilius saß und etwelche dürftige Kenntnisse der griechi-
schen Sprache erhaschte, die ihn nach seinem eigenen Geständ-
nis wie durch eine Spalte einige Augenblicke das ersehnte Licht
sehen ließen. Aber der Humanismus wurde durch seitliche Strö-
mungen vom geraden Weg abgetrieben: lutherische Dogmatlk,
„in keinem Punkte freisinniger, in mehf als einem naturwidriger
365
als die katholische", und gedankenarme philologische Schnüffelei
entfremdeten den modernen Menschenden Idealen der antiken Welt.
Erst das große achtzehnte Jahrhundert brachte den Deutschen
durch Goethe die Erfüllung der humanistischen Zukunftshoffnung:
„die innere Freiheit und Schönheit des Gemütes".
In Italien ist Goethe zum Bewusstsein seiner selbst erwacht;
aber Italien hat Goethe nicht geschaffen: es hat nur ins Licht
der reinen Form gehoben, was die südwestdeutsche Heimat, das
Volk, dem er entstammte, in ihn gelegt hatte, Dass der Kultur-
wert einer menschlichen Gesellschaft durch anthropologische
Faktoren bestimmt sein müsse, das war Hehn bei der Musterung
des sizilischen Völkerchaos aufgedämmert; der erste Aufsatz der
„Gedanken über Goethe" unternimmt als früher Vorläufer einer
in unsern Tagen erscheinenden Literaturgeschichte der deutschen
Stämme und Landschaften weitausholend das Wagnis, diese Be-
trachtungsweise auch für das Studium der dichterischen Persön-
lichkeit fruchtbar zu machen. Nur vom heitern Südwesten Deutsch-
lands, nicht vom starren, düstern Nordosten konnte der Genius
ausgehen, durch den „nach so langer Verödung der auf der
Nation liegende Bann sich lösen" sollte — weder scharfer kriti-
scher Verstand, noch heldenmütige Mannestat war da vonnöten,
sondern „die Naturkraft der Phantasie und der Adel und die
Schönheit der Form". Scharf standen sich um die Mitte des
achtzehnten Jahrhunderts der Norden und Süden gegenüber.
Preußen war ein Militär- und Beamtenstaat geworden, dessen
komplizierte Maschinerie tadellos funktionierte; aber einen großen
Dichter konnte dieses unendlich praktische Staatswesen ebenso-
wenig hervorbringen wie Österreich, wo ein fanatisches Priester-
tum die reichen poetischen Kräfte des Volkes ertötete. Im süd-
westlichen Mitteldeutschland dagegen herrschte Individualität,
Wachstum, Geistesfreiheit, gut bürgerliche Behaglichkeit, beschau-
liche Sitteneinfalt; aus dem nahen Frankreich kam, wohl empi-
fangen, die zierliche Kleidermode herübergetänzelt, und der Gott
des Weines und der rauschenden Fröhlichkeit fand hier willigere
Verehrer als Hermann der Cherusker. Das Schwert zu führen
war dieses vergnügte Völklein allerdings nicht tauglich — der
wehrhafte Vogt des Nordens schmiedete später dem neuen Reich
die Form, aber der Südwesten gab ihm den humanen, idealen In-
366
halt und führte das politisch abseits stehende Österreich durch
die Literatur dem geistigen Organismus wieder zu.
Goethe wurzelt mit seinem ganzen Wesen in der fränkischen
Heimat. „Alle Dichtungen Goethes," sagt Hehn an einer be-
rühmten Stelle seiner Schrift über .Hermann und Dorothea' (S. 61)
„sind nur später aufschlagende Blüten seines Main- und Rhein-
aufenthaltes" ; dem Weimarer Hofmann ist zu Mute wie der Linde,
der man Äste und Gipfel weggeschnitten, dass sie neuen Trieb
kriege (8. Nov. 1777 an Frau von Stein): die alten Zweige ver-
dorren, der neue Trieb bringt Iphigenie, Tasso, Wilhelm Meister,
Hermann und Dorothea, aber stets erfüllt ihn „die Sehnsucht nach
der Gunst eines sommerlichen Himmels und einer weicheren
Landschaft" —
Warmes Lüftchen, weh' heran,
Wehe uns entgegen,
Denn du hast uns wohl getan
Auf den Jugendwegen !
singt eine von Riemer den Faust-Paralipomena eingefügte Strophe.
Goethe ist das Kind eines naturfrohen Stammes; daraus er-
klärt sich seine Naturphantasie, die Hehn in den „Gedanken über
Goethe" mit feinster Einfühlung untersucht, und vor allem seine
Neigung,
... in idealen Umrissen die beharrende Naturgestalt unseres Geschlechtes,
die substantiellen Lebensformen, in deren Schöße das Subjekt noch uner-
schlossen ruht . . .
in der Dichtung zu bannen. Die menschliche Gesellschaft bleibt
trotz mannigfacher äußerer Schiebungen „für den, der das Erste
und Allgemeine, die göttliche Idee schaut, immer ähnlich, gleich-
artig, ja die selbe", und die ewigen, typischen Formen des mensch-
lichen Daseins, denen er mit besonderer Liebe überall nachspürt,
findet Hehn in Goethes Schöpfungen auf Schritt und Tritt in
idealer Läuterung dargestellt: das Idyll „Hermann und Dorothea"
ist ein Hohelied auf die Naturformen des Menschenlebens, in
der ort- und zeitlosen, rein typischen und doch wundervoll an-
schaulichen Elegie „Alexis und Dora" spiegelt sich nur Ewig-
menschliches, und der schwermütige Wanderer erwacht im Ge-
spräch mit der Bäuerin unter den Ulmen aus wertherischer Ver-
träumtheit zum Bewusstsein, dass nur die alt-neue Einfalt des
367
menschlichen Zusammenlebens die innere Ruhe sichere. In der
Gegenwart freilich, seufzt Hehn, herrscht statt dessen der nervöse,
mechanische Amerii<anismus: die Eisenbahn vernichtet den letzten
Rest heimatlicher Gefühle, der Demokratismus räumt das Haus
aus, statt das Erbe der Väter zu achten und zu mehren, die Ma-
schine verrichtet die Arbeit der menschlichen Hand, die Frau weiß
mit der Spindel nichts mehr anzufangen, und statt wie früher mit
der Laute singend durch den Wald zu wandeln, sitzt das Mädchen
am Klavier, „einem hässlichen, unförmlichen Kasten, und kehrt
uns den Rücken".
Doch Goethe ist für Hehn nicht bloß der objektivste Dichter
— „die innere Unendlichkeit des Subjektes hat sich aufgetan und
läutert sich zu Schönheit und Adel", und Goethes gereinigter
Subjektivismus offenbart sich nirgends so frei wie in seiner Lyrik,
Wie die Charaktere in „Hermann und Dorothea" Typen und
Individuen zugleich sind, so ist Goethes Lyrik subjektiv und ob-
jektiv: sie ist Goethes Leben, aber zugleich umspannt sie die
Empfindungswelten aller Menschen, so dass jeder einzelne in ihr
sein eigenes Erleben zu finden glaubt — „nur deutlicher gestaltet
und milder beleuchtet und aus dem trüben Druck der Gegenwart
in die besänftigende Ferne der Phantasie versetzt." Goethes
Dichtung ist wie der Mensch — Viktor Hehns Goethe! — reine
organische Natur; das Vulkanische, Explosive ist ihr fremd, wie
es dem Naturforscher als unästhetisch zuwider war. Sie ist ideal,
das heißt, sie will nie für bare Wirklichkeit gelten; auch „Dichtung
und Wahrheit" ist als geschichtliches Dokument nur dem zugäng-
lich, der den Weg des Dichters vom Tatsächlichen zum Idealen
zurückzugehen versteht; Reales und Ideales durchdringen sich, so
dass sich nicht entscheiden lässt, welches von beiden mächtiger ist.
— Zur Innern Harmonie kommt die Melodik der Form, für die Hehn
ein äußerst feines Ohr hatte: Goethes Lieder sind nicht auf dem
Papier entstanden, sie sind in der Seele gesungen. Reiche Emp-
findung birgt auch das Volkslied, aber es findet den adäquaten
Ausdruck nicht, und der gute Gedanke geht daher oft unter der
Roheit der Form zugrunde.
Still und klar ist für Viktor Hehn Goethes Lyrik; das romanti-
sche Zwielicht ist ihr ebenso fremd wie die unirdische Sternen-
sehnsucht Jean Pauls oder der geräuschvolle Wortreichtum und
368
die mühsame, nicht vollständig in Form umgesetzte Reflexion
von Schillers Gedankendichtung. Erkältende Reflexion hat im
Bunde mit Kritik, Reaktion, Formlosigkeit in der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunders die deutsche Lyrik zersetzt, und
selbst die Jungen — Hehn schrieb das im Jahr 1848! — ver-
mögen das misshandelte deutsche Lied nicht mehr zu erwecken:
weder der frivole Heine, der jede feinere Stimmung selbst immer
wieder roh vernichtet, noch der „stille und sinnvolle Eduard
Mörike", ein einsamer, „ländlicher Buchfink", noch der „phantasie-
reiche Gottfried Keller".
An dieser Überzeugung hat Hehn zeit seines Lebens festge-
halten. Goethe bleibt für ihn der deutsche Dichter; Goethes
Dichtung allein ist für ihn Natur, Kunst, Inhalt und Form in
harmonischer Durchdringung. Goethe ist ihm die wahre Erfüllung
des hellenischen Ideals: Naturwesen und geistiges Wesen sind
eins, das Sinnliche ist nicht brutal verdrängt, sondern es erscheint
„zur Schönheit verklärt und in freiem Bunde mit dem Sittlichen"
— da hat der Mensch mit seiner Qual Seelenlust und Sinnen-
genuss noch nicht feindlich geschieden. — Süddeutsche Wirklich-
keitsfreude, geläutert durch den „großartigen Ernst der antiken
Ethik" und die „alles ausgleichende Ruhe" der Spinozistischen
Weltanschauung, genialer Schöpferdrang, über den Resten heiliger
Vergangenheit zurückgeführt zum Frieden der Form — das ist
Viktor Hehns Goethe.
* ♦
*
Italien und Goethe! das sind die einzigen Säulen, worauf
die geistige Existenz des gereiften Hehn ruht. Langsam ist im
Lauf der Jahre alles andere von ihm herabgeglitten; die jugend-
liche Begeisterung für das romantische Mittelalter, für Frankreich,
für den Konstitutionalismus ist verrauscht, und grollend wendet
er der Gegenwart den Rücken, die ihn geräuschvoll umbrandet.
Über ein Jahrhundert hinweg reicht er J. J. Winckelmann die Hand:
die edle Einfah und stille Größe der Antike, wie sie sich seinem
Auge darstellt, schließt alle wahre Kultur in sich. Nur Goethe
hat die innere Harmonie des antiken Menschen wieder erreicht;
er ist ihm der Weg und die Wahrheit und das Leben; jeglicher
Bildung unserer Zeit weist sein Werk und seine Entwicklung
das Ziel.
369
Wo Goethes Iphigenie schon ist, dort liegt das Ziel der Altertums-
studien, zu dem ihre gelehrten Forschungen nur Mittel sind: das Altertum,
seine humane Einheit und Kalokagathie (das Schön- und Gutsein) für unser
zwar vertieftes, aber auch unseliges und zerrissenes Leben wieder zu
gewinnen.
Eng scheint der Kreis zu sein, in den sich Viktor Hehns
ganzes Dasein zurückzieht; das Heute hat keinen Raum darin,
aber dafür liegen Jahrtausende offen vor seinem Blick, und seine
Brust fasst den ganzen überschwänglichen Reichtum des Menschen-
herzens. — Wer, wie Viktor Hehn, in Goethes Welt oder wenig-
stens in der größten ihrer Provinzen Heimatrecht erworben, der
darf sich den Luxus jenes durchgeistigten zeitlosen Epikuräismus
leisten, dem der selbe Goethe die Melodie seines Verses geliehen :
Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Hass verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,
Was, von Menschen nicht gewusst,
Oder nicht bedacht.
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.
ZÜRICH MAX ZOLLINGER
DDO
DIE INTERNATIONALE KUNST-
AUSSTELLUNG IN MÜNCHEN
Schwer ist es, in die drei ein halb tausend Kunstwerke, die
dieses Jahr im Münchener Glaspalast ausgestellt sind, Sinn und
Ordnung zu bringen; Erinnerungen und Eindrücke jagen sich
wild und wollen sich nicht kristallisieren. Nur eine dieser Erinne-
rungen überwiegt: dass man jedesmal diesen Bazar unbefriedigt
verließ, mit dem Bedürfnis nach einem starken Eindruck. Und
den fand man am ehesten noch beim Kunsthändler; bei Heine-
mann vor dem segnenden Christus von Eduard Manet, bei Thann-
hauser vor „Le meunier, son fils et Täne" von Hodler und ein
paar Leibl-Bildnissen.
370
Nicht nur für den Schweizer, sondern für jeden, der die
Entwici<lung moderner Kunst mit Aufmeil<samkeit verfolgt, dürften
die beiden Schweizer Säle am anziehendsten wirken. Wie denn
überhaupt dies ein Jahr der Ankündigung von Reife und Aner-
kennung für unsere junge Schweizer Malerei bedeutet. In den
Blauen Büchern des Verlags Karl Robert Langewiesche hat Hans
Graber einen Band über „Schweizer Maler" herausgegeben, der
der deutschen Kulturwelt in billiger Volksausgabe gegen hundert
Werke von Schweizer Malern in guter Reproduktion vorführt. In
Wiesbaden hängt gegenwärtig eine sehr fein zusammengestellte
Ausstellung von Schweizern und auf der Leipziger Jahressausteilung
(im Innern der nur lau zu empfehlenden internationalen Bau-
fachausstellung) sind die Schweizer besser und zahlreicher ver-
treten als irgend ein Teil Deutschlands oder ein ausländischer Staat.
In dieser Zeit des beginnenden Erfolges wird nun nicht im
Ausland sondern im eigenen Lande gegen diese junge Schweizer
Kunst Sturm gelaufen ; in allen möglichen Blättern und Blättchen,
aber immer von Luzern aus. Es soll der Anschein erweckt werden,
es sei eine große Zahl von Gegnern vorhanden; es stecken aber
immer die selben dahinter, die Luzerner J. C. Kaufmann und
H. Bachmann. Diese Leute möchten sich als „Schule" hinstellen,
die man vernachlässige; es wird sich aber auf der ganzen Welt
kein angesehener Meister irgend einer Schule finden, der die Bilder
dieser beiden nicht für minderwertig und dilettantenhaft er-
klärt; es handelt sich hier überhaupt nicht um Künstler, sondern
um Leute, die bei ausländischen Gesandten gegen die neue
Schweizer Kunst intrigieren müssen, um für ihre Ware Absatz zu
suchen. Vor jeder guten Kunst ist ihnen bange; darum stänkern
sie auch gegen das ganz vorzügliche Wandbild, das P. T. Robert
für eine neue Luzerner Kirche gemalt hat und schreien nach
dessen Entfernung. Die Hetze richtet sich besonders gegen Hodler,
und da man keine überzeugenden Gründe gegen seine Kunst
vorzubringen weiß, verdächtigt man in edelster Weise seinen
Charakter. Näher sich mit diesen Leuten einzulassen hat keinen
Zweck; es lag mir nur daran, festzustellen, dass es sich hier nicht
um zwei verschiedene Auffassungen der Kunst handelt, sondern
um nicht mehr als das Bellen von Hunden, wenn der Mond auf-
geht; dabei bellt ja der Mond nicht dawider und auch der Nacht-
371
Wächter als Vertreter der staatlichen Ordnung braucht sich nicht
zu beunruhigen.
In München also sind die Schweizer gut vertreten, aber
immerhin nicht so gut wie sie es sein könnten. Mancher unserer
ersten Künstler, von dem man in den letzten Jahren ausgezeich-
nete Werke sah, hat dort nur ein paar schlecht gerahmte Zufalls-
bildchen hängen, die ihn nicht zur Geltung bringen. Es wäre
ein Leichtes gewesen, lauter Bilder von wirklicher Durschlags-
kraft in München zu vereinigen. Das Verfahren der Kunstkom-
mission bei der Zusammenstellung der Ausstellung trägt wohl die
Schuld daran, dass es nicht gelang. Wenn man die Künstler um
Einsendung von Bildern ersucht, läuft man immer Gefahr, dass
sie eher schicken, was sie zu verkaufen hoffen, als was das Land
gut repräsentiert. Würden sich die Mitglieder der Kunstkom-
mission bei unsern Ausstellungen im Lande, bei Atelierbesuchen
und bei Kunsthändlern aufschreiben, was Bestes bei uns gemalt
wird, und daraus ganz im Stillen die Auswahl treffen, so würde
man niemand durch Rückweisung verletzen, würde nicht gewär-
tigen, dass eigenartige Künstler, wie hier Blanchet und Augusto
Giacometti, gar nicht vertreten sind, und dabei die Unsumme
Geldes sparen, die mit Umhersenden von Kunstwerken im ganzen
Lande verloren geht. Eine solche Vertretung der Schweiz könnte
von lange her vorbereitet sein und würde die Zufälligkeiten des
heutigen Verfahrens ausschalten ; nur so wäre die Möglichkeit ge-
boten, wirklich das Beste vom Besten, nicht nur aus der letzten
Ernte, sondern aus dem Schaffen einer Reihe von Jahren zusam-
menzubringen. Die andern Staaten verfahren jedenfalls nicht so
zimperlich wie wir; manche haben ihre besten Bilder von der Inter-
nationalen in Rom ohne Zaudern wieder in München aufgehängt.
Der Künstler möge aber bedenken, wenn er auf einer solchen
Ausstellung gar nicht oder nicht durch das Bild, das er gerade
gerne verkaufen möchte, vertreten ist, dass es sich hier nicht um
seine Person, sondern um eine möglichst gute Vertretung des
Kunstschaffens der Schweiz handelt, und dass es sein mittelbarer
großer Vorteil ist, wenn das allgemeine Urteil über deren Kunst
gut ausfällt.
-: Einen Teil des ersparten Geldes — es ist ja nur ein Teil
dazu erforderlich — verwende man zur bessern Toilette der Bilder.
372
Es ist einfach betrübend, was für vorzügliche Bilder ihre Wirkung
dadurch einbüßen, dass sie statt mit einem schmückenden und
zusammenfassenden Rahmen mit den landesüblichen vier Gips-
latten zusammengezimmert sind. Dass unsere Zollverhältnisse
für Rahmen unserem Kunstmarkt und unserer Kunst fast den
Hals abdrehen, betrifft ja gerade die Ausstellungen im Ausland
am wenigsten; da könnte man irgendwo draußen eine Anzahl
guter Rahmen aufstapeln und jeweils für die internationalen Aus-
stellungen wieder verwenden. Jedenfalls beweist gerade die Wies-
badener Ausstellung, die vorher einen Tag im Kunstsalon Wolfs-
berg in Zürich sichtbar war, dass auch von Malern zweiten Ranges
manche Bilder, die einem in ihren Gipslatten gerade recht für eine
kleine bürgerliche Stube vorkamen, in einem schön profilierten
Rahmen, je nach der Art des Bildes auch unter Glas, sich nun plötzlich
für ein raffiniertes Prunkgemach bestimmt zeigten. Unsere
Künstler sollen dem Ausland nicht als brave Maler aber arme
und etwas unzivilisierte Teufel erscheinen; eine gewisse Literatur
tut soviel dafür, uns als ein Volk von Käsebauern zu zeichnen,
dass wenigstens das äußere Gewand unserer Kunstausstellungen
bei einem denkenden Betrachter das Gefühl erwecken sollte, es
gebe bei uns noch andere Leute als Sennen und Hotelwirte, es
gebe eine schweizerische Kultur. Trotzdem die Münchener Aus-
stellung nicht schlecht und namentlich nicht zu eng gehängt ist:
Gehe hin zu dem Österreicher und lerne von ihm, wie man eine
Kunstschau einrichtet!
Die deutschen Zeitungen und die oberflächlichen Ausstellungs-
besucher behaupten natürlich um die Wette, die Schweizer Künstler
seien alle Planeten, die sich um die Sonne Hodler drehen. Was
aber unsere Maler vereinigt, ist im Grunde nur die Verschieden-
heit von allen offiziellen Schulen, die bei den internationalen
Ausstellungen ja immer vorwiegen. Und dann bilden die helle
Farbenskala, das Streben nach einfacher, großer Komposition und
die Abwesenheit alles Genrehaften ein geistiges Band unter den
Schweizern. Wenn aber ein Künstler nicht so viel von Hodler
gelernt hätte, so täte er mir wirklich leid. Im übrigen aber ist die
Schweiz das Land des ausgesprochenen Individualismus; kein
anderes kommt ihr darin gleich. Wo ist das Land, das heute
so viel ausgesprochene Künstlertypen, die von jeder Angleichung,
373
jedem Kompromiss frei sind, aufzuweisen hat, wie wir mit Hodler,
Amiet, den beiden Giacometti, Buri, Trachsel, P. T. Robert, Vallet,
Boß, Blanchet, de Meuron, Forestier, Bieler, Hugonnet, Emmen-
egger, Itschner, Meyer-Basel, Lehmann? Gruppen haben wir nur
zwei, die eine gewisse Ähnh'chkeit unter sich haben, die Berner
mit Cardinaux an der Spitze und Prochaska, Senn, Brack, Geiger
und andern im Gefolge, die jungen Basler mit Barth als Führer
und H. Müller, Fiechter und Numa Donze als Begleitern. Aber
da auch auf der ganzen Linie eigene Art, eigene Gesichter, neue
und persönliche Probleme.
Gerade diese persönliche Art lässt in einer großen Kunst-
schau die Bilder der Schweizer erfrischend wie ein Trunk kühlen
Wassers an einem heißen Tage wirken. Ein Glück für uns, dass
es heute einen Kubismus und Futurismus gibt, die mit ihrer Pflege
des Absonderlichen allem, was früher als absonderlich erschien,
den Stempel des Vernünftigen und Maßvollen aufgedrückt haben.
Dadurch ist unsere Kunst im Urteil der Leute der mittleren Linie
nahe gerückt, ohne dass sie eine Konzession zu machen brauchte.
Auch die Bildhauerei der Schweiz erscheint in München aller
Ehren wert. Als bedeutendste Persönlichkeit zeigt sich hier der
kurz vor Eröffnung der Ausstellung in München, wo er zur Auf-
stellung seiner Werke verweilte, verstorbene Rodo von Nieder-
häusern. Er war ein Schüler Rodins und strebte wie dieser nicht
nach einem starr architektonischen Steinstil, sondern nach Aus-
druck seelischen Lebens in einem dehnbaren Stoff, der die un-
mittelbare Wirkung der Hand zeigt. Er war voll großer Pläne
und ist mitten aus den kühnsten Entwürfen herausgerissen wor-
den. Der bedeutendste davon war ein Tempel der Melancholie, dessen
Fragmente die drei Steinreliefs in München, Adam und Eva,
Melancholie und Das verlorene Paradies sind. Namentlich der
Kopf Luzifers, in der seltsamsten Mischung teuflischer und engel-
hafter Züge gehalten, ist von einem so berückenden Ausdruck,
dass man ohne Scheu Michelangelo zum Vergleich heranziehen
darf. Heulen möchte man vor diesen Werken, wenn man be-
denkt, dass von einem solchen Künstler kein Denkmal eine Stadt
der Schweiz schmückt, während die trostlose Mittelmäßigkeit
unter offiziellem Schutz überall eine Stelle fand, um ihre Eier
hinzulegen. — Auch Zimmermann ist durch seine schreitende Frau
374
vorzüglich, Haller dagegen, dem er sich sichtlich nähert, gar
nicht vertreten. Von Albert Angst sind die prächtige Darstellung
einer Mutter mit Kinder und Der erste Schritt schon von frühe-
ren Ausstellungen her in bester Erinnerung.
Wer sich auch um schweizerische Graphik kümmert, muss
sich im zweiten Stock durch zwei Säle mit gemeinstem inter-
nationalem Kitt durchschlagen, dem keine Jury geblüht zu haben
scheint, und findet sie dann, untermischt mit Erzeugnissen, die
wenig zu ihr passen, in dem verborgensten Gelass der ganzen
Ausstellung. Hier sind namentlich die Lithographien und Lino-
leumschnitte von Otto Baumberger aus Zürich als gelungene Ver-
suche eines neuen starken graphischen Stils zu verzeichnen. Da-
neben Karl Hänny, Marie Stiefel, Franz Gehri : wie bei der Malerei,
so viel Namen, so viel eigene Typen.
Die alte gute Malkultur mit ihrer stetigen Entwicklung ohne
Rückschlag zeigen wiederum die Franzosen. Und zwar sind sie dies-
mal weniger durch glatte Akademiker und Ausstellungsreißer ver-
treten als andere Jahre. Degas und Renoir, diejenigen unter
den Impressionisten, die von jeher am wenigsten in die impres-
sionistische Formel passten, zeigen in großen Kohlenzeichnungen
ihre Beherrschung von Form und Komposition. Daneben kommt
besonders die Gruppe zur Geltung, die sich um unsern Lands-
mann Vallotton schart und die von den Genannten geübten Grund-
sätze weiter ausbildet: Vuillard, Bonnard, Prinet, Marquet, Andre.
Die zahlreichsten Bilder weisen der glänzende, mondäne Kolorist
Lucien Simon und der Karikaturenzeichner Forain auf mit allerlei
flotten, präzis charakterisierten Momentaufnahmen mit Pinsel und
Stift. Wären alle Säle wie die der Franzosen, es wäre ein Genuss,
sich in der Ausstellung aufzuhalten.
Die deutsche Malerei bedeutet für München natürlich die
Münchener Malerei, und es wäre kein Zweifel, dass dabei etwas
recht Gutes herauskommen könnte, wenn man sich alle Mittel-
mäßigen und Schlechtem scharf vom Leibe hielte. Defregger und
Gabriel Max — man weiß bei diesen Leuten nie recht, ob sie
leben oder tot sind — dürften sich längst auf ihren Lorbeeren
375
ausruhen; ob Papperitz einmal gute Bilder gemalt hat, weiß ich
nicht, jedenfalls gehören die auf der Ausstellung nicht dazu. Eine
tanzende Salome von Ritzberger gehört an eine Marktbude und
nicht in eine Kunstausstellung gehängt; Wimmer, Rienäcker, Raupp,
der Katzen-Adam, Langenmantel machen alle einen recht problem-
losen und langweiligen Eindruck. Allzuleicht ist man in München
von künstlerischen Dingen befriedigt, allzuleicht werden dort talen-
tierte Leute zu Bilderfabrikanten; man denke nur an die ganze
verhockte und aussichtslose Gruppe, die sich um die Zeitschrift
Jugend und den Kunstsalon Brackl schart; man denke an gewisse
Schweizer, die in München zu raschen Erfolgen und dann zu
rascher Bedeutungslosigkeit sanken; man denke, wie Stuck und
Habermann, die einst Großes versprachen, schon lang dürre Äste
geworden sind, während französische Meister in hohem Greisen-
alter stets wieder einen neuen Lenz und neue Sprossen aufzeigen.
Junge Maler, die zu ihrer Ausbildung nach München reisen wollen,
sollten sich das vorher gründlich überlegen ; jedenfalls sollten sie
dieser betrübenden Tatsachen stets eingedenk sein.
Damit sei nicht gesagt, dass es in München an tüchtigen
Künstlern fehle. Die Landschaften von Toni Stadler sind stets
ein Hochgenuss für Feinschmecker mit ihrem Anschein von Pa-
tina; Albert von Keller ist besonders in seinen Studien von einer
farbigen Eleganz, die an gute Franzosen gemahnt; Josse Goossens
malt die lustigen Farbenflecken auf seinen Festwiesen mit ent-
zückender Frische; Hermann Gröber ist der Akademieprofessor
mit dem vollendeten Können. Und so ist noch sehr viel Gutes
bei diesen Münchnern zu finden — die religiösen Bilder von Karl
Caspar möchte ich nicht unerwähnt lassen, auch nicht den braven
Leibl - Imitator Walter Thor, auch nicht Julius Hess, der Karl
Schuch so viel Gutes abgeschaut hat. Und obwohl Schwabing
und alles, was nach Kunstrevolution riecht, aus dem Glaspalast
streng ausgeschlossen ist (ä propos: die Juryfreie, die gerade
daneben liegt, ist, abgesehen von ein paar Bildern eines ge-
wissen H. Stenner, das Markl Eintritt nicht wert), zeigt sich
in Carl Schwalbach mit seinen sichern Kompositionen, die
zwar Greco- und Cezannestudien nicht verleugnen können, und
in Leopold Durm die Hoffnung auf eine Erneuerung auch des
offiziellen Münchener Kunstlebens. (Merke wohl: die Münchener
376
Künstlervereine: Genossenschaft, Sezession, Luipoldgruppe und
wie sie alle heißen, scharen sich heute nicht mehr um Grundsatz
und Glauben, sondern alle umfassen Kitscher und Könner ver-
schiedenster Richtung.)
Die übrigen Völker des Kontinents zeigen sich wie auf allen
internationalen Ausstellungen: die Holländer und Belgier weise
und vernünftig, die Ungarn und Russen oft von naturwüchsigem
Gewittertemperament, die Italiener von eleganter Weichheit, die
Schweden oft als prachtvolle Porträtisten. Aber fast alle Völker
haben die Gepflogenheit, jene Kunst, die man auf einer inter-
nationalen Ausstellung gerade gern sehen möchte, wohlweislich
zu Hause zu lassen.
ZÜRICH ALBERT BAUR
□ DD
LE SALON GENEVOIS
On a longtemps reproche ä la peinture sulsse de cultiver trop exclu-
sivement, avec le paysage, le paysage alpestre surtout, cette forme de sen-
sibilite qui unit, en les affadissant, l'amour de la nature et le culte de la
patrie. „Les Alpes sont ä nous" disaient les peintres en multipliant sans
se lasser les cimes de neige et les pics sourcilleux. Et les membres des
Clubs alpins comprenaient tous la peinture.
Le temps est bien passe de cet helvetisme superficiel; nos jeunes
peintres d'aujourd'hui, peut-etre plus directement influences par Paris et
par Munich, se livrent sans retenue aux jeux les plus oses de la ligne et
de la couleur. Foin du tableau, du sujet! La peinture sera decorative ou
ne sera pas. Pour beaucoup d'entre eux, assurement, cette evolution n'a
ete qu'un changement de servitude. Faute d'une discipline acceptee, d'un
dessein bien arrete, ils se perdent dans les recherches deliquescentes, et,
pour avoir lu Baudelaire, ils se decouvrent un esprit capable de toutes les auda-
ces. De lä cette crise de sensualite, cette ivresse artificielle, dont ceux qui
possedent vraiment quelque richesse Interieure sortiront fortifies et as-
souplis.
L'exposition des peintres genevois au musee Rath nous renseigne
assez exactement sur cet etat d'esprit, car, ä cote de quelques artistes
complets, qui suivent leur chemin solitaire, ä cote des impuissants qui ne
nous apportent que des redites, eile fait une place convenable aux jeunes,
aux temperaments en voie d'organisation.
De la toile vierge, prete ä recevoir l'oeuvre, des couleurs, tout le cla-
vierdes couleurs aux infinies ressources et, autourde soi, les aspects innom-
brables de la vie pour feconder l'imagination creatrice: qui ne voudrait
etre peintre? Oui, mais, des les premiers pas, les angoisses du talent qui
cherche sa voie, s'empetre dans le maquis des formules enseignees, cher-
377
che, dans le chaos des v^rites contradictoires, la verite qui provisoirement
le soutlendra et desespere de trouver Jamals l'accent juste et personnel
qui traduira sans equivoque une impression intimement ressentie. Voilä le
drame des artistes en formation. On ne saurait des lors s'etonner de I'in-
quietude qui visiblement les tourmente. Cette inquietude est plus atta-
chante pour le spectateur que la petite habilete satisfaite qui met en valeur
— en valeurs negociables — les recettes consacrees par un long usage.
Que cette impatience d'etre soi les incline ä rechercher l'etrange et
l'inattendu, rien de plus naturel encore. Seul l'artiste accompli se sentira
la force de transposer en beaute les spectacles les plus familiers de la
vie. Ainsi s'explique la predilection des Barraud, des Buchet, des Bressler
pour les creatures inquietantes qui peuplent leurs tableaux. Mais on ne
saurait nier les qualites dont ils fönt preuve dans leurs recherches.
M. Gustave Barraud interprete avec une singuliere habilete les aspects
les plus imprevus de la beaute feminine. Son frere Maurice a trouve dans
les cabarets de nuit la matlere d'observations perspicaces. Plus forme dejä,
plus conscient de ses forces, M. Gustave Buchet detalUe, en des pages
bien construites et d'un coloris pimente, les charmes insolltes de ses mo-
deles. M. Emile Bressler, faute d'un peu de mesure et de goüt, apparait
comme un caricaturiste fourvoye dans les recherches decoratives. Ses com-
positions, d'un caractere bien personnel cependant, manquent d'unite. Un
temperament de premier ordre s'affirme dans les figures tourmentees et
les dessins curieusement traites de M. Th. Bosshardt, tandis que M. Lucien
Jaggi, moins obsede par la hantise de l'inconnu, se Signale par des essais
d'une juvenile et reposante fraicheur.
Apres cette courte visite aux recrues, passons ä ceux de leurs atnes
dont les envois nous paraissent constituer le principal attrait de cette expo-
sition. Voici deux „fleuristes", Hugonnet et Forestier, deux temperaments
tres proches mais deux manieres bien differentes. Decorateur avant tout,
M. Aloys Hugonnet compose des ensembles d'une savante et somptueuse
harmonie. Sa peinture est un hymne ä la joie. 11 excelle ä mettre en valeur,
par un ensemble d'accords precieux et justes, la chair vivante des roses,
le joyeux eclat des capucines et toutes les fleurs de tous les jardins. L'art
de M. Henry Forestier, moins exterieur peut-etre, mais non moins affine,
tend au tableau plus qu'au morceau decoratif. II faut, ä y reflechir, une
indeniable maitrise pour se permettre une teile simplicite de moyens, pour
faire d'un bouquet detaille fleur apres fleur, avec application, une compo-
sition d'un charme tres personnel et tres prenant.
M. Abraham Hermenjat n'a que deux tableaux minuscules, mais oii
l'on retrouve cette vision penetrante et reflechie, ce sens profond de la
beaute qui caracterisent le peintre d'Aubonne. Giovanni Giacometti expose
deux paysages d'hiver intensement expressifs et des paysans hauts en cou-
leur qui ne fönt pas oublier ses oeuvres precedentes.
M. Alexandre Perrier ne descend guere de la petite vallee de Savoie
oü, depuis je ne sais combien de temps, il a plante son chevalet. Et rien
ne demontre mieux que sa peinture la vanite des voyages. Un artiste sen-
sible aux variations infinies des Saisons et des heures pourra, sans se
repeter jamais, passer sa vie devant le meme horizon. C'est ainsi que le
Praz de Lys, sejour d'election de M. Perrier, lui a inspire tant d'oeuvres
fortes et seduisantes, dont la variete est l'indice d'une sensibilite exquise,
378
mürie dans la contemplation solitaire. Au moyen de petites touches effi-
l^es, qui se juxtaposent et s'entrecroisent comme les fils d'un tissu, M. Per-
rier sait rendre les nuances les plus rares, les jeux de lumiere les plus
subtils, tout ce qui passe et tout ce qui vibre, et aussi la solide architec-
ture d'un paysage. Une impression profonde de paix et de force vivante
se degage de sa „Foret un soir d'ete", oeuvre definitive et complete d'un
pur artiste en pleine possession de ses moyens. Ce n'est pas une foret,
c'est „la foret" qu'il evoque, avec son mystere sacre et sa poesie. D'autres
aspects de ce talent si puissant et si personnel nous sont reveles par deux
„visions de montagne" d'une noble serenite.
Les paysages de M. Henri Duvoisin, les compositions aimablement
alanguies de M. Otto Vautier, les paysages solidement etablis de M. Eugene
Martin, les tableaux de MM. Sylvestre, Cacheux, de Traz, W. Muller,
Ed. Vallet, sans parier du tres beau portrait de femme, vu dejä ä Neu-
chätel, par quoi Hodler fait acte de presence, tels sont encore les envois
qui nous paraissent donner ä cette exposition un sens et un caractere.
L'exposition posthume des oeuvres de P, Pignolat, le bon peintre de
la campagne genevoise, a ete sans doute une revelation pour la plupart
des visiteurs. Certes, le doux Pignolat ignorait avec serenite les recherches
sans peur, les violences du temps present. 11 peignait avec amour de petits
paysages fins et lumineux. Et son oeuvre a beaucoup de charme, une par-
faite distinction. En reunissant sous un meme toit ses peintures et Celles
des artistes d'aujourd'hui, les organisateurs de l'exposition ont voulu sans
doute, avec infiniment de raison, donner ä entendre que la verite, en art,
revet les apparences les plus diverses, que les formules ne sont rien, que
toute oeuvre sincere et riebe de quelque emotion personnelle merite notre
respect.
Parmi les sculptures, assez nombreuses et fort inegales de valeur,
rien ii'approche en perfection les figures emouvantes de M. Rodo de Nie-
derhäusern. Le torse de femme intitule „Offrande ä Bacchus" est un mor-
ceau palpitant de vie, d'une souplesse et d'un elan magnifiques.
LAUSANNE PAUL PERRET
ana
VOLLSTÄNDIGE GESAMT-AUSQABEN
Was versteht man darunter? Sämtliche Werke eines Dichters oder
unverkürzte einzelne Werke? Die erstere Auffassung war wohl bisher die
allgemeine. Hesse in Leipzig belehrt uns aber eines andern.
Dem Weihnachtskatalog der schweizerischen Buchhändler ist ein Ver-
zeichnis von Hesses Klassiker-Ausgaben beigeheftet. Ein Stern vor dem
Verfassernamen sagt, dass des Dichters Werke in einer vollständigen Gesamt-
Ausgabe vorliegen. Mein Auge fiel gleich auf den besternten, von Zoozmann
übersetzten und herausgegebenen „Dante". Der „ganze" Dante in einem Band
für Fr. 2.70. Das schien mir unerhört; in einer enggedruckten Florentiner-
ausgabe umfasst Alighieris Werk vier umfangreiche Bände. In einer Buch-
handlung verlangte ich Hesses*Dante zur Ansicht; er enthält „Die göttliche
Komödie" und „Das neue Leben." Wo steht aber Dantes „Canzoniere"?
379
Wo seine große Schrift „Das Gastmahl" (convito), wo sind die Abhandlungen
über die Monarchie und die Vulgärsprache: wo die zahlreichen kleineren
Arbeiten des meist genannten Italieners? Ich finde sie nicht in der obigen
Ausgabe. Wie konnte sie also der Verlag als vollständige Gesamt-Ausgabe
bezeichnen? Ich weiß es nicht und möchte auch nicht die Ehrlichkeit des
Verlages bezweifeln. Man erzählt sich, das gründliche deutsche Volk liebe
Gesamtausgaben.
Es ist möglich, dass sich Richard Zoozmann in einer Vorrede über
den von mir hier gestreiften Punkt äußert; vielleicht ist er sogar der Mei-
nung, Dantes übrige Werke seien veraltet und gehören nicht mehr in eine
moderne Ausgabe. Obwohl ich Leute kenne, die sich auch an den „opere
minori" des Italieners aufrichtig erfreuen, so würde ich dem Übersetzer
nicht Unrecht geben. Die wenigen Liebhaber sollen sich alte oder Einzel-
Drucke anschaffen. Aber gilt das, was eben über Dante gesagt wurde,
nicht auch für unsere Klassiker? (Es muss bemerkt werden, dass deren
Zahl immer größer wird. Die deutsche Dichtung ist einzig in der Welt-
literatur; sie zählt an die sechzig Klassiker und diese zum mindesten
dürfen in keinem deutschen Hause fehlen.) Da stehen diese Klassiker im
Salon oder im Studierzimmer in friedlicher Harmonie, sämtlich gleich ein-
gebunden, in schön säuberlichen oder mit dickem Aschenstaub belegten
Bücherkästen, und von Zeit zu Zeit sagt uns das Gewissen, dass ganz
Goethe ganz Schiller, ganz ... zu den Klassikern gehören; wir durchblät-
tern ein paar Bände und werden zu unserer großen Genugtuung wieder
daran erinnert, dass Goethe eine Farbenlehre, viele Fragmente und einen
Brief geschrieben hat, in dem er einen Knaben warnt, Kastanien zu werfen,
denn dadurch seien schon viele Unglücksfälle passiert. Im Ernst: mit den
Gesamtausgaben wird ein arger Luxus getrieben. Wir besitzen die Klassiker,
aber lesen wir sie auch? Ich habe schon mancherorts beobachtet: Gesamt-
ausgaben durchblättert man gleich nach dem Ankauf, liest ein paar Stücke
und lässt alles übrige unbenutzt. Wäre es nicht vernünftiger, sich die Werke
— selbst die Klassiker — einzeln anzuschaffen, eben gerade, wenn sie
einen interessieren? Damit würde viel Platz gespart. Man würde eine
weniger umfangreiche Bibliothek besitzen, aber für das so gewonnene Geld
vielleicht etwas mehr auf die gute Ausstattung der Bücher halten können,
damit sie einen auch äußerlich erfreuen. Freilich könnte dann die Privat-
bibliothek keine Serie von hundert gleich hohen, gleich breiten, gleich
gebundenen und gleich vergilbten Büchern mehr aufweisen, aber schließlich
ist ja der Bücherkasten kein Zivilstandsbureau, das mit einer endlosen
Zahl Schachteln gleichen Formates ausgestattet sein muss.
Ich meine: erstens ein Verlag sollte keines Dichters Werk als Gesamt-
ausgabe ankündigen, wenn sie es nicht ist, und zweitens die Gesamtaus-
gaben sind von recht minimem Wert, da sie weder zum eigentlichen Ver-
ständnis der Kunst, noch besonders zur Freude daran viel beitragen.
An den Deutschlehrern ist es, den Modewahn der Gesamtsausgaben
bei den Schülern auszurotten und sie nicht noch gar, wie es oft geschieht,
wenn sie sie nicht besitzen, als Kunstbarbaren hinzustellen.
ZÜRICH BERTHOLD FENIGSTEIN
D a D
380
SCHAUSPIELABENDE
Die künstlerische Ausbeute der letzten Schauspielaufführungen unseres
Theaters hieß Herodes und Mariamne. Nicht der großen Bühne als ein
prunkreiches historisches Drama — wie ich das einmal in Mannheim erlebte,
als Hagemann noch die Regie führte — wurde die Tragödie Hebbels über-
lassen, sondern der kleinen Schauspielbühne im Pfauen. Und für den, dem
das Seelische dieses Werkes das bestimmend Wertvolle bedeutet, ergab
sich keine Enttäuschung. Ich wüsste nicht, was man im Ernst entbehrt
hätte in dieser einer vereinfachten und dabei doch keineswegs ärmlich
wirkenden Inszenierung anvertrauten Aufführung. Das Einzige, was man
vermisste, und was mit der Ausdehnung der Bühne und der Ausstattung
rein nichts zu schaffen hat, war, dass die Schauspielkräfte nicht durchgehend
reichten für die Höhe der hier an die Charakterisierungskunst gestellten
Aufgabe. Ein Glück war wenigstens, dass für die Mariamne eine vollgültige
Vertreterin zur Verfügung stand. Und so resultierte doch, namentlich in
den letzten zwei Akten, ein ungewöhnlich tiefer, nachhaltiger Eindruck.
Im Revolutionsjahr 1848 ist die Tragödie in Wien zu Ende gediehen.
Im Oktober dieses Jahres, während die Schreckenstage über Wien herein-
fluteten, hat Hebbel den fünften Akt zum großen Teil auf der Straße ge-
dichtet, ein Beweis von der ungeheuren Innern Konzentration des Dichters,
die auch den furchtbarsten äußern Geschehnissen standhielt.
Als Hebbel den Stoff bei Josephus, dem Geschichtschreiber der Juden,
fand, schreckte er ihn anfangs ab; „aber — wie er an Rötscher in Berlin
Ende 1847 schrieb — aus ganz andern Gründen, als woraus dies sonst wohl
der Fall ist. Er schien mir schon zu vollendet, zu abgerundet in sich, um
dem Künstler auch nur noch so viel Arbeit zu geben, als nötig ist, wenn
er sich begeistern soll, er schien mir geradezu eine derjenigen Tragödien
zu sein, wie sie, obwohl sparsam, in vollendeter Gestalt ohne Beihilfe des
Dichters der historische Geist selbst hervorbringt. Nahebei besehen fand
ich das freilich etwas anders." Er weist dann an einem Beispiel nach, wie
die psychologische Motivierung vom Dichter doch durchaus neu zu gestalten
war, damit der überzeugende Eindruck der Wahrheit sich ergebe. Und er
fährt fort: „ich will in diesem Stück durchaus nichts abhängig machen von
Stimmungen und Entschlüssen, die nur auch relativ begründet in den Cha-
rakteren und den Verhältnissen, so, aber auch anders sein könnten ; es soll
sich zu dem, was sich darin ereignet, ein jeder, der Mensch ist, bekennen
müssen, selbst zu dem Entschluss des Herodes, aus dem alles entspringt. . .
Ich sage: ich will! Wie weit ich kann, wird sich zeigen."
Das war Ende 1847. Das Wollen wurde im folgenden Jahre zum
Können in einem bewundernswerten Grade. Jener Entschluss des Herodes,
aus dem die ganze Tragödie entspringt, besteht, wie man weiß, darin, dass
Herodes, als er, angeklagt wegen der Beseitigung seines Schwagers Aristo-
bolus (mit dem, wie es in dem großartigen Kapitel „König Herodes" in
Wellhausens Israelitischer und jüdischer Geschichte heißt, die Kameraden
so lange Untertauchen im Bad spielten, bis er erstickt war), zu Antonius
entboten wird, seine Gattin Mariamne unters Schwert stellt, das heißt Be-
fehl gibt, sie zu töten, so bald die sichere Nachricht von seinem eigenen
Tode in Jerusalem eingetroffen sei. Er tut dies, weil ihm der Gedanke
unerträglich ist, Mariamne, die er mit eifersüchtiger Sinnenliebe liebt, könnte
381
unter Umständen in die Hände des Römers fallen, könnte mit ihrer Schön-
heit einen andern beglücken. Dass sich Mariamne zu einer solchen neuen
Verbindung niemals hergeben würde: das ist's, was er von vornherein an-
zunehmen nicht über sich bringt. Und damit frevelt er an seinem Weibe,
frevelt er am Höchsten, was sie besitzt: an ihrer Liebe, dem Urgrund ihres
Wesens. Gewiss: er hat, von seinem egoistischen Denken aus. Gründe zu
solchem Misstrauen. Hat er nicht eben Mariamnens Bruder Aristobolus,
den dessen ehrsüchtige Mutter Alexandra in zweifelhafte politische Machi-
nationen gegen Herodes hineingetrieben hat, aus der Welt schaffen lassen?
Weiß er nicht, dass Alexandra, seine Schwiegermutter, beständig bei Kleo-
patra und Antonius gegen ihn hetzt und keine Gelegenheit versäumt, um
auch ihre Tochter gegen den Gatten aufzustacheln ? Wird Mariamne unter
diesen Umständen auch über seinen Tod hinaus ihm Treue halten ? Lauter
Erwägungen, die diesem an Treue und Glauben längst irre gewordenen
Machthaber nahe genug liegen müssen. Aber der politische Rechner hat
dabei eben einen Faktor, den entscheidenden, völlig übersehen: dass seines
Weibes Liebe stärker ist als alle Versuchungen, die von ihm sie abtrünnig
machen könnten ; dass es Eine gibt, die ihm alles verzeiht, was sie auch
gegen ihn auf dem Herzen haben mag, weil ihre Liebe zu ihm all das
Dunkle in seinem Bilde auslöscht, nur das Lichte sieht, an das sie glaubt
und ohne das ihr das Leben nichts bedeuten würde. Und nun entdeckt
sie, dass dieser Glaube ein irriger war. „Das ist ein Frevel, wie's noch
keinen gab." „Du hast in mir die Menschheit geschändet."
Freilich, Herodes kann geltend machen, Mariamne hätte ihm bei seinem
Weggang nur den Schwur zu leisten brauchen, dass sie seinen Tod nicht
überleben werde, und er würde diesen Blutbefehl gegen sie nicht hinter-
lassen haben. Aber in ihrem weiblichen Stolz hat sich Mariamne dazu
nicht herbeigelassen. Wenn Herodes ihr das nicht selber zutraut, auch ohne
ausdrücklichen Schwur ihrerseits, dann ist eben sein Verhältnis zu ihr nicht
was es sein sollte; dann ist sie „ihm nur ein Ding und weiter nichts".
So schlecht hat seine Liebe die erste Probe bestanden. Aber vielleicht
geschah es nur in Verblendung; vielleicht ließen sich doch noch mildernde
Umstände für sein Verhalten finden? Das wird sich sofort erweisen. Denn
wieder ruft Herodes seine Pflicht von Jerusalem fort: bei Actium wird der
Entscheidungskampf zwischen Antonius und Octavian ausgefochten werden
und da soll Herodes als Verbündeter des Antonius mittun. „Jetzt, werd' ich's
seh'n, ob's bloß ein Fieber war, das Fieber der gereizten Leidenschaft, das
ihn verwirrte, oder ob sich mir in klarer Tat sein Innerstes verriet! Jetzt
werd' ich's sehn !" So rechnet Mariamne, und sie preist das Geschick, den
Ewigen : „Du tatest, was Du nie noch tatst. Du wälztest das Rad der Zeit
zurück : es steht noch einmal, wie es vorher stand ; lass ihn anders denn
jetzt handeln, so vergess' ich, was geschehn; vergess' es so, als hätte er
im Fieber mit seinem Schwert mir einen Todesstreich versetzt und mich
genesend selbst verbunden." Aber Mariamnens Hoffnung geht nicht in Er-
füllung. Ein zweitesmal stellt Herodes die Gattin unters Schwert. Und
wiederum wird Mariamne der geheime Blutbefehl offenbar. „So ist das
Ende da! ... Die Vergangenheit löst, wie die Zukunft, sich in nichts mir
aufl Ich hatte nichts, ich habe nichts, ich werde nichts haben! War denn
je ein Mensch so arm!" Und nun täuscht sie zu furchtbarer Strafe den
König. Die Kunde kam, er sei gefallen. Ist sie wahr, ist sie falsch: Mari-
382
amneweiß es nicht genau; aber ihr ahnendes Herz sagt ihr: Herodes kommt
zurück. Nun soll er sie so treffen, wie er in seinem Argwohn sie sich ge-
dacht hat nach seinem Ende, wenn er den gewaltsamen Tod nicht über sie
verhängt hätte. Ein Freudenfest trifft der heimgekehrte Herodes in seinem
Palast, und er vernimmt: Mariamne habe auf dem Fest getanzt, das sie zu
Ehren seines Todes angeordnet. Nun verwirrt sich sein ganzes Denken.
Die Zusammenhänge vermag sein brennend eifersüchtiger Geist nicht zu
durchschauen. Nichts andres kann er sich denken, als dass die Gattin ihn
bereits mit einem Andern, dem Hüter des Geheimnisses, betrogen habe.
Und den Tod verhängt er über Mariamne. Sie aber hat ihre Rache zur
Hand. Sie sorgt dafür, dass er nach ihrem Ende den wahren Sachver-
halt erfahre . . .
In dieser erstaunlichen Weise hat Hebbel seinen Stoff psychologisch
fundamentiert. Und so viel geistvolle Zeitschilderung er an die ganze Um-
welt des Herodes gewandt hat; so genial der Gedanke war, vor dem in
seiner tiefsten Seele unheilbar Verwundeten am Schluss die Gestalt des in
die Welt gebornen Messias erscheinen zu lassen als den König einer neuen
Welt, einer reinem, höhern: das, was uns aus der Tragödie als das Ent-
scheidende, als das im Grund einzig Ergreifende, Erschütternde entgegentritt,
das ist dieses Drama der in ihrem unbeschreiblichen, unschätzbaren Wert
nicht erkannten, nicht gewürdigten weiblichen Liebe. Das Nora-Drama hat
uns den Blick erst recht erschlossen für das Problem in Herodes und Mari-
amne. Auch Mariamne hat das Wunderbare nicht erleben dürfen.
Kurze Zeit nach dieser Tragödie Hebbels hatten wir, ebenfalls auf
der Pfauentheaterbühne, eine Uraufführung zweier Einakter. Der in Zürich
lebende Schriftsteller 5. Markus hatte den Versuch gemacht, zwei aus dem
alten Testament uns geläufige Erzählungen : die vom keuschen Joseph, der
im Haus des Potiphar von dessen Weib versucht wird, der Versuchung aber
siegreich widersteht; und die vom Frevel des David an Uria, dem der König
sein Weib Bathseba wegkapert und den er dann auf einen tödlichen Posten
im Krieg stellen lässt — psychologisch neu zu motivieren. Er machte aus
dem Potiphar den tragischen Helden des ersten Stückes : er, der alte Kriegs-
mann, sieht seine junge Gattin aus seiner Hand in die des jungen Joseph,
der in seinem Hause zu Ansehen und Einfluss emporgediehen ist, hinüber-
gleiten und vermag gegen dieses Naturgesetz, dass Jugend zu Jugend sich
hingezogen fühlt, nicht aufzukommen ; und wie er vollends inne geworden
ist, dass Joseph in seiner Edelträchtigkeit sich der Liebe zu dem Weibe seines
Brotherrn zu erwehren sucht und so die beiden jungen Menschen unglück-
lich werden würden, da ist er so generös, sich selbst aus dem Wege zu
schaffen und den zwei Liebenden die Bahn frei zu machen ; sie sollen glück-
lich werden. Von seiner neuen psychologischen Umrechung der Geschichte
vom keuschen Joseph vermag uns freilich Markus keineswegs zu überzeugen,
und der alte Selbstmörder aus Edelsinn will uns mehr komisch als tragisch
vorkommen.
Der zweite Einakter ist Bathseba betitelt. Aus dem Uria, ihrem Gatten,
macht sie sich nicht sehr viel, und der Übergang aufs Lager des schönen
Königs bereitet ihr keine sonderlichen Gewissensbisse. Aber nicht sowohl
der Prophet Nathan (aus dem Markus einen herrschsüchtigen Priester macht,
383
der das Adulterium Davids zwar als solches missbilligen muss, es aber zu
einem neuen Mittel macht, den König in seiner Hand zu behalten), als der
Uria selbst versalzt dem galanten königlichen Gattenräuber seine Liebes-
freude, indem er (an Stelle des Nathan in der dramatischen Erzählung des
Königsbuches) dem Herrscher seinen ganzen Abscheu ins Gesicht wirft und
ihn, indem er mit klarem Bewusstsein in den Kampf geht, aus dem es keine
Rückkehr gibt, den stechenden, nie schweigenden Gewissensbissen über
seine Schlechtigkeit überantwortet. Der Titel Uria wäre daher der passen-
dere gewesen. Bathseba bleibt ganz blass und schemenhaft in dem Stücke.
Auch hier ist der dichterische Gewinn der neuen Fassung eines alten Stoffes
kein großer und bleibender. An Hebbels Herodes- und Gyges-Tragödie ist
zu ersehen, wie ein Dichter und ein Seelenkundiger in einer Person in
solchen Geschichten aus einer Welt, die nicht die unserige ist, Ewigkeits-
züge zu entdecken und für uns lebendig und ergreifend herauszugestalten
vermag.
ZÜRICH H. TROG
DDD
KURZE ANZEIGEN
Es ist immer erfreulich, wenn sich einer für eine reine Aussprache
des Deutschen an Schweizer Schulen ins Zeugt legt, wie Dr. OTTO
SEILER in der kürzlich im Verlag Huber in Frauenfeld erschienenen
Schrift Lautwissenschaft und Deutsche Aussprache in der Schule, die ein-
leitend zusammenfasst, was zu diesem Zwecke schon alles in der Schweiz
geschehen ist und wie wenig es gefruchtet hat. Bei dem sachlichen Teil
möchte ich, so sehr ich sonst damit einverstanden bin, zwei Einwendungen
machen. Erstens missfällt mir das immer wiederkehrende Wort „gefällig".
Rein soll die Aussprache sein, gewiss; es kann aber zu großen Wider-
sprüchen mit der Person des Sprechenden und dem Zweck der Rede
führen, wenn eine erzwungene Gefälligkeit erstrebt wird. Hinter dem Wort
lauert süßlich, geziert, naturwidrig. Und dann möchte ich noch sagen, dass
die dreimal heilige Phonetik, so hoch ich sie schätze, nicht das Wichtigste
ist. Ich mache mir gar nichts draus, ob einer das e der Endsilben „als
ö-ähnlichen Mischlaut" spricht und finde ein dumpfes a oder ä eine läss-
liche Sünde. Gesündigt wird bei uns zumeist gegen den Rhythmus einer
guten Prosa. Der lendenlahme, leierkastenhafte, stoßweise und sprutzige
Rhythmus, viel eher als die fehlerhafte Aussprache gewisser Laute, bringt
es mit sich, dass der Schweizer an seinem Hochdeutsch eine schlechte
Waffe besitzt, mit der er von Anfang an geschlagen ist, wenn er sich im
mündlichen Verkehr mit einem gewandten Norddeutschen messen soll. Hier
hätte vor allem der Unterricht des Deutschlehrers einzusetzen, und wenn
er's sonst nicht fertig bringt, soll er sich einen Phonographen anschaffen mit
guten deutschen Sprachproben, wie man sie in Frankreich zum Deutsch-
unterricht verwendet. Wir habens noch nötiger als die Franzosen.
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
384
GESANG VOM BERGE
Der Du die Berge bewegst und die fernen Meere,
Selber im Berg und im Wind und im tiefen Meer,
Auf weißen Gletschern schimmerst, auf meinen Händen,
im selig Blauen wohnst und in schaurigen Schlünden
Unwandelbarer, Vielgestaltiger, treu im Wechsel,
Den wir heute ahnen und morgen nicht.
Erschauernd fühl' ich Dich hier oben
Mit überquellenden Augen.
Der Du in Dir bist und nie außer Dir,
Selig in Deiner Gestalt in lauter Stille kreisest.
Der Du selber gesetzt bist zum Kampfe wider Dich selbst.
Um nicht zu erstarren in Deinem Glück,
Freund Dir und Feind, Erhalter, Zerstörer, Erneu'rer,
Leben und Tod und Lust und Leid und Trauerlust,
Honig aus allen Waben,
Dir ein buntes Kampfspiel ohn' anderes Ziel als Dich,
Deines Atems verspüre ich einen Hauch.
385
Der Du Dir Gleichnisse schaffst,
Die da im Blauen schweben und schillern,
Die auf der Matte blühn und wie kleine Sonnen strahlen,
Die da Städte bauen und wieder zerstören und bauen,
Wesen wie wir, die wir Dich in uns tragen.
Wie das Türmchen am Turme den Turm;
Der Du nichts bilden kannst, worin du nicht bist,
Wie wir nichts aus uns bilden, das nicht unseres Wesens ist,
Der Du uns wachsen lässt, uns freuen und leiden und in
Dir sterben.
Dir ein nötiges Spiel, uns eine heilige Not;
Der Du die Sonne drehst und die Erd' und die Sterne nach
gold'nem Gesetz,
Selbst in der Sonne, im Stern, gehorsam Deinem Gesetz;
Goldene Mitte Du,
Der Du Dich ewig um Dich selber drehst in Seligkeit
Und Deine Welten um Dich kreisen lassest,
Der Du von Ewigkeit bist ohn' Anfang und Ende,
Der Du auf allen Leuchtern brennst, die Dir leuchten,
In allen Rädern sausest, die Dir sausen,
Feiern will ich Dich mit meinem Leben und Werk,
Ich, der Dir gleicht wie das Blättlein am Baume dem Baum,
Dich, der in mir ist wie der Baum im Blatt.
Nennen will ich Dich mit frommen Lippen ohne Namen,
Lebendiges, zu groß für Worte aus unserem Mund,
Dass alle, alle, die in Dir erschauern,
Sich die Eimer reichen und Hammer und Kelle,
Einen Bau zu bauen ohn' Grundriss und Stein,
Darin ihre Herzen lebendig brennen in Deinem Atem
Und ihre Einsamkeit im gemeinsamen Reigen strahlt,
Wie der Stern in den Sternen und alle Sterne in Dir.
EMANUEL VON BODMAN
ana
336
DER LEDERHANDLER
VON FELIX MOESCHLIN
Sein Wunsch war nicht übertrieben. Bis zu seinem fünfzig-
sten Jahre wollte er fleißig arbeiten, dann aber seine Lederhand-
lung verkaufen, sich irgendwo zur Ruhe setzen und das Leben
genießen.
Und weil er sich das getreulich und ausdauernd wünschte,
auch alle Abschweifungen vom Wege des soliden Lederhandels
sorgsam vermied, so wurde sein Ideal zur erhofften Zeit ange-
nehme Wirklichkeit.
Es kam der denkwürdige Tag, wo er zum letztenmal in sein
Geschäft ging. Er tat es mit angemessener Feierlichkeit und
Würde. Und er arbeitete an seinem Schreibpulte wie gewöhnlich,
stand hinter dem Ladentische und machte seinen üblichen Gang
durchs Magazin, wo er sich auch in der dunkelsten Nacht zu-
rechtgefunden hätte.
Das alles war nun verkauft und sollte morgen einem andern
gehören.
Er konnte es nicht verhindern, dass ihm ein paar Tränen in
die Augen schössen, als er am Abend die Ladentüre etwas lang-
samer und umständlicher als sonst hinter sich zumachte.
Aber dann dachte er daran, dass er von nun an das Leben
genießen werde, und wischte mit einer resoluten Armbewegung
die Tränen aus den Augen auf den Rockärmel, wo sie noch eine
kurze Weile lang glänzten und dann in die Wolle hineindunkelten.
Damit war die trübselige Anwandlung vorüber, und fröhlich
schritt er auf die Straße hinaus. Und als er an der nächsten
Ecke einem hübschen Mädchen begegnete, lachte er ihm ins
Gesicht.
Nicht als ob er damit etwas Besonderes gemeint hätte, das
war nicht seine Art; er hatte bloß ganz unschuldig dem Bedürf-
nisse nachgegeben, einen Menschen anzulächeln, weil er sich so
glücklich fühlte.
Denn nun war er ja ein freier Mann, der so viel Geld auf
der Sparbank hatte, dass er nicht mehr zu arbeiten brauchte und
zu jeder Zeit, wann und wo es ihm gerade beliebte, etwas ganz
387
anderes im Sinne haben durfte als immer nur Leder: Sohlleder,
Oberleder, Rossleder, Kalbleder, Schweinsleder, Juchtenleder,
Waschleder, Lackleder, Glaceleder, Chevreaux, Maroquin und
Saffian! Gott sei Dank, nun war er sie los!
Den Abend verlebte er wie gewöhnlich. Er aß, was ihm die
Haushälterin auf den Tisch stellte. Dann las er, was ihm sein
Leibblatt vorzusetzen für gut fand. Und um halb zehn legte er
sich in sein einschläfiges Bett, zuerst fünf Minuten lang auf die
linke und dann definitiv auf die rechte Seite, wie es seine Ge-
wohnheit war seit vielen langen Jahren.
Als er am andern Morgen erwachte, war es schon halb acht.
Er erschrak. Um acht Uhr musste er ja im Geschäft sein! Er
sprang aus dem Bett wie ein Junger und schlüpfte in die Unter-
hosen.
Aber dann fiel es ihm auf einmal ein, dass er sein Geschäft
verkauft hatte und dass er von nun an nichts anderes mehr zu
tun hatte als sein Leben zu genießen.
Da zog er die Unterhosen wieder aus und kroch ins Bett
zurück. Heute wollte er einmal recht tüchtig ausschlafen.
Aber der Schlummer wollte nicht kommen, obwohl er sich
zuerst auf die linke, dann auf die rechte Seite und schließlich
gar auf den Rücken legte.
Nach einer halben Stunde hatte er Kopfschmerzen. Da stand
er notgedrungen auf, kleidete sich an und trank seinen Kaffee.
Was nun?
Das Leben genießen! versteht sich.
Aber wie?
Er versuchte sich klar zu machen, was er sich seit Jahren
unter Lebensgenuss vorgestellt hatte. Aber das war nicht so leicht.
Er entdeckte auf einmal, dass er sich nichts bestimmtes vorge-
stellt hatte.
Vom Lebensgenüsse wusste er nicht mehr als vom Himmel,
hauptsächlich, dass er etwas Schönes sein müsse. Aber was?
Jedenfalls etwas, das nicht mit seinem Geschäfte zusammenhing.
Denn er hatte ja sein Geschäft verkauft, um das Leben genießen
zu können. Er hatte nicht geahnt, dass dies so viel Kopfzer-
brechen verursachen werde.
388
Aber er warf die Flinte noch nicht ins Korn, Aller Anfang
ist schwer, man darf sich dadurch nicht entmutigen lassen. Hatte
er nicht von dem und jenem gehört, dass er das Leben genieße?
Doch! Er brauchte also bloß zu leben wie die, dann ging sein
Wunsch in Erfüllung.
Der Eine hatte die feinsten Weine getrunken und die teuer-
sten Zigarren geraucht.
Aha, da haben wir's ja! Schreiben wir's auf: feine Weine,
teure Zigarren.
Ein Anderer hatte stets ein junges, hübsches Mädchen am
Arm, jeden Tag ein anderes. Schreiben wir's auf : hübsche, junge
Mädchen !
Ein Dritter las Bücher, beschaute Bilder, hörte Konzerte,
ging in's Theater. Schreibens wir's auf: Bücher, Bilder, Konzerte,
Theater !
Ein Vierter lag den lieben, langen Tag auf einer Wiese und
schaute in den Himmel. Schreiben wir's auf: Auf-einer-Wiese-
liegen, in-den-Himmel-schauen!
Ein Fünfter reiste in der halben Welt herum. Schreiben wir's
auf: Reisen!
Nun war's genug: Weine, Zigarren, Mädchen, Bücher, Bilder,
Konzerte, Theater, Wiesen, Himmel, Reisen . . .
Und er versuchte die verschiedenen Rezepte, eines nach
dem andern.
Aber die Weine verursachten ihm Kopfschmerzen, und die
Zigarren machten ihm übel.
Und von den Mädchen zog er sich bald wieder zurück, denn
sie stellten gar hohe Forderungen in allen möglichen Beziehungen
und störten sogar seine Nachtruhe.
Über den Büchern aber schlief er ein, Bilder waren ihm
völlig gleichgültig, in den Konzerten langweilte er sich zu Tode
und im Theater fand er, es sei schade für das Geld.
Auf der Wiese holte er sich Rheumatismus, und der Himmel
tat ihm in den Augen weh.
Und als er reiste, fand er, es sei überall wie zu Hause!
Mit seinem Lebensgenüsse war es sehr schlecht bestellt. Er
bekam schlaflose Nächte. Von denen hatte er früher nichts
gewusst.
389
Ach, warum hatte er sein Geschäft verkauft, wie schön war
es gewesen, mit Leder zu handeln. Weine und Zigarren und junge
Mädchen waren rein nichts dagegen.
Und er ermannte sich und ging zum neuen Geschäftsinhaber
und fragte ihn, ob er die Lederhandiung zurückkaufen dürfe. Aber
davon wollte der andere nichts wissen. Ob er vielleicht einen
Platz für ihn habe? Nein! Auch dann nicht, wenn er keinen
Lohn fordre?
Da zeigte sich der neue Besitzer entgegenkommend und über-
wies ihm die Stelle eines Magazinverwalters. Der Fünfzigjährige
dankte aus vollem Herzen.
Und nun ist er wieder bei seinem Sohlleder, Oberleder, Ross-
leder, Kalbleder, Schweinsleder, Juchtenleder, Waschleder, Lack-
leder, Glaceleder, Chevreaux, Maroquin und Saffian und arbeitet
von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Lohn erhält er
nicht.
Aber er genießt das Leben!
DD a
LIEDER
Im Frühling sangen frohe Burschen,
Wenn sie talein, talauswärts schritten.
Ein Lachen in den jungen Augen,
Die nie am Weh der Erde litten.
Im Sommer sangen schöne Mädchen,
Wenn sie auf Matten tief sich bückten
Und mit den schmalen weißen Händen
Die schweren roten Blumen pflückten. —
Die Tage und die Blumen welkten.
So wusste ich: der Herbst kommt wieder.
Da hab ich vor mir hergesungen
Die Burschen- und die Mädchenlieder.
HANS ROELLl
ODD
390
VEREINFACHUNG
DER
STAATSVERWALTUNG UND ERLEICHTERUNG
DER STAATSLASTEN
(Fortsetzung)
Ein anderes Beispiel bieten die Kontroll-Einrichtungen. Über
einem Arbeiter steht ein Kontrolleur und über diesem vielleicht ein
Oberkontrolleur und so fort, die alle nichts zu tun haben, als
sich gegenseitig zu beaufsichtigen — eine Einrichtung, die sicher-
lich unproduktiv ist und sich gelegentlich auch nutzlos erweist.
Nehmen wir das Inspektorat unserer Notariate. Trotz seiner Auf-
sicht wieder ein neuester Fall von einem ungetreuen Notar! Wieviel
unfehlbarer und für den Staat sicherer wäre es, die Notare zu
einem Verbände zusammenzuschließen, der seine Mitglieder selbst
kontrollierte und für sie verantwortlich wäre. Die Kontrolle
würde jedenfalls lieber ertragen, wäre sachkundiger, vertraut auch
mit den Abwegen des Amtes, die für einen außer demselben
stehenden Funktionär ein Mysterium sind, und die Einrichtung
würde den Risiken auch deshalb viel mehr vorbeugen, weil das
Verantwortlichkeitsgefühl gegen Seinesgleichen weit stärker ist als
gegen den Staat, der eigentlich ein bloßes Phantom darstellt, und
dem es nicht besser geht, als dem lieben Gott, gegen den alle
Welt sündigen zu dürfen glaubt. Wenn aber der Verband, um
die Garantie zu übernehmen, eine Risikoprämie verlangte, so wäre
diese bald in einer Erhöhung der Besoldung gefunden.
Aber, wird man einwenden, damit würden die Ausgaben ja nur
vermehrt, statt vermindert. Dem ließe sich hinwieder leicht helfen
durch eine Progression der Gebühren, die auch sonst am Platze
wäre. Eine solche würde nicht nur auf dieser Seite den Ausgleich
bringen, sondern im allgemeinen zur Vermehrung der Einnahmen
beitragen, so gut wie die Progression bei den Steuern, und noch
unfehlbarer, insofern als sich, anders als bei den Steuern, das
Pflichtige Objekt, die betreffende Transaktion, nicht defraudieren
lässt. Bei den Notariaten ließe sich zugleich auch noch eine zweite
Progression (und doppelte Progression kennen wir schon bei der
Erbschaftssteuer) anbringen, nämlich die Progression für den bloßen
391
Handel mit Gütern, die Güterschlächterei oder Hofmetzgerei, ein
Mittel, wohl wirksamer noch als das Verbot oder der Auf-
schub des Wiederverkaufes, und jedenfalls einträglicher für den
Staat. — Das Gleiche gilt noch von andern Kontroll-Einrichtungen,
und vielleicht hülfe auch das gleiche Mittel, bis zu den Tram-
kontrolleuren hinunter.
Im einzelnen sollten die Beamtungen darauf durchgangen
werden, was jede effektiv für die Bewältigung der vom Staat über-
nommenen Aufgaben leistet. Auch beim Gemeinwesen wie in
einem privaten Betrieb kommt es ja nicht nur darauf an, dass
der Mann seine Zeit im Bureau absitze, dass möglichst viel Tinte und
Papier verbraucht werde, sondern dass die Geschäfte rasch und
gut erledigt werden — und je weniger Personal es dazu braucht,
um so besser nicht nur für die Sache, sondern um so billiger auch
für den Staat. Die Mühle soll nicht leer gehen ; sie soll nicht bloß
klappern, sondern Mehl geben, in dieser Beziehung scheint es
gelegentlich an einer geschäftskundigen oder durchgreifenden Kon-
trolle zu fehlen. Man kennt die Besuche der Mitglieder der kan-
tonsrätlichen Geschäftsprüfungs-Kommission auf den Regierungs-
bureaux. Es werden alle möglichen Bücher aufgeschlagen und
Akten eingesehen, ob alles sauber gehalten und schön geschrieben
sei, statt dass nur einige wenige Stichproben, aber gründlich vor-
genommen würden, und zwar speziell darauf, wie die Geschäfte
sachlich und wirksam gefördert würden. Es zeigte sich mitunter
vielleicht ein anderes Bild, und die Abhilfe ergäbe sich von selbst.
Jedenfalls sollte man keine neue Anstellung schaffen ohne gewis-
senhafte Prüfung, ob auf dem betreffenden Bureau nicht mit dem
vorhandenen Personal auszukommen wäre, wenn alle unnütze
Schreiberei und Tintenverschwendung unterbliebe und statt dessen
nur nützliche Arbeit geleistet würde. Schon ein Personenwechsel
hält schwer, und das ist nur recht und billig gegen den bisherigen
Inhaber der Stelle, so lange er seine Pflicht tut. Aber ein neuer
Posten ist noch schwerer abzuschaffen, nachdem er einmal auf-
gestellt ist; es richtet sich sofort alles darnach ein und umgibt
ihn mit dem Schutze der Unentbehrlichkeit, den die bisherigen
genossen. Auf einer gewissen Abteilung wurde die Bureauarbeit
vor noch nicht gar langer Zeit von ganzen drei Mann besorgt;
seither sind es deren vier- oder fünfmal mehr, ohne dass sich
392
füglich sagen ließe, die Geschäfte hätten sich auch um so viel
vermehrt. Es sollte überhaupt nicht alles sofort zu einer eigenen
Beamtung gemacht, sondern mit den bisherigen oder sonst sich
bietenden Kräften auszukommen gesucht werden. — Eine bureau-
kratische Erfindung neuester Mache ist der Amtsvormund. Die
Aufgabe hätte sich wohl auf die Waisenväter verteilen oder auf
die Patrone eines freiwilligen Armenvereins übertragen lassen und
wäre von diesen als im Leben stehenden und darin gar ergrauten
Männern auch in menschen- und sachkundigerer Weise verwaltet
worden, anstatt dass nun die Ärmsten der Armen, arme Waisen,
wie die Nummern einer Zellenaiistalt in der Qeschäftsliste einer
neuen Sammelstelle figurieren. Bureaukratie und kein Ende !
Der Schweizer genießt den Ruf, der praktischte Mann zu
sein, insofern er alles beim rechten Zipfel anfasse, wo es nötig
und wie es zweckmäßig erscheint. Das mag für das private Ge-
schäftsleben gültig sein; das Gemeinwesen aber hat sich dieses
Lob erst noch und vielleicht mehr als anderwärts zu verdienen.
Nun die Löhnung. Der Kantonsrat hat es in kluger Weise
verstanden, die Festsetzung der Besoldungen dem Volke zu ent-
ziehen und auf die Behörden zu übertragen. Zuerst wurde die
Verfassungsbestimmung, wonach die Besoldung der Regierungs-
beamten vom Gesetz zu bestimmen war, beseitigt ; dadurch erhielt
die Gesetzgebung freie Hand, ihrerseits die Festsetzung der be-
züglichen Besoldungen auf den Beschluss- oder Verordnungsweg
zu weisen, und das ist dann geschehen: für Regierungsrat und
Obergericht setzte der Kantonsrat selbst die Besoldungen fest, für
die Subalternbeamtungen überließ er es den beiden andern Be-
hörden. So war man ganz unter sich, und da schob sich eines aus
dem andern heraus wie die Teile eines Fernrohrs. Die Beiseite-
schiebung des Volkes mochte allerdings kaum zu umgehen sein,
wenn die Besoldungen mit der Zeit und den Lebensbedürfnissen
Schritt halten sollten; nur hätte vielleicht der Bengel nicht auf
einmal so in die Höhe geworfen und nicht die Verwaltungs- und
Gerichtsbeamten so einseitig und unter sich wieder so ungleich
berücksichtigt werden sollen.
Wenn zwar die leitenden Behörden am meisten bedacht wurden,
so erschien das insofern ganz am Platze, als die frühere Besol-
dung für eine oberste Landesbehörde wirklich unter dem Strich
393
gestanden und gerade sie den Anlass zur Neuerung gegeben hatte.
Es erhielten aber teilweise auch die Sei^retäre und Schreiber, ohne
besondere Leutenot oder erhöhtes Verdienst, von heut auf mor-
gen ganze Tausende von Franken mehr; es war eben noch die
Zeit, wo der Staatssäcl<el es hatte und vermochte. Anderseits trat
zwischen Staatsbeamten und Lehrerpersonal ein Verhältnis ein,
wie es früher unbekannt war. Die Besoldungen von Professoren
sogar blieben zurück hinter denjenigen von Sekretären, ja von
bloßen Kanzleischreibern, über die übrigens auch ihre Chefs sich
vielfach nicht erheben, werden sie doch noch meistens einfach
aus Kanzlisten rekrutiert, im ganzen ist das Kanzleipersonal
von dem großen Goldregen verhältnismäßig am meisten befeuchtet
worden, wenn die Art seiner Arbeitsleistung berücksichtigt und
namentlich seine Besoldung mit privaten Anstellungen verglichen
wird, über die weit hinauszugehen dem Staat um so weniger er-
laubt ist, als er aus der gleichen Quelle schöpfen muss. Um alles
gleich zu machen, werden die VolksschuHehrer den Professoren
schließlich gleichgestellt, und daher scheint das neueste Defizit
hauptsächlich zu stammen. Es widerspricht das zwar nicht nur
der Natur und lähmt das Vorwärtsstreben, sondern erdrückt am
Ende den Staat; aber es gehört zur Mode und dient der Popu-
larität. Es fehlt nur noch der Titel, der übrigens nichts kostet;
Turn- und Schreiblehrer haben ihn bereits.
Gegen das Kanzleipersonal schneidet von jeher auch die
Polizeimannschaft schlecht ab. Alle Tugenden des Aristoteles und
noch ein paar dazu werden vom Polizeimann gefordert, die
strengsten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit bringt sein
Dienst mit sich, wie denn auch Krankheit und Sterblichkeit beim
Korps außerordentlich groß sind, und doch ist er immer noch
der schlechtest bezahlte Funktionär des Gemeinwesens. Das ist
einfach unbegreiflich, und die Gerechtigkeit verlangt, dass dieses
Verhältnis baldigst und gründlichst geändert werde. Wir können
diejenigen, denen wir unsere Sicherheit anvertrauen, nicht genug
in Ehren halten, tüchtige Leute vorausgesetzt, — und etwas anderes
darf nicht angenommen werden öder wäre dann Schuld des Ge-
meinwesens selbst — und darnach sind die Dienste auch halbwegs
zu honorieren. Aber wie kärglich wieder ist die Aufbesserung in
einer neuesten bezüglichen Vorlage zugemessen, offenbar mit
394
Rücksicht auf die derzeitige Finanzlage und nicht in gerechtem
Vergleich weder mit dem Dienst der Leute, noch mit der Besol-
dung anderer Beamtenklassen.
Ähnlich ist das Verhältnis der Staatsarbeiter zum Kanzlei-
personal. Auch sie gelten für weniger und sind schlechter bezahlt,
während selbst ein Straßenkehrer, der seinen Besen tüchtig zu
handhaben versteht, eine größere Kunst beweist und auch nütz-
lichere Arbeit liefert als ein Kopist, |der nicht mehr als den Feder-
halter zu führen vermag, in der Privatwirtschaft, die zu rechnen
und abzuschätzen versteht, ist das Verhältnis denn auch eher
umgekehrt; die bloßen Schreiber sind so ziemlich die schlechtest
besoldeten Angestellten, worüber sich nur wundert, wer das richtige
Maß für den verschiedenen Wert der einen und der andern Art
Arbeit verloren hat. Daher denn auch das Überlaufen offener
Staatskopistenstellen mit Bewerbern aus Privatbureaux. Aber auch
der Staat hat keinen Anlass, die unproduktive Arbeit der Schreib-
stuben durch höhere Löhne zu bevorzugen, will er nicht der
Handarbeit und damit auch dem Handwerk Abbruch tun. Das
tröstliche Wort: „Handwerk hat einen goldenen Boden", sollte
vor allem er gelten lassen.
Es soll überhaupt keine Besoldungsordnung aufgestellt werden
ohne Berücksichtigung der übrigen, um auch diese nötigenfalls
entsprechend und zugleich zu ändern, und noch weniger soll eine
einzelne Stelle oder Person außer dem Rahmen begünstigt werden,
sonst gerät schließlich alles außer Maß und Verhältnis.
Eine Zugabe zu den Besoldungen bilden die Pensionen. Aber
solche kommen bei uns von Staatswegen nur für Beamte und
bis jetzt auch nur für zwei oder drei Klassen vor: für Polizei,
für Lehrer und Geistliche.
Für die Polizei sind Pensionen am ehesten gerechtfertigt,
und zwar aus dem gleichen Grunde wie beim Militär, wegen der
damit verbundenen Gefahr des Dienstes für Leib und Leben; jader
Polizeidienst ist noch gefährlicher als der Militärdienst, so lange
wir im Frieden leben und unter die blinden Patronen keine scharfen
geraten. Bei Lehrern und Geistlichen sagt man, der Beruf sei
Lebensberuf; aber bei andern öffentlichen Stellen ist es das Amt
unter Umständen auch, und anderseits sind die Kenntnisse des Lehrers,
wie die anderer Berufe und noch mehr, anderweitig verwertbar,
395
wie ja auch die Lehrer gelegentlich noch anderes nebenbei über-
nehmen. Die Pension ist aber für Lehrer gar nicht deswegen,
sondern zur Ergänzung der früher unzureichenden Besoldung
eingeführt worden, ein Grund, der heute wohl nicht mehr zutrifft.
Jedenfalls gilt es heute nicht mehr, dadurch einem Lehrermangel
abzuhelfen. Die Verhältnisse der zivilen Funktionäre gleichen
sich also nachgerade aus. Es ist denn in andern Kantonen die
Wohltat der Pension bereits auf die Beamten überhaupt ausge-
dehnt worden.
Warum aber sollten die öffentlichen Betriebe in dieser Be-
ziehung günstiger gestellt sein als die Privatwirtschaften? Es ist,
meinen wir, Pflicht des Staates, auf eine Volksversicherung so
gut wie auf Beamtenversicherung Bedacht zu nehmen, und unter
gleicher Beteiligung seinerseits. Er bezahlt seine Angestellten wie
ein Privatgeschäft die seinigen; in welchem Maß Privatfirmen das
tun sollten, gehört auf ein anderes Blatt und macht zum Teil
die große Arbeiterfrage aus. Für das weitere haben die Ange-
stellten da wie dort, beim Staat so gut wie bei Privaten, in erster
Linie selbst zu sorgen, und so auch für die Versicherung in alten
und kranken Tagen. Es soll vom Staat keine Beamtenversiche-
rung aus sich eingerichtet werden, und so auch keine Volks-
versicherung. Aber wie der Staat die Bildung von Beamtenver-
sicherungen fördert und ihren Bestand durch seine Unterstützung
sichert, so sollte er auch zur Bildung von Volksversicherungs-
verbänden aufmuntern, indem er dafür staatliche Unterstützung
in Aussicht stellt. Es geht über die Aufgabe des Staates hinaus,
sich selbst als Versicherungsunternehmer aufzutun, und ander-
seits ist es finanzwirtschaftlich kaum statthaft, große Summen
auf einen Stock zu schlagen, bevor Verwendung dafür da ist,
während die Staatsverwaltung an Defiziten laboriert und das
Volk um so mehr in Kontribution gesetzt werden muss. Der
Kanton Zürich hat 1911 ein Gesetz für eine kantonale Invalidi-
tätsversicherung beschlossen und dafür einen Fonds angelegt, der
sich mit Ende des genannten Jahres auf über anderthalb Millio-
nen belief. Damit begab man sich auf eine Bahn, die entweder
noch lange für das Volk fruchtlos bleiben oder dann erdrückende
Folgen für den Staat haben kann.
Statt dessen hätte man die Bildung entsprechender Verbände
396
vorsehen und gleich mit ihrer Einrichtung die staath'che Unter-
stützung beginnen sollen. Der eine Verband würde dem andern
gerufen und so die Volksversicherung einen Gang genommen
haben, dem der Staat zu folgen vermocht hätte. So hätte man
bereits etwas davon, und wer schnell gibt, gibt doppelt. Es ist
grundfalsch, demoralisierend für das Volk und ruinös für den
Staat, immer alles von diesem zu erwarten, statt zunächst
die Kräfte der Einzelnen nach ihrer Leistungsfähigkeit zusam-
menzufassen und den Staat erst und nur insoweit anzuspan-
nen, als jene nicht ausreichen. Übrigens geht diese Betrach-
tung bereits über das Beamtentum hinaus und auf das Gebiet
der Wohlfahrtspflege hinüber, die an anderer Stelle noch zu be-
rühren ist.
Zum Schluss des Abschnittes noch ein Wort von der be-
strittensten Beamtung, dem Bezirksrat, dem Mittelglied zwischen
Zentral- und Lokalverwaltung. Die wenigsten Kantone erlauben
sich diesen Luxus, nicht größer als die meisten überhaupt sind —
und auch größere als der Kanton Zürich kommen ohne ihn aus.
Im Kanton Zürich selbst ist der Bezirksrat eine neuere Erfindung.
Zunächst gab es nur ein Oberwaisenamt im Bezirk, eingeführt
1803, das dann 1831 zum Bezirksrat erweitert wurde, und zwar
wohlverstanden, hauptsächlich um als erste Instanz in Verwaltungs-
streitigkeiten zu dienen, der rechtsstaatlichen Idee Ludwig Kellers
zulieb, die Treppeninstanz des Zivil prozesses auf das Verwaltungs-
streitverfahren zu übertragen. Abgesehen davon, dass dieser mehr-
stufige Instanzenzug auch in der Rechtspflege ein zweifelhaftes
Volksglück ist, hat er sich bei der Verwaltung jedenfalls nicht
bewährt. Gerade in dieser Beziehung ist der Bezirksrat heute da^
fünfte Rad am Wagen, insofern als er kaum einen erheblichen
Entscheid fällt, der nicht an den Regierungsrat weiter gezogen
würde, so dass diesem dadurch nichts erspart bleibt. Um ihn
zu beschäftigen sind ihm dann noch weitere Kompetenzen zu-
geteilt worden, statt dass er umgekehrt, sobald sich seine eigent-
liche Aufgabe als überflüssig erwies, überhaupt abgeschafft worden
wäre. Auch die Bezirke sind erst 1831 von früheren 5 auf 11
vermehrt worden.
Als man dann 1901 an die Revision der Bezirksbehörden
ging und es sich fragte, ob die Bezirksräte nicht überhaupt abzu-
39T
schaffen oder wenigstens die Zahl der Bezirke zu vermindern sei,
wurde die Frage damit beantwortet, dass man die früheren Tag-
gelder durch fixe Besoldungen ersetzte. Damit hat man nicht
nur diese von jeher auf der Überzähiigenliste stehende Beamtung
noch mehr befestigt, sondern auch wider den Grundsatz ge-
sündigt, dass nicht-ständige Beamtungen, wie es der Bezirksrat
bis zum Umfallen ist, keine fixen Besoldungen, sondern bloß
Taggelder erhalten sollen — beides wieder auf Unkosten des
Staates. Und die Besoldungen sind dazu noch so angesetzt wor-
den, dass ein Herr Bezirksrat einmal erklärte, eigentlich nicht zu
wissen, wofür er seine Besoldung beziehe. Seither jedoch ist diese
abermals erhöht worden.
Wenn es denn schon wegen der Bezirksgerichte Bezirke
geben soll, so dürften für die Verwaltung gelegentlich versammelte
Abordnungen der Gemeinden zur Besprechung der Interessen
des Bezirkes, also Bezirkskonferenzen vollständig ausreichen, für
die es gar kein Taggeld brauchte oder für die die Gemeinden auf-
kommen sollten. Warum keine Ehrenämter mehr? warum sollte
der Bürger nicht auch noch etwas für das Gemeinwesen tun und
mit der Ehre davon sich begnügen? Namentlich für nur ge-
legentliche und wenig Zeit in Anspruch nehmende oder auf eine
beliebige Zeit verlegbare Amtshandlungen. Sonst kommt man
noch dazu, den Bürger für seinen Gang zur Urne zu bezahlen,
was übrigens auch schon vorgeschlagen worden ist. Statt dessen
für alles Bezahlung und gleich fixe Besoldung, und diese noch
möglichst hoch! Kein Wunder, wenn unter der Last der Staat
und unter dem Staat schließlich der Steuerzahler erdrückt wird.
Freier, leichter!
III.
Wenden wir uns den gesetzgebenden Organen und ihrer
Tätigkeit zu, so stehen in erster Linie die politischen Volksrechte.
Sie sind ein teuer Gut, nicht nur weil sich in ihnen die Demo-
kratie ausspricht, sondern sie kosten Geld und sollten daher um
so weniger unnütz, üppig oder leichtfertig gebraucht werden.
Und wenn sie gar noch den Überdruss des Volkes selbst er-
wecken, wie gelegentlich geklagt wird, so ist es daran jedenfalls
zuviel. Eine Volksabstimmung kostet den Kanton rund 7000 Fr.
398
Es lohnt sich also schon, ihre Zahl möglichst zu beschränken,
ungerechnet den Vorteil, der Unlust daran zu begegnen, ihre
Bedeutung und die Beteiligung dabei zu erhöhen. Besser als die
Stimmberechtigten durch Strafgelder zur Urne zu treiben ist es,
die Gänge zur Abstimmung zu vermindern; der Appetit wird
dann schon kommen. Wenn in einem Jahr, wie es auch schon
vorgekommen ist, vier oder fünf Mal das Volk zur Abstimmung
gerufen wird, so ist das neben den vielen Wahlen und Gemeinde-
abstimmungen allerdings viel, und wenn auf eine Abstimmung
schon nach drei Monaten oder gar schon im folgenden Monat
eine andere folgt, so erscheinen sie etwas zu rasch aufeinander.
Die Verfassung setzt ein Frühjahrs- und ein Herbstreferen-
dum fest, und darnach ließen sich die Vorlagen einrichten; diese
beiden Abstimmungszeiten könnten zu einer Art von Lands-
gemeindetagen erhoben werden; sie bezeichneten die ordentlichen
Referenda, außer denen es nur ganz außerordentlicherweise zu
einer Abstimmung käme. An die kantonalen Abstimmungen
schlössen sich dann verständigerweise die Gemeindereferenda, wie
es übrigens bereits zu geschehen pflegt, und eine Ausnahme in
der Verlegung jener träte nur ein, wenn eidgenössische Abstim-
mungen einfielen, nach denen sich die kantonalen ihrerseits zu
richten hätten. Aber so wie es ist, gehen ordentliche und außer-
ordentliche kantonale Abstimmungen unterschiedslos durchein-
ander. Es gilt zwar als politische Klugheit, gelegentlich zwei Ab-
stimmungen zu trennen, um nicht die eine Vorlage durch die
andere zu Fall zu bringen; aber man kann auch zu gewunden
und zu wenig gerade vorgehen; das Volk merkt dann leicht die
Absicht und wird verstimmt.
Überhaupt klagt man über die Gesetzgebungssucht des mo-
dernen Volksstaates; sie liegt aber weniger am Volk, als an den
gesetzgebenden Behörden. Das Volk hat bei uns ja wohl auch
das Recht, Gesetze aufs Tapet zu bringen, und hat dafür nicht
nur einen, sondern gar vier Wege: Einzelinitiative, Behördenini-
tiative, Gemeindeinitiative und dazu erst noch die eigentliche
Volksinitiative, die Kollektiv- oder Masseninitiative von 5000
Unterschriften. Die drei ersten kommen sonst nirgends vor und
sind auch zu viel, schaden aber wenig, weil sie fast nicht ge-
braucht werden. Und von der Masseninitiative könnte es sich
399
fragen, ob nicht die Zahl der Initianten bei nächster Gelegenheit
erhöht werden sollte, und zwar nicht nur um das, was sie seit
Erlass der Verfassung durch Vermehrung der Stimmberechtigten
verhältnismäßig gesunken ist, sondern noch weiter, um sie mehr
zu beschränken, als es von Anfang der Fall war. Je höher die
Zahl, um so weniger wird die Initiative für alle Einfälle miss-
braucht, und um so größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass
sie von der Mehrheit der Stimmberechtigten angenommen werde
und nicht nutzlos vergeudet sei. Aber auch der Gebrauch der
Masseninitiative ist schon so nicht allzuhäufig. Übrigens hat sie
schon gutes gebracht, wie die Abschaffung der Schuldenschreiber,
dieser Fronvögte des Volkes, und die Einrichtung der Korrektions-
anstalten, eines fast gleich den Gefängnissen unentbehrlichen Insti-
tutes, und was von der Steuerfußinitiative in Wahrheit zu halten
war, haben wir oben gesagt. Der Rest der Gesetzgebung liegt bei der
gesetzgebenden Behörde, und damit kommen wir zum Kantonsrat.
Die Zahl einmal der Kantonsratsmitglieder ist entschieden zu
groß. Es ist zwar im Lauf von bald einem halben Jahrhundert
geglückt, die ursprüngliche Verhältniszahl von 1200 (ein Mitglied
auf 1200 Seelen) in zwei Malen je etwas zu erhöhen: 1878 auf
1500 und endlich 1911, nach langem und zähem Widerstand
des Kantonsrates selbst, auf 1800. Infolge der Initiative Walder
ist 1894 auch die Repräsentationsbasis geändert worden, indem
seither die Vertretung nicht mehr nach Seelen oder Einwohnern
schlechthin, sondern bloß nach Schweizerbürgern bemessen wird,
und damit ist wiederum die Vertreterzahl vermindert worden.
Aber die Zahl ist immer noch zu groß, mit Rücksicht darauf,
dass die Haupttätigkeit des Kantonsrates, die Gesetzgebung, seit
1869 auf das Volk übergegangen ist, und er nur noch eine vor-
beratende Kommission darstellt. Die von früheren Jahrhunderten
hergebrachten „Zweihundert" haben mit dem Übergang zur rei-
nen Demokratie ihre Bedeutung verloren, und schon 1869
wurden sie nur als ein Mittel in die neue Verfassung hinüber-
genommen, um dieser desto eher zur Annahme zu verhelfen.
Die Verhältniszahl war also eine Art Übergangsbestimmung, wie
es deren noch andere in der Verfassung gibt, ohne dass sie
als solche erkannt wären und also inzwischen ihre Aufhebung
oder Änderung gefunden hätten.
400
Eine zu große Zahl von Beamten geht aber hier wie auf
andern Seiten der Staatsverwaltung ins Geld; beim Kantonsrat
nicht nur weil Überzählige zu bezahlen sind, sondern auch weil
je größer die Zahl, um so schleppender und länger die Verhand-
lungen sind, und bei einer allzu fruchtbaren Gesetzesproduktion will
die Ausgabenvermehrung nicht enden. Es fehlte nur noch, dass
wegen der Überzähligen ein neues und größeres Rathaus gebaut
würde und man damit den Architekten in die Hände fiele; was
diese kosten, weiß man schon aus der Renovation des alten ^).
Wenn am Ende der größeren Zahl eine um so bessere
Fühlung mit dem Volke, das schließlich über die Gesetze zu
entscheiden hat, und damit ein um so sicherer Gang der Gesetz-
gebung zu verdanken wäre; aber nicht einmal das ist der Fall,
nach den vielen vom Volk oft gegen alles Erwarten der Behörde
verworfenen Gesetzen zu schließen. Die Mitglieder scheinen viel-
mal die Stimmung der von ihnen vertretenen Kreise nicht zu
kennen oder vor ihr nichtgehörig zu warnen, was zum mindesten
ihre Aufgabe wäre, und also auch in dieser Beziehung nicht
mehr zu leisten als eine engere Kommission, auf die die Behörde
zu beschränken sich daher um so mehr rechtfertigte.
Was sodann die Zusammensetzung betrifft, so war das Mittel
der Inititiative Walder, wodurch die Ausländer, die von jeher und
ohnehin von der Vertretung im Rat ausgeschlossen sind, auch
von der zu vertretenden Bevölkerung abgeschnitten wurden, ja
wohl grundsätzlich falsch. Für die Ausländer werden die bürger-
lichen Gesetze nicht weniger als für die Inländer erlassen, wie
sie denn auch wie diese den Gesetzen zu gehorchen, die gleichen
Steuern zu bezahlen haben und anderseits auch zum schweize-
rischen Wohlstand beitragen. Aber der Zweck der Initiative, eine
Verminderung der städtischen Vertretungen oder vielmehr eine
1) Diese Renovation, die aus einem allgemeinen zürcherischen Reno-
vationsfieber entspringt, war nicht nur das überflüssigste, sondern das un-
künstlerischte Ding der Welt; die schöne Patina gehörte zum Stadtbild,
dieabgewalmten neuen Lukarnen widersprechen direkt des Absicht der alten
Architekten, und wie man die alten Dachtraufen geändert hat, ist für jeden
Menschen mit künstlerischem Feingefühl einfach unverständlich. Es ist
wirklich tragisch, dass, wenn unser Staat einmal für künstlerische Zwecke
Geld springen lassen will, statt Kunst gerade Unkunst und tolle Ver-
schwendung herausschaut. a. b.
401
verhältnismäßig stärkere Vertretung der Landschaft herbeizu-
führen, erschien ganz berechtigt. Es handelt sich nicht nur um
die Interessen der Bevölkerung, sondern auch des Landes, des
Gebietes, und darnach soll die Vertretung bemessen und verteilt
werden.
Wenn ein hoher Kantonsrat zwar sonst nicht mit einer
Gendarmerie verglichen werden darf, noch weniger von ihr wird
lernen wollen, so gibt sie doch in dieser Beziehung das Beispiel:
richtig organisiert wird sie nicht nur nach der Zahl der Bevölke-
rung, sondern auch nach dem Umfang des Gebietes bestellt, das
sie ebenso gut wie jene zu überwachen hat. Nur fehlt es noch
an einer Formel für die Verhältniszahl, die beide Faktoren zu-
gleich berücksichtigte, wenn sie sich überhaupt auffinden lässt
und nicht zur Quadratur des Zirkels gehört. Aber ist nur der
Grundgedanke richtig, so wird bei der Ausführung das Gefühl
zum Richtigen helfen, wie es zum Beispiel im Steuerrecht bei
der Bestimmung der Progressionskurve geschah.
Ob nicht eine Vertretung nach den lebenden Interessen
von Ständen oder Berufsklassen das Richtigere wäre statt nach
toten geographischen Kreisen, soll nur eine Frage sein, die
auch schon und vielfach gestellt worden ist. Jedenfalls kennt der
Kanton keinen Ausschluss eines Standes, auch der Geistlichen
nicht, die ja im Kanton ganz ungefährlich sind. Hingegen leidet
der Rat an einem Übermaß von Advokaten, die mit ihrer Unbe-
fangenheit und Mundfertigkeit den Rat beherrschen. Die Advo-
katen aber sind die unproduktivste und am Volk am meisten
zehrende Klasse und daher zu wirklich fruchtbarer Arbeit für
das Volk am wenigsten geeignet. Selbst da, wo sie für die Be-
ratung am unentbehrlichsten erscheinen, bei Gegenständen der
Rechtsordnung, stehen ihre Interessen einem volksmäßigen Recht,
einem einfachen und klaren materiellen Recht und einer schnellen
und billigen Rechtspflege, schlechterdings entgegen. Um so mehr
dürfte ihre Vertretung auf den Prozentsatz ihres Standes beschränkt
und dafür die andern Vertretungsgruppen desto mehr verstärkt
werden. Was an juristischen Kenntnissen im Rate nötig ist, könn-
ten auch sonstige Vertreter dieser Wissenschaft, Gelehrte und
Beamte, deren es noch genug gibt, bieten.
(Fortsetzung folgt)
402
ZUR SPARKASSENFRAGE
Die letzten Jahre haben uns allerlei Überraschungen im Bank-
wesen gebracht. Dass eine Sparkasseneinlage nicht so ohne
weiteres sicher aufgehoben ist, diese bittere Erfahrung haben viele
kleine Leute machen müssen. Sie haben sie gemacht in Aadorf,
Eschlikon, Biel, Saignelegier, Kloten, Herzogenbuchsee usw. Die
Lehre, die man aus den betrübenden Vorkommnissen zog, war
die: in Kantonen, wo keine eigentlichen Sparkassengesetze be-
stehen, muss entweder ein solches Gesetz geschaffen werden oder
dann eine regelmäßige Kontrolle durch einen sogenannten Re-
visionsverband einsetzen. Der Kanton Bern zog die Konsequenz
aus den misslichen Erfahrungen in seinem Wirtschaftsgebiet. Kaum
hat sich der letztes Jahr konstituierte Revisionsverband an die
Arbeit gemacht, zeigen sich bei der Spar- und Kreditkasse Burg-
dorf Unterschlagungen, die auf 34 Jahre zurückgehen und die
kein Revisor je entdeckte. Der Fall in Burgdorf ist aber durch
die neuesten Vorfälle in Bremgarten in den Schatten gestellt
worden. Die mit der Untersuchung betrauten Instanzen erklären
rundweg, die Unordnung sei dort so groß, die Buchhaltung der-
art im Rückstande, dass eine „längere Untersuchung" — für ein
kleines Landinstitut! — nötig sei, um Ordnung in die Sache zu
bringen. Es muss befürchtet werden, dass auch die Spargelder
und Obligationen von der Katastrophe betroffen werden. Und da
erhebt sich denn gleich die Frage: wie kommt es denn überhaupt,
dass Spargelder solchen Gefahren ausgesetzt sind, dass sie in
riskanten Geschäften Anlage finden? Es muss dabei von folgen-
dem ausgegangen werden : Die meisten Sparkassen verdanken bei
uns der gemeinnützigen Initiative ihr Entstehen. Trotzdem das
Sparkassenwesen bald mehr als anderthalb Jahrhundert zurückreicht,
ist die Erkenntnis von dessen volkswirtschaftlicher Bedeutung spät
gereift. Ein erster Kenner der Materie, M. Seidel in München,
hat uns in seinen Ausführungen gezeigt, dass noch Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts die „Times" in England und der
„National" in Frankreich gegen die Sparkassen Partei genommen
haben. Man hat den Anstalten den Vorwurf gemacht, dass sie
die Ansprüche der Einleger vermehren, ohne dass die gemachten
Ersparnisse groß genug wären, dieselben aus ihrer bisherigen Lage
403
herauszureißen; dass sie den Individualismus fördern, indem sie
die Bande von Schuldner und Gläubiger lockern und auflösen.
Diese Anschauungen haben sich überlebt. Heute wird das Sparen
als eine unentbehrliche Tugend und ein wichtiges Heilmittel gegen
die sozialen Schäden angesehen.
in dieser Hinsicht ist zwar eine Überschätzung leicht möglich,
denn die Zufälligkeiten des wirtschaftlichen Lebens treffen die
Arbeiterklasse weit härter und nötigen sie häufiger zum Aufbrauchen
zurückgelegter Ersparnisse. Seidel schreibt über Deutschland, das
Sparen und die Beförderung des Sparsinnes erscheine als wirk-
sames Mittel, um der Ausbreitung der Sozialdemokratie entgegen
zu wirken. Schon die Übung im Sparen und der Besitz von Er-
sparnissen übe auf das sparende Individuum einen günstigen Ein-
fluss aus und bewahre es vor kommunistischen Ideen.
Auch ein Teil der Sozialdemokratie ist von der Ansicht zu-
rückgekommen, das Sparen habe für sie keinen Wert wegen der
Kleinheit der Beträge, die noch im günstigen Falle auf die Seite
gelegt werden können. Der Ausspruch einer internationalen
Arbeiterversammlung in Marseille: „L'ouvrier qui epargne est un
traitre" wird nicht mehr so ohne weiteres anerkannt. Soeben
erklärt Edmund Fischer in den Sozialistischen Monatsheften
(Heft 11, Jahrgang 1913), es wäre ganz sinnlos und unverständ-
lich, wenn sich die Sozialdemokratie heute noch gegen die Be-
strebungen richten wollte, die darauf hinzielen, es den Arbeitern
in der bürgerlichen Gesellschaft schon so wohnlich und angenehm
wie nur möglich zu machen. Die im eigenen Häuschen wohnen-
den Arbeiter mit kleiner Kinderzahl würden sich als die besten
Kämpfer für den Sozialismus erweisen. (?)
Auch in der Schweiz hat sich das Sparkassenwesen unter der
Herrschaft der freien Konkurrenz anders gestaltet, als es in der
ursprünglichen Absicht der Schöpfer dieser Institution lag. Die
philantropischen Gesichtspunkte sind immer mehr zurückgetreten,
der Erwerbszweck ist in den Vordergrund gerückt.
Mit Recht betonte im Jahr 1901 der Bericht des Schweizeri-
schen Handels- und Industrievereins, dass man unter der Herr-
schaft der freien Konkurrenz den eigentlichen Zweck der Spar-
anstalten vielfach aus den Augen verloren habe. Weitaus der
größte Teil der gesamten Spargelder fließt heutzutage jenen Insti-
404
tuten zu, welche alle Spareinlagen einfach als Betriebsmittel
betrachten und verwenden, bestimmt, ihren Inhabern einen
möglichst großen Gewinn abzuwerfen. Es sind dies große Bank-
institute, Kantonalbanken, sodann die Spar- und Leihkassen, denen
die Spargelder neben den Obligationen und Kontokorrent-Kredi-
toren einen Teil des Betriebskapitals für das Darleihensgeschäft
liefern. Bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts lag das
Handelsbankgeschäft auch in der Schweiz fast ausschließlich in
Privathänden; die Institute der Jahre 1810 bis 1850 sind zu 86
Prozent Sparkassen gewesen, in der Absicht gegründet, dem
kleinen Geldbesitzer einen sichern Aufbewahrungsort neben mäßiger
Rendite zu bieten.
Heute fallen die eigentlichen Sparkassen, die von Genossen-
schaften oder von gemeinnützigen Männern fundiert und zum
großen Teil auch von solchen verwaltet wurden, weniger ins Ge-
wicht. Diese gemeinnützigen Kassen, die schließlich doch auch
mit ihren Spargeldern Geschäfte machen müssen, vor allem
Hypothekargeschäfte, haben sich überlebt. Nach den heute im
Bankwesen herrschenden Ansichten verlangt man von den Insti-
tuten, die fremden Kredit heranziehen, ein eigenes Kapital, nicht
nur einen Reservefond, wie ihn die meisten dieser auf gemein-
nütziger Basis ausweisen als alleiniges Eigenkapital. Ob der
Gewinn aus dem Geschäftsbetrieb als Dividende verteilt oder in n
den Reservefond fließt, kommt für die Sicherheit der bei dem
Institute angelegten fremden Gelder nicht in Betracht.
Der frühere Banknoteninspektor Scherer stellte schlankweg
für sämtliche Sparkassen ein Minimalerfordernis an eigenem
Kapital von zehn Prozent der Spareinlagen auf; andere hielten
jegliche bureaukratische Schabionisierung für widersinnig. Nach
dem oben erwähnten Bericht des Schweizerischen Handels-
und Industrievereins wurde gegen den Vorschlag wohl mit Recht
eingewendet, es komme darauf an, welche Art Geschäfte eine
Sparkasse (im weitesten Sinne des Wortes) betreibe, ob sie viel
Kontokorrent-Verkehr habe, oder gar ungedeckten Kredit gebe,
ob sie in der Belehnung von Grundeigentum einen weiteren
Spielraum habe, oder ob sie zum Beispiel streng an das Erfor-
dernis eines doppelten Unterpfandes gebunden sei.
405
Die Spareinlagen als fremde Betriebsmittel spielen namentlich
bei den Kantonalbanken mit den Leihkassen eine große Rolle.
Es gibt Institute, bei denen sie bis zu dreißig und mehr Prozent
der Bilanzsumme ausmachen. Die gesonderte Geschäftsführung
und die Ausscheidung einer SpezialSicherheit — nach dem st. galli-
schen Gesetz beträgt die vorgeschriebene Deckung der Sparkassen-
einlagen 110 7« — wird nur da vorgenommen, wo das Gesetz
dazu zwingt. Würde diese Sicherheit ohne weiteres geleistet, so
wären die meisten Klagepunkte gegen das moderne Sparkassen-
wesen aus der Welt geschafft. Den Handelsbanken passt eine
derartige Sicherheitsleistung nicht in ihren Geschäftsbetrieb.
Der um die Regelung des Sparkassenwesens hochverdiente
verstorbene Kantonstatistiker E. Naef nennt vier Formen der Ein-
mischung des Staates in das Sparkassenwesen : 1. Der Kanton oder
die Gemeinde ist Selbstgründer und Verwalter der Sparinstitute.
2. Der Kanton oder die Gemeinde gewährt den Sparkassen die
staatliche oder kommunale Haftung. 3. Der Kanton stellt die Kassen
unter besondere Aufsichtgesetze. 4. Der Kanton beschränkt sich
auf die allgemeinen Vorschriften betreffend die juristischen Per-
sonen. Nach den Feststellungen Naefs ist in der Schweiz bei
der Natur der Sparkassen als im öffentlichen Interesse errichteten
Anstalten die Teilnahme des Staates (Kantone) und der Gemein-
den im Gegensatz zu anderen Ländern eine sehr beschränkte;
sie erstreckt sich kaum über zwölf Prozent aller Kassen. Auch
als Anstalten des öffentlichen Rechts ist bis jetzt nur ausnahms-
weise deren Errichtung von staatlicher Genehmigung abhängig.
Diese Feststellungen verdienen bei der Würdigung unseres ein-
heimischen Sparkassenwesens ganz besonders beachtet zu werden.
Eigentliche Sparkassengesetze bestehen unseres Wissens bisher
nur in zwei Kantonen zu Recht: in Freiburg (1862) und St. Gal-
len (1892). Verschiedene Kantone, so Zürich und Luzern, sind
auf dem Wege zu einer solchen Gesetzgebung. Im Jahre 1899
wurde in Zürich ein entsprechender Entwurf abgelehnt. Im Zürcher
Kantonsrate forderte der jetzige Bundesrat Forrer als Minimum
von dem Gesetze: „jährliche und öffentliche Rechnungslegung und
ein gewisses Verhältnis zwischen Einlagen und Deckung."
Das St. gallische Gesetz fordert die Deckung des Gesamt-
einlagekapitals durch solide Werttitel ; für zehn Prozent dieses
406
Sparkapitals muss eine weitere unbezahlte Sicherheit (Aktien-
kapital und Reservefond) vorhanden sein. Verlangt wird besondere
Buchführung und Lostrennung des Sparkassengeschäftes von jedem
andern. Der Artikel 4 des Gesetzes bestimmt: „Die für die Spar-
kassengarantie angewiesenen Titel haften in erster Linie den Spar-
kasseneinlegern für ihre Guthaben."
Die St. gallische Kantonalbank ist dem Gesetze nicht unter-
stellt, weil für sie Staatsgarantie besteht. Inwieweit eine solche in
den einzelnen Kantonen sich erstreckt, — auf das Dotationska-
pital oder auch auf die Gesamtengagements — ist heute wohl
noch eine nicht absolut geklärte Frage.
Fallen denn, so wird man fragen, die Depositen und Obli-
gationen ebenfalls unter eine gesetzliche Bestimmung? Darüber
besteht unseres Wissens in keinem Kanton eine Vorschrift; unsere
eidgenössische und unsere kantonale Gesetzgebung hat sich
bisher nur zweierlei Transaktionen angenommen : des Banknoten-
geschäftes (jetzt Monopol der Schweizerischen Nationalbank) und
des Sparkassengeschäftes. Würde bei uns der Pfandbrief sich im
Verkehr eingebürgert haben, so lägen die Dinge wesentlich
günstiger. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch sieht in den Art.
916 bis 919 dieses Instrument vor. Darnach können die von den
zuständigen kantonalen Behörden bezeichneten Anstalten für den
Grundpfandverkehr Pfandbriefe ausgeben mit Pfandrecht an den
ihnen gehörenden Grundpfandtiteln und an anderen, ihrem ordent-
lichen Geschäftskreis entspringenden Forderungen. Diese Pfand-
briefe haben die Eigentümlichkeit, dass sie für den Gläubiger
unkündbar sind. Die Bundesgesetzgebung hat bisher die Bedin-
gungen, unter denen die Ausgabe solcher Pfandbriefe erfolgen
darf, noch nicht festgesetzt und auch noch nicht über die Ein-
richtungen solcher Anstalten legiferiert. Es ist zu wünschen, dass
man mit tunlicher Schnelligkeit an die Ausführung dieser grund-
sätzlichen Bestimmungen gehe. Das deutsche Hypothekenbank-
gesetz vom 13. Juli 1899 enthält in den Paragraphen 29 ff Be-
stimmungen über den Treuhändler. Bei jeder Bank ist ein solches
Organ zu bestellen. Der Treuhändler hat nach dem Wortlaut des
Gesetzes darauf zu achten, dass die vorschriftmäßige Deckung
für die Hypothekenpfandbriefe jederzeit vorhanden ist; er hat dar-
auf zu achten, dass die zur Deckung der Hypothekenpfandbriefe
407
bestimmten Hypotheken gemäß den Vorschriften des Gesetzes
in das Hypothekenregister eingetragen werden.
Es ist so gut wie sicher, dass mit der Einführung des auf
eine gesetzhche Grundlage sich stützenden Pfandbriefes die Aus-
<l, gäbe von Obligationen in der zur Zeit herrschenden Weise fort-
• gefahren wird. Die Bedenken, die vom Standpunkte des mittel-
ständischen Kredites aus gegen die zu schaffende Postsparkasse
erhoben werden, lassen deutlich erkennen, dass die Banken, welche
zur Deckung dieses Kreditbedarfes in Frage kommen, auch in
Zukunft nach wie vor in den Kassaobligationen einen großen
Bestandteil der fremden Betriebsmittel erblicken.
Was muss geschehen? Es ist bei jedem Zusammenbruch
gesagt worden: die Banken, welche Spargelder, Depositen, Obliga-
tionengelder annehmen, müssen ihre Gelder bankmäßig verwenden.
Die kleineren Institute leiden unter der Konkurrenz der Mittel
banken und Großbanken. Daran ist nun einmal nichts zu ändern ;
der Zug ins Große, zur Konzentration liegt im Charakter unserer
Zeit. Er äußert sich nicht im Bankwesen allein, sondern noch
viel mächtiger in der Industrie und bis zu einem gewissen Grade
auch im Handel. Es muss eine wirksamere Kontrolle einsetzen,
sei es durch einen Revisionsverband oder durch den Staat, soweit
das Sparkassengeschäft in Frage kommt. Die zweite Lösung wird
aus den vorhin angegebenen Gründen eine Halbheit bleiben, weil
sie nur die Spareinlagen erfasst. Werden die Bedingungen für die
Banken zu sehr durch den Staatseingriff erschwert, so ist die
Folge die: es wird Zuflucht zu anderen Formen genommen.
Man nennt das Kind anders, statt Spareinlagen Depositen. Und
vor allem werden die Kassaobligationen namentlich bei solchen
Instituten noch mehr zunehmen, die nur schwache eigene Mittel
besitzen. Staatliche Sicherstellung der Spareinlagen und im übrigen
Kontrolle durch einen Revisionsverband, das sollte die Forderung
sein. Damit wäre beiden geholfen: den Sparkassen- und Obliga-
tionengläubigern.
Die Debatten in unseren kantonalen Parlamenten bringen in
den seltensten Fällen wirtschaftliche Probleme der Lösung erheb-
lich näher. Was jeweilen zum Thema gesprochen wird, über-
schreitet kaum den Rahmen einer manchmal wohl interessanten
subjektiven Betrachtungsweise und erhebt sich selten auf. ein Ni-
408
veau, das demjenigen, der die Probleme berufsmäßig verfolgt,
einigen Respei<t einflössen könnte. Wir haben in unserem Lande
bis in die letzten fünfzehn Jahre wirtschaftliche Fragen allzu
stiefmütterlich behandelt; die ältere Schule, von einigen bedeu-
tenden Köpfen abgesehen, lebt noch immer in dem Wahne, derlei
Probleme lassen sich so ganz nebenbei lösen. Es ist hohe Zeit,
dass unser legislativer Apparat von den Gesetzen des logischen,
ökonomischen Denkens durchdrungen und der geistlose bureau-
kratische Formelkram endgültig verabschiedet wird.
Das Sparkassenwesen bedarf also einer gründlichen Reform;
in jenen Kantonen, wo keine Schutzgesetze bestehen, müssen sie
geschaffen werden; unabhängig von der Staatskontrolle sollte die-
jenige eines Revisionsverbandes über den ganzen Geschäftsbetrieb
bestehen.
Der Ruf nach einem eidgenössischen Sparkassengesetz will
heute nur heißen: es bleibt für manche Jahre beim alten. Wie
unbeweglich ist der Bund, wenn es sich um den Ausbau der
wirtschaftlichen Gesetzgebung handelt! Und wie rasche Arbeit
wird im Vergleich dazu in anderen Ländern, namentlich in Deutsch-
land geleistet. Wenige Monate, nachdem die Wertzuwachssteuer
von einigen Gruppen der Linken vorgeschlagen wurde, lag auch
schon das fertige Projekt vor. Bei der Schwerfälligkeit unserer
politischen Maschinerie muss man leider Gottes immer mit Jahren
rechnen. Was für ein Schneckentempo schlägt man beispielsweise
bei der eidgenössischen Gewerbegesetzgebung ein. Vor Jahren
haben wir schon über den Verfassungsgrundsatz abgestimmt; und
trotzdem: von einer Gesetzesvorlage heute noch keine Spur.
Bis der Bund ihn schützt, kann noch mancher arme Teufel um
seine Spargroschen kommen. Die Vorgänge der letzten Jahre
gebieten, dass wenigstens vorläufig auf kantonalem Wege die
Spareinleger geschützt werden.
ZÜRICH PAUL GYGAX
•*«»ä»^
409
L ESPRIT POLITIQUE CHEZ
LES eCRIVAINS FRAN^AIS
AU COMMENCEMENT DU XX^ SIEGLE^)
II y a ä l'heure actuelle, dans la pensee publique et dans
le monde litteraire en France, une suractivite qui confine ä l'agi-
tation. Cela ne va pas sans malaise. C'est un de ces malaises
genereux gräce auxquels, periodiquement, s'atteste et se renou-
velle la vitalite d'un peuple. Le tourment, pour cela, n'en est que
plus vif, car ii est plein de hätes et d'impatiences.
Ce malaise vient, pour une bonne part, du trouble qui
existe entre l'esprit politique et l'esprit litteraire.
L'esprit politique, c'est le sens eveille des necessites de la
vie en commun et des aises ä y introduire, au profit des rela-
tions du pouvoir et des individus, au profit de la liberte et de
l'agrement des individus.
L'esprit litteraire, c'est un certain don de l'esprit et du lan-
gage individuel, projete, avec quelque chose d'eternel, sur tout
ce qui est autour, sur cette vie en commun, sur ce pouvoir, sur
ces autres individus ä proximite.
L'esprit litteraire et l'esprit politique ont, on le voit, des rap-
ports naturels et une communaute d'objet. Et l'esprit litteraire,
par sa vigueur divinatoire et expressive, doit evidemment rendre
de grands Services ä l'esprit politique.
Eh bien, aujourd'hui, apres tant de siecles et tant de col-
laboration, on n'est plus sur que l'esprit litteraire et l'esprit
politique aient lieu de demeurer etroitement unis. On decouvre,
entre eux, des meprises, des abus de confiance si j'ose dire, des
substitutions, des equivoques.
Dernierement, je causais avec un homme occupant une place
eminente dans la politique, et il me disait: „En France, on ignore
encore ce que c'est que l'esprit politique."
*) Texte d'une Conference falte ä Zürich, ä la Societe Wissen und
Leben, le 19 mai 1913.
410
Ce n'est, cependant, pas iaute d'avoir fait de la politique ?
11 faut donc admettre, sans doute, que, plus d'une fois, quand
on croyait cultiver l'esprit politique, on cultivait davantage encore
Fesprit litteraire; on s'imaginait faire de la politique; on faisait^
d'une fa^on deguis^e, de la litterature.
La vie politique ne veut plus etre de la litterature; l'esprit
politique ne veut plus dependre de l'esprit litteraire et, recipro-
quement, l'esprit litteraire est las de tous les sacrifices qu'il a
consentis ä l'esprit politique.
Voilä le fait, voilä !e debat.
C'est aux environs de 1900 que ce debat prit, pour les jeu-
nes ecrivains entrant alors dans la vie litteraire, une valeur dra-
matique et la forme d'un cas de conscience douloureux.
A la faveur d'une cause passionnante, la litterature s'etait re-
jetee, une fois de plus, au Service de la politique. Dans un sens
ou dans l'autre, peu importe.
Lesjeunes ecrivains suivirent le mouvement. Or, l'effervescence
passee, que vit-on? On vit des deboires apparaitre, pele-mele,
de tous cotes, et des rancunes se manifester sans menagements.
Les politiques suspectaient les intentions des litterateurs; les litte-
rateurs en voulaient aux politiques de les avoir amenes ä des
ingratitudes litteraires, ä des partis-pris de l'esprit litteraire, par
zele pour teile ou teile forme de l'esprit politique.
Politiques et litterateurs n'etaient pas convaincus de s'etre
utilement assistes, bien au contraire. lls regrettaient presque cette
mutuelle assistance qui, pourtant, avait ete enthousiaste.
Le mal, la gene ainsi reveles n'ont fait que grandir.
Mais quel avait donc ete le passe de ces relations de la lit-
terature et de la politique, quelle avait donc ete la nature de ces
Mens si fermes, de ces Souvenirs communs si tenaces et, sans
doute, si beaux pour que, brusquement, se determinät un pareil
desarroi, une pareille fatigue? Et quelle est la cause lointaine ä
iaquelle on peut attribuer cette espece de desaveu que la lit-
terature et la politique s'infligent mutuellement ?
II s'agit de choses assez complexes dont l'analyse n'est pas
commode.
La vie politique se partage, dans l'histoire de France, en
periodes de soumission et de silence, et en periodes de delibe-
411
rations et de discussions. Les unes et les autres s'entremelent;
mais il y en a toujours une qui enveloppe et domine l'autre.
Pendant que I'une est l'habitude, l'autre n'est que l'exception.
L'histolre de France se dispose ainsi en deux vastes versants,
le versant absolutiste avec des alternatives fugitives de vie poii-
tique deiiberante, et ie versant d'examen et de deiiberation avec
des alternatives d'absolutisme.
Or, l'esprit politique et l'esprit litteraire s'etant continuelle-
ment soutenus et aides, ayant eu tendance ä converger vers le
meme objet, on supposerait volontiers entre eux un parallelisme
rigoureux. On se figurerait qu'ils ne partagent leur objet com-
mun qu'en parfaite connaissance de cause, qu'en pleine lumiere.
Eh bien, pas du tout.
En France, la litterature et la politique ont toujours ete in-
times, meme quand la politique semblait n'avoir aucune raison
d'etre et ne pouvait esperer aucune consecration pratique. En
France, l'esprit litteraire, sans amoindrir ses propres facultes ni
son jeu fastueux et plein de caprice, a toujours eu tendance ä
anticiper sur l'esprit politique.
II est arrive que l'art litteraire fran(;ais, au milieu de l'obeis-
sance politique, a admirablement degourdi, en sourdine, l'esprit
politique. 11 est arrive aussi qu'au milieu de la liberte poli-
tique, et pour mieux servir la liberte politique, l'art litteraire s'est,
ä quelque degre, paralyse lui-meme. II est arrive, enfin, que, se
sentant parfois trop enchafne ä la politique, il a eu des degoüts
de l'esprit politique, au point de le repudier tout entier, au point
de rechercher d'avares et merveilleuses griseries de style. Cela
fait une destinee assez tourmentee, qui ne manque pas de con-
tradictions.
Donc trois aspects, trois formes des rapports de la litterature
et de la politique:
Un aspect combat!! et passionne oü la politique s'empare
violemment de la litterature, oü la litterature sert de toute sa force,
de toute son äme, la politique.
Un aspect schismatique oü elles se boudent, oü elles se de-
fient I'une de l'autre.
412
Un troisjeme aspect enfin, plus subtil, plus flexible oü, sans
se rendre compte qu'elles vivent cote ä cote, elles se poussent
secretement l'une l'autre, au gre d'une sorte de promenade con-
fidentielle; et c'est alors que la litterature, avec des airs inno-
cents, usurpe une terrible clairvoyance, et possede, ä l'egard de la
politique, d'admirables energies.
Et dans quelles proportions, ces trois aspects?
S'il est vrai qu'un esprit politique, arme de la force parti-
culiere que procure l'esprit litteraire, circule, discret et tout puis-
sant, ä l'instant oü l'etat de la vie politique ne leur permet au-
cune collaboration reelle, cela ne peut donc avoir eu lieu qu'au
temps de la monarchie, c'est-ä-dire pendant pres de six siecles
sur neuf.
Et, s'il est vrai que la litterature et la politique se soient
associees, accouplees avec une fougue de propagande melee ä
des sursauts d'impatience mutuelle, ä de jalouses reprises de soi-
meme, cela n'a eu lieu que pendant deux siecles ä peine.
Rien n'est plus net, rien n'est plus angoissant:
Quand il y a entre la litterature et la politique cette Har-
monie spacieuse, ingenue et comme irresponsable que j'ai dite,
c'est que le regime politique est clos, contraignant, c'est que la
vie politique n'a pas de voix ni guere de conscience et c'est le
cas des regimes absolus, 9'a ete le cas de six siecles de mo-
narchie.
Quand, au contraire, il y a entre la litterature et la politique
une Cooperation plus active, qui souvent altere ou irrite la pre-
miere au profit de la seconde, c'est que le regime politique est
ouvert, aere, c'est que la vie politique parle, discute, au besoin
vocifere, et c'est le cas des regimes de debat et 9'a ete le
cas des XVIII« et XIX^ siecles.
A etat politique precaire, ä vie politique soumise, litterature
epanouie de bien-etre et de liberte politique sous-entendue. A etat
politique plus hospitalier, ä vie politique plus libre, litterature
vouee ä des besognes politiques eclatantes, mais limitees, mais
momentanees qui lui causent, ä d'autres moments, des haut-le
Corps et de la repulsion.
Voilä quelle est la position de l'art litteraire fran^ais vis-ä-
vis de l'esprit politique.
413
Comparez-Ia ä celle de l'art litteraire d'autres pays, de l'art
d'Allemagne, d'ltalie, de Russie, vous apercevez la difference.
Comme c'est moins simple, comme c'est plus ditficile ä reduire
en formules distinctes, n'est-ce-pas!
Dans les autres pays, les deux phases de zele politique
et de repugnance politique, nous les decouvrons selon des peri-
peties et des mesures diverses. Et puls cela se borne lä. Ou les
ecrivains tont de la politique; ou ils n'en fönt pas. Ou ils sont
tout ä l'esprit litteraire; ou ils sont tout ä l'esprit politique. Mais
cette troisieme physionomie, celle qui constitue Toriginalite la
plus saisissante de l'art litteraire fran<;ais, cette sorte de soin poli-
tique detache, cet individualisme ä la fois jaloux de lui-meme et
empresse, sans s'en donner l'air, ä la vie publique, c'est cela qui
nous intrigue et nous surprend.
Et vous comprenez, ä present, qu'il y ait eu lä, des l'origine,
des motifs de confusions, d'ombrages, d'inegalites dans l'avance-
ment ideal, entre ecrivains et politiques, et qu'ä la longue ils
aient du aboutir ä un conflit ou, si vous preferez, ä un desequi-
libre grave. Nous y viendrons tout ä l'heure.
Mais je veux vous inviter ä toucher ces considerations de
plus pres, ä les verifier en embrassant aussi brievement que pos-
sible le spectacle de ces conjonctures compliquees.
Depuis le fin fond du Moyen-Age jusqu'ä l'epoque pre-revo-
lutionnaire, cet esprit politique sous-jacent ä l'esprit litteraire se
deploie avec une audace et une variete admirabies.
Au travers des vicissitudes de l'histoire des rois, triomphant
des divergences amenees par la Renaissance et par la Reforme,
on voit, en France, cet esprit de litterature ä echos politiques se
conserver parfaitement aise, parfaitement autonome. On le re-
trouve partout. 11 unit les trouveres ä Ronsard, les chroniqueurs
ä Rabelais, puis Ronsard et Rabelais ä Moliere, ä La Fontaine,
ä Racine, ä Bossuet meme et ä Fenelon. En verite rien n'y a
fait, rien ne l'a gene. Ni les effroyables soubresauts de la feo-
dalite ameutee contre les rois, ni les represailles des rois, ni les
invasions etrangeres n'ont compromis, n'ont embarrasse l'epan-
chement de cette verve primesautiere et en apparence frivole,
habile, au demeurant, ä d'elegantes morsures et hardie avec des
414
mines negligentes. C'est une evasion continuelle de libre pensee
et de libre parier. Les farces, les romans, les fahles, les satires,
les comedies, les tragedies, coup sur coup, s'emploient, ä qui
mieux mieux, ä elargir le rayonnement aimable de ce feu. Que
de Charme, que de docilite! Mais que de fievre, bien qu'impal-
pable, mais que d'ambitions de !a raison, bien que muettes et
adroitement souriantes; mais que d'insoumission de la raison,
bien que sa soumission paraisse sans reproche!
La religion sert heureusement ces menues revolutions inte-
rieures de l'esprit poütique, dont la litterature se fait l'artisan.
La religion aggrave l'absolutisme politique, ä coup sür; d'une
realite simplement exterieure eile en fait une realite confession-
nelle. Elle la scelle dans les ämes comme la marque meme de
Dieu.
Seulement, dans son zele de penetration psychologique, il
se trouve que la religion se place sur le terrain de la litterature,
use des finesses de la litterature, et Ton assiste alors ä ce phe-
nomene extraordinaire que l'esprit de la litterature, tout impregne,
tout oint de sens politique, s'insinue dans la religion, la pare,
Tillumine, et que la religion succombe ä la rosee de raison, ä la
fraicheur d'aurore qui, par la litterature, s'exhale dejä de toute
la pensee fran(;aise. Le dogmatisme catholique romain se dissout
au contact des levres des fees romanes. Les rois eux-memes
refusent son appui. De lä ce qu'on a appele plus tard le galli-
canisme de TEglise de France. Quel plus convaincant temoignage
du singulier ressort d'esprit politique qui se cachait sous les di-
vertissements de l'esprit litteraire en vogue?
Cettte action detournee s'affirma du temps de Philippe le
Bei et des Valois: temps de politique cruelle certes, plantureux
et allegre en meme temps, dans lesquels s'epanouissent les chan-
sons de gestes, s'epanouissent les fabliaux, s'epanouissent les lais
et les sirventesi
Et il en fut ainsi jusqu'au premier tiers du XVI II« siecle.
Bien entendu, il ne s'agit point d'une route toute droite,
toute unie. II y eut des periodes de discussion dans la politique;
et, par suite, des periodes ou d'assujettissement politique ou de
reclusion litteraire dans la litterature. Mais, ce sont des exceptions.
Une des plus remarquables, ä titre d'exemple, est celle qui ca-
415
racterisa le moment de la Regence et de la Fronde, On fronde
dans la vie politique. Eh bien, la litterature, precisement, ne
fronde plus du tout. Elle s'essaie ä de la politique doctrinaire,
ce qui est tout autre chose. Elle s'enferme, surtout, dans la litte-
rature pure, dans l'art pour l'art. L'hötel de Rambouillet fleurit.
11 en part les amplifications solennelles du Prince de Balzac, et
les jeux de style de Voiture.
Poursuivons. A partir du XVIli« siecle, l'ordonnance generale
des lettres est renversee; ce qui etait exception devient habitude,
ce qui etait habitude devient exception.
Que se passe-t-il, en effet dans l'histoire? Autour de la
monarchie montent de grands chuchotements qui ne vont pas
tarder ä se changer en voix, puis en cris. Et aussitöt que se
passe-t-il en litterature? La litterature commence ä se livrer,
avec abnegation, ä la pratique de la raison des choses dont
l'Encyclopedie va etre le monument. La litterature commence ä
songer aux intentions positives de la politique, ä les exprimer»
Et la voici qui tantot s'y consacre exclusivement, tantöt se voue,
par reaction, ä une retraite ombrageuse. Deux faces du meme
phenomene; deux consequences de l'emprise politique. De toutes
fa90ns, c'en est fini de cette delicate mesure d'esprit politique
par laquelle la litterature reussissait, si opportunement, ä presider^
en n'en ayant pas l'air, ä la politique et ä la religion.
Cette transformation comprend des degres: on voit d'abord
la litterature garder ses formes gracieuses, sa fantaisie, ses ima-
ginations: la politique se contente de s'y introduire, au moyen-
d'allusions, d'allegories, de digressions. C'est Voltaire avec ses
Contes. C'est J.-J. Rousseau, avec ses traites impetueux, avec
ses enseignements lyriques. Ou bien, par lassitude, la litterature
s'enfonce dans un egoisme intraitable; eile s'adonne au roma-
nesque, ä l'amour pour l'amour, au sentiment pour le sentiment.
J.-J. Rousseau cumule les deux penchants. Le Cotitrat social;
la Nouvelle Helolse.
Puis la pression de la politique sur la litterature augmente.
Aux paraboles succedent les programmes. Chaque ecrivain, de
plus en plus, s'emprisonne dans un esprit politique systematique;
chaque ecrivain s'ecarte, de plus en plus, du libre esprit politique
416
flottant d'autrefois. Diderot est le modele genial de la metamor-
phose. Le premier il dresse la litterature ä traiter de tous sujets,
ä s'acclimater ä tous venants, ä epouser chaque passion sans
lendemain; bref il menage le passage entre la litterature et la
gazette; de ses soucis eternels il conduit la litterature au jour
le jour, au journalisme.
Jusque dans la forme, la servitude nouvelle de la litterature
se reflete. On nous dit qu'au XVI 11^ siede le style se libere.
Est-ce bien sür? N'y a-t-il pas plus de liberte dans le style perio-
dique, ample, maitre de ses inflexions, de ses reliefs et de ses
tournants, que dans le style courant et successif qui est con-
tractu, qui distribue rapidement des idees, qui se presse, qui
s'affaire? Amusez-vous ä mettre en parallele, ä cet egard, Mon-
tesquieu, meme celui des Lettres persanes, et Bossuet, meme celui
des Oraisons funebres! Comparez Beaumarchais ä Moliere!
Comme en eux le politique et le litterateur se contrarient!
Comme leur joie et leur aisance sont inegales! Les enthousias-
mes impatients de Tun fönt tort aux delices savantes et nuancees
de l'autre.
Et, ä mesure que les temps avancent, d'autres entraves se
revelent. La politique n'entre plus seulement dans la litterature,
comme sa voyageuse la plus fidele ; eile se l'approprie, eile l'ha-
bille, eile lui impose ses couleurs et ses manieres. Autrement
dit, la litterature adopte les moeurs politiques. C'est lä un des
traits essentiels du romantisme. Le romantisme est lyrisme, sans
doute. Mais il est encore plus: eloquence.
Le genie de Hugo est autant d'un orateur que d'un poete.
Par la surabondance, la redite, le grossissement, il vise ä une
vulgarisation qui ne recule pas devant la vulgarite. II s'institue
d'ailleurs bientöt homme politique: sa gloire s'en nourrit. Cha-
teaubriand, Lamartine l'avaient dejä precede dans cette voie.
Lorsque les ecrivains romantiques ne sont pas hommes po-
litiques, ils sont, du moins, journalistes avec passion. Theophile
Qauthier aime ecrire ses feuilletons au grondement des presses.
On considere la carriere litteraire comme une branche de l'action.
Grande epoque, epoque d'immense essor civil! Mais, pour
plaire aux dieux de la cite, les ecrivains deposent leur indepen-
dance hautaine, et, corps et äme, sacrifient l'esprit, l'ideal mul-
417
tiple propre ä la litterature, ä I'acharnement d'une propagande de
qualite politique, ä la recherche d'un succes volontiers banal
et oü la litterature et la politique forment un assemblage sans
purete.
De jour en jour, cette Situation va se generalisant. De jour
en jour, l'etreinte de la litterature et de la politique se resserre.
Et dans cette etreinte, la litterature, tour ä tour s'abandonne
toute entiere et se refuse toute entiere.
Chez un meme auteur, les deux attitudes alternent. Hugo
ecrit des romans oü se cötoient le positivisme politique le plus
crüment passager et le plus militant, et le romanesque litte-
raire le plus effrene, le plus dedaigneux de la vraisemblance
sociale. Cest ce qu'on avait dejä trouve chez J.-J. Rousseau;
c'est ce qu'on trouve chez Georges Sand et chez Balzac.
Puis voici d'autres varietes.
Sur le romantisme en vers se greffe le Parnasse; sur le roman-
tisme en prose se greffe le Naturalisme. Ils vont apporter des
raffinements ä la resistance de la litterature ä la politique, ce
qui est une fa^on d'en plus nettement souligner l'indomptable
contagion.
Les poetes s'enferment dans le culte du style: ils ne sont
plus seulement stylistes, ils sont stylites. Leconte de Lisle leur
apprend le chant froid et immobile, dans le desert, sur un style
de marbre.
Les prosateurs s'ingenient ä decrire, par le menu, avec des
enjolivures de sensations, ce qui est ä portee de leurs mains et
de leurs yeux. Huysmans et les Goncourt inventent „l'ecriture
d'artiste". Et si, chez la plupart, l'obsession du roman balzacien
persiste, ils en accompagnent l'exaltation mi-politique mi-roma-
nesque d'une espece de fatigue, d'un desir d'oisivete qui les attarde
ä des analyses rares, dans un inalterable pessimisme: ainsi firent
Flaubert et Daudet.
PARIS HENRI HERTZ
(A suivre)
DOD
418
DIE URSPRÜNGE DER POESIE
Welches ist die älteste Dichtungsart? ich verfolge das Pro-
blem zunächst historisch bis R. Wagner und gebe erst zum
Schluss meine eigene Meinung. Der Renaissance fiel Poesie mit
Theologie zusammen^). Auf ihrer Poetik fußend sagt deswegen
Ronsard ^) :
^ . . la poesie n'etait au premier äge qu'une th^ologie alJegorique, pour
faire entrer au cerveau des hommes grossiers, par fables plaisantes et
<;olorees, les secrets qu'ils ne pouvaient comprendre, quand trop ouverte-
ment on leur decouvrait la verite.
Ihm folgt Opitz, und in dieser Richtung liegen auch die
Darstellungen des achtzehnten Jahrhunderts, die in der didakti-
schen Absicht die Ursprünge der Poesie suchen und sonach
eigentlich die Didaktik, dieses sonst so stiefmütterlich behandelte
Gebiet der Dichtkunst, an den Anfang der Entwicklung stellen.
5o Condiilac^):
Es ist nicht schwer sich vorzustellen, auf welchem Wege die Poesie
eine Kunst geworden ist. Als die Menschen die vom Zufall im Gespräch
herbeigeführten einheitlichen und regelmäßigen Tonfälle bemerkt hatten,
wurden die durch die Ungleichheit der Silben bewirkten verschiedenen
Bewegungen und der angenehme Eindruck gewisser Modulationen der
Stimme die Vorbilder für Rhythmus und Harmonie, denen sie nach und
nach sämtliche Regeln ihrer Verskunst entnahmen. Musik und Poesie
sind also naturgemäß gleichzeitig entstanden. Diese beiden Künste ver-
banden sich mit der Gebärde, die älter als beide war, die man den Tanz
nennt. Wonach wir vermuten dürfen, dass man zu allen Zeiten, bei allen
Völkern irgend eine Art Tanz, Musik und Poesie finden könnte . . . Die
enge Verbindung dieser Künste bei ihrer Geburt ist der wahre Grund
dafür, dass sie bei den Alten unter einem gemeinsamen Namen begriffen
wurden. Bei ihnen umfasst der Ausdruck „Musik" nicht nur die Kunst, die
er in unserer Sprache bezeichnet, sondern auch die der Gebärde, des
Tanzes, der Poesie und der Deklamation . . . Man sieht leicht, welches
der Zweck der ältesten Dichtungen war. Als die Gesellschaften gegründet
wurden, konnten die Menschen sich noch nicht mit den Gegenständen des
'bloßen Vergnügens beschäftigen, die Bedürfnisse, die sie sich zu vereinigen
genötigt hatten, begrenzten ihren Gesichtskreis auf das, was ihnen nützlich
^) K. Borinski, Die Poetik der Renaissance. Berlin 1886. S. 65.
2) Chr. W. Berghoeffer, Martin Opitz' Buch von der deutschen Poeterei.
Frankf. a./M. 1888. S. 86 f.
^) Condillac, Essai sur l'origine des conoissances humaines. § 69 bis
"72. Oeuvres 1, p. 350 ff. Paris 1798. Der Essai erschien zuerst in zwei Bän-
den 1746 und 1754 in Amsterdam.
419
oder notwendig sein mochte. Poesie und Musik wurden also nur gepflegt,
um Religion und Gesetze kennen zu lehren und um das Andenken der
großen Männer und der Dienste, die sie der Gesellschaft geleistet hatten,
zu bewahren.
Aber sieht hier nicht Condillac vielmehr gleich verschiedenen
noch zu besprechenden Theoretikern des neunzehnten Jahr-
hunderts den Ursprung der Poesie in der sogenannten chorischen
Lyrik? Ja und nein. Den Ursprung der Dichtung wohl, aber nicht
den der Dichtkunst als Kunst; den glaubt er erst dort erblicken
zu dürfen, wo sich didaktische Tendenzen ihrer bemächtigen.
Deutlicher wird diese Meinung in dem von ihm stark abhängigen
Sulzer*):
Der Ursprung der Dichtkunst ist unmittelbar in der Natur des
Menschen zu suchen. Jedes Volk, das sich zu irgend einer Kultur der Ver-
nunft und der Empfindungen heraufzuschwingen gewusst, hat seine Dichter
gehabt, die keinen andern Beruf, keine andre Veranlassung gehabt, was
sie stärker als andre gedacht und empfunden, unter sinnlichen Bildern und
in harmonischen Reden ihnen vorzustellen, als die Begierde, die jede edle
Seele fühlt, andern das Gute, davon sie durchdrungen ist, mitzuteilen . . .
Sobald dieser erste Keim der Dichtkunst die Menschen auf die Mittel,
nützliche Wahrheiten durch einen angenehmen Vortrag auszubreiten, auf-
merksam gemacht hatte, entdeckten sie auch, dass außer dem gut abge-
messenen Fall der Worte die gute Einkleidung, der feurige Ausdruck der
Gedanken und lebhafte Bilder eine ähnliche Wirkung tun, und so wurde
nach und nach die poetische Sprache entdeckt und gebildet. Vermutlich
sind die ersten poetischen Versuche überall bloß einzelne Verse, wie unsere
meisten Sprichwörter, oder kurze aus zwei oder drei Versen bestehende
Sätze gewesen. Als die Kunst zunahm, erfand man Mittel, durch Allegorien
und Fabeln das Volk zu lehren . . . Die wahre Geschichte der Dichtkunst
nur von einem einzigen Volke wäre ohne Zweifel zugleich die Geschichte
dieser Kunst bei jeder andern Nation, und gewiss ein wichtiger Teil der
allgemeinen Geschichte des menschlichen Genies: aber sie fehlt überall.
Am meisten weiß man von dieser Geschichte, in so fern sie die Griechen
betrifft . . . Die erste Zeit, von welcher alle Nachrichten fehlen, ist die,
darin sie angefangen hat aufzukeimen, da ihre Werke Sittensprüche, oder
auch sehr kurze Äußerungen einer aufwallenden Leidenschaft gewesen, die
tanzend gesungen wurden. In dieser Zeit war sie noch keine Kunst; wer
etwa bei einer Versammlung ein außerordentliches Feuer der Einbildungs-
kraft fühlte, der reizte die andern zu unförmlichem Gesang und Tanz, bei
welchen der Gegenstand der Leidenschaft mit hüpfenden Worten angezeigt
wurde. So äußern sich gegenwärtig bei den noch nicht gesitteten Völkern
in Canada die ersten Versuche in Musik, Tanz und Poesie . . . Das lyri-
sche scheint natürlicher Weise die älteste Gattung zu sein, da es durch
^) Johann George Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste.
Neue vermehrte Auflage. Leipzig 1786. I. 433 f. Artikel ^Dichtkunst".
420
den Ausbruch der Leidenschaften verursacht worden, und die Lustbar-
keit, die jedes wilde Volk nach einem glücklichen Streite anstellt, können
auch Spuren der nachher entstandenen epischen Poesie gezeiget haben.
Sulzers Buch war bereits anfangs der siebziger Jahre, da
es erschien, veraltet, wie am deutlichsten aus Mercks vernichten-
der Kritik in den Frankfurter gelehrten Anzeigen des Jahres 1772
zu ersehen ist. Ja bereits im Jahre 1730 hatte der vielverlästerte
Gottsched in seiner Kritischen Dichtkunst auf einem weit fort-
geschritteneren Standpunkte gestanden. Er erörtert die sich schon
bei Scaliger findende Theorie von der Entstehung des mensch-
lichen Gesanges durch Nachahmung der Vögel, vergleiche dessen
Poeticae 1,4, besonders aber die Epistel an seinen Sohn^):
Klar ist es, dass mit den Anfängen der Natur zugleich der Gesang
entstanden ist. So sehr, dass die Pythagoräer sogar den Blumen Lieder
zuschreiben, in denen sie die Sonne, andere, in denen sie Mond und Sterne
verherrlichen. Wir sehen alle Vögel meistens, manche das ganze Jahr hin-
durch zwitschern.
Das ist aber auch das einzige, was er Scaliger verdankt, und
es ist unrecht, seine weit vorauseilenden Betrachtungen, in denen
er viel vernünftiger als die im Banne der Aristotelischen Mimesis
stehenden Batteux^) oder Cesarotti^), die auch die Lyrik unter
das Joch dieses auf sie gar nicht anwendbaren Begriffs spannen
wollen, sie als die effusive von der epischen als der imitativen
Kunst säuberlich trennt, in denen er den Irrtum Scherers*), auch
bei der Lyrik das Publikum als maßgebenden Faktor einzuführen,
klug vermeidet und der primitiven Lyrik das moralische Zöpfchen
energisch abschneidet — es ist unrecht, diese auf die unklaren
und unter einander widerspruchsvollen Ausführungen Scaligers
zurückführen zu wollen^):
Allein der Mensch würde gesungen haben, wenn er gleich keine Vögel
in der Welt gefunden hätte. Lehret uns nicht die Natur, all unsre Gemüts-
bewegungen durch einen gewissen Ton der Sprache ausdrücken? Was ist
1) Julii CcBsaris Scaligeri Poetices libri Septem. Editio secunda. Apud
Petrum Santandreanum MDLXXXl.
2) Manfred Schenker, Charles Batteux und seine Nachahmungstheorie
in Deutschland. Leipzig 1908. S. 30. 36.
3) Cesarotti, Abhandlung über den Ursprung und Fortgang der Poesie.
Neue Bibl. d. schönen Wissensch. u. freyen Künste. Leipz. 1766, II, 1 ff.
*) F. B. Gummere, The Beginning of Poetry. New-York 1908, p. 349.
^) F. Braitmaier, Gesch. d. poet. Theorie u. Kritik v. d. Discursen
d. Maler bis auf Lessing. Frauenfeld 1888. S. 96 ff.
421
das Weinen der Kinder anders als ein Klagelied? . . . Die Gesänge sind
dergestalt die älteste Gattung der Gedichte und die ersten Poeten sind
Liederdichter gewesen . . . Wann sich ein munterer Kopf von gutem Na-
turelle bei der Mahlzeit oder durch einen starken Trunk das Blut erhitzt
und die Lebensgeister rege gemacht hatte, so hub er etwa an, vor Freude
zu singen und sein Vergnügen auch durch gewisse dabei ausgesprochene
Worte zu bezeigen . . . Ein verliebter Schäfer, dem bei der Langweile auf
dem Felde, wo er seine Herden weidete, die Gegenwart einer angenehmen
Schäferin das Herz rührte und das Gemüt in Wallung versetzte, bemühte
sich nach dem Muster der Vögel ihr etwas vorzusingen und bei einer lieb-
lichen Melodie zugleich seine Liebe zu erklären . . . Die allerersten Sänger
ungekünstelter Lieder haben nach der damaligen Einfalt der Zeiten wohl
nichts anders im Sinne gehabt, als wie sie ihren Affekt auf eine angenehme
Art ausdrücken wollten, so dass dieselben auch in andern eine gewisse
Gemütsbewegung erwecken möchten. Ein Saufbruder machte den andern
lustig, ein Betrübter lockte dem andern Tränen aus, ein Liebhaber gewann
das Herz seiner Geliebten etc. Die Sache ist leicht zu begreifen, weil sie
in der Natur des Menschen ihren Grund hat und noch täglich durch die
Erfahrung bestätigt wird.
Die Auffassung der Poesie als einer Art Theologie legte es
nahe, wenn man nur einmal von didaktischen Tendenzen absehen
wollte, in der religiösen Lyrik die ursprünglichste Dichtung zu
sehen. Milton lässt zu Anfang seines Paradise lost die ersten Eltern
einen Lobgesang auf Gott anstimmen, in den er den 148sten
Psalm hineinverarbeitet. Darauf beruft sich Lowth^), wenn er
die Ode für die ursprünglichste aller Dichtungsarten erklärt:
Offen genug trägt die Ode ihren Ursprung zur Schau; geboren ist sie
zuerst aus den freudigsten und stärksten Affekten der menschlichen Seele^
der Freude, der Liebe, der Bewunderung. Wenn wir uns den ersterschaffe-
nen Menschen denken, wie ihn uns die heiligen Schriften zeigen, mit voll-
endeter Fähigkeit der Vernunft und der Sprache begabt, seiner selbst und
Gottes bewusst, einen nicht unwürdigen Beschauer dieser überherrlichen
Weltschöpfung des Himmels und der Erden, können wir glauben, dass sein
Herz nicht bei diesem Anblick warm geworden sei, sodass er von der Glut
seiner eigenen Gefühle hingerissen von selbst sich in das Lob des Schöpfers
ergoss, und zu jenem Schwung der Rede, jenem Jubel der Stimme sich
erhitzte, welche aus solchen Seelenbewegungen fast notwendig folgen? . . .
Gewiss haben wir von jenem ersten und vollkommenen Zustande des
Menschen keinen rechten Begriff, wenn wir ihm nicht auch einen bestimmten
Besitz der Dichtkunst zugestehen, mittels deren er die frommen Empfindun-
gen gegen Gott und die heilige Glut der Religion in Gesang und Hymnen
würdig zum Ausdruck brachte.
') Roberti Lowth, De sacra poesi Hebraeorum. Notas et epimelra
adjecit J. D. Michaelis. Editio secunda. Goettingae 1770. p. 499. Michaelis
hatte das Buch schon 1757 in Deutschland eingeführt, erschienen war es
zuerst 1753 in Oxford.
422
Weit näher unserer modernen Auffassung steht ein anderer
Engländer des achtzehnten Jahrhunaerts, der große National-
ökonom Adam Smith ^). Er hat sicher in England Vorläufer 2),
die ich aber gegenwärtig nicht nachweisen kann:
Nach den Vergnügungen, die aus der Befriedigung leiblicher Bedürf-
nisse entstehen, scheinen keine dem Menschen natürlicher als Musik und
Tanz . . . Die menschliche Stimme ist wohl von Natur aus, wie sie immer
das beste alle musikalischen Instrumente ist, auch das erste und früheste
gewesen: Im Singen oder in ihren ersten Versuchen des Gesanges ver-
wendete sie wohl Töne, so ähnlich als möglich denen, deren sie gewohnt
war; das heißt sie verwendete wohl Worte von einer oder der andern Art,
nur so dass sie sie in Tempo und Rhythmus aussprach, und gewöhnlich in
melodiöserer Art, als in gemeiner Rede Brauch gewesen war. Diese Worte
aber brauchten nicht und hatten wahrscheinlich noch längere Zeit keinen
Sinn, sondern mochten den Silben gleichen, die wir im sinnlosen Refrain
gebrauchen, dem derry-derrydown unserer Volksballaden, und mochten nur
der Stimme als Hilfe dienen, um Klänge zu bilden, die sich zu melodischer
Modulation eignen und zur Verlängerung und Verkürzung nach dem Zeit-
maße der Melodie. Diese rohe Form vokaler Musik war, wie es die ein-
fachste und leichteste ist, sowohl auch die erste und älteste. Im Verlaufe
der Zeiten musste es geschehen, dass an Stelle dieser bedeutungslosen und
sozusagen musikalischen Worte solche untergeschoben wurden, die einen
Sinn ausdrückten, und deren Aussprache ebenso genau mit dem Rhythmus
und der Melodie übereinstimmten, als jene „musikalischen" Worte es früher
getan hatten. Dies ist der Ursprung des Verses oder der Poesie . . .
Der Vers musste natürlich irgend einen Sinn ausdrücken, der zu
der ernsten oder heiteren, fröhlichen oder traurigen Laune der Melodie
zu der er gesungen ward, passte; mit dieser Melodie gewissermaßen ge-
mischt und vereint musste er Sinn und Inhalt dem zu geben scheinen,
was an sich augenscheinlich keinen hatte. Ein pantomimischer Tanz mag
manchmal dem gleichen Zweck entsprechen und mag, irgendein Liebes-
oder Kriegsabenteuer darstellend, Sinn und Inhalt der Musik zu geben
scheinen, die sonst offenbar keinen hätte. Ja, es ist natürlicher, die Ereig-
nisse des gemeinen Lebens durch Geste und Bewegung mimisch darzu-
stellen, als sie durch Vers oder Poesie auszudrücken ... So mag der
pantomimische Tanz der Musik einen deutlichen Sinn und Inhalt zu geben
^) On the nature of the imitation which takes place in wfiat are cal-
led the imitative arts. Essays philosophical and literary, die 1795 aus dem
Nachlass herausgegeben wurden.
2) Sicher gehört zu diesen seinen Vorgängern Brown: A dissertation
on the rise, union, the progressions, separations and corruptions of poetry
and music. London 1763. Ich schließe das nicht nur aus dem Titel, sondern
mehr noch aus der Inhaltsangabe bei Finsler, Homer in der Neuzeit.
Leipzig 1912, S. 365 ff. und aus der Polemik Herders in seinem Ursprung
der Sprache. Übrigens jst das Buch nicht so unbeachtet geblieben, wie
Finsler meint, da es im nächsten Jahre eine zweite Auflage erlebte und
1763 und 64 zwei Schriften erschienen, die sich mit ihm polemisch ausr
einandersetzten, deren Titel man bei Sulzer a. a. O. S. 440 findet.
423
gedient haben viele Menschenalter vor der Erfindung oder wenigstens vor
dem allgemeinen Gebrauche der Poesie . . . Von diesen drei Schwester-
künsten, die ursprünglich vielleicht immer zusammen gingen und zu allen
Zeiten gerne zusammen gehen, können zwei gesondert existieren, die dritte
aber kann es nicht ... Es ist die Instrumentalmusik, die am besten allein
existieren kann. Vokale Musik, obwohl sie aus Klängen, die keinen be-
stimmten Sinn noch Inhalt haben, bestehen kann und oft besteht, ruft doch
von Natur aus nach der Unterstützung durch die Poesie . . . Die Worte
können die Situation einer einzelnen Person ausdrücken und drücken sie
gewöhnlich aus, und alle die Empfindungen und Leidenschaften, die sie als
Folge dieser Situation fühlt. Ein fröhlicher Gesell gibt der Freude Raum
und dem Frohsinn, zu denen Wein, Festesfeier und gute Gesellschaft ihn
begeistern. Ein Liebhaber klagt oder hofft oder fürchtet oder zweifelt . . .
Eine Person in glücklichen Umständen dankt für die Güte oder eine im
Unglück fleht um Gnade oder Vergebung zu jener unsichtbaren Macht, zu
der sie emporschaut als zu dem Lenker aller Geschicke des menschlichen
Lebens. Die Situation mag nicht nur eine sondern zwei, drei und mehr
Personen umfassen ; sie mag in ihnen allen ähnliche oder entgegengesetzte
Gefühle wachrufen etc.
Vielleicht mit dem Engländer aus einer gleichen Quelle^)
schöpfend kommt A. W. Schlegel in seinen „Briefen über Poesie,
Silbenmaß und Sprache" unsern modernen Anschauungen merk-
würdig nahe^):
In ihrem Ursprünge macht Poesie mit Musik und Tanz ein unteilbares
Ganzes aus. Der Tanz hat in allen seinen Gestalten, von der einfachsten
Natur bis zu den sinnreichsten Erweiterungen der Kunst, vom Freuden-
sprunge des Wilden bis zum Noverrischen Ballet, nie die Begleitung der
Musik entbehren gelernt. Dagegen bestehen jetzt Musik und Poesie ganz
unabhängig von einander: ihre Werke bilden sich vereinzelt in den Seelen
verschiedener, oft sich missverstehender Künstler und müssen absichtlich
darauf gerichtet werden, durch die Täuschung des Vortrags wieder eins
zu werden.
Poesie entstand gemeinschaftlich mit Musik und Tanz und das Silben-
maß war das sinnliche Band ihrer Vereinigung mit den verschwisterten
Künsten. Auch nachdem sie von ihnen getrennt ist, muss sie immer noch
Gesang und gleichsam Tanz in die Rede zu bringen suchen, wenn sie noch
dem dichtenden Vermögen angehören und nicht bloß Übung des Ver-
standes sein will.
Nun zum Ursprung der Poesie, worauf ich mit all meinen Betrach-
tungen hinzielte. Historisch wissen wir davon ebensowenig als vom Ur-
sprung der Sprache ... die sinnlichen Gegenstände lebten und bewegten
1) Die „Briefe" sind 1795 erschienen, also im gleichen Jahre mit den
posthumen Essais, so dass an einen direkten Zusammenhang nicht gedacht
werden kann. Vielleicht ist diese gemeinsame Quelle eben jenes mir leider
nicht zugängliche Buch von Brown, auf dessen vielversprechenden Titel ich
oben hingewiesen habe.
2) Sämtliche Werke hg. v. Böcking VII. Leipzig 1846. S. 103, 108, 121.
424
sich in ihr und das Herz bewegte sich mit allen. Dies ist es, was man
oft gesagt hat, und was doch nur in gewissem Sinne wahr ist: Poesie und
Musii< sei von Anfang an da gewesen und gleich alt mit der Sprache.
Dagegen polemisiert er nun: jene mit der Sprache gleich
alte Poesie und Musik haben noch keinen Takt gehabt und erst
mit diesem seien sie zu Künsten geworden. Der Gedanke einer
vorkünstlerischen Periode der Poesie ist uns schon oben begegnet:
hier liegt ein fruchtbarer Keim in dem Gedanken der ataktischen
Musik, den Schlegel auch weiter unten geistreich ausführt^):
Allerdings lässt sich an eine Musik von Instrumenten ohne Takt gar
nicht denken, auch die von Instrumenten begleitete Stimme ist durchaus
an die Beobachtung desselben gebunden ; aber wenn sie sich ganz allein
hören lässt, so darf sie in diesem Stücke ihre natürliche Freiheit wieder
geltend machen und darin auch neben dem künstlichen Reichtum musikali-
scher Zusammensetzung gefallen wollen. Du siehst, ich rede vom Rezitativ,
das besonders in der italienischen Oper eine so schöne Stelle einnimmt,
und dem man doch den Namen eines Gesanges nicht versagen kann.
Wüsste man nicht historisch das Gegenteil, so könnte man leicht auf
den Gedanken geraten, das Zeitmaß gehöre unter die späteren Erfindungen,
der Gesang habe, solange nur wirkliche Leidenschaft ihn eingab, in dithy-
rambischer Freiheit geschwärmt, und erst als er zum ergötzenden Spiele
geworden, habe man den Mangel jenes ursprünglichen Nachdrucks durch
einen kunstmäßigen Reiz zu ersetzen gesucht. Aber die Beobachter wilder
Völker rühmen einstimmig die bewundernswürdige Genauigkeit im Takt,
womit sie ihre Gesänge und Tänze aufführen.
Du wirst bemerkt haben, liebe Freundin, dass ich im Gange aller
obigen Betrachtungen zwei Sätze ohne Beweis und stillschweigend zum
Grunde gelegt habe, weil sie mir von selbst einzuleuchten schienen. Erstlich:
Poesie sei ursprünglich von der Art gewesen, die man in der Kunstsprache
lyrisch nennt. Zweitens: man habe sie immer unvorbereitet nach der Ein-
gebung des Augenblicks gesungen, mit einem Ausdruck, der uns Deutschen
wie die Sache selbst fremd ist, „improvisiert". Was jenes betrifft, so er-
innere ich hier nur mit wenigen Worten, dass dem empfindenden Wesen
sein eigener Zustand der nächste ist, dass der Geist die Dinge zuerst in
ihrer Beziehung auf diesen wahrnimmt, und schon zu einer sehr hellen
Besonnenheit gediehen sein muss, um seine Betrachtung derselben, wenn
ich so sagen darf, ganz aus sich heraus zu stellen. Durch welche Veran-
lassungen und auf welchen Wegen die andern Gattungen, die in der
lyrischen eingewickelt lagen, sich in der Folge von ihr gesondert, erzähle
ich dir ein anderes Mal.
Dieses „andere Mal" ist, so viel ich weiß, nie gekommen.
Auch nicht in seinen Berliner Vorlesungen vom Jahre 1801 2).
Dort hatte er die Tanzkunst als eine Kombination der simultanen
») Ebenda S. 124, 132, 152.
2) Seufferts Neudrucke 17, S. 119.
425
und sukzessiven, der bildenden und musikalischen Künste hinge-
stellt, fährt aber dann fort:
In der obigen Reihe haben wir die Tanzkunst als eine Kombination
betrachtet. Allein die Einheit ist überall im Menschen früher als die Tren-
nung, und so mussten sich anfangs die drei Arten des natürlichen Ausdrucks,
durch Geberden, durch Töne und durch Worte notwendig beisammen finden.
Leidenschaften riefen ihn in seiner größten Energie hervor, und sofern er
ihnen angehörte, war er unwillkürlich. Der Mensch prägte ihm aber da-
durch seinen Charakter der Freiheit auf, dass er die wilden Ausbrüche an
eine selbst gegebene Regel band. Diese war für die Geberden, die Töne
und die Worte eine und dieselbe: das Zeitmaß, der Takt, der Rhythmus.
Bei vielen Nationen finden wir sie noch in dieser unzertrennlichen Ver-
bindung . . ., oder richtiger zu reden, in dieser einzigen Urkunst liegt der
Keim des ganzen vielästigen Baumes beschlossen, zu welchem sich nach-
her die schöne Kunst entwickelt hat.
Wir wollen versuchen, die Poesie genetisch zu erklären . . . Wir handeln
also zunächst von der Naturpoesie, dann der Kunstpoesie. Erst bei der
letzten tritt die Scheidung in Gattungen ein, oder vielmehr diese Scheidung
bezeichnet eben den Anfangspunkt derselben.
Die Entstehung der Dichtungsarten aus dem Gesamtkunst-
werk ist aber auch in diesen Vorlesungen nirgends dargestellt
worden.
A. W. Schlegels Theorie war damals veraltet, um heute wieder
modern zu sein. Denn 1765 und 1767 hatte sich in zwei Briefen
an Herder der Magus vom Norden für die Priorität des Epos
ausgesprochen ^) :
fivdoc;, Fabel und Erfindung, scheint mir immer dem iräBoq und Schwung
der Empfindungen vorauszugehn.
Epos und Fabel ist der Anfang und außerdem nichts als Ode und
Gesang.
So schreibt denn Herder 2):
So schritt die Sage, als eine Tochter des Gedächtnisses weiter, bis
sie Kunst ward, und diese Kunst hieß Dichtkunst. Das rohe Gold ward
geprägt, und die Sage selbst war's, die diese Prägekunst aufbrachte. Jeder
Erzähler nämlich will gut erzählen, und da er als Unterrichter der Weisere
ist, so will er auch seinen Unterricht angenehm, dauerhaft, lebhaft, kurz
auf die vollkommenste Weise einprägen. Hiermit war die Dichtkunst erfunden.
So groß ist bald die Autorität der Lehre von dem größern
Alter des Epos, dass auch Schelling'), obwohl sie ihm nicht in
sein System passt, sie als erwiesen annimmt :
*) Rudolf Unger, Hamann und die Aufklärung. Jena 1911. I, 271.
2) Über Bild, Dichtung und Fabel. 1787.
») Philosophie der Kunst. Werke V, 639.
426
Wenn wir in der Abhandlung der verschiedenen Dichtungen der natür-
hchen oder historischen Ordnung folgen wollten, so würden wir von dem
Epos als der natürlichen Identität ausgehen und von da zur lyrischen und
dramatischen Dichtkunst fortgehen müssen. Allein da wir uns hier ganz
nach der wissenschaftlichen Ordnung zu richten haben, und da nach der
bereits vorgezeichneten Ordnung der Potenzen die der Besonderheit oder
Differenz die erste, die der Identität die zweite, und das, worin Einheit
und Differenz, allgemeines und besonderes selbst eins sind, die dritte ist^
so werden wir auch hier dieser Stufenfolge treu bleiben und machen daher
den Anfang mit der lyrischen Kunst.
So sind es denn wohl auch „wissenschaftliche" und nicht
„historische" Gründe, die Bouterwek^) veranlassen, mit der Lyrik
statt mit der Epik zu beginnen.
Hegel hingegen schickte sich die Stellung des Epos an die
Spitze vorzüglich in sein System^):
Ein dritter Punkt endlich, worüber wir noch in Rücksicht auf den all-
gemeinen Charakter der lyrischen Poesie zu sprechen haben, betrifft die
allgemeine Stufe des Bewusstseins und der Bildung, aus welcher das ein-
zelne Gedicht hervorgeht. Auch in dieser Beziehung nimmt die Lyrik einen
der epischen Poesie entgegengesetzten Standpunkt ein. Wenn wir nämlich,
für die Blütezeit des eigentlichen Epos einen im Ganzen noch unentwickelten,
zur Prosa der Wirklichkeit noch nicht herangereiften Zustand forderten,
so sind umgekehrt der Lyrik solche Zeiten günstig, die schon eine mehr
oder weniger fertig gewordene Ordnung der Lebensverhältnisse herausge-
stellt haben, indem erst in solchen Tagen der einzelne Mensch sich dieser
Außenwelt gegenüber in sich selbst reflektiert und sich aus ihr heraus zu
einer selbständigen Totalität des Empfindens und Vorstellens abfließt.
Hegels Einfluss hat die Theorie wohl einen großen Teil ihrer
Dauerhaftigkeit zu verdanken: darum spricht Usener^) von „der
alten durch Hegel uns eingeprägten Vorstellung, dass im Anfang
die erzählende Form, das Epos, stehe". Von ihm beeinflusst ist
jedenfalls auch Wackernagel in seinem Aufsatze „die epische
Poesie"^):
Es ist eine weit verbreitete Behauptung, dass man als die älteste
Gattung der Poesie die Lyrik zu erkennen habe; denn dem Menschen liege
nichts näher als sein Ich, und nichts könne ihn eher und leichter zu poeti-
scher Produktion reizen als seine Empfindungen : mithin sei die lyrische
Poesie als die Poesie des Ichs und des Gefühls auch die älteste. Diese
Behauptung hat viel verleitenden Schein, dennoch ist sie ein lediglich aus
^) Ästhetik. Göttingen 1825.
2) Vorlesungen über die Ästhetik. Werke X, 3, 434.
3) Der Stoff des griechischen Epos. Kleine Schriften IV, 217.
*) Schweizerisches Museum für historische Wissenschaften. 1837, S.34L
427
der Luft gegriffenes Theorem, und von aller Einsicht in die Literaturge-
schichte, von aller Einsicht in das eigentliche Wesen der Poesie verlassen.
So wie man sich nach historischer Begründung umtut, und so wie man
nur einigermaßen bedenkt, was denn Poesie überhaupt solle und wolle,
so ergibt sich vielmehr und bleibt die Lehre bestehen, dass die epische
Poesie die älteste und dass alle Poesie nur episch gewesen sei.
Aus dem Aufsatz ging es in die „Poetik" des selben Autors
über und in so und so viele andere Schulpoetiken.
Selbst A. W. Schlegels Bruder wusste mit dessen zitierten
Briefen nichts anzufangen. Er behauptet i) ihnen zum Trotz das
höhere Alter des Epos auf Grund der schon mehrfach erwähnten
Scheidung von Dichtung und Dichtkunst. Man glaubt sich in die
schwärzesten Zeiten der Aufklärung versetzt, bevor die hohe
Kunst der Naturpoesie entdeckt worden war. Er spricht von
der Fähigkeit
eine Leidenschaft in gemessenen Lauten und Bewegungen unwillkürlich
auszudrücken. Mit dieser niedrigsten Gattung, welche nur den Keim zur
künftigen lyrischen Kunst enthält, fängt die Poesie überall an und bleibt
auch auf der untersten, bloß vorbereitenden Stufe ihrer Entwicklung dabei
stehen. Streng genommen sind es nur gestaltlose Regungen der poetischen
Anlage, Vorübungen der Poesie, die eigentliche Poesie ist noch gar nicht
vorhanden; denn was nur zur Befriedigung eines Bedürfnisses dient, gehört
nicht ins Gebiet der schönen Kunst.
Näher an August Wilhelm steht Schleiermacher ^), der zu
seiner Unterscheidung zwischen kunstmäßig und kunstlos sich wie
dieser mit der Einführung des Rhythmus begnügt, mit der Grün-
dung auf den Begriff der Bewegung aber von Herder^) abhängig
scheint :
So wollen wir uns denn zunächst halten an eine alte Rede, die sich
aber auch im Munde der neueren Meister wiederholt, dass alle Kunst ent-
springt aus der Begeisterung, aus lebhafter Bewegung der innersten Gemüts-
und Geisteskräfte . . . Nun können wir wohl Freude und Schmerz, ohne
nach Inhalt und Veranlassung besonders zu fragen, ohne weiteres als solche
auch zu der innersten Quelle des Lebens durchdringende Erregungen auf-
stellen. Beide haben ihre entsprechenden Äußerungen im Ton und in den
willkürlichen leiblichen Bewegungen. Aber freilich, wie die ausgelassene
^) Geschichte der Poesie der Griechen und Römer. 1798. Prosaische
Jugendschriften hg. v. J. Minor, S. 248.
2) Über den Umfang des Begriffs der Kunst in Beziehung auf die
Theorie derselben. Gelesen in der preußischen Akademie am U. Aug. 1831.
8) Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst
1795. Aus dem zweiten Bande der Terpsichore.
428
Freude springt und sich in kreisenden Bewegungen ermüdet, wie sie um-
armend an sich reißt und fahren lässt, wie sie halb artikulierte Töne bunt
durcheinander in mancherlei Höhe und Tiefe ausstößt, und wie ebenso ohne
Maß und Regel auch der Schmerz seufzt und schreit, sich in kläglichen
Windungen umherwirft und so die Tonleiter auf- und abläuft und alle ba-
rocksten willkürlichsten Bewegungen am häufigsten wiederholt: so ist bei
diesen Äußerungen an ein Kunstwerk nicht unmittelbar zu denken. Und
doch sind das unleugbar die Naturanfänge zweier Künste, das Kunstlose zu
Tanz und Gesang als dem Kunstmäßigen, zwei Künste, aus denen sich doch
die größeren Gebiete der Mimik und der Musik nur durch natürliche Er-
weiterungen entwickelt haben. Was ist nun der spezifische Unterschied
zwischen dem Kunstmäßigen und Kunstlosen ? Dies unstreitig, dass die
rohen und ungeschlacht wechselnden Bewegungen unter Maß und Regel
gebracht werden . . . Und dieses ist der tiefere ursprüngliche Sinn der Formel,
dass die Leidenschaften oder vielmehr die leidenschaftlichen Zustände ge-
mäßigt werden durch die Künste.
Nur einige Dichter stehen auf einem A. W. Schlegels ver-
wandten Standpunkt, der von den Theoretikern verachtet wurde.
So Jean Paul^):
Die Lyra geht, da Empfindung überhaupt die Mutter und der Zunder-
funke aller Dichtung ist, eigentlich allen Dichtformen voraus, als das ge-
staltlose Prometheusfeuer, welches Gestalten gliedert und belebt. Wirkt
dieses lyrische Feuer allein, außerhalb den beiden Formen oder Körpern
Epos und Drama, so nimmt die freifliegende Flamme, wie jede körperliche,
keine umschriebene feste Gestalt an, sondern lodert und flattert als Ode,
Dithyrambus, Elegie.
Ein fruchtbarer Gedanke, der uns heute wieder sehr nahe
liegt: alle Poesie Äußerung der Persönlichkeit, also eigentlich
immer Lyrik, nur manchmal in die ursprünglich fremde Form
der naturnachahmenden Gattungen von Epos und Drama gefasst.
Über das auch von A. W. Schlegel angeschlagene Thema von
der im Tanze enthaltenen bildenden Kunst phantasiert der tief-
gründige Novalis 2):
Plastik, Musik und Poesie verhalten sich wie Epos, Lyra und Drama.
Es sind unzertrennliche Elemente, die in jedem freien Kunstwesen zusammen
und nur nach Beschaffenheit in verschiedenen Verhältnissen geeinigt sind.
Auf Goethes Betrachtung und Auslegung der Ballade vom
vertriebenen und zurückkehrenden Grafen^) macht mich Maync
aufmerksam :
1) Vorschule der Ästhetik 1804. XIll. Programm.
2) Sämtliche Werke, hg. von C. Meißner. 111, 32.
3) Weimarer Ausgabe, XLl, 1. S. 223 f.
429
Das Geheimnisvolle der Ballade enspringt aus der Vortragsweise. Der
Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren
Taten und Bewegung so tief im Sinn, dass er nicht weiß, wie er ihn ans
Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der
Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den
<jeist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen, und,
nach Belieben die Form wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen, oder es
weit hinausschieben . . . Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Ge-
dichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch
nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das
»nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln
in die Lüfte zu steigen.
Einer der letzten bedeutenden Theoretiker, der an der Priorität
des Epos festhält, ist der Hegelianer Vischer^). Auch ihm ge-
lingt es nur durch die bekannte Unterscheidung einer kunstlosen
und kunstmäßigen Periode:
Hier ist noch das Nötige zur Rechtfertigung der Stelle zu sagen, die
dem Lyrischen gegeben ist. Es scheint der Zeit und dem Begriffe nach,
oder, wenn man will, der Zeit nach, weil dem Begriffenach, viel mehr das
Erste zu sein, denn die Poesie ist die enge Nachbarin der Musik, kommt
aus ihr und schickt sich an, aus der Innerlichkeit der Empfindung die Welt
der Objekte wieder zu erschließen und auszubreiten ; ihr Wesen ist die
Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyrische Ergießun-
gen der unmittelbaren Empfindung notwendig überall die ersten Äußerungen
der dichterischen Phantasie. Ein Interesse der bloßen logischen Konse-
quenz, die Kategorie der Objektivität um jeden Preis voranzustellen, wäre
nur eine Verirrung der Abstraktion . . . Allein genauer betrachtet, verhält
sich die Sache anders: die ältesten Lieder waren überall objektiven Inhalts,
priesen Götter und Menschen; freilich in lyrischem Tone, und man kann
insofern sagen, es liege hier eine noch unentwickelte Einheit des Lyri-
schen vor, allein es war keine Einheit, die ein Gleichgewicht enthielt,
vielmehr das objektive epische Element herrschte und gestaltete sich
zuerst weiter zu bestimmten Formen, zu Heldenliedern, die dann zu
Epen zusammenwuchsen, während das Subjektive, Lyrische noch lange
Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entschiedene Form in das Licht
der Geschichte der Poesie herauszutreten, vielmehr die späte Reife der
Bildung abwarten musste . . . Historisch und psychologisch hat den
Beweis für den Vorgang des Epischen Wackernagel geführt . . . Demnach
behält jener Begriff einer ursprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyri-
schen und Epischen in den ältesten erzählenden Liedern seine relative
Richtigkeit; jenes war im Keime vorhanden, musste dann diesem den Vor-
tritt lassen, nahm aber, als es selbst an die Reihe der Entwicklung kam,
die Form wieder auf, in der es einst neben dem Epischen geschlummert
hatte, und gab ihr wirklich lyrische Gestalt.
>) Ästhetik. III, 2, 5. Stuttgart 1857. S. 1262.
430
Der Vorgang des Epischen wird hier eigenth'ch nur mehr zag-
haft festgehalten; das älteste ist die Chorlyrik, die als „objektive"
Lyrik bezeichnet wird, welcher Begriff noch lange die Erkenntnis
der Geschichte unserer mittelhochdeutschen Lyrik verdunkeln
sollte. Dieser Begriff der „objektiven" Lyrik war deswegen so
schädlich, weil man darunter zweierlei verstand, erstens wie
Vischer die nur lyrisch gefärbte aber imitative Darstellung der
Außenwelt, eines äußern Geschehnisses, — und die Beschränkung
der primitiven Lyrik auf diese Art ist durchaus nicht nachweisbar,
ja direkt unwahrscheinlich — zweitens aber eine „wenig subjek-
tive", das heißt wenig individuelle, nicht Individual- sondern Ge-
meinschaftsgefühle ausdrückende, massenpsychologische, wenig
differenzierte, und insofern ist die Unterscheidung zweifellos
richtig. So weit kann man Vischer und Wackernagel das Psy-
chologische zugeben; dass dieser aber auch historisch den zeit-
lichen Vorgang des Epos nachgewiesen habe, war damals nicht
mehr den Erkenntnissen der Zeit entsprechend. Denn das wusste
man damals schon, dass weder die griechischen noch die indi-
schen Epen die ältest überlieferten Dichtungen seien. Im Jahre
1837, als Wackernagel seinen Aufsatz veröffentlichte, konnte man
noch meinen, auf der Basis von Geschichte, Mythologie und
Philosophie den Nachweis für die Priorität des Epos erbringen
zu können; denn obwohl der Engländer Jones schon im letzten
Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts einen Hymnus des Rig-
veda übersetzt hatte, war es doch noch lange nicht bekannt,
dass man es hier mit der ältesten poetischen Urkunde der weißen
Rasse zu tun habe.
BERN S. SINGER
431
AUS ILSE FRAPANS WERDEZEIT
Der 25. Mai 1881 brachte mit der zweihundertsten Wiederkehr
von Calderons Todestag die universale Huldigung desjenigen
spanischen Dichters, der im Urteil seiner Heimat wie des gesamten
Auslandes als der größte gilt — nach Goethe „dasjenige Genie,
das zugleich den größten Verstand hatte". Seiner Stellung in der
vergleichenden Literaturgeschichte und speziell zu Deutschland ge-
dachte der Festartikel von Max Koch^) mit der Anerkennung
Calderons als höchsten literarischen Ausdrucks seines Volkes in
einer gegebenen Zeit — „wenn uns auch die Poesie Calderons
fremd und kaum verständlich geworden ist". Um so mehr
konnte die Berliner Preisausschreibung für die königlich spanische
Akademie, die übrigens beinahe zu spät erfolgte, nur für Dichter
von Erfolg sein, deren vornehmstes Streben es von jeher gewesen,
das Fremde ins Deutsche hineinzuarbeiten. Zur Beurteilung der
160 eingegangenen deutschen Bewerbungen hatte der spanische
Gesandte, Graf Benomar, Paul Lindau als ersten Preisrichter er-
nannt und auf dessen Vorschlag Berthold Auerbach und Heinrich
Kruse beigezogen. Ihr einstimmiges Urteil fiel auf das unter dem
Motto „Nord und Süd" eingereichte Stanzengedicht, das in neun
Strophen eine mit treffender Charakteristik aufs beste gelungene
Überschau der Hauptwerke des großen Spaniers enthielt. Sein
Verfasser war der damals in Zürich -Hottingen wohnhafte Dichter
und Übersetzer Edmund Dorer (1831 — 90 2), der den Preis —
bestehend in einer goldenen Medaille im Werte von Fr. 500 und
einem Ehrendiplom — schon durch seine frühere Wirksamkeit
verdient hätte. Als gründlicher Kenner Calderons wie der spani-
schen Poesie überhaupt hatte Dorer in seinen Gedichtsammlungen
„Bunte Blätter"^), „Cancionero", „Granatblüten"*) die schönsten
Pflanzen aus dem Liedergarten des Südens in sein Land versetzt
und sich damit die Anerkennung der allgemein Gebildeten wie
1) „Calderon in Deutschland" in der Wochenschrift für das Leben des
deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst: „Im neuen Reich".
Leipzig, Hirzel 1881, Nr. 21.
2) Ein ausführliches, auf Grund des handschriftlichen Nachlasses ge-
arbeitetes Bild seines Lebens und Schaffens erscheint binnen Monatsfrist
bei Huber und Cie., in Frauenfeld.
3) Leipzig, T. O. Weigel 1878. *) Beide ebenda 1879.
432
der speziellen Fachgelehrten erworben. Nunmehr suchte der Be-
richterstatter des Madrider „Imparcial" nicht allein durch eine
(Prosa.) Übertragung das Originalgedicht Dorers den Lesern der
mit über f41 000 Exemplaren bedeutendsten spanischen Zeitung
zum Verständnis zu bringen, sondern erklärte dasselbe als die
beste unter allen dem Wetteifer der Nationen erblühten Huldi-
gungen Calderons, die jbei der [Feier zur Veröffentlichung ge-
kommen seien.
Die Mitteilung von der Zuerkennung des Preises an Edmund
Dorer machte in den letzten Aprilwochen des y übel jah res J'die
Runde durch Deutschlands gesamte Presse; auf diesem Wege ge-
langte sie auch zur Kenntnis der damals dreißigjährigen Dichterin
Ilse Frapan, welche unter ihrem Mädchennamen Elisa Therese
Levien ein Lehramt an der Volksschule ihrer Heimatstadt Ham-
burg bekleidete. War schon in früher Jugend die allseitige Aus-
bildung dieser Frau von keiner Seite irgend einem Zwang unter-
worfen gewesen, so gestattete ihr eine beneidenswerte Freiheit
des Lebens auch jetzt noch, sich ruhig allen heitern und schönen
Eindrücken zu überlassen. Ihre Mußezeit konnte sie darum aus-
giebig zum Studium fremder Sprachen und Literaturen verwenden
— in Betätigung einer frühzeitig entwickelten Liebe, aus welcher
das folgende Schreiben an den bekränzten Calderonsänger ohne
weiteres verständlich ist.
Hbg. 24/4 81
Verehrter Herr Doctor !
Verzeihen Sie zuvörderst, dass eine Unbekannte es wagt, Sie mit
einigen Zeilen zu belästigen; aber sie denkt sich, diese Unbekannte, dass
Sie an diesem Tage froh gestimmt sind, und da ist man ja zur Güte ge-
neigt! — Ich läse gar zu gern ihre preisgekrönte Dichtung, erstlich aus
Interesse für Caldeion, dann aus Teilnahme für die Feier und endlich —
aus einem persönlichen Interesse für die Preisbewerbung überhaupt!
Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, der dreisten Schreiberin dieser
Zeilen, die Ihnen übrigens herzlich Glück wünscht unbekannter Weise, in
einem kurzen Wörtchen anzuzeigen, wie oder wo und wann Ihr Gedicht im
Druck erscheinen wird, und wie sie diesen ihren Herzenswunsch befriedi-
gen könnte ! ? !
Mit aller Hochachtung
Ilse Levien.
Hamburg. Neustr. Fuhlentwiete 32. I.^)
1) Neustädterstraße — Fuhlentwiete ist der zwischen den Alsterbecken
und den Eibehäfen gelegene Stadtteil Hamburgs.
433
Dorers liebenswürdiger Natur blieb eine Ablehnung der so
bescheiden-herzlich vorgetragenen Bitte versagt, wenn er auch mit
seinem strengsten Kritiker^) darin einig ging, dass die Architek-
tonik seines Gedichtes viel zu wünschen übrig lasse und nirgends
aus einem originellen Grundgedanken hervorgegangen erscheine.
Anderseits liegt im Urteil eines andern Kenners^) („wem solches
zu schreiben vergönnt worden, den hat die Muse nicht nur für
diese Gelegenheit geküsst") die Erklärung für den gemeinsamen
Boden, auf dem die Vereinigung von „Nord und Süd" — der
bald darauf geschlossene Freundschaftsbund der angehenden
Dichterin mit dem auf dem Höhepunkt seines Könnens angelangten
Sänger — hat geschehen können. Die Befestigung dieser Be-
ziehungen erfolgte mit dem ersten Schreiben Dorers an seine
Verehrerin, der er das indessen überall durch die Presse verbrei-
tete Preisgedicht ^) übersandte — in des Dichters Heimat war es
J. V. Widmann, der dem Autor seine Freude nicht verhehlte, „die
Dichtung im Vaterland weiter verbreiten zu helfen". Else Levien
dankte mit folgenden Worten:
Hbg. 8/6. 81.
Sehr geehrter Herr Doctor!
Sie haben mir mit der Erfüllung Ihres freundlichen Versprechens eine
ordentliche Pfingstfreude bereitet, und ich danke Ihnen herzlich dafür!
Sie können sich denken, wie ich mit Ihrem schönen Gedicht zu allen
Freunden und Geistesverwandten gelaufen bin, es war doch auch noch
ganz etwas Besonderes, es so ganz unmittelbar aus der Hand zu erhalten,
die es geschrieben !
Die Prämierung Ihrer Arbeit widerlegt Ihr eigenes bescheidenes Urteil
und findet die herzlichste Zustimmung bei allen, die sie lesen ; ich kann
mir nicht denken, dass es möglich wäre, in so wenigen Worten eine schärfere
Charakteristik des Dichters und seines Landes zu geben.
Was werden Sie aber nun sagen, wenn ich so unbescheiden bin, Ihnen
gleichfalls Verse zuzuwenden und noch dazu gedruckte? Urteilen Sie nicht
zu hart, aber loben Sie erst recht nicht; ich weiß sehr wohl, wie gut das,
was ich darin sage, eigentlich auf jeden großen Dichter passt — der Enthu-
siasmus tut's eben nicht allein !
Mit aller Hochachtung Ihre
Ilse Levien.
^) Hugo Schuchardt in einer Artikelserie „Neueste deutsche Calderon-
Literatur", in der Beilage zur AUgem. Zeitung 1881, Nr. 193, 198/99,
200, 216.
2) Des finnischen Literarhistorikers und Philosophen Wilhelm Bolin
in einem Brief an Dorer vom 21. /23. Juli 1881.
3) „An Calderon zum 25. Mai 1881"; später im Druck von S. Schott-
laender in Breslau erschienen.
434
Dem Schreiben lagen die Strophen bei, welche die Calderon-
Begeisterte zwar veröffentlicht, aber nicht zur Konkurrenz anzu-
melden sich getraut hatte, da sie, auf wenig gründliche Kenntnis
der Werke des Besungenen fußend, mehr nur instinktiv ahnend
hatte dichten können. Das seltene Poem, das vom „Hamburger
Fremdenblatt" an leitender Stelle^) aufgenommen worden ist,
hat folgenden Wortlaut:
ZUM ZWEIHUNDERTJÄHRIGEN TODESTAGE CALDERONS
25. Mai 1881.
Von einem Helden hast Du uns berichtet,
Den das Geschick in Bande hart geschlagen;
Doch aufwärts stets das treue Aug' gerichtet,
Bezwang er selbst die schwersten Erdenplagen;
Der Leib zerbrach, der Geist blieb unvernichtet.
Und als die Seele himmelan getragen,
Führt' der verklärte Schatten seine Krieger
Den Weg des Ruhms und blieb im Tod noch Sieger.
So stehst Du heut' vor uns, erhab'ner Geist,
Als trügest selber Du Fernandos Züge;
Wer sich, wie Du, im Glücke standhaft weist,
Wo ist das Leid, das ihn zu Boden schlüge?
Als ob Du kaum von uns geschieden seist
Aus dieser Welt voll Schein und Ungenüge,
Zeigst Du der neuen Welt und ihren Söhnen
Den Pfad des ewig GüUigen und Schönen.
Das Leben ist ein Traum, aus Nacht geboren,
Hinschleicht's im Dunkel, dunkel zu versinken;
Was lebt, ist schon dem Leben halb verloren;
Die Blumen, die des Morgens Strahlen trinken,
Hat schon am Mittag sich der Tod erkoren;
Die Früchte, die Genuss und Labung winken,
Wie Sodomsäpfel wandeln sie beim Raube
Durch seine Hand zu Asche sich und Staube.
Und doch, umdrängt von Erdenqual und Not,
Sterblicher Mensch, ringsum Vergänglichkeiten,
Gelang's ihm, aus dem allgemeinen Tod
Sich ew'ge Güter rettend zu erstreiten;
Leuchtsterne unserm Wandel, wahres Brot
Des Lebens sind sie gleich zu allen Zeiten,
Die, wie Geschlechter auf Geschlechter sterben,
Sich von Geschlechtern zu Geschlecht vererben.
1) 1881, Nr. 120 (25. Mai 1881), zweite Beilage.
435
Zwar nimmer wird die Menge dazu taugen,
Es zu bewahren, das geweihte Pfand,
Am Boden haftend mit des Leibes Augen,
Wann hat sie je die Wahrheit selbst erkannt?
Nur Einz'ie sind's, die ihre Strahlen saugen.
Nur Einz'ie, die kein Irrtum abgewandt;
Doch wehe jenen, die dem Volke spenden
Unreinen Herzens, mit befleckten Händen.
Du warst der Reinsten einer, wie geschaffen
Zu einem Führer in der Geister Reich 1
Hoch war Dein Sinn und edel Deine Waffen,
Wer ist wie Du an Glut und Inbrunst reich?
Nicht Ruhmesglanz macht' Deine Kraft erschlaffen.
Getreu Dir selbst, bliebst Du Dir selber gleich.
Und was Du Unvergängliches gesungen,
Das hat die Mit- und Nachwelt längst bezwungen!
Ein Priester, deutest Du des Glaubens Wort,
Als der Alltäglichkeit verworr'nen Zeichen;
Ein Kämpfer, fichtst Du für der Ehre Hort
Und eilst, dem Helden selbst den Kranz zu reichen;
Ein Dichter, weißt Du in der Schönheit Port
Den Streit von Traum und Wahrheit auszugleichen:
Da muss des Lebens Gang sich schön vollenden.
Wo solche Sterne Schutz und Kräfte spenden.
Du hast Dir selber eine Welt gegründet;
Wohl ist sie weit und herrlich, diese Welt!
Und hast mit kunstgeweihter Hand entzündet
Die ew'ge Lampe, die den Bau erhellt;
Und Wunderbilder, lebensvoll gerundet,
Auf die ein Strahl des Zauberlichtes fällt,
Und bunte Schatten ziehn dort ihre Bahnen —
Viel zeigst Du uns und lassest mehr noch ahnen.
So ward denn Deine tiefste Sehnsucht wahr:
Du lebst unsterblich, nun, da sie gefallen
Des Leibes Fessel: unverfälscht und klar
Seh ich Dein Bildnis durch die Zeiten wallen;
Was Deines Volkes stolze Habe war,
Ein Gut der Menschheit ist's und eigen allen :
Und was uns heut' begeistert und erhoben,
Ist Hauch der Ewigkeit, ein Hauch von oben !
ILSE LEVIEN
Mittlerweile hatte Edmund Dorer seinem Festgedicht einige
schöne Strophen hinzugefügt und das Ganze als zweite, erweiterte
Ausgabe bei seinem Verleger, Wilhelm Friedrich in Leipzig, noch
436
im gleichen Jahre erscheinen lassen^). Wohl durfte die Kritilc
die Elastizität des Geistes bewundern, denn auch so liest sich
alles wie das Ergebnis einer einheitlichen Begeisterung. Der ein-
stimmigen Anerkennung durch die Öffentlichkeit schließt sich das
Urteil Ilse Leviens an:
Wandsbeck. Hamburgerstraße 3, 10/8. 81
Hochverehrter Herr Doctor!
Mit der lebhaften Freude empfing ich gestern Abend Ihre liebens-
würdigen Zeilen und Ihr schönes Gedicht; doppelt überrascht und erfreut
hat mich Ihre Sendung, da ich schon fürchtete, mir durch meine schlechten
Verse Ihr Missfallen zugezogen zu haben ; denn der Brief, von dem Sie mir
schreiben, ist leider gar nicht in meine Hände gelangt! Ich hoffe indes,
die Post wird ihn mir noch herausgeben, ich werde sofort Jagd auf mein
Eigentum machen! Vielleicht, dass er wegen eines Irrtums in der Haus-
nummer (52 statt 32) zurückgegangen ist, was übrigens auch ein Wunder
wäre, da der gestrige Brief die nämliche Adresse, und zwar mit Blaustift
geändert, zeigt.
In jedem Fall danke ich Ihnen, verehrter Herr Doctor, aufs herzlichste,
für damals und heut; was werden Sie von mir gedacht haben, dass ich
Ihre Zeilen unbeantwortet ließ!
Und jetzt zu Ihrem erweiterten Gedicht! Ich kannte es noch nicht
in dieser Gestalt und finde die Idee, es zu vervollständigen, und die Art,
wie dies geschehen ist, ganz vortrefflich. Durchaus harmonisch fügen sich
die neuen Verse den übrigen an und sind, meine ich, in jeder Hinsicht als
ein Gewinn für die Dichtung zu betrachten. Wer den spanischen Dichter
kennt, wird freudig zustimmen bei dieser Heraufbeschwörung seiner schön-
sten und charakteristischsten Gestalten — wer ihn nicht kennt, wird durch
solche direkte Hinweise am ehesten dazu veranlasst werden, ihn selbst
zu lesen.
Noch einmal, ich sage Ihnen innigen Dank, dass Sie an mich gedacht
und mir die Bekanntschaft mit dieser neuen Fassung Ihrer Dichtung in so
gütiger Weise selbst vermittelt haben.
Mit größter Hochachtung
Ihre ergebene
Ilse Levien.
Dorers Dankgefühl äußerte sich in einer der Absenderin selbst
hochwillkommenen bereitwilligen Kritik ihres Poems, wobei er
gewohnt war, einen sehr deutlichen Maßstab für die Beurteilung
von Schrift und Mensch aufzustellen, nicht allein sich in seiner
verneinenden Kraft zu zeigen, sondern durch positive Ratschläge
klärend und fördernd zu wirken. Nach gegenseitiger Ausgleichung
der Kräfte, wie sie dem brieflichen Verkehr beider entspringen
^) An Calderon, zum zweihundertjährigen Todesgedächtnis am 25. Mai
1881. Gedicht von Edmund Dorer. Zweite, erweiterte Ausgabe.
437.
musste, durfte Dorer es auch wagen, sie tätig in das große Weri<
eingreifen zu lassen, das den Spanier und seine Kultur den Deut-
schen näher bringen sollte. Es galt die Sammlung „Beiträge zur
Calderon-Literatur" i), ein Verzeichnis sämtlicher deutscher Auf-
sätze, Abhandlungen und Gedichte, zur Calderon-Feier in Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz erschienen, und damit die ab-
schließende Ergänzung seiner großen bibliographischen Übersicht
der „Calderon-Literatur in Deutschland" 2). Der Anhang stellt die
später erschienenen Schriften zur Calderon-Literatur zusammen
und fügt einige Nachträge zur frühern Übersicht bei. Dass sich
der Verfasser der Bibliographie, wie der nachstehende Brief zeigt,
zur Beschaffung des Materials allseitig umgetan, musste auch von
der Fachwissenschaft als verdienstlich anerkannt werden, wenn
auch die Ausführung zeigte, wie schwierig es war, dass eine
Person auf zwei so verschiedenen Gebieten — Dichtkunst und
Sammelarbeit — den Preis erringen konnte.
Hamb. 23/8. 81.
Hochverehrter Herr Doctor!
Ihr lieber langer Brief vom 13. Juni ist nun richtig in meine Hände
gelangt, ich bin sehr froh darüber und danke Ihnen nachträglich noch sehr,
dass Sie meiner kleinen Arbeit eine so eingehende Besprechung widmen.
Was nun die Umstellung der Strophen betrifft, so gefällt mir Ihre An-
ordnung ganz vorzüglich ; ich sehe ein und tat es eigentlich auch vorher
schon, dass die beiden ersten Strophen für eine Introduktion (die sie ur-
sprünglich vorstellen sollten !) zu lang sind, und bin überzeugt, dass Sie ihnen
eine viel passendere Stelle angewiesen haben, da auf diese Weise die Ok-
taven zusammenbleiben, die direkt an den Dichter gerichtet sind.
Auch Ihre Änderungen finde ich begründet, zum großen Teile wenig-
stens. In Strophe I. kommen bei mir Geist, Seele, Schatten etwas dicht
aufeinander; ich sage also lieber mit Ihnen:
Die Ketten fielen, die er lang getragen,
Und der Veri<lärte führte seine Krieger . . .
In der sonst allgemein gehaltenen Str. III. störte mich das „seine Hand"
auch schon — „der gier'gen Hand" ist gewiss besser, obgleich das an und
für sich nicht schöne Wort durch das Apostroph nicht eben schöner wird;
aber ich glaube, das ist unvermeidlich.
Wenn Sie in Str. V. Einz'le zu hart finden, könnte man es nicht durch
Wen'ge ersetzen? Mir scheint das einfacher, als wenn man sagt: Wieselten
sind etc., wo doch immerhin ein Wort ausgelassen werden muss. Dagegen
halte ich unreine Gabe statt unreinen Herzens in derselben Strophe für
verständlicher und daher auch für besser.
*) Dresden, Lehmann'sche Buchdruckerei 1884, 47 Seiten.
2) Leipzig, W. Friedrich 1881.
438
Mit der Änderung für Str. VIII.
Zum Lichte führst du uns auf gold'nen Bahnen
weiß ich indes leider nicht recht etwas anzufangen, da die 3 Verse:
Und Wunderbilder, lebensvoll gerundet,
Auf die ein Strahl des Zauberlichtes fällt,
Und bunte Schatten ziehn dort ihre Bahnen
doch zusammengehören und einzeln nicht verständlich sind. Vielleicht
sagen Sie mir noch einmal Ihre Meinung darüber.
Meine Freude über die Berücksichtigung meiner Verse in der Biblio-
graphie habe ich Ihnen schon in meinem vorigen Brief ausgesprochen und
kann Ihnen meinen herzlichsten Dank dafür heute nur wiederholen.
Was ich von Festartikeln in hiesigen Zeitschriften auftreiben kann,
erhalten Sie gleichzeitig mit diesem Briefe); der in den „Hamburger Nach-
richten" 2) stammt aus der Feder des ausgezeichneten Kritikers und Kenners
Kapellmeister F. A. Riccius. Die „Hamburger Reform" 3) brachte ein Ge-
dicht zum 25. Mai, das Sie als Curiosum gewiss auch amüsieren würde.
Im „Fremdenblatt" stand eine kurze biographische Skizze unmittelbar unter
meinen Versen, als eine Art Erklärung!
Da Sie, verehrtester Herr Doctor, mir so freundlich schreiben, wage
ich auch, Ihnen zu erzählen, dass ich einige Novellen auf dem Gewissen
habe, — auf die Gefahr hin, Sie damit sehr wenig zu interessieren! Eine
davon, die erste, ist im Anfang dieses Jahres meuchlings gedruckt worden,
und noch dazu in einem jüdischen Wochenblatt*), dem ein übereifriger Be-
kannter sie ohne mein Wissen eingeschickt hatte.
Die Geschichte hat mir aber dennoch den größten Spass gemacht,
obgleich meine arme kleine Novelle von Druckfehlern wimmelt; es fängt
schon mit meinem Namen an, Vor- und Zuname sind völlig verkehrt
gedruckt.
Theodor Storm^) hat einiges von mir gelesen und — gelobt, ebenso
Wilhelm Raabe^), der mir noch in seinem gestrigen Brief einen „verständigen
Redakteur" wünscht, und wünscht, dass ihm meine Sachen zur richtigen
Stunde in die Hände fallen mögen !
Aber drucken will sie keiner H)— Ich habe mir schon ein extra Fach
für „abschlägige Bescheide" eingerichtet, und ich finde, dass es sich unge-
heuer schnell füllt! Das verdirbt mir aber das Vergnügen am Produzieren
1) Siehe „Beiträge zur Cald.-Lit.", Seite 41.
2) 25. Mai 1881, Nr. 123.
3) 25. Mai 1881, Nr. 123, Calderon, zum zweihundertjährigen Todestag
des Dichters. Ein Gedicht von Harbert Harberts.
*) ?— solche Zeitschriften schössen gerade damals in Deutschland und
speziell in Hamburg wie Pilze aus dem Boden.
5) Ein Jahr zuvor (1880) waren Storms Gedichte in sechster Auflage
erschienen. Vgl. über ihn Ilse Frapans Roman „Erich Hetebrink".
6) der damals eben mit seinem „Hörn von Wanza" einen beispiellosen
Erfolg errungen hatte.
') Noch der in seinem fünften Jahrgang 1883 in veränderter Form er-
schienene Deutsche Literatur-Kalender Jos. Kürschners weiß von der Schrift-
stellerin Ilse Levien keine Buchwerke zu verzeichnen.
339
keineswegs, schlecht hat es niemand genannt, nur immer „ungeeignet", und
was heißt das eigentlich?
Bitte, seien Sie mir nicht böse, dass ich Ihnen soviel vorgeschwatzt
habe, es ist mir so in die Feder gekommen! Vielleicht wünschen Sie mir
auch „Glück zum Handwerk!" wie Raabe — ich kann viel davon gebrauchen!
Mit herzlicher Hochachtung
ihre ergebene
Ilse Levien.
Der schon hier zu Tage tretende Qrundzug im Schaffen der
Dichterin ist das rastlose Vorwärtsdrängen und Hinaufstürmen
zum Gipfel, das sie noch ein Vierteljahrhundert später die Welt
so neu wie jeden Tag sehen und sprechen lässt: „Mein Bestes
h'egt noch vor mir." Und an diesem überreich erfüllten Leben
nimmt nun auch Edmund Dorer teil; mit Storm und Raabe tritt
er in die Reihe der „erlauchten Geister, die dem Neuling vorge-
geleuchtet". Ja, wenn die gereifte Schriftstellerin in ihrer auto-
biographischen Skizze, worin sie kurz vor ihrem Tode ihr Leben
im Spiegel überblickt, bekennt, von einem Storm, Raabe und
später von F. Th. Vischer, Paul Heyse und andern überall ge-
führt, gefördert, gehoben, befreundet worden zu sein, so darf
auch Dorer einen Teil ihres Lobes beanspruchen: „Mein ganzes
Leben ist ein Dank an euch." So bezeugt sie es ihm^) mit ihren
großen, feinen Schriftzügen selber:
Hamburg 30/8 81.
O fröhlicher Tag, o freundliche Zeit,
Wo's bunte, goldene Früchte schneit.
Zwei schöne Früchte an einem Zweig,
Da halt ich sie nun und bin so reich!
Wie würzig ihr Duft, wie echt ihr Gehalt,
Die Form wie edel und die Gestalt !
Wo kamen sie her? Ei nun, vom Baum,
Dem ewig grünen im Weltenraum,
Der am Zeiten Born, mit der Menschheit Geist
Die unvergänglichen Wurzeln speist.
Der sich in tausend Blättlein regt,
Der Blüten und Früchte trug und trägt ;
Da wachsen sie hoch am frischen Ast,
Unter Sterne Geflimmer und Sonnenglast.
Wer brach sie mir? Eine gütige Hand,
Die der Fremden dachte im fernen Land ;
Die gerne erfreut und freundlich gibt.
Weil sie die glücklichen Menschen liebt ;
^) Anlässlich der Übersendung der beiden eingangs erwähnten Gedicht-
sammlungen „Cancionero" und „Granatblüten".
440
Die brach die Früchte golden und jung,
Zur Labung mir und Erinnerung.
Wie kann ich danken? Ich weiß es nicht;
Die tiefste Freude am stillsten spricht!
Doch mein' ich, noch weiß es nicht alle Welt,
Wie köstlichen Samen die Frucht enthält!
Viel ruhen noch eng im geschlossenen Haus,
Die will ich pflanzen und säen aus;
Und Blumen werden draus erblüh'n.
Auch bunt wie die Früchte und Zweige grün,
Zum Schmuck für das Haupt, zum Strauß für die Hand,
Die die herrlichen Früchte gepflückt und gesandt! ilse levien
ZÜRICH H. SCHOLLENBERQER
nna
LAIENGEDANKEN ÜBER
EINE QELEHRTENBIBEL
Es ist ein altes Recht des Protestanten, dass er nicht die
Theologen unter sich ausmachen lässt, was in erster Linie ihn
angeht. Darum nehme ich mir heraus, ein Wort zur Zürcher
Bibelfrage zu sagen ; vor einem Pfarrer habe ich dabei den Vorteil,
dass mir schwerlich einer dogmatische Voreingenommenheit vor-
werfen wird. Ich schätze jedoch die Gefahr, missverstanden zu
werden, nicht gering; denn ich fühle wohl, dass wir junges Ge-
schlecht um ein Menschenalter von unsern Bibelverdolmetschern
getrennt sind. Die sind offenbar stolz darauf, an einer unerhört
fortschrittlichen Tat mitzuwirken. Doch steckt, wie mir scheinen
will, ihr ganzes Denken so tief im vergangenen Jahrhundert, dass
die neue Bibel bei ihrem Erscheinen leicht veraltet sein könnte
und niemand zu locken vermöchte, nach ihr zu greifen.
Die Wissenschaft reizt uns heute nicht mehr allein, und wo
wir immerzu Fortschritt, Fortschritt rufen hören, werden wir leicht
verstimmt. Wohl glauben wir an den Fortschritt der Wissenschaft
und Technik, wie alles Verstandesmäßigen; aber wo gefühls-
mäßiger Ausdruck in Frage steht, wie bei Religion und Kunst,
da gibt es keinen Fortschritt, sondern immer wieder höchste Werte,
die einander nicht überholen und übertrumpfen. Wissenschaftliche
Werke werden überholt, künstlerische, wenn sie es in hohem
Grade sind, nie. Der gefühlsmäßige Ausdruck der Kultur und sein
Hauptmittel, die Sprache, ändern sich wohl, entwickeln sich aber
441
nicht im Sinne der Wissenschaft; und so gut Homer, Shakes-
peare und Goethe zu ihrer Zeit und gestern gleich hohe Kunst-
werke waren, so unabänderh'ch ist der Wert der Lutherbibel.
So weit sie als Kunstwerk zu gelten hat, natürlich. Wenn
sie textlich heute noch stimmte, wäre das ein schlimmes Zeichen
für vierhundert Jahre theologischer Forschung. (Zugegeben, dass
sich in dem Prachtbau der Lutherbibel auch langweilige Korridore
und öde Nebenräume finden.) Wäre nun aber eine wissenschaft-
lich einwandfreie Übersetzung, die genau den Sinn des Urtextes
wiedergäbe, das höchste Wünschbare? Für unsere Bibelübersetzer
scheint es so zu sein. Mit der Genauigkeit ist aber bei diesem Werk
erst der halbe Weg zurückgelegt. Erst dann ist das Ziel erreicht,
wenn auch die Wirkung des Urtextes herausgebracht wird. Wenn
man gutes Hebräisch mit schlechtem Deutsch wiedergibt, wie zum
Beispiel im siebenten Psalm mit den Worten „und macht er seine
Pfeile zu brennenden", so kann ich, obwohl ich kein Hebräisch
verstehe, ruhig sagen: die Übersetzung ist falsch; denn es ist gute
Sprachmünze in schlechte gewechselt worden. Und wenn in dem
Psalmvers „Viel sind die Schmerzen derer, die andern Göttern nach-
eilen" das Wort „andern" in halben eckigen Klammern und
das nächste Wort in ganzen eckigen Klammern steht, so ist die
Übersetzung falsch; denn was Worte einer religiösen Dichtung
waren, stellt sich nun wie eine chemische Formel dar und er-
weckt in uns ähnliche Gefühle wie eine chemische Formel. Und
wenn bei Jesaja von Terebinthen die Rede ist, so konnten sich die
alten Hebräer ein Bild dabei machen, bei unsern Zürcher Bauern
wird der Name aber nur eine Leere im Gehirn zurücklassen;
Luther, der hier kühn die heimische Eiche hinsetzt, dolmetscht
für das Gemüt wahrer. Wer also dichterisch übersetzt, erweist
einem Buch, das zur Seele reden soll, die größere Treue, als
wer es gelehrt übersetzt. Und das muss Luther jeder lassen: er
hat Kraft mit Kraft, Holdseligkeit mit Holdseligkeit, feierliche
Töne mit feierlichen Tönen, er hat ein großes Dichtwerk mit
einem großen Dichtwerk verdolmetscht. Mit Dogmatik hat das
aber nichts zu tun.
Darum kann auch Luthers Sprache nie veralten, so lange
deutsch gesprochen wird. Jeder, der fühlt, dass sein sprachlicher
Ausdruck sich nicht verflauen und abwetzen darf, greift zur Luther-
442
bibel als zum lebendigen Urquell deutscher Prosa. Stets hat
Luther das treffende, das farbige, das körperliche Wort gefunden.
Dass man heute noch vom Gichtbrüchigen reden könne, kann
nur einem Gelehrten unfassbar sein, der nie um künstlerische
Wiedergabe, um großen Stil gerungen hat; wie blöde, schemen-
haft ist daneben der Gichtkranke, oder die herbe Frucht neben
den Heerlingen! Unerreicht ist die Sprache Luthers besonders
in ihrem Rhythmus, und auch da wieder am höchsten an den
lyrischen Stellen der Psalmen, des Hohen Liedes, Hiobs, des Weih-
nachts- und Passionsevangeliums. Hier hat die Zürcher Bibel-
kommission Wortklaubereien und schulmäßiger Sprachrichtigkeit
zuliebe Schönheiten geopfert, die keiner, der da Ohren hat zu
hören, missen möchte. Wie Orgelton klingt das Lutherwort „Was
ist der Mensch, dass du sein gedenkest"; mit zwei Federstrichen
duckt die Kommission den feierlichen Schritt „dass du seiner ge-
denkst", und wenn sie dann „das Menschenkind" hinsetzt, wo es
hieß „und des Menschen Kind, dass du dich sein (nicht seiner!)
annimmst", so erzeugt sie dadurch eine jener langen Ketten von
Senkungen, die das sichere Anzeichen für eine schlechte Prosa
sind. Und dafür könnte man aus jedem zweiten oder dritten
Psalmvers der Proben ein warnendes Exempel ableiten. Luthers
Sprache veraltet? Hat sie darum Friedrich Nietzsche als Vorbild
genommen, als er ein Buch von großem Stil, von hehrer Feier-
lichkeit schreiben wollte?
Das bewusst Unkünstlerische der vorliegenden Übersetzungs-
proben, in das auch nie aus dem Unbewussten heraus ein dich-
terischer Wert sich verirrt hat, ist wohl der unmittelbare Ausfluss der
ganz und gar verstandesmäßig gewordenen, bei Freisinnigen und
Orthodoxen gleich verstandesmäßig gewordenen Religion. Das
dogmatische Gezänk ist aber den Laien längst ein Greuel und
wird es immer mehr werden; dass die Bibel durch eine neue^
bloß wissenschaftliche Übersetzung ohne poetische Werte erst
recht ein Arsenal für überflüssige Streitigkeiten werde, dafür ist
sie wenigstens den Laien zu gut. Haben die Herren Theologen
sich nicht vor die Brust geschlagen, als die Lehre von der Un-
geschichtlichkeit Christi weite Kreise erfasste? Das Kraut ist in
ihrem Garten und aus ihrer Saat gewachsen, wenn sie auch
heute noch so sehr über Unkraut schreien. Verinnerlichung.
44a
wollen wir heute, nicht Veräußerlichung. Und Verinnerlichung
ohne Kunstmittel ist ein Unding; ich möchte den Theologen
sehen, dessen Predigt wie ein Oratorium Bachs, wie der Wellen-
gang gotischer Gewölbe das Herz mit sich risse.
Wem soll denn die neue Bibel dienen? Den Seminarien der
theologischen Fakultät, wie der „Freund" dem Lateinschüler dient?
Haben Übersetzungen wie „und macht er seine Pfeile zu bren-
nenden", haben Verballhornungen des Gebets des Herrn „Unser
Brot für morgen gib uns heute", wo dann in der Fußnote steht,
sachlich würde die alte Übersetzung zwar passen . . . , haben
all die kleinen Neuerungen, die nicht einen bessern Sinn, sondern
nur eine peinlichere Anlehnung an die fremde Sprachform geben,
irgend einen Zweck in einer Bibel für den einfachen Mann oder für
den Gebildeten, der sich nichts aus theologischem Kleinkram macht?
Die Bibel, die dem Laien in die Seele reden soll, die Bibel,
die ihrem Urbild treu sein will, muss eine Dichtung, ein großes
Kunstwerk sein; eine Gelehrtenbibel meinethalben für die Theo-
logen, eine schöne Bibel fürs Volk. Und da nun seit dem Be-
stehen der Welt noch nie eine Kommission ein Kunstwerk ge-
schaffen hat und die einzige deutsche Bibel, der dichterischer
Wert zukommt, die Luthers ist, wird man sich eben an Luthers
Stil und Luthers Rhythmen halten müssen. Geschaffen hat eine
Kommission noch kein Kunstwerk, wohl aber geflickt, und dabei
ist es nicht immer schlecht herausgekommen. Wo also die Über-
setzung Luthers falsch oder unklar ist, wo sie aus seiner Dog-
matik und nicht aus seinem Herzen kommt, dort soll gebessert
werden. Aber nur dort, nicht wegen Haarspaltereien und philo-
logischen Süchten, die den Inhalt der christlichen Lehre um
keinen Deut ändern. Und wo man ändert, da sei es mit künst-
lerischem Gewissen, da sage man sich: in der Wortwahl, im Ge-
fühlswert, im Rhythmus nicht schlechter als Luther! Dann nur
wird es möglich sein, eine Bibel zu schaffen, die eine Kulturtat
ist, die man in jedem Hause gern hat als Quelle von Schönheit,
von innerer Kraft, von Erbauung und Lebensbereicherung.
Vollends als ein Geschlecht, das den Anschluss an den
Nachwuchs verpasst hat, zeigen sich die Zürcher Bibelübersetzer
bei all den vorgewiesenen Proben für die Druckeinrichtung. Da
444
muss man sich fragen: haben diese Gelehrten nie mit offenen
Augen ein schönes altes Buch gesehen, wie sie bis zur Mitte
des letzten Jahrhunderts die Regel waren ; ist ihnen von der ganzen
neuen Buchkunst, wie sie seit mehr als zehn Jahren blüht, nichts
zu Gesicht gekommen, kein Buch aus dem Inselverlag, keines
von Diederichs, keins von den ungezählten andern? Haben sie
die Kunde nicht vernommen, dass man heute viel mehr Bücher
kauft, weil jeder gern besitzt, was seinem Haus zum Schmuck
gereicht, während es bei den Büchern des letzten Geschlechts
ja ganz gleichgültig war, ob man sie sich lieh oder anschaffte?
Gerade bei einer Bibel ist es wichtig, dass sie wie ein Kunst-
werk aussehe. Einmal gewinnt so der Gefühlswert des Gelesenen ;
sonntägliche Stimmung, die der Laie in der Bibel sucht, ist bei
diesen ganz und gar werktäglichen Druckproben ausgeschlossen.
(Eine Warnung: wenn der Druck gut ist, fallen Verstöße gegen
den Sprachstil viel leichter und viel schwerer ins Bewusstsein.)
Und dann wünscht man doch, dass der Laie die Zürcher Bibel
lieber kaufe und schenke als die Lutherbibel; das tut er aber nur,
wenn man ihm ein schönes Buch bietet ; auch der Theologe hat
die Pflicht, an der Geschmacksbildung des Volkes mitzuwirken.
Und wo man fragt: wie bringen wir den Gebildeten wieder zum
Bibellesen, da muss eine Antwort lauten: unter anderm durch
ihre äußere Schönheit. Die kostet übrigens keinen roten Rappen
mehr als die Hässlichkeit.
Damit wir uns verstehen, ein Vorschlag. Man wähle das
Format der „Brücke", das sich schon als künftiges Weltformat
aber auch sonst empfiehlt. Dazu eine gute Fraktur alten oder
neuen Schnitts, sagen wir die Goethefraktur. Der einspaltige Text
sei von einer Linie in der Dicke der Schattenstriche umrahmt;
das Auge soll ihm in ruhigem Schritt folgen können, nicht in
einem Hindernisrennen über Ziffern und Klammern; der Inhalt
der Klammern werde mit dem Text verwebt. Außer der Linie:
auf der Außenseite des Buches (des bequemen Nachschlagens
wegen) die Versziffern, auf der Innenseite (der Laie hätte sie am
liebsten ganz weg, aber sie stören dort am wenigsten) die Parallel-
stellen; beide in einer schmalen Antiqua, die mit großer Sorgfalt
zu wählen ist. Wo Zweifel über die Trennung der Verse ent-
stehen kann, ein schräger Haarstrich, nicht die hässliche Marke
445
in einer der Druckproben. Alle Fußnoten am Ende des Bandes.
Keine prosaisclien Untertitel (Weheruf über soziale Misstände, bei
Jesaja!), kein großes A, altes Testament, großes B, neues Testa-
ment. Gelehrtenbibel, Gelehrtenbibel!
An der Peterskirche in Zürich steht ein schlichter Stein mit
der Inschrift: Ruhestätte J. C. Lavaters; durch schöne Umrisslinie
und Schrift und gute Aufteilung der Fläche ist er ein reines Kunst-
werk. Das ist Kultur. Dorthin kam ein Pedant und fügte zwei
Zeilen hinzu, geboren den . . . gestorben den . . . Die gute Auf-
teilung der Fläche, das Kunstwerk ist zerstört. Das ist Unkultur.
Wenn der Kanton Zürich die Überlieferung hoch hält, eine zeit-
gemäße Bibel zu führen, so ist das Kultur. Wenn man das aber
«inseitig vom wissenschaftlichen Standpunkt auffasst und Werte,
die andere in Übersetzungs- und Buchkunst geschaffen haben,
kühl hintansetzt, so ist das Unkultur. Wir Laien dürfen aber ver-
langen, dass eine Bibel, die unser Land repräsentiert, nicht nur
«in Bild unserer theologischen Wissenschaft, sondern unseres
Kulturstandes sei.
ZÜRICH ALBERT BAUR
D D D
DISCORSO TENUTO A LUGANO
Cari concittadini,
II Männerchor di Zurigo, grato alle autoritä ed alla cittadinanza di
Lugano deü' invito gentile e dell' accoglienza festosa, ha voluto che un figlio
della Svizzera francese parlasse questa sera in nome degliZurigani. Ed io ho
accettato l'incarico ben volontier!, non solo come un onore, ma pure perche
esso contribuiva a dare a questa nostra riunione un carattere quasi simbo-
lico deir unitä svizzera. A questo proposito, comincerö con un ricordo perso-
nale, che fu per me una esperienza proficua. Ventidue anni fa, andando per la
prima volta a Roma per un anno di studi, mi fermai mezza giornata a Lu-
gano. Non sapevo allora due parole d'italiano, ignoravo i costumi meri-
dionali; nelle strade della cittä, persino davantl al lago, ebb! 11 sentimento
doloroso della solitudine; verso mezzogiorno, spinto dalla fame, entrai nel
Caffe Federale colla speranza di trovarvi qualche cameriere intendente delle
lingue federali. Ma anche 11 dovetti usare il linguaggio internazionale dei
^esti, e ripartil verso Milano pleno di malinconia. Perö, giunto a Chiasso,
proprio alla frontiera, quanto mi divenne cara questa terra ticinese, come
la sentii terra svizzera! Quel giorno non ebbi l'animo di proseguire; mi
fermai a Chiasso, per dormire un' altra volta sul suolo natlo. Mi accorsi
allora che le frontiere vere non sono quelle piü apparenti delle lingue, ma
quest' altre, piü profonde, dell' ideale politico et delle istituzioni comuni
conquistate dalla volontä e dal sacrificio di tutti.
Certo, la diversitä delle lingue costituisce per noi Svizzeri una grave
difficohä e, nello stesso tempo, una vera ricchezza intellettuale e morale.
446
Si tratta di superare la difficoltä, senza diminuire la ricchezza. Problema
arduo! Ma senza problemi, la vita dell' individuo e delle nazioni perderebbe
molto del suo pregio. Altre nazioni Hanno altri problemi che si risolvono
colla forza e coi cannoni ; noi abbiamo, e siamone lieti, un problema di
civiltä, da risolvere colla buona volontä, colla mente e col cuore. La buona
volontä esiste in noi tutti; mancano spesso le occasioni ed i mezzi prati-
ci per tradurla in azione. Bisogna provocare addirittura queste occasioni
propizie, ed aumentare fra noi il numero delle relazioni personal!.
Pochi mesi fa, tre Ticinesi, i signori Bertoni, Mariani e Tosetti ven-
nero a Zurigo, e, in una serata che fu per molti Zurigani una rivelazione,
iniziarono quest' opera di affiatamento superiore a tutti gli interessi regio-
nali ed a tutti i partiti politici. Un risultato di quella serata e la gita del
Männerchor a Lugano . . .
Per conquistare i vostri cuori, il Männerchor ha scelto il mezzo che
meglio si adatta al suo programma ed alla vostra individualitä; egli scende
dalla montagna e se ne viene al vostro lago ceruleo sulla strada maestra
deir arte, della musica.
Inno d'amore, d'amore lieto o disperato, inno alla natura, natura splen-
dente di sole o folgorante di lampi, inno di guerra o inno al lavoro, ben
poco c'importano le parole tedesche, francesi, italiane, ladine, se tutte queste
melodie create da maestri nostri, cantate da voci nostre, se tutta questa
forza e tutto questo impeto convergono, in un'armonia suprema, verso la
patria, verso la rosa bellissima del poeta che fiorisce, dai monti fino ai
laghi, il giardino di Liberia affidato alla nostra virtü!
Vi abbiamo parlato questa sera il linguaggio dell' arte, perche, nella
collaborazione di tante forze elvetiche, il Ticino rappresenta piü particolar-
mente il genio artistico. Senza nominare, fra i morti, i grandi che onorarono
il paese al di lä delle nostre frontiere, mi rivolgo al presente, al domani,
ai vivi, giä ricchi di opere e ricchi pure di salde speranze.
Ricordo brevemente aicuni nomi soltanto ; gli scultori Chiattone, Vas-
salli, Pereda, la scultrice Isella che affermerä latinamente nella Repubblica
Argentina un doppio trionfo dell'arte svizzera e della causa femminile.
Ricordo i pittori Edoardo Berta, Luigi Rossi, Barzaghi-Cattaneo, Pietro
Chiesa e Ferragutti, che danno la forma ed i colori ad un mondo di im-
pressioni e di sentimenti, mentre il poeta Francesco Chiesa, nei suoi versi
robusti et densi di pensiero, ci revela l'anima segreta delle cose e lo
slancio dell' umanitä verso il „gran mar della vita", che „rispecchia l'ordine
dei cieli".
Oltre all' opera cosciente di.'questi artisti, c'e ancora il lavoro secolare
e quasi anonimo che si manifesta nella vostra architettura, nelle chiese,
nei palazzi comunali, nelle case private, tradizione architettonica che agisce
anche al di lä del Gottardo, e che dovrebbe agire di piü ancora, nei Ticino
ed altrove, ed estendersi ai fabbricati delle Industrie moderne. Perciö mi
auguro che la vostra Societä per la protezione dei siti si ricoUeghi alla
Societä svizzera, se non come sezione, almeno come socia, di modo che
ne risulti uno scambio di idee e di aiuto materiale.
C'e di piü: le qualitä che ammiiiamo nei vostri artisti, nella vostra
architettura, non sono fenomeni isolati ; sono il risultato di una vecchia col-
tura, ben superiore alla scienza dei pedanti, e si ritrovano dovunque nella
vostra vita giornaliera: nei modo di vestire, nelle mosse come nei concetti
447
della vita ammiriamo ed invidiamo non solo 1' eleganza, la finezza, il gusto
sicuro, ma sopratutto la bella semplicitä che risulta dalla natura ingentilita.
Dalla gran madre della civiltä europea, dall'Italia, voi serbate fedel-
mente un retaggio necessario alla nostra vita svizzera, che ha, come ra-
gione di essere, l'ambizione di realizzare praticamente il sogno di tanti
pensatori: l'armonia delle individualitä. Diversi gli uni dagli altri, eppure
affratellati dallo stesso ideale di libertä politica, di solidarietä sociale e di
dignitä umana, noi tendiamo, come le quattro voci di un coro, per vie
diverse verso una cima unica.
In una serata come questa, la cima ci appare chiaramente. Tal volta
perö le nubi della vita politica o degli interessi materiali la nascondono agli
occhi. Agisca allora, o concittadini, il ricordo durevole delle ore di sole e
di pace. Agisca allora la fede, piü forte di qualunque rancore. Giacche
appena usciti da un grave dibattimento andiamo incontro adaltre lotte piü
gravi ancora, affermiamo altamente il principio della vera repubblica: „la
lotta, si; il rancore, maü".
Darö precisamente in esempio l'attitudine del consigliere federale Motta
durante la discussione sulla convenzione del Gottardo. lo, avversario della con-
venzione, ho ammirato, nella risposta del consigliere Motta, la chiarezza
stringente e pure amichevole, e gli sono grato della gentilezza usata verso
di noi. Si parla in un modo inesatto, quando si dice che il signore Motta rap-
presenta nel Consiglio Federale il Canton Ticino ed un partito di minoranza ;
il vero h che questo partito e questo Cantone hanno dato il Motta alla
patria intera. Egli rappresenta, non interessi special!, ma bensi la coltura
iatina al servizio dell' ideale nostro.
Voglio terminare come ho cominciato, con un ricordo personale. Nel
1891, quando traversai per la prima volta il Canton Ticino, vidi alla stazione
di Giubiasco una giovane donna, di cui la bellezza mi colpl. Essa mi ap-
parve, in questo breve minuto di fermata, come la prima realizzazione del
sogno d'amore sognato da noi tutti a vent'anni. Oggi, questa bella scono-
sciuta e invecchiata come lo studente che l'ammirava . . . Figli, rughe, ca-
pelli grigi . . . Rimane intatta nel ricordo l'apparizione fulgurante di gio-
ventü e s'ingrandisce fino al simbolo. No, per invecchiare di una donna,
questa bellezza non e sfuggita ; essa e sparsa sul paese intero ; essa ci ha
salutati oggi dai bianchi campanili e dalle bandiere sventolanti, ci ha ineb-
briati colla verde allegria dei vigneti, col profumo dei fieni maturi, ci ha
sorriso nei fiori gettati dai balconi, ci ha preso il cuore cogli occhioni dei
vostri figli.
Noi, venuti da Zurigo, malgrado le nostre faccie teutoniche, portiamo
nel petto un desiderio di luce, di gioia al quäle ha corrisposto la vostra
fraterna accoglienza. Grazie, in nome di noi tutti, a voi tutti, autoritä e
cittadini ticinesi. Possa l'armonia di questa sera vibrare a lungo nei cuori
nostri e suscitare opere feconde ; possa l'arte, maestra di civiltä, per opera
del Ticino, ingentilire vieppiü la nostra vita svizzera, ed incoronare di luce
l'amore che tutti portiamo alla madre comune, alla Repubblica Elvetica.
lo alzo il mio bicchiere al Canton Ticino, figlio fedele di quella madre,
e giovane rappresentante di un' antica coltura nella sintesi svizzera!
E. BOVET
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
448
E. VERSTRAETEN
L'ART EN BELGIQUE
E. VERSTRAETEN
ZUR EISENBAHNPOLITISCHEN
LAGE IM WESTEN UND OSTEN
Die eisenbahnpolitische Lage der Schweiz ist in den letzten
Wochen durch zwei Vori<ommnisse wesentlich beeinflusst worden :
durch den Eintritt von Herrn Calonder in den Bundesrat und
durch die Eröffnung der Lötschbergbahn. Beide werden auch auf
die Lösung der Ostalpenbahnfrage eine gewichtige Wirkung
ausüben.
Letztes Frühjahr^) wurden hier die Betrachtungen über die
Annahme des Gotthard Vertrages mit dem Hinweis abgeschlossen,
dass sich während der Gotthardvertragsdebatte das kommende
Gewitter in der Ostalpenbahnfrage mit aller Deutlichkeit ange-
kündigt habe; wie ein Hoffnungsstern habe zwar das Wort
Calonders geleuchtet:
Nun ist doch klar und wird durch die Geschichte des Gotthardver-
trages deutlich bewiesen: wenn wir nach außen eine kräftige, zielbewusste
und umsichtige Eisenbahnpolitik betreiben wollen, müssen wir nach innen
einig sein und die regionalen Gegensätze überbrücken. Wir dürfen nicht
mehr in die Lage kommen, infolge von innern Zwistigkeiten schnell ein
Angebot des Aaslandes anzunehmen, um die Sache zum Abschluss zu
bringen, trotzdem nicht alle Punkte der internationalen Beziehungen genau
abgeklärt und im Vertrag genau geregelt sind.
Der Mann, der dieses schöne Wort gesprochen hat, ist heute
Bundesrat. Bei aller Anerkennung seiner persönlichen Verdienste
werden alle, denen es an einer zweckmäßigen Entwicklung unseres
1) Wissen und Leben B.XII. S. 134, 194,260. (l.u.lS.Mai, I.Juni 1913).
449
Verkehrswesens gelegen ist, ein gewisses ängstliches Gefühl nicht
dabei unterdrücken können, dass nunmehr die einstigen Vor-
sitzenden sowohl des st. gallischen als des bündnerischen Splügen-
komitees im Bundesrat sitzen. Das hat zwar nicht viel zu sagen,
so lange man nicht darnach trachtet, den endgültigen Entscheid
in der Ostalpenbahnfrage dem Volke zu entreißen, zunächst durch
Gewährung einer Konzession nach dem Plan eines bündner
National- und Regierungsrates, der bei der Gotthardvertragsdebatte
gesagt hat:
Der Bund mag, wenn er will, den Splügen selber bauen; wenn aber
etwa die Absicht bestände, mit Bundesgesetz und Referendum, mit VolkS'
abstimmung, wie auch schon gedroht worden ist, unsere Rechte auf eine
Splügenbahn zu vernichten, so müssen wir dagegen Protest erheben. Art. 3
des Eisenbahngesetzes von 1872 und der Kompromiss von 1878 bestehen
auch für das Volk.
Wird vom Bundesrat der Bau durch den Bund beantragt und
von den Räten beschlossen, so entsteht eben ein ^unAtsgesetz,
und es gibt einen ehrlichen, offenen Kampf. Und wenn die Räte
sich nicht auf eine annehmbare Bahnführung einigen, muss das
Volk selbst die Verantwortung für den Entscheid übernehmen.
Beantragt der Bundesrat aber die Konzessionserteilung für
Splügen und Greina oder für den Splügen allein, so kann man
den endgültigen Entscheid des Volkes nur noch durch eine Initiative
herbeiführen, die auf den Staatsbau von Alpenbahnen hinzielt.
In weiten Kreisen des Volkes herrscht heute die Ansicht,
nach den Erfahrungen, die man bei der Beratung des Gotthard-
vertrages gemacht habe, dürfe der endgültige Entscheid über eine
Frage, die an Wichtigkeit die des Gotthardvertrages weit übertrifft,
nicht einem Parlament überlassen werden, in dem regionale Rück-
sichten eine so ausschlaggebende Rolle gespielt haben wie bei der
Genehmigung des Gotthardvertrags.
Unmittelbare Anzeichen dafür, dass eine Volksbewegung not-
wendig sein wird, scheinen heute nicht zu bestehen. Wie verlautet,
soll im Bundesrat die Mehrheit für den Staatsbau sein. Im
Ständerat hat sich beim Geschäftsbericht der Bundesbahnen der
Referent, Herr Geel von St. Gallen, für den Staatsbau erklärt, wie
vorher Herr Hirter im Nationalrat. Dass die sozialdemokratische
Fraktion sich schon längst grundsätzlich für den Staatsbau aus-
450
gesprochen hat, ist bekannt. Jedenfalls würde der Bundesrat bei
einer Konzessionserteilung schon in den Räten auf einen starken
Widerstand stoßen, vom Volke gar nicht zu reden.
Über die Bahnführung, die zunächst mit dem Grundsatz des
Staatsbaus nichts zu tun hat, hat sich bis jetzt nur Herr Forrer
als Bundesrat für den Splügen öffentlich festgelegt. Die bisherige
Haltung Calonders ist bekannt, aber die Billigkeit verlangt, dass
man ruhig abwarte, wie er sein als Ständerat gegebenes Wort
als Bundesrat einlösen wird ; seine bisherigen Äußerungen in der
Ostalpenfrage geben niemand ein Recht, an seinen guten Treuen
zu zweifeln. Sein Standpunkt wurde übrigens in der Fraktions-
versammlung der radikal-demokratischen Partei erläutert:
Wir glauben nicht, dass der Splügen eine Gefahr für das Vaterland
sei, und sind der Überzeugung, dass, wenn er konzessioniert wird, es dem
Bund gelingt, mit Italien einen Staatsvertrag abzuschließen, bei dem alle
Interessen des Vaterlandes gewahrt sind. Nur unter dieser Voraussetzung
treten wir für den Splügen ein. Sollte es sich bei näherer Prüfung zeigen,
dass der Splügen wirklich mit den Interessen des Vaterlandes nicht ver-
einbar ist, so sind wir Bündner die letzten, die ihn wünschen oder gar
verlangen. Das haben wir schon mehrfach erklärt, und gerade Herr Calonder
hat die Gelegenheit wahrgenommen, sich in unzweideutigster Weise hier-
über auszusprechen.
Das stimmt mit frühern Aussagen des neuen Bundesrates
überein, der allerdings stets verlangt hat, dass man wenigstens
das „Recht auf den Splügen" anerkenne. Ein solches gibt es
aber nicht, sondern nur ein Recht auf eine Ostalpenbahn ^).
Eine vollkommen neue Lage brachte auch die Eröffnung der
Lötschbergbahn mit sich. Was man vor fünfzehn Jahren un-
gläubig belächelt hat, ist heute Tatsache geworden: die Durch-
bohrung des Lötschbergs und die Erstellung einer direkten Ver-
1) Vergleiche „Wissen und Leben", X. Bd., S. 769 f. Der Bund wird
nach Art. 3 des Eisenbahngesetzes von 1872 „den Bestrebungen im Osten,
Zentrum und Westen der schweizerischen Alpen, die Verkehrsverbindungen
mit Italien and dem Mittelländischen Meere zu verbessern, möglichste
Förderung angedeihen" lassen. Artikel 49 des Rückkaufgesetzes behandelt
die finanzielle Seite. Nationalrat Forrer, der jetzige Bundesrat, hat übrigens
seinerzeit bei der Beratung einer solchen Gesetzbestimmung förmlich und
ausführlich festgestellt, ohne dass jemand widersprochen hätte, dass unter
einer Ostalpenbahn auch eine Linie verstanden werden könne, die durch
das Tessin führe.
451
bindung zwischen dem Kanton Bern und dem Wallis. Im Juni
hat ein Sonderzug die Mitglieder der Bundesversammlung nach
Brig geführt, damit sie dieses neueste Wunder der Technik be-
sichtigen und würdigen, das bernische Tatkraft und Ausdauer
zu vollbringen vermocht haben.
Der Bau wurde nicht überall gern gesehen, anfänglich be-
sonders nicht bei den Bundesbahnen. Das ist erklärlich, wenn
man bedenkt, dass die Strecke Antwerpen-Straßburg-Basel-Mailand
976 Kilometer, Antwerpen- Ecouvier- Beifort -Münster- Grenchen-
Mailand dagegen nur 973 Kilometer misst. Der Unterschied ist
ja unbedeutend, wird aber zugunsten des Lötschbergs durch ver-
schiedene Abkürzungen vergrößert, die noch bei Beifort und bei
Bern (Wylerfeld) geplant sind. Für die Strecke Beifort -Mailand
rechnet man für den Gotthard (Belfort-Mülhausen-Basel-Chiasso-
Mailand) 455 Kilometer; für den Simplon (Belfort-Delle-Delsberg-
Münster - Lengnau - Biel - Bern [Wyler]-Scherzligen - Frutigen -Brig-
Iselle-Mailand) 405 Kilometer. Davon fallen auf die französische
Ostbahn 14,4 Kilometer, auf die Bundesbahnen rund 147 Kilo-
meter über Münster-Grenchen und 173 Kilometer über Sonceboz.
Der Lötschberg ist also für die Strecke Belfort-Mailand dem Gott-
hard um etwa 50 Kilometer überlegen.
Hieraus geht nicht nur die nationale, sondern auch die inter-
nationale Bedeutung der Bahn ohne weiteres hervor. Allerdings
fehlt es ihr noch fast durchgängig an der Doppelspur, und es
mag sein, dass ihre größere Kürze durch die bessere Bahnanlage
der Gotthardbahn tatsächlich ausgeglichen wird.
Die Lötschbergbahn durfte auf Grund des Tarifgesetzes (Art. 21)
eine billige Verkehrsteilung beanspruchen, ohne die sie schwerlich
gedeihen könnte. Der Artikel lautet:
Wenn für Transporte von oder nach den Bundesbahnen die kürzeste
Route ganz oder teilweise über eine nicht zu den Bundesbahnen gehörende
schweizerische Bahnstrecke führt, so kann, wenn diese geeignete Betriebs-
verhältnisse und ein gleichartiges Tarifsystem hat, über dieselbe die Bildung
direkter Tarife und eine billige Teilung des Verkehrs beansprucht werden,
letzteres, so weit dadurch wichtige Interessen der Bundesbahnen nicht ver-
letzt werden. Die Distanzen berechnen sich hierbei nach den wirklichen
Entfernungen mit Ausnahme von Bahnstrecken, für welche erhöhte Taxen
erhoben werden ; für solche Strecken kommt ein entsprechender Distanz-
zuschlag in Ansatz.
452
Diese Verkehrsteilung verdani<t die Lötschbergbahn der Eisen-
bahnverstaatlichung und der durch sie geschaffenen Gesetzgebung;
ohne den Rückhalt, den man von den Bundesbahnen glaubte
erwarten zu dürfen, wäre die Lötschbergbahn schwerlich ausge-
führt worden. Die Prophezeiungen, die Eisenbahnverstaatlichung
hindere die Ausführung der Lötschbergbahn, waren also unrichtig;
das liegt heute klar zu Tage. Für die Dauer wäre die Last für
den Kanton Bern viel zu groß gewesen. Man rechnete von An-
fang auf eine Verkehrsteilung und auf die spätere Übernahme der
Linie durch den Bund, allerdings nicht ohne schwere finanzielle
Opfer für den Kanton Bern.
Der durch die Verkehrsteilung herbeigeführte Ausfall in den
Einnahmen der Schweizerischen Bundesbahnen wird auf andert-
halb Millionen Franken für den Personenverkehr und auf zwei
Millionen Franken für den Güterverkehr veranschlagt. Es wird
sich zeigen, in wiefern diese Berechnung der Wirklichkeit ent-
spricht. Die Einbuße dürfte für die Bundesbahnen nicht uner-
träglich sein ; denn dass der Gotthardverkehr einigermaßen über-
bürdet ist, kann nicht bestritten werden.
Ob die Bundesbahnen später die Berner Alpenbahn auch als
Eigentum werden tragen können, hängt ganz wesentlich von der
Art der Ausführung der Ostalpenbahn ab, die ebenfalls stark vom
Gotthard zehren wird. Die Unklarheit, die da heute herrscht, recht-
fertigt es, wenn viele nicht ohne Sorge in die Zukunft blicken.
im Ständerat ist es zu bedeutsamen Erörterungen von Eisen-
bahnfragen gekommen, die die Alpenbahnfragen der West- und
Ostschweiz beeinflussen werden. Ständerat Winiger mahnte für
die zweite Etappe der Verstaatlichung zu großer Vorsicht:
Das Vorgehen des Bundes in vorliegender Angelegenheit kann uns in
eine fatale Situation bringen. Gutsituierte Bahnen werden sich nicht zum
Rückkaufe melden, sondern nur mühselige und beladene. Gehen wir in
dieser zweiten Etappe der Rückkaufsaktion mit aller Vorsicht zu Werke.
Wir haben bei der Verstaatlichung der Hauptbahnen einen Rechnungsfehler
von annähernd einer halben Milliarde gemacht und der gemeine Mann
wurde im Glauben gelassen, dass die Amortisation der Kaufsumme aus den
Rechnungsergebnissen durchgeführt werden könne. Ich empfehle Ihnen, im
weitern Vorgehen etwas zu bremsen. Ich behalte mir vor, die Revision der
Artikel 3 und 4 des Rückkaufsgesetzes auf dem Motionswege anzuregen.
Vor dem Rückkauf hatten wir eine Staatsschuld von 70 Mil-
lionen oder 22 Franken auf den Kopf; Ende 1912 betrug sie für
453
feste Anleihen der Bundesverwaltung 116 Millionen, für die Bundes-
bahnen mit Einschluss der Kassascheine rund 1474 Millionen.
Die Staatsschuld des Bundes für Verwaltung und Eisenbahnen
beträgt somit gegen 1600 Millionen. Mit den Fehlbeträgen der
Pensions- und Hilfskasse und schwebenden Schulden kommt man
auf mindenstens 1650 Millionen für Bundesverwaltung und Bundes-
bahnen oder 465 Fr. auf den Kopf. Es ist eine Fiktion, bloß
von einer Bundesschuld von 116 Millionen zu reden statt, wie
andere Staaten es tun, die Eisenbahnschuld mitzurechnen.
Bei den an die Schweiz grenzenden Staaten sind die Schuld-
verhältnisse folgende (in Millionen Franken):
Jahr Staatsschuld, wovon Eisenbahnschuld Staatschuld per Kopf
Bayern
1911
3300
2572
435
Baden
1911
—
666
317
Württemberg
1911
760
722
312
Preußen
1911
11,913
—
293
Österreich
1910
12,753
3259
447
Italien
1911
12,630
—
365
Frankreich
1911
34,520
870
Belgien hatte 1911 3,87 Milliarden Schulden oder 545 Franken
auf den Kopf. Die nordischen Staaten Dänemark, Schweden,
Norwegen haben alle weniger als 200 Franken auf den Kopf, Groß-
britanien 410 Franken (18,72 Milliarden 1910 auf 1911), Russland
(1910/11) bloß 147 Franken, Griechenland (1910) 304 Franken.
Die Schweiz hat unter allen Umständen die zweifelhafte Ehre,
zü den höchst verschuldeten Staaten Europas und der Welt über-
haupt zu gehören; die außereuropäischen Staaten — Japan mit
101 Franken bei 6892 Millionen, die Vereinigten Staaten von
Amerika mit 47 Franken bei 4802 Millionen — stehen günsti-
ger da. Günstig sind die Schuldverhältnisse der Schweiz im Ver-
gleich zu andern Staaten insofern, als der Schuld zu mehr als
neun Zehnteln produktive Werte gegenüber stehen. Aber die Schuld
Ist immerhin da und unsere erste Politik muss auf eine leichte
und konstante Verzinsung gerichtet sein, ohne dass man die
Leistungen für den Verkehr einschränken muss.
Die Lage der Dinge hat sich dadurch bei uns vollkommen
geändert. Während die Schweiz vor der Verstaatlichung die ge-
454
ringste Verschuldung von allen Staaten Europas hatte, wird sie
heute darin nur noch von Frankreich und Portugal und etwa
noch von Belgien und Bayern übertroffen. Natürlich ist für
diese Schuld, besonders die Eisenbahnschuld oder doch für den
größten Teil ein Gegenwert da. Aber wenn sich dieser Gegen-
wert auf die Dauer nicht mehr genügend verzinsen sollte, so
müsste naturgemäß der Landeskredit darunter leiden.
Gefährlich ist dabei, dass der größte Teil der Schuld im
Ausland, besonders in Frankreich, untergebracht ist, dem die
Schweiz über eine Milliarde schuldet. Früher konnte es uns
ziemlich einerlei sein, was man im Ausland über den Wert der
schweizerischen Eisenbahnpapiere dachte. Heute nicht mehr. Von
dieser Meinung hängt der Kredit des Landes ab.
Der erste Zielpunkt in unserer Alpenbahnpolitik muss
somit die Wahrung des finanziellen Gleichgewichtes der Bundes-
bahnen sein; von ihm hängt der Kredit des ganzen Landes ab.
Diese unerlässliche Wahrung des finanziellen Gleichgewichtes
der Bundesbahnen ist keine einfache und selbstverständliche Sache.
Mit Einrechnung der gesetzlich verlangten Amortisation hat sich
die Anlage der Schweizerischen Bundesbahnen in den letzten
Jahren mit bloß 3,5% verzinst, also nicht genügend, um Reser-
ven anzulegen. Die Amortisation ist notwendig, weil sonst die
Zinsenlast infolge der jährlichen Steigerung des Baukontos ins
Ungeheuerliche wachsen würde. — Die französischen Bahnen fallen
Mitte der fünfziger Jahre dem Staate gratis anheim. Auf jenen
Moment werden sie uns viel zu kämpfen geben und wir müssen
uns [heute schon rüsten. Die Lage der Bundesbahnen ist also
keineswegs glänzend, und es hilft uns wenig, dass auch die uns
benachbarten Staatsbahnen alle zu kämpfen haben.
Schon während der Rückkaufskampagne ist betont worden,
wie unrichtig die Behauptung sei, die Schweiz werde die Schuld
für die zu kaufenden Bahnen bis Mitte dieses Jahrhunderts getilgt
haben. Man hat mit Recht gesagt, dass sich neben der alten
sofort eine neue Schuld durch die notwendig werdenden Bauten
bilden werde, und so ist es gekommen. Daran ist jetzt nichts
zu ändern.
455
Das geht aus folgendem hervor:
Eisenbahnschuld Mill. Fr.
1904 Schweizerische Bundesbahnen 975,6
Gotthardbahn 131,4
1107,0
1912 Schweizerische Bundesbahnen 1474,4
Steigerung 367,4
für deren Tilgung bis 1912 erst 58 Millionen geäufnet sind.
Also in acht Jahren hat sich die Schuld der Bundesbahnen
um 300 Millionen vermehrt, ohne dass eine neue Bahn gekauft
worden wäre oder abgesehen von der Rickenbahn neue Bahn-
bauten von Belang erstellt worden wären. Die Bauausgaben be-
ziehen sich hauptsächlich auf Bahnhöfe und Doppelgeleise. Man
muss somit auch ohne besondere Vorkommnisse eine konstante
Steigerung der Schuld annehmen.
Es ist alle Aussicht vorhanden, dass diese Schuld noch weiter
steigen werde. Der Rückkauf des Genfer Bahnhofs und die Ver-
bindung der beiden Bahnhöfe wird 60 bis 70 Millionen Franken
betragen. Die Lötschbergbahn wird früher oder später die Schuld
um über 130 Millionen Franken vermehren, die Elektrifizierung
der Gotthardbahn wird weitere 100 Millionen verschlingen. Es
ist also dafür gesorgt, dass die neue Bauschuld trotz aller Ab-
schreibungen bis Mitte des Jahrhunderts nicht unter einer Milliarde
stehen wird. Höchstens fragt es sich, wie viel mehr sie betragen
werde.
Das mahnt zum Aufsehen und gestattet nicht, in beliebiger
Weise über die Bundesbahnen zu verfügen, die Bauschuld ohne
Not zu vermehren und die Rendite durch Anhängen von unein-
träglichen Bahnen herunterzudrücken. Denn es ist auch bei
normalen Verhältnissen ausgeschlossen, dass man mit der
Amortisation nachkomme. Wir werden für alle Zeiten mit einer
Milliardenschuld rechnen müssen.
Auch wenn es gelingen sollte, die alte Schuld durch ununter-
brochene Abschreibung zu tilgen, so wird bis Mitte des Jahr-
hunderts, also gerade wenn Frankreich die wichtigsten Bahnen
gratis zufallen werden, eine neue Schuld vorhanden sein, die der
alten wohl ebenbürtig sein dürfte. Wir werden dann auf alle Fälle
in einer ungünstigeren Lage sein als die Nachbarstaaten. Die
456
Schweiz hat somit allen Anlass, die Baurechnung nicht mehr als
nötig zu erhöhen, sei es, dass man so viel als möglich den Be-
trieb selbst belastet auf die Gefahr hin, dass die Erträgnisse
weniger glänzend aussehen, sei es, dass die weitere Ausdehnung
der Verstaatlichung sehr vorsichtig betrieben werde. Hier bietet das
Rückkaufsgesetz wenig Garantien, wie Ständerat Winiger andeutete,
dessen Artikel 3 die Bundesversammlung ermächtigte, nach Be-
lieben „dermalen" bestehende Bahnen aufzukaufen, ohne dass ein
dem Referendum unterstelltes Bundesgesetz dazu notwendig ge-
wesen wäre. Allerdings müssen diese Bahnen dem Artikel 1
entsprechen; sie müssen „wegen ihrer volkswirtschaftlichen und
militärischen Bedeutung den Interessen der Eidgenossenschaft oder
eines größeren Teiles derselben dienen" und ihre Erwerbung soll
„ohne unverhältnismäßige Opfer" erreichbar sein.
Werden diese Bedingungen nicht erfüllt, so kann auch eine
„dermalen", das heißt am 17. Oktober 1897 bestehende Bahn
nur durch Bundesgesetz mit Referendumsklausel käuflich erworben
werden, wie dies auch beim Bau einer neuen Linie verlangt wird.
Immerhin ist zu sagen, dass weder die Berner Alpenbahn
noch andere seit dem 17. Oktober 1897 gebaute Bahnen, wie
die Bodensee-Toggenburgbahn, durch bloßen Beschluss der Bundes-
versammlung verstaatlicht werden können, sondern nur „dermalen''
bestehende Bahnen, die den in Artikel 1 vorgesehenen Bedin-
gungen entsprechen, also die Jura-Neuchätelois-, die Tößtal-,
die Südost-, die Emmentalbahn. Für die Verstaatlichung aller
seither entstandenen Bahnen bedarf es eines Bundesgesetzes. Die
Verstaatlichung wird dadurch für die betreffenden Kantone nicht
erleichtert, denn solchen Gesetzen kann man nicht einfach die
Dringlichkeitsklausel anhängen. Diese Fragen werden somit
möglicherweise nicht nur die Bundesversammlung, sondern das
ganze Land bewegen.
Von Bedeutung für den Rückkauf der Lötschbergbahn sind auch
die Erklärungen von Bundesrat Forrer und Ständeratspräsident
Kunz in der Junisession, wonach er in nicht allzu großer Ferne
zu stehen scheint. Herr Forrer bemerkte, wenn einmal zum Rück-
kauf der Berner Alpenbahn geschritten werde, so müsse dieser
Rückkauf auf der Grundlage des Ertragswertes erfolgen ; um diesen
zu ermitteln, werden die Ergebnisse einer Reihe von Jahren nötig
457
sein. Und Herr Kunz erklärte, wir würden kaum in das Jahr
1923 eintreten, ohne dass die Linien der Berner Alpenbahn-
Gesellschaft den Bundesbahnen einverleibt wären. Die Verhand-
lungen über den Rückkauf würden in jedem Falle vorher einsetzen.
Auch die vom Ständerat beschlossene Zusammenlegung der
Konzession der 1923 rückkaufbaren Thunerseebahn mit der erst
1943 fälligen Berner Aipenbahnkonzession bedeutet eine entschie-
dene Verstärkung der Position der Berner Alpenbahn für den
Rückkauf. Da der Bundesrat selbst von jeher auf Zusammen-
legung von Konzessionen in solchen Fällen gedrungen hat, hätte
es fast einer Plackerei gleichgesehen, sie nicht zu bewilligen.
Dass der Bund sich für den Rückkauf der Berner Alpenbahn
wenigstens moralisch verpflichtet hat, steht fest, erstens durch die
Bedingungen für die Subvention von sechs Millionen und vor
allem durch die betreffende bundesrätliche Botschaft. Zeitpunkt
und Erwerbsart sind dort nicht bestimmt:
Wir haben dargetan, dass dieses Unternehmen den Charakter eines
großen gemeinnützigen Werkes beanspruchen kann, indem es dazu be-
stimmt ist, unserm Lande einen Teil des Transitverkehrs von Norden nach
Süden und in umgekehrter Richtung zu sichern und zu erhalten.
Wir haben nachgewiesen, dass die Lötschbergbahn eine wichtige Zu-
fahrtslinie zum Simplon bildet und mächtig dazu beitragen wird, diese
große Verbindungsbahn zu ihrer vollen Bedeutung zu bringen.
Wir haben auch betont, dass sie die Handelsbeziehungen eines großen
Teils der Innerschweiz, namentlich des Kantons Bern, erleichtern und för-
dern und auf diese Weise einen günstigen Einfluss auf das wirtschaftliche
Leben mehrerer Kantone ausüben wird. Es hat somit ein beträchtlicher
Teil unseres Landes ein Interesse an ihrem Zustandekommen.
Wir haben auch ihre Bedeutung in militärischer Beziehung nach-
gewiesen.
Sicher ist, dass die Ausführung der erwähnten Bedingungen
mindesten zehn Millionen mehr als vorgesehen gekostet hat und
dass der Kanton Bern dem Bund in dieser oder jener Form die
Rechnung dafür vorlegen wird. Darauf wurde schon im berni-
schen Großen Rat mit aller Deutlichkeit angespielt.
Bei der Lötschbergfahrt der Bundesversammlung hat in Thun
der Verwaltungsratspräsident der Bundesbahnen bereits auf das
Brautpaar „Bundesbahnen und Lötschberg" angestoßen und alle
Festredner ließen die Hoffnung auf baldigen Rückkauf durchblicken.
Nationalratspräsident Spahn antwortete dem bernischen Regierungs-
458
Präsidenten Scheurer und gebrauchte dabei folgende bemerkens-
werte Wendungen:
Man befand sich gegenüber dem Alpenprojekt der Berner in einem
doppelten Irrtum. Man rechnete nicht mit der Energie der Berner, die nicht
loslassen, wenn sie an der Ausführung eines großen Gedankens sind. Und
der zweite Irrtum bestand darin, dass man glaubte, es zulassen zu sollen,
dass die Lötschbergbahn als Privatbahn gebaut werde. Allein es wäre un-
gerecht, deswegen Vorwürfe zu erheben gegen die Männer, die damals an
der Spitze des schweizerischen Eisenbahnwesens standen. Sie haben in
guten Treuen gehandelt. Vergesse man nicht, dass sich damals die Eisen-
bahnverstaatlichung mit ihren großen Aufgaben in den Vordergrund drängte ;
da ist es wohl begreiflich, wenn der Ruf eines einzelnen eidgenössischen
Standes nicht sofort erhört wurde. Beide Irrtümer werden korrigiert
werden. Der erste ist es bereits, und der zweite wird es in absehbarer Zeit
sein. Wenn heute dem Wunsche Ausdruck gegeben worden ist, es möchten
die bernische und eidgenössische Eisenbahnpolitik Hand in Hand gehen,
so ist dieser Wunsch bei den übrigen Eidgenossen nicht schwächer als bei
den Bernern.
Der Drang des Kantons Bern, die schwere Last abzuladen,
erklärt sich aus der ganzen Sachlage. Ende 1912 hatte der Kanton
nicht weniger als 50,9 Millionen Franken in Eisenbahnaktien
stecken, wovon weitaus der größte Teil ertragslos. 17,5 Millionen
davon liegen im Lötschberg. Dazu kommt die Zinsengarantie von
42 Millionen Franken für die Berner Alpenbahn und wenigstens
die moralische Verantwortung für etwaige Fehlbeträge gegenüber
Aktionären und Obligationären.
Mit der Verstaatlichung der Lötschbergbahn muss man nach
allem, was geht und gegangen ist, auf alle Fälle rechnen, ob sie
nun etwas früher oder später zurückgekauft wird. Darüber scheint
man sich auch im Bundesrat ziemlich klar zu sein.
Diese Schwierigkeiten häufen sich dadurch, dass man in
St. Gallen auf die gleichzeitige Verstaatlichung der Bodensee-
Toggenb argbahn hofft, die den Kanton in gleicher Weise wie
der Lötschberg die Berner belastet. Die Zinsengarantie beträgt
jetzt 18,2 Millionen und die Beteiligung in Aktien 6,25 Millionen,
was zusammen eine Verpflichtung von 24,45 Millionen ausmacht.
Der Rückkauf der Berner Alpenbahn wird früher oder später
eine schwere Last für die Bundesbahnen sein. Alle in Frage
stehehenden Linien Spiez-Brig, Scherzligen- Thun, Münster-Leng-
nau stellen zusammen ein Baukapital von etwa 160 Millionen
dar. Dazu wird wahrscheinlich die direkte Verbindung Bern-
459
Neuenburg mit 10 Millionen kommen, die als Privatbahn nach
Verstaatlichung der Jura-Neuchäteloisbahn keinen rechten Sinn
mehr hat. Würde man noch die Bodensee-Toggenburgbahn dazu
nehmen, so käme man auf eine Summe von mindestens 200
Millionen Franken.
Es wird vor allem die Frage entstehen: Wie können die
Bundesbahnen die Übernahme von 200 Millionen voraussichtlich
auf Längere Zeit wenig abträglicher Bahnwerte aushalten?
Maßgebend für die Beurteilung der heutigen Lage ist vor
allem die Höhe der Staatsschuld und der bisherige Ertrag der
Bundesbahnen.
Dass nach dieser Richtung die Lage der Dinge ernst ist, geht
aus unsern Ausführungen über die Verschuldung der Schweiz
hervor. Noch schwieriger wird sie durch eine Lösung der Ost-
alpenbahnfrage, die den Ertrag nicht nur der Gotthard-, sondern
auch der Berner Alpenbahn beeinträchtigen würde. Davon soll
das nächste Mal die Rede sein.
BERN J. STEIGER
(Schluss folgt.)
D D D
DAS JUBILÄUM
Von FRITZ MÜLLER
Gestern war ich bei einem Jubiläum. Ich weiß nicht mehr, war's ein
silbernes oder ein goldenes oder nur ein kupfernes. So was vergisst sich
leicht nach Mitternacht. Aber von einem „eminenten, bedeutungsvollen
Vereine, dessen Wirksamkeit mit ehernem Griffel in das Buch der Geschichte
eingegraben ist", war es ein Jubiläum, das weiß ich noch ganz gewiss.
Denn von dreizehn Rednern haben es zwölf wörtlich so gesagt. Der drei-
zehnte ist stecken geblieben und hat dann von hinten angefangen. Dabei
ist der dreizehnte „eherne Griffel" unter den Tisch gefallen. Leider, leider.
Aber ich habe ihn aufgehoben. Es war einer zu zwei Rappen mit einem
billigen Goldpapier um den dünnen zylindrischen Körper. Auf der Schiefer-
tafel von unserm kleinen Hansi hab' ich ihn probiert. Aber geschrieben
hat er nicht. Es war ein sogenannter Buttergriffel. Und Buttergriffel
schreiben nur auf nachgiebiger schwarzer Pappe, nicht auf hartem Schiefer.
Sonst ging alles wie am Schnürchen in dem Jubiläum. Ganz pro-
grammgemäß ward alles wirklich Gute, was vom Schweigen lebt, zerredet,
zerlobt und zerpriesen, dass es nicht der Mühe lohnte, eine Feder anzu-
setzen, aber, aber . . .
460
Der Redner Nummer sieben wurde blass und bibbrig lange vorher,
ehe er an der Reihe war. Ich saß neben ihm. Mit dem Fußwippen fing
es an. Erst wippte er gemäßigt. Beim zweiten Toast aber schon ging er
in einen Generalmarsch über. Beim dritten zitterten die Teller auf dem
Tische, beim vierten brach der kalte Schweiß aus und beim fünften schafften
sie den Fieberkranken in die Garderobe. Dort kochte ihm die Kleiderfrau
Kamillentee. Inzwischen bibberte das Komitee.
„Ein Königreich für einen Ersatzredner !"
Da erwischten sie mich. Ich hätte . . . und ich müsste . . . und es
sei einfach eine Ehrenpflicht von mir . . . unvergängliches Verdienst . . .
heißer Dank . . . und also abgemacht.
Und da hatte ich schon einen Zettel in der Hand. Darauf stand :
Nummer 1. Der Präsident des Festkomitees auf die Gäste. Begrüßung —
Bedankung — Bewirtung — eherner Griffel — und so weiter.
Nummer 2. Vertreter der Gäste auf das Präsidium des Vereins. Bedankung —
Belobung — Berühmung — eherner Griffel — und so weiter.
Nummer 3. Das Präsidium des Vereins auf die Idee des Vereins. Befruch-
tung — Betätigung — Beglaubigung — eherner Griffel — und
so weiter.
Nummer 4. Die Idee des Vereins auf — — — — — ____
Bei Nummer 5 hatten sie also Nummer 7 in die Garderobe getragen
und mich zwischen der Toilette und dem Saaleingang zum Ersatzmann ge-
presst. Es gab ein großes Durcheinander. Die ganze Toastmaschinerie
schien aus den Fugen zu gehen. Und da schoben sie mich schon auf die
Rednertribüne. Ich muss sagen, der Zettel in meiner Hand fing auch zu
bibbern an, als ich die Stufen hinaufstieg. Ich aber bibberte nicht, sondern
toastete laut Programm:
Der Vertreter des Vertreters der verbündeten Vereine. Be-
dankung — Berufung — Beruhigung — Befriedigung — eherner . . .
Auf einmal sah ich den Präsidenten unter mir ein verzweiflungsvolles
Gesicht zu mir heraufmachen.
„Nummer sssieben, sssie — benl" zischte er mir zu.
Aber da war ich mit meinem ehernen Griffel schon fertig, bekam ein
dröhnendes Bravo, dass es durch die Halle brauste und stieg, stolz wie ein
Gockel, wenn auch nur wie ein Vertretungsgockel, die Rednertribüne
herunter.
Unten zischte der Präsident weiter:
„Mensch, um Gotteswillen, Mensch, Sie haben den Toast Nummer 8
gesprochen. Für eine Rede haben Sie sich bedankt, die noch gar nicht
gehahen worden ist, Sie — Sie . . ."
Wie durch einen Nebel hörte ich sein Zischen.
„Das ist mir wurscht," sagte ich heroisch.
Und dem Publikum war's auch wurscht. Denn es hat's keiner gemerkt.
DOD
461
VEREINFACHUNG
DER
STAATSVERWALTUNG UND ERLEICHTERUNG
DER STAATSLASTEN
(Fortsetzung)
Endlich die vielen oder langen Sessionen. Abgesehen von
der Schwatzhaftigkeit, die jedem Parlament seit den Zeiten des
römischen Senates mehr oder weniger anhaftet, liegt es zum einen
Teil an der Überzahl der Mitglieder, von der bereits die Rede
war, zum andern aber am Modus der Gesetzgebung. Das ist
der tiefere Grund, und davon ist noch zu sprechen.
Vor allem hat man sich stets den Unterschied zwischen Ge-
setz und Verordnung vor Augen zu halten ; diese wäre ganz dem
Regierungsrat zu überlassen. Aber der zürcherische Kantonsrat
ist — offenbar um, was er an Gesetzgebungsrecht dem Volk hat
abgeben müssen, sich von der andern Seite zuzulegen — auf die
Manie verfallen, die Verordnungen unter seine Kompetenz zu
ziehen. Abgesehen davon, dass dies dem Grundsatz der Gewalten-
trennung zuwider und insofern inkonstitutionell ist, verliert der
Kantonsrat gelegentlich eine schöne Zeit damit. Es sei beispiels-
weise an die Wirtschaftsverordnung, Feuerpolizeiverordnung, Auto-
und Veloverordnung mit ihren großen Zahlen von Paragraphen
erinnert. Wenn in solchen Verordnungen Bestimmungen mit
Gesetzescharakter vorkommen, so sind sie herauszunehmen und
für sich zu einem Gesetz zusammenzufassen; alles andere aber
ist dem Regierungsrat vorzubehalten.
Also nur die eigentliche Gesetzgebung gehört zur Domäne
des Kantonsrates. Mit neuen Gesetzen aber dürfte man etwas
vorsichtiger sein, um nicht so viele Zurückweisungen durch das
Volk zu erfahren und damit Zeit und Geld, die darauf verwendet
worden sind, nutzlos zu verlieren. Der schönsten Gesetzesidee
muss schlechterdings und von vornherein entsagt werden, wenn
keine sichere Aussicht vorhanden ist, damit im Volk durchzu-
dringen ; auch ist dieser für sie durch Versammlungen und Presse
erst vorzubereiten und zu gewinnen. Zum bloßen Experimentieren
ist das Volk zu gut und Zeit und Geld zu kostbar, und jede
462
Zurückweisung ist eine Niederlage der Behörde und zugleich ein
Zeugnis für ihre geringe Fühlung mit dem Volke. In dieser Be-
ziehung gerade sollten sich die Mitglieder der Behörde als Ver-
treter des Volkes zeigen, sonst sind sie es gar nicht, und wenn
sie auch zur Ausarbeitung eines Gesetzes nicht beizutragen ver-
mögen, so sollten sie doch wenigstens die Stimmungen und An-
sichten ihrer Kreise kennen und dafür auftreten. Vermeiden lassen
sich Rückstöße wohl nicht ganz, aber vermindern. Das Gleiche
gilt bei jeder einzelnen Bestimmung eines Gesetzes, um nicht
wegen Einzelheiten das Ganze zu gefährden. Überhaupt mehr
Fühlung mit dem Volk; dadurch wird die Gesetzesarbeit nicht nur
mehr gesichert, sondern auch volkstümlicher, was heute auch
sonst als ein erstrebenswerter Vorzug der Gesetzgebung gilt.
Auch sollen im Gesetz keine Ausführungsbestimmungen auf-
genommen werden, welche Sache der Verordnung, des Reglements
sind, Kenntnisnahme und Verständlichkeit des Gesetzes jedoch er-
schweren und dessen Annahme gefährden. In dieser Beziehung
sind besonders jene „Einfälle" zu fürchten, an denen namentlich
die Advokaten reich sind, so unfruchtbar ihre Arbeit sonst ist.
Auf solche zu verzichten gehört zur Tugend der Selbstverleugnung,
die über dem Bestreben, sich wichtig zu machen, steht. Wie oft
ist nicht schon durch solche Einfälle ein Gesetzeswerk verpfuscht
worden, das eben wie ein Kunstwerk Stil haben soll und nur
stilvolle Änderungen erträgt.
Ja, es sollen in ein Gesetz nicht einmal alle Bestimmungen
eigentlichen gesetzgeberischen Charakters, die sich zur Sache er-
denken ließen, aufgenommen werden, sondern nur die Hauptgrund-
sätze. Allen Fällen lässt sich ja gesetzlich nicht begegnen, es
wird immer noch des Arbitriums der anwendenden Behörden, die
dadurch nur um so freier und selbständiger werden, bedürfen;
dafür wird das Gesetz für das Volk um so verständlicher und
damit annehmbarer und von um so längerem Bestand, weil es
kleineren Verschiebungen der Ansichten und Bedürfnisse immer
noch Raum lässt. Ein klassisches Muster dieser Art ist das alte
Polytechnikumsgesetz vom Jahre 1854; wie manche Verordnung
und wie verschiedenen Sinnes hat sich ihm einfügen lassen! Es
ist heute noch gültig, so zu sagen bis auf den Titel — schade
übrigens um den großzügigen Namen „Polytechnikum" !
463
Man sollte sich bei der Beratung eines Gesetzes nicht darauf
besinnen, was sich alles noch hineinbringen ließe, sondern gerade
umgekehrt, was man ohne Unsicherheit für die Vollziehung aus
dem Gesetze weglassen könnte! Anderseits sind bloße Blankett-
gesetze, wie das eidgenössische Lebensmittelgesetz eines ist, wo-
durch das Volk eine Katze im Sack kauft, nicht erlaubt und eine
Täuschung des Volkes. Alles mit Maß!
Im übrigen ist es der Fehler unserer modernen Gesetzgebung,
nicht nur dass zu viel Gesetze fabriziert, sondern dass diese
auch zu lang ausgesponnen werden. Beides aber läuft ins Geld,
und wenn dann noch ein Gesetz bachab geschickt wird, so ist
gar alles verloren. Man vergleiche mit dem alten, noch von
Ludwig Keller herrührenden Expropriationsgesetz das heutige, nun
auch schon ein Menschenalter alte Gesetz über die Abtretung von
Privatrechten, und von einem neuesten wäre nach dem Zuge der
Zeit zu fürchten, dass es noch länger und umständlicher würde.
Mit der Revision der Gesetze verhält es sich desgleichen. Es
soll nur im nötigen Fall und nur das Nötigste revidiert werden.
Namentlich sind Partialrevisionen zu vermeiden, das Flicken und
Flecken an Gesetzen, wodurch nur ein einzelner Abschnitt oder gar
nur ein einzelner Paragraph geändert wird. So lange es irgend
geht, soll man sich statt dessen mit einer Auslegung des Gesetzes,
extensiver oder restriktiver Art, behelfen; dafür gerade ist die
Interpretationskunst da, die dadurch auch ihre besondere Aus-
bildung erhält.
Das Festhalten am Gesetz hat aber an und für sich einen
doppelten Vorteil. Einmal stärkt es die Eigenschaft, dass man
sich nach dem richtet und in das schickt, was da und gegeben
ist, nicht alle Regentage nach etwas anderem verlangt, und das
ist Tugend, Charakter; man kann es im privaten Leben auch
nicht immer haben wie man will, sondern muss sich in vieles
fügen lernen, was einem nicht passt. Sodann wird man sich bei
neuen Gesetzen um so mehr in acht nehmen, sie nicht bloß für
den Tag zu erlassen, sondern sie auch für andere Fälle weit
genug zu machen.
Also nicht immer dieses Rütteln und Schütteln am Bau der
Gesetzgebung, oder dieses stetige Anhängen und Ankleistern von
neuen Gesetzen und Gesetzlein. Dafür soll die Gesetzgebung im
464
ganzen möglichst gleichmäßig fortgebildet und entwickelt werden,
nicht so, dass neben Partien jugendlichen und gar künftigen Stils
noch alte, verfallene Mauern stehen gelassen werden, wie etwa
ein Armen- oder ein Medizinalgesetz, die nicht nur einer um viele
Jahrzehnte zurückliegenden Zeit, sondern auch einem vergangenen
und überwundenen Zeitalter und Zeitgeist angehören. Aber dazu
braucht es der Einsicht nicht nur in sein Departement und des
Interesses dafür — sonst wird die Departementseinteilung zum
Bureausystem und zur Bureaukratie — , sondern der Übersicht über
und des Interesses für das Ganze. Oder dann ist zu dessen Wah-
rung eine besondere, die Direktionen überschauendeStelle zu schaf-
fen. Dazu erschiene das Regierungspräsidium geeignet, wenn es
darnach gestaltet würde, statt bloß Vorsitz im Kollegium zu sein.
Was aber vom Bau der Gesetzgebung gilt, gilt um so mehr
von deren Fundament, der Verfassung: an sie soll um so weniger
gerührt werden. Aber damit wird es nachgerade so leicht als mit
der gewöhnlichen Gesetzgebung genommen, und hier ist der Bund
mit dem Beispiel vorangegangen. Die jüngste Partialrevision der
Bundesverfassung — es ist die sechszehnte, Irrtum vorbehalten —
erscheint sogar bei dem dehnbaren Sinne von „Seuchen" im bis-
herigen Artikel 69 vollständig überflüssig, wenn man bedenkt,
dass der Bund sich schon ganz andere Ausdehnungen seiner Gesetz-
gebungs kompetenz erlaubt hat. Eine Abstimmung aber kostet
den Bund gar 30000 Franken. Doch genug. Kurz, es soll auch
in die Gesetzgebung ein ruhigerer und größerer Zug kommen;
auch der moderne Staat leidet an Neurasthenie.
Einen zweiten Hauptgegenstand der Kompetenz des Kantons-
rates bilden Budget, Rechnung und Rechenschaftsbericht. Von
allen dreien wäre zu verlangen, dass sie rechtzeitig vorgelegt
würden ; einmal muss die Arbeit ja doch getan werden, und dass
sie rechtzeitig erfolge, ist nur ein Gebot, wie es für jede andere
Arbeit auch gilt. Und zwar sind der Natur der Sache nach Rech-
nung und Rechenschaftsbericht alsbald nach Schluss des Jahres,
also im Frühjahr des folgenden abzulegen, und ist das Budget so
zeitig aufzustellen, dass es noch vor Beginn des Budgetjahres be-
schlossen werden kann, also im Spätherbst des Vorjahres. Das
erscheint an sich nur als eine formale Forderung; aber eine
465
Schlamperei in dieser Beziehung wirkt in gleichem Sinn auch auf
den übrigen Geschäftsbetrieb ein und lässt jedenfalls unliebsame
Schlüsse auf ihn zu. Ein Muster könnte am Bund genommen
werden, der hier wirklich untadelig arbeitet, und doch ist sein
Arbeitsfeld größer. Aber im Kanton ist es nachgerade Gewohn-
heit geworden, alle Vorlagen um ein halbes Jahr und noch länger
zu verspäten, die Rechnung und den Rechenschaftsbericht im
Herbst oder gar erst im zweiten Jahr, wenn schon die neuen
Vorlagen erfolgen sollten, zu erstatten und das Budget zu
beschließen, nachdem seine Kredite längst angebraucht sind.
Das Budget von heute erscheint immer mehr dazu bestimmt,
überschritten zu werden. Wenn es sich um einen Vorschlag auf
drei, vier oder noch mehr Jahre hinaus, wie es anderwärts wirk-
lich schon vorkam, handelte, ließe sich eine Verrechnung in diesem
oder jenem Punkt eher begreifen ; aber nicht bei einem bloß ein-
jährigen Budget, wie es kürzer nicht gedacht werden kann. Dazu
kommt der Eindruck, dass die Unterbudgetierung gelegentlich
weniger an einem Irrtum oder Mangel an Voraussicht liege, als
an der Absicht, überhaupt Kredit zu bekommen, um sich dann
die Mehrausgaben durch Nachtragskredit genehmigen zu lassen,
die Unlust der Kreditierung also gewissermaßen zu verteilen.
Aber man muss froh sein, wenn für Kreditüberschreitungen über-
haupt Nachtragskredite verlangt werden, und nicht, so viel es
auch kosten mag, darauf losbezahlt wird, wie es bei den Neu-
bauten von Kantonsschule und Technikum Winterthur in die
Hunderttausende hinauf geschah. Neuestens wieder ein Nachtrags-
kreditbegehren von fast anderthalb Millionen 1 und man sehe sich
die Begründungen an, die vielfach gar keine sind. „Die Maler-
arbeiten am Hauptgebäude, mit 2500 Franken budgetiert, machten
allein 4500 Franken mehr aus, als vorgesehen war" usw.
Dann der Rechenschaftsbericht. Es wird von jeher über
dessen Umfang geklagt, und immer nimmt er mehr zu. Der
neueste, erst vom Jahr 1911, umfasst an die 800 Seiten ; derjenige
des Bundes vom gleichen Jahr — merke wohl: in der Zeit vom
31. Januar bis 10. April 1912 erschienen — dagegen keine 700.
Wenn man schon darauf ausginge, ihn möglichst lang zu machen,
könnten kaum mehr Kleinigkeiten und Nichtigkeiten aufgenommen
werden. Es wird registriert, was an Geschäften einging, ja wie
466
viele Schreiben einliefen, wie viel Verfügungen getroffen wurden,
wie viele Personen kamen und gingen, wie viel Besucher ein
Bureau hatte, wie viel Geschäfte erledigt wurden oder als Pen-
denzen verblieben usw. usw., alles genau nach Nummern, und
nach Aktennummern zählt die Bureaukratie. „Die bisherige Kanz-
listin III. Klasse (mit Namen so und so — geboren und getauft?)
wurde in die II. Klasse befördert", oder: „Der Korridor vor den
betreffenden Zimmern wurde durch eine besondere Tür abge-
schlossen", oder: „Am Geleise wurde ein Kohlenlagerraum an-
gelegt, zementiert und mit Zementsockeln eingegrenzt" ; Sätze von
dieser Wichtigkeit finden sich zu Hunderten und sind ihrerseits
eine Probe von dem Geiste, mit dem das Ganze durchtränkt ist.
Dadurch wird der Bericht nicht nur lang, sondern auch lang-
weilig, fast so geistreich wie der Jahresbericht des politischen
Jahrbuches der Schweiz seit Hiltys Abgang. Statt ein Staats-
handbuch auch für den Referendumsbürger zu werden, wird er
wohl kaum von den Kantonsräten gelesen, an die er gerichtet ist,
und wird selbst für jene, welche ihn von Kommissions wegen not-
gedrungen zu durchgehen haben, eine säuerliche Lektüre sein.
Die Ausgaben zum Amtsblatt sind auch gar nicht zum Aufschneiden
gemacht, sonst fallen sie auseinander. — Und, wohlverstanden,
wirkte ein durchaus gehaltvoller Bericht nicht nur nach außen,
sondern auf die Verwaltung selbst zurück; sie würde besser er-
kennen, was wirklich erheblich ist, und sich eher bestreben, ihre
Tätigkeit darauf zu konzentrieren. Dazu müssten die Berichte der
einzelnen Direktionen durchgeseigt werden, und wie wäre es,
wenn die Staatskanzlei diese Aufgabe übernähme? Das wäre
einmal eine geistvolle Beschäftigung für sie und ein Verdienst
um Staat und Volk. Wenn sie dann auch der Neuausgabe der
Gesetze und der „Wegleitung durch die Gesetze und Verordnungen"
sich annähme, so würde sie sich ein weiteres hinzu erwerben
und den Ruhm des Begründers dieser Arbeiten auf ihr Haupt
sammeln. Eine klare, handliche Gesetzestafel war schon ein Be-
dürfnis für das römische Volk, das deswegen auf den heiligen
Berg auszog; wie viel mehr für den heutigen Referendumsbürger.
Von der Sammelstelle des Rechenschaftsberichtes sollten
ferner die einzelnen Direktionsberichte nach der offiziellen
Reihenfolge der Direktionen und stets nach der offiziellen Reihen-
467
folge gleich geordnet werden, statt wie bisher willkürlich je
nach dem Abschluss auf einer Direktion, der so eine Note für
Promptheit oder umgekehrt ausstellt wird.
Was vom Rechenschaftsbericht, gilt auch vom Textteil des
Amtsblattes. Wie viel kürzer und übersichtlicher könnte er sein!
Dem Inhalt ginge jedenfalls nichts ab, wenn schon nicht die ge-
ringfügigste Publikation vom Direktor signiert und vom Sekretär
kontrasigniert wäre, wie eine Haupt- und Staatsaktion des deut-
schen Kaisers und seines Reichskanzlers; wir würden es auch
so der Publikation aufs Wort glauben, dass sie authentisch ist.
Aber auch dem Inhalt einer Bekanntmachung würde es wohl
kaum schaden, wenn er gelegentlich gekürzt würde. Wir denken
hier beispielsweise an die Ausschreibung von Wahlen. Wozu die
Wiederholung all der gesetzlichen Bestimmungen über das Wahl-
verfahren? Es genügt wohl, den Gegenstand und die Zeit der
Wahl anzukündigen; die Wähler und die Wahlbureaux werden
dann schon wissen, was sie zu tun haben, sind doch die Vor-
schriften bereits in und mit dem Gesetz oder der Verordnung
publiziert worden; der Bürger ist also gehalten, sie zu kennen.
Auch die Beilage der eidgenössischen Gesetzessammlung zum
Amtsblatt bekommt der Staat wohl nicht gratis, und sie dürfte
doch neben dem Bundesblatt nicht unentbehrlich sein. Aber
Amtsblatt und Rechenschaftsbericht sind ja nur Beispiele, wie all
das viel kürzer und billiger gemacht werden könnte. Straffer,
strammer, das ist das Losungswort, das für die Staatsverwaltung
allgemein ausgegeben werden sollte. —
Dass der Kantonsrat Diäten bezieht, versteht sich für eine
Demokratie heute sozusagen von selbst. Zwar bestanden sie
unter der dreißiger Verfassung noch nicht, und erst durch die
neunundsechziger Verfassung wurde unter hartem Kampfe ein
„mäßiges Taggeld" eingeführt, um den Angehörigen jedes Standes
den Eintritt in den Rat zu ermöglichen, also gerade aus dem
Grunde, auf den das Diätensystem überhaupt gestützt wird. Darüber
ist also nicht weiter zu reden, es handelt sich nur um das Maß.
Das Taggeld betrug vier Franken, bis es 1909 durch die neue
Geschäftsordnung auf sechs Franken erhöht wurde. Auch dagegen
lässt sich kaum etwas einwenden, sofern der Mann sein Mandat
erfüllt, an den Beratungen mitwirkt oder mindestens den Rat über
468
Stimmung und Bedürfnis seines Kreises aufklärt, um unnütze Be-
schlüsse und damit Kosten zu vermeiden, und es nicht bloß als
willkommene Gelegenheit benutzt, auf staatliche Kosten seinen
Geschäften oder Zerstreuungen nachzugehen. Aber doch ist nicht
zu vergessen, dass, wenn die Erhöhung auch an sich nicht er-
heblich erscheint, ihre Bedeutung zunimmt mit dem Anreiz,
die Geschäfte in die Länge zu ziehen, und mit dem Widerstand,
die Zahl des Rates zu vermindern. Das kleinere Taggeld erschien
also doppelt und dreifach vorteilhaft für den Staat und war auch
für den Einzelnen und den Kreis so lange kein Unrecht, als die
Vertretungsmöglichkeit nicht darunter litt, wovon nie etwas laut
wurde. Kantonsräte haben sich, wie andere Beamte, noch immer
gefunden. Aber nachdem alle Beamten das große Los gezogen
hatten, war der Kantonsrat schließlich, als er sein Taggeld erhöhte,
noch der brave Mann, der an sich selbst zuletzt gedacht hat.
IV.
In der Verwaltung besteht der Hauptteil des Staatslebens, und
daher kommt es hauptsächlich auf sie an, wie dieses kreist und
pulsiert; von ihr ist vor allem eine zweckmäßige Staatstätigkeit
zu erwarten. Mit je geringern Mitteln der gleiche Erfolg erreicht
wird, je größer der Erfolg bei gleichen Mitteln ist, um so sach-
gemäßer erscheint sie. Wo genug ist, kann ein Schwein
hausen, lautet das derbe Volkswort. Für den Staat gilt es als
Kunst, die Volkskräfte tunlichst zu schonen und doch das Volks-
wohl bestmöglichst zu pflegen. Dazu gehört, einerseits dass die
Staatstätigkeit am ersten und am meisten da einsetze, wo es am
nötigsten erscheint, und dass anderseits zur Aufgabe das Volk
selbst, die Interessentenkreise, in bestehenden oder zu schaffenden
Verbänden herangezogen werde. Diese sind, weil an der Auf-
gabe direkt interessiert, dafür auch geeigneter, erfüllen sie inten-
siver und sachkundiger, während Staatsbeamte daran eben nur
das Interesse von Angestellten haben und darnach arbeiten.
Es muss davon abgesehen werden, jegliches durch den Staat
selbst besorgen zu lassen und für alles Staatsbureaux einzurichten.
Das bewirkt nur eine neue und immer größere Bureaukratie, die
469
den Staat nicht nur mehr belastet, sondern auch weiter vom Voli<e
entfernt, weniger volkstümh'ch macht. Dergestalt entwickelt sich
die neueste Staatsverwaltung und scheint in dieser Richtung be-
reits zu weit gegangen zu sein. Es handelt sich also darum, ein-
zulenken und mählich einen etwas andern Weg einzuschlagen.
Aber die Staatsverwaltung ist viel zu vielseitig, als dass hier ein
eingehender Plan ihrer Tätigkeit aufgestellt werden könnte; das
müsste die Aufgabe einer andern Darstellung sein. Es können
hier nur ein paar Grundzüge gegeben werden, und für diese ist
der alte machiavellistische Grundsatz wegleitend, dass immer wieder
zu den Anfängen, auf die erste Anlage des Staates zurückgegangen
werden müsse, damit man sich auf seine wahre und rechte Auf-
gabe besinne. Es bedarf keiner völligen Umkehr, sondern nur
einer kleinen Wendung, einer Verschiebung des Richtungspunktes,
um aus der Sackgasse, in die der Staat gerät, herauszukommen
und ins Freie und Lichte zu gelangen, wo es dem Staat wieder
leichter wird und auch das Volk sich besser fühlt.
Jedenfalls sollte die Demokratie sich mehr mit der Verwal-
tung befassen, statt immer nur der Vermehrung und Verbesserung
von politischen Volksrechten nachzusinnen. Von der rechtlichen
Demokratie soll sie einmal zur wirtschaftlichen Demokratie über-
gehen, zur sozialen Demokratie, womit allerdings nicht die pro-
grammatische Sozialdemokratie gemeint ist, die in das Gegenteil
aller wahren Demokratie umschlägt. Politische Rechte hat das
Volk bei uns genug, und sie werden ihm selbst nachgerade zu
viel. Aber immer kommen unsere Politiker auf sie zurück und
nicht über sie hinaus. Nun steht wieder die Proportionalwahl
auf der Tagesordnung, zu deren Freunden man gehören mag,
ohne sich zu verhehlen, dass das Volk davon schließlich nicht
gegessen hat.
Wesentlich für das Volk ist also die Verwaltung, jedoch nicht
im Sinne des Polizeireglementes. Mit polizeilichen Geboten und
Verboten ist dem Volk auch nicht geholfen ; wir fallen damit
nur in das alte väterliche Regiment zurück und haben zu wenig
Freiheit mehr. Dass man sich des Staubes und Gestankes der
Automobile zu erwehren sucht, ist ganz am Platz und gehört
zum Leben und Atmen; aber so weit es dazu nicht nötig ist,
470
sollte mit der Polizei, eben im Interesse der menschlichen und
bürgerlichen Freiheit, etwas mehr zurückgehalten werden.
Wir denken hier an das durchgefallene Medizinalgesetz; schon
dieser Durchfall zeugt von der gleichen Stimmung im Volke.
Gewiss ist unser Medizinalgesetz veraltet und bedarf der Erneue-
rung, aber in einem andern Sinn. Auch wir sind nicht unbe-
dingt für Freigabe der ärztlichen Praxis, obschon sich andere
Kantone und sogar das große Deutsche Reich, das sonst nicht
als wildes Land verschrieen ist, dabei ganz wohl befinden und dort
auch nicht mehr Leute zu Tode kuriert werden als bei uns.
Aber damit ist denn doch nicht gesagt, dass das Medizinalwesen
noch zünftiger und zopfiger gemacht werden müsse, als es schon
unter dem bisherigen Patentsystem ist. Wohl konnte die Volks-
initiative für arzneilose Heilweise im Jahr 1904 unter Aufbietung
der ärztlichen Heerscharen und ihrer Gefolgschaften niederge-
stimmt werden. Als „heillose Arzneiweise" war sie verlacht wor-
den, ohne dass man bedachte, wie dieser Spott gerade die Arznei-
kunst traf, die allerdings vielfach „heillos" ist. Aber als dann
der Ring der Medizinmänner noch enger gezogen werden sollte,
hat ihn das Volk gesprengt. Die Wahrheit ist eben, dass das
beste an der neueren Heilkunde, die Packungen und Waschungen,
die Wasser-, Luft-, Licht-, Sonnen- und Schlammbäder usw. usw.,
von den medizinischen Zöllnern und Sündern kommt, über die
von den Pharisäern der Kaste vornehm der Stab gebrochen wurde.
Und wenn Ärzte und Behörden es vergaßen oder nicht gelten
lassen wollten, das Volk hat sich dessen erinnert und sich dafür
dankbar gezeigt. Wie konnte man im vordersten Kanton der
Eidgenossenschaft so dem Kastengeist erliegen und die Stimmung
des Volkes so sehr verkennen?
Also mehr positive Staatstätigkeit. Diese drückt sich am
augenfälligsten in den Staatsbauten aus; aber gerade darin heißt
es vorsichtig sein, weil sie am allermeisten ins Geld laufen. Und
zwar vorsichtig in zwei Beziehungen. Vor allem soll sich der
Staat (und auch eine Gemeinde kann sich das merken), bevor er
eine Anstalt dieser oder jener Art errichtet, wohl besinnen, ob
ihre Bestimmung auch wirklich in seiner Aufgabe liege. Wir
meinen, das Gemeinwesen sei, wie es nicht von vornherein für
jeden Einzelnen, sondern nur für das Volk im Ganzen zu sorgen
471
hat, auch nicht dazu da, vor einen Jeden hin ein Haus und eine
Werkstätte mit allen Bequemh'chkeiten zu stellen, sondern nur die
zudienenden Anstalten zu errichten, deren alle gleicherweise be-
dürfen und die auch allen gleicherweise dienen.
Wo die Einzelnen für sich zu schwach sind, sollen sie sich
zusammenschließen; sie aufzumuntern und ihnen unter die Arme
zu greifen, so weit es fehlt, dazu scheint allerdings das Gemein-
wesen bestimmt, wenn es mehr als die formelle Aufgabe des Ver-
bandes haben soll. Aber weiter zu gehen, die Privatwirtschaft
selbst zu übernehmen, ist nicht seine Sache, wird von ihm auch
am schlechtesten oder teuersten besorgt und macht die Leute
nur unselbständig und faul. Die Privatinitiative ist für den Kultur-
fortschritt gar nicht zu entbehren, sie soll vom Staat nur in die
richtigen Wege geleitet und nötigenfalls unterstützt werden. Wer
denkt da nicht an die Spekulation mit dem Friesenberg und andern
Quartieren, in die sich die Stadt Zürich leichthin eingelassen hat,
um sich ganz unnötige und unverantwortliche Schulden aufzu-
laden? Allen kann so doch nicht geholfen werden, und es sind
nur einige Wenige, die davon Nutzen haben. Besser wäre eine
bloße Nachhilfe, die dafür auf allen Punkten einsetzte und allen
in gleicher Lage zu gut käme. Die Überschau, der große
Blick fehlt !
So weit aber der Staat Bauten errichtet, hat er dabei nicht
weniger ökonomisch zu verfahren als ein guter Hausvater. Ja,
noch mehr; wenn ein Privater unhaushälterisch loszieht und sich
ruiniert, so tut er es auf eigene Rechnung und Gefahr; der Staat
aber verbraucht dabei fremdes Geld, das Geld des Volkes. Das
kann er sich nicht genug vor Augen halten. Mit einem nach-
träglichen Dank an das Volk für das viele Geld ist es nicht getan ;
der beste Dank ist, es mit dem Ausgeben von vornherein und
Stetsfort streng zu nehmen.
Dazu gehört vor allem ein verbindlicher Baudevis. Was nützt
es, einen Voranschlag aufzustellen, wenn es hinterher Hundert-
tausende oder Millionen mehr kostet? Voranschläge sind keine
bloße Schreibübung, sondern sollen die Verantwortlichkeit des
Bauübernehmers begründen, alles Vorgesehene in vorgesehener
Qualität zum vereinbarten Preise zu erstellen. Mehrzahlungen
472
sind durchaus auszuschließen, außer im Falle höherer Gewalt
oder wo sonst das Recht des Werkvertrages dazu absolut ver-
pflichtet. Zu diesem Zwecke ist aber der Bauplan so genau aus-
zuarbeiten, dass Mehrleistungen vermieden werden, die erfahrungs-
gemäß um so teurer bezahlt werden müssen und an denen ge-
rade sich die Unterbieter zu erholen pflegen. Es würde dann
auch mit den Offerten genauer genommen und so ein Haupt-
schaden des Submissionswesens gehoben ; der Staat bekäme festen
Boden unter die Füße; er wüsste, woran er wäre. Dass er aber
selbst keine zu genauen und vollständigen Vorausberechnungen
wünscht, um für die Minderanschläge eher Kredite zu erlangen,
das anzunehmen ist gar nicht erlaubt; es wäre ja geradezu
unehrlich.
Um aber zu verhindern, dass bei Bauten, wo die Arbeiten
an verschiedene Übernehmer verteilt werden, der eine die Schuld
an der Unvollständigkeit oder Verspätung dem andern zuschiebe,
sollen die Übernehmer verpflichtet werden, sich zu einem Syndikat
zu vereinigen, das für den ganzen Bau dem Staat verantwortlich
wäre. Dieser könnte sich dann auf eine fortlaufende bloße Kon-
trolle des Baues beschränken, sich die Einrichtung einer besondern
Bauleitung schenken und damit wieder Kosten sparen.
All das wäre immerhin zu erwägen. Jedenfalls muss es mit
den ungezählten Mehrkrediten einmal aufhören, soll der Staat
nicht noch ein anderes Gut einbüßen, seinen guten Ruf und Kredit.
Aber das Volk selbst ist ja so gutmütig, dass sogar die über
die Referendumssumme weit hinausgehenden Mehrforderungen
immer wieder und unbesehen bewilligt werden. Vor allem aber
fällt das wieder bei dem vielberufenen Gemeindewesen auf, wo
noch nie ein Kredit vom Volk zurückgewiesen worden ist. Was
Wunder, wenn man es da mit den Baurechnungen und anderem
immer leichter nimmt und immer mehr und größere Nachtrags-
kredite verlangt? Quousque tandem?
Im übrigen besteht die positive Verwaltungstätigkeit in der
Wohlfahrtspflege und diese sollte sich mehr bloß mit dem Not-
wendigen befassen ; für dieses aber mehr leisten als bisher. Dazu
rechnen wir einerseits die Sorge für die Armen und Notleidenden
473
und anderseits eine größere Berücksichtigung der Landschaft
gegenüber der Stadt.
Hier kommt zunächst das Armenwesen in Betracht, Dass
das Armengesetz wie das Medizinalgesetz rückständig ist, nicht
nur alt, sondern veraltet, haben wir bereits bemerkt und ist auch
allgemein längst anerkannt. Das Erste schiene, einmal mit dem
verrotteten Bürgerprinzip abzufahren, wodurch der inhumane,
kostspielige Armenschub und die unwürdige Markterei um Men-
schennotdurft zwischen Wohnort und Bürgerort aufgehoben
würde. Das wäre nur die Kappung des verdorrtesten Zweiges des
Bürgergemeinderechtes, und wenn dieses selbst aufgegeben würde,
um so besser. Es genügte dazu sozusagen der Satz, dass
jeder, der sich an einem Orte niederlässt, dadurch Bürger des
Ortes werde. Damit würde nur ein altes gutes Recht wieder
hergestellt und die Mahnung Machiavellis, zu den Anfängen zurück-
zukehren, erfüllt. Die Bürgergemeinde verdient es auch gar nicht,
so sehr geschont zu werden; ist sie doch in Wahrheit ein Gebilde
der Reaktion, des engherzigen Abschlusses der alten Ortseinwohner
gegen neue Zuzüger, und eine Verknöcherung des Einwohner-
prinzips. Zum früheren Rechte zurückzukehren, wäre also ein
Fortschritt und um so mehr gerechtfertigt, als sich das Bürger-
prinzip mit dem seither so gewaltig gesteigerten Verkehr und
Wechsel der Wohnsitze nicht mehr verträgt. Übrigens gibt es im
Kanton Zürich bereits keinen Bürgergemeindeverband mehr, sondern
man ist Bürger der politischen Gemeinde des Bürgerortes, und
so handelte es sich nur noch darum, diesen in den Wohnort
aufgehen zu lassen und so den Rückschritt Schritt für Schritt
zurück zu nehmen, um zum Fortschritt zu gelangen. Natürlich
könnte das nur für die Kantonsbürger gelten, so lange es in
andern Kantonen nicht auch so gemacht würde, bis es schließ-
lich nur noch ein Schweizerbürgerrecht gäbe. Aber der Kanton
muss in diesem Falle vorangehen, damit wir zu einem gemein-
samen schweizerischen Rechte gelangen, und es würde der ruhigen
Entwicklung nicht dienlich sein, wollte man umgekehrt vorgehen
und gleich das Heil vom Bund erwarten.
(Fortsetzung folgt.)
DDD
474
L'ESPRIT POLITIQUE CHEZ
LES ßCRIVAlNS FRAN^AIS
AU COMMENCEMENT DU XX^ SiECLE
(Suite et fin)
Teile est la seconde ere de la litterature fraiKjaise. Encore
une fois, eile ne forme pas un seul bloc; eile ne manche pas d'un
seul jet. Ce qui distingue l'ere precedente n'en est pas banni.
Mais ce n'est plus qu'accident.
Par exemple, Andre Chenier emerge au plus fort de la litte-
rature revolutionnaire ; par exemple Gerard de Nerval et Stend-
hal emergent au plus fort du romantisme, les uns et les autres
abondant, ä la maniere de naguere, en allusions incisives, les
uns et les autres etant penetres d'une exquise lucidite, d'une en-
tiere liberte spirituelle, qui rayonnent avec profit sur la politi-
que. Eclairs fugitifs, lueurs vite effacees et que, sur le mo-
ment, la gloire, occupee d'autres predilections, n'a pas eu le loi-
sir de recueillir!
En resume, vous le voyez, quand nous atteignons aux raci-
nes les plus proches, aux antecedents les plus directs de la litte-
rature actuelle, nous avons parcouru six siecles durant lesquels
l'esprit politique et l'esprit litteraire se sont maries, apparies Se-
lon une formule — peut-on appeler cela: formule? — selon un
don plutot de liberte et de fecondite spirituelles, unique au
monde, et dans les conditions politiques les plus desolantes; et
nous en avons parcouru deux durant lesquels la vie politique a
ete ardenle et magnifique, mais oü l'esprit politique a absorbe
l'esprit litteraire, ou l'a epouvante, le privant, dans les deux cas,
de sa vivace et enigmatique vertu politique originale.
Au bout de cette longue route, il devait fatalement se poser
diverses questions; eile se posent, aujourd'hui:
On se demande si cette voie commune oü politique et litte-
rature marchent de conserve, depuis deux siecles, comme des
soeurs quelquefois ennemies, ne conduit pas ä une impasse.
475
On se demande, si indefiniment, l'esprit politique et l'esprit
litteraire peuvent se regier Tun sur l'autre; si d'une part l'esprit
litteraire qui a, de si loin, devance et annonce l'esprit politique,
peut s'astreindre indefiniment ä epouser les etapes de son evo-
lution, ä present qu'il est mür et developpe; si, d'autre part,
l'esprit politique, auquel correspond desormais une realite vivante
et pratique, a interet indefiniment ä se laisser suggestionner par
l'image que l'esprit litteraire, non sans nuages, non sans chimeres,
lui fournit de lui-meme.
On se demande, enfin, si, faisant appel de nouveau ä cette
faculte d'anticipation insensible dont j'ai essaye de decrire l'his-
toire, l'esprit litteraire n'est pas destine, dans l'ordre politique, ä
preparer autre chose que ce qui l'a Interesse jusqu'ici, ä prevoir,
ä predire, ä explorer un autre esprit politique encore balbutiant
et plus vaste que celui qui, maintenant, l'accable.
C'est la reponse ä ces diverses questions qui, depuis bientöt
vingt ans, trouble le monde des lettres, et, plus que jamais, pre-
sentement, l'agite et l'enfievre.
Remettez-vous en face du probleme tel qu'il nous apparut.
Concevez ce que c'est pour des hommes tout portes par leurs
Souvenirs et leur heredite, tout incites par les circonstances ä
aimer la vie publique, ä en admettre et en exiger les debats, ä
etre curieux de politique et, ä l'occasion, de combat politique,
concevez ce que c'est pour les fils de trois revolutions, lors-
qu'ils sont ecrivains, d'affectionner litterairement la monarchie que
politiquement ils detestent, car que de latitudes, meme politique-
ment, eile a laissees ä la litterature, — et litterairement de detester
le regime de discussion que politiquement ils affectionnent, car
que de sujetions dont, meme litterairement, il a frappe la litte-
rature. La liberte ne leur parait pas toute dater des regimes de
liberte, et la contrainte ne leur parait pas toute remonter aux
regimes de contrainte.
Sous un pareil faix d'incertitude, dans quel sens chercher
ä alleger l'amalgame desormais etouffant de la politique et de la
litterature? On tente surtout des combinaisons.
Mais dejä, comme vous allez voir, des indications lumineu-
ses se sont fait jour.
476
En reprenant au point oü nous en sommes restes, nous
voyons jaillir tout d'un coup du Parnasse et du Naturalisme,
quelque chose de neuf, de bien plus delie et de bien plus repose:
c'est le symbolisme.
Aupres des esprits superficiels, aupres aussi des iniiombra-
bles descendants du romantisme qui battent monnaie avec ses
somptueuses redondances, aupres des parnassiens et des natu-
ralistes, le symbolisme fut suspect et assez vite discredite. Les
symbolistes eprouverent un äcre plaisir ä s'en vanter: leur in-
fortune n'avait d'egale que leur meprisante insouciance.
Pourtant, ce mouvement litteraire, on doit meme dire ce
mouvement moral, etait gros d'intuitions inattendues.
„Art pour Art", „tour d'ivoire" a-t-on dit? Pas plus que
le Parnasse, pas plus que le naturalisme et meme, ä mon sens,
beaucoup moins. II y a eu des abstracteurs de quintessence dans
le symbolisme. Ils se surnommaient avec affectation „decadents"
et le public leur renvoyait le sobriquet comme une Insulte.
Quand la mode s'empara du symbolisme, cette espece emplit les
salons et les cabarets litteraires.
N'empeche que le symbolisme qui ne fut point une ecole,
qui fut meme hostile ä tout esprit d'ecole, offrit avant tout
l'image du genereux dessein de vivre plus en paix avec la mul-
tiplicite des choses, plus loin des considerations de doctrine et
de sentiment, plus en intimite avec les resonnances et les decou-
vertes capricieuses qui habitent la reverie personnelle, la reliant
aux promesses, aux possibilites sans nombre, eparses ä travers
les endroits et les jours.
Par lä le symbolisme reprenait pied, avec calme, dans la
jouisssance de la cite; gräce ä lui, ä travers lui, l'esprit politique
recouvrait son tact rapide, son etincellement elastique, residant
en des intuitions entremelees plus qu'en des raisonnements dis-
tincts.
Ainsi, du symbolisme sortait une clarte nouvelle, une libe-
ration savoureuse. Un beau jour, de ce buisson dont le public
redoutait l'approche touffue et les epines ardentes, des paroles
fleurirent qui rappelaient la verve des trouveres.
Verlaine, Jules Laforgue, Arthur Rimbaud, Mallarme, artistes
compliques, certes, mais en qui renaissait miraculeusement une
477
frugalite primitive, une fratcheur sauvage et cet esprit politique,
diffus, malicieux, entreprenant, inherent au prestige des plus heiles
Oeuvres litteraires de France!
Pour ma part, lorsque je lis tel poeme de Rimbaud: La
Chanson de la plus Haute Tour,
Oisive jeunesse
A tout asservie,
Par delicatesse
J'ai perdu ma vie.
Ah! que le temps vienne
Ou les Coeurs s'eprennentl . . .
ou tel de Laforgue: L' Hiver qui vient:
Blocus sentimental! Messageries du Levant!
Oh, tombee de la pluie! Oh! tombee de la nuit!
Oh: le vent:
La Toussaint, la Noel et la Nouvelle annee,
Oh! dans les bruines toutes mes cheminees!
On ne peut plus s'asseoir, tous les bancs sont mouilles
Crois-moi, c'est bien fini jusqu'ä l'ann^e prochaine,
Tous les bancs sont mouilles, tant les bois sont rouilles
Et tant les cors ont fait ton ton, ont fait ton taine.
je ne puis me defendre d'y recueillir une emotion qui, en faisant
fraterniser mon temps et mon coeur avec des temps recules,
apaise l'alarme dont je vous ai parle et me rend presumable la
guerison de la contradiction existant entre l'esprit litteraire et
l'esprit politique.
Le plus instructif de ces genies est Mallarme chez qui se
revele toute la contenance du symbolisme avec ses parois orfe-
vrees, sur lesquelles sont graves les signes d'un langage quelque-
fois sibyllin; mais, au dedans, que le breuvage est limplde et
enivrant, philtre digne de Ronsard!
Pendant pres de vingt ans, ces etonnants esprits furent me-
connus et meme bafoues. A present, au seuil du XX^ siecle, on
ne doute plus qu'ils n'aient ete des precurseurs et leur patronage
commence ä s'eriger au dessus du monde des lettres.
Vers le meme moment que prenait corps le symbolisme,
d'autres manifestations de la pensee attestaient le meme besoin
de reduire le conflit de l'esprit politique et de l'esprit litteraire.
478
Deux Oeuvres s'imposaient, celle de Renan et celle de Taine.
Litterairement, Renan et Taine avaient une vive inclination pour
les choses anciennes. Avec son esprit de persiflage caressant,
Renan ne se gena pas de narguer aimablement les nouveautes.
II en etait une, pourtant, lui-meme, et des plus surprenantes.
En lui comme chez les symboiistes, mais d'une fa^on bien
plus accusee, bien plus frappante pour l'opinion (car il etait
Historien et prisait fort les questions politiques, car il etait pro-
fesseur, savant et critique), se determina la volonte de rester atta-
che ä la vie generale, mais sans s'y enchainer, et de rendre ä
Tesprit litteraire le priviiege de butiner l'esprit politique, d'en ex-
traire, en un fantasque envol, un certain miel intellectuel, ä la
saveur fugitive.
On lui a reproche d'avoir ete surtout un ensorcelant publi-
ciste d'idees serieuses, d'avoir accentue l'absorption de l'ideal par
la coutume accommodante et journaliere de l'esprit politique. Je
trouve qu'il a fait plutot le contraire, qu'il a enleve l'ideal aux
griffes du dogmatisme politique pratique, et, moyennant une flui-
dite poetique, dangereuse, je le reconnais, en certains sujets, l'a
confie de nouveau aux mobiles enquetes de l'esprit litteraire. Re-
nan fut l'incorrigible, l'infatigable trouvere du monde de la
science, de la societe qui naissait ou devait nattre de la science.
II attira tout pour le refondre dans la litterature, jusqu'ä la chi-
mie, et son ami Berthelot, cedant ä ses instances, plus d'une
fois, le suivit dans ce chemin diapre et ondoyant.
Quant ä Taine, c'etait l'inverse. II avait le dogmatisme et la
partialite politiques dans le sang; son histoire de la Revolution
est un abandon de la methode historique aux stratagemes de
l'esprit politique. Cependant, il a de telles gräces, de telles nuan-
ces de narrateur, que la verite se retablit sur l'erreur comme la
mousse se met sur le rocher, et que l'on s'asseoit, malgre tout,
avec securite, dans ces bocages litteraires oii les duretes de l'esprit
politique se tamisent.
Puis-je mieux vous procurer le sentiment de cette elevation
nouvelle de l'esprit litteraire au dessus de l'esprit politique, et des
efforts et de la curiosite complexe et balbutiante qui en resulte-
rent, qu'en vous rappelant la fameuse Friere sur lAcropole de
Renan :
479
O noblesse! o beaute simple et vraie! de'esse dont le culte signifie
raison et sagesse, ioi dont le temple est une legon eternelle de conscience
et de sincerite, j'arrive tard au seuil de tes mysteres; j'apporte ä ton
autel beaucoup de remords. Pour te trouver, il m'a fallu des recherches
infinies. L'initiation que tu confe'rais ä l'Athe'nien naissant par un sou-
rire, je Vai conqulse ä force de reflexions, au prix de longs e/forts.
Je suis ne, de'esse aux yeux bleus, de parents barbares, chez les Cim-
meriens bons et vertueux qui habitent au bord d'une mer sombre, heris-
see de rochers, toujours battue par les orages . . . Les nuages y parais-
sent Sans couleur et la joie meme y est un peu triste; mais des fontaines
d'eau froide y sortent du rocher et les yeux des jeunes filles y sont
comme ces vertes fontaines oii, sur des fonds d'herbes ondule'es, se mire
le ciel . . .
Des pretres d'un culte etranger, venu des Syriens de Palestine, pri-
rent soin de m'e'lever. Ces pretres etaient sages et saints. Ils m'apprirent
les longues histoires de Cronos qui a cree le monde et de son fils qui
a, dit-on, accompli un voyage sur la terre. Leurs temples sont trois fois
hauts comme le tien, ö Eurythmie, et semblables ä des forets ; seulement
ils ne sont pas solides; ils tombent en ruine au bout de cinq ou six cents
ans; ce sont des fantaisies de barbares qui s'imaginent qu'on peut faire
quelque chose de bien en dehors des regles que tu as tracees ä tes ins-
pires, 6 Raison. Mais ces temples me plaisaient; je n'avais pas etudie
ton art divin ; fy trouvais Dieu. On y chantait des cantiques dont je me
souviens encore: „Salut, e'toile de la mer ..." ... Tiens de'esse, quand
je me rappeile ces chants, mon cceur se fond, je deviens presque apostat.
Pardonne-moi ce ridicule; tu ne peux te figurer le charme que les magi-
ciens barbares ont mis dans ces vers et combien il m'en coute de suivre
la raison toute nue . . ."
Par le symbolisme, par Renan et Taine, il apparut donc que
l'art litteraire fran^ais s'enhardissait ä reviser et peut-etre ä re-
constituer sa contexture, et s'appliquait ä un autre equilibre, ä
d'autres proportions de l'esprit litteraire et de l'esprit politique.
Mais ces aper^us ne s'imposerent pas tout seuls, loin de lä.
Sources voilees et ambigues, sources propices ä des malentendus.
De Renan, de son esprit ä la fois scientifique, politique et
litteraire, qu'est-il derive? 11 est derive M. Barres, et il est derive
M. Anatole France. 11 est derive aussi, sans doute, par commu-
nication avec le naturalisme, Emile Zola.
De Taine il est sorti M. Bourget, cet augure ä deux visages,
ce Janus qui, pendant la premiere moitie de sa vie, a regarde
l'avenir ä travers un monocle, qui passe la seconde ä regarder
le passe ä travers une loupe.
M. Barres, M. Anatole France, Emile Zola? Jouer un role
politique precis, determine, les a hantes. Ils s'y sont consacres
480
de leur mieux. Qu'ils ont eu de mal, toutefois, les deux premiers
surtout, ä adapter ä cette mission uniforme les rares scrupules
de leur esprit litteraire avide et susceptible ! M. Barres et M. Ana-
tole France sont forces de se desobliger, de par la politique;
mais ils ont bien des mitoyennetes, de par la litterature. Et pour
ceux qui les etudient, que d'embarras. On en est ä s'interroger
pour savoir s'il n'y a pas en somme plus d'aliment meme poli-
tique dans l'esprit litteraire de M. Barres que dans l'esprit poli-
tique de M. France!
Ce qui prit racine dans le symbolisme ne fut pas moins de-
concertant.
On Vit surgir du symbolisme des ecrivains ä la maniere de
M. Henri de Regnier qui, poetes altiers, pencherent peu ä peu,
neanmoins, ä des romans presque satiriques dans le goüt du
XVIII^ siecle et non exempts de l'espoir de resonner sur l'esprit
public.
II en germa egalement des oeuvres de foi comme celle de
M. Paul Claudel, tres eloignees de l'action sur la foule par leur
qualite litteraire, mais dont l'insistance tranchante denonce pour-
tant un certain appetit de proselytisme.
Enfin, d'autres fils du symbolisme eurent le sort de M. Paul
Adam que la profusion encyclopedique a envahi et qui cepen-
dant, pour s'en servir et la vulgariser, a peine ä surmonter un
esprit litteraire que la demonstration toute droite, toute claire ne
contente point.
Cette fois, vraiment, on ne sait que penser. L'imbroglio de
l'esprit politique et de l'esprii; litteraire semble inextricable. Aucune
eclosion imposante. Les ecrivains se perdent dans leur labyrinthe
interieur. L'opinion les deprave et les devoie davantage. Ils lui
fönt des concessions de politique grossiere ou de litterature trop
facile. L'opinion, qui consomme de plus en plus de litterature et
aussi de politique, et dont le journalisme est devenu l'aliment
ordinaire, prefere, en definitive, ä ces tenebreux tätonnements
le solide et nourrissant partage romantique: ou tout ä la po-
litique, ou tout ä la litterature. Une ä une, les oeuvres de re-
cherche subtiles sont ensevelies par l'ombre.
C'est pour cela, je pense, que les ecrivains plus jeunes et
plus pratiques, ceux de vingt-cinq ans, ont decidement pris en
481
horreur l'unisson plein de promesses dont les symbolistes, puis
Renan et Taine, puis les descendants des uns et des autres leur
avaient fourni le laborieux exemple. Ils ont voulu revenir ä ce
qu'ils appellent la simplicite, c'est-ä-dire au romantisme, avec son
double cours, le cours de litterature exclusive, romanesque ou
stylisee, et le cours de litterature purement politique.
Malheureusement, cette simplification, eile non plus, n'est
plus possible, si tant est que Ton veuille se targuer de quelque
nouveaute. Des causes profondes interviennent pour s'y opposer.
La vie politique s'accompagne, desormais, d'une coutume
positive, au jour le jour. La politique acquiert son langage ä
eile, langage d'affaires plutöt que d'idees. Elle ne prete plus guere
aux propheties orageuses pour lesquelles les litterateurs lui ont
ete de si puissants auxiliaires. La politique litteraire, pour tout
dire, se meurt, remplacee par la science sociale. On peut donc
dire que la litterature purement politique est fermee aux ecrivai ns
Mais la litterature exclusive ne Test pas moins et pour les me-
mes raisons. Aussi bien, en se calmant, en prenant une tournure
administrative, peu favorable aux bons Offices de la litterature,
l'esprit politique, par contre, s'est repandu; il est entre dans les
usages. La vie politique, la vie collective fait davantage partie de
la vie de chacun. On ne peut s'en abstraire. L'individualisme des
litterateurs en eprouve l'invincible attrait.
Faute de perseverer dans les avenues percees par leurs de-
vanciers immediats, faute egalement de pouvoir retourner ä la
simplicite de l'art pour l'art ou ä celle de l'art pour la politique,
qu'ont-ils donc fait, ces jeunes gens?
Ils ont du se rabattre sur des artifices; ils ont du renoncer
ä leur naturel. Cest le spectacle auquel nous assistons.
C'est la raison de tant d'enquetes, de tant de manifestes, de
tant d'ecoles dont le bruit etouffe la voix et deforme la signifi-
cation des ouvrages.
Dans ses donnees reelles, dans ses conditions positives, la
politique ne suffit plus ä employer la litterature? Soit! Qu'on
forge, alors, une politique imaginaire, plus appropriee aux ampli-
fications litteraires. Cette politique factice ne peut etre que reac-
tionnaire pour mieux entretenir la melancolie, le romanesque litte-
raire ou revolutionnaire, pour ramener les declamations de l'ideo-
482
logie. De lä les conversions catholiques, napoleoniennes et bour-
boniennes qui fönt explosion de toutes parts, de lä le goüt du
patriotisme chamarre et de la guerre, de lä l'esperance de la
revolution. Revues de combat royalistes, socialistes, anarchistes,
levent et essaiment sans treve.
De meme, la litterature pure ne suffit plus ä des esprits
plonges au milieu d'une vie politique diffuse qui les impregne?
Soit! Qu'on forge alors une litterature enduite de faux-semblants
politiques. De lä la litterature dite sociale ou scientifique ou
scientiste: romans sociaux, etudes sociales, etudes regionales,
poemes sociaux, poemes populaires, poemes scientifiques. De lä,
aussi, une litterature composee de raretes psychologiques, et de
pedantesques arcanes, litterature individualiste au premier chef et
qui ne differe guere ou du naturalisme ou du parnasse, surgeons
derniers du romantisme, mais qui s'escorte de tout un appareil
critique, de declarations ä la mode politique, destines ä faire
Illusion, ä masquer ses exercices surannes, ä la montrer bonne
ä une action et accueillante ä la foule. Cette parade, toute exte-
rieure, se rehausse de noms d'ecoles retentissants : unanimisme,
paroxisme, futurisme, impulsionisme. Pourvu qu'on donne l'im-
pression de former masse sur le dehors, tous les subterfuges
sont bons; les denominations anciennes, elles-memes, dans ce
but, rajeunissent: il y a un nouveau traditionalisme, et un nou-
veau classicisme. On a, par suite du meme travers, la manie de
parier sans cesse de la vie, de s'autoriser uniquement de la vie,
de mettre ce mot partout, d'agrafer ce mirage rassurant de poli-
tique ä l'entree de tous les livres.
Et cet ensemble de ruses litteraires fait un tapage heroique:
on nous affirme que c'est une renaissance.
Non.cen'est pas encore une renaissance. Comme vous l'avez
pu voir, c'est meme une regression reiativement au symbolisme et
aux Oeuvres du meme temps. Et est-ce davantage une renaissance
que les imitations de Tolstoi", d'Ibsen, de Whitmann qui soutien-
nent et sustentent ces tentatives embarrassees?
Mais si la renaissance est retardee, eile n'en couve pas
moins. C'est de la sentir couver qui repand, en depit des Haines
et des expedients, tant de confiance, tant d'amour dans les lettres,
483
ä l'heure actuelle, et qui rend belles des solitudes obscures et
qui les rend patientes.
Quand on a vu six siecles de politique recluse former une
litterature emplie de lucidite politique, et par lä preparer une vie
politique ouverte ä laquelle la litterature, ensuite, s'est sacrifiee,
quand on a constate un aussi parfait enchainement, quand on
s'est persuade que, gräce ä ce jeu de balance continuel entre les
lettres et la politique, jamais, en France, l'exercice de la liberte
d'esprit n'a cesse, et que, pour cela, le peuple de France s'est
le mieux assoupli ä la vie politique et ä la vie individuelle, tout
ensemble, comment douterait-on que des satietes et des sursauts
qui marquent les debuts du XX^ siecle, ne dussent resulter une
Harmonie, une bienfaisance nouvelles?
Peut-etre, detournee de la politique nationale assise ä present
et specialisee, la litterature fran^aise va-t-elle, au gre de ses insi-
nuations espiegles et inquietes dont le charme, les symbolistes
et Renan l'ont prouve, n'est pas perdu, aborder le domaine en-
core neuf de l'esprit politique international, et tendre de ce cöte
des previsions seduisantes?
Elle a parcouru dejä par trois fois et avec aisance la courbe
que M. Bovet a si lumineusement demelee et dessinee. Par trois
fois eile a gravi le lyrisme, chemine l'epopee, surmonte les ca-
hots du drame.
Tous les symptömes s'accordent ä nous annoncer un nou-
veau depart, au profit d'un esprit politique encore plus vaste,
encore plus universel. Les troupes s'assemblent; le rendez-vous
est tumultueux. Le carrefour est encombre de vanites. Mais
l'ordre viendra, l'ordre et l'elan, avec leur gräce mesuree, et
leur modestie qu'anime un songe desinvolte et obstine.
PARIS HENRI HERTZ
DOD
484
DIE URSPRÜNGE DER POESIE
(Schluss)
Erst durch die Indische Altertumskunde von Lassen, deren
erster Band 1844 erschien, kam dieses hohe Alter des Rigveda
zum allgemeinen Bewusstsein, und Müllenhoff, der noch 1845
in 'seinen „Märchen, Sagen, etc., aus Schleswig-Holstein" nur
schüchtern die niederdeutschen Balladen mit den Homerischen
Hymnen verglichen hatte, wies nun 1847 in seinem für unsere
moderne Auffassung grundlegenden Universitätsprogramm De an-
tiquissima poesia chorica auf diese älteste Urkunde hin. Anti-
qucsslmum enim omnium poesis genus haud düble illud est,
quod choricum dicitur, eine Gattung, die die elementa ei initia
der epischen, lyrischen und dramatischen Dichtkunst in sich be-
griffe, aus der diese bei den Indern, Griechen und Germanen
quasi e communi radice efflorescerent. Er verweist dann auf den
germanischen Ausdruck leich als Bezeichnung für diese älteste
Dichtgattung und sieht als ihren ältesten Stoff den Mythus an,
der nicht durch einzelne Sänger besungen, sondern an den Festen
der Götter in Liedern gefeiert wurde, die zugleich cantata et acta
sunt. Vor dem vierten oder fünften Jahrhundert habe es keine
eigentlich epische Poesie gegeben, das Zeugnis über Arminius
wird weggedeutet. Die Art der chorischen Betätigung ist dreifach :
pompa, saltatio et ludus, von denen die pompa die älteste und
einfachste gewesen sei. Aus diesem feierlichen Schreiten erklärt
er dann später in seiner Schrift De carmine Wessofontano im
Jahre 1861 den Viervierteltakt der indogermanischen Metrik, im
selben Jahre, als Westphal im neunten Bande der Kuhnschen
Zeitschrift dieselbe auf andern Grundlagen rekonstruieren wollte.
Indem Müllenhoff in der religiösen Lyrik das älteste Erzeugnis
menschlicher Dichtkunst zu finden glaubte, ist er auf großen Um-
wegen zu der alten Lowthschen Theorie des achtzehnten Jahr-
hunderts zurückgekehrt. Richtig fasst Scherer ^) in seiner Ge-
dächtnisrede auf Müllenhoff den Inhalt von dessen beiden ge-
nannten Schriften dahin zusammen,
^) Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie. Berlin 1893. S. 140.
485
, . . dass die älteste germanische Poesie im Wesentlichen strophischer
Chorgesang gewesen sei und die Keime der epischen, der lyrischen und
der dramatischen Dichtung unentwickelt, aber entwicklungsfähig in sich
enthalten habe. Er zeigte, wie hieraus eine gemischte Form, Prosa mit ein-
gefügten Versen und zuletzt das Epos mit fortlaufenden, nicht strophisch
gegliederten Langzeilen hervorging.
Die größte Verbreitung und eine direkte Wirkung auf die
Entwicklung der Kunst haben nun diese Theorien durch einen
germanistisch immer stark interessierten großen Künstler, Richard
Wagner, gefunden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er die
Müllenhoffschen Aufsätze gekannt hat. Bereits in einigen, wohl
dem Jahre 1849 zuzuschreibenden Aufzeichnungen i) schreibt er:
Das natürliche Kunstwerk wuchs aus dem Tanze und der Musik ver-
möge der Sprache bis zum Drama . . . Nach der Trennung der Künste
kommen wir schließlich zu dem Resultat, dass zum Beispiel ein Literat
ein Schauspiel schreibt und über den Schauspieler disponiert wie über ein
Werkzeug, wie der Bildhauer über den Ton und Stein . . . Jedes will alles
für sich allein. L Die menschliche Kunst: Tanz, Musik, Dichtkunst, ihre
Untrennbarkeit. Wachstum der einen aus der andern, dennoch Gleichzeitig-
keit, Gleichdenkbarkeit aller, am frühesten vereint in der Lyrik: am ver-
ständlichsten im Drama . . . Hilfsmittel des Dramas: Architektur (Deko-
ration), Bildhauerei, Malerei . . . Trennung der Kunstelemente, egoistische
Entwicklung derselben . . . Die Musik auf der Grenzscheide zwischen
Tanz und Sprache, Empfindung und Gedanke: sie vermittelt beide in der
antiken Lyrik, wo das Lied, das gesungene Wort zugleich den Tanz be-
feuerte und Maß gab. Tanz und Lied, Rhythmus und Melodie: so steht sie
verbindend und zugleich abhängig zwischen den äußersten Fähigkeiten des
Menschen, der sinnlichen Empfindung und dem geistigen Denken. Das Meer
trennt und verbindet: so die Musik.
Jede Einzelkunst kann heute nichts Neues mehr erfinden, und zwar
nicht nur die bildende Kunst allein, sondern die Tanzkunst, Instrumental-
kunst und Dichtkunst nicht minder. Nun haben sie alle ihre höchste Fähig-
keit entwickelt, um im Gesamtkunstwerk, im Drama, stets neu wieder er-
finden zu können.
Dieses Gesamtkunstwerk Wagners steht in einem gewissen,
losen Zusammenhang mit dem, was den Romantikern als eine
Art Ideal vorschwebte^). Man mag dabei schon an das Gesell-
schaftsspiel in den Wahlverwandtschaften erinnern, in dem Luciane
mit Musikbegleitung tanzend auftritt, während zugleich der Archi-
tekt ein Grabmal zeichnen muss, ein Spiel, das Mörike in seinem
Nolten nachgeahmt hat, es ausdrücklich als ein Spiel bezeichnend,
') Sämtliche Schriften und Dichtungen. XII, 263. 271.
2) Glöckner, Studien zur romantischen Psychologie der Musik. Mün-
chen 1909. S. 26.
486
das „drei verschiedene Künste auf sinnreiche Weise in Verbindung
brachte".
1850 trat Wagner mit seinen Gedanken im Kunstwerk der
Zukunft^) zum erstenmal an die Öffenth'chi<eit:
Jene drei künstlerischen Hauptfähigkeiten (als Leibes-, Gefühls- und
Verstandesmensch) haben sich zum dreieinigen Ausdrucke menschlicher
Kunst unmittelbar und von selbst ausgebildet, und zwar im ursprünglichen,
urentstandenen Kunstwerke der Lyrik, sowie in dessen späterer, bewusst-
voller, höchster Vollendung, dem Drama. Tanzkunst, Tonkunst und Dicht-
kunst heißen die urgebornen Schwestern, die wir sogleich da ihren Reigen
schlingen sehen, wo die Bedingungen für die Erscheinungen der Kunst
überhaupt entstanden waren. Sie sind ihrem Wesen nach untrennbar ohne
Auflösung des Reigens der Kunst; denn in diesem Reigen, der die Bewegung
der Kunst selbst ist, sind sie durch schöne Neigung und Liebe sinnlich und
geistig so wundervoll fest und lebenbedingend in einander verschlungen,
dass jede einzelne, aus dem Reigen losgelöst, leben- und bewegungslos nur
ein künstlich angehauchtes, erborgtes Leben noch fortführen kann, nicht
wie im Dreiverein selige Gesetze gebend, sondern zwangvolle Regeln für
mechanische Bewegung empfangend.
Durch den Rhythmus wird der Tanz erst zur Kunst.
Durch dieses aufrichtigste, gegenseitige Durchdringen, Erzeugen und
Ergänzen aus sich selbst und durch einander der einzelnen Künste . . . wird
das einige Kunstwerk der Lyrik geboren ... Im Drama, der vollendetsten
Gestalt der Lyrik, entfaltet jede der einzelnen Künste ihre höchste Fähigkeit.
Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine etwa nur rezitierte
Dichtung: die Gesänge des Homeros ... die Bruchstücke der verloren
gegangenen Nibelungenlieder. Ehe diese epischen Gesänge zum Gegen-
stande solcher literarischen Sorge geworden waren, hatten sie aber in dem
Volke, durch Stimme und Gebärde unterstützt, als leiblich dargestellte
Kunstwerke geblüht, gleichsam wie verdichtete, gefestigte, lyrische Gesangs-
tänze, mit vorherrschendem Verweilen bei der Schilderung der Handlung
und der Wiederholung heldenhafter Dialoge. Diese episch-lyrischen Dar-
stellungen bilden das unverkennbare Mittelglied zwischen der eigentlich
ältesten Lyrik und der Tragödie, den normalen Übergangspunkt von jener
zu dieser.
1851 kommt Wagner in seinem Werke über Oper und
Drama wieder auf die gleichen Probleme zu sprechen und wieder
1860 in seinem Briefe über Zukunftsmusik 2). Am schönsten
und eindringlichsten sind die Ausführungen an letzter Stelle, wo
er auch seinen Begriff der „unendlichen Melodie" darlegt, die er
nicht mit dem alten Rezitativ identifiziert wissen will. Aber das
Wesentliche ist schon in jenen beiden ersten Schriften gesagt.
J) a. a. O. III, 67, 73, 75, 103 f.
2) a. a. O. III, 236. VII, 106, 126, 128 ff.
487
Mit Wagner will ich diesen Überblick über die Geschichte
des Problems schließen. Einzelförschungen haben ja seither viel
verändert, aber die Prinzipien sind durch Müllenhoff und Wagner
festgelegt v^orden. Es ist für mich die Möglichkeit vorhanden, den
heutigen Stand der Wissenschaft, allerdings in meiner individu-
ellen Auffassung, klarzulegen.
Des Aristoteles Poetik hat einseitig nur Epos und Drama
ins Auge gefasst. Der große Philosoph erwähnt wohl die lyri-
schen Dichtungsarten, kennt aber keinen gemeinsamen Namen
für sie und berücksichtigt sie nicht in der Definition. Auf die
Versuche von Batteux und Nachfolgern, auch die Lyrik unter das
Joch seiner Begriffsbestimmung zu beugen, bin ich oben zu reden
gekommen. Sie mussten naturgemäß misslingen. Das Richtige
hat, wie erwähnt, schon Gottsched gesehen. Wir können Epos
und Drama als mimetische Poesie zusammenfassen und dieser
innerhalb der Dichtkunst die Lyrik entgegenstellen. Ja, wollten
wir die Scheidung in begriffsstrenger, unwirklicher Weise vollziehen,
so müssten wir von zwei verschiedenen Künsten sprechen: denn
als mimetische schließt sich die episch-dramatische den bildenden
Künsten an, während die Lyrik zu dem entgegengesetzten Pole
unter den Künsten, der Musik, strebt. Die bildenden Künste sind
ihrer Natur nach naturnachahmend, visionär, traumhaft, apollinisch,
die Musik gefühlbefreiend und anregend, nicht darstellend, stofflos,
rauschgeboren, dionysisch. Die Poesie liegt mitten inne zwischen
beiden Extremen und nimmt teil an beiden. Sie sinds natürlich
in der wirklichen Ausführung nicht so wie in der schematisierenden
Definition. Ohne dionysische Selbstbefreiung der Persönlichkeit
bleibt das Produkt der bildenden Kunst ein Wachsfigurenkabinet,
ja es gibt Zeiten, in denen dieses dionysische Element auch von
bildenden Künstlern einseitig betont wird, und ich erinnere mich
selbst an das kühne Wort eines bedeutenden Malers: „Was hat
die Kunst mit der Natur zu tun?" Ja, man hat mit Recht darauf
hingewiesen, dass neben oder sogar vor diesem einfach natur-
nachahmenden Streben sich ein anderes naturüberwindendes geltend
mache, das die übermächtig eindringende, gefürchtete Naturgegen-
ständlichkeit dem Menschen zu unterwerfen sucht in Ornamen-
488
tierung und Stilisierung i). Jedenfalls hat man mit Recht darauf
hingewiesen, dass es sich in diesen Fällen nicht immer und nicht
durchaus um ein geringeres Kunstkönnen, sondern vielfach um
ein anders gerichtetes Kunstwollen handelt^). Nicht immer und
nicht durchaus: nur in dieser Einschränkung werden wir allerdings
den Satz gelten lassen. Denn über beiden, dem Wollen und dem
Können, steht doch das Müssen, und wie der Mensch auf ein
solches Kunstmüssen reagiert, wird doch von seiner innerlichen
Konstitution wie von seiner Fähigkeit, ihr Ausdruck zu verleihen,
abhangen. Seit Goethe uns den Begriff der Befreiung durch die
Kunst geläufig gemacht hat, sehen wir darin die Wohltat aller
Kunst: die von außen auf uns übermächtig eindringende Natur,
wie die von innen unser Herz zu sprengen drohenden Gefühle
werden durch sie überwunden, die äußern Geschehnisse durch
bildnerische oder episch-dramatische Nachahmung, die Innern
durch Aussprechen der Gefühle. Sie können in Worten und Tönen,
sie können auch durch Gebärden, vielleicht auch durch Zeichnung
überwunden werden; denn als solche in Zeichnung konkreszierte
Ausdrucksbewegungen müssen wir jenes Ornament auffassen, das
nicht in letzter Linie auf Naturnachahmung zurückgeht. Dass
aber auch die Naturnachahmung diese befreiende Wirkung hat,
das ist das Dionysische in aller bildenden Kunst, das ist das
Lyrische, was, wie Jean Paul richtig gesehen hat, in aller Poesie
steckt. Und dass wir heute diesen lyrischen Bestandteil besonders
unserm Werturteil zugrunde legen, das ist ein Ausfluss der in
unserer Zeit auch auf andern Gebieten immer steigenden Persön-
lichkeitsbewertung ^).
Man pflegt gerade in letzter Zeit auch von apollinischer und
dionysischer Musik zu sprechen. Unter der ersten versteht man
eine Musik von geschlossenen Formen und symmetrischem Auf-
bau, die dem Ornament und damit der bildenden Kunst näher
zu stehen scheint. Keine große Rolle spielt die eigentlich mime-
tische, die Programmusik. Die Musik aus der Nachahmung der
Vogelstimmen herzuleiten, haben wir lange aufgegeben. Hingegen
1) Worringer, Abstraktion und Einfühlung. S.Auflage. München 1911.
2) Worringer, Formprobleme der Gothik. München 1911.
3) H. Gomperz, Über Persönlichkeitsbewertung. Archiv für systemat.
Philosophie XV, 543 ff.
489
liegt in jeder Instrumentalmusik etwas Mi metisch es; denn mag
sie auch gleich alt sein wie die Vokalmusik^), die menschliche
Stimme in ihren gefühlsbetonten Äußerungen ist doch älter als
beide. Natürlich aber ist dieses Moment unserem Bewusstsein
schon lange entschwunden.
Ganz anders, sobald sich die Musik mit dem Wort verbindet
und dadurch fassbaren, gedanklich bestimmten Inhalt bekommt.
Jede Lyrik, sobald sie sich über die Jean Paulschen kleinsten
Gedichte von Ausrufungszeichen und Gedankenstrich erhebt, ist
stofflicher, mimetischer als die reine Musik. Und von dieser kaum
merklichen Beimischung mimetischen Elements bis zur deutlichen
Einverleibung des gefühlsanregenden Geschehnisses in epischer
Erzählung oder dramatischer Aktion können unendlich viele Stufen
durchlaufen werden. Ja, das älteste Drama ist nichts anderes
als Chorlyrik mit Tanz und Aktion verbunden. Einseitig ist es,
mit Müllenhoff und Wagner alle Chorlyrik auf den Tanz und die
„heilige Handlung" zurückzuführen, ebenso wie mit Scherer im
erotischen Tanz^) oder mit den neuesten Psychoanalytikern in
„unausgelebten sexuellen Impulsen"^) die Keimzelle aller Poesie
erblicken zu wollen. Die lyrisch anregenden Momente auch der
Urzeit sind mannigfaltig wie das Leben. Auch hat Müllenhoff
ausdrücklicher als Wagner pompa, saltaüo und ludus, Marsch,
Tanz und Spiel unterschieden, während dieser allzu einseitig, wenn
er im Menuett und Scherzo der Symphonie ihren Urkeim sehen
will'^), seinen Blick auf den Tanz gerichtet hält^). Vor allem ist
die pompa, der Marsch, als gleichberechtigt zu betrachten, und
dazu hat Bücher^) mit Recht noch das Arbeitslied gestellt, mag
er auch seinerseits übertreiben, wenn er in diesem den Ursprung
aller Dichtkunst zu finden meint.
Epischer Inhalt ist schon für die älteste Chorlyrik zuzugeben,
weniger für die einsame Lyrik, die naturgemäß selten bezeugt,
1) G. Adler, Der Stil in der Musik. I. Leipzig 1911. S. 57.
2) Poetik. Berlin 1888. S. 10, 86.
3) H. Sperber, Über den sexuellen Ursprung der Sprache. Imago 1.
*) a. a. ü. VII, 126.
5) G. Adler, a. a. O. 167.
^) Arbeit und Rhythmus. 4. Aufl. Leipzig 1909.
490
doch von Burdach ^) mit Recht für die älteste Zeit angenommen
wird, epische Mimesis der Taten der Götter und Helden, Ver-
storbener und Lebender, in Preis-, Spott-, Hochzeits- und Toten-
liedern, neben rein gefühlsmäßigen Ergüssen der Freude und der
Trauer, der Liebe und des Hasses. Solche Balladen im eigentlichen
Sinne des Wortes werden wohl noch heute auf den Färöer und
anderwärts getanzt. Ob wir aber hierin einen Überrest der alten
Chorlyrik zu erblicken haben, nicht vielmehr eine Neuschöpfung,
das ist mehr als fraglich, da uns von Chorlyrik aus der ger-
manischen Zeit auch kein Restchen überkommen ist, und Sievers 2)
gegen Müllenhoff, der die Form unserer Allitterationspoesie
daraus ableiten wollte, wohl Recht behalten wird, wenn er diese
vielmehr auf das Rezitativ zurückführt. Wenn Heusler^) gegen
diese Auffassung die Harfenbegleitung anführt, so berücksichtigt
er nicht alle Möglichkeiten: sie kann dem Gesang vorangegangen
oder gefolgt sein, sie kann mit einzelnen gezupften Noten nur die
Stäbe gestützt haben ; aber auch für ursprüngliche primitive Poly-
phonie, die zwar später durch die Kirchenmusik erdrückt worden
wäre, lässt sich einiges anführen*). Ob, nicht in den Vers-,
aber in den Strophenformen der altnordischen Poesie, in unsern
Vierzeilern und Kinderliedern nicht doch Nachklänge jener alten
Chorlyrik zu finden seien, ist immerhin der Erwägung wert.
Wenn das klassische Altertum „als die Urväter und Fackel-
träger der griechischen Dichtung Homer und Archilochus auf Bild-
werken, Gemmen usw. neben einander stellt"^), so gibt es damit
einer Ahnung der Gleichaltrigkeit der epischen und lyrischen Gat-
tung Ausdruck. Natürlich steht Homer nicht am Anfang der Ent-
wicklung: sein Vers, der Hexameter ist ebensowenig wie der Al-
litterationsvers der germanischen Poesie aus dem lyrischen Vers
der alten Chorlyrik hervorgegangen, sondern aus dem der Rezi-
tation. Wallaschek^) zeigt uns, dass die Form der von einem
^) Das volkstümliche deutsche Liebeslied. Zeitschr. f. deut. Altertum.
XXVII, 343 ff.
2) Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur.
XIII, 135 ff.
3) Wallaschek, Anfänge der Tonkunst. Leipzig, 1903. S. 161, 163,
*) Hoops, Reallexikon der germanischen Altertumskunde. I, 458.
^) Nietzsche, Dir Geburt der Tragödie. Neue Ausgabe. S. 20.
6) Anfänge der Tonkunst. S. 30, 49, 208, 213.
491
Rezitator im sanglich erhöhten Sprechton, vom Chor durch lyrischen
Gesang unterbrochenen Erzählung eine bei Naturvölkern ungemein
verbreitete Art und Weise des Vortrags ist:
Die Gesänge (auf den Freundschaftsinseln) zerfallen in zwei Klassen,
solche, die unserem Rezitativ ähnlich sind, andere streng im Takt und mit
einem Text in Reimen.
Sowohl während des Rezitatives, wo jeder Sänger (der Karok-India-
ner) unabhängig von dem andern die Geister anruft als in dem Choral
hielten sie ausgezeichnet Takt . . . Dasselbe wird von den Viard oder
Wiyot (am Eel-River) behauptet. Wir finden den selben monotonen Ge-
sang, einen Chor, dessen Text nichts bedeutet, während der Takt merk-
würdig gut gehalten wird.
Ausdrücklich erwähnt wird das Rezitativ von Thomson. Seine Zanzi-
bar-Träger waren aufgeweckte Leute. Sie tanzten, sangen und schlugen
den Takt mit den Händen. Daneben gab es Rezitative und fröhliches Jauch-
zen. Guessfeldt beschreibt ein Fest zu Nkondo, das aus Tänzen, rhythmi-
schen Gesängen und Trommelschlag bestand. Während dessen erhob sich
zeitweise ein einzelner Mann und improvisierte einige Zeilen, worauf der
Chor antwortete. Die geselligen und häuslichen Lieder der Yoruben und
Borghus sind Rezitative und gerade das Gegenteil der öffentlichen und
Nationallieder. Zu Katafungi (in Westafrika) hörte Lander die Eingebore-
nen singen: „es schien etwas sehr Komisches zu sein, in Form eines Rezi-
tativs, und sie hielten Takt, indem sie in die Hände klatschten." Die Malayen
auf Sumatra . . . bringen ihre Mußestunden mit Gesängen zu . . . sie
sind eine Art Rezitativ, das bei ihren Festen produziert wird, andere wer-
den extempore vorgetragen. Solche Extempore-Vorträge einzelner Sänger
kommen wiederholt während einer Pause des streng taktmäßigen Chor-
gesanges vor, mit dem sie abwechseln.
Bei den Indianern Nordamerikas hat Baker an zahlreichen Musikbei-
spielen die Existenz zweier verschiedener Formen der Musik nachgewiesen,
des Rezitativs und des taktmäßigen Chorgesangs.
Diese Form der durch lyrischen Gesang unterbrochenen Er-
zählung ist auch noch im Mittelalter die herschende Form der
irischen Erzählung gewesen, sie hat ihre Parallelen in der antiken
Menippeischen Satire, deren Vorbild wir wohl die Form von
Boethius De consolatlone philosophiae zu danken haben, in
isländischen Sagas und französischer Chantefable. Sie entwickelt
sich neu in provenzalischen Troubadourbiographien, die die Er-
zählung des Lebens durch die Mitteilung der Lieder unterbrechen,
denen sich Dantes Vita nuova und, nicht Prosa, aber ein episches
Versmaß durch die Lieder unterbrechend, auch der Frauendienst
des Ulrich von Lichtenstein anschließen. Aber auch ein Versroman
mit eingelegten Liedern wie der Guillaume de Dole und seine
Nachfolger, in neuerer Zeit Scheffels Trompeter, Julius Wolfs Vers-
492
romane e tutti quanti gehören hierher, und noch mehr natürh'ch
Reisebeschreibungen ä la Thümmei, die Prosaromane mit Liedern
wie Goethes Wilhelm Meister und die der Romantiker i). Die-
selbe wohl von Irland her beeinflusste Form möchte ich für die
angelsächsischen Elegien annehmen, deren epische Prosa uns
verloren gegangen wäre. So haben der Schreiber der Manessi-
schen Handschrift die Gedichte Ulrichs aus dessen Frauen-
dienst, die Schreiber einzelner Handschriften des „Triumphe
des Dames^' die metrischen Partien desselben herausge-
schrieben 2). Denn es ist doch nicht anzunehmen, dass diese
angelsächsischen Elegiendichter uns absichtlich haben Rätsel auf-
geben wollen. Hingegen bleiben die Rätsel freilich Rätsel, aber
ihre Rätselhaftigkeit wird doch erklärlich, wenn wir das Ausfallen
eines erzählenden Prosatextes vor ihnen annehmen, der sich zu
ihnen verhalten hätte wie etwa die nordischen Prosatexte zu den
umrahmten Eddaliedern oder die Sagas zu ihren Lausavisur. Der
zentralen Stellung, die die irische Poesie zwischen der nordischen
und angelsächsischen einnimmt, entspricht es, wenn wir sie als
Quelle dieser Form ansehen, und wirklich wird wohl keinem Un-
befangenen die Ähnlichkeit der Stimmung entgehen, die zwischen
diesen angelsächsischen Elegien und etwa den Totenklagen der
Derdriu, der Crede, oder denen um Ferdiad^) oder mit den
spätem Ossianischen Gesängen besteht. Und auch ein dialogisches
Gedicht wie der Seefahrer hat seine Analogien in den zahlreichen
in die Prosa eingelegten dialogischen Gedichten der alten Irländer.
Aber so uralt diese gemischte Form auch sein mag, ur-
sprünglich ist sie gewiss nicht. Sie ist kombiniert aus der Chor-
lyrik und der zur musikalischen Rezitation gesteigerten Prosa,
die die originärste Form für die Erzählung, für Sage, Märchen und
Novelle oder, besser gesagt, Anekdote gewesen ist. Billroth ^) hat
1) G. Thurau, Singen und Sagen. Berlin 1912.
2) Brecht, U. v. Lichtenstein als Lyriker. Zeitschr. f. deutsch. Alter-
tum, 47, 1. Julia Kalbfleisch, Le triumphe des Dames von Oliver de la
Marche, Rostock 1901.
3) Thurneysen, Sagen aus dem alten Irland. Berlin 1901. S. 17 ff.,
102 f. Kuno Meyer, Selections from old Irish Poetry. London 1911. S. 17 f.
63 ff. Windisch, Die cltirische Heldensage Tain bö Cüalnge. Leipzig 1905.
S. 576 f.
*) Wer ist musikalisch? Deutsche Rundschau 1894. S. 454 ff.
493
diese Entstehung des Gesangs aus der prosaischen Rede klar
dargelegt :
Und doch ist meiner Überzeugung nach der Gesang aus der Sprache
hervorgegangen . . . Bei sehr lautem Sprechen, beim öffentlichen lauten
Gebet der Priester erwies es sich als besonders wirksam auf die Zuhörer,
den Stimmton bald zu heben, bald zu senken; vielleicht war dies anfangs
nicht beabsichtigt und ergab sich von selbst als Folge der Anstrengung und
Ermüdung der Kehlkopfmuskeln . . . Stärkere Betonung ist zugleich un-
absichtliche Tonerhöhung; doch geht der Vortragende auch oft bewusst in
eine höhere Tonlage über, der Redner benutzt absichtlich verschiedene
Tonhöhen ; seine Sprache ist neben der Klanggebärde zugleich Tonsprache.
Beim gewöhnlichen Sprechen bleiben wir etwa innerhalb einer Quint; beim
erregten Sprechen benützen wir wohl eine Oktav . . . Von einem der-
artigen pathethischen Sprechen bis zum halbsingenden Rezitieren ist ein
leicht getaner Schritt, schließlich ein kaum wahrnehmbarer Übergang.
Billroth sucht hier den Ursprung der Musik überhaupt, aber
diese ist aus zwei getrennten Quellgebieten entsprungen: auf der
einen Seite die Chorlyrik, dramatische Aktion und Gefühlserguss
vereinend, vielfach mit epischem Inhalt gefüllt, eng mit dem Tanz
verbunden, Vokalmusik leicht durch Instrumente ablösend, durch
die Verbindung mit dem Tanz von vorneherein nicht nur rhyth-
misch, sondern auch taktisch gegliedert. Auf der andern Seite
das Rezitativ, leidenschaftlich gesteigerte und dadurch melodisch
gewordene Prosa, seiner Natur nach ataktisch, der Stammvater
des epischen Liedes, wie die Chorlyrik die der Ballade, mit dieser
zusammen Bestandstück der spätem großen Epen^).
Eine besondere Stellung nimmt der Zauberspruch ein-). Er
zerfällt vielfach in eine epische Einleitung und in die eigentliche
magische Formel. Die Einleitung hat wohl die gewöhnliche rezi-
tativische Vortragsform: feierlichen Sprechgesang hat man's ge-
nannt. Die magische Formel aber zeigt eine uralte, besondere
Form des Vortrags, das Raunen, den Murmelgesang, der uns da-
für bei verschiedenen Völkern bezeugt ist. Aus der epischen
Einleitung haben sich wenigstens bei den Finnen, vielleicht auch
anderwärts, epische Lieder losgelöst; der zweite Teil gab wohl
1) Vgl. darüber meinen Vortrag Die Wiedergeburt des Epos und die
Entstehung des neueren Romans in Sprache und Dichtung. 11. Tübingen 1910.
2) E. Schröder, Über das SPELL, Zeitschr. f. deutsches Altertum. 37,
257 ff. Sudhaus, Lautes und leises Beten. Archiv f. Religionswissenschaft.
IX, 197 ff. Kauffmann, ebenda XI, 121.
494
den anfangs wahrscheinlich prosaischen, aber ebenfalls uralten
didaktischen Gattungen des Sprichworts und des Rätsels die
rhythmische Form.
So steht hier durchaus nichts Einfaches, wie man so gerne
annehmen möchte, sondern etwas recht Mannigfaltiges am Anfange
der Entwicklung, ein äußerst komplizierter Tatbestand, den wir aus
den Überlieferungen der Naturvölker auch für die ursprüngliche
Poesie des alten Europa erschließen dürfen. Unsere heutige Volks-
poesie dürfen wir durchaus nicht zur Rekonstruktion dieses Ur-
zustandes verwenden, weder textlich noch musikalisch. Sahen
wir doch, dass bereits in ältester Zeit uns nur Reste der auf der
rezitativischen Poesie basierenden Allitterationsdichtung überliefert
sind, während wir über die Natur der alten Chorlyrik in Ermang-
lung aller überlieferten Reste auf unsichere historische Nachrichten
und auf Rückschlüsse aus der Poesie der noch existierenden
Naturvölker angewiesen sind.
Die Urform des rezitativischen germanischen Verses ist der
zweihebige Kurzvers, der mit einem andern durch die Allitteration
gebunden ist. Die Urform des keltischen Gedichts ist die vier-
zeilige Strophe aus katalektischen trochäischen Tetrametern be-
stehend, wohl schon vom Lateinischen her beeinflusst, da sowohl
das bekannte Soldatenlied als der Hymnus des heiligen Hilarius
diese Form zeigt. Eine ältere, originäre Form, die Verwandtschaft
mit deutschen allitterierenden und noch mehr mit altlateinischen
Versen hat, wie sie uns der alte Cato überliefert, ist im ganzen
selten angewendet worden. Auch hier haben wir nichts von alter
Chorlyrik, auch hier ist alles Überlieferte Einzelgesang; abgesehen
von jenen besprochenen Einlagen in die Prosaerzählungen, soge-
nannte Bardengesänge, Preislieder bei Festlichkeiten und Toten-
feiern. Wir hören wohl etwas über die musikalische Begleitung
dieser Lieder mit der Chrotta, wie von der germanischen Allittera-
tionspoesie mit der Harfe, über die Musik selbst aber wissen wir
hüben und drüben gar nichts. Gewiss ist schon damals getanzt
worden, aber die Musik eines mittelalterlichen Tanzes etwa des
dreizehnten Jahrhunderts schlankweg mit diesen verlorenen volks-
tümlichen Tänzen zusammenzustellen oder darauf zurückzuführen,
halte ich für unerlaubt. Einen Passus aus einem Tanzleich des
wilden Alexander glaube ich als Nachahmung des Salve regina
495
zu erkennen, wie Molitor ^) in dem Marschlied, das Walther für die
Kreuzfahrer gedichtet hat, Motive aus geistlichen Gesängen er-
kennt. Wenn die fränkische Credo-Weise mit einer niederländi-
schen Ballade des fünfzehnten Jahrhunderts, der Advent-Hymnus
Conditor alme siderum mit einem niederdeutschen Liede Ähn-
lichkeit zeigt"), so geht die Ballade auf die Sequenz, das Lied auf
den Hymnus zurück, nicht umgekehrt. Dass in der weltlichen Musik
des Mittelalters wie der des späteren Volksliedes ein gut Teil vor-
christlicher Musik steckt, ist nicht zu leugnen, aber herausschälen
lässt sich gar nichts, denn christlich beeinflusst ist alles, musi-
kalisch wie textlich.
Noch weniger als von der Lyrik der Barbaren im Anfang
des Mittelalters wissen wir von der lebendigen, gesungenen Poesie
der Kulturvölker des Altertums um dieselbe Zeit. Zwischen der
italienischen und neugriechischen Lyrik und derjenigen ihrer antiken
Vorfahren klafft ein Spalt, den wir auszufüllen durchaus nicht in
der Lage sind. Die heutigen griechischen Volkslieder schließen
sich formal und in ihrem Geiste an die Poesie der slawischen
Nachbarn, die italienischen trotz aller vom vierzehnten Jahrhundert
an auftretenden Eigenart an die der übrigen Romanen an. Stoff-
lich finden sich hier wie vor allem in den Volksmärchen aller-
hand Berührungen mit der Antike, aber formal in Text und Musik
nicht die geringsten. Was der italienische oder griechische Bauer
im früheren Mittelalter sang, wird uns wohl immer verborgen
bleiben.
BERN S. SINGER
1) Sammelbände der internationalen Musikgesellschaft, XII, 497.
2) A. Thürlings, Wie entstehen Kirchengesänge? Sammelbände der
internationalen Musikgesellschaft, VIII, 476, 478.
4: .c-r.
•^^
496
WESEN UND BEDEUTUNG
DER NATURDENKMÄLER
Seit einer Reihe von Jahren hat bei uns in der Schweiz eine
Bewegung eingesetzt, die sich in kurzer Zeit die Sympathie man
darf wohl sagen aller Kreise erobert hat: die Bestrebungen zum
Schutze der Natur gegen die Übergriffe des Menschen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Mensch ver-
ändernd auf die ihn umgebende Urnatur einwirkt und von alters
her eingewirkt hat. Einige Forscher gehen sogar so weit, dass
sie auch das Aussterben der großen diluvialen Säugetiere wie
Mammut, Rhinozeros, Höhlenbär und Höhlenlöwe, Wildpferd und
Rentier dem Menschen, das heißt dem Jäger der Steinzeit zur
Last legen. Von vielen andern Vertretern der Tierwelt wissen
wir direkt, dass sie der Raubgier des Kulturmenschen zum Opfer
gefallen sind, und es steht zu befürchten, dass die Liste dieser
unwiederbringlichen Verluste sich noch weiterhin vermehren werde.
Nur ein Beispiel : Vor ungefähr fünfzig Jahren noch konnte man
in den Prärien Nordamerikas den donnernden Hufschlag von
Millionen von Büffeln vernehmen; 1889 zählte man deren nur
noch 635 Stück; heute hofft man im Yellowstone National-Park
die letzten Reste der Nachwelt zu erhalten.
Wir können aber unsere Beispiele auch innerhalb unserer
Grenzen finden: wo sind der Lämmergeier, der Steinbock, der
Bär? Verschwunden, oder so zurückgedrängt, dass ihr völliges Ein-
gehen nur eine Frage der Zeit sein kann. Aber nicht nur die
Tierwelt, auch die Pflanzenwelt hat empfindliche Verluste zu ver-
zeichnen, alle entstanden durch den Menschen und seine Kultur-
arbeit. Hier ist es zwar weniger der Rückgang einzelner Arten,
der sich in augenfälliger Weise bemerkbar macht, als besonders
die Einschränkung und Zerstörung der natürlichen Pflanzen-
gemeinschaften, die in ihrer Gesamtheit ja das natürliche Land-
schaftsbild ausmachen. In unserm schweizerischen Mittellande sind
nach C. Schröter rund 3400 Torfmoore verschwunden und in
Kulturland umgewandelt worden. Im schweizerischen Mittellande
sind nur noch ganz vereinzelte und kleine Strecken mit ursprüng-
lichen Pflanzenbeständen bedeckt. Es wären hier zu nennen: die
497
wilden, sich selbst überlassenen Kiesböden der Flüsse mit dem
wirren Buschwerk; bewaldete, schwer zugängliche Schluchten und
Felsgebiete ; einige wenige Torfmoore, die noch nicht ausgebeutet
worden sind, und endlich die Naturufer der Seen. Aber auch für
diese Gebiete scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, wie-
lange sie in ihrer Ursprünglichkeit und Natürlichkeit belassen
werden. Es muss demnach als völlig gerechtfertigt erscheinen, die
noch vorhandenen Überreste einer Urnatur vor jedem weitern
Eingriff zu schützen. Diese Überreste sollen uns gleichsam als
Dokumente die ursprüngliche Natur rekonstruieren helfen; es ist
unter anderm auch für sie die Bezeichnung „Naturdenkmal" in
Anwendung gekommen, ein Wort, das von Alexander von Humboldt
stammt, heute in aller Munde geführt, aber nicht von Jedermann
richtig verstanden wird. Ich möchte deshalb hier dem Wesen und
der Bedeutung dieser sogenannten Naturdenkmäler etwas näher
treten.
Es ist allbekannt, dass man unter Denkmal ein bildliches
Erinnerungszeichen versteht, das die Nachwelt zur Ehrung und
zum Angedenken einer ruhmreichen Begebenheit oder bedeutender
Persönlichkeiten errichtet hat. Für unsere Betrachtung von größerer
Bedeutung sind aber Zusammensetzungen wie Kunstdenkmal
oder Kulturdenkmal. Kunstdenkmäler sind künstlerisch hervor-
ragende Erzeugnisse eines früheren Geschlechts, die in unserer
heutigen Zeit selber als Erinnerungszeichen einer frühern Kunst-
entwicklung dastehen. Einem Berner kann wohl kein treffenderes
Beispiel dieser Art genannt werden als die nun in so glücklicher
Weise (? D. R.) zur Geltung gebrachte Fassade des alten histo-
rischen Museums. — Lehnen wir an diesen Begriff den des Natur-
denkmals an, so ergibt sich logischerweise, dass das Wort für
solche Naturobjekte anzuwenden ist, die in Anbetracht ihrer Ver-
gangenheit und als Zeugen einer früheren Entwicklungsepoche
der besonderen Beachtung für würdig befunden werden.
Aus dem Gesagten geht wohl, so hoffe ich, eines deutlich
hervor und scheint mir vom Denkmalbegriff untrennbar zu sein,
das ist das historische, oder wenn man so will Erinnerungsmo-
ment. Ein Beispiel mag das veranschaulichen. Fast über die ganze
Fläche unseres schweizerischen Mittellandes verstreut findet man
große Gesteinsblöcke, die den betreffenden Örtlichkeiten fremd
498
sind; ich meine die erratischen Blöcke, die Findlinge. Von den
Geologen ist der sichere Beweis erbracht worden, dass diese
Blöcke nur von einem Gletscher aus dem Alpengebiet herab ge-
bracht werden konnten, und so erlaubt uns umgekehrt jeder Find-
ling den Rückschluss auf einstige Anwesenheit eines Gletschers
an seinem jetzigen Standorte; wir können sogar aus der Ver-
breitung der Findlinge auf die einstige Ausdehnung der Ver-
gletscherung schließen. So bezeugt uns jeder Findling die Eiszeit,
er ist für uns ein Naturdenkmal im eigentlichen Sinne des Wortes.
Überdies verkörpert ein solcher erratischer Block wohl in
schönster Weise die sinngemäße Bedeutung des Wortes Natur-
denkmal: er ist an sich schon von monumentaler Wirkung und
kann auch unserm zweiten und wichtigsten Postulat, dem histo-
rischen Moment Genüge leisten; denn wir müssen uns bei sei-
nem Anblick in jene ferne Zeit zurückdenken, da der größte Teil
unseres Landes unter Eisströmen begraben lag. Es wird denn
auch nicht von ungefähr gewesen sein, dass gerade ein solches
Naturdenkmal, ein erratischer Block es war, der — wenigstens bei
uns in der Schweiz — die ganze Naturdenkmalfrage ins Rollen
brachte, die Pierre des Marmettes bei Monthey.
Sehen wir nun weiterhin zu, wie sich diese auf induktivem
Wege gewonnene Begriffsfassung zu der gebräuchlichen dedukti-
ven stellt.
Nach Conventz, einem der bekanntesten Führer der Natur-
schutzbewegung in Deutschland, sind Naturdenkmäler „charakte-
ristische Gebilde der heimatlichen Natur, vornehmlich solche, die
sich noch an ihrer ursprünglichen Stelle befinden und von Ein-
griffen der Kultur nahezu unberührt geblieben sind, das heißt
Teile der Landschaft, Gestaltungen des Erdbodens, Pflanzen- und
Tiergemeinschaften, wie einzelne Arten und Formen." „Dieser
Begriff", so bemerkt er weiter, „ist jedoch nicht von unverän-
derlicher Form, sondern variabel nach Zeit, Örtlichkeit und andern
Umständen."
Die Naturdenkmäler aus dem Pflanzenreich können nach
dieser Begriffsbestimmung entweder Pflanzengemeinschaften oder
einzelne Arten und Exemplare sein.
Als Naturdenkmäler der ersten Gruppe werden alle ursprüng-
lichen, unberührten, auf natürliche Weise, ohne Zutun des Menschen
499
entstandenen Pflanzengemeinschaften betrachtet, ferner solche, die
durch Schönheit und Großartigkeit bemerkenswert, oder in wissen-
schaftlicher Beziehung ausgezeichnet sind.
Zur zweiten Gruppe gehören gewisse Einzelpflanzen, die
wegen ihres hohen Alters, ihrer vollkommenen Form, ihrer eigen-
tümlichen Wuchsart besondere Beachtung finden ; dann aber
auch Arten, die für die Wissenschaft von besonderer Bedeu-
tung sind.
Nach unserer eigenen Begriffsbestimmung kämen nun bloß
solche Pflanzenarten oder Pflanzengemeinschaften in Frage, die
wegen ihrer Vergangenheit unsere Beachtung verdienen. Die zweite
Fassung erwähnt diesen Punkt nicht oder führt ihn höchstens
unter der Bezeichnung wissenschaftliche Bedeutung an. Sie legt
mehr Gewicht auf Ursprünglichkeit, Alter, Schönheit, Wuchsform.
Damit aber verlieren meines Erachtens die Naturobjekte dieser
zweiten Art die Berechtigung, als Naturdenkmäler bezeichnet zu
werden, denn mit einem Denkmalbegriff ohne historisches Mo-
ment kann man sich schlechterdings nicht einverstanden erklären.
Soll für sie absolut ein Name in Anwendung kommen, so er-
schiene mir passender, zu sagen Naturschützobjekt. Das soll
durch einige Beispiele deutlicher werden.
In der Nähe von Langnau im Emmental steht in einem
Walde auf der Dürsrüti eine Gruppe ganz außerordentlich schöner
und mächtiger Weißtannen, unter dem Namen Dürsrütitannen
weithin als die größten und schönsten ihrer Art bekannt. Diese
Tannen wurden nun als Naturdenkmäler bezeichnet und man hat
bestimmt, dass ohne Not die Axt von ihnen fern bleiben soll.
Wie nun, wenn gerade die größten und schönsten unter diesen
Tannen zugrunde gingen — und wäre es auch erst nach hundert
Jahren — ließe sich das mit dem Denkmalbegriff vereinbaren?
— Oder wenn jener Riese unter den Eichbäumen, die Bettler-
eiche im Gwatt bei Thun, dem Sturm oder gar der Axt zum Opfer
fiele; wäre da die Welt um ein unwiederbringliches Naturdenk-
mal oder bloß um einen großen, schönen Eichbaum ärmer?
Der Verlust dieser Eiche wie der Dürsrütitannen würde an unsern
Ansichten über Natur und Vorkommen dieser Baumarten kaum
etwas ändern; sie würden nur im Landschaftsbilde und als her-
vorragende Beispiele ihrer Art vermisst.
500
Diesen zwei Fällen, die meines Erachtens als Naturschutz-
objekte, nicht als Naturdenkmäler zu bezeichnen sind, stelle ich
ein Beispiel gegenüber, welches den Titel Naturdenkmal mit Fug
und Recht führen darf:
In einem Walde anderthalb Stunden nordöstlich von Baden
im Aargau beim Dorfe Schneisingen findet sich eine Kolonie der
rostblättrigen Alpenrose, mitten im schweizerischen Hügellande,
in nur 500 m Meereshöhe, 30 bis 40 km von ihrem heutigen
Gebiet in den Alpen und im Jura entfernt. Diese Alpenrosen
darf man aller Wahrscheinlichkeit nach als Pflanzen auffassen,
die seit der Eiszeit diesen Standort inne gehabt haben, während
ihre Schwestern alle den abschmelzenden Gletschern in ihre ur-
sprüngliche Heimat, die Alpen, wieder nachgezogen sind.
Würde diese Fundstelle, übrigens nicht die einzige ihrer Art,
aus irgend einem Grunde eingehen, oder wäre sie uns überhaupt
unbekannt, so wären unsere Anschauungen über die Alpenflora
während der Eiszeit und über die eiszeitliche Flora und Vegeta-
tion überhaupt einer wichtigen Stütze beraubt. Die Parallele zum
erratischen Block ist hier nahezu vollständig. Die Möglichkeit
aber, dass diese Alpenrosen eines schönen Tages aus natürlichen
Ursachen (hohes Alter) eingehen werden, ist nicht ohne weiteres
zuzugeben, weil immerhin diese Pflanzen, besonders unter einem
ihnen zu Teil werdenden Schutze, sich noch vermehren können.
Für diesen abnormalen Standort bleibt also das Vorkommen der
Alpenrose voraussichtlich auf lange Zeit gesichert.
Es ist also ganz ohne Bedeutung, ob wir die Bezeichnung
Naturdenkmal für alte oder junge Exemplare, für solche von
hervorragender Schönheit oder nur für Kümmerformen anwen-
den. Der Begriff gilt eben nicht dem Individuum, sondern der
Art als solcher. Anders bei den Dürsrütitannen, bei der Bettler-
eiche. Deren Nachkommen werden nicht ohne weiteres auch
Anspruch auf besondere Beachtung erheben können, es sei denn,
dass auch sie sich durch besondere Größe und Schönheit oder
eigenartigen Wuchs auszeichneten.
Wie steht es nun mit den seltenen Arten? Sind sie als
richtige Naturdenkmäler aufzufassen oder nicht?
Die Antwort wird ganz abhängig sein von den Ursachen,
welche das seltene Vorkommen bedingen. Ohne hier grundsätz-
501
lieh auf das ganze sehr komplexe Problem der Seltenheiten ein-
treten zu wollen, möchte ich die in Betracht fallenden Arten zu
zwei großen Gruppen vereinigen. Die Arten der ersten Gruppe be-
zeichnen wir als relative Seltenheiten und meinen damit, dass diese
Arten nur für ganz bestimmte Gegenden als Seltenheiten anzu-
sehen sind. Dies trifft zu, wenn entweder die betreffende Art nur
mit der Peripherie ihres Verbreitungsgebietes in die zu betrach-
tende Gegend fällt. Ich will für die Verhältnisse unseres Hügel-
landes etwa an die stengellose Schlüsselblume (Primula vulgaris)
oder an die weiße oder gemeine Taubnessel (Lamium album)
erinnern. Oder der Mensch mit seiner Kultur hat eine Pflanzen-
art nach und nach bis auf wenige vereinzelte Exemplare ver-
drängt, wie dies stellenweise für viele Orchideen, für Sumpf- und
Wasserpflanzen nachzuweisen ist.
Zur Gruppe der absoluten Seltenheiten zählen einmal die
sogenannten Relikte, die Überbleibsel aus einer Zeit mit anderen
klimatischen Verhältnissen, zu denen wohl die meisten der Alpen-
pflanzen im Tieflande gehören dürften — auch die Alpenrosen
bei Schneisingen. Zum andern rechnen wir hieher alle jene Arten,
deren Wohngebiete durch irgendwelche geologische Ereignisse zu
sogenannten disjunkten Arealen zerstückelt wurden, wie die Zwerg-
birke (Betula nana), der Zwerghahnenfuss (Ranunculus pygmaeus)
und andere.
Welches nun auch die Ursache der Seltenheit sein mag, für
uns entsteht daraus auf alle Fälle die Pflicht, jene Arten vor
weiterem Zurückgedrängtwerden und namentlich vor völligem
Verschwinden zu schützen. Wir betrachten sie demnach als Natur-
schutzobjekte.
Wie wir gesehen haben, ist aber damit die Zugehörigkeit zu
den Naturdenkmälern noch nicht bedingt. Es können dafür nur
jene seltenen Arten in Frage kommen, die als Zeugen für andere
klimatische und geologische Verhältnisse während einer frühern,
in der Regel prähistorischen Zeit anzusehen sind. Nur so ist dem
historischen Moment Genüge geleistet.
Zum Schlüsse möchte ich noch alle jene Eigenschaften zu-
sammenfassen, die wir als zum Wesen des Naturdenkmals ge-
hörig angeführt haben.
502
Als Hauptbedingung nannten wir das historische Moment,
demzufolge eine Pflanze oder Pflanzengemeinschaft unter den
heutigen Verhältnissen zu einem außergewöhnlichen Vorkommnis
wird. Dann muss jedes Naturdenkmal eine Seltenheit sein, nicht
umgekehrt, und endlich ist es nicht das Individuum an sich,
dem wir jene Bezeichnung geben, sondern die Art als solche,
weil nur diese etwas Dauerndes vorstellt.
BERN W. RYTZ
D D D
DER WEG ZUM AKT
Dass Aktzeichnungen, wie sie in Kunstschulen zu hunderten
und aber hunderten gefertigt werden, halbwegs geratene Abschriften
der Natur sein müssen, an denen man selten gönnerhaft aner-
kennend, meistens gründlich gelangweilt vorbeigeht, das ist ein
Irrtum, von dem mich die Arbeiten aus der Aktklasse von J. Martin
an der Genfer Kunstschule gründlich geheilt haben. Ich sah da
im Musee Rath — die Ausstellung ist noch bis Ende des Monats
geöffnet — ein paar Blätter, die schwerlich einer herausfinden
würde, wenn man sie unter anatomische Studien Lionardos mengte,
daneben lebensgroße Akte, so stilvoll und untadelig, dass man
kaum weiß, womit man sie vergleichen soll. Mein Erstaunen
erreichte den höchsten Grad, als ich erfuhr, neunzehnjährige Bur-
schen hätten all das ohne einen helfenden Strich des Lehrers
gemacht. Das unerwartet schöne Ziel erweckte meine Neugier
nach dem Weg, auf dem es erreicht wurde, und ich erkundigte
mich nach dem Gang dieses neuartigen und in seinen Ergebnissen
so altmeisterlichen Unterrichts.
Er beginnt nicht mit Dozieren oder Vorzeichnen, sondern
damit, dass der Lehrer sokratisch von den Schülern erfragt (dieses
Vorgehen bleibt stets der Kern des Unterrichts), dass die Wirbel-'
säule der Träger aller unserer Bewegungen ist. Dann wird mit
dem einzelnen Wirbel begonnen, aber nicht mit einer photogra-
phischen Wiedergabe, sondern mit einer schematischen Darstel-
lung alles dessen, was für seine Verrichtungen unerlässlich ist:
503
der Knochen wird in einen Maschinenteil übersetzt und mit Sicht
von allen Seiten, auch von unten, oben und schräg, gezeichnet,
bis sich der Schüler eine sichere räumliche und zweckbestimmte
Vorstellung durch nachschöpferische Tätigkeit erworben hat. Das
nämliche geschieht dann mit der ganzen Wirbelsäule, mit dem
Brustkorb, mit dem unglaublich verwickelten Becken, die alle
„auswendig gelernt" werden; hier tritt neben die Umrisslinie die
Beleuchtung, die der Schüler selbst so wählt, wie sie ihm passt,
und die er durch Strichlagen darstellt, welche der natürlichen Be-
wegung der Form folgen. In gleicher Weise werden dann die
Gliedmaßen behandelt.
So dient der ganze erste Jahreskurs der Kenntnis des
Knochengerüstes. Und das ist keine verlorene Zeit. Nicht nur
erwirbt der Schüler eine große Geschicklichkeit im Zeichnen und
starkes räumliches Vorstellungsvermögen, beherrscht er Ver-
kürzungen, Schattenwirkung und Perspektive; er gewinnt eine
Einsicht in die Folgerichtigkeit des Knochenbaues, in die gegen-
seitige Bedingtheit aller Bewegungen, wie sie auf anderm Wege
kaum zu erwerben ist. Nicht auf dem Papier ist die Haupt-
leistung vollbracht worden, obwohl die flüssige Art, wie später
das Skelett mit der Feder in Aktskizzen hineingeschrieben wird,
schon als äußere Leistung unvergleichlich da steht, sondern im
Kopfe; der erzieherische Hauptgewinn ist das bewusste Nach-
schaffen eines vom Großen bis ins Kleinste zweckmäßigen Baues.
Im nächsten Jahr werden die Knochen mit Muskeln beklei-
det, ein jeder mit Unterstreichung des Zwecks, dem er dienen
soll, hart und eckig herausgearbeitet, nicht in der fasrigen Art,
wie man sie in Anatomielehrbüchern findet. Wird dann eine
Antike oder eine Figur Michelangelos lebensgroß aus ihrem un-
sichtbaren Feder- und Räderwerk auf dem Papier entwickelt, so
entsteht durch die strenge Bedingtheit aller Teile und durch die
Beschränkung auf das Notwendige ein ganz merkwürdiger Ein-
druck gebändigter Größe. Frei aus der Erinnerung muss der
Schüler eine solche Figur von jeder Seite, auch von oben dar-
stellen und die vorbereitende und folgende Bewegung genau no-
tieren können, muss die Figur in Kompositionen zeigen, wo sie
mit Gleichgewichtswerten zu wirken hat. Das innerlich Schauen,
nicht das bloße Anschauen bleibt das Ziel.
504
DER WEG ZUM AKT
Anatomische Zergliederung nach einer Zeichnung Raffaeis.
(aus der Oberklasse).
DER WEG ZUM AKT
Zeichnung nach dem Modell, vor der Vollendung.
In der Ecke Verwendung in einer Komposition aus dem Gedächtnis.
(aus der Oberklasse).
Um die gleichmäßige Durclibildung des Kunstwerl^es anschau-
lich zu machen, wird die gleiche Figur neben einander in etwa
zehn Zuständen dargestellt, zuerst wie eine grobe Holzpuppe,
deren Oberfläche dann wie durch glatte Messerschnitte gleichmäßig
in immer mehr und kleinere Flächen geteilt wird, bis schließlich
der Akt mit all seinen Muskeln herausgearbeitet ist.
Erst das dritte Jahr bringt Studien nach dem lebenden Modell,
und hier zeigt sich gleich die sicher erworbene Fähigkeit der
Schüler, eine ermüdende Stellung rasch festzuhalten. Sie können
auch leicht ein ungeeignetes Modell so übersetzen, wie es der
Zweck des Bildes oder Bildwerks erfordert. Und dann sind bei
diesen Akten alle Teile, auch Hände und Füße, die man ja ge-
wöhnlich nur schlapp andeutet, mit vollkommenem Ausdruck
wiedergegeben. Und keiner schwimmt unsicher in der Luft.
Um dem Schüler klar zu machen, was ihn von alten Meistern
trennt, wird eine Zeichnung, zum Beispiel der Mann, der einen
auf den Schultern trägt aus Raffaels Borgobrand, mit der gleichen
Gruppe verglichen, die der Schüler nach dem Modell lebensgroß
zeichnet; so lernt er begreifen, was beim alten Meister verstandes-
mäßig und was gefühlsmäßig ist, warum Raffael die Stellung,
seinen eigenen Standpunkt, die Beleuchtung gewählt hat, alles an
Hand einer sorgfältigen Zergliederung mit vielen Skizzen. Oder
ein Schüler bringt eine eigene Komposition mit, die nun dadurch auf
Herz und Nieren geprüft wird, dass man die einzelnen Akte nach
dem Modell durchnimmt, dass man das Knochengerüst hinein-
zeichnet und an seiner Hand das Gleichgewicht der Bewegungen,
an Hand der Muskeln das Gleichgewicht der Massen überprüft.
So erwirbt der Schüler in drei Jahren mit Sicherheit, was so
mancher in einem ganzen Leben gar nicht beherrschen lernt.
Bewunderte ich zuerst die Ergebnisse dieser Schulung, so
verehre ich nun noch mehr ihren folgerichtig durchgebildeten
Plan. Denn es ist eine Schulung, nichteine Dressur; alles muss
der Schüler aus sich selbst entwickeln, muss den gewiesenen
Pfad selber wandern, auf die Hülfe des Lehrers früh verzichten
lernen. Nicht zeichnen, verstehen lernen soll er. Das gibt diesen
Akstudien die Kraft von Kunstwerken, dass Gedanken dahinter
stehen, selbstgeprüfte Gedanken, die eine wohlerwogene Einheit
bilden. Und gerade weil dieses Können sich aus Gedanke und
505
Gefühl, nicht aus bloßer Fertigkeit herschreibt, bewahrt sich jeder
Schüler seine eigene Art und Entwicklungsmöglichkeit.
Der Lehrer J. Martins, der Ähnliches, wenn auch nicht ganz
so folgerichtig, erstrebte, war Barthelemy Menn, dessen Name als
Hodlers Meister und Führer erst seit wenig Jahren bei uns be-
kannt ist und über dessen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung
unserer Kunst man sich noch nicht Rechenschaft gegeben hat.
Wie Menn hat Martin nie ausgestellt und ist daher fast gar nicht
bekannt. Die geistige Vaterschaft Menns berechtigt aber zu dem
Schlüsse, dass die sichere Methode Martins nicht beim Aktzeichnen
stehen bleibt, sondern folgerichtig auf das Figurenmalen und selbst
auf die Landschaft auszubilden ist. Jedenfalls haben seine Schüler,
wohin sie sich künftig auch wenden mögen, eine Erweckung er-
lebt, die ihnen gestattet, als Herrscher und nicht als Sklaven des
Akts zu schaffen. Auch wenn sie sich tektonischen Künsten zuwen-
den sollten, haben sie einen so hohen Begriff von Organismus
erhalten, dass sich ihre Erfindungsgabe nie aufs Spielerische und
Oberflächliche verirren wird.
Eins fehlt ja vor allem unsern jungen Malern: das zur figür-
lichen Komposition unerlässliche Können. Und das sollten sie
nicht mehr im Ausland suchen, wo sie häufig auf ein Rezept ein-
geschult werden. In Genf, wo ihnen das Museum ungeahnte Schätze
bietet, wo Martin dieses tüchtige Verfahren für das Aktzeichnen
eingeführt hat, wo Gillard,nach der selben Ausstellung zu schließen,
vorzügliche Anweisung zur Zergliederung von Meisterbildern gibt,
kann sich jeder die Grundlage erwerben, die ihm not tut. Wenn
man in der Schweiz einen entdeckt, bei dem etwas zu lernen ist,
so beeile man sich : entdeckt ihn das Ausland, so ist es zu spät.
ZÜRICH ALBERT BAUR
DDD
L'ART EN BELGIQUE
A Bruxelles comme ä Paris, le bon for(;at de la critique ou le simple
amateur de peinture, qui d'octobre ä juin suittoutes les expositions, eprouve
une Sorte d'infinie lassitude au moment oü le printemps s'epanouit, dans
les jardins, les verdures, au coeur frais de la foret. II est comme hebete.
II a des yeux pour ne plus voir et des oreiiles pour ne plus entendre,
avec ses propres lamentations, que les reclamations des peintres deman-
dant aux directeurs de journaux que leur critique les passe en revue. Le
pauvre critique gemit: „Que de toilesl que d'huile! que d'huile" ä la fa(;on
du marechal Mac-Mahon qui ne trouva rien de mieux ä dire devant la
mer que cette profunde parole : „Que d'eau ! que d'eau !"
506
A Bruxelles, les salons se succedent toute l'annee, pour ainsi dire,
Sans Interruption ; les salles d'expositions s'y multiplient. C'est une ville de
peintres; c'est aussi la terre benie de l'association, des „chochetes" et les
„chochetes" d'art, comme les autres, y sont legion. Je me suis laisse dire
que M. Ray Nyst, Tun de ceux qui longtemps trainerent le beulet du cri-
tique d'un salon ä l'autre, s'est amuse ä faire le denombrement des oeuvres
exposees ä Bruxelles en l'espace de deux ans. II est arrive ä pres de
quarante milLe. C'est effrayant! Sans doute, faut-il compter lä-dedans
non seulement des peintures et des sculptures, mais encore des des-
sins, des gravures qui fönt vite nombre.
II est vrai aussi qu'en deux ans, certaines toiles repassent bien des
fois devant les yeux du critique, allant d'une exposition particuliere ä une
exposition de cercle pour etre transportees ensuite au Salon, participant
ainsi ä une sorte de cortege de la Juive de la peinture. II n'importe: ce
Chiffre de 40,000 reste coquet.
Et qu'on n'oublie pas qu'ä cöte de la capitale, il y a, en Belgique, des
centres importants oü s'organisent chaque annee des expositions qui ne le
cedent, ni en ampleur ni en interet, ä celles de Bruxelles. Des societes
comme L'art contemporain, ä Anvers, VCEuvre des artistes, ä Liege, la
Societe des Beaux-Arts, de Gand temoignent ä cet egard d'une activite
remarquable.
»
Pour qui n'est pas astreint ä une critique detaillee, au jour le jour,
de toute la production picturale, il vaut mieux voir ä son aise ces expo-
sitions, en se laissant guider un peu par ses preferences. Le bilan, ä
la fin d'une saison, se fait plus facilement. Et combien souvent, ä ce flä-
neur de la critique, les expositions particulieres, oü le temperament, la sen-
sibilite d'artistes bien doues se revele sous toutes ses faces, paraissent
plus interessantes que les grands deballages annuels de toile peinte, les
„decrochez-moi-fa" du Grand Palais ou du Cinquantenaire!
II est ä Bruxelles, depuis quelque temps, une salle spacieuse, claire,
bien moderne, amenagee avec un goüt parfait et oü l'on a pu voir, cet
hiver, quelques expositions de cette sorte: c'est la Galerie Georges Giroux.
Elle abrita d'abord un bei ensemble d'cEuvres de Kees Van Dongen, le
Hollandais parisianise qui est Tun des plus puissants coloristes syntheti-
ques d'aujourd'hui. Puis ce furent les dessinateurs du Simplicissimus,
l'admirable Journal de Münich.
La Serie des expositions beiges debuta par la presentation d'un choix
de jeunes peintres d'avant-garde parmi lesquels il nous plait de tirer hors
pairs des luministes comme Andre Blandin, evocateur des rues de Bruxelles
et F. Verhaegen qui nous restitue dans toute leur somptuosite, dans toute
leur animation les plus celebres fetes masquees de Belgique et notamment
le Carnaval de Binche; ou bien encore un artiste comme l'Ostendais Spil-
laert dont les sobres compositions rappellent un peu la maniere des es-
tampes japonaises. Des expositions particulieres sesuccederent: le jeune et
fougueux sculpteur Rik Wouters, dont les danseuses sont animees d'une
ivresse dionysiaque; Marcel Jefferys, peintre vibrant de foules, de fetes pu-
bliques, de rues ensoleillees, des chantiers formidables oü l'on bouleverse
Bruxelles, evocateur des vieux sites charmants du coeur de Paris; Louis The-
507
venet, peintre delicieusement naif d'interieurs aux couleurs un peu fanees,
pleins de choses vieillottes, sorte de Francis Jammes de la peinture;
Georges Lemmen enfin, qui, dans ses exquis portraits d'enfants, ses fleurs,
ses Interieurs et natures mortes, ou dans ses grandes compositions, (des
jeunes filles nues, soupies et gracieuses, dans de radieux paysages de la
Cöte d'Azur), s'est revele Tun des plus remarquables peintres de l'heure
presente. Lemmen a herite des impressicnnistes le goüt de la belle couleur
saine et franche, le souci des recherches luministes. 11 rappelle parfois
Renoir ou Vuillard, mais, comme un Maurice Denis, un Theo van Ryssel-
berghe, un Albert Andre, il allie ä ses dons de coloriste un culte de la
forme, du dessin impeccable, de la ligne harmonieuse qui n'est pas le
moindre charme de son art.
Dans le meme temps qu'il triomphait ainsi ä la salle Giroux, un pay-
sagiste de sa generation, M. Edmond Verstraeten, clöturait brillamment la
Serie des expositions organisees cet hiver au Cercle artistique et litteraire.
M. Verstraeten, vit toute l'annee au coeur du pays flamand, ä Waes-
manster. 11 a constamment sous les yeux Tun des paysages les plus colo-
res de la terre, soumis aux variations d'un des ciels les plus changeants. II
excelle ä rendre le ciel vibrant de chaleur de l'ete, la tranquiile splendeur
de la campagne „quand l'air est brülant et que pas une feuille ne bouge",
ou bien encore il peint amoureusement les verts fraichement laves des prai-
ries, des luzernes apres l'orage, les ombres bleues et violettes, les nuages
aux bords argentes, et les sapins lourds de neige de l'hiver. Edmond Ver-
straeten est un coloriste ne, de la lignee de Claus et de Heymans. Mais
lui aussi, comme Lemmen, a de plus en plus le souci de la forme, d'un
dessin serre. „La peinture impressionniste n'a exalte jusqu'ici que la lu-
miere, ecrit-il dans un de ses carnets. Pour un art qui se sert avant tout
de la couleur comme maniere d'expression, c'est beaucoup et c'est beau!
N'oublions pas cependant, que la forme est la soeur jumelle de la couleur
et que toutes deux ne sont que les servantes de l'artiste createur. Ceci
n'a pas une allure tres up to date, je m'en rends compte, mais c'est une
de ces verites qui traverseront les temps actuels comme elles en ont tra-
verse beaucoup d'autres."
Pour moi, ce qui me frappe et me seduit, dans l'CEuvre dejä consi-
derable de ce jeune artiste, dans ses radieuses evocations de l'Edenie
qu'est pour lui sa vallee de la Durme, c'est qu'il a une vue d'ensemble,
synthetique et comme panoramique du paysage. 11 ne se contente pas de
peindre comme tant d'autres le petit morceau pittoresque, le coup de soleil
sur une maisonnette ou un bras de riviere.
C'est l'honneur de Bruxelles d'avoir organise au cours de ces dix dernieres
annees un grand nombre d'expositions retrospectives importantes, oü une
personnalite, une ecole, une epoque furent mises en pleine lumiere. Coup
sur coup, nous venons d'en voir deux, consacrees ä des peintres de la fin du
siecle dernier, dont Tun au moins apparaitra de plus en plus comme Tun
des novateurs les plus originaux de son temps. C'est Henri Evenepoel que
nous voulons dire, ä qui la galerie Giroux, avec le concours du gouverne-
ment beige, des musees de Gand, Liege, Bruxelles et du Luxembourg, a
rendu un hommage eclatant et justifie. Henri Evenepoel (1872 — 1899), fau-
508
che, comme le musicien wallon Guillaume Leken, par une mort prematuree,
fut avec Toulouse-Lautrec, Steinlen, Raffaeli Fun des meilleurs caracteristes
qui aient rendu les sites et les types du Paris moderne, oü il passa la plus
grande partie de sa vie. Des pages comme VEspagnol ä Paris (portrait
du peintre Yturrino) le Dimanche au Bois de Boulogne, la Foire des In-
valides, le Moulin-Rouge sont ä la fois d'une verite, d'un pittoresque et
d'un style, d'une ampleur decorative remarquables. Evenepoel (que tous les
procedes: la peinture ä l'huile, le pastel, l'eau-forte en couleurs, etc. ont
tente) a laisse aussi de delicieuses Images d'enfants et fut un maitre por-
traitiste, dont certaines pages rappellent les Alfred Stevens des meilleurs
jours, un orientaliste dont certains paysages de Blidah et d'Alger sont
d'une finesse admirable.
Le principal attrait du salon du Printemps, qui fut visible jusqu'ä la
fin de juin, ä Bruxelles, residait certes dans les salles consacrees ä
Jean de Greef et ä Eugene Smits. Le premier, qui mourut en 1894, est
un paysagiste de la lignee des robustes maitres de l'Ecole de Tervueren,
notre Barbizon beige. Ses toiles evoquant des sites des environs de Bruxel-
les (Anderghem, Forest, Rouge- Clottre, la Foret de Soignes) sont certes
d'une peinture bien materielle, bien exterieure, sans envolee, sans grand
style: mais quelle probite! quelle verite! sans compter qu'il y avait en de
Greef un luministe qui fut en quelque sorte un precurseur. Quelques ta-
bleaux bien choisis d'Eugene Smits resument parfaitement les qualites op-
posees du vieux maitre mort l'an dernier, son idealisme, la gräce et la dis-
tinction supreme dont 11 sut empreindre la moindre de ses compositions.
Parmi les peintres etrangers qui exposerent cette annee au Salon du Prin-
temps, citons: M. Joseph de Mehoffer, de Cracovie; M. Aman-Jean qui ex-
posa: Les Elements, grande decoration qu'il a congue pour une salle de la
Sorbonne et dont le dessin parait parfois un peu lache; M. Andre Dauchez,
l'anglais John Lavery, le Hongrois Lazio, les Espagnols Andre Sureda et
Valentin de Zubiaurre dont les groupes de paysans sont si expressifs.
«
Au Musee moderne, apres le 21e salon de Pour l'Art, oü triompherent
surtout les sculpteurs (Victor Rousseau, Pierre Braecke, Marnix d'Haeve-
loose, etc.) et I'ecole de peinture monumentale (Emile Fabry, Ciamberlani,
Langaskens etc.), la Libre Fsthetique consacra son salon aux peintres du
Midi, ä ceux qui ont interprete les feeries de la Cöte d'Azur, les sites purs
et vastes de la lumineuse Provence et du Roussillon. 11s etaient lä tous,
les glorieux maitres de l'impressionnisme et du neo-impressionnisme, et les
jeunes peintres audacieux qui sont l'espoir de l'art fran?ais et de l'art
beige actuels: Albert Andre, Louis Bausil, Pierre Bonnard, Eugene Bondy,
Simon Bussy, Camoin, Cezanne, Lucie Cousturier, H. E. Gross, Maurice
Denis, Georges d'Espagnat, Fornerod, Othon Friesz, Guillaumin, Francis
Jourdain, Pierre Laprade, Alfred Lombard, Manguin, Marquet, Claude Mo-
net, Georges Morren, Jean Peske, Auguste Renoir, Carlos Reymond,
K. X. Roussel, Paul Signac, Valtat, Van den Eeckhoudt, Theo van Ryssel-
berghe, Vincent van Gogh l'hallucinel
Le palais des Beaux-Arts de l'Exposition universelle de Gand a ete
inaugure le 29 avril. La France y triomphe haut la main. Elle a fait lä un
509
effort magnifique qui depasse encorece qu'elle arealise ä Bruxelles en 1910.
M. Andre Saglio, commissaire permanent du gouvernement fran^ais qui a
sign^, du Pseudonyme de Dresa, des illustrations, des etoffes, des papiers
peints, des decors de theätre delicieux, a vise avant tout ä une presenta-
tion oü se retrouvent le charme et le goüt traditionnel de la France.
Les 560 tolles, les gravures et sculptures ont ete reunies dans une
dizaine de salles d'un style ä la fois tres moderne et tres frangais. Les
tentures de la grande salle oü des roses se fondent exquisement dans des
guirlandes en camaieu, rappellent les toiles de Jouy. Les tentures des au-
tres salles rappellent certains damas Louis XIV. Les boiseries sombres des
portes sont en acajou massif, de meme que les meubles qui ont ete des-
sines, executes expressement pourl'Exposition de Gand et dont les courbes
harmonieuses rappellent Celles de chefs-d'oeuvres de I'ebenisterie fran^aise.
Sur le velum tamisant la lumiere, un pochoir discret: et c'est encore la
rose fran^aise qui a servi detheme au decorateur. Apres l'ordonnance des
salles et la presentation des oeuvres, il faut vanter l'eclectisme parfait qui
a preside au choix de celle-ci: toutes les tendances, toutes les ecoles sont
representees. Depuis M. Chabas, M. Bonnat ou M. Etcheverry, jusqu'ä
Paul Signac et Manzana-Pissaro, depuis les „Artistes fran^ais" les plus
timores jusqu'aux Independants les plus fougueux, ils y sont tous. Comme
dans la section beige, nombre d'oeuvres ont ete pretees par les musees
et les grandes collections particulieres. II y a un Degas: Repetitlon de
danse qui est plus etonnant encore que les fameuses Danseuses ä la barre
vendues recemment. Dans la grande salle, nous avons revu le Vallotton
allegorique expose pour la premiere fois il y a deux ans au Salon d'au-
tomne. On peut ne pas aimer la couleur de ce peintre, mais il y a chez
lui une teile volonte, des visees tellement nobles que son effort merite le
respect.
La section beige, eile aussi, sera un succes. On a voulu, avec raison,
presenter de grands ensembles des meilleurs peintres beiges, en emprun-
tant certaines toiles aux Musees de Gand et de Bruxelles. Des artistes
comme Eugene Laermans, Victor Gilsoul, Auguste Oleffe et toute TEcole
gantoise (Clans, Baertsoen, Willaert, Georges Buysse, les freres de Smet,
Maurice Sys, Mmes Jenny Montigny et Anna de Weert, le grand sculpteur
Georges Minne) sont admirablement representes. La Hollande et l'Angle-
terre ont, elles aussi, des sections speciales mais moins importantes. II y
a enfin une section internationale oü l'on trouvera notamment des toiles
süperbes des Espagnols Rusinol et Valentin de Zubiaurre.
BRUXELLES LOUIS PIERARD
DDO
SCHAUSPIELABENDE
Der letzte Schauspielmonat der Sommersaison im Pfauentheater, der Juni,
brachte noch zwei erwähnenswerte Abende. Zunächst vermittelte ein Gast-
spiel Johanna Terwins die Bekanntschaft mit Frank Wedekinds „Lulu".
Gleich drei Abende hinter einander gab man dieses Stück, das sich als
Tragödie bezeichnet. Damit dürfte das Bedürfnis nach diesem Drama be-
friedigt sein. Denn einen Gewinn für die Bühne bedeutet es nicht; auch
keinen literarisch wertvollen Zuwachs zum Oeuvre Wedekinds. Freilich:
510
im Grunde handelt es sich ja auch nicht um etwas Neues, sondern nur um
die neue Aufmachung zweier längst bekannter dramatischer Arbeiten: des
„Erdgeist" und der „Büchse der Pandora". Wedekind nahm eine Zusammen-
schweißung beider zu einem einzigen fünfaktigen Drama vor. Die Nähte
bleiben aber teilweise störend sichtbar. Er schnitt dem „Erdgeist" einen
— den dritten — Akt aus, und die Pandorabüchse köpfte er. Man erinnert
sich, wie der „Erdgeist" schließt: Lulu hat ihren dritten (angetrauten) Mann
zum Tode befördert (der erste stirbt an Apoplexie beim Anblick der in
flagranti ertappten Gattin ; der zweite, der Maler, dem die Augen zu spät
aufgehen, an was für Eine er geraten ist, erhängt sich ; der dritte, der Re-
dakteur Dr. Schön, wird von Lulu, man kann sagen in Notwehr, erschossen),
und über seine Leiche weg weiß sie den Sohn des Toten (mit dem sie,
wie so ziemlich mit aller Männlichkeit, genau vertraut ist) dazu zu bestim-
men, ihr zur Rettung vor der Polizei zu verhelfen. Das war ein Abschluss
des Dramas, der der starken Wirkung nicht entbehrt. Lulu hat den Höhepunkt
ihrer fast naiv funktionierenden Frevelhaftigkeit erklommen. Wie sie den
Sohn des Mannes, den sie eben gemordet, herumbringt: das ist eigentlich
das sprechendste Symbol der männerbetörenden Macht dieses einzig und
allein aus der Geschlechtlichkeit orientierten Wesens. Kaum einer, der
dieses Drama „Erdgeist" (was für den Wedekind-Typus Erdgeist ist, nicht
für den Faust-Typus) gelesen oder im Theater gesehen hat, wird nach dem,
was nun weiter kommen werde, neugierig gefragt haben. Von diesem
Ruchlosigkeitszenith aus konnte es ja nur ein Herabgleiten geben. Und
wirklich: die zwei in der „Lulu" folgenden Akte aus der (ursprünglich ohne
allen Gedanken an die Aufführbarkeit niedergeschriebenen, das Französische
wie das Englische in breitester Weise neben dem Deutschen verwendenden)
„Büchse der Pandora" bringen nur noch die letzten Fetzen dieser Existenz
in kaleidoskopischer Darstellung: das dirnenhafte Treiben Lulus in Paris,
das noch einen gewissen äußern Glanz sich bewahrt hat, wenn auch die
Gesellschaft, in der sie sich bewegt, schon eine durch und durch schuftige
und verfaulte ist; und dann das Ende Lulus als Londoner Straßendirne
unterster Sorte mit Jack the Ripper als Urteilsvollstrecker. Das Geschehen
zerflattert hier völlig in einzelne Partikel, in Momentbilder, und die Fäden,
die vom dritten zum vierten Akt hinüberführen, bleiben so unsichtbar, dass
der mit dem ehemaligen, jetzt gekappten ersten Akte der „Büchse der Pan-
dora" nicht vertraute Zuschauer nur sehr schwer, wenn überhaupt sich zu-
rechtfindet in der neuen Situation des (jetzigen) vierten Aktes. Ist somit
der Gewinn durch diese in die trübsten Perversitäten und die brutalste
Grässlichkeit getauchten letzten zwei Akte ein ungemein geringer, so ist
anderseits der Verlust des ehemaligen dritten Aktes des „Erdgeist", der in
der „Lulu" einfach geopfert wurde, ein recht empfindlicher; enthält er doch
ein paar der eindruckvollsten Szenen, vor allem die, wie Lulu den Dr. Schön
völlig in ihren Bann schlägt, indem sie ihm die Absage an seine Braut in
die Feder diktiert.
Wir sind der Ansicht, dass man späterhin wieder auf den „Erdgeist" in
seiner ursprünglichen Gestalt zurückgreifen wird — dem Theater zum Nutzen,
dem Autor zum Vorteil. „Die Büchse der Pandora" aber mag man ruhig
im Stand eines Lesedramas belassen. Die Bühne verliert nichts an diesem
Werk.
511
Einen recht interessanten Versuch bedeutete die Darstellung einer An-
zahl von Szenen aus des Grafen von Gobineau „Renaissance". Nicht dass
ein bühnenfähiger Organismus zustande gekommen wäre; aber einzelne
Dialoge gewannen doch in der szenischen Verkörperung ein Leben von
ungeahnter Intensität und eigenartigem geistigem Reize. Geschickt waren
die Partien herausgenommen und kombiniert worden, welche die Persön-
lichkeiten Savonarolas und Michelangelos zu beleuchten und zu ergründen
suchen. Das machte die zwei Teile des Abends aus: der erste wickelte sich in
neun, der zweite in vier Szenen ab. Das größte Lob, das dem Experiment
gezollt werden kann, ist wohl das, dass die geschichtlichen Persönlichkeiten,
die in Aktion treten — neben dem Dominikaner Bußprediger und dem ge-
waltigen Künstler die Päpste Alexander VI. und Julius II., Lucrezia Borgia und
Machiavelli, Bramante und Raffael, und die edle Vittoria Colonna, des Pes-
cara Witwe — dass sie im Rampenlicht nicht lächerlich wurden.
Viel Geist und reiches Wissen stecken unzweifelhaft in diesen „histo-
rischen Szenen" des merkwürdigen Franzosen, den eine bewegte diplo-
matische Karriere nach Bern, Hannover, Frankfurt a. M., Persien, Athen,
Rio de Janeiro und Stockholm geführt und dem am Schluss seines Lebens
die freundschaftliche Bewunderung Richard Wagners gelächelt hat, dem er
wenige Monate im Tode vorausgegangen ist. Die Lektüre der „Renaissance"
hatte Wagner für Gobineau gewonnen. Auch mit dessen Rassentheorie hat
er sich sehr genau bekannt gemacht. Man weiß, wie Gobineau im Kreise
der „Bayreuther Blätter" ein gern gesehener Gast war; weiß, wie ehrend
ihn H. St. Chamberlain, der Biograph Wagners und getreue Gralsritter, in
seinen „Grundlagen" erwähnt, wie fleißig er ihn benützt hat; weiß, dass
von der Begeisterung Wagners für Gobineau (der allerdings zu der Parsifal-
Genuflexion Wagners vor dem katholisch ausgestatteten Christentum sich
ablehnend verhalten und darum die letzten Bayreuther Weihen nicht empfan-
gen hat) Ludwig Schemann angesteckt worden ist, so dass er sein Leben
der Übersetzung und der Verbreitung von Gobineaus Schriften gewidmet
hat und die Seele der Gobineau-Vereinigung in Deutschland geworden ist.
Deutschland hat sich Gobineaus, der perfekt deutsch sprach und schrieb,
bemächtigt, während Frankreich nur langsam und nicht ohne Widerstreben
die Bedeutung des Grafen anerkannt hat. Man findet hiefür in dem Buche
von Rob. Dreyfus über Gobineau recht interessante Belege. Ein höchst
wichtiger Anreger ist Gobineau unter allen Umständen gewesen. Nietzsche
hat ihn nicht übersehen. Seine Renaissance-Dialoge mit ihrem reichen Bil-
dungsgehalt empfahlen ihn vor allem den deutschen Lesern. Versuche,
Teile daraus auf die Bühne zu bringen, gehen schon aufs Jahr 1904 zurück,
wo in Wien die Michelangelo-Szenen ihre Darstellung fanden. Für gebildete
Hörer geht manch feiner Reiz von diesen Gesprächen aus. Eigentlich dra-
matisches Blut fließt nicht in ihnen.
Die Kunst Alexander Moissis bescherte zu Ende des Juni dem Stadt-
theater noch einige von begeisterter Gunst getragene Abende. Dass der
Schauspieler uns neben dem Hamlet den Fedja im „Lebenden Leichnam"
zeigte, war der schönste Gewinn. Moissi hat dieser Gestalt in ihr Inner-
stes gesehen.
ZÜRICH H. TROG
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
512
DREI RHEINLANDS -ODEN
Von HANS KAESLIN
AM BRUNHILDENSTEIN
Sie schläft. Dem Helm entgleitet der Locken Prunk,
Umspielt, ein Goldquell, graulichtes Felsgezack
Und glänzt im Abgrund. Zu den Sternen
Hebt sich die strömende Glut der Flamme.
Die steht gleich einem Turm in der blauen Nacht,
Auf ferne Wälder breitend den fahlen Schein.
Vom stillen Strom zur Nordlandsbrandung
Trägt er die Mär von des Gottes Rache.
KASTELL IM WALDE
Von Römertritten dröhnte der Boden hier.
Von Wall zu Wall schwang sich der Tuba Ruf,
Kommandowort des hagern Kriegers
Sprengte des ehernen Tores Flügel.
Nun webt das Schweigen, träumend im Dämmerwald,
Die Zitterfäden über den morschen Stein.
Nur eines Vogels leises Tönen
Mahnt uns, dass ewig das Leben blühe.
513
RHEINISCH LAND
Du schöne Stadt! Dem Fremdling erschlössest du
Der grauen Gassen stolze Verborgenheit
Und wiesest ihm der alten Brücke
Stormübertanzendes Steingefüge.
Ein Falter rührte zitternden Flügelschlags
Des Prachtportals gemeißelte Wappenzier
Und hob sich, rasch den Glanz der Schwingen
Breitend, empor zu des Domes Zinnen,
Der rötlich aufragt über der Dächer Flucht
Und überm Hafen, wo sich am Bord von Stein
Um manchen schwarzen Kahn die Menge
Tummelt im farbigen Dunst und Dämmer.
Denn schrägen Wurfes über den Seidenglanz
Der breiten Woge gleitet der Sonne Speer,
Und mit der Rebenblüte Düften
Strömt uns der kühlere Hauch zu Tale.
Beglücktes Volk! es spendet erwünschtes Gut
In Fülle dir die Erde, des Gebens froh,
Und wehrt mit mild erhob'nen Händen,
Dass sich der Sorge Gewölk dir nahe.
Der Vorzeit Götter schweben vor deinem Aug',
Umbraust von herzerschütternder Töne Flut.
Und in begeisterter Gemeine
Singst du die Größe des Vaterlandes.
514
Es weiht dein Sinn, erhabenen Fluges kund,
Was immer du mit rüstiger Hand erschaffst,
Und in gelass'ner Würde schreitet,
Eigenen Wertes bewusst, der Bürger.
Du herrh'ch Land! Es flutet das Auge mir
Von deines Glanzes Fülle, es bebt das Herz
Und hebt sich noch nach langen Tagen,
Deiner gedenk, in erneuter Sehnsucht.
nan
DIE HEILIGE MAGDALENE
Von KARL SAX
Die Schwester Magdalene war ein blühendes, schöngewach-
senes Mädchen, als sie in das Hospital Santa Maria eintrat. Sie
wus.ste eigentlich nicht recht, wie sie eine fromme Schwester und
Krankenpflegerin geworden war. Ihre Eltern, einst angesehene
Leute, waren verarmt; die Mutter starb früh, und der Vater,
dem man nach dem Rückgang in seinen Geschäften auch einen
schlechten Lebenswandel nachredete, war vor sich selbst in ferne
Lande entflohen. Statt nun die Magdalene zu verdingen zog
es die Armenbehörde der Gemeinde vor, das Mädchen seines
stattlichen Aussehens und seines ernsten Betragens wegen in die
Klosterschule zu schicken und es dort zur Krankenschwester
ausbilden zu lassen.
Magdalene musste dies an sich geschehen lassen. Sie war
ja durch das Elend, das über ihre Familie hereingebrochen war
und das sie als heranwachsendes gescheites Mädchen miterlebt
hatte, ernst geworden, und die frohen, erwartungsvollen Gefühle
der Gespielinnen gleichen Alters waren bei ihr unterdrückt oder
doch für lange Zeit auf die Seite geschoben worden.
515
Magdalena war wirklich fromm, und der Zuname die Fromme
war ihr von den Leuten weder aus Spott noch aus Neid zugelegt
worden. Sie fühlte sich aber durch ihre Frömmigkeit nicht be-
sonders ausgezeichnet, sondern dachte sich im Stillen ein anderes
Glück aus und wünschte, sie wäre wie andere junge Mädchen.
Dieser Wunsch steigerte sich mit den Jahren, und als die Jung-
frau die Schwelle der zwanzig überschritten hatte, wurde er so
mächtig, dass sie von den Gedanken der Sünde gequält wurde.
Die Schwester verlor den Glanz der Augen und die roten Wangen
und betete inständig zur heiligen Mutter um die Vergebung ihrer
sündhaften Gedanken und um die Erlösung von jeder Schuld. Aber
anstatt den Tod der Sünde von der Gebenedeiten zu erreichen
und das köstliche Geschenk der vergebenden Gnade zu empfan-
gen, wuchs in ihr das Gefühl ihrer Schuld und die brennende
Sünde selbst mit jedem Tag.
Dem jungen Priester, der ihr die Beichte abnahm, konnte sie sich
nicht anvertrauen. Einmal, als die Magdalene wieder bleich und
angstvoll aussah, nahm sie der Kaplan an der Hand und sagte
zu ihr väterlich, im guten Willen, dem Mädchen über die Not, die
er begriffen hatte, mit den Tröstungen der heiligen Kirche hin-
wegzuhelfen: „Liebe Magdalene, du bist bleich und krank, mehr
an der Seele als am Körper. Hast du mir etwas anzuvertrauen?"
Das Mädchen sah den geistlichen Herrn verstört an, hielt sich
und sagte leise und entschlossen: „Nein, Herr Kaplan!" — „Keine
Sünde, die der Schwester nicht ansteht, meine Liebe? Sieh, der
Heiland ist gnädig, und seine Priester auf Erden haben verstän-
dige Herzen und einen verzeihenden Willen. Wozu wäre sonst
der Heiland am Kreuze gestorben?" Und der Kaplan streifte
wohlwollend über die schwarzen Haare der Schwester.
Sie schwieg und tastete nach einem Entschluss. „Nein, nichts
von alledem, was Ihr vermutet, Herr Kaplan ! Das Elend unserer
Familie macht mich krank, das Schicksal meines armen Vaters.
Wer könnte mir helfen!"
Der geistliche Herr war beleidigt. Er hielt sich für unerreich-
bar in der Behandlung der menschlichen Seele und hatte kurz vor
dem Gespräch mit der Schwester den Plan, den er mit ihr vor
hatte, seinen Amtsbrüdern mitgeteilt, indem er ihnen versicherte,
516
er werde die schwermütige Stimmung der Jungfrau heilen; sie
müsse durch seine Kunst gesund werden; nun erschien er vor
seinen Amtsbrüdern und sich selbst als vorlaut. Das eine wie das
andere verdross ihn sehr; denn die Seele des Kaplans lebte nur
von seiner vermeintlichen Geschicklichkeit im Seelsorgeberuf und
von dem Ansehen, das ihm seine Erfolge auf diesem Gebiete
eintrugen. Da er aber an sich selbst nicht zweifeln durfte — dazu
war er übrigens zu stark gebaut — musste es an der Schwester
fehlen, und statt wie er vordem — seinen Angriff auf sie geschickt
vorbereitend, um ihr Zutrauen zu gewinnen — sie mit Auszeich-
nung behandelt hatte, zog er nun seine Gunst von der Schwester
sichtlich zurück und verdächtigte das Mädchen eines strafbaren
Wandels, zuerst vor sich selbst und dann vor den andern. Er
ließ nun nichts unversucht, die Magdalene durch gewaltsame Mittel
zum Geständnis der Sünde — die ihm übrigens nicht sehr ge-
wichtig schien — zu bringen. Um die Sünde selbst war es ihm
weniger zu tun als vielmehr um das bloße Geständnis der Sünde,
oder besser gesagt: um seine Gewalt über die Seele der Jungfrau,
die sich ihm ausliefern sollte. Er erachtete die Verstocktheit der
Schwester für sehr gefährlich und hatte dabei nicht unrecht, wenn
er den Fall, in Gedanken weiter spinnend, im Namen und zum
Heil der allerheiligsten Kirche ernst nahm und sogar so weit
ging, den Abfall eines großen Ketzers damit in Verbindung zu
bringen.
Aber die Schwester Magdalene blieb verschlossen, und so oft
sie im Beichtstuhl vor dem geistlichen Herrn stand, bekannte sie
nur die Sünden, die im Unterlassen guter Werke der Barmherzig-
keit bestanden. Aber auch diese Unterlassungssünden verschwan-
den mit der Zeit, so dass die Jungfrau vor dem Kaplan mit
leeren Händen stand, wenn sie ihm den Tribut in Form zerknir-
schender Schuldgedanken abliefern sollte. Der Kaplan wurde
immer unzufriedener mit der Schwester, und schließlich hieß die
Magdalene nicht mehr die Fromme, sondern die Heilige. Diesmal
aber lag in dem Namen Spott und Verachtung.
Die Schwester Magdalene verschloss sich nun aber auch vor
dem Wohlwollen der Menschen, wurde einsam und ergab sich
ganz dem Heiland. Wenn sie die Nachtwache bei den Kranken
halten musste, hatte sie ihre Feierstunde der Seele, wie sie es
517
nannte. Um die mitternächtige Stunde, wenn sich auch der
Schmerz der Kranken für einige Zeit zur Ruhe gelegt hatte, stieg
ein neues Reich zu ihr nieder. In dem kleinen schmucklosen
Raum flackerte das Kerzenlicht. Sie nahm von der Wand den
gekreuzigten Erlöser, der, aus weißem Alabaster gebildet, an einem
Kreuz vom schwarzem Marmor hing. Sie betrachtete den leidenden
Gott und küsste mit den fiebernden Lippen die Wundmale des
Herrn und seine Stirne. Da wurde der kalte Stein bewegt und
glühte unter ihren Lippen. Die Schwester fühlte die Qual einer
unergründlichen Seligkeit. Sie stammelte unverständliche Worte.
„Mein Herr und Heiland, lass mich leiden, wie du littest! Nimm
auch diese letzte Sünde von mir, die letzte Sehnsucht nach der
Welt! Du weißt es, ich gehöre dir! Du, Fürst der Seelen, ver-
mähle meine Wünsche mit deiner Liebe, die unendlich ist! Strafe
mich, dass ich dich erkenne! Herr, ich danke dir, du erhörst
mich, ich komme zu dir. — Sieh meine Niedrigkeit! Bin ich
nicht gering geachtet, wie du, Herr, als du das Kreuz trugst
nach Golgatha? Sieh, der Hass und die Verachtung der Men-
schen wälzen sich auch auf mich! Lass mich sterben, zu deiner
Ehre . . . ."
So waren die Gebete der Schwester Magdalene. Sie verlor
nach und nach die Erinnerung an die Welt und tauchte aus ihrer
dunklen Verworrenheit empor wie die schneeige Lilie aus dem
schwarzen Spiegel eines sumpfigen Gewässers. Sie verlor auch die
letzte Sünde, um derentwillen sie der Kaplan verdächtigte, und
lebte in der Welt wie eine Heilige. Ihr Antlitz wurde bleich und
knochig wie blendender Alabaster. Darüber legte sich, einfach ge-
kämmt, das gewellte schwarze Haar. Die Gestalt ihres Körpers
glich einer wandelnden Lilie, und die zarten Finger strömten einen
Duft aus, den die Leidenden durstig einsogen. Trat die Schwester
in den Saal der Kranken, so war jeder Schmerz gestillt und alle
Augen glänzten hoffnungsfreudig, und wenn die Männer zur
heiligen Muttergottes beteten, hatten sie das Bild der Schwester
Magdalene vor Augen. Jeder suchte die Berührung ihrer zarten
Hand zu erhaschen; aber keiner getraute sich, seine Empfindung
einem andern zu offenbaren.
Der Kaplan und der Arzt des Hauses hatten zu jener Zeit,
als die Schwester im Hospital Santa Maria waltete, wunderbare
518
Erfolge; aber zum großen Glück der Schwester wurde keiner von
beiden gewahr, wem sie die Heilungen zu danken hatten.
Die Schwester war sich ihrer Kraft zwar wohl bewusst,
schätzte sich aber darum nicht höher als irgendwen; denn sie
wusste, dass sie für ihre Gabe zum Teil den Menschen, die sie
durch ihre Härte zu Gott gedrängt hatten, und zum Teil dem
Heiland, mit dem sie ihre Seele vermählt hatte, danken musste.
So lebte sie als eine Selige im Frieden mit den Menschen. Das kam
ihr aber verdächtig vor, wenn sie das Schicksal des heiligsten
Sohnes Gottes betrachtete, der doch mit Dornen gekrönt, verhöhnt
und ans Kreuz geschlagen worden war. Und sie fing an, ihren
Körper zu kasteien, um auch durch diese Leiden des Leibes vor
dem Herrn angenehm zu sein, damit sie ihn bald von Angesicht
zu Angesicht in seinem ewigen Glänze schauen könne. Sie betete
mit bebendem Munde zu dem Erlöser, er möge sie bald von der
Erde zu sich in den Himmel nehmen.
Nachdem die Schwester Magdalene lange ihren Leib auf die
grausamste Art gequält hatte, schwand auch ihre Schönheit und
mit ihr langsam die segenbringende Wirkung auf die Kranken.
Dermaßen hatte sich nun die Schwester ihres letzten Ruhmes auf
Erden freiwillig begeben und sich als Opfer des Heilandes würdig
erwiesen. Als sie nach einer aufreibenden Selbstkasteiung völlig
erschöpft und jeder schützenden Hülle bar den fiebernden Körper
im Winter auf den kalten Steinboden ihres eisigen Zimmers
fallen ließ, erbarmte sich der Heiland ihrer Leiden und nahm sie
nach einer heftigen Krankheit, deren Fieber ihren Leib in zwei
Tagen untergrub, zu sich, nachdem die Schwester alle Seligkeit
ihrer Liebe zum Herrn ausgetrunken hatte.
Es war ein ergreifender Leichenzug, als man die Schwester
Magdalene zu Grabe trug. Die hohe Geistlichkeit benützte die
Gelegenheit, vor dem Volk ihre leuchtende Pracht zu entfalten.
Der Kaplan war der einzige, der tief trauerte. Er schien über
Nacht bleich und eingefallen. Die Schwester hatte ihn überwun-
den. Er hatte nur von der Liebe zu ihr gelebt: als die Jungfrau mit
den rosigen Wangen des Mädchens ins Hospital trat, liebte er
ihre roten Wangen, und als die roten Wangen zu bleichen an-
fingen, liebte er die bleichen. Da er aber die stets sich verändernde
519
Liebe der Schwester jeweilen zu spät begriff, i^onnte er sie zu
ihren Lebzeiten nie so recht erfassen und ihr nie seine Liebe ge-
stehen. Vielleicht hielt ihn auch die Überzeugung zurück, dass
dies von einem Priester niemals geschehen dürfe; denn er nahm
es mit seinem Berufe ernst.
Als nun aber die Schwester Magdalene gestorben und be-
graben war, wuchs seine Sehnsucht, die nun durch die Leiblich-
keit des geliebten Wesens nicht mehr gehindert war, ins Unerträg-
liche, und es schien ihm, er sei über Nacht für die Liebe zu der
Verstorbenen reif geworden. Er konnte dem Trauerzug nicht
folgen, sondern schloss sich in sein Zimmer und betete laut zur
gebenedeiten Mutter Maria, die ihm in der Gestalt der verschiedenen
Schwester erschien. Von jener Stunde an wurde der Kaplan, was
er vordem von sich gehalten hatte: ein Kündiger der Herzen. So
heilte er viele Kranke, und als auch er den Stolz über den Glanz
seiner Berufung unter den Menschen überwunden hatte, starb er
und folgte noch in jungen Jahren der seligen Magdalene ins Grab.
Die Stadt mit dem Krankenhause Santa Maria wurde fünfzig
Jahre nach dieser Zeit ein berühmter Wallfahrtsort. Man betete
in dem Dom, der dort errichtet worden war, zur heiligen Magda-
lena und zum heiligen Antonius, Die Stätte ward bekannt durch
viele Wunder, welche an den Gräbern der beiden Seligen geschahen,
die vielen als eine erneute Fleischwerdung jener großen Heiligen
galten. Kranke Menschen aus der ganzen Welt strömten dorthin ; die
Gasthöfe der Stadt vermochten oft die fremden Wallfahrer nicht
zu fassen. Man zeigte die Kleider und die Zimmer der beiden
Seligen; alles brachte man mit ihrer segenstiftenden Gnade in
Verbindung. Die Stätte wurde zu einem greifbaren Zeichen der
unendlichen Gnade und Barmherzigkeit Gottes, der sich durch
jene beiden unter den Menschen offenbart hatte, und die Wunder,
die dort geschahen, waren wahrhaftig; denn die Menschen hatten
einen greifbaren Altar ihres Gottes, den sie sehen und vor dem
sie knien konnten.
DOD
520
ZUR EISENBAHNPOLITISCHEN
LAGE IM WESTEN UND OSTEN
(Schluss)
Für eine kleine, von lauter Großmächten umgebene Republik
ist diese Verschuldung, die als eine Folge der Eisenbahnverstaat-
lichung betrachtet werden muss, gar nicht unbedenklich. Da mehr
als neun Zehntel davon für produktive Zwecke gemacht worden
sind, muss man sie auch nicht allzu tragisch nehmen, so lange
ihre Verzinsung aus den produktiven Werken nicht nur als ge-
sichert betrachtet werden darf, sondern noch für die Hebung des
Verkehrs genügend erübrigen lässt. Für diesen eigentlichen
Zweck der Verstaatlichung hat man zwar bis heute allerdings
viel zu wenig getan.
Die Einnahmen aus dem Tonnenkilometer betragen bei uns
immer noch 7,7 Rappen, während sie im letzten Jahrzehnt in
Deutschland von 4,59 auf 4,5 und in Frankreich gar von 4,69
auf 4,27 Rappen gesunken sind. Die Bundesbahnen haben also
unserm internen Handel und Verkehr ungefähr das Doppelte für
Güterfracht abgenommen was andere Staaten. Das beweist zur
Genüge, wie sehr die Schweiz im Gütertarifwesen im Rückstand
ist. Hier eine Besserung eintreten zu lassen, wäre für uns sehr
wichtig. Es bedeutet dies einen weitern Ansporn, das finanzielle
Gleichgewicht der Bundesbahnen nicht durch unrationelle Erhö-
hung des Baukontos oder durch allzugroße Nachgiebigkeit gegen-
über Lohn- und andern Forderungen zu gefährden.
Die Nebenbahnen beklagen sich schwer, dass sie bei den von
den Bundesbahnen bezahlten Löhnen nicht aufkommen können
und die Bundesbahnbehörden sagen ganz offen, sie können an den
Innern Tarifen nichts ändern, weil alle Überschüsse für die An-
sprüche des Personals und für Bauten verwendet werden müssten.
Das sind keine normalen Verhältnisse. Die „großen wirtschaft-
lichen Vorteile der Verstaatlichung" sind noch lange nicht erreicht
worden, wie der frühere Präsident der Bundesbahnen in einem
interessanten Überblick über den zehnjährigen Staatsbetrieb be-
hauptet hat. Die Förderung der Getreideversorgung durch eine
vernünftige Tarifpolitik in Verbindung mit dem Ausbau der Rhein-
521
Schiffahrt ist noch ein ungelöstes Problem und wird nicht gelöst,
wenn nicht in der Eisenbahnpolitik im Osten und Westen die
größte Vorsicht beobachtet wird.
Diese keineswegs harmlose Sachlage zwingt die Schweiz, dem
Baukonto ihrer Bahnen die größte Aufmerksamkeit zu widmen
und ihn nicht mehr als durchaus notwendig durch Bauten und
Ankäufe zu belasten. Die Verstaatlichung der schweizerischen
Hauptbahnen wäre viel vorteilhafter für uns, wenn wir nur eine
Alpenbahn, die Gotthardlinie, besäßen. Dann könnte unser Netz
ein so glänzendes Geschäft sein, dass wir der eidgenössischen
Staatskasse auch bei ganz erstklassigem Betrieb jährlich einige
Millionen daraus zuführen könnten. Davon ist heute keine Rede
mehr. Schon Bundesrat Schenk soll gesagt haben, ein Tunnel
sei für die Schweiz ein Segen, von dreien werde sie erwürgt.
Und ein hoher deutscher Beamter bemerkte einem unserer füh-
renden Leute der Eisenbahnverwaltung: „Drei Alpendurchstiche
auf so kurze Distanz zu errichten, das bringen nur die Schwei-
zer fertig!"
Psychologisch ist die sich gegenwärtig in der Ostschweiz
geltend machende Bewegung verständlich. Die Ostschweizer,
darunter viele bisherige Greinaleute, sagen sich: „Die Berner haben
den Beweis geleistet, was man mit einigem Vorgehen erreichen
kann; sie haben sich nichts daraus gemacht, eine Lösung ihrer
Alpenbahnfrage zu erstreben, die dem Gotthard bedeutenden Ab-
bruch tun wird: also kann man auch uns keine Vorwürfe machen,
wenn wir eine Lösung der Ostalpenbahnfrage verlangen, die der
Gotthardstrecke noch stärkeren Abbruch tut". Dass die Ostschweiz
wie die Westschweiz Anspruch auf einen Teil des Gotthard-
verkehrs hat, ist nicht zu bestreiten. Beide mussten Jahr-
zehnte zu Gunsten der Gotthardregion zurückstehen, und wenn
diese heute Überfluss hat, so ist eine angemessene Teilung des
Verkehrs nach Westen und Osten nicht unbillig. Dieser Anspruch
ist schon im Eisenbahngesetz von 1872 und zu Gunsten der Ost-
schweiz wiederum im Artikel 49 des Rückkaufsgesetzes anerkannt
worden. Der Umstand, dass der Anspruch gegenüber der Ost-
schweiz einstweilen nicht erfüllt werden konnte, hat dazu geführt,
dass der Bund, entgegen aller bisherigen Praxis, den Ausbau der
Rätischen Bahnen mit dreizehn Millionen Franken unterstützt hat,
522
was er bis zum heutigen Tag noch gegenüber keiner andern
Nebenbahn vollbrachte. Die Berner Alpenbahn hat eine Geldhilfe
von sechs Millionen erhalten, unter Bedingungen, deren Durch-
führung etwa zehn Millionen Franken mehr als der geleistete
Beitrag gekostet hat.
Die Verstaatlichung der Berner Alpenbahn, die erfolgen soll,
sobald man weiß, was der Betrieb abwirft und wie er sich finan-
ziell gestaltet, wird voraussichtlich eine vorläufig uneinträgliche
Vermehrung unserer Bauschuld von 150 bis 160 Millionen be-
deuten. Dazu kommen die Bauten in Genf und am Gotthard,
was alles in die Hunderte von Millionen geht.
Wir wollen nicht so schwarz sehen, die Bundesbahnen könnten
das nicht aushalten; aber man darf die Ostalpenbahnfrage nicht
in einer Weise durchführen, die die Gotthardstrecke und die
später zu kaufenden Berner Alpenbahnen entwertet.
Es lässt sich nicht bestreiten: hätte sich die Ostschweiz nur
wenigstens über die Frage Staatsbau oder Konzession geeinigt,
einstweilen ohne Rücksicht auf die Führung der Bahn, so wären
die Studien über die Ostalpenbahnfrage jedenfalls viel weiter ge-
diehen. Dabei sollte man sich für den Staatsbau entschließen
und nicht einer Privatgesellschaft eine Konzession erteilen wollen,
deren Erbschaft wir dann später wie beim Lötschberg antreten
müssen und deren Hauptaufgabe sein wird, der Gotthard- und
Lötschb ergbahn so viel Verkehr als nur möglich wegzunehmen.
Beim Staatsbau, ob Splügen oder Greina, behält man wenig-
stens einigermaßen das Messer in der Hand. Man kann einen
uneinträglichen Betrieb einschränken, man spricht beim Abschluss
von Verträgen mit dem Ausland in ganz anderer Weise mit und
braucht nicht Verpflichtungen, die eine Privatgesellschaft einge-
gangen hat, auf gut Glück zu übernehmen.
Mit Recht wurde bei der Interpellation im Zürcher Stadt-
rat bemerkt, man solle erst einmal jene Vorfrage, die eine Kardi-
nalfrage sei, zum Entscheide führen, ob die Ostalpenbahn von
Anbeginn Bundesbahn, vom Bunde gebaut und betrieben, oder
Privatbahn zu sein habe.
So urteilen heute alle nüchtern denkenden Leute. Auch der
Bundesrat wird sich einem grundsätzlichen Entscheid nach dieser
Richtung wohl nicht mehr lange entziehen können. Die Öffent-
523
lichkeit hat ein Recht, nicht länger in der Ungewissheit gelassen
zu v/erden, und es ist vollständig richtig, wenn man allgemein
auf einen Entscheid über diese grundlegende Frage drängt.
So bald die Frage Staatsbau oder Konzession gelöst ist, wird
man auch die Studien über die Führung der Bahn endlich wesent-
lich fördern können; bis heute ist man ja noch nicht zu ein-
gehenden Einzelstudien, sondern nur bis zu allgemeinen Berech-
nungen und Schätzungen gediehen. Immerhin gestatten diese
eine gewisse Bewertung der bis jetzt bestehenden Ostalpenbahn-
projekte.
Gegenüber der Behauptung, die Berechnungen der Bundes-
bahnen seien unrichtig und viel zu pessimistisch, hält eine neue
in letzter Zeit erschienene Schrift des Greinakomitees daran fest,
a) dass es kein Recht auf den Splügen, wohl aber ein solches auf
die Ostalpenbahn im allgemeinen gibt,
b) dass technisch und finanziell die beste Lösung die Greina ist,
c) dass Splügen und Greina wirtschaftlich ungefähr gleichwertig sind,
dass aber die letzte von den Kantonen St. Gallen, Appenzell, Thur-
gau. Schaff hausen, Zürich und Glarus mit Rücksicht auf ihre
innere Entwicklungsfähigkeit und Ausgestaltungsmöglichkeit (Tödi-
bahn) sowie auf die Schiffahrt bei weitem vorzuziehen ist,
d) dass der Splügen auf die Bundesbahnen zugunsten des Auslandes,
speziell Italiens, eine geradezu ruinöse Wirkung ausüben wird und
daher vom Bundesbahnstandpunkt aus mit aller Energie zu be-
kämpfen ist,
e) dass der Kanton Tessin durch den Splügen direkt und indirekt
schwer geschädigt wird, ohne dass dieser dem Kanton Grau-
bünden mehr Vorteil brächte als die Greina,
f) dass der Splügen politisch und militärisch für die Schweiz eine
große Gefahr bedeutet, und endlich
g) dass der Bau der Ostalpenbahn auf alle Fälle nur Sache des
Bundes sein kann.
Diese Schrift klärt die riesigen Unterschiede zwischen den
Schätzungen der Bundesbahnen und des Splügenkomitees auf,
so für die Verkehrseinbuße der Bundesbahnen beim tiefern
Splügentunnel, die die Bundesbahnen auf fast dreizehn Millionen,
gegenüber den von den Bündnern bewerteten zweieinhalb Millionen,
veranschlagen.
Es wird nun gezeigt, dass man sich in Graubünden auf eine
Reihe unzutreffender und unsicherer Posten stützt, und durch eine
einfache Rechnung nachgewiesen, dass sich sogar auf den
von Herrn Würmli selbst angenommenen Verkehrsmengen ein
524
Ausfall von allermindestens 6 670000 Franken, und nicht bloß von
2 400000 Franken ergeben würde. Nun sind aber diese Verkehrs-
mengen erheblich zu niedrig berechnet. Wenn man das Mittel
zwischen der von den Bundesbahnen berechneten Verkehrseinbuße
und dem auf Grund der Zahlen Würmlis ermittelten Betrag als das
Richtige annehmen wollte, so ergäbe sich, wie bemerkt auf 1920
berechnet, immerhin ein Ausfall, von fast zehn Millionen. Es
scheint also kaum ein Zweifel möglich, dass die Berechnungen
der Bundesbahnen viel eher richtig sind als jene Würmlis. Weitere
Berechnungen weisen dann auf eine besondere Fehlerquelle hin:
Wenn Würmli zu einem wesentlich kleineren Verlust gekommen ist,
so rührt dies hauptsächlich davon her, dass es nur den Verlust der eigent-
lichen ehemaligen Gotthardbahn berechnet und angenommen hat, die
Zufahrtstrecken zum Gotthard und zum Splügen werden sich gegenseitig
ungefähr ausgleichen, so dass von daher ein Ausfall nicht zu erwarten sei.
Diese Annahme ist aber unrichtig und wie gesagt ein Hauptgrund für die
viel zu niedere Berechnung des Ausfalls.
Unter allen Umständen weichen die Berechnungen der Bundes-
bahnen um Millionen von denen der Bündner ab, weil alle Grundlagen
verschieden sind. Auch wenn man annehmen will, dass der Ausfall
von neun statt zwölf Millionen nicht weit von der Wahrheit sei,
so wird die Summe mit dem durch die Berner Alpenbahn be-
wirkten Ausfall auf alle Fälle ausreichen, um die Bundesbahnen
aus dem finanziellen Gleichgewicht zu bringen und sie in eine ganz
unmögliche Verschuldung hineinzutreiben. Wie man dann unsere
enorme Staatsschuld noch richtig tilgen will, ist nicht einzusehen,
und doch hängt davon der Kredit des Landes ab.
Von einer Übernahme der Berner Alpenbahn oder der Boden-
see-Toggenburgbahn durch den Bund wird schwerlich mehr die
Rede sein können, wenn man durch eine unrichtige Lösung der
Ostalpenbahnfrage die gesunde finanzielle Grundlage der Bundes-
bahnen untergräbt. So müsste sich also der Einfluss einer un-
richtigen Lösung der Ostalpenbahnfrage auf die Berner Alpen-
bahn gestalten.
Wir bestreiten die internationale Bedeutung der Splügenbahn
keineswegs. Wer die jahrhundertealten Beziehungen eines Teils
von Graubünden mit dem Veltlin kennt, wird auch das Streben
jener Gegend nach einem direkten Ausgang nach Italien begreifen.
Dieser Wunsch wäre eher zu erfüllen, wenn uns nicht ohne
525
eigene Schuld Chiavenna und damit der Südausgang nach Italien,
den die Vorfahren seinerzeit erobert hatten, verloren gegangen
wäre. Es ist auch richtig, dass die Splügenstraße neben dem
Gotthard den vornehmsten Verkehrsweg früherer Zeiten von Nord
nach Süd darstellte. Aber unsere jetzigen nationalen Interessen
nach vollzogener Eisenbahnverstaatlichung und die jetzige Staats-
raison verlangen gebieterisch eine andere Lösung, als sie vor
der Verstaatlichung vielleicht möglich gewesen wäre, abgesehen
von militärischen Erwägungen, wenn wir unsere eisenbahnpolitische
Unabhängigkeit nach dem Gotthardvertrag nicht noch mehr
schwächen, wenn wir mit unserer ganzen Staatsbahnwirtschaft
nicht Schiffbruch leiden und wenn wir dauernd im Stand sein
wollen, unsere enorme Staatsschuld zu verzinsen und wenigstens
teilweise zu tilgen, ohne den Verkehr ungebührlich zu belasten.
Es ist ganz unrichtig, wenn man immer mit den „verbrieften
Rechten" kommt, die man verletzen wolle, die ja nur für eine
Ostalpenbahn im allgemeinen Geltung haben. Der mit Eisenbahn-
lasten schwer beladene Kanton St. Gallen hat vollends keinen
Anlass, auf angebliche Rechte zu pochen, die den Bund in die
Unmöglichkeit versetzen müssten, die durch die Splügenbahn für
immer zu einer Lokalbahn degradierende Bodensee-Toggenburg-
bahn zu übernehmen.
Einem zürcher Blatt wurde vor kurzem geschrieben:
Ob auch die Ostalpenbahn kommt, der Kanton St. Gallen und teil-
weise auch die Stadt St. Gallen sind trotzdem Interessenten am Gotthard.
Wir fragen : Soll etwa der Gedanke der Fortführung der Bodensee-Toggen-
burgbahn über st. gallisches Gebiet hinaus wirklich begraben werden? Will
St-Gallen, das so viel Geld in diese Bodensee-Toggenburgbahn hinein-
gesteckt hat, diese als halbe Sackbahn bestehen lassen? Bern hat seinen
Lötschberg großzügig als durchgehende, groß angelegte Verkehrslinie aus-
gebaut. Warum soll St. Gallen nicht über seine Grenzen hinaussehen und
die Kantone Schwyz, Zug und Luzern ins Interesse ziehen? Damit die
Bodensee-Toggenburgbahn nach Projekt Grauer-Frei nach Zug zum An-
schluss an Luzern, an die Berner Oberland-Lötschbergbahn und an den
Gotthard g^aut wird, nicht heute und nicht in fünf Jahren, aber doch
einmal gebaut. Sieht man nicht, dass man damit die Bahn zum Dr . . .
hinausziehen würde? Für uns ist es klar, dass die Bodensee-Toggenburg-
bahn erst dann ein richtiges und rentierendes Vehikel wird, wenn sie durch-
gehend und mit dem Zentrum der Zentralschweiz verbunden ist. Da liegen
auch die Interessen, die St. Gallen zur neuen Gotthardvereinigung ziehen
sollte, ganz unbeschadet seiner Stellung zur Rhein-Bodenseeschiffahrt und
526
der Ostalpenbahn. Wir sehen Bern, Luzern, Basel und Zürich ihre Ver-
kehrspositionen verstärken — und in St. Gallen schläft man. Ist's wahr
oder nicht?
Wenn zwar diese Fortsetzung der Bodensee-Toggenburgbahn,
die erst deren wahre Bestimmung erschließt, über Zug gehen
würde, wäre das das Ende der Südostbahn. Es ist daher fraglich,
ob diese Linie je gebaut wird; jedenfalls nicht von den Bundes-
bahnen; und schwerlich würde eine Konzession dafür erteilt. Viel
natürlicher wäre der Anschluss an eine Qreinabahn. Diese Fort-
setzung nach Zug oder Graubünden wird aber untergraben, wenn
die finanzielle Grundlage der Bundesbahnen durch eine unrichtige
Lösung der Ostalpenbahn erschüttert wird.
Auch im Kanton und in der Stadt Zürich wird man gut tun,
sich nicht unbedacht der Splügenbewegung anzuschließen. Die effek-
tive Länge der Strecke Zürich-Mailand über den Gotthard be-
trägt 294 Kilometer. Sollte je der Tödi gebaut werden, so kann
sie um 20 Kilometer gekürzt werden, wenn man die Greinabahn
von Olivone direkt nach Castione und Bellinzona führt, statt sie
schon bei Biasca in die Gotthardbahn münden zu lassen. Über
den Splügen wären es 324 Kilometer, also 30 Kilometer mehr
als über den Gotthard; und warum sich Zürich für alle Zeit die
Möglichkeit einer kürzeren Verbindung mit Mailand abschneiden
soll, ist nicht einzusehen.
Die Aussicht auf eine Randenbahn geht Zürich und Schaff-
hausen verloren, wenn die Schweiz selbst den deutschen Bahnen
nahe legt, so viel Verkehr als möglich von Offenburg nach dem
Bodensee, an Singen, Konstanz und Schaffhausen vorbei, nach
Italien zu leiten. Was diese Art von Ostalpenbahnpolitik für
Zürich für einen Zweck haben soll, ist nicht einzusehen. Auch
wenn all diese Erwägungen nicht wären, so sollte man meinen,
bei den minimen Vorteilen, die der Splügen Zürich zu bieten
vermag, hätte es gar nicht nötig, der verstaatlichten Gotthard-
bahn und damit den Bundesbahnen überhaupt einen so großen
und unnötigen Schaden zuzufügen, wie dies mit der Splügen-
bahn der Fall wäre.
*
Im Bundesrat scheint man sich über den Ernst der Lage klar
zu sein. Es soll die entschiedene Tendenz herrschen, die Lösung
527
der Ostalpenbahnfrage so weit als möglich hinauszuschieben.
Man wolle erst die Wirkungen des Gotthardvertrags, der Verkehrs-
teilung mit der Berner Alpenbahn und, wie man den Worten des
Herrn Forrer und anderer entnehmen muss, des Rückkaufs der
Berner Alpenbahn abwarten, bevor man sich weiter festlegte. Man
spricht auch ganz allgemein von Zusicherungen, die nach dieser
Richtung während der Gotthardvertragskampagne gemacht worden
seien. Was daran wahr ist, wissen wir nicht.
Unter allen Umständen ist die Luft in eisenbahnpolitischen
Dingen heute sehr schwül, und muss jeden, dem an einer zweck-
mäßigen verkehrspolitischen Entwicklung der ganzen Schweiz ge-
legen ist, mit großer Sorge erfüllen.
Auf der einen Seite freut man sich, dass das jahrzehntealte
Sehnen des Kantons Bern, an eine internationale Bahn zu ge-
langen, endlich erfüllt wird und dass die Simplonbahn zu ihrer
wahren Bedeutung kommt. Die Berner haben seinerzeit alles
getan, um das Gotthardprojekt unter nicht geringer Selbstentsagung
zu fördern und haben nun Anspruch auf Gegenrecht. Aber wie
sich anderseits die Rückkaufspläne der Berner und eine baldige
Erfüllung der berechtigten Ansprüche der Ostschweizer ohne
enorme Schwächung der Bundesbahnen vereinigen lassen, das ist
zur Stunde vollständig dunkel.
Bei dieser Sachlage begreift man, wenn nicht nur die Freunde
der Ostalpenbahn, sondern alle, die für vernünftige Entwicklung
unseres Eisenbahnwesens Sinn haben, besorgt werden. Wie soll
der Bund noch eine weitere Alpenbahn bauen oder bewilligen
können, die sich großenteils wie der Lötschberg vom bisherigen
Gotthardverkehr nähren muss, wenn er bereits mit drei Alpen-
bahnen belastet ist?
Man vergegenwärtige sich doch einmal die ganze Lage: Der
Bund im Besitze dreier Alpenbahnen Gotthard, Lötschberg-Münster-
Grenchen, Simplon, wovon zwei uneinträglich sind. Nun soll im
Osten eine weitere erstellt werden, welche (wenigstens die Splügen-
bahn) drei andern Alpenbahnen des Bundes so viel Wasser ab-
graben wird, als nur möglich ist, dadurch, dass der Rheinverkehr
mit Umgehung von Basel, Zürich, Schaffhausen, Bern nach dem
528
Bodensee geleitet wird. Der Splügen wird ferner die Verkehrs-
teilung zwischen Gotthard und Ostalpenbahn auf itahenischen
Boden verlegen, worüber sich jeder mit einem Blick auf die Karte
Rechenschaft geben kann. Der deutsche Rheinverkehr wird sich
nach dem Bodensee hinziehen, aber nicht nach dem. schweizerischen
Ufer, sondern vorwiegend nach dem deutschen: Bregenz-Lindau
in erster Linie und nicht Rorschach und Romanshorn werden durch
ihn große Stapelplätze. Die deutschen und österreichischen Bahnen
werden alles tun, um den Verkehr bis Buchs auf ihren Linien zu
behalten. Damit ist natürlich auch die Randenbahn, wie schon
bemerkt, endgültig erledigt, so bald das fehlende Stück Immen-
dingen-Ludwigshafen gebaut sein wird.
Im Rheintal und in gewissen Teilen von Graubünden, vor
allem in Chur, möchte man den ganzen künftigen Ostalpenbahn-
verkehr an sich reißen und den andern Gegenden der Ostschweiz,
dem Toggenburg und Mittelthurgau, dem Glarner- und einem Teil
des Appenzellerlandes gar nichts oder so wenig wie möglich
lassen, obwohl diese Gegenden so viel Einv/ohner zählen wie die
schweizerische Splügenzone. Die außerhalb der Splügenzone lie-
genden Gegenden hoffen aber, in absehbarer Zeit durch den Tödi
an die Greinabahn einen Anschluss zu erhalten, wenn sie sich
auch darüber vollständig klar sind, dass der große Güterverkehr
immer den natürlichen Weg über das Rheintal einschlagen wird,
soweit dies die Konkurrenz der österreichischen und deutschen
Staatsbahnen zulässt. Wäre man sich darüber in der Ostschweiz
klar, so würden nicht die gleichen Leute, die tapfer gegen den
Gotth ardvertrag gekämpft haben, drei unkündbare Staatsverträge
für Verkehrsteilung mit Italien, Österreich und Deutschland als
erstrebenswertes Ziel in Aussicht stellen. Was das Schweizervolk
dazu sagen würde, brauchen wir nicht des nähern auszuführen.
Die Greinabahn bedingt keinen Vertrag mit Italien. Wir haben
genug an der Simplondelegation, die keineswegs die harmlose Ein-
richtung ist, als die man sie immer hinzustellen beliebt. Da bei
der Greina die Verkehrsteilung von Süd nach Nord sich auf
schweizerischem Boden vollzieht, so hat man viel größere Gewähr,
dass der Verkehr auf den schweizerischen Linien bleibt, und
auch wirklich durch das Rheintal geht. Das Greinaprojekt wäre
weniger harmlos für das Rheintal, wenn es sich darum handeln
529
würde, die Linie und später die Tödibahn durcli eine Privatgesell-
schaft erstellen zu lassen. Da aber nur die Bundesbahnen den
Bau ausführen werden, so behalten sie auch hier das Messer in
der Hand, insofern die Tödibahn gebaut werden sollte; sie werden
nur den Verkehr über eine Tödibahn leiten, der naturgemäß dort-
hin gehört.
Die Greinabahn ermöglicht für die ganze Ostschweiz Anschluss
an eine internationale Bahn, der Splügen nur für einen Teil der
Ostschweiz; das ist das Ungerechte an der Sache. Gerade der
Lötschberg beweist, wie absurd es ist, der Greinabahn den inter-
nationalen Charakter abzusprechen. Die Berner würden sich
dafür bedanken, wenn man ihre Alpenbahn zu einer bloßen Zu-
fahrtsstraße nach dem Simplon degradieren wollte. Die groß-
artigen Festlichkeiten nach der letzten Session der Bundesver-
sammlung beweisen, dass die gegenteilige Auffassung vorherrscht.
Die schweizerische Eisenbahnpolitik steht heute an einem
Scheideweg. Was einmal da ist: die große Schuldlast von 1600
Millionen und die enormen baulichen Aufgaben, lässt sich nicht
wegdisputieren. Bei vorsichtigem Betrieb der Bundesbahnen kön-
nen diese Schwierigkeiten auch überwunden werden. Aber in der
Ostschweiz und teilweise auch in Zürich scheint man zum Teil ob dem
Lötschbergjubel alle kühle Überlegung verloren zu haben, wenn
man meint, man könne die Baulast und die Eisenbahnschuld der
Bundesbahnen in den nächsten Jahren um etwa vier bis fünf-
hundert Millionen vermehren und trotzdem eine Ostalpenbahn
erzwingen, die auf eine nicht wieder gut zu machende Schwächung
des Gotthards und des Lötschbergs hinausgeht. Damit würde
nicht nur die Rendite der Bundesbahnen gefährdet, sondern die
Lösung aller wichtigen Verkehrsfragen in Frage gestellt, alles nur
wegen einer eisenbahnpolitischen Zwängerei und Rechthaberei. Die
Entwicklung von Graubünden beruht auf dem Ausbau der Räti-
schen Bahnen und erst ganz in zweiter Linie im Bau einer Alpen-
bahn, heiße sie wie sie wolle; der Kanton St. Gallen hat wahr-
lich kein Interesse, die Zukunft seines Sorgenkindes, der Boden-
see-Toggenburgbahn durch eine fatale Schwächung der Bundes-
bahnen zu untergraben, von denen er später einmal den Rückkauf
seiner „Staatsbahn" erwartet. Sicher ist, dass wir heute nicht
machen können was wir wollen. Die ungeheuren Eisenbahnlasten
530
im Osten und Südosten des Landes, im Kanton Bern und in
Genf, die Verpflichtungen des Bundes und der Bundesbahnen
gegenüber den Berner Alpenbahnen verbieten eine leichtfertige
Lösung der Ostalpenbahnfrage.
Die Eröffnung der Lötschbergbahn hat auf die Ostschweiz
nicht nur anregend gewirkt, sie hat auch durch das damit be-
wirkte erhöhte Risiko der Bundesbahnen das non possumus klar
gemacht, zunächst für die Erteilung einer Splügenkonzession.
Nichts hindert heute den Bund, den Staatsbetrieb einer Ost-
alpenbahn grundsätzlich zu beschließen; das kostet noch kein
Geld, aber beruhigt eine große Gegend und gestattet die Anhand-
nahme gewissenhafter Einzelstudien für eine möglichst nationale
und möglichst zweckmäßige Lösung der Ostalpenbahnfrage, die
auch gleichzeitig eine normale Entwicklung der Berner Alpen-
bahn gestattet.
BERN J. STEIGER
DDO
VEREINFACHUNG
DER
STAATSVERWALTUNG UND ERLEICHTERUNG
DER STAATSLASTEN
(Fortsetzung)
Wenn es sich aber darum handelt, wer am Wohnort für den
Armen einzutreten habe, so jedenfalls nicht in erster Linie der
Staat. Die Staatsarmenpflege ist ein müßiger Einfall, eigentlich
nur eine Ausflucht, um der Hedinger Initiative auszuweichen. Sie
muss nicht nur um dem Staat Kosten zu ersparen abgewiesen
werden, sondern aus der grundsätzlichen Betrachtung, dass gerade
das Armenwesen am allermeisten der Individualisierung bedarf
und daher am allerwenigsten sich für staatliche Behandlung
eignet; abgesehen davon, dass diese überhaupt zurückzuhalten
hat, soll man aus der Staatsmisere, dem zu viel Staat, heraus-
kommen. „Russland ist groß und der Zar ist weit", und so ist
es auch mit dem Staat dem Armen gegenüber; der Staat steht
viel zu hoch und zu weit ab vom Armen, um dessen Pflege
übernehmen zu können. Oder dann bedarf er gleichwohl aller
531
bisherigen Zwischenorgane, die aber nicht mehr so öl^onomisch
verfahren werden, weil es nicht auf ihre Kosten geht. Der Ver-
such mit ihr ist auch schon in Preußen (preußisches Landrecht)
und in Bayern gemacht, aber wieder aufgegeben worden, in
Preußen eigenth'ch bevor er gemacht war. Lasse man sich von
andern belehren; es ist doch nicht nötig, dass man sich immer
selbst die Finger verbrenne. Also lokale Pflege, wie bisher, nur
nach anderm Ortsprinzip.
Aber wer hat sie am Ort zu übernehmen? Auch nicht die
Gemeinde, so lange es freiwillige Vereine gibt, die sich dieser
Pflege und zwar in unparteiischer und ausreichender Weise widmen.
Dabei denken wir allerdings nicht an Vereine, die dafür ein
größeres und teureres Beamtenpersonal unterhalten als irgend ein
Gemeinwesen, sondern an freie und Ehrenämter im Dienste der
Charitas. Sogar die Heilsarmee hat größere Verdienste um die
öffentliche Wohltätigkeit, kann von dieser nicht mehr entbehrt
werden und muss schließlich dem Gemeinwesen noch den polizei-
lichen Fahndungsdienst versehen helfen. Es war entschieden
falsch, über solche Vereine hinweg eine amtliche Armenpflege
einzurichten und damit schließlich zu einer bureaukratischen Be-
handlung des für sie am allerungeeignetesten Zweiges der Wohl-
fahrtspflege zu gelangen. Ja, man muss wieder zur Bildung von
Armenvereinen zurückkehren, um diese Aufgabe besorgen zu
lassen. Das ist nicht ohne Beispiel; der Kanton Freiburg hat,
nachdem er zur Gemeindearmenpflege übergegangen war, von
Gesetzes wegen wieder das System der freiwilligen Armenpflege
in den Vordergrund gestellt, und zwar nicht nur weil die amtliche
Armenpflege zu teuer kam, sondern auch schlechter arbeitete.
Eine freiwillige Pflege, die halbwegs ihren Zweck erfüllt, ist
in jeder Beziehung vorzuziehen: sie richtet sich mehr nach den
Umständen und Bedürfnissen des einzelnen Falles; sie ist für den
Armen weniger bedrückend und beschämend, weil verschwiegener
als eine amtliche Armenpflege, und der Arme fühlt sich dabei als
Mensch unter Seinesgleichen und nicht bloß als Gegenstand oder
Opfer einer fremden, kalten und nur zu oft widerwilligen Sorge;
sie ist auch billiger, da mancher von seinem Überfluss hergibt,
was für die Hebung oder Linderung der Not des andern unter
Umständen vollkommen ausreicht, und, was vom größten Wert
532
für die Mitglieder selbst und die Gemeindegenossen überhaupt
ist, sie erzieht zum Altruismus, zur Teilnahme an der Sorge der
Armen und Unglücklichen, statt sie dem künstlichen, gefühllosen
Gemeinwesen zu überlassen. Und ein solcher Verein erfüllt
natürlich seine Aufgabe um so besser, ist um so kräftiger und
tätiger, je mehr Mitglieder ihm angehören; die ganze Gemeinde
gewissermaßen soll Einen Verein bilden, um sich gegenseitig, wo
es not tut, zu helfen, so dass sich davon auszuschließen als selbst-
süchtig und unehrenhaft erschiene und ein edler Wetteifer unter
den Mitgliedern nach Maßgabe ihrer Kraft und Zeit im Kampf
gegen Not und Unglück einträte. Alle für Einen; dadurch werden
auch alle einander näher gebracht, und nur das ist wahrhaft de-
mokratisch. Dabei kann sich die Gemeinde auf die Aufsicht und
Nachhilfe beschränken, um nur nötigenfalls mit obrigkeitlichen
Mitteln, dem Befehlsrecht, Polizeirecht und Steuerrecht, einzu-
greifen. Umso weniger braucht es den Staat, der über beiden
steht, und nur für das richtige Ineinandergreifen und Zusammen-
arbeiten der beiden vor ihm stehenden Organe zu sorgen hat.
Das ist eine ganz andere und die allein richtige Stellung des
Staates, in diesem Zweige der öffentlichen Wohlfahrt wie in
andern, leichter und billiger für ihn, und freier und segensreicher
für die gemeindlichen und individuellen Kräfte, die er in sich
birgt.
Eine solche Armenpflege beschränkt sich ihrer Natur nach
auch nicht auf die eigentlichen Almosengenössigen. Schon der
Makel dieses Namens fällt dahin. Es entsteht kein gelehrter und
sublimer Streit über das, was almosengenössig sei, um die Hilfe
nur denjenigen zuzuwenden, die gerade die Voraussetzung dieses
Begriffes erfüllen. Vielmehr wird überall geholfen oder zu helfen
gesucht, wo und soweit es not tut. Es kann eine Person oder
eine Familie, die nicht zu den dauernd Unterstützungsbedürftigen
gehört, momentan Mangel leiden; dem soll abgeholfen werden,
ohne lange zu fragen, ob der Name wirklich zur Liste der zu
Unterstützenden gehört. Je bälder das Loch zugestopft wird, um
so weniger zerfällt das ganze Haus, und eine baldige und aus-
reichende Abhilfe eines vorübergehenden Notstandes ist geeignet,
einem Falle dauernder Unterstützungsbedürftigkeit vorzubeugen
und so größere und bleibende Ausgaben zu ersparen. So bildet
533
diese Art Armenpflege den richtigen Übergang zu der andern
Sorge für Arme und Notleidende, der Sorge für das Proletariat,
der Sozialpolitik. Das amtliche Armenwesen ist in solchen Ruf
gekommen, dass ihm die Sozialpolitik eigentlich entgegengestellt
wird, um es zu unterdrücken und zu beseitigen. Die Armenpflege
wird aber nie ganz entbehrlich sein; in der besten der Welten
wird es immer noch Fälle der Not geben. Statt sich abzustoßen
sollten beide in einander eingreifen; die Armenpflege, um zu
halten und zu stützen, was die Sozialpolitik noch nicht aus aller
Not zu erlösen vermag; die Sozialpolitik, um der Armenpflege
die Sorge mehr und mehr abzunehmen und sie schließlich ent-
behrlich zu machen.
Für die Sozialpolitik handelt es sich darum, das Proletariat,
das heißt die große Masse des Volkes, die, um leben zu können,
täglich auf ihre Arbeit angewiesen ist, nicht in die Klasse der
Pauperi, der Almosengenössigen, die fremder Unterstützung be-
dürfen, versinken zu lassen, sondern ihre Lebenslage zu erleich-
tern und zu verbessern, sie möglichst selbständig und unab-
hängig zu machen. Gewiss soll sie wie die Armenpflege Gegen-
stand der Aufmerksamkeit des Staates und Gemeinswesen sein;
steht doch das Wohl der großen Masse der Bevölkerung auf dem
Spiel, nach dem sich das des Staates selbst bestimmt. Damit ist
aber wie bei der Armenpflege wieder durchaus nicht gesagt, dass
die Sorge dafür ausschließlich oder auch nur in erster Linie Sache
des Staates sei ; das Gemeinwesen hat nur darauf zu sehen, dass
es an dieser Sorge nicht fehle.
Der Staat hat im ersten Überschwang seines Mitgefühls für
das Proletariat zunächst die mancherlei Unentgeltlichkeiten obrig-
keitlicher Leistungen wie für Unterricht und Beerdigung eingeführt.
Aber diese Unentgeltlichkeiten haben nicht nur ihre Grenze, in-
dem die obrigkeitlichen Leistungen sich denn doch nicht auf alle
Lebensäußerungen erstrecken, sondern sie liegen dem Gemein-
wesen auch viel zu teuer an und sind denn seither auch nicht
vermehrt worden. Vor allem aber schießen sie über das Ziel
hinaus, indem sie auch den Wohlhabenden und Reichen zukom-
men, die solche Leistungen sehr wohl zu vergüten in der Lage
wären; insofern macht das Gemeinwesen noch Geschenke, was
gewiss ein Überfluss ist, namentlich wenn es selbst in Defiziten
534
und Schulden steckt. Statt der Unentgeltlichkeiten wäre ein pro-
gressives Gebührensystem vorzuziehen, das gestattete, auf Kosten
der Vermöglichen die andern um so mehr freizuhalten, ohne aber
auch ihnen (abgesehen von den Unterstützungsbedürftigen, für
die allein die Unentgeltlichkeit gerechtfertigt ist) die Leistung
völlig zu schenken. Geschenke machen Bettler, und der rechte
Proletarier will auch gar nichts geschenkt haben; nur soll er
nicht über seine Leistungsfähigkeit hinaus bezahlen müssen. Die
Unentgeltlichkeiten haben also auch noch eine demoralisierende
Wirkung, während ein rationelles Gebührensystem, außer dass es
dem Staat das ihm so Nötige zurückgibt, dem Einzelnen das
Gefühl der Selbständigkeit verleiht und ihn dadurch hebt und
kräftigt.
Die Hauptsache aber beim Proletariat bildet das Arbeiter-
verhältnis, und so erscheint dieses auch als der Hauptgegenstand
der Sozialpolitik. Einerseits handelt es sich darum, dass der
Arbeiter, solange er in Arbeit steht, vor Lebens- und Gesund-
heitsgefährdung und vor ökonomischer Ausbeutung geschützt
werde; anderseits ist gegen den Ausfall an Arbeit oder Arbeits-
verdienst, wodurch er seinen Unterhalt verlöre und der Unter-
stützung anheimfiele, Vorsorge zu treffen.
Das erste besorgt die Arbeiterschutzgesetzgebung, speziell
das Fabrikgesetz, und zwar ohne weitere Kosten für den Staat
als die jeder Gesetzgebung und ihrer Vollziehung und auf ge-
rechte Unkosten desjenigen, der aus der Arbeit den meisten Vor-
teil zieht, des Arbeitsherrn. Als der Kern ist ja wohl der Maxi-
malarbeitstag angesehen; dieser aber ist nur das Symptom einer
falschen Richtung. Es kann doch im Interesse des Kulturfort-
schrittes sozusagen nicht genug gearbeitet werden und jedem
rechten Menschen ist auch keine Arbeit zu viel; nur wäre dafür
zu sorgen, dass alle den ganzen Lohn für ihre Arbeit erhielten.
Auch durch die ganze Arbeiterschutzgesetzgebung ist dieser Zweck
noch nicht erreicht worden, der die große Arbeiterfrage ausmacht.
Die Sorge bei Ausfall an Arbeit oder Arbeitsverdienst, die
eigentliche Arbeiterfürsorge mit Arbeitslosenversicherung, Kranken-
und Unfallversicherung, Invaliditäts- und Altersversicherung, hat
der Staat anderseits ohne weiteres auf sich selbst nehmen zu
müssen geglaubt, und hat sich damit, soweit er die Idee ver-
535
wirklicht hat, riesige Lasten aufgebürdet oder steht im Begriff,
es zu tun. Das ist der Staatssoziahsmus, und den hat Bismarck
in Mode gebracht. Er hat sich aber dabei, wohlgemerkt, weniger
von einem Mitgefühl für das Proletariat, als vielmehr vom Streben
leiten lassen, dem Sozialismus ein Paroli zu bieten. Der Staats-
sozialismus hat denn auch alle Nachteile an sich, die schon an
der früheren Form des direkten Eingriffes des Staates zugunsten
des Proletariates und auch an der unmittelbaren amtlichen Armen-
pflege festzustellen waren: immense Kosten für das Gemein-
wesen und doch eine schlechte, weil schablonenhafte, bureau-
kratische Besorgung, und über alledem eine Verweichlichung und
Demoralisierung des Volkes, die darin liegt, dass man es ge-
wöhnt, alles vom Staat zu erwarten. Statt dass jeder sich zu-
nächst und möglichst selbst zu helfen sucht und dass der Staat
diese Privatinitiative fördert und bei ihr einsetzt, um erst und
nur in dem Maße nachzuhelfen, wann und soweit es nicht
anders geht.
Das Mittel aber für eine ausgiebige Privatinitiative bietet das
Genossenschaftswesen. Die Genossenschaften sind denkbar für
alle möglichen Lebensäußerungen und Bedürfnisse, und ihr Recht
und ihre Einrichtung sind bekannt genug, um überall zur An-
wendung gebracht werden zu können ; darüber ist hier nicht
weiter zu reden. Speziell zum Zwecke der Hebung und Stärkung
des Proletariates ist es ausgebildet worden und hat namentlich
in England eine vorbildliche Gestalt und Ausbreitung gewonnen.
Statt sich also ohne weiteres selbst vorzuschieben und dann so
unzulängliche Arbeit zu liefern, lasse der Staat die Genossen-
schaften vorgehen, muntere zur Bildung auf, wo es daran fehlt
und helfe nach, soweit es nötig ist; dann hat er seine Aufgabe
erfüllt, besser als auf dem andern Wege, und was für ihn die
Hauptsache ist, er behält freien Kopf und freie Hand. Die
zürcherische Verfassung, Art. 23, hat unsern Staat noch speziell
auf dieses Mittel verwiesen, ja es ihm zur Pflicht gemacht;
mache er die Vorschrift doch einmal zur Tat, und er wird sehen,
dass nicht nur denen, für die er sorgen will, damit am besten
geholfen ist, sondern auch ihm selbst und seiner Not; er wird
ja sonst noch selbst zum Proletarier und Almosengenössigen,
bis alles zusammen im gleichen Elend steckt. Er muss nur plan-
536
mäßig vorgehen, und er wird, je mehr er das Genossenschafts-
wesen zur Entfaltung bringt, sich mähh'g um so mehr erleichtert
fühlen. Eine nähere Wegleitung wird es hier nicht brauchen, die
ist ihm schon oft und viel genug gegeben worden. Und vielleicht
gelangt dann der Staat einmal dazu, nicht nur den Zusammen-
schluss von Arbeitern unter sich zur Stärkung und Kräftigung
des Proletariates zu fördern, sondern Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer zu Genossenschaften, Produktivgenossenschaften zu ver-
einigen, die sie ja tatsächlich bereits darstellen. Dann wird
durch die Genossenschaft auch Arbeit und Gewinn gerecht ver-
teilt werden und damit nicht nur die Not des Proletariates, son-
dern das Proletariat selbst beseitigt und die große soziale Frage
gelöst sein.
Nun noch zur Landschaft. Neben den Armen und Not-
leidenden ist diese mehr als bisher zu berücksichtigen. Wir sagen
nicht speziell „Landwirtschaft", obschon diese, was von vorne-
herein zuzugeben ist, den Hauptteil der Interessen der Landschaft
bildet; neben ihr gibt es aber noch andere landschaftliche Ver-
hältnisse, auch Industrien und Geschäfte der Landschaft, die von
der besonderen Sorge für die Landschaft Nutzen zu ziehen das
Bedürfnis und das Recht haben. Diese Sorge hat zum Gegen-
stand, einerseits einen größern Ausgleich zwischen Stadt und Land
herbeizuführen (äußere Landschaftspolitik) und anderseits die
Interessen der Landschaft selbst (innere Landschaftspolitik) mehr
zu pflegen.
Die äußere Landschaftspolitik besteht vor allem in einer mög-
lichst guten Verbindung von Stadt und Land, um den Verkehr
zwischen beiden zu erleichtern und zu heben. Dazu dienen die
Verkehrsanstalten, vor allem die Straßen, weiter die Posten und
die verbesserten Straßen, wie sie heißen, die Eisenbahnen. Solcher
Anstalten zwischen Stadt und Land können gewissermaßen nicht
genug sein, so lange sie nicht unnötiger- oder unnützerweise dem
Lande kulturfähiges Gebiet entziehen. Jedenfalls kommt es dafür
nicht auf die Kosten an, die kaum besser angelegt werden können.
Es ist aber erst jüngst von maßgebender Stelle aus erklärt worden,
wir hätten nur zu viel Straßen, ein Ausspruch, der vom Kosten-
punkte ausgeht und daher nicht wohl motiviert erscheint. Das
Sparen ist schon recht, und unsere ganze Abhandlung richtet
537
sich darauf, aber es soll nicht gerade auf Kosten des Landes
geschehen.
Eine Vermahnung dieser Art hätte eher die Hauptstadt nötig,
die sich auch in dieser Beziehung schwer übernimmt und über-
lastet. Die Ingenieure sind für ein Gemeinwesen was die Archi-
tekten, und statt sie nur zur Ausführung der nötig oder wenigstens
nützlich befundenen Anstalten zu gebrauchen, überlässt man ihnen
die ganze Leitung in diesem so kostspieligen Zweig. Die Straßen
kosten Geld, doppelt und dreifach, nicht nur positiv für Anlage
und Unterhalt, sondern auch negativ dadurch, dass, was vom
Privateigentum das Straßengebiet verschlingt, für Steuern und
andere öffentliche Auflagen verloren ist. Jede vorzeitige oder
übermäßige Straßenanlage ist eine insofern unnötige und schwere
öffentliche Belastung. Und wie viele „Zukunftsstraßen" werden
nicht in Zürich gebaut, auf denen zurzeit und noch lange hin
Gras wächst (sogenannte Außersihlerstraßen); und dann alles wie
Heerstraßen so breit, im Winter schneidend kalt und im Sommer
schattenlos heiß; nur in der Innern Stadt kann man sich noch im
Sommer vor der Hitze und im Winter vor der Kälte retten. Wir
wünschen zwar die alten engen Anlagen der befestigten Städte
nicht gerade zurück, aber alles, auch die Frei- und Breitlegung,
hat seine Grenzen. Über die Stellung der Trams zu den Straßen
wäre noch besonders zu reden. Nicht zu sprechen von den ewi-
gen Schürfungen und Erdbewegungen in den Straßen. Als ein
Pariser Gamin gefragt wurde, warum das Trottoir aufgebrochen
werde, meinte er: „Cest parce qu'un monsieur y a perdu deux
sous;" das heißt um nichts und aber nichts.
Mag die Stadt übrigens auch in dieser Beziehung wirtschaften
wie sie will, der Staat jedenfalls soll sein Geld dafür behalten,
um es eher der so nötigen Verbindung der Landschaft unter sich
und mit der Stadt zuzuwenden. Auch die Automobilsteuer, bei
deren Beratung die Straßenfrage aufgeworfen worden ist, gehört
dem Lande und nicht der Stadt. Sie ist laut ihrer Begründung
bestimmt, die infolge der außergewöhnlichen Inanspruchnahme
des Straßennetzes durch den Automobilverkehr dem Staate ent-
stehenden Ausgaben zu kompensieren, und das geht auf das Land;
abgesehen davon, dass, wie von den Landvertretern selbst betont
worden ist, das Land unter dem Automobilverkehr mehr zu leiden
538
hat als die Stadt, wo schon die Fahr- und Qeschwindigl<eitsverbote
gerade den Gefahren und Schädh'chkeiten des Automobilverkehrs,
denen das Land ausgesetzt ist, vorbeugen. Nichtsdestoweniger
die Hälfte der ganzen Gebühren für die Städte zu beanspruchen
machte der Bescheidenheit der städtischen Vertreter nichts.
Im übrigen hat die äußere Landschaftspolitik eine doppelte
Richtung: einerseits soll der sogenannten Abwanderung (missver-
ständlich auch Binnenwanderung genannt), das heißt dem Zug
oder der Flucht vom Land in die Stadt entgegengewirkt werden;
anderseits ist aber auch der Verkehr nach dem Lande zu heben
und zu diesem Zweck dessen Anziehungskraft zu verstärken.
Beide Arten von Maßnahmen beeinflussen freilich einander: was
den Zug nach der Stadt hemmt, erhöht das Beharren auf dem
Land oder gar den Zuzug nach diesem, und umgekehrt; aber die
Maßnahmen lassen sich doch darnach scheiden, je nachdem sie
das eine oder das andere zum ersten und eigentlichen Zwecke
haben. In der ersten Richtung wirkt die Abwanderungs- oder viel-
mehr Anti-Abwanderungspolitik. Dass die übermäßige Zuwanderung
nach den Städten verkehrt und verderblich ist, steht fest. Ver-
kehrt für den Einzelnen, indem die Hoffnung auf Besserstellung
in der Stadt vielfach eine Chimäre ist, die ihn erst recht der
Arbeits- und Verdienstlosigkeit und damit dem Elend überliefert;
verderblich aber für das Gemeinwesen nach beiden Seiten, nach
Stadt und Land: die Stadt wird mit müßigen und gefährlichen
Elementen überfüllt und das Land von den nötigen Arbeitskräften
entblößt. Dem entgegenzuwirken erscheint also nicht nur durch-
aus gerechtfertigt, sondern dringend geboten. Aber wie? Unsere
Sozialpolitiker stehen vor dieser Frage wie am Berg. Prinzipiell
ist die Antwort einfach: die besondere Attraktion der Städte zu
schwächen oder zu brechen. Wie das geschieht, richtet sich
darnach, was alles als solche Attraktion zu betrachten ist. Jeden-
falls soll der Staat nicht noch sein gutes Geld ausgeben, um die
Gelegenheiten der Anziehung zu verstärken oder zu vermehren,
und dazu gehören spezifisch städtische Veranstaltungen, das heißt
solche, die nicht wohl dem ganzen Staatswesen und also auch
dem Lande dienen können, wie Theater, Konzerte, Kunstsalons,
Museen, Lesezirkel etc. Dann auch eine ein- und durchgreifende
Beschränkung polizeilicher Bewilligungen für Wirtschaften, Ver-
539
gnügungslokale und -anlasse etc. Jedenfalls sollten einmal alle
irgendwie dubiosen Geschäfte dieser Art, Animierkneipen, ver-
schwiegene Tabakläden, ausgekehrt werden, wie der Augias-Stall
mit dem Besen des Herkules. Also nicht aus kalvinistischer
Sittenstrenge, sondern im wohlverstandenen Interesse einer ge-
sunden Politik; aber auch etwas mehr puritanischer Geist schiene
in der Stadt Zwingiis nicht unangebracht. Die Stadt wird wohl
auf ihre Eigenschaft als Großstadt nicht so eifersüchtig sein, um
den Abschaum einer solchen noch in Schutz zu nehmen. Staat
und Gemeinde könnten sich einiges an Polizei, Justiz und Ge-
fängnissen ersparen. Weiter: Verweisung von Fabrikgeschäften und
ähnlichem aus der Stadt durch Baugesetz oder Gewerbegesetz;
sie gehören auch nicht in dicht bevölkerte Wohnplätze, und zwar
nicht nur die sicherheitsgefährlichen, sondern auch die gesund-
heitschädlichen und lärmenden Betriebe.
Anderseits ist aber auch der Zug aufs Land zu fördern. Das
geschieht schon durch jene Verweisung privater Geschäfte aus
der Stadt, indem sie das zugehörige Betriebspersonal aufs Land
mit sich ziehen. Vielleicht dürfte die Anlage von weitern Ge-
schäften auf dem Lande begünstigt werden durch Ermäßigung
von Gebühren und Steuern, billige Überlassung von Staats- oder
Gemeindeland. Es bliebe der Stadt noch genug. Aber auch
der Staat selbst soll bei seinen Anstalten und Veranstaltungen
das Land besser berücksichtigen. Es war bei Beratung der heu-
tigen Verfassung beantragt worden, die Kantonsratssitzungen ab-
wechselnd auf dem Lande abzuhalten; schade um die Idee, aber
gerade die Landvertreter wollten nicht, sie kommen auch lieber
in die Stadt . . . Auch wären die Messen und Märkte zu beleben
und dafür der Hausierhandel abzustellen, der das Land nur ab-
grast und zudem das Bettler- und Stromertum groß zieht. Weiter
schiene eine größere Dezentralisation der Staatsanstalten angezeigt,
und zwar im Interesse nicht nur der Landschaft, sondern des
Staates selbst. Statt sie auf einem Platze und vorzugsweise in
der Hauptstadt und auf Kosten des Staates zu konzentrieren,
könnten sie über das Land, wenigstens auf die bedeutendsten
Bezirkshauptorte oder sonstige große Landgemeinden verteilt
werden, und diese würden sich gewiss mit Rücksicht auf die er-
höhte Nachfrage nach landwirtschaftlichen, industriellen und andern
540
Erzeugnissen, den vermehrten Verkehr, den sie dadurch gewännen,
zur Beteihgung an den Kosten bereit finden lassen. Au:h die
weitere Umgebung des gewählten Ortes hätte davon Vortc" ; sie
stände in näherer Verbindung mit der betreffenden Staatsanstalt
und hätte ihren Gewinn an der erhöhten Gewerbstätigkeit. So
bildeten sich eine Anzahl kleinerer Zentren im Lande, statt dass
alles der einen und einzigen Hauptstadt zufällt und zuläuft.
In den Städten gibt es Waisenhäuser mit mustergültiger Ein-
richtung und von großem Ruf; was aber hat das Land in dieser
Art? Wie verschieden ist darnach die Behandlung der armen
Waisen, die doch für ihre Herkunft nichts können. Ähnliche An-
stalten auch auf dem Lande zu errichten schiene ein dringendes
Bedürfnis, zu dessen Befriedigung das Land aufzumuntern eine
Staatshilfe segensvoll angewendet wäre. Auch die Kranken- und
Versorgungsanstalten des Staates, statt in der Stadt immer mehr
erweitert und vergrößert zu werden und den Staat allein zu be-
lasten, so dass er ihrer in jeder Hinsicht, aus Raum- und Geld-
not, bald nicht mehr Meister wird, ließen sich auf das Land ver-
teilen. Wie das Kasernensystem durch das sogenannte Pavillon-
system überwunden worden ist, so brauchte es nur einen Schritt
weiter, um zu dem hier gemeinten System zu gelangen, das sich
Landschaftssystem nennen könnte. Dass die Konzentration eines
Betriebes billiger sei, ist ein Satz, dessen Wahrheit sehr bald ihre
Grenze hat, von der an umgekehrt alles teurer wird, durch bureau-
kratisch vermehrtes Personal, durch vermehrte Nachfrage nach allen
Einzelheiten des ganzen Bedarfes. Überall bewirkt eben die Über-
treibung das Gegenteil. Und wenn es sich speziell um eine An-
stalt in der Stadt handelt, so kommen dazu noch die teureren
städtischen Preise für alles und jedes: für Grund und Boden,
Bauten, Personal, Lebensmittel etc. Man sehe sich nur die Staats-
rechnungen darauf an, und man wird bald inne, dass man es auf
dem Lande billiger haben könnte. Dazu für die Bedürftigen der
Vorteil größerer Nähe dieser Staatsanstalten, die schließlich allen
gleicherweise zugut kommen sollen; weiter der hilf- und bildungs-
reiche Einfluss auf eine nähere und weitere Umgebung.
Ähnliches gilt von der Irrenanstalt, die nachgerade zu einem
Pferch ersten Ranges geworden ist, in den man mit dem Gefühl
eintritt, als ginge es in jene Welt, wo es heißt: Lasciate ogni
541
speranza ! Je konzentrischer und daher größer alle diese Anstalten,
um so mehr muss natürlich auch die Individualisierung der Be-
handlung, die den guten und raschen Erfolg bedingt, darangegeben
werden, und um so mehr wachsen wieder die Kosten oder wer-
den gar nutzlos.
Auch mit der kantonalen Strafanstalt ist es so eine Sache;
sie steht zwar nicht mehr mitten in der Stadt, bildet aber den
Gipfel der Zentralisation. Sie gilt wohl als Muster eines Baues
dieser Art und des Qefängnissystems überhaupt; aber der Kanton ist
zu klein, um ohne Überanstrengung Allerweltsinstitute zu schaffen,
und wenn er es anders ebenso gut und billiger habe konnte, so
war das trotz geringeren Ruhmes vorzuziehen. Ja, wenn die
Nachbarkantone sich daran hätten beteiligen lassen! So aber
hätten für die leichteren Straffälle wohl gewisse Bezirksgefängnisse
ausgebaut werden können, die sich auch auf einfachere Weise
wieder erweitern ließen. Die zentrale Anstalt hätte sich dann
darauf beschränken können, die eigentlichen Kapitalverbrecher
und daneben etwa noch den Abhub der benachbarten Groß-
stadt aufzunehmen.
Endlich ein Wort über die Kantonsschule. Was hat diese
den Kanton Geld gekostet, und doch wird sie für den Andrang
bald wieder zu klein sein. Diesem aber durch Beschränkung der
Zulassungsbedingungen zu wehren, erscheint verkehrt; die Mittel-
schulen als Anstalten allgemeiner Bildung sollen dem freien Zu-
gang durchaus offen stehen. Hätte sich nicht die Mittelschule
teilen lassen, um die untern Klassen dem Lande, etwa den haupt-
sächlichsten Bezirkshauptorten zu übergeben? Der Staat hätte
sich die Hälfte der Kosten und mehr ersparen können und dazu
die übrigen Interessen erst noch besser gefördert. Für die Stadt
Zürich hätte dann wohl die alte, so frei thronende und impo-
sante Kantonsschule ausgereicht, und an den Mittelschulen des
Landes würde dieses, um sie zu bekommen, gewiss gerne mitge-
tragen haben. Die Eltern hätten die Jüngern Schüler noch mehr
bei sich, wüssten sie besser geschützt, weniger großstädtischen
Verführungen ausgesetzt, und die Unterbringung würde ihnen
leichter und billiger. Anderseits gewänne das Land nicht nur jene
materiellen Vorteile, von denen bereits die Rede war, sondern
nähme auch Teil an der geistigen Anregung und Bildung, die von
542
höheren Schulanstahen auszustrahlen pflegt; der Segen dieser
Bildung würde sich gleichmäßiger über Stadt und Land ausbreiten
und damit nicht nur dem Lande, sondern dem Staat im ganzen
dienen. Die Einrichtung wäre kein Experiment; sie besteht be-
reits in den Bezirksschulen von Aargau und St, Gallen, und diese
haben sich in einer Weise bewährt, die ihren bleibenden Bestand
verbürgt und sie zu vorbildlichen Schulanstalten erhoben hat.
Statt dessen sollen nun sogar die Stadtschulen von Winterthur
kantonal werden ! Sie bleiben ja wohl an der Stelle, aber sie sollen
auf den Kanton übergehen, und die Stadt selbst will sie ihm an-
hängen. Winterthur, das auf seine städtischen Mittelschulen so
eifersüchtig und so stolz war, und mit Recht, nicht nur deshalb,
weil sie immer in hohem Rufe standen, sondern weil es seine
eigenen, Winterthurs Schulen waren. Was würden die Geilfus
und Dändliker (Johann Jakob D.) dazu sagen? Die Welt kehrt
sich um. Oh, über diese Allesverstaatlichung!
Von der Universität ist hier nicht zu reden; sie lässt sich
als solche nicht dezentralisieren. Aber ob sie sich nicht zur eid-
genössischen hätte erheben lassen? Die Kosten wären ja wohl
nicht größer gewesen, und wenn auch, das Volk hätte dafür ge-
wiss das Plus noch gerne übernommen, und übrigens hätte ihr
zugelegt werden können, was an der Kantonsschule zu ersparen
war. Aber dazu hätte die bauliche Verbindung mit dem Poly-
technikum nicht gelöst werden dürfen; diese Verbindung hätte
sich gegenteils benutzen lassen, um die andere, die mit der Eid-
genossenschaft, herbeizuführen. Der Versuch wenigstens wäre
des Schweißes der Edeln wert gewesen und hätte Zürich den
Vorwurf einer spätem Generation erspart, die letzte Gelegenheit,
zu der ihm von Rechts wegen gebührenden Eidgenössischen Uni-
versität zu gelangen, verpasst zu haben. Statt dass die Universität
nun auf immer für sich getrennt und dazu auf dem schiefen Hang
steht, würde sich in Fortsetzung des Semperschen klassischen
Baues und auf der gleichen Ebene die eidgenössische Universität
neben ihrer Schwesteranstalt, dem Polytechnikum erheben: Poly-
technicum et Universitas Helvetiae! Die größte Anstalt der Welt!
Aber ach, die Eidgenössische Universität — ein Traum!
(Schluss folgt)
D D D
543
ELTERN UND KINDER
Wir entnehmen dieses Kapitel dem soeben im Verlag Julius Klink-
hardt in Leipzig erschienenen Buche von Oskar PWsXqx Die psychanalytische
Methode^ eine erfahrungswissenschaftlich-systematische Darstellung (Band 1
des „Pädagogium", einer Methodensammlung für Erziehung und Unterricht;
unter Mitwirkung von Prof. Dr. Meumann herausgegeben von Dr. Oskar
Messmer. Verlag von Julius Klinkhardt, Leipzig 1913. Preis 11 M.). Die
heiß umstrittene psychanalytische Methode, ursprünglich ein Verfahren zur
Heilung neurotischer Krankheiten, ist in diesem Buche als wichtige Beihilfe
für Erziehung und Nacherziehung geschildert. Wer bis heute von dieser
neuartigen Psychologie abgeschreckt worden ist, suche sich, bevor er aus
der missverstandenen Technik falsche Schlüsse zieht, zuerst mit den Er-
gebnissen vertraut zu machen, wie sie in den Schlusskapiteln des Buches,
niedergelegt sind. Neben den hier wiedergegebenen Ausführungen wäre
besonders auf das Kapitel Autorität und Freiheit, Askese und Entlastung
hinzuweisen, das die Gefahren einer vor kurzem gepredigten Erziehungs-
weise klarlegt. — Eine eingehende Besprechung des Buches soll in einem
unserer nächsten Hefte folgen. Einige nur Eingeführten verständliche Fach-
ausdrücke wurden im Folgenden durch allgemeines Sprachgut umschrieben.
Die psychanalytische Pädagogik legt großes Gewicht auf die
Prophylaxe. Sie hilft uns eine Menge von Elend vermeiden, das
heute auch von sonst tüchtigen Erziehern ahnungslos verschuldet
wird. Die Wichtigkeit der Vorbeugung sei denn auch bei der
elterlichen Erziehung betont.
Wir hörten, dass die Einstellung auf die Eltern für das Kind
sehr oft lebenslänglich die Einstellung auf die Menschen überhaupt
und das Leben bestimmt. Fast in jedem Zögling, der den Lehrer
hasst, in manchem Anarchisten und Religionshasser entdecken wir
einen verkappten Feind seines Vaters. Solche Revolutionäre machen
sich nichts daraus, selbst unterzugehen, wenn nur ihr Hass auf
seine Rechnung kommt. Mancher Don Juan kann nur deshalb bloß
'K]'i'.:,Kt Bruchteile seiner Liebe verschenken, weil sie noch in der
Kindheit und an der Mutter haftet.
«
In erster Linie ist von den Eltern zu verlangen, das sie dem
Zärtlichkeits- und Geltungsbedürfnis ihrer Kinder Rechnung tragen
und es in vernünftiger Weise befriedigen. Ich brauche in dieser
Hinsicht keine nagelneuen Dinge zu sagen, glaube aber durch die
Berufung auf unsre Untersuchungen der alten Forderung neues Ge-
wicht verleihen zu können. Wird das Kind allzu zärtlich und respekt-
544
voll behandelt, so wird es von ernsten Gefahren bedroht: die Be-
gehrlichkeit erwacht bis zu einem deutlich sexuell charakterisier-
ten Grade. Die Bindung an die Eltern wird allzu groß, wenn ohne
Anstrengung die süßesten Liebkosungen verabfolgt werden. Prallt
das Kind mit der rauhen Außenwelt zusammen, so flüchtet es sich
erschreckt ins häusliche Kinderparadies zurück und verschafft sich
durch Neubelebung der einstigen Kinderfreuden autistische (auf
sich selbst konzentrierte, gesundem Lebenswirken entfremdende)
Lust. Wir wissen, dass hier eine Hauptquelle der Neurose liegt.
Besonders wenn das Kind ohne wertvolle Leistung bei Krank-
heit mit Zärtlichkeit und Anerkennung überhäuft wird, gerät es
in ernste Gefahr, durch neurotische Leiden jene süßen Genüsse
unbewusst zu erschleichen. Wir hörten von Bettnässern, die Vater
und Mutter sich gefügig machen ; wir könnten aber auch eine
große Menge anderer Erpresser nennen. Allzu weiche Eltern, die
den Kindern das Beste geben, ohne auf Gegenleistungen von
ihrer Seite zu dringen, verpfuschen ihnen leicht das Leben.
Fast noch schlimmer wirkt jedoch die Verweigerung der
Zärtlichkeit und Anerkennung. Das Kind muss sein Liebesbedürf-
nis in der Wirklichkeit unterbringen lernen. Auch die Liebe ist,
wie Freud in einer unveröffentlichten Analyse sagt, eine Kunst,
die gelernt werden muss. Wird das Kind zurückgestoßen, bezeugt
man ihm keine Teilnahme, hört man seine Wünsche und Geständ-
nisse nicht an, so entsteht eine Verdrängung. Das Kind muss die
schon infolge der Nahrungsaufnahme und Körperpflege der Mutter
zugewandte Liebe ihr wieder entziehen, und wenn nicht ein neuer
Gefühlsträger, zum Beispiel eine Großmutter oder ein Lehrer,
bereitsteht, so wird Introversion (Flucht in sich selbst wie in ein
Schneckenhaus) die Wirkung der erotischen Abstoßung bilden.
Wir wissen, dass damit die Gefahr des Lebensüberdrusses, des
Menschenhasses, der Verschlossenheit und Verschrobenheit nahe
rückt; die sittliche Entwicklung, die Entfaltung der Persönlichkeits-
würde und Nächstenliebe ist ernstlich gefährdet. Sollen der
Menschheit die vielen sadistisch gerichteten Lehrer, Offiziere und
Staatsanwälte, die übelwollenden Vorgesetzten, die grämlichen
Lebensphilosophen erspart bleiben, so muss die Erziehung den
Geist des Wohlwollens stärker zur Geltung bringen.
545
Besonders dafür haben die Eltern zu sorgen, dass kein Minder-
wertigkeitsgefühl aufkomme. Nicht nur das Gefühl körperlicher
Benachteiligung ist zu vermeiden, sondern ebenso sehr, ja noch
vorsichtiger das der unverbesserlichen intellektuellen und mora-
lischen Indignität. Gewiss ist auch der Glaube an die vollauf ge-
nügende Körperlichkeit nötig. Besteht eine Organminderwertig-
keit, so zeige man dem Kinde die Möglichkeit von Kompensa-
tionen. Die Knaben bevorzuge man nicht vor den Mädchen, damit
nicht ein „männlicher Protest" bei diesen den Weg in die Neurose ein-
schlage (Suffragetten, aber auch gewöhnliche Neurosen). Schlechte
Schüler sollen auf die wichtigere Zensur des späteren Lebens,
aber auch auf den hohen Wert des pflichtmäßigen Lernens hin-
gewiesen werden. Hat sich einmal ein Minderwertigkeitsgefühl
gebildet, so pflegt es ungeheuer viel intellektuelle Kraft zu absor-
bieren, an die Stelle erquickender Lustzufuhr unproduktive Angst
zu setzen, das freudige Spiel freier Interessen an ein sklavisches,
qualvolles Sichhetzen zu tauschen. Mancher Vater, der den
schwächer oder anders begabten, bereits unter Verdrängung und
Fixierung leidenden Sohn durch den Hinweis auf die eignen Leis-
tungen anfeuern will, stößt ihn in schwere seelische Not und
entwendet ihm ein enormes Quantum nützlicher Seelenkräfte. So
kommt es, dass angeblich Schwachbegabte Schüler, die durch solche
Leiden in Arbeitshemmungen getrieben worden waren, nach
der Analyse sich als tüchtige Leute im Unterricht herausstellten.
Auch die Anerkennung soll von der billigerweise zu erwarten-
den Leistung abhängig gemacht und ja nicht verschwendet wer-
den. Freud legt mit Recht großes Gewicht darauf, dass der Zug der
Ichtriebe der Eroberung der Wirklichkeit dienstbar gemacht werde.
„Die Erziehung kann ohne Bedenken als Anregung zur Über-
windung des Lustprinzips, zur Ersetzung desselben durch das
Realitätsprinzip beschrieben werden; sie will also jenem das Ich
betreffenden Entwicklungsprozess (von Lust- zum Realitätsprinzip)
eine Nachhilfe bieten, bedient sich zu diesem Zweck der Liebes-
prämien von Seiten der Erzieher und schlägt darum fehl, wenn
das verwöhnte Kind glaubt, dass es diese Liebe ohnedies besitzt
und ihrer unter keinen Umständen verlustig werden kann."
Damit das Kind in ein normales Verhältnis zu Vater und
Mutter geraten könne, müssen beide untereinander in harmoni-
546
schem Verhältnis stehen. Freud bemerkt: „Die von ihrem Manne
unbefriedigte Frau ist als Mutter überzärtlich und überschwänglich
gegen das Kind, auf das sie ihr Liebesbedürfnis überträgt, und weckt
in ihm oft sexuelle Frühreife. Das schlechte Einverständnis
zwischen den Eltern reizt dann das Gefühlsleben des Kindes auf,
lässt es im zartesten Alter Liebe, Hass und Eifersucht intensiv
empfinden. — Die strenge Erziehung, die keinerlei Betätigung des
so früh geweckten Sexuallebens duldet, stellt die unterdrückende
Macht bei, und dieser Konflikt in diesem Alter enthält alles, was
es zur Verursachung der lebenslangen Nervosität bedarf." Ebenso
häufig ist wohl der andere Fall, dass eine Frau die Kinder des
ungeliebten Mannes gleichfalls verabscheut. Will sie dann pflicht-
gemäß ihre Abneigung bekämpfen, so verfällt sie in die Gegen-
reaktion einer Übererziehung, die erst recht in die Neurose treibt.
In solchen Situationen sollten die Kinder Fremden zur Erziehung
übergeben werden. Freud vertritt nach mündlicher Erklärung
den Gedanken, eine durch Wegnahme von zur Erziehung un-
tauglichen .Eltern entstandene Neurose sei weniger schlimm als
eine gänzlich verfehlte Erziehung.
Höchst wichtig ist sodann der Gesichtspunkt der stufenweisen
Ablösung von den Eltern. Weise Eltern erziehen ihre Kinder
nicht mit mehr Zwang, als zur Aneignung gesunder Lebens-
gewohnheiten unbedingt nötig ist. Sie wissen, dass nicht gehor-
same, sondern gute Kinder das Ziel der Erziehung bilden. Sie
wollen daher nicht überschätzt werden und hüten sich davor,
Furcht vor ihrer Person als herrschende Stimmung aufkommen
zu lassen. Sie gewähren ihren Kindern so viel Spielraum als
möglich und lockern mehr und mehr die Zügel. Wer den infer-
nalischen Grimm unzähliger Neurotiker gesehen hat, die bereit
sind, sich selbst zu vernichten, nur um den Vater zu quälen, der
weiß, dass diese Sätze keine Selbstverständlichkeit ausdrücken,
sondern ein Ideal, von dessen Verwirklichung wir meistens sehr
weit entfernt sind. Bleibt die durch Jesus einmal ums andre ge-
forderte Loslösung von den Eltern um der höheren Rücksicht
willen aus, so tritt Stillstand und Rückschritt ein. Auch die hoch-
547
begabten Juden und Chinesen blieben jahrhundertelang am Vater
hängen und erlebten eine Verknöcherung ihrer Kultur.
Nur aus der stufenweisen Entlassung aus dem Abhängigkeits-
verhältnis geht jene höhere, freie Pietät hervor, die dem Vater die
Liebe des Kindes schenkt und eine Segensquelle für beide bildet.
Zu solcher Erziehung gelangen jedoch nur Eltern, die selbst
von Komplextücken (unbewusste Vorstellungen, die krankhaft
den Willen beherrschen) frei sind. Die Fehler der Kinder sind
bis zu einem gewissen Grade ein Spiegel der Elternfehler. Nur
der innerlich freie, erzogene Mensch kann richtig erziehen. Für
jeden andern ist auch die ideale pädagogische Anleitung nur von
bescheidenem Werte.
ZÜRICH OSKAR PFISTER
D D D
AUF MUTTERS ARM
„Ja, das ist wunderschön
Auf Mutters Arm durch die Zimmer gehn
Und alles beachten
Und gut zu betrachten.
Aber heute — was ist denn das?
In einem hohen glänzenden Glas,
Da sieht man lachend in einer Stuben
Meine Mutter mit einem Buben!
Er patscht ihr wahrhaftig ins Gesicht,
Der dreiste Wicht,
Und stößt mit dem Köpfchen
Just wie ein Böckchen,
Und nun, fürwahr,
Lacht er noch gar
Und tut — als sei die da —
Seine Mama!
Und kneift ihre Wange,
Der kleine Range.
Du!
Lass mein Mütterchen in Ruh !
Die da
Ist meine Mama!
Patsch, patsch! Di-di da-da!"
JOHANNA SIEBEL
D □ D
548
ROMAIN ROLLAND
Dans la belle etude psychologique et litteraire qu'il consacre
ä M. Romain Rolland i), M. Paul Seippel definit avec une justesse
singuliere la loyaute intellectuelle de ce clair esprit. „11 s'affilie
ä la plus noble lignee fran^aise, ä celle de Port-Royal."
La singularite de ce jugement applique ä un romancier, un
dramaturge et un Historien contemporain n'est qu'apparente. II
suffit de relire le chapitre de Grandeur et misere de L'homme.
11 semble resumer les recherches de cette haute intelligence, si
passionnee de verite, si libre ä la proclamer. Et ce mot de
Pascal eclaire Jean-Christophe et les Vies hero'iques: „A mesure
qu'on a plus de lumiere, on decouvre plus de grandeur et plus
de bassesse dans rhomme."
Dans une epoque de decouragement et de doute, ce fut
l'inestimable merite de Romain Rolland de relever les preoccu-
pations d'une generation demoralisee en lui rappelant les grands
exemples du passe. Ils sont les gages les plus sürs de l'avenir.
Mais en exaltant cette dignite de l'homme, qui est la pensee, il
n'a pas detourne les yeux de la mediocrite oü se complait le
grand nombre. II n'en a pas souri. II l'a flageilee avec l'amere
violence d'une sensibilite blessee, qui crie de douleur et d'indi-
gnation. II n'est pas de ceux pour qui le hasard de l'accident
est la realite des realites. Pour les classiques, les idees generales
n'etaient pas de banales verites mais la somme des experiences.
Par cette predilection pour les speculations abstraites, et les pro-
blemes qui depassent les preoccupations immediates, Romain
Rolland s'apparente aux esprits universels qui ont toujours ete
une des gloires de la France.
Nul livre ne vient mieux ä son heure que cette etude sur
l'homme auquel l'Academie fran(;aise a rendu un si juste hom-
mage. Ce prix n'etait que la consecration officielle d'une oeuvre
que les lettres de tous pays mettent ä la place d'honneur. Le
livre de M. Seippel, ecrit par un ami, est le premier ä donner
le fil conducteur parmi l'abondance d'idees qui caracterise Romain
1) Paul Seippel, Romain Rolland. L'homme et l'ceuvre. Paris, OUen-
dorff. 1913.
549
Rolland. II penetre avec tact dans la vie d'un homme qui met
autant de soin ä la proteger contre l'indiscretion, que d'autres
ä l'etaler. C'est un portrait fait avec Sympathie. L'eloge clair-
voyant est plus rare que cette recherche des faiblesses et des
tares, communement confondue avec la critique.
M. Paul Seippel se vante d'avoir ete l'annonciateur de Jean-
Christophe. Si ce droit de priorite lui est peut-etre conteste, son
etude est la premiere ä resumer l'oeuvre dejä considerable de
Romain Rolland. Elle montre les grandes influences qui agirent
sur sa pensee et sur sa vie: le milieu familial, l'Ecole Normale,
l'universite, la musique, Tolstoi. Romain Rolland doit ä son
origine nivernaise cette gräce du langage et cette clarte d'intelli-
gence, cette delicatesse d'analyse bien fran^aise. La discipline
universitaire, l'histoire qu'il prefera ä la Philosophie pour echap-
per ä l'idealisme officiel, ont imprime ä cet esprit le mepris d'une
Observation superficielle, le sens des grandes lignes et des gene-
ralites hardies. Olivier complete Jean Christophe, dirige son
action passionnee, lui prete requilibre de sa raison claire et dega-
gee des contingences. C'est le libre esprit ä cote de l'intuition,
Eusebius et Florestan, pour reprendre une Image de musicien
chere ä Romain Rolland.
On ne dira jamais assez l'influence de la musique sur la
generation qui est actuellement dans l'eclat de sa force. Ce fut
une Sorte de religion pour des esprits egalement las d'un posi-
tivisme resigne et d'une croyance ruinee. Le plus mystique des
arts, et le plus abstrait, s'adresse directement au coeur. II est
curieux de noter la place que prirent dejä ä l'epoque de la
Plei'ade, puis des Encyclopedistes, les discussions musicales. La
musique est le dernier asile d'une sensibilite exquise, et qui
cherche son expression dans la solitude. Elle a domine en France
les dernieres annees du dix-neuvieme siecle.
La musique occupe une place importante dans la vie de
Romain Rolland, si bien qu'il put hesiter au debut entre les
deux carrieres. Wagner ne seduisait-il pas alors tous les esprits
par cette union de la parole et du chant, la plus forte expres-
sion du lyrisme? Romain Rolland, tres remarquable executant, se
contenta d'appliquer, ä l'etude des maitres, les methodes peu
usitees alors en France pour la musique. Sa these fut une his-
550
toire de l'opera Italien, des ses origines. II a trace des maitres
des portraits definitifs, d'une rare profondeur psychologique,
jugeant avec la meme impartialite, et la meme penetration, les
grands artistes d'aujourd'hui, et ceux d'autrefois. Ce ne sont
pas de simples critiques musicales, ces Essais qui traitent
du coeur meme de notre civilisation. La Vie de Beethoven est
peut-etre l'expression la plus haute et la plus nouvelle de cette
religion de la beaute par la souffrance. C'est par cette oeuvre si
emouvante, d'un accent si fort et si dechirant, que les premiers
admirateurs de Romain Rolland ont penetre dans sa pensee in-
time, et lui ont accorde cette confiance qui n'a fait que s'accroTtre
avec l'harmonieux developpement de son talent createur. Jean-
Christophe pouvait paraitre.
On comprend quelle fut, sur cette generation eprise d'art,
l'impression produite par les paradoxes de Tolstoi. La beaute
rayonnante, l'intelligence du grand ecrivain, ce realisme humain
qui montre l'äme au travers du geste et de la parole, avait rallie
autour de lui tous les esprits ecoeures par un materialisme indi-
gent et tyrannique. Les cruelles boutades de l'apötre de Jasnaia
Polania, denon(;ant comme Jean-Jacques le crime de la civilisation,
bouleversaient le dernier refuge d'un idealisme blesse: l'art. Elles
exciterent l'indignation des uns, la tristesse des autres. Romain
Rolland ecrivit ä Tolstoi pour lui exprimer ses incertitudes. La
reponse de Tolstoi etait „un veritable traite d'esthetique et de
morale, une ebauche de Qu'est-ce que l'art?"' Elle indiquait,
comme seul remede au mensonge de l'art moderne, le retour
au peuple, ä son art ingenu et vrai. L'art doit exprimer les sen-
timents de tous. II doit contenir la conscience religieuse d'une
epoque. Le peuple, n'est-ce pas le coeur humain? Cette con-
ception, Romain Rolland devait la faire sienne.
Elle apparait dans ses premiers drames, reunis plus tard
sous le titre de Theätre de la Revolution et des Tragedies de la
Foi. Elle est longuement, eloquemment developpee dans son
etude plus complete sur le Theätre du Peuple. Elle a ouvert de
larges horizons, trop lointains peut-etre, pour une generation qui
s'est arretee en route. Et ces regles genereuses ont ete peu
suivies. C'etait I'epoque oü la jeunesse inteliectuelle croyait aux
universites populaires et ä un pur socialisme. II y eut de lourds
551
mecomptes, et les desillusions que la politique et l'histoire in-
fligent ä la presomption humaine. Mais la valeur d'une cause
ne se juge point ä son echec ou ä sa reussite. Le retour au
peuple fut dejä fecond comme, naguere, le retour ä la nature.
C'etaient les bases de cette cEuvre oü Romain Rolland s'est
exprime tout entier: Jean-Christophe. Les dix volumes ont paru
dans un espace de huit ans, suscitant un interet toujours gran-
dissant. 11 faut se souvenir quelles passions soulevait ce genie
impulsif, bousculant, avec la joyeuse temerite d'un jeune Siegfried,
les gardiens de la civilisation moderne. Un ecrivain fran^ais choi-
sissant un musicien allemand pour faire le proces de son pays,
et de l'Europe entiere, quelle audace singuliere! On croyait re-
trouver dans Jean-Christophe les traits de Beethoven, de Wagner,
de Wolff, comme de Haendel et de Glück. C'etait, en realite,
une Synthese si forte de tous ces martyrs du gönie, qu'elle a
cree un type.
Romain Rolland ne blessait pas seulement les Conventions
de son milieu et de son pays, mais il attaquait de front les
puissances contemporaines, la bourgeoisie, la finance, la presse,
les universitaires et les artistes, l'hypocrisie politique et religieuse.
Je me souviens qu'il s'etonnait lui-meme de dechainer, par sa
calme sincerite, de si violentes coleres. II voulait ouvrir les
fenetres pour donner de l'air ä cette chambre de malade, ou ä
ce bureau d'affaire, oü etouffait la pensee. On l'accusait de bri-
ser les vitres. II avait denonce le mal de l'Allemagne pratique
et sentimentale, voilant sous une vertu de parade un feroce
egoVsme, dans l'orgueil delirant de sa force et de son luxe de
parvenu. II montrait Paris epuise par sa vie forcenee, sa soif
d'idees et de jouissances, inquiet, surmene, ballotte comme la
nef symbolique par les courants opposes, foire ouverte ä tous
les bateleurs de la politique, de la finance et de l'art. Mais parmi
les appetits brutaux, les etres purs et desinteresses n'etaient point
souilles par cette boue. Le sourire trop clairvoyant d'Olivier re-
pondait aux eclats de fureur ou de joie du Huron germanique.
A cöte de ces deux figures, l'une si loyale, si simplement heroi-
que, l'autre passionnee et vehemente, se nouent les destinees des
personnages secondaires. Chacun represente une opinion, une
classe sociale, un etre humain qui pense et qui souffre. 11 en
552
est qui restent des amis, d'autres que Ton a connus. II est des
pages de ce livre que Ton a vecues, qui restent comme les
deuils de notre propre vie. Peu de romans, depuis l'apparition
pathetique de Resurrection, ont ete accueillis, non seulement en
France, mais en Europe, avec autant d'emotion et de Sympathie.
Cette Oeuvre vivait avec l'auteur (eile faiilit meme etre
brusquement arretee par l'accident stupide qui mit les jours de
Romain Roiland en danger.) Elle etait le reflet de ses preoccu-
pations. Elle exprimait par lä les sentiments de tous ceux qui
n'avaient pas abdique leur dignite d'homme devant l'attristante
mediocrite contemporaine. On sentait l'äme d'un homme au
travers de cette oeuvre puissante et inegale, un grand souffle
d'amour pour les humbles et d'indignation contre tous les men-
songes sociaux, contre toutes les tyrannies et toutes les lächetes.
Parfois le roman semblait s'arreter pour laisser l'auteur epancher
sa colere ou son esperance dans des pages lyriques, ou une
digression d'histoire et de philosophie. C'etaient de singuliers
dialogues entre Christophe et son Ombre, une meditation d'Olivier,
analogues aux parentheses des moralistes anglais, ou ä certaines
conversations des personnages de Dostoiewsky. Une liberte ab-
solue de jugement, un amer souci de verite rendaient ces pauses
aussi captivantes que l'action, toujours forte et nombreuse comme
le cours irregulier d'un fleuve.
II est facile de reprocher ä ce roman sa longueur demesuree.
II est peu d'oeuvres auxquelles on puisse, de nos jours, adresser
une pareille critique. La tradition etait en quelque sorte renouee
avec ces etudes fortes et justes de la vie humaine, qu'on appelait
autrefois un roman. Ce roman peut etre l'epopee d'une race, d'un
peuple ou d'une epoque aussi bien que celle de l'individu. II en est
dans l'histoire litteraire de grands exemples. L'episode de Manon
ne doit pas faire oublier l'ensemble des Memoires d'un homme
de qualite. Les grands romanciers anglais Richardson, Fielding,
plus pres de nous Thackeray et Dickens ont consacre des volu-
mes ä depeindre avec minutie les evenements d'une famille ou
d'un etre humain. On a cite aussi les Miserables. Mais n'y a-t-il
pas une analogie plus evidente avec les romanciers russes, la
Guerre et la Paix, surtout? II ne faut point oublier que Jean-
Christophe est une sorte de Journal intime, et cette association
553
de la vie reelle ä une realite plus generale et reconstituee par
le genie createur, lui donne une grande force, comme ä Dichtung
und Wahrheit. L'auteur a d'ailleurs Tintention de condenser plus
tard cette oeuvre si diverse et si touffue; teile quelle, eile a sou-
vent l'accent unique des Confessions.
II faut en lire la tres complete analyse que M. Seippel en
donne dans son livre. Elle occupe, avec raison, la moitie du
volume. Jean-Christophe, c'est la pensee toute entiere de Romain
Rolland, du moins de ces dernieres annees. Le roman qu'il pre-
pare revelera une forme nouvelle de cet esprit qui ne se repose
jamais, surtout apres la victoire. Dejä les derniers livres de Jean-
Christophe sonnaient comme un choeur d'esperance et de foi en
l'avenir. 11s refletaient cette confiance en elle-meme qu'a retrou-
vee la France. Reprenant l'idee d'Empedocle, dont il fit jadis le
sujet d'un de ses drames inedits, Romain Rolland a montre
l'harmonie de l'amour et de la haine, les deux forces qui me-
nent le monde, et se disputent le coeur des hommes. L'une et
l'autre sont fecondes lorsqu'elles sont actives.
M. Paul Seippel a fort habilement eclaire, par des fragments
de lettres personnelles, l'evolution de l'auteur de Jean-Christophe,
son ascension souvent douloureuse sur les sommets du libre
esprit et du renoncement supreme. II a porte en lui cet ideal
des grands solitaires, cette foi dans le coeur humain qui possede
en lui son Dieu. II a aime la vie, pour ses souffrances, parce
qu'elle est l'acheminement vers la joie.
„Ni la tristesse d'une äme noble que la vie brutale a frois-
see, ni la claire vision de vilenies humaines, ni meme le gene-
reux pardon des offenses, ne sont le dernier mot de Romain
Rolland. Pour lui, comme pour Beethoven, la vie n'est que la
route ardue qui doit conduire ä la joie" 0-
M. Paul Seippel est de ceux qui n'ont point hele le bon
passeur en vain. Saint Christophe, tenant en sa main le rameau
qui verdoye, l'a fait toucher, ä travers le fleuve boueux, ä la
rive des pensees genereuses. Et ce livre est l'obole de son amitie
et de sa reconnaissance.
1) Paul Seippel, Romain Rolland, p. 246.
RENE MORAX
DD □
554
DIE ZIELE DER ÄRZTLICHEN
SEELENFORSCHUNG
Ein Überblick über die historische Entwicklung eines Lehr-
faches wird stets förderiich sein, wenn man sich über die Rich-
tungsiinien in der nächsten Zukunft klar zu werden sucht.
Die Erforschung der Störungen des Seelenlebens hing, wie die
Entwicklung anderer Zweige der Medizin, eng mit dem Auf- und
Niedergehen der menschlichen Erkenntnis in verschiedenen Kultur-
epochen zusammen. Der große Kliniker des klassischen Alter-
tums, Hippokrates, sprach schon mit bewundernswerter Klarheit
aus, dass Geisteskrankheiten Gehirnleiden seien, und dass die
Seele ihren Sitz im Gehirn habe. Dieser rein naturwissenschaft-
lichen Auffassung trat aber einerseits die philosophische, ander-
seits die dogmatische gegenüber. Schon Plato und Aristoteles
veriießen den Boden der reinen Beobachtung und bereicherten
uns mit Gedankengängen mehr spekulativer Richtung, die aber
die psychiatrische Forschung nicht wesentlich fördern konnten.
Im Mittelalter und noch weit darüber hinaus benutzte die Kirche
die Geisteskranken vielfach, um durch sie den Wunder- und
Besessenheitsglauben aufrecht zu erhalten und durch diese mysti-
schen Vorstellungen ein willkommenes Mittel zur Festigung ihrer
Macht zu haben. So bedurfte es mehr wie zweier Jahrtausende,
bis zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die Wissenschaft unter
Vorantritt von Esquirol den alten hippokratischen Standpunkt
wieder erreichen konnte. Um nicht mit zu viel Hochmut auf
kurzvergangene Zeiten der Entwicklung zurückzublicken, ist es gut,
sich daran zu erinnern, dass heute noch, auch in Mitteleuropa,
Teufelaustreibungen zur Heilung von Geisteskranken versucht
werden; ja es gibt noch ganze Krankenhäuser, in denen solche
Patienten von den geistlichen Leitern unter dem Gesichtspunkt
behandelt werden, dass ihr Leiden die Folge von Sünden sein
müsse. Und anderseits vertrat ein so vorurteilsloser Denker wie
Kant noch den Standpunkt, dass für die Beurteilung krankhafter
Geisteszustände der Philosoph besser geeignet sei wie der Arzt.
Wenn auch der Gebildete heute die Erkenntnis besitzt, dass
Geisteskrankheiten anderen körperiichen Störungen durchaus
555
parallel zu setzen sind, so wurzelt doch in den meisten von uns,
zum mindesten unbewusst, noch ein Teil jener alten abergläubi-
schen Vorstellungen; während man irgend eine andere ärztliche
Diagnose verhältnismäßig sachlich und kühl aufnimmt, betrachtet
man die Feststellung einer seelischen Störung als eine Schande
und wehrt sich möglichst dagegen. Da man aber das Vorkommen
geistiger Störungen in den extremen Fällen nicht wohl abstreiten
kann, so sucht man eine künstlich scharfe Grenze zwischen geisti-
ger Gesundheit und Krankheit zu ziehen, die es in Wirklichkeit
nicht gibt; wer jenseits davon ist, der gehört hinter die Mauern
der Irrenanstalt; dort soll auch das Feld des Psychiaters sein, und
wenn dieser es doch wagt, einmal aus diesem engen Wirkungs-
kreis herauszukommen, so wird sein Urteil von vornherein von
der Großzahl der Menschen damit abgetan, dass er ja natürlich
infolge seiner Gewohnheit alle Menschen für mehr oder weniger
verrückt ansehe.
Die Pflege Geisteskranker in besonders hierfür eingerichteten
und ärztlich geleiteten Anstalten wurde in unsern Ländern in
größerem Maße in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
eingeführt. Die genaue Beobachtung krankhafter Geisteszustände
seit dieser Zeit, unter Ausschaltung der Annahme irgend welcher
mitwirkender übersinnlicher Kräfte, ergab nun ein großes psycho-
logisches Tatsachenmaterial. Zu einem wesentlichen Teil von
dieser psychiatrischen Seelenforschung ging die Entwicklung einer
erst wenige Jahrzehnte alten Disziplin aus, die als Fortsetzung
der alten philosophischen Psychologie sucht, mit den Regeln der
exakten Naturwissenschaften eine Physiologie der Psyche zu
schaffen. Logischerweise musste diese experimentelle Psychologie
mit der Untersuchung der einfachsten psychischen Mechanismen
beginnen; es dürfte noch langer Zeit und der Auffindung neuer
Methoden bedürfen, um auf diesem Wege, so weit dies überhaupt
möglich ist, den höchsten, komplexesten psychischen Erscheinungen
näher treten zu können, mit denen gerade der Arzt so häufig zu
tun hat. Während die physiologische Psychologie damit beginnt,
die elementarsten seelischen Erscheinungen zu durchforschen und
sie in ihrem Aufbau zu zergliedern, ergründet der medizinische
Zweig der Psychologie durch Beobachtung und Zergliederung des
Seelenlebens in seiner Gesamtheit die komplizierteren Erschei-
556
nungen. Ein Gegensatz zwischen diesen beiden Richtungen darf
nicht angenommen werden. Beide Forschungsarten sind natur-
wissenschaftliche Lehrzweige, wenn auch bei der medizinischen
die Nachprüfung durch das Experiment einstweilen oft noch nicht
mögh'ch ist und so Fehlschlüsse leichter mitunter laufen können.
Es ist nicht vorauszusehen und nicht ohne weiteres wahrschein-
lich, dass die Methoden der rein experimentellen Untersuchung
imstande sein werden, die höchsten psychischen Erscheinungen
klar zu stellen. Sollte das doch möglich sein, so wird einst der
Tag kommen, wo sich die medizinische und die spezifisch experi-
mentell-psychologische Forschungsrichtung treffen und ineinander
aufgehen werden. Bis dahin werden sie sich in wertvoller Weise
ergänzen. Im folgenden sollen einige Ziele der ärztlichen
Seelenforschung ins Auge gefasst werden, so weit dies in Kürze
möglich ist.
Wie schon betont, ist die medizinische Psychologie heraus-
gewachsen aus der Beobachtung krankhafter Geisteszustände. Der
Geistesgestörte gibt dem Arzte Einblicke in die Tiefen des seeli-
schen Geschehens, die beim Gesunden nur äußerst schwer zu
erlangen sind. So gelingt es bei ihm zum Beispiel, Aufschlüsse
über den Ablauf der intellektuellen Funktionen, über den Zu-
sammenhang dieser mit dem Affektleben, und dann speziell wieder
über gesonderte Störungen des Gemütslebens zu erhalten, die
auch von der größten Bedeutung für die Kenntnis der entsprechen-
den Funktionen beim Gesunden sind. Die Abgrenzung klarer
klinischer Krankheitsformen ist selbstverständlich, wie in anderen
Zweigen der Heilkunde, eine der Hauptaufgaben der psychiatri-
schen Forschung. Um sie zu fördern, muss mit der Beobachtung
am Krankenbett die anatomische Zergliederung des Gehirns und
des übrigen Nervensystems Hand in Hand gehen.
So sieht man in der Tat, dass auf der einen Seite die Psychi-
atrie auf die psychologische Wissenschaft befruchtend und zum
Teil richtunggebend einwirkt, während auf der andern Seite be-
deutende Irrenärzte wieder die Fundamente für unsere anatomi-
schen Kenntnisse geliefert haben. Je weiter die Forschung hier
fortschreitet, desto häufiger werden die Berührungspunkte der
anatomischen und der psychologisch-klinischen Betrachtungsweisen
sein. So wie die Verhältnisse heute liegen, muss es aber doch
557
als wahrscheinlich bezeichnet werden, dass es eine Reihe von rein
funktionellen Störungen des Gehirns gibt, bei denen uns auch
das feinste Mikroskop im Stiche lassen wird und in deren Er-
forschung wir allein auf die psychologische Betrachtungsweise
angewiesen sein werden.
Hierher gehören vor allem jene zahlreichen Grenzfälle zwi-
schen geistiger Gesundheit und Krankheit, bei denen, meist auf
dem Boden einer vererbten Anlage, die Gleichgewichtslage zwischen
Intellekt und Gefühlsleben verschoben oder zu labil ist. Die Be-
kanntschaft mit dieser Art von Kranken macht der Psychiater in
ausgiebigem Maße in seiner Tätigkeit als gerichtlicher Sachver-
ständiger. Es sind ja gerade gewisse Klassen von seelisch halt-
losen Individuen, die beständig mit dem Strafgesetz in Konflikt
kommen und die auch dem Anhänger unseres jetzigen Strafsystems
immer mehr beweisen mussten, dass die Annahme eines freien
aber bösen Willens weder zur Besserung noch zur Sicherung der
Gesellschaft führe. Hier wurde nun der ärztliche Psychologe zu
Rate gezogen, und er konnte, auf seinen Erfahrungen an den
ausgesprochen Geisteskranken fußend, rein praktisch beweisen,
wie wenig die Annahme einer freien Willensbestimmung nach der
alten Auffassung den wirklichen Verhältnissen entspreche. Wenn
man zum Beispiel den Entwurf unseres schweizerischen Strafge-
setzbuches betrachtet, so springt dieser große Fortschritt ohne
weiteres in die Augen. Der rechtsbrechende Mensch wird hier
nicht mehr nur nach der schematisch festgelegten „Schuld" beur-
teilt, die er auf sich lud, sondern der Richter muss in die Motive
und in die ganze geistige Verfassung des Betreffenden sich ein-
leben, um darnach, mit feiner Hand abwägend, die geeignetste
Mischung von Sühne, die zur Besserung führt, und von Schutz-
maßregel für die Gesellschaft zu finden. Das Prinzip der Ver-
urteilung auf unbestimmte Zeit setzt an die Stelle der zufälligen
Verschuldung die Berücksichtigung der sozialen Gefährlichkeit;
es mag praktisch schwer durchführbar sein und deshalb einstweilen
wohl erst für die verzweifelten Fälle, wie zum Beispiel die immer
wieder rückfälligen schweren Verbrecher, Anwendung finden ; aber
schon seine Aufstellung bedeutet einen Sieg der psychologischen
Auffassung. Wenn heute eine große Zahl Juristen Schulter an
Schulter mit den Psychiatern für die Durchsetzung dieser neuen
558
Ideen kämpfen, so ist das ein erfreuender Beweis dafür, dass die
Wahrheit stets stärl<er ist als alte Dogmen und dass auch in ihr
die einzig wirkliche Zweckmäßigkeit liegen muss.
Häufig hört man die Ansicht, die Zuziehung eines Psychiaters
zu der gerichtlichen Beurteilung eines Angeschuldigten habe einzig
die Folge, dass der Betreffende nicht die Konsequenzen für seine
strafbaren Handlungen zu tragen habe. In Wirklichkeit ist meist
das Gegenteil der Fall, denn der unzurechnungsfähig erklärte und
als gemeingefährlich internierte Kranke ist für seine eigenen
Interessen gewöhnlich schlimmer daran wie der Verurteilte. Die
forensische Psychologie erstrebt, dass jeder, ob gesund oder krank,
die Folgen seiner antisozialen Handlungen zu tragen habe; sie
verlangt aber, dass diese Folgen der Psyche des Betreffenden und
insbesondere ihrer Beziehung zur Sicherheit der Gesellschaft
zweckmäßig angepasst seien. Wo heute Widersinnigkeiten in
dieser Richtung vorkommen, da liegt meist nicht ein Fehler des
Experten oder des Richters vor, sondern eine Unvollständigkeit
der Gesetzgebung oder der bestehenden Anstalten, an deren Re-
formierung in dem angegebenen Sinne mitzuarbeiten wir alle das
größte Interesse haben.
Auch bei der Bewertung der Zeugenaussagen und sonst auf dem
Gebiete des Zivilrechts spielt die exakte psychologische Betrach-
tungsweise eine immer wichtigere Rolle. Es würde zu weit führen,
hier auf diese einzelnen Disziplinen einzugehen. Ihre von Jahr zu
Jahr allseitig mehr anerkannte Wichtigkeit ist ein Zeichen ihrer
großen sozialen Bedeutung.
Das Hauptinteresse des Arztes wird sich aber nicht auf die
formellen und juristischen Fragen, sondern darauf richten, ob
durch diese Methoden zur Heilung und Verhütung geistiger Stö-
rungen beigetragen werden kann. Eine wesentliche Aufgabe be-
steht hier in der Abgrenzung bestimmter Krankheitsbilder bei
den ausgesprochenen Psychosen. Nur dadurch wird es möglich,
einigermaßen genau den künftigen Verlauf eines Krankheitsbildes
vorauszusagen, was wegen der sozialen Konsequenzen gerade bei
Geisteskranken besonders wichtig ist.
Die genauere Erforschung der Erblichkeit geistiger Störungen
hat uns gezeigt, dass eine familiäre Belastung mit den verschie-
denen Arten psychischer Abweichungen so gut wie nichts sagt;
559
mit anderen Worten ausgedrückt heißt das : wenn wir die verschiede-
nen Arten der erblichen Belastung nicht auseinanderhalten, so
ist der geistig Gesunde sozusagen ebenso stark „belastet" wie
der geistig Kranke. Anders verhält es sich, sowie es uns ge-
lingt, die einzelnen Arten der Störung auseinander zu halten und
das Vorkommen gleichartiger psychotischer Zustände nachzu-
weisen. Es scheint nach den neuesten Forschungen, dass sich
auf dem Boden einer solchen genauen klinischen Einteilung, zu
der die psychologische Durchforschung einstweilen noch unbedingt
nötig ist, eine exakte Erblichkeitslehre auch für die Geistes-
störungen wird aufstellen lassen. Wenn uns das gelingt, so kön-
nen wir die ihre Nachkommenschaft voraussichtlich besonders
stark belastenden Individuen zu ihrem und der Gesellschaft Nutzen
aus der Fortpflanzungsreihe ausschalten und damit Wesentliches
zur Verhütung geistiger Störungen beitragen^).
Die klinische Forschung hat ergeben, dass auch in gewissen
Fällen schwerer geistiger Störungen seelische Konflikte den Aus-
bruch der Krankheit oder wenigstens den eines Schubes der-
selben auslösen können. Ich denke hier besonders an die über-
aus häufigen Fälle von Jugendirresein (mit dem Fachausdruck
Dementia Praecox oder besser Schizophrenie benannt.) Die psy-
chologische Vertiefung in den einzelnen Fall wie in das Wesen
einer ganzen Krankheitsgruppe kann es ermöglichen, manchem
folgenschweren Konflikte vorzubeugen oder wenigstens so früh-
zeitig eine sichere Diagnose zu stellen, dass schweres Unglück
für den Kranken selbst wie besonders auch für seine Umgebung
verhütet werden kann. Wie häufig zum Beispiel kommt es vor,
dass Ehen unglücklich sind und der eine leistungsfähige Teil und
die Entwicklung der Kinder gehemmt wird, nur weil man nicht
sieht, dass die Ursache der Disharmonie in einer verkannten
psychischen Störung des andern Teils ihre Ursache hat. Selbst
wenn eine Heilung in dem betreffenden Falle nicht möglich ist,
so genügt oft schon die Erkenntnis, warum die Verhältnisse un-
haltbar geworden sind, um sie in der einen oder andern Weise
erträglich zu gestalten.
^) Siehe: Die Nordamerikanischen Gesetze gegen die Vererbung von
Verbrecfien und Geistesstörung und deren Anwendung, von Dr. Hans W.
Maier, und Kastration und Sterilisation von Geisteskranken in der Schweiz,
von Dr. Emil Oberholzer, Halle, Marhold, 1911.
560
Die größte praktische Bedeutung aber hat die ärzth'ch -psycho-
logische Forschung für diejenigen Krankheitsfälle, bei denen die
abnormen Erscheinungen, auf der Basis einer angebornen Dispo-
sition, im wesentlichen durch seelische Konflikte hervorgerufen
werden. Man hat diese Art von Krankheiten, im Gegensatz zu
den Geisteskrankheiten im engeren Sinne, als Psychoneurosen
bezeichnet; sie treten am häufigsten unter der Form von Hysterie,
Zwangs- und Angstzuständen auf. Es sind Leiden, die nicht zu
schweren organischen Störungen im Zentralnervensystem, zu irgend
einer Art von Verblödung führen, sondern die sich speziell auf
dem Gebiete der Gefühle, der Affektivität, abspielen. Es ist
ohne weiteres zuzugeben, dass die ererbte Anlage auch bei diesen
Störungen eine große Rolle spielt. Äußere Einwirkungen, die bei
dem einen Menschen psychoneurotische Störungen hervorrufen,
verlaufen bei dem andern ohne irgendwelche krankhaften Folgen.
Gerade die so wichtige seelische Durchforschung des gesunden
Menschen ergibt nun aber, dass auch bei ihm im unbewusst
bleibenden Teil der Psyche, oder im Traum, bei Ermüdung,
beim Einschlafen oder ähnlichen Zuständen die gleichen eigen-
tümlichen Mechanismen vorkommen. Zwischen den psychischen
Abläufen beim Gesunden und beim Psychoneurotiker scheinen
nach dem heutigen Stand der Beobachtung im wesentlichen quan-
titative und nur nebensächlichere qualitative Unterschiede zu be-
stehen.
ZÜRICH (Burghölzli) HANS W. MAIER
(Schluss folgt.)
D □ D
LE DERNIER ROMAN DE M. C.-F. RAMUZ
LA VIE DE SAMUEL BELET
Le roman contemporain en France est extremement riebe en oeuvres
remarquables, et cependant la France ne possede pas un nombre tres con-
siderable de romanciers authentiques. La forme „roman" sert ä etiqueter
beaucoup d'CEuvres, qui ne sont point romanesques, au sens propre du
mot — c'est-ä-dire epiques, puisque le roman est la replique moderne de
l'epopee, — mais dramatiques ou lyriques. En outre beaucoup de romans,
et des meilleurs et des plus justement apprecies, ne sont point des romans,
mais des contes etendus et tires en longueur, comme on dit dans le lan-
gage des redactions. Dans une etude fort penetrante qu'il a publice recem-
561
ment sur le Roman, M. Jean Müller remarquait que le roman dramatique
— celui par exemple d'Andre Gide ou de Claude Farrere, si dissembla-
bles que soient ces deux ecrivains — deviendrait inutile, et partant rare, le
jour oü la scene, debarrassee de la production industrielle qui l'encombre
serait rendue au veritable theätre, au grand theätre enfin, dont la raison
est l'etude des conflits. De lä beaucoup de romans qui ne sont point, ä
proprement parier, des romans, mais des pieces traitees sous la forme
exterieure et livresque du roman. L'homme qui assassina de M. Farrere
est con(;u et construit comme une piece — de lä son adaptation scenique
si facile — et beaucoup d'autres romans comme la Porte etroite ou Isa-
belle d'A. Gide sont, de meme, des pieces. D'autres romans sont des con-
tes, comme les romans de M. Anatole France ou ceux de M. de Regnier;
d'autres romans enfin, comme ceux de Mme Colette Willy ou de M^e Lucie
Delarue-Mardrus sont des effusions lyriques. Parmi tant d'auteurs de ro-
mans, je ne vois guere, en France, que MM. Paul Adam ou Rosny aine
qui soient de veritables, et meme, de grands romanciers. Encore une fois,
je ne parle pas de la valeur intrinseque des oeuvres, mais de leur interet
purement epico-romanesque.
Or, apres avoir lu le dernier roman de M. C.-F. Ramuz, on voit sans
difficulte que la Vie de Samuel Belet n'est ni un conte, ni une piece, ni
un volume d'effusions lyriques, mais un roman, au sens veritable du mot,
et que son auteur, est un veritable romancier. Mieux encore, M. Ramuz
possede sans conteste un des plus vigoureux temperaments de romancier
que les lettres fran^aises aient connus depuis longtemps. Bien entendu,
ii s'agit ici uniquement de la forme de son talent d'ecrivain et non point
de la matiere qu'il a traitee, ni de ses sources d'inspiration.
M. Ramuz a mis le recit dans la bouche de Samuel Belet. Au soir de
ses jours, alors qu'il tend ses filets sur le lac, Samuel a l'idee d'ecrire
l'histoire de sa vie: „Pourquoi t'en tirerais-tu plus mal qu'un autre, apres
tout?" pense-t-il. Et des que son travail est termine, il va ä la mercerie,
achete des cahiers d'ecole, une bouteille d'encre, des plumes, et il se
met ä ecrire. Au commencement ga ne va pas tout seul: „ä la place de
reculer, je m'arc-boutais contra les mots, poussant dessus de toutes mes
forces; il a bien fallu qu'ils finissent par ceder." Et Samuel Belet, arrive
au bout de son histoire, et sans craindre d'etre oublie, peut attendre la mort
„qu'il sent venir par derriere."
Jean-Louis Samuel Belet est ne ä Praz-Dessus, le 24 juillet 1840,
d'Urbain Belet, agriculteur et de Jenny Gottret, sa femme. Ä dix ans il
perd son pere, et ä quinze ans sa mere. Julien Belet, son oncle et tuteur
le „place" ä la Maladiere, la grosse ferme de M. David Barbaz, ä Verna-
min. M. David Barbaz est le plus riebe proprietaire de la commune. II
possede septante et quelques poses, vingt vaches, quatre bceufs et trois
chevaux, et Samuel est tres intimide lorsque son oncle le conduit ä la
ferme. 11 y fait son apprentissage de la vie. Mais M. Loup, un ancien
regent, veut le faire etudier. II lui prete des livres, et tous les quinze jours,
le dimanche, lui donne une le?on. Samuel prend goüt ä l'etude; il devien-
dra regent. Bientöt M. Loup l'envoie ä Roche, pour etre commis chez un
562
notaire. La vie est moins dure, le metier est plus facile, et il a du temps
pour lire et travailler. M. Loup lui obtiendra une bourse ä l'Ecole Nor-
male de Lausanne. Mais ä ce moment de sa vie un grand amour lui fait
perdre la tete. Melanie, une jolie fille, deluree et insouciante, et qu'il aime
avec passion, l'abandonne pour Jordan de la Baumette. II revient alors ä
sa premiere vie; il ne sera jamais regent. 11 erre ä travers le pays, travaille
de ferme en ferme, et un jour passe le lac. La commence une nouvelle
Periode de sa vie qui va durer sept annees. En Savoie il rencontre Du-
borgel, le charpentier avec lequel il se lie d'amitie. Ils travailleront ensem-
ble desormais, car Samuel a appris le metier de son ami. Un jour les deux
hommes partent ä pied pour Paris. 11s parcourent la terre de France. „De
longues files de peupliers dessinaient sur le ciel la courbe de route que
l'on ne voyait pas, ou bien s'en allaient toutes droites se perdre peu ä
peu dans la brume et l'eloignement. Par ci, par lä, la tour d'une cathe-
drale indiquait de tres loin la place d'une ville. 11 y eut de nouveau des
fleuves, et entre eux des canaux avec des chemins de halage sur lesquels
lentement des chevaux s'en allaient, tirant un grand bateau tout plat. Et
un homme marchait ä cöte du cheval, le fouet jete autour des epaules."
11s arrivent ä Paris, et Samuel fait la decouverte de la grande ville. Dubor-
gel, de son cöte, frequente les clubs socialistes et fait de la politique. II
ne reussit pas, cependant, ä convaincre le pensif Vaudois. Un soir, une
explication definitive les separe ä jamais, et Samuel est de nouveau seul
dans le monde. Peu de temps apres survient la ,,guerre de septante".
Samuel rentre au pays, et trouve du travail chez M. Guignard, le proprietaire
des Chantiers de la Veveyse. 11 prend pension h. la rue du Marche, chez
la veuve Louisa Chabloz, originaire du Pays d'En-Haut. Louisa est travailleuse,
douce et bonne, et Samuel ne tarde pas ä venir ä eile. Ils se marient, par
un beau jour du mois de mai. La pension de Louisa prospere, et Samuel
devient contremaitre. Tout irait pour le mieux, s'il n'y avait l'enfant que
Louisa a eu de son premier mariage. Louisa se doit ä son mari et ä son
enfant; or ces deux etres, qui lui sont egalement chers, ne s'aiment pas.
Elle en souffre, en devient malade, et ne tarde pas ä en mourir. Samuel
reste seul avec le fils de sa femme, pour lequel il se sent pris, brusque-
ment, d'une immense tendresse Tout ce qu'il y a en lui de bonte etd'amour,
il le lui donne. Mais l'enfant ne voit rien. II reste taciturne et ferme, et
il meurt lui aussi, six mois apres sa mere.
Samuel est de nouveau seul. N'ayant plus rien ä faire dans la ville oü
moururent les deux etres qu'il aimait, il vend sa petite maison, et s'en
va, ä pied comme jadis, sur la route du lac. Sans s'en rendre compte,
il retourne vers les lieux oü il vecut sa jeunesse, oü il souffrit de son
grand amour. II s'arrete au tournant de la route et reconnatt la terre
familiere. II songe ä sa vie, ä la misere des choses, et des sanglots lui
montent ä la gorge. II entre ä I'auberge et demande ä boire. A la table
voisine, un homme est assis, miserable et accable. Cet homme, Samuel le
reconnait. C'est le mari de Melanie, c'est Jordan de la Baumette, celui
qu'on lui a prefere jadis, Les deux hommes refont connaissance et boivent
jusqu'au soir. Ils parlent du passe, des hommes qu'ils ont connus, et dont
Samuel demande des nouvelles. Ils parlent enfin de Melanie. Puis Jordan
a une idee, une idee d'ivrogne:
563
„Viens voir Melanie, dit-il ä Samuel, eile n'est plus bien belle." Samuel accepte:
„C'est qu'elle etait belle autrefois! Ah! le joli cou qu'elle avait! et quelles jouesi"
Je m'apergus qu'il ne riait plus. Je n'en continuai pas moins:
— Et des bras durs, tu sais! . . .
11 me demanda:
— Qu'est-ce que tu dis?
Mais j'etais lance.
— Une peau comme de la soie! Et quelle bouche, quelle bouche! Et le goüt de
miel que sa bouche avait . . .
11 repeta:
— Tu dis?
Et comme il se dötachait en noir sur la fenetre gclairäe, je vis qu'il levait son fouet.
J'avais fini par trouver l'essieu: je voulus reculer, mais mon pied restait en l'air;
et la jument impatiente ayant fait un bon en avant, je roulai dans la poussiäre.
Apres s'etre releve, Samuel s'assied pour reprendre ses sens, puis il
reflechit: „Tu as quarante-deux ans, Samuel. Tu as peut-etre encore
bien des annees ä vivre. Comment vas-tu les vivre!'' U decide alors de
s'associer avec le vieux Ringet, le pecheur, qui habite une petite maison,
sur la rive du lac. Desormais ils tendront ensemble leur filets. 11 repare la
maison, achete une peniche neuve. Le pere Finget meurt, et Samuel est
definitivement seul, son aide venant travailler quand il lui platt.
Qu'importe maintenant ä Samuel la succession des jours et des nuits;
que lui importent les choses de la vie quotidienne? "Car tout est con-
fondu, la distance en allee et le temps supprime: il n'y a plus ni mort ni
vie; il n'y a plus que cette grande image du monde dans quoi tout est
contenu, et rien n'en sort jamais et rien n'y est detruit, c'est un degre de
plus, il faut encore le franchir; mais on voit devant soi se lever ce visage,
et c'est le visage de Dieu. Lui aussi j'ai appris ä l'aimer et ä le connattre ;
je sais qu'il est tout et qu'il est partout! . . . Quand je rame dans mon
bateau c'est en lui que je m'avance; quand j'aborde ä la rive c'est ä lui
que j'aborde; il est en haut, en bas, ä droite, ä gauche. 11 est ici, il est
lä-bas; il est cet arbre, il est la montagne; le lac n'est qu'un morceau de
lui, le soleil un morceau de lui, et tout n'est qu'un morceau de lui, jusqu'ä
la navette ä filet tombee, jusqu'au caillou que la vague arrondit."
Apres avoir lu Samuel Belet, j'ai relu Aline et les Circonstances de
la vie et Atme Fache, puis j'ai relu ä nouveau Samuel Betet. J'ai vu nettement
ä quel point ces romans se tenaient entre eux, se suivaient, s'enchainaient,
formaient un tout, mais j'ai vu aussi combien de livre en livre, le talent
de M. Ramuz s'epurait, se debarrassait de tout l'inutile, et combien son
expression tendait ä la simplicite, ä la justesse, ä Videntite' absolue avec le
sujet. On ne peut retrancher de la Vie de Samuel Belet ni une ligne, ni
un mot. Samuel raconte sa vie dans les termes meme dont un Samuel
Belet, parlant ä vous ou ä moi, se serait servi. Dans les romans prece-
dents, il y avait, malgre tout, quelques taches, et parfois l'on sentait le
procede, ou si l'on veut, la moniere voulue et forcee. Tel paysage, teile
Vision, teile pensee etait trop de l'auteur. Ici, ce n'est jamais le cas. Et
c'est ce que je voulais dire en parlant de l'identite absolue de l'expression
avec le sujet. En outre, ce qui fait la valeur de ce roman — comme d'ail-
564
leurs la valeur des ceuvres precedentes — c'est la richesse et la nouveaute
de la matiere. L'oeuvre de M. Ramuz, et avant tout Samuel Belet, est une
Oeuvre romande, une oeuvre vaudoise meme, mais c'est aussi une oeuvre
humaine, generale. M. Ramuz a realise cela. II fait entrer le roman ro-
mand dans les grandes lettres fran(;aises. Par lä, cette oeuvre est une date
dans Thistoire de notre culture, c'est meme une grande date. Nul n'a ex-
prime avec plus de force, de penetration et de verite l'äme vaudoise, l'äme
profunde, pensive et lente du vaudois. Je serais tres etonne, si les criti-
ques frangais — je parle des vrais critiques — ne reconnaissaient ä cette
oeuvre des qualites inedites, et ne lui trouvaient un accent nouveau.
Maintenant M. Ramuz s'est realise, non pas entierement sans doute,
car il evoluera, mais il s'est realise dans ce que son talent a de tangible
et d'evident. II est mattre de soi et de son art. Et pour un ecrivain
— un critique, meme — je ne sais rien de plus instructif, et meme de plus
palpitant, que la lecture de ses oeuvres, d'Aline ä Samuel Belet. Ce progres,
cette marche ascendante temoignent d'un talent, d'une volonte et d'une mai-
trise qui forcent Tadmiration. Et pour les ecrlvains romands, c'est une belle
et fiere le^on.
GENEVE GEORGES GOLAY
O D D
DIE SÜDSLAWISCHE FRAGE
IM HABSBURGER REICHE
Vor zwei Jahren ist das Buch von R. W. Seton über die südslawische
Frage in der Erstausgabe in englischer Sprache erschienen und erregte
berechtigtes Aufsehen. Nun liegt eine deutsche Übersetzung vor (Verlag
Meyer und Jessen, Berlin). Der Autor übt an der österreichischen Regie-
rungspolitik scharfe Kritik. Die diplomatischen Methoden des Grafen
Aehrenthal werden der Prüfung unterzogen. Seton sagt unter anderm : „es
liegt im Interesse ganz Europas, dass Diebstahl, Fälschung und Spionage
aus dem Bereiche der auswärtigen Politik endgültig ausgeschlossen werden."
Der Zweck des Buches ist, das Erwachen des Nationalgefühls bei den
Kroaten und Serben der Doppelmonarchie zu schildern und die kroatisch-
serbische Einheitsbewegung der letzten Jahre eingehender zu behandeln.
Ein Teil des Werkes schildert die Annexion Bosniens und die daraus ent-
standene internationale Krise. Das Buch von Seton-Watson hatte einen so
durchschlagenden Erfolg zu verzeichnen, weil es eine lebendige aus der
direkten Anschauung heraus gewonnene Kenntnis der Verhältnisse verrät
und die südslawische Frage nicht allein als Nationalitäten- und Rassenfrage
zur Darstellung bringt, sondern auch die geschichtlichen und ökonomischen
Grenzgebiete in die Erörterung einbezieht. Die Engländer sind anerkannte
Meister der knappen und klaren Darstellung; das Buch von Seton ist ein
neuer Beweis dafür. Auch die rein historischen Partien sind sehr anziehend
565
geschrieben und vermitteln auch Uneingeweihten rasch die Kenntnis des
Allerwissenswertesten. Die Misere, unter der die Südslawen leiden, tritt vor
allem in dem vierten Kapitel des über 600 Seiten umfassenden Buches be-
sonders hervor; hier wird der Ausgleich zwischen Ungarn und Kroatien
dargestellt (1868) und im folgenden Kapitel die Verhältnisse des Landes
unter dem Dualismus geschildert (1868—1905). Ein besonderer Abschnitt
ist der hochragenden Persönlichkeit des Bischofs Stroßmayers gewidmet
mit seinen Verdiensten um die Wiedergeburt der kroatischen Kultur. Die
Annexion Bosniens und der Agramer Hochverratsprozess, der Friedjung-
Prozess führen auf die neue Zeit hinüber. Seton bringt überall originelle
Betrachtungen. Man fühlt es heraus, wie intim er mit Land und Leuten
vertraut ist. Das offizielle Österreich muss sich in diesem Werke eines
neutralen Zuschauers eine scharfe, berechtigte Kritik gefallen lassen. Über
zwanzig Beilagen bilden die dokumentarische Fundierung des groß ange-
legten Werkes. Da findet sich auch der Briefwechsel zwischen Bischof
Stroßmayer und Qladstone. Das Bindeglied zwischen dem kroatischen
Bischof und dem britischen Staatsmann war Lord Acton, Verfasser der be-
kannten Quirinus-Briefe aus dem Vatikanischen Konzil, ein intimer Freund
Döllingers und später Professor der Geschichte an der Universität Cambridge.
Acton war am Vatikanischen Konzil in den Jahren 1869/70 ein Mitkämpfer
Stroßmayers gegen das Unfehlbarkeitsdogma. Lord Acton erkannte die
geistige Verwandtschaft zwischen Stroßmayer und Gladstone und machte
den Versuch, sie zusammenzubringen. Dieser Briefwechsel enthält wahre
Prachtsstellen. Der erste Brief an Gladstone datiert vom 1. Oktober 1876
und er beginnt mit folgenden Sätzen: „Erlauben Sie, dass auch ich Ihnen
aus dem Innersten meiner Seele danke für die großmütige Initiative, die Sie
vor Ihrer ausgezeichneten Nation und vor der ganzen zivilisierten Welt er-
griffen haben zur Verteidigung der Rechte, der Humanität und der Freiheit,
für die im gegenwärtigen Momente die armen Südslawen so Unsägliches
leiden und Ströme Blutes in einem ungleichen Kampfe vergießen."
Der Ton zwischen dem Bischof und Gladstone ist mit jedem Briefe
herzlicher geworden und nach wenigen Monaten schon schließt eine dieser
Korrespondenzen des Bischofs von Bosnien mit den Worten: „Genehmigen
Sie, teuerster Freund, den Ausdruck meiner intimsten und respektvollsten
Verehrung und Freundschaft, mit der ich mich zu zeichnen die Ehre habe,
Ihren Freund und Bewunderer."
Am 19. September 1882 beglückwünscht der Bischof Gladstone „zum
großen und entscheidenden Sieg" des britischen Heeres in Ägypten. Die
britische Politik bedeute unter seiner weisen Führung „überall in der Welt
die Gerechtigkeit und die Freiheit". Gladstone schrieb am 12. Oktober
1882 seinem „venerable eveque et eher ami" unter anderm : „Quant aux
Slaves du Sud, nous pouvons esperer beaucoup de progres ä l'avenir et
nous feliciter du grand oeuvre d'emancipation qu'on a en grande partie
accompli."
ZÜRICH PAUL GYGAX
DDO
566
ANMERKUNGEN ZU BÜCHERN
DAS HERMANN BAHR-BUCH
GERHART HAUPTMANNS FESTSPIEL
Geist kann nicht bezahlt werden, darum kostet das dreihundert Seiten
lang geistreich ausdauernde Hermann Bahr-Buch nur eine Mark. Alle die
vielen Hermann Bahr, die doch nur einer sind, sprechen und widersprechen
sich da über die großen und kleinen Bagatellen des Lebens. „Sage mir
Graf Orindur, woher dieser Zwiespalt der Natur?" Nämlich in diesem
Hermann Bahr, der die „Königlich-Kaiserliche Post- und Telegraphendirektion
für Österreich" eines Essays würdigt und doch noch Zeit findet als ein
Europäer großen Stils zu behaupten: „Es wird heute zwischen Wolga und
Loire, von der Themse zum Guadalquivir nichts empfunden, das ich nicht
verstehen, teilen und gestalten könnte; die europäische Seele hat keine
Geheimnisse vor mir." Als Österreicher grollt und schmollt er — natürlich
„unter dem Strich" über das pensionierte Gewissen seines Vaterlandes.
Von Wien plaudert er aus, es verzeihe alles, nur eines nicht : die geistige
Größe. Da Bahrsche Feuilletons doch noch keine Dynamitpatronen auf
dem Frühstücksteller eines Wieners legen, ist der Wiener und ganz Wien
boshaft genug, grade Hermann Bahr — also einer Größe — zu verzeihen,
und schmunzelnd wird er gefragt: Lieber Raunzer, warum klebten Beet-
hoven, Schubert, Grillparzer, ja Hebbel an Wien — der Apfelstrudel wegen?
Übrigens in der Liebe zum Theater überwieuert der Salzburger Bahr
alle Wiener. Sein Lächeln, sein Witz, sein Ärger, seine Feder, seine Arbeit,
seine Sehnsucht, sein Zweifel dichten und denken ja für die Abendstunden
zwischen Acht und Elf, in denen der Vorhang vor dem sublimierteren
Leben aufrollt. Ein echt Bahrsches Paradoxon: Er nimmt das Theater
ebenso ernst, wie er es selber leicht bedient. Er hat den Dialog aus seiner
Erdenschwere befreit und mit seiner nonchalanten Art Schule gemacht.
F. Saiten, R. Auerheimer, A. Schnitzler wissen, woher ihr eigener queck-
silberner Dialog kommt. Von Bahr, oder von Paris, wo dieser zuerst seine
Sätze gleichsam parfümierte, bis er lernte in einem Satz einen Aufsatz
schreiben. In Paris kleidet sich der Stockösterreicher in den Europäer
um, der fortan den ganzen Kontinent bewohnt, bald Paris, London, Berlin,
Rom, Athen, Petersburg und natürlich Wien. Dadurch befähigt, großzügige
Parallelen zu ziehen, wachsen seine an keinen Meridian gebundenen Inter-
essen ins Riesengroße. Überall entdeckt er in der Kunst jungfräuliche
Erde. Er ist dabei, wenn man den Geburtstag des Naturalismus feiert, er
ist dabei, wenn man ihn als „einen Zwischenakt" erledigt; wenn heute ein
resolutes Talent seine Fühler ausstreckt, so ist morgen Hermann Bahr
schon sein Impresario; wenn er auf unsere deutsche Zunge kaum den
Namen Bernhard Shaw gelegt hat, ist auf seinen Lippen Gaisworthi schon
heimisch geworden. Darf man seinen Göttern glauben? Entdeckte er wirk-
lich die Creme der Literatur? Aber wirklich, Hermann Bahr hat uns seit
Jahrzehnten immer in die beste Gesellschaft geführt, wenn anders uns die
von ihm gepriesenen Maeterlinck, Barbey d'Aureviily (dessen Georges Brum-
mel jeder lesen sollte), Maurice Barres wertvoller sind . . . sagen wir, als
Fran(;ois Coppee und Paul Bourget, der Ältere. Aus dem elastischen Cha-
rakter des Österreichers hat Bahr einen Funken Genie geschlagen. Mit
567
gertenschlanker Geschmeidigkeit fühlt er sich in seine Zeitgenossen ein,
unterliegt großen Eindrücken in so nervenzarter Weise, dass auch wir unter-
liegen. Man hat Bahr vorgeworfen, er wechsle jedes Jahr seine Über-
zeugung — oft auch zweimal. Das Bahr-Buch lehrt uns sein Bekenntnis
ethischen Impressionismus: Charakter hat, wer Gesinnungen revidiert.
Durch solche Revisionen hat Bahr — ein besserer literarischer Talleyrand
— sich aus der Jugend von gestern immer wieder in die Jugend von heute
balanciert. Für diese fröhliche Kunst dürfte man dem Fünfziger fast gra-
tulieren, wenn man es nicht lieber unterlassen sollte, weil er wie das Hof-
rätchen NegrelH im „Krampus" sich entrüsten könnte: „Es ist eine große
Gemeinheit, seinen Mitmenschen stets daran zu erinnern, dass er weniger
jung wird." —
Gerhart Hauptmanns Festspiel zur Erinnerung an den Geist der
Freiheitskriege! ~ Pfui Deibel! sagte der hohle Philisterdarm, dem's
nicht ans Herz ging, denn „brennt man den Hammel an der Stirn, bleibt
unbewegt sein dumpfes Hirn" (sagte schon vor dem Philister ein Gerhart
Hauptmann). Hm! hm! pipsten die kritischen Leisetreter, die den Daumen
nicht auf die Schwächen zu drücken wagten. „Hosianna!" der Kometen-
schweif von Hauptmanns blinden Freunden. Und einige wenige zuckten die
Achseln. Soso, lala! Man sollte das Festspiel lesen, wäre es bloß, um
den Goetheschen „Epimenides" noch herzlich schlechter zu finden, über
den die Goethephilologie soviel schwindelt. Aber man würde zweckvoll
vergleichen, dass beide Dichter zwar auf die Heringsware landesüblicher
Begeisterung feierlich verzichteten, aber dafür nichts besseres gaben als die
mythologische Rumpelkammer. Goethe wünschte damals alle Wunder der
Regietechnik; die Blößen zu Hauptmanns Werk hat Reinhardt (wie der
barmherzige St. Martin mit seinem Mantel), mit der Pracht seiner Vorhänge
und seinen ehrlichen und listigen Künsten verdeckt. Goethe und Haupt-
mann! . . . Oh, ich will dem Dissertationsthema von 1920 nicht vor-
greifen. Sicher ist, dass Hauptmann mit dem Rücken gegens Publikum
schrieb, dass keine Genieblitze ihn umzuckten, als er vielleicht in einem
englischen Klubsessel an Hans Sachs dachte und Knittelverse schrieb,
an Goethe dachte und den Theaterdirektor ins Festspiel schmiss, und wieder
an Goethe dachte und mit Allegorien dem Volk Steine statt Brot gab.
Aber an die Riesenhalle in Breslau dachte er nicht, der man die Welt-
geschichte mit den Puppen an Drähten nicht erklären soll ; denn ein
Festspiel ist immer patriotisch zugeschnittene Geschichtstunde, in der man
das Beste, was man weiß, den Buben (und ihren Vätern und Müttern) doch
nicht sagen darf. Hauptmanns ironische Geschichtsphilosophie durchfröstelt
allerdings das patriotische Normalherz. Aber der winzige Puppenkram und
die dressierten Riesenmassen, die sich über die Bühne wälzen, ergeben
Kontraste. Ich werde den Gedanken nicht los, dass der böse Dämon
Gerhart Hauptmanns in diesem Festspiel — Ma.x Reinhardt hieß, dass
die Massenszenen gleichsam in Regiepläne hineingedichtet werden mussten,
dass Hauptmann hie und da geradezu von einem Einfall dispensiert
wurde, damit optische und akustische Einfälle der Regiekunst textlich
und gedanklich nicht gehemmt wurden. Vom „Mirakel" her kennt man
den großen mystischen Dämmereindruck des Riesen-Domes. Im Festspiel
568
I
wallt wieder ein feierlicher Zug in den Dom. Das Wort kann mit diesem
Schaugepränge nicht konkurrieren. Der eigentliche Zweck der Revue aber
ist erreicht. So tauchen auch die Helden und Dreiviertelsheroen nur zu
flüchtiger Apparition auf und ducken sich wieder unter die Rampe — jed-
weder Tat frei. Nur Napoleon ! Der drängt sich schon als zwölfjähriger
Knabe vor, einen Kreisel herrisch regierend. Der dröhnt und hämmert
Worte, strotzt in Machtgebärden, wächst eben aus dem Zwergformat in das
Maß des Zeus von Otrikoli. Zeus-Napoleon in der Glorie, ihm zu Füßen
der deutsche Adler! Nein, deutsche Kriegervereine können nie begreifen,
dass ein Dichter die Größe der Nation ehrt, wenn er ihres Gegners
Größe nicht schmälert. Es ist gewiss, dass Hauptmann den Korsen so-
zusagen mit Ausschluss der Öffentlichkeit — ganz für sich geschildert
hat. Ich lege den Finger auf den hübschen Gedanken des Philistiades,
der, von der zerbrochenen Heldenpuppe Napoleon sprechend, aus seinem
Rucksack ein Schiffsmodell nimmt :
Hier halt ich ein Schiffchen, heißt Bellerophon!
Klopft man daran, gibt's einen Schmerzenston.
Es trägt den großen Napoleon,
Als Gefangenen des mächtigen Albion.
Es hält den Kurs in die große Leere,
Nach dem ödesten Felsen im öden Südmeere.
Und was da pulst gegen seine Wanten,
Das ist das Herz, das wir alle kannten.
Und der furchtbare Wille, dem nichts widerstand,
Liegt jetzt zerbrochen hinter der Schiffswand.
Und sicher wird Meile um Meile gemessen.
Sie schlepten ihn fort in das große Vergessen,
Wo sich auch der zäheste Wille
Nutzlos zermartert in der unendlichen Stille. —
Napoleon hat in diesem Festspiel ideell eine Schlacht gewonnen, in-
dem alle andern Größen vor ihm zusammenschrumpfen. Gewiss nicht fest-
spielmäßig war denn Hauptmanns Einführung des Philosophen Hegel, der
recht hegelisch knittelverst:
Ihr saht diesen Mann (Napoleon): einerlei, wie er heißt!
Ich sehe in ihm den VVeltgeist,
In ihm ist die Weltseele inkarniert,
Die Göttin Vernunft, die sich manifestiert.
Ich darf es sagen aus Überzeugung,
Mit demütig-stolzer Nackenbeugung:
Meine Geschichtsphilosophie
Ward durch ihn zur Prophetie !
Und wieder nicht festspielmäßig führt sich der eitle Professor Fichte ein:
Ich bin gewiss, ihr vernähmet schon
Von meinen berühmten Reden an die undeutsche Nation.
Aber auch nicht bühnenwirksam ; denn es gibt einen Fichte, der, unter die
Trommeln französischer Truppen, vor Deutschlands Zukunft und sogar vor
französischen Spionen die Warheit sagte in einem Stil, der — nach Jean
Pauls Wort — Federn aus Luthers Flügeln trug. Gewiss redet auch Haupt-
manns Fichte nicht wie einer, der sich vom Korsen die Zunge ausschneiden
und das Rückgrat brechen ließ; aber durch die ironische Einführung hat
Hauptmann dem Sohne der von ihm doch sonst so geliebten Weber aus
der Lausitz nicht einmal die captatio benevolentiae gegönnt. Dass aber
569
Hauptmann alle Sättel der Sprache reitet und reiten kann, ja sogar den des
Abraham zu St. Clara, kann der kotzengrobe Turnvater Jahn, Gebhart
Leberecht Blücher, oder sogar Freiherr von Stein beweisen, der den neu-
deutschen Nationalstaat einen Salat nennt:
Ja ein Salat, da habt ihr recht,
Ist heut das Land der deutschen Stämme.
Der Nation bekommt er schlecht.
Besonders die gallischen Hahnenkämme.
Hole der Teufel die Herren Köche,
Die uns zerhacken und zerreißen,
Damit uns die Fremden besser zerbeißen,
Die uns zermörsern in unserer Schwäche.
Hole der Teufel die Lakaien,
Die uns servieren den Fressern, den zweien.
Sie können die größten Bissen vertragen.
Der gallische und der russische Magen.
Sie verdauen uns wie einen Sperling
Oder wie der Engländer seinen Weltplumpudding.
Denkt euch doch Frankreich so frikassiert
Und England so kreuz und quer tranchiert.
Eine schöne Statue so zerschlagen,
Dass jeder Steinklopfer sein Stück kann davontragen.
Soll Deutschland widerstehen der Zeit,
Braucht's außen und innen Unteilbarkeit.
Dieser wackeren Sprache fehlt in Hauptmanns Werk — nur die Tat.
„Deutschland — dein Name ist Hamlet", kann man zu diesem Festspiel
sagen. Wohl hörte man die Schlägel einen bravourösen Trommelwirbel
schlagen, hörte Rapiere, Säbel, sah flimmernde Bajonette, sah ohn' Er-
bleichen die Guillotine, den Strohpopanz des deutschen Adlers, aber die
Esse, in der ein Hammer auf dem Amboss funkenstiebend die deutsche
Freiheit hämmerte, den sah keiner. Man kann Magnesiumlicht kommandieren,
aber nicht vaterländische Genieblitze. — So ist es denn gekommen wie es
wohl musste. Wer seinen Patriotismus in Festhallen füttert und päppelt, hat
seine Enttäuschung bezahlt; wer mit einer durchaus nicht geschuhriegelten
Phantasie Bühnenwerke in seinen eigenen Wänden geistigerweise insze-
niert, wird sogar an dem verlästerten Festspiel eine Freude, aber nicht
eine ungemischte, erleben, — kein Festspiel zwar — aber ein Kammerspiel !
So hat sich Gerhart Hauptmann vielleicht nur im Raum vergriffen, der
ihn nicht begriffen.
ZÜRICH E. KORRODI
DILETTANTEN, KÜNSTLER UND RADAUBRÜDER
Das Deutsche Theater schlief mit zwei überflüssigen Premieren in die
Ferien. „Der Bund der Schwachen" von dem russisch-jiddischen Dichter
Schalom Asch ist eine sentimental-kitschige Familienblatt-Ballade, „Kaiser-
liche Hoheit" von der holländischen Dichterin J. A. Simons-Mees ein stumpfes
Provinzlustspiel. Diese Seichtheiten wurden durch ihre eigene Wertlosigkeit
erledigt. Dagegen florieren die Naturtheater. Herr Axel Delmar, ein Patriot
und Dilettant, beunruhigt schon das zweite Jahr die Umgebung von Potsdam,
Er feiert die Freiheitskriege mit Szenen, die er „Marschall Vorwärts" nennt.
570
aber was darin Handlung, Konflikt wird, ist anrüchig und übel. Nur was
historisch -anekdotenhaft, volkstümlich -drastisch bleibt, lässt man sich,
wenn man alle Ansprüche niederlegt, gefallen, weil es nicht den Geschmack
beleidigt. Als Ganzes ist das Freiluft-Unternehmen des Herrn Delmar be-
scheiden: es spekuliert nicht auf die Anerkennung der Kritik, sondern auf
einen Orden des Kaisers. Anspruchsvoller tritt Herr Rudolf Lorenz auf,
der am kleinen Wannsee seine Stätte aufgeschlagen hat. Er kommt literarisch
und macht damit die ganze Naturtheaterbewegung lächerlich. Wenn das
seine Absicht war, soll er gelobt werden. Denn das Naturtheater ist eine
Erfindung von Leuten, die im Winter nichts leisten können und deshalb im
Sommer, wo die kritische Kontrolle milder ist, aufzufallen hoffen. Die
Dichtungen werden gefälscht, weil alles zerflattert und aus dem Zwang ins
Zufällige aufgelöst wird. Die Schauspieler müssen verdeutlichen und der
Pathetische besiegt den Sachlichen. Die Kritik entdeckt jedes Jahr im
Naturtheater neue Talente, deren Nichtigkeit sich zeigt, sobald sie eine ge-
schlossene Bühne betreten. Die Apostel des Naturtheaters, die angeblich
die Wahrheit propagieren, propagieren die Verlogenheit. Sauer und Basser-
mann wären zwischen Gras und Büschen unmöglich, Christians und Bonn
würden triumphieren. Es ist ein gehemmtes Indianerspielen. Herr Rudolf
Lorenz, der den Mut hat, für seine Stümpereien mit dem Namen Joseph
Kainz Reklame zu machen, gab unter anderem Grillparzers „Des Meeres
und der Liebe Wellen", dessen ganze Wirkung, wenn man dem matten Werk
überhaupt eine zugestehen will, in dem Kontrast von engem, geschlossenem
Raum (Heros Turmgemach) und Meeresweite besteht. Ohne diesen Gegen-
satz, der die Sehnsucht Heros unverständlich macht, wird das Drama zur
Parodie. Im Naturtheater, dem dieser Gegensatz widerspricht, ist es eine
Parodie, Herr Lorenz suchte sich auch sonst die ungeeignetsten Sachen
aus. Das leichte Geplauder in J. V. Widmanns „Greisem Paris" und „Ly-
sanders Mädchen" verwehte der Wind.
Die Sensation aber ging nicht von Berlin, sondern von Breslau aus.
Die Aufführungen von Gerhart Hauptmanns Jahrhundertfestspiel wurden
inhibiert, weil der Kronprinz mit Niederlegung des Ausstelkmgs-Protektorates
drohte. Alle rechtsstehenden Blätter und einige demokratische Rüpel fielen
mit teutonischer Wut über den Dichter her. Die einen schrien: er beleidigt
die Hohenzollern, die andern: er beleidigt das deutsche Volk. Aber selbst
wenn Hauptmann beides getan hätte, könnte nicht scharf genug gegen das
Verbot protestiert werden, weil es die geistige Freiheit niedertritt. In Wirk-
lichkeit nun hat Hauptmann niemanden beleidigt. Er hat Friedrich Wil-
helm II!., die Königin Luise gestrichen und den deutschen Spießbürger nicht
allzu glimpflich behandelt. Die dynastische und nationalistische Verbohrt-
heit ist in Deutschland schon so unheilbar, dass der nicht als Deutscher
gilt, der nicht seine Königstreue und sein Volksgefühl bei jeder Handlung
betont. Wir wollen uns freuen, dass Hauptmann nicht zu jenen aufreizend
direkten Deutschen gehört. Sein Deutschtum ist so echt, tief und rein
menschlich, dass es keiner Betonung bedarf. Es ist weniger Gesinnung als
Beschaffenheit. Es ist nicht Gebärde, sondern Wesen. Von dieser selbst-
verständlichen Deutschheit ist auch das Festspiel. Es ist so deutsch, dass
es die Marktschreier des Deutschtums gar nicht merken. Hauptmann durfte
sehr wohl den Auftrag des Breslauer Magistrats annehmen, denn er ist
deutscher als jene haarbuschigen Gesellen, die es ihm noch nachträglich
571
verbieten wollen. Die Behinderung dieser Dichtung aber hat ein Gutes. Sie
führte den Liberalen gerade in dem Augenblick, als auch sie im Rausche
des Kaiserjubiläums untergingen, die Hohlheit der wilhelminischen Kultur
vor, schärfte den Blick dafür, dass wir in fünfundzwanzig Jahren an tech-
nischen Gütern zwar gewonnen, an inneren aber verloren haben und weckte
den Widerspruch. Es wurde eingehämmert, dass zwischen der Auszeichnung
der Herren Ganghofer, Höcker und Lauff, die kaum noch die Dienstmäd-
chen ernst nehmen, und der Verbannung Hauptmanns ein anderer als nur
ein aktueller Zusammenhang bestehen müsse.
Künstlerisch hat man Hauptmann vor allem vorgeworfen, dass er eine
stürmische Zeit durch die Form des Puppenspiels verkleinert habe. Diese
Einkleidung aber erst ermöglicht die Distanz, schmerzlich-menschliche Züge
und einenfastwehmütigen Humor. Es ist absurd, heute eine „Hermannschlacht"
zu verlangen, wo wir mitten im Frieden leben. Erst wenn man ans Theater
denkt, regen sich gegen das Puppenspiel Einwände. Der Arena, für die es
bestimmt war, entspricht nur der neutrale Raum, den es verlangt. An sich
aber wirken die Puppenszenen auf der intimen Bühne, die Massenszenen
im Zirkus. Beide teile wollen nicht zu einander passen und arbeiten sich
entgegen. Hauptmann muss das gefühlt haben. Denn er wird an manchen
Stellen unerträglich pedantisch, sucht zu unterstreichen und zu verdeutlichen.
Diese schlimme Sendung hat der Götterbote Philistiades. Hauptmann ge-
nügt es nicht, dass Napoleon, als Knabe den Weltkreisel schlagend, in der
Pariser Revolutionsmenge erscheint, der Pöbel schreit: „Vive l'empereur!"
und, doppelter Hinweis, Philistiades erklärt: „Es ist eine Art Genieblitz,
sozusagen ein weltgeschichtlicher Witz." Die historischen Figuren selbst
sind matt, banal. Ihre Verse meistens nichtssagend. Auch wäre es wirk-
samer gewesen, wenn der Umschwung früher eingesetzt und wenigstens
einige der Spießbürger mit fortgerissen hätte. Aber es ist eine Lüge,
dass Napoleon verherrlicht wird. Je größer der Gegner, desto größer die
Bewegung, die ihn fortspült. Es ist eine Lüge, dass Blücher verhöhnt wird.
Und zum Schluss fasst Hauptmann alles zusammen, tilgt den Zwiespalt und
lässt die Idee des Ganzen in ergreifenden Versen ausströmen. Dieses Ende
ist herrlich. Alles Menschliche, was vorher in Mutterklage und Soldatennot
hervorgebrochen war, alles Seherische, was in den Versen der Pythia und
der Kriegsfurie glühte, leuchtet hier noch einmal auf, wenn Athene Deutsch-
land das geeinte und befreite Volk unter einem Hymnus auf den Frieden
und das Schaffende in den Dom führt. Ich bin nicht blind gegen die starken
Mängel des Festspiels. Aber dieser flammende, ergriffene Schluss ent-
waffnet nicht nur diejenigen, die behaupten, Hauptmann habe diese Arbeit
ohne innere Beteiligung geschrieben, er läutert das Ganze zum besten
Festspiel, das wir seit Jahrzehnten erhalten haben.
Auch einem Toten ist jetzt übel mitgespielt worden: Richard
Wagner. Emil Ludwig, ein verschwommener Dramatiker und oberfläch-
licher Essayist, witterte die Konjunktur und schrieb ein Buch gegen
ihn: „Wagner, oder die Entzauberten". So wenig ich ein Wagnerianer
bin, und so wenig ich zweifle, dass ein Rückschlag gegen ihn kommen
muss, so energisch lehne ich dieses Pamphlet ab. Emil Ludwig geht
wie ein rabiater Oberlehrer vor, der sein journalistisches Examen machen
will. Pedantische Einwände legt er raffiniert hin. Er macht Jagd auf
Widersprüche und blendet mit falschen Konsequenzen. Er weiß nicht, dass
572
der Gegensatz Leben — Kunst bei jedem Künstler eine Rolle spielt. Er tadelt
— wahrhaftig: er tadelt — Wagners „Krampf", der doch auch Chaos war.
Er schnüffelt nach Konzessionen, die Wagner leichthin gemacht habe, ist
aber aufs höchste erbost, wenn Wagner seinen Wohltätern schroff begegnet.
Was will Herr Ludwig also? Er will ein Gegner sein. So entwickelt er
nichts, nimmt keinen Anlauf und fängt da an, wo er aufhören sollte. Die
tadelnde Betonung steht am Beginn, ihr weichen Günde und Zusammen-
hänge. Nichts ist verankert. Was er lobt („Tristan"), wird als Ausnahme
beiseite gestellt, während es ehrlich gewesen wäre, dieses Werk als die
notwendige Vollendung der andern zu zeigen. Trotzdem Herr Ludwig so
tut, als ob er alles auf eins zurückführe (eben aus jenem Krampf),
wirbelt er alles durcheinander. Wenn Ludwig zu einem Zentrum durchge-
drungen wäre, hätte er gesehen, dass Wagners Erlebnisse echt und groß
sind, dass sie aber zu schnell nach außen treten, dass die Gebärde stärker
wird als das Gefühl, dass die Kurve der Äußerung heftiger ist als der
Anlass. Darin eine Tragik zu spüren, statt einer Unehrlichkeit, hätte mehr
Scharfblick und literarisches Niveau bewiesen. Aber es ist immer gut, wenn
die Maske fällt. Alle stilistischen Spiegelfechtereien nützen Herrn Ludwig
nichts mehr. Er ist als Fehler ankreidender Schulmeister erkannt, der sich
von seinen angestellten Kollegen nur durch seine Aufdringlichkeit unter-
scheidet.
BERLIN HERBERT JHERING
D D O
HEIMISCHE LIEDER
Einen neuen Begriff möcht' ich heute prägen : den des Feiertags-
komponisten. Was so durchs Band die Komponisten sind, denen bedeutet
ihr Werk das in die Töne umgesetzte curriculum. Was an Not drin
schluchzte, was an Lust drin jauchzte, selbst die grauen Zwischentöne des
Alltags, sie werden Melodien, denn für viele ist die Kunst das einzige Mittel,
das Leben zu ertragen.
Dann gibts abernoch eine kleine Zahl: Feiertagskomponisten nenne ich
sie. Die bedürfen zum Produzieren einer so starken Abstraktion vom Leben,
dass sie nur von Zeit zu Zeit, gleichsam im Sonntagsgewande in die Werk-
statt gehen. Aber ihre Kunst gibt dann einen vollen, reinen Klang. Denn
sie liegt so sehr jenseits des Lebens, dass alle Härten und Nöte daraus
gewichen sind. Wie ein Spiegel, der nur das Edelste kündet.
Solch ein Künstler ist Friedrich Niggli, von dem eine Garbe Lieder
soeben hochwillkommen unter derSpreu des musikalischen Alltags erscheint i).
Wer aus Beruf und Neigung — die beiden Begriffe decken sich ja nicht
immer — die moderne Vokalliteratur verfolgt, der atmet ordentlich auf: da
ist wieder einmal einer, der nicht originell erscheinen will, sondern sich
bescheidet, geschmackvoll zu bleiben.
Das Melos von edlem, schönem Fluss. Die Deklamation trotz aller
Feinfühligkeit schlicht und ohne rhythmische Überspitztheiten. Der Klavier-
satz von feinem Klangsinn, nie Fratze des Orchesters.
1) Zehn Lieder für eine Singstimme mit Klavierbegleitung von Friedrich Niggli. Op.8.
Gebrüder Hug & Co., Leipzig und Zürich.
573
Heimische Lieder nannte ich sie. Ihrem Schöpfer waren die besten
unserer Dichter gerade gut genug. Da finden wir Conrad Ferdinand Meyer
zwiefach, Adolf Frey gar dreifach vertreten, sodann — besonders erfreulich,
weil seine Bewertung zwischen der Bewunderung der Biographen und der
Ablehnung der Zünftigen wie zwischen Scylla und Charybdis unterzugehen
droht — Ainold Ott mit empfundenen Strophen.
Meyers „Zwei Segel" : über den geruhsamen Wellenachteln des Klaviers
schwebt in gleichmäßiger Deklamation eine sehnsüchtig geschwellte Melodie.
So wohlig, so friedlich : man muss etwa an das Brahmsische Lied „Auf dem
See" denken, um eine ähnliche Stimmung geklärtester Zartheit zu finden.
Diese stille Keuschheit des Empfindens, sie tritt uns auch in seiner
Deutung von Meyers Hochzeitslied entgegen. In dem synkopierten Cha-
rakter der Begleitung malt sich Hangen und Bangen der jungen Seele. Leicht
stilisiert glauben wir Orgelklang zu vernehmen ; im Mittelsatz weicht er ge-
brochenen Akkorden des Klaviers, die sich im vorletzten Takt des Liedes
auf eine — geistreich darf man hier nicht sagen — rätselhaft intuitive Art
zur Kirche zurückfinden.
Die beiden Perlen der Sammlung aber sind nach meinem Urteil die
beiden ersten Lieder Adolf Freys, in der „Zuflucht", wo der Dichter über-
zeugende volkstümliche Töne fand, hüllt Niggli die Verse in ein holdes
Dämmer wechselnder Dur- und Molltakte, dass wir das ewige Licht zu sehen
vermeinen, wie es von den Schatten der Kapelle umlagert wird. Und im
„Schlummerlied" wiegt sich auf der leichten Achtelbewegung der linken
Hand solch köstlich innige Melodie, dass wir beim Hören gläubige Kinder
werden.
Das dritte der Freyschen Gedichte „Wildrosen", ein trotziges Strophen-
lied mit kräftiger Steigerung, erscheint mir zu wenig typisch für Nigglis
Schaffen. Vielleicht wird es den Publikumserfolg für sich haben.
Von tiefer Innerlichkeit erfüllt sind Arnold Otts „Gestirne". Die weiten
Akkorde verleihen dem Lied hymnischen Charakter und die sparsamen
Modulationen wirken mit seltener Bedeutsamkeit.
Außer diesen drei Schweizern findet sich noch Hermann Hesse ver-
treten, den wir ja auch mit dem Herzen zu den Unsern zählen. „Der alte
Landstreicher" ist ein Genrebildchen mit diskretem Einschlag des Grotesken,
„Der böse Tag" ein Reiterstück voll rhythmischer Prägnanz und straffer
Deklamation. Höher als diese beiden Lieder und das abschließende Trutz-
liedchen von Paul Heyse, das immerhin seiner Wirkung sicher ist, steht
Detlev von Liliencrons „Tod in Ähren" : Niggli formt daraus ein Passionsbild
von sehrender Herbe und mitleidvoller Güte.
Der Komponist hat seine Lieder weise und einsichtig unter die Sänger-
welt verteilt: unten den Dedikanten gehts von der bescheidenen Schweizer
Lerche bis zur königlichen Kammersängerin. Aber auch allen übrigen seien
sie hiemit ans Herz gelegt.
LAUIALP HANS JELMOLI
DDD
574
ZÜRCHER KUNSTNACHRICHTEN
Wie in einer wirklichen und wahrhaftigen Weltstadt liegt in diesem
Sommer in Zürich das Neueste vom Neuen vor uns ausgebreitet; kein
Sensatiönchen bleibt uns erspart. Die Kunstsalons schießen wie Pilze aus
dem Boden und übertrumpfen sich so, dass die Schweizerische Turnus-
Ausstellung, die noch bis zum 10. August sichtbar ist, kaum beachtet wird.
Wenn ich nun von diesem Turnus spreche, so möchte ich alle so oft
hier erwähnten Meister beiseite lassen und nur von den Jungen reden,
deren Namen mir oder meinen Lesern neu sind, und nur jene nennen,
welche auf die Entwicklung der Malerei einigen Einfluss haben dürften.
Unsern anerkannten Meistern ist ja dadurch eine fast unverdiente Reklame
erwachsen, dass Herr Joseph Clemens Kaufmann von Luzern nach einem
alt Bundesrichter endlich auch einen Ausländer gefunden hat, der bereit war,
gegen sie eine sich und ihn selbst hinrichtende Broschüre zu schreiben.
Zu entschiedener Künstlerschaft hat sich Hermann Huber durchge-
rungen, in dem es bis heute unsicher gärte. Seine beiden figürlichen
Kompositionen entspringen zwar nicht jener anatomischen Kenntnis des
Körpers, die ich im letzten Hefte als Kunstprinzip zu erörtern versuchte;
sie sind rein aus Bogenlinien, die sich in der Schwebe halten, also rein
aus der Arabeske konstruiert, und das ist auch ein Weg, um zu einer stark
und groß wirkenden Einheit zu gelangen. Das gesucht Primitive, das Hubers
erste Versuche kennzeichnete, hat er nun überwunden und ist zu Anmut
vereint mit Kraft gelangt; man hat fast den Eindruck, als seien seine Figuren
mit Musikbegleitung gemalt worden.
Aus dem kubistischen Lager, glaube ich, sind Arnold Brügger und
Otto Morach entflohen. Ein französisches Städtchen von Brügger ist in
bis ins Allerfeinste abgestuften braunen und grünen Tönen gehalten, in die
sich etwas Rosa mischt; alles durch die schwarzen Umrisslinien zusammen-
gehalten. Und die gleiche Eigenart zeigt wenigstens der eine seiner beiden
Köpfe: Reichtum der Farbe, der sich klug darauf beschränkt, was zum
Ausdruck der Form unerlässlich ist. Auch Morach ist besonders an der
Form, zu meist an der Darstellung von Dachmassen gelegen; ein feines
Schiefergrau ist der Hauptton, der in allen Tönen enthalten ist. Diese bei-
den Künstler haben eine große Sicherheit dessen erworben, auf das es
bei malerischer Widergabe der Form ankommt; dazu eine neuartige Wie-
dergabe der Farbe, die einem gleich gefangen nimmt.
Ein anderes Künstlerpaar, das zwar schon letztes Jahr in Neuenburg
auffallen musste, sind die Genfer Maurice Barraud und Emil Bressler.
Auch bei ihnen das Problem: mit wie wenig Mitteln bring' ichs heraus?
Nur handelt sichs bei ihnen weniger um die Form, als um Bewegung und
Charakterisierung. Das eine Pastell von Barraud gibt fast mit der ver-
ruchten Schärfe von Pascin degenerierte Stadtkinder wieder; das andere
hat schönen Linienrhythmus. Und Bressler versucht, mit nicht minderem
Glück, durch Reduzierung auf rund und weich fließende Form Kraft zu er-
zeugen. Gustave Buchet, der ähnlichen Aufgaben nachgeht, ist eher frech
als gut.
Zwei Radierungen von Paul Bodmer, liegender Mann und Wartezimmer,
werden manchem wie aus dem Schreibhefte des kleinen Moritz vorkommen.
Die Zeichnung ist durchaus nicht korrekter als bei einem kleinen Jungen,
575
und doch ist sie voller Gefühl, voll unerklärlicher Lebenswahrheit des Aus-
drucks, der auf alle Einzelheiten verzichten darf.
Zum Schluss noch ein merkwürdiges Bild von Gottfried Christen:
in einem roten Zimmer, bis auf das Muster der Vorhänge unbeholfen,
mühselig und ehrlich gemalt, sitzt eine dicke Dame mit ihrem Töchterlein,
gelblich beide, hart wie aus Holz geschnitzt. Bei aller Anfängerhaftigkeit
von einem Wirklichkeitsfanatismus, vor dem man verdutzt steht. Unter den
vielen Wegen, die junge Schweizerkünstler gehen, wieder ein fast ganz neuer,
vor den man auch keine Verbottafel stellen möchte.
* *
*
Im Kunstsalon Neupert an der Bahnhofstraße haben die Futuristen
Marinettis ausgestellt. Was ich einst über diese Leute geschrieben habe
(B. X. S. 286), möchte ich heute zum Teil wieder zurücknehmen. Ich weiß
nicht, sind die Bilder bei Neupert nicht die selben, die ich einst in Berlin
sah, aber heute kommen sie mir — ich sehe dabei ganz von der Unver-
ständlichkeit ab — als Schmierer vor, und ich glaube, wenn Marinetti den
ersten besten Handelslehrling beschwatzt, dass so Geschäfte zu machen
seien, dass dieser das am Ende der ersten Woche auch kann. Mit einer Aus-
nahme immerhin: Severini, dessen großes Bild eines Tanzlokals von ordent-
licher Arbeit und nach Grundsätzen, die man ja ablehnen mag, gebaut ist.
Wenig Leute waren in der Ausstellung, als ich dort war; die Sensation ist
zu Ende und mit ihr der Futurismus.
Im Kunstsalon Wolfsberg ist gegenwärtig in einer spanischen Aus-
stellung Anglada mit sechs großen Bildern vertreten, Anglada, dessen Werke
vor zwei Jahren auf der Internationalen in Rom mein Entzücken waren,
Anglada, den man fast nie zu sehen bekommt und der doch so unendlich
viel höher zu bewerten ist als Zuloaga, Villegas, die beiden Zubiaurre und
wie diese spanischen Ausstellungsreißer alle heißen. Leider wird er in seiner
Wirkung von zwei jungen Malern mit der Cezanne-Palette stark beeinträch-
tigt, von Sunyer und Othon Friesz. Aber dem verhaltenen Feuertempera-
ment des Hidalgos, wie es sich in jedem Gesicht und jeder Bewegung aus-
spricht, der festlichen Art seines Vortrags, wie es sich selbst bei einem so
prosaischen Gegenstand wie dem Geflügelhändler zeigt, vermögen sie doch
keinen Abbruch zu tun. Wie viel anders müsste das aber im gedämpften
Licht eines reichen Saales wirken, der gerade das Gegenteil eines schmuck-
losen, scharf und hart beleuchteten Ausstellungsraumes sein sollte, wie sie
die moderne Kunst verlangt.
Die Moderne Gallerie an der Bahnhofstraße zeigt einen Raum voll
Bilder Camille Pissarro's und gestattet so einen Einblick in die Entwicklung
dieses klugen und maßvollen Impressionisten, der mit vollem Recht heute
immer höher eingeschätzt wird.
ZÜRICH ALBERT BAUR
DDD
Vor einigen Tagen wurde in Chur eine Kantonale Gewerbeausstellung
eröffnet, die eine besondere Erwähnung verdient, weil ihre ganze Anlage
beweist, dass auch in kleinen Verhältnissen die Durchführung eines künst-
lerischen Planes möglich ist. Besonders sei auf die Raumkunstabteilung mit
duftigen Arvenholzzimmern und den Saal der Bündner Künstler hingewiesen.
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
576
LA SVIZZERA FARÄ DA SE
Zweimal hat vor kurzem der Bologneser Professor Giorgio
del Vecchio über die ladinischen Talschaften des Bündnerlandes
und ihre untergehende Sprache geschrieben, einmal mit dem
Schafspelz in der ruhigen und vornehmen Nuova Antologia, ein-
mal ohne Schafspelz in dem sehr klare Zwecke verfolgenden
Archivio per l'Alto Adige. Das zweitemal legt er sich besonders
für (oder gegen) das Münstertal ins Zeug, von dem er an zwei
Stellen behauptet, dass es zwar politisch zu Qraubünden, geo-
graphisch aber zu Italien gehöre, und dem nun überall wie einer
ersten Etappe seine ganze Begeisterung geweiht ist.
Seine Philologie klappt merkwürdig mit der Strategie italieni-
scher Offiziere zusammen; man darf sich nicht verschweigen, dass
das eher für die Kriegslehre und ihre Wirkungen auf den Laien
als für die friedliche Wissenschaft spricht.
Schon bei seinem Titel Le valli della morente Italianitä
(Latinitä dürfte es bloß heißen) muss Del Vecchio wissen, dass
er mit der Wissenschaft auf gespannten Fuß zu stehen kommt.
Aus jedem Handbuch der romanischen Philologie, von den ältesten
bis zu den jüngsten, kann er ersehen, dass man die romanischen
Dialekte nie als zur italienischen Sprachgruppe gehörig, sondern stets
als selbständiges Glied der großen lateinischen Sprachfamilie be-
trachtet hat; Ascoli, der größte der italienischen Linguisten, zeigt
sich in seinen Saggi ladini nicht anderer Ansicht. Und gerade
diese einstimmige alte Überlieferung beweist hier mehr als philo-
logische Unterscheidungsmerkmale: sie beweist, dass nie ein Ge-
577
fühl der Zusammengehörigkeit mit Italien die Bündner bewog,
gegen diese Trennung Berufung einzulegen.
Niemals haben sich die Rätoromanen als Eine Nation mit
den Italienern gefühlt. So unrichtig es ist, ihre Sprache als italieni-
schen Dialekt zu erklären, so unrichtig ist die Behauptung,
sprachliche Verwandtschaft bedinge gleiche Nationalität. Für
Nationalität waren von jeher und werden für immer nur gemein-
same Erinnerungen und der Wille zu gemeinsamer Zukunft maß-
gebend sein. Wenn daher Del Vecchio das Zurückgehen des
Rätoromanischen als „una specie di abdicazione del carattere
nazionale" oder kurz mit dem schönen Wort „snazionalizzazione"
bezeichnet, so ist er entschieden auf einem Irrwege. M Italians
ni Tudalschs! weder Italiener noch Deutsche, nennt sich die klar
durchdachte und wissenschaftlich trefflich orientierte Entgegnung
von Peider Lansel (erschienen im Verlag der Fögl d' Engladina),
die jedem Irredentisten klar beweist, dass der Rätoromane nicht
das geringste Bedürfnis verspürt, sich von irgend einer großen
Sprachgemeinschaft am Gängelband führen zu lassen. Die Kultur-
gemeinschaft, zu der er gehört und mit der ihn ein Jahrtausend
gemeinschaftlich verlebter Geschichte verbindet, ist alt fry Rätien
und weiterhin die Schweiz. Hier hat er von jeher Verständnis
für seine besondere, auch sprachliche Eigenart gefunden. Nie hat
man von der Schweiz aus versucht, seine Sprache zu unterdrücken;
man hat im Gegenteil ihre wissenschaftliche Erforschung nach
Kräften gefördert, und wenn Del Vecchio wüsste, wie viel deutsche
Bündner aus bloßer Liebe zur Scholle, ohne den geringsten Vor-
teil davon zu haben, sich mit romanischen Studien abgeben, er
würde nicht in der Bündner Regierung nach bösen „Pangermanisti"
stöbern, die der romanischen Sprache ans Leben wollen.
Wenn nun Del Vecchio bloß kritische Gedanken über den
Niedergang des Rätoromanischen äußern würde, könnten wir, so
sehr uns die Schiefheit seiner Ansichten auch ärgern möchte,
ruhig und sachlich mit ihm darüber reden. Aber leider tut er mehr.
Einmal fordert er die italienischen Schweizer im Bergell,
Misox und Tessin auf, dafür zu sorgen, dass die sogenannte
„Italianitä" im Engadin und anderswo nicht mehr zurückgehe.
578
Mit andern Worten: er sucht auf Schweizer Boden Händel zu
stiften. Und doch muss er, da er ja die Schweiz so gut kennt,
um über sie zu schreiben, wissen, dass Duldsami^eit überhaupt
und besonders Duldsamkeit gegen sprachliche Minderheiten ein
oberster Grundsatz unseres Staatswesens ist. So haben wirs immer
gehalten und wollen keinen Sprachenstreit leiden. Das macht den
Engadiner zum guten Bündner, den Bündner zum guten Schweizer
und den Schweizer zum guten Europäer. Und dass es ein Volk
guter Europäer gibt, ist vielleicht unsere geschichtliche Mission.
Darum soll sich Del Vecchio nicht wundern, wenn man ihn heute
nicht gerade als einen Freund unseres Landes ansieht.
Und wenn er uns vollends die Societä Dante Alighieri auf
den Hals hetzen will, so soll er wissen, dass die Schweiz keine
Einmischung ausländischer Vereine auf ihrem Boden duldet. „La
Svizzera farä da se".
Wenn Del Vecchio nachfühlen will, wie man seine Ein-
mischung in unsere Angelegenheiten bei uns auffasst, so möge
er sich etwa vorstellen, die „Alliance fran^aise" verlange für die
französischen Täler des Piemonts Unterricht und Schutz der fran-
zösischen Sprache. Aber freilich, ein großes Land braucht sich
nichts, ein kleines muss sich alles gefallen lassen. Darum macht
sich der Heldenmut der Irredentisten gern an Österreich, wo sonst
genug Streit ist, und an die kleine Schweiz, und lässt Frankreich
mit Nizza und England mit Malta säuberlich aus dem Spiel.
Ob die Irredentisten wohl überzeugt sind, dass sie mit ihrer
Tendenzphilologie und gewissen Zukunftskarten ihrem Vaterlande
einen großen Dienst erweisen? Jedenfalls bringen sie ihre Re-
gierung in nicht geringere Verlegenheit als die Alldeutschen die
deutsche Regierung, wenn bei jedem Vertragsabschluss, sei es
auch bei rein wirtschaftlichen Dingen, zuerst das Misstrauen be-
seitigt werden muss, das eine große, stets zum Krieg schürende
Partei um sich verbreitet. Und schließlich wird es Italien auch
nicht gerade angenehm sein, wenn man viele Leute, die italieni-
scher Kultur sehr zugetan sind (und dazu rechne ich mich und
viele Leser dieser Zeitschrift), beständig vor den Kopf stößt.
ZÜRICH ALBERT BAUR
579
CAMILLE LEMONNIER
Cest une bien grande perte que viennent de faire les lettres
frangaises de Belgique. Le plus haut chene de la foret est tombe.
D'autres que Lemonnier, un Maeterlinck, un Verhaeren se sont
imposes ä Tadmiration du monde entier par un genie plus vaste
et plus original. Mais la personnalite de Camille Lemonnier
s'aureolait d'une sorte de legende. II apparaissait comme l'an-
cetre, le chef venere, pour ne pas dire le createur de cette jeune
litterature qui naquit en Belgique un peu avant 1880, apres que
la nation, engourdie, eut vecu un demi-siecle d'une vie vegeta-
tive, aux ronrons d'une beate prosperite materielle et de la plus
insipide poesie officielle. Lemonnier fut baptise par Georges
Rodenbach le „marechal des Lettres beiges". Lui-meme qualifia
de „Päque litteraire" une premiere manifestation organisee en son
honneur le 28 octobre 1888, ä l'occasion de la publication
de son vingt-cinquieme volume et du proces de YEnfant du
Crapaud. D'autres manifestations devaient suivre: le banquet
organise par les Jeune- Belgique pour protester contre le refus
systematique des commissions officielles d'accorder ä l'auteur du
Male le prix quinquennal de litterature, puis au lendemain du
triomphal acquittement de Bruges. (Lemonnier s'etait vu attraire
devant la cour d'assises de cette ville pour avoir ecrit VHomme
en amour); puis encore la manifestation organisee en 1903 pour
celebrer la publication du cinquantieme livre de l'ecrivain (une
quinzaine d'autres ont paru depuis); enfin la fervente manifesta-
tion populaire que la jeunesse litteraire de Belgique organisa en
son honneur il y a trois ans, ä Ixelles, sa commune natale.
II s'est eteint doucement le 13 juin dernier, ä Tage de
soixante-neuf ans, dans une clinique oü il venait de subir une
Operation tres grave. Le beau male roux, au cou bas et muscle,
qui avait en lui quelque chose de la force du taureau, l'infati-
gable ouvrier que l'on vit 45 ans durant s'asseoir ä sa table de
travail, tous les matins, pour noircir de nombreuses pages, comme
un laboureur trace des sillons; qui accepta d'un coeur joyeux,
sans regimber, I'asservissement ä la täche quotidienne: on l'avait
580
vu tout-ä-coup terrasse par un mal insoupgonne, dont le germe,
ä son insu, etait en lui depuis longtemps. Et cela, au moment
oü un peu d'aisance lui etait venue. Gräce ä un petit heritage,
il pouvait pretendre enfin ä un peu de repos, lui qui, naguere
encore, dans une allocution emouvante, redoutait pour sa vieil-
lesse le sort de Belisaire mendiant le long des routes.
II n'est plus! tous ceux qui l'approcherent, les ecrivains jeu-
nes et vieux que rechauffait la flamme de son juvenile enthou-
siasme, des milliers d'ouvriers, de bourgeois et d'artistes qui ont
lu et relu ses livres les plus celebres, les peintres d'avant-garde dont
il encouragea les audaces, dont il exalta lyriquement le talent, tous
pleurent un homme qui fut un des meilleurs parmi les meilleurs,
un ecrivain dont le labeur obstine eut une valeur d'exemple
admirable. La le^on de ce labeur continu qui fait penser ä
celui d'un Flaubert, d'un Balzac, d'un Zola, autres benedictins
laiques, on peut affirmer qu'elle fut pour beaucoup dans le suc-
ces final de notre renouveau litteraire, Jusque lä, ä cöte d'une
torpide litterature academique, on n'avait eu que des ecrivains
comme Wacken, Octave Pirmez, Andre van Hasselt qui faisaient
plutot figure d'amateurs. Un Charles de Coster, ignore, me-
connu, ecrivait dans une mansarde miserable les Aventures de
Till Uylenspiegel, livre qui meriterait d'etre la Bible, l'Iliade de
la Flandre et qui — n'est-ce pas triste ä dire? — est peut-etre
plus connu en Allemagne qu'en Belgique. Mais Lemonnier,
frere en esprit de Charles de Coster, homme de sa lignee et qui
fut Tun des premiers ä proclamer sa puissance, Lemonnier etait
lä, qui osa. 11 eut l'audace grande, deconcertante, stupefiante
dans ce pays, de vouloir vivre de sa plume et de gagner son
pain quotidien en pla^ant de la critique d'art, des romans et des
contes et non de la cassonnade ou de la dentelle. Cependant
que Paris l'accueillait, on le bafoua, on l'abreuva de sarcasmes
dans son pays. Les officiels d'alors denon^aient les audaces de
son style coruscant, parlaient de l'immoralite de ses livres. (N'est-
il pas hautement comique aujourd'hui de voir leurs successeurs
de l'Academie de Belgique essayer de se l'accaparer, de faire croire
qu'il etait sur le point d'entrer dans cette Institution decrepite?)
D'instinct, les „Jeune-Belgique", ardents et frondeurs, qui
avaient de l'enthousiasme ä revendre, se grouperent autour de
581
ce dejä glorieux a!ne qui, le dimanche apres-midi, les accueillait
fraternellement dans la petite maison de la Chaussee de Vleurgat
ornee de tableaux, de dessins, de sculptures de la jeune ecole
beige. On se groupait autour de l'auteur du Male comme au-
tour d'un drapeau.
Verhaeren a raconte l'emotion, la joie que lui causa la fa^on
dont l'accueillit et l'encouragea Lemonnier quand, timide debu-
tant, il lui apporta le manuscrit de son premier livre: Les Fla-
mandes.
Le pretexte de l'entrevue? rappelait-il ä Lemonnier en 1903. Mon
livre Les Flamandes que je presentai ä votre critique. II fut juge par vous
balourd et violent. J'en conserve l'epreuve corrigee par votre experience
et ä cette heure de bonnes pensees s'en allant vers vous, ces feuiilets ratu-
res sont lä, devant mes yeux, sur la table, en ce lointain Ermitage du
„Caillou qui bique" oü ma sante se raffermit et s'epure dans l'air vivace
et la solitude feconde.
Comme eile etait hospitaliere, votre petite maison de la Chaussee de
Vleurgat et eile sentait bon le travail, votre chambre oü, parmi les jour-
naux epars sur les fauteuils et les chaises, au milieu de vos livres tasses
en ligne dans votre bibliotheque comme des rayons de pensees dans la
ruche de votre cerveau, vous apparaissiez tel: un fervent ouvrier d'art,
appuye ä votre table sur vos deux poings comme sur deux blocs de force
et travaillant avec ferveur, comme jadis on priait! Ah! que de fois la bonne
chambre m'a abrite. Que d'heures fieres et douces j'y ai passees ! Nous nous
sommes dit des paroles claires et inoubliables qui restent imprimees, pa-
reilles ä des scels ecarlates sur le solide parchemin de notre amitie.
Deux autres generations d'ecrivains sont venues depuis et
toujours, dans son amour de la lutte et de la nouveaute, Le-
monnier accueillit cordialement les debutants, la jeunesse, non
pas certaine jeunesse arriviste, compassee, denigreuse, mais celle
qui va de l'avant, qui est capabie d'enthousiasme et d'audace.
II etait pour eile le „grand camarade" au coeur chaud que fut
Walt Whitman.
Quel silence, quel vide aujourd'hui dans le petit cabinet de
travail tapisse de livres, de tableaux, de dessins, oü Ton voit
l'excellent portrait du maitre qu'a brosse Emile Claus, son buste
par Van der Stappen (il en est d'autres qu'ont signes Jef Lam-
beaux et Constantin Meunier), oü Ton voit aussi, rangees dans
un petit meuble charmant, toutes les oeuvres du robuste ouvrier
defunt, dans des reliures somptueuses et illustrees par les meil-
leurs artistes beiges — volumes qui lui furent offerts lors de la
582
manifestation organisee en son honneur ä l'occasion de la publi-
cation de son cinquantieme livre.
Leve tot, le maitre s'asseyait ä la petite table de travail,
dans une elegante toilette d'interieur. II avait l'air, avec ses che-
veux courts et rabattus, ses blondes moustaches conquerantes,
de quelque colonel de l'Empire, immortalise par le pinceau de
Gros ou de Gerard.
De temps en temps, apres avoir noirci quelques pages d'un
cahier ecolier, l'ecrivain se levait, passait dans la chambre voisine
et de lä pouvait jeter un coup d'oeil sur des jardins touffus,
lalsser entrer en lui les souffles embaumes et ravigorants. Toujours
il sentit le besoin, pour oeuvrer, de se rapprocher de la nature.
Et c'est une image suggestive que celle de Lemonnier ecri-
vant son Male, couche sur le ventre, dans un verger de Groen-
endael, au „coeur frais de la foret". 11 semblait qu'il voulüt lals-
ser entrer en lui, dans son corps et dans son oeuvre, toutes les
forces saines de la terre. Dans un poeme qu'il lui a dedie, Ver-
haeren a exalte ainsi son oeuvre:
Ton art robuste et sain est comme un char qui bouge,
Traine par des boeufs noirs — et ton Male et ton Mort
Flambent dans ta moisson de cette lueur rouge
Qu'allume le grand style aux livres qui vivront.
* *
-X-
Ne ä Ixelles le 23 mars 1844 d'une mere flamande et d'un
pere, avocat, d'ascendance italienne, il debuta dans les lettres en
faisant la critique des Salons de 1863 et de 1866.
Ses parents voulaient le faire entrer dans ce que Maeterlinck
appelle le „cimetiere du droit". Mais il n'y parvinrent point. Le
jeune ecrivain passa deux annees au gouvernement provincial
du Brabant. C'est alors qu'il fit paraitre ses premiers contes:
Nos Flamands et Croquis dautomne.
Sa jeunesse timide avait ete profondement impressionnee et
influencee par la presence, ä Bruxelles, de ces proscrits de l'Em-
pire qui payerent l'hospitalite de la Belgique en exer^ant sur eile
la plus salutaire influenae intellectuelle.
Dans les Souvenirs pittoresques qu'il a reunis dans son
livre: La Vie Beige, Camille Lemonnier nous a laisse un vivant
tableau des moeurs de ces exiles de 1851.
583
„Les Premiers proscrits du coup d'Etat: Hugo, Quinet, Gi-
rardin, Deschanel, Laussedat, Hetzel, Charras avaient, dit-il, pris
contact avec la vie bruxelloise au Lion beige, ä la Mort subite,
au Grand Cafe — le petit sejour de la proscription, selon le
mot de M. Wauwermans qui consacra un livre interessant aux
refugies. — Plus tard, on alla ä l'Aigle: quelquefois Hugo, qui
ecrivait Napoleon le Petit, y consommait, en dinant, un verre de
faro suppiementaire, ce qui portait l'addition ä un franc et vingt-
quatre Centimes. Un petit nombre de proscrits el d'amis des
proscrits se reunissant, l'apres-midi, dans une taverne, Prince of
Wales, au fond de l'etroite rue Villa-Hermosa."
Ah ! cette rue Villa-Hermosa dont Baudelaire fit chanter le
nom dans un de ses poemes en prose: il y a cinq ans eile evo-
quait encore toute la poesie du vieux Bruxelles. Aujourd'hui, le
quartier est sabote par les travaux gigantesques de la gare cen-
trale et du metropolitain. Seule, la fa^ade espagnole du vieil
hotel Ravenstein met encore dans un paysage urbain qui en-
chanterait un Pennell ou un Brangwyn, la delicatesse ouvragee
d'une chässe. Un curieux livre sur les proscrits francjais ä
Bruxelles, du ä Saint-Ferreol, raconte gravement que le cabaret
de la Mort subite, qui existe toujours ä une autre adresse, por-
tait ce nom ä cause de la mauvaise qualite des consommations
qu'on y debitait. Les bons farocrates bruxeliois fremissent d'in-
dignation en lisant une teile imposture. Quant ä la taverne du
Prince of Wales, voici comment la decrit Lemonnier:
Derriere une cour d'entree se joignaient deux pieces, l'une tres petite,
et qui avec son plafond enfume et bas, avait l'air d'une cabine de navire,
l'autre, plus grande, decoree de paysages cynegetiques. C'etait l'une des
trois ou quatre tavernes anglaises que possedait Bruxelles: les brasseries
allemandes ne sevissaient pas encore.
La, tronait Charles Baudelaire, rase de frais, les cheveux en
Volute derriere l'oreille, en escarpins vernis, un col de chemise
mou, d'une impeccable blancheur, depassant le col d'une longue
houppelande, „l'air ä la fois d'un clergyman et d'un commedien".
II y rencontrait Bancel, Ranc, Hetzel, Deschanel, son editeur
Poulet-Malassis, Willem Bürger (Thore), les deux Stevens: Alfred,
peintre de fines elegances du deuxieme Empire, et son frere Joseph,
l'animalier, evocateur attendri, compatissant, des pauvres chiens
584
de trait. Un jour, quelqu'un amena Proudhon qui vivait pauvre-
ment avec sa petite famille, dans une maison d'Ixelles, sous le
nom de „M. Dupont, professeur de mathematiques". Plusieurs
fois, on Vit egalement dans cette taverne, parmi les proscrits,
Dickens qui, avec l'humour qu'on savoure dans les Pickwick Pa-
pers, mimait d'etonnantes histoires.
Plus tard, beaucoup plus tard, dans cette meme taverne du
Prince of Wales, les „Jeune-Belgique" enthousiastes devaient se
reunir bien des fois autour de Paul Verlaine qui, apres avoir
longtemps habite ä Mons „le meilleur des chäteaux", commis-
voyageait chez nous, selon l'expression de Laurent Tailhade, en
eloquence fran^aise. Les refugies de 1851 finirent par s'assurer
ä Bruxelles une tranquille aisance.
„La surveillance vetllleuse de la Sürete publique s'etait ra-
lentie. II y eut bien un refugie rancunier, d'ailleurs obscur, qui,
ayant imagine d'appeler son chien Magnan et sa chienne la Mon-
tijote, faillit soulever un orgage."
Pascal Duprat et Challemel-Lacour donnerent ä Bruxelles
des cours publics. Madier Montjau professait ä la fois ä Bruxel-
les et Anvers, Bancel enseignait la litterature ä 1' Universite Libre.
Durand de Gros, grand precurseur, trop longtemps meconnu,
de l'anthroposociologie et des sciences psychiques, faisait quel-
ques Conferences sur ses premieres recherches scientifiques avant
de partir avec Cantagrel pour l'Amerique oli il devait publier
son Premier livre sous le nom de Dr. Philips. Emile Deschanel,
le pere du president actuel de la Chambre fran^aise, l'auteur du
Romantisme des classiques, „aux levres de qui on voyait voler
l'abeille antique" lan^ait en Belgique un genre nouveau: la Con-
ference, qui depuis . . .
Vers la meme epoque, Alexandre Dumas venait s'etablir
dans un charmant petit hotel du boulevard de Waterloo oü Hugo,
Arago, Hsquirol, Beru, Noel Parfait, Van Hasselt etaient les con-
vives habituels. Lemonnier approcha ces gensj; on devine quelle
saine surexcitation leur frequentation devait exercer sur son
esprit.
II etait fixe ä Profondeville quand lui parvinrent les echos
du tonnerre de Sedan. I! se rendit sur le champ de bataille apres
585
le desastre et, en des pages qui donnent l'epouvante, longtemps
avant la Debäcle de Zola, il evoqua les Charniers de Sedan et
de Bazeilles.
Ce livre vient d'etre reedite et restera comme un formidable
requisitoire contre la guerre, un requisitoire qui est dans les faits
memes, dans la realite rendue fidelement et non dans de creu-
ses declamations.
Quand l'apaisement se tut fait, il ecrivit ses Contes flamands
et wallons, puis revint ä Bruxelles qu'il ne quitta que pour de
Courts sejours ä Paris. L'histoire de sa vie se confond avec celle
de ses livres et n'est marquee par d'autres incidents que les ma-
nifestations organisees en son honneur et de ridicules poursuites
qui aboutirent, devant la cour d'assises de Bruges, ä un acquitte-
ment auquel applaudirent tous ceux qui entendent sauvegarder
la liberte de l'artiste.
Voici les titres de ses principaux romans: un Coin de vil-
lage; en 1881, son Male immortel; en 1882, le Mort, puis en-
core Therese Monique; en 1885, Vtiysterlque; en 1886, Happe-
Chair; en 1888, Madame Lupar; en 1890, le Possede; en 1892,
la Fln des Bourgeois; en 1893, Claudine Lamour; en 1894,
V Arche; en 1895, la Faute de M'^'Charvet; en 1897, Vlle vierge;
en 1898, Adam et Eve, puis VHomme en amour; en 1900, Au
coßur frais de la foret; en 1901, le Vent dans les Moulins, le
Sang et les roses et les Deux Consciences ; en 1902, le Petit
Homme de Dieu; en 1903, Comme va le ruisseau; en 1904, le
Droit au bonheur; en 1905, YAmant passionne et Tante Amy;
en 1906, V Hallali; en 1907, Quand j'etais homme, puis la Chan-
son du Carillon (1912).
On a dit que de nombreuses influences peuvent se discer-
ner dans ces oeuvres: ä commencer par celle du naturalisme,
Sans compter Celles de Cladel et de Goncourt, du symbolisme,
d'lbsen et meme celle de Saint Georges de Bouhelier, le jeune
chef du mouvement naturiste. Avide de nouveaute, il se laissait
entrainer par tous les courants litteraires. 11 n'importe. Dans
l'ample serie de livres qu'il nous laisse, il est quelques ceuvres
maitresses, d'une indiscutable originalite et qui resteront ä coup
586
sur: Un Male, le Mort, le Petit Homme de Dieu, adorable evo-
cation de la vie mystique d'une petite vllle flamande, Vlle vierge,
au Cceur frais de la foret, certains contes et meme cette freie
Chanson du Carillon qui, dans ses meilleures partles, a la deli-
catesse d'une arachneenne dentelle de Bruges, la ville oü le recit
est situe. L'un des romans qui portent le plus remprunte du
naturalisme et qui ont ete les plus discutes, c'est Happe-Chair.
Les gens qui jugent sans avoir lu, pourront se meprendre sur
sur le sens de ce titre. „Happe-Chair", c'est l'industrie, c'est la
machine, c'est la mine, c'est le formidable minotaure moderne
qui devore les vies humaines sans repit, ä Seraing ou au Bori-
nage, au noir pays du fer et du charbon. Dommage qu'il y alt
Germinal, dit-on trop facilement. Lemonnier a prouve par des
dates et des documents que Happe-Chair fut ecrit avant l'oeuvre
epique du maitre de Medan. Au lendemain de sa mort, j'ai re^u
ä ce sujet une lettre curieuse que je crois interessant de citer.
Elle est d'un Ingenieur bien counu en Belgique:
Tout ce que vous dites de notre glorieux ecrivain est vrai. Certains
details pourraient cependant etre rectifies pour celui de ses disciples et
admirateurs qui voudra ecrire sa vie et apprecier son oeuvre.
J'ai eu l'honneur et le bonheur de recevoir chez moi, ä Couillet, pres
Charleroy, en 1882, 83 et 84, Camille Lemonnier et Constantin Meunier.
J'etais alors Ingenieur aux usines de Couillet.
J'ose dire que c'est ä ce moment, au cours des nombreux entretiens
que nous eümes, ie soir, sur la terrasse de ma petite maison de Couillet,
que riliustre Constantin Meunier trouva le chemin qui devait l'immortaliser.
Je crois pouvoir affirmer que c'etait ä Couillet et non ailleurs que le
celebre „Happe-Chair" fut con^u et mis sur pied.
L'exemplaire que j'en possede et qui est precede d'une longue, af-
fectueuse dedicace de Camille Lemonnier en fait foi.
L'ingenieur de „Happe-Chair" est un de mes amis . . . qui me res-
semblait comme un frere. Le directeur Marosquin est le bon, l'excellent
M. Maroquin dont le nom a ete legerement deforme et dont le caractere
a ete, pour les besoins du roman, tout ä fait denature, car c'etait, je le
repete, le meilleur homme de la terre.
J'ai envoye ä Camille Lemonnier et ä Constantin Meunier desfoules de
notes, que l'on retrouvera peut-etre dans leurs papiers.
II va de soi que, pour ce qui me concerne personnellement, je n'at-
tache aucune importance ä ces details. Mais ils peuvent sans doute inte-
resser celui que tentera la monographie de notre mattre immortel et, pour
cela je me tiens, s'il le juge utile, ä son entiere disposition.
Veuillez agreer, Monsieur, l'assurance de mes sentiments devoues et
distingues.
Victor Tahon
587
Lemonnier a beau avoir ecrit Happe-Chair, il fut avant tout
un sylvain, un rustique.
11 aimait par-dessus tout, a dit M. Lindenlaub dans le Tetnps, la liberte
sauvage de la nature et les primitifs qu'elle produit et nourrit dans ses
retraites, forestiers, braconniers, dont il fit son „male" et sa fille des bois.
Si l'on essayait une definition de cette force un peu trouble, mais d'une
rare et intarissable vigueur, on peut dire qu'il aima d'un meme amour sen-
suel et fremissant les mille etres de la foret, depuis la mousse et le brin
d'herbe jusqu'ä la bete et Thomme de la terre, et pareillement les mille
vocables qui s'agitent et qui bruissent dans les feuilles du dictionnaire.
C'etaient pour lui comme les deux faces de la nature, ce pullulement des
etres vivants sous le ciel et des mots dans les livres.
On dira que son style de coloriste, trop Charge, herisse de
neologismes, souffre de cette recherche du terme rare si visible
dejä dans l'oeuvre des Goncourt. Ce n'est pas de sa langue que
Veuillot aurait dit qu'elle est aussi „bien räclee que le canal de
rOurcq". II n'en reste pas moins qu'on admire souvent dans les
meilleures pages de Lemonnier une splendeur verbale etonnante
qui est loin de la clarte et de la concision de Voltaire et d'Ana-
tole France, mais qui, periodiquement, empeche la langue de
s'appauvrir et de se dessecher. Et d'ailleurs, si l'on veut avoir
sur la prose qu'ecrivait Lemonnier, l'opinion d'un des plus purs
stylistes de l'heure presente, qu'on nous permette de citer encore
ces quelques lignes, tres peu connues, que Maeterlinck inscrivait
en maniere de dedicace sur un livre offert ä Lemonnier lors de
la manifestation de 1903:
Camille Lemonnier est peut-etre, de tous les ecrivains actuellement
vivants, celui qui connait le mieux la valeur et la vertu secrete des mots
innombrables comme les vagues de la mer. II les possede tous, depuis
ceux qu'emploient, dans l'existence quotidienne, le paysan, l'ouvrier, la
femme, le medecin, l'homme politique, jusqu'ä ceux qui se cachent, comme
des joyaux ignores mais necessaires, au fond de tous les arts, de tous les
metiers, de toutes les sciences, de toute la vie enfin. Nul, en ce moment,
je pense, n'a au meme degre le don infaillible et supreme d'appeler les
choses par leur nom ; et ce nom, sous sa plume, par un prestige qui lui
est propre, prend toujours une beaute ä la fois ornementale et profonde,
une sorte d'eclat topique, qu'il n'aurait pas ailleurs. C'est lä, selon moi,
parmi toutes les autres qui concourent ä faire de lui Tun des grands ecri-
vains de ce temps, la qualite la plus distincte et maitresse de son oeuvre.
II est, au royaume du verbe, le berger qui mene le troupeau le plus vaste,
le plus divers, le plus docile et le plus magnifique.
Camille Lemonnier a ecrit une süperbe monographie de sa
terre natale : la Belgique est un cantique magnifique de ce grand
588
lyrique de la prose, ä la louange de ce pays si divers dont il
etait Tun des rares ä resumer toutes les tendances, ä comprendre
toutes les nuances sentimentales.
On lui doit encore de nombreux ouvrages de critique d'art
sur Courbet, Constantin Meunier, Alfred Stevens, Emile Claus,
Henri de Braekeleer, etc. Sa critique d'art, selon le voeu de
Flaubert, etait „ä base de Sympathie". Volontairement, Lemonnier
faisait le silence sur les mediocres ou sur les defauts d'une oeuvre
dans laquelle on trouvait l'accent d'une vigoureuse personnalite,
d'un temperament original. Par contre, quels mots lyriques, cha-
toyants et riches il savait trouver pour chanter les mattres de
son esprit et de son coeur. 11 emprunte ä Rubens, ä Delacroix,
äMillet, ä Courbert, leurs ligneset leurscouleurs memes. Pour les
tout petits, pour les enfants qu'il adorait, ce bon geant a ecrit
six livres de belles histoires oü il y a toute la Bonte, toute la
Joie et toute la Douleur humaines.
11 a fonde des revues, collabore aux jou.'-naux et periodiques
de son pays, au Journal, au Figaro, ä Gil-Blas, ä Comcedia.
Tout de suite, les Fran^ais le saluerent comme Tun de leurs
pairs. „Venez! lui ecrivait Daudet, vous serez le bienvenu!"
Et Flaubert lui disait, quels „rugissements" de bonheur il avait
pousses en lisant Un Male dans la foret de Fontainebleau. Cette
cordiale Sympathie des ecrivains fran^ais et surtout des ecrivains
naturalistes, Leon Cladel l'exprimait dans la lettre que voici,
ecrite ä Lemonnier le 27 mai 1883:
Cher ami,
Que je regrette de ne pouvoir etre des vötres dimanche! S'il m'avait
ete permis d'assister ä la fete, je vous aurais toaste ä peu pres en ces
termes: Je bois ä Camille Lemonnier, l'honneur des lettres frangaises de
Belgique; cette expression est de moi; je la revendique . . . Gaulois du
Sud-Ouest, je bois ä mon confrere et ami Gaulois du Nord-Est de la
France. Vivent les lettres fran(;aisesl et que, dans la Republique des Lettres,
11 y ait des rivaux, mais pas d'ennemis ! Tel est mon souhait.
Voilä des mots reconfortants qu'il est bon de rappeler aux
„Fran^ais du dehors", au moment oü quelques nationaleux,
meconnaissant l'une des plus nobles traditions fran^aises, parlent
de reconduire aux frontieres ceux qu'ils appellent les meteques
de la litterature.
589
A la meme date, Emile Zola ecrivait aux ecrivains de la
Jeune-Belgique la lettre que voici:
Mon eher confrere,
J'aurais ete tres heureux de temoigner publiquement ä Camille Le-
monnier ma vive Sympathie litteraire. Cependant, j'avoue que j'aurais
peut-etre hesite ä le faire dans la circonstance presente. Toute ma vie,
j'ai Proteste contre les prix iitteraires.
On n'a pas couronne Lemonnier. Eh bien! tant mieux pour lui; je
l'estime heureux d'avoir echappe ä Testampille gouvernementale, voüä tout.
Pourquoi donc vous etes-vous revoltes et avez vous manifeste, lorsque
l'honneur de votre am! est de rester ä l'ecart, original et fort?
C'est ainsi que Lemonnier restera dans la mort et la gloire.
Bientöt, par les soins du Journal Le Solr de Bruxelles et de
rAssociation des Ecrivains Beiges, un monument aux lignes sim-
ples et puissantes perpetuera, au coeur de la foret qu'il a tant
aimee, qu'il a magnifiquement chantee, la memoire de ce fier
ecrivain, „honneur des lettres fran^aises", ä qui la Belgique doit
en grande partie la belle efflorescence litteraire dont eile donne
depuis vingt-cinq ans le spectacle.
BRUXELLES LOUIS PIERARD
DDD
„La vie de l'homme nous offre dans toutes ses manifestations un
gaspillage effroyable d'efforts et d'existences. Qui sait? Aucun de ces efforts
n'est perdu peut-etre; mais, pour croire au progres integral, on est oblige
de mettre, pour ainsi dire, l'eternite dans son jeu. Pour le progres linguis-
tique, il n'en va pas autrement: l'histoire du langage offre l'image d'une
depense insensee de formes linguistiques : ce n'est qu'une succession de
ruines et de reconstructions.
„Une seule chose ne peut etre niee: l'aspiration de l'homme vers le
mieux, sa foi dans la perfectibilite de toutes choses. Cette foi est inlas-
sable, eile renait apres toutes les deceptions et toutes les chutes. La Phi-
losophie est une preuve admirable de cet instinct inderacinable: depuis que
l'homme s'est mis ä penser, les philosophes ne cessent d'edifier des sys-
temes qui tous semblent nous ouvrir les portes de l'infini et de l'eternite,
et qui le lendemain sont aneantis par des systemes opposes; mais chaque
fois, la poussee vers la vie et la croyance reprend un nouvel essor. Malgre
ses chutes et ses perpetuels recommencements, l'homme continue sa route,
le regard fixe vers des cimes supraterrestres. Les atteindra-t-il un jour? Ce
n'est pas ä nous de repondre."
Le Langage et la Vie CH. BALLY
Genöve, Atar 1913
ODD
590
DIE NÄCHSTENLIEBE
EIN ERDACHTES GESPRÄCH VON PAUL ERNST
Sapricius, ein Praetor. Secundus, ein jüngerer Beamter des Sapricius.
Zeit der Christenverfolgungen.
Sapricius (nervös-hypochondrisch) : Junge Leute können so
etwas noch nicht beurteilen; sie hören das Wort, aber kennen
nicht die Sache, welche mit dem Wort gemeint ist.
Secundus: Wie? Wenn die Christen von Nächstenliebe
sprechen, so meinen sie etwas anderes wie Liebe? Habe ich
nicht selber gesehen, wie sie diese Nächstenliebe ausüben —
Sapricius: Du hast Handlungen gesehen, welche als Liebes-
handlungen gedeutet werden können und auch wirklich gedeutet
werden. Aber das scheint mir wenig zu beweisen ; denn die
Deutungen, die wir den Ursachen unserer Handlungen zu Teil
werden lassen, oder wenn du lieber willst, unsere Motive, können
ja doch ein Selbstbetrug sein.
Secundus: Ich sah nirgends so forschende Psychologen wie
bei den Christen.
Sapricius: Ein schlimmes Zeichen für die Richtigkeit ihrer
Deutungen. Man psychologisiert erst dann, wenn man sich im
Unrecht fühlt.
Secundus: Und du selbst —
Sapricius: Vielleicht aus demselben Grunde. Ich habe als
Beamter die Pflicht, die Christen zu Opfern für die anerkannten
Götter zu veranlassen; das Gesetz ist gegeben in der Annahme,
dass es zwar eines jeden Sache sei, ob er an die betreffenden
Götter glauben will oder nicht, aber dass der offizielle Kult nötig
für den Bestand der Gesellschaft ist. Vielleicht habe ich gedacht,
dass dieser Grund doch nicht der richtige sein kann, denn die
Juden, welche doch den anerkannten Göttern auch nicht opfern
wollen und ihren Judengott gleichfalls für den einzigen Gott halten,
lässt man in Ruhe. Ich bin zwar Beamter, habe das Gesetz nicht
gemacht, und bin nur verpflichtet, es auszuführen; aber vielleicht
591
habe ich doch Gewissenszweifel gehabt und deshalb psychologi-
siert: weshalb ist eigentlich ein solches Gesetz erlassen?
Secundus: Ach, und du meinst, die Christen sind Heuchler,
ihre Nächstenliebe ist nur eine fromme Verstellung, und deshalb
hasst man sie?
SapriciüS: Deine Psychologie ist schlecht, mein Freund. Für
eine Heuchelei geht man nicht in den Tod — Heuchelei ist
außerdem sehr selten.
Secundus: Aber was dann?
Sapricius: Hast du nicht gedacht, dass die Nächstenliebe für
den Menschen doch eigentlich unmöglich ist? Wenigstens für
den Menschen, wie wir ihn kennen —
Secundus (verlegen): Ach —
Sapricius: Ich glaube ja nicht gerade, dass sie von vielen
Christen wirklich ausgeübt wird, aber sicher wird sie es von
einigen, und jedenfalls ist sie eine Forderung an alle.
Secundus: Also du gibst selbst zu —
Sapricius: Aber wie ist es denn möglich, dass sie von eini-
gen geübt, von allen verlangt wird? Was ist das für eine Religion,
in der das möglich ist? Hier liegt der Haken. Ein jeder Mensch
muss sich selber behaupten, das ist das Natürliche, anders kann
kein Lebewesen existieren. Der letzte Tagelöhner kann nur da-
durch leben, dass für ihn er selber das Wichtigste auf der ganzen
Erde ist. Den Nächsten mit seinen Interessen muss ich erdulden,
denn er hat die Macht, die Duldung zu erzwingen; ich kann
freundlich und gütig gegen ihn sein, wenn meine Umstände ge-
nügend gut sind, dass ich ihm von meinem Reichtum abgeben
kann, ohne mich selber allzusehr zu schädigen; ich gewinne dann
sogar einen Klienten, habe auch selber ein befriedigendes Gefühl,
weil ich meine Macht gezeigt habe. Aber wie kann ich ihn lieben
wie mich selber? Wie kann ich ihm den linken Backen bieten,
wenn er mir einen Streich auf den rechten gibt, ihm auch noch
den Mantel lassen, wenn er mir den Rock nimmt? Ich negiere
ja die Bedingungen meiner Existenz.
Secundus: Meiner äußeren Existenz.
Sapricius: Meiner äußeren Existenz? Du sprichst das Wort
aus, vielleicht hast du es gar nicht selber verstanden, junger Mann.
592
Ja, die Bedingungen meiner äußeren Existenz. Denn der Christ
glaubt in seinem Walinwitz noch an eine metaphysische Existenz;
die ist ihm allein wichtig. Ich rede hier nicht von den Mythen,
welche unter diesen Leuten umgehen: von Auferstehung des Leibes,
jüngstem Gericht, ewigem Leben und ähnlichem; nur von dem,
was diesen Mythen zu Grunde liegt: von dem Glauben an eine
metaphysische Existenz und an ein Leben in Gott. Muss ein
solcher Glaube nicht jeden andern Menschen erbittern, zu ihrem
Todfeind machen?
Secundus: Wie? Kann dir nicht gleichgültig sein, was
andere glauben?
Sapricius: Es kann mir alles gleichgültig sein, was sie glau-
ben, außer diesem Einen. Denn mit diesem Einem negieren sie
ja meine eigene Existenz.
Secundus: Aber wenn du nur an eine äußere Existenz glaubst,
was kann dir das ausmachen, wenn Andere noch an eine andere
glauben ?
Sapricius: Weil meine äußere Existenz, die ich allein habe,
denn ich glaube nur an sie allein, dann eben wertlos wird.
Secundus: Weil Andere sie für wertlos halten?
Sapricius: Alle Dinge haben ja ihren Wert nur dadurch,
dass die Anderen an ihren Wert glauben. Was nutzt dir Geld
unter Wilden, Ruhm unter Ignoranten, Gesundheit unter Kranken,
Weisheit unter Narren?
Secundus: Aber du lebst doch nicht unter Christen, sondern
der Christen sind nur wenige, und unter diesen sind die, welche
es ernst meinen, wiederum wenige.
Sapricius: Es genügt, wenn Einer sagt: was du hast, ist
wertlos.
Secundus: Dann müsstest du ja die Ansicht des Einen für
richtig halten ; in diesem Fall aber wäre doch die Folge, dass du
selber Christ würdest?
Sapricius (im Ton des Vorgesetzten): Wir haben nun lange
genug geplaudert, gehe an deine Arbeit.
Secundus (geht).
Sapricius (für sich): Er ist ein Christ, ich sehe es. (ihn zurück-
rufend): Du hast die beiden letzten Jahre den öffentlichen Opfern
zum Numen des Kaisers nicht beigewohnt.
593
Secundus: Ich — meine Gesundheit — ich war in ärztlicher
Behandlung — es ist so zugig auf dem Opferplatz — das ärztliche
Zeugnis muss bei den Akten sein.
Sapricius: Ich habe es gesehen. Natürlich musst du das
Opfer nachträglich verrichten.
Secundus: Es ist ja nur eine Zeremonie —
Sapricius: Ich weiß, aber es ist eine besondere Verfügung
gekommen, weil zu viele heimliche Christen unter allerlei Vor-
wänden das Opfer unterlassen haben.
Secundus: Und wann befiehlst du?
Sapricius: Der Priester ist jetzt draußen, wir können gleich
gehen.
Secundus: Man soll Gott mehr gehorchen wie den Menschen.
Ich bin ein Christ.
Sapricius: Die Folgen sind dir bekannt?
Secundus: Ich bin römischer Bürger; man kann mich zum
Tode verurteilen, wenn schon mir das Gesetz gegen die Christen
nicht rechtmäßig ergangen zu sein scheint, aber man kann mich
wenigstens nicht foltern.
Sapricius: Du bist im Irrtum. Man nimmt an, dass die
Personen, welche nicht opfern wollen, nicht ganz zurechnungs-
fähig sind und durch köperliche Schmerzen zur Besinnung ge-
bracht werden können. (Er klingelt; zwei Wachen treten auf.) Secundus
ist ins Untersuchungsgefängnis abzuführen. (Die Wachen wollen mit
Secundus abgehen; Sapricius ruft nochmals): Secundus.
Secundus: Was befiehlst du?
Sapricius: Ich bin doch dein Nächster, Secundus. Liebst du
deinen Nächsten?
Secundus: Mein Herr hat am Kreuz gesagt: Gott, vergib
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Sapricius (nach einer Pause): Weißt du noch nicht, was eure
Liebe ist? Sie ist Verachtung. Und wunderst du dich noch,
wenn alle Menschen euch hassen? Ich kann meinem Mörder
vergeben, aber ich kann nicht dem Mann vergeben, der mich
verachtet.
Secundus: Deine Hände zittern, Sapricius, meine Hände
sind ruhig.
594
Sapricius: Fürchtest du nicht Folter und Tod?
Secundus: Ich fürchte sie, aber schon du, Sapricius, würdest
deine Furcht bezwingen können, aus bloßer Eitelkeit, damit die
Leute nicht deine Furcht sehen ; wie viel mehr werde ich sie be-
zwingen können, der ich diese Eitelkeit auch habe und außerdem
noch weiß, dass dieses äußere Leben ja bedeutungslos ist gegen-
über dem anderen Leben.
Sapricius: Ja, vielleicht ist bei deinen Ansichten weniger Mut
nötig wie bei meinen.
Secundus: Ich glaube auch.
Sapricius: Aber wie kannst du mich denn dann verachten?
Secundus: Ich habe mir dein Wort von der Verachtung über-
legt. Du bist im Irrtum, Sapricius. Ich achte dich nicht weniger
wie mich selbst; aber wir Christen denken, der Mensch, wie er
sich selber erscheint, mit seinen Wünschen, Leidenschaften, Hoff-
nungen und Ängsten ist nicht so wichtig wie ihr denkt; er ist ein
Wesen, welches kommt und weiß nicht woher, geht und weiß
nicht wohin, und dabei immer denkt, dass es Zwecke und Ziele
hat; diese Zwecke und Ziele liegen alle in dem Raum „weiß nicht"
beschlossen, sind also unwichtig; wichtig ist nur das Woher und
das Wohin, das aber ist Gott. Aus dieser Gleichgültigkeit gegen
das in dem Raum „weiß nicht" Beschlossene ergibt sich natur-
gemäß unsere Nächstenliebe, ergibt sich auch unsere Furchtlosigkeit.
Sapricius: Du liebst also deinen Nächsten wie dich selbst,
weil dein äußeres Leben dir eben so gleichgültig ist wie das seine?
Du verachtest nicht die anderen Menschen?
Secundus (lächelnd): Du sagtest vorhin von den Juden, welche
gleichfalls euern Göttern nicht opfern; die Juden aber sind es
doch, welche alle Andersgläubigen verachten, weil sie sich im Be-
sitz eines besonderen Gutes wähnen; dennoch verfolgt ihr die
nicht, sondern findet sie nur lächerlich ; es muss also den Christen-
verfolgungen, so weit sie nicht politische Gründe haben, doch
etwas anderes zugrunde liegen wie deine geglaubte Verachtung.
Sapricius (klingelt; sein S^^//i;^/-^r^^^r erscheint; zu dem Stellvertreter):
Ich übergebe dir hiermit meine Geschäfte, bis der Kaiser etwas
weiteres verordnet. (Zu den Wachen) : Führt mich mit in das Unter-
suchungsgefängnis, ich bin gleichfalls ein Christ.
ODD
595
DIE ZIELE DER ÄRZTLICHEN
SEELENFORSCHUNG
(Schluss.)
Die inneren Zusammenhänge der psychoneurotischen Er-
scheinungen liegen nun aber auf Gebieten, die unserer alltäglichen
Beobachtung nicht ohne besondere Schulung zugänglich sind; sie
wurzeln vor allem in der treibenden Kraft unseres Seelenlebens,
in den Gefühlen, der Affektivität. Wie wir beim fahrenden Schiffe
von der ganzen emsigen Räderarbeit der Maschine kaum mehr
wie eine leichte Erschütterung spüren, wenn wir auf Deck
stehen, so entzieht sich oft die Arbeit der Affekte größtenteils
unserem Bewusstsein, und wir erkennen sie erst, wenn wir ins
Unbewusste hinabsteigen. Bei diesen Studien hat uns die Hypnose
sehr wesentliche Dienste geleistet und tut es heute noch, denn
sie stellt den einfachsten Weg dar, wie wir uns unter teilweiser
oder gänzlicher Ausschaltung des Wachbewusstseins mit unbe-
wussten psychischen Zentren in Verbindung setzen können. In
diesem Zustande ist es am leichtesten, direkt auf die Affektivität
eines Menschen einzuwirken, ohne die oft unzugänglichen Bahnen
des bewussten Denkens in Anspruch zu nehmen. Eine derartige
direkte Einwirkung auf das Gefühlsleben bezeichnen wir als
Suggestion.
Von der Beschäftigung mit dem Hypnotismus ausgehend
setzen nun in der neuesten Zeit Forscher ein, die das verdienst-
liche Werk zu unternehmen suchen, die Gesetze der unbewussten
psychischen Erscheinungen näher zu untersuchen. Die Bestre-
bungen knüpfen an die Arbeiten französischer Psychologen und
insbesondere an die Namen Breuer und Freud an, der der Rich-
tung den Namen der „Psychoanalyse" gab. in Zürich liegt be-
kanntlich zurzeit ein Brennpunkt dieser, leider auch außer der
fachwissenschaftlichen Welt heiß umstrittenen Bestrebungen. Der
eine Teil dieser Forscher will Affekte, die sich im Unbewussten
im Anschluss an schwere Erlebnisse irgend welcher Art aufgestaut
haben sollen, in einem Zustand ganz leichter Hypnose ins Be-
wusstsein bringen; durch das hierbei zustandekommende Frei-
596
werden der Gefühle soll das psychische Gleichgewicht in derartigen
Fällen wieder hergestellt und damit die Heilung erreicht werden.
Der andere Teil dieser psycho-therapeutischen Richtung, und an
ihrer Spitze Freud selbst, geht weiter und will die Grundlage der
psychoneurotischen Störungen in einer falschen psychischen Ent-
wicklungsrichtung, insbesondere der Affektivität, suchen, die bis
in die früheste Kindheit zurückliegt.
Von der gewiss richtigen Annahme ausgehend, dass auch in
den tieferen Schichten des seelischen Lebens nichts zufällig sei,
werden die verschiedensten Äußerungen des Unbewussten, insbe-
sondere auch der Traum, zur Durchforschung herangezogen. Die
Ausdrucksarten des unbewussten Geschehens weichen von dem
Ablauf der seelischen Erscheinungen im Wachbewussten wesent-
lich ab. Wer seine eigenen Träume im Gedächtnis behalten hat,
weiß das ohne weiteres. Infolgedessen werden auch die Forschungs-
methoden, die wir für diese Richtung anwenden müssen, andere
sein wie die zu den bisherigen psychologischen Untersuchungen
gebräuchlichen. Irrtümer sind bei jeder neuen Arbeitsmethode,
die nicht unter der beständigen Kontrolle des Experimentes ge-
halten werden kann, möglich, ja sogar wahrscheinlich, ohne dass
dadurch etwas für die generelle Unrichtigkeit der Arbeitsrichtung
bewiesen wäre. Ebenso wenig kann die Anschauung und Arbeits-
methode Freuds und seiner Anhänger mit einer Ablehnung der
vielleicht überstarken Betonung des sexuellen Momentes abgetan
werden, wenn diese auch in der Praxis für manche Kranke eine
besondere Vorsicht rechtfertigt. Das Widerspiel zwischen den
zum Teil allzu begeisterten und in maßlose Extreme sich ver-
steigenden Vorkämpfern einer neuen Richtung und einer konser-
vativen, stellenweise verständnislos zurückweisenden Mehrheit der
Wissenschaft kann für die Erforschung der Wahrheit nur nütz-
lich sein. Als unrichtig aber muss es bezeichnet werden, Anhänger
für neue Anschauungen, die bei der offiziellen Wissenschaft noch
wenig Anklang finden, in jenen Kreisen zu suchen, die mangels
des nötigen Rüstmaterials zu einer Kritik nicht fähig sind und dem
guten Kern einer Sache mehr schaden als nützen. — Wenn auch
die Wege solch neuer Forschungen manchmal in Schlangenlinien
führen, so liegt doch das Ziel aller dieser Bestrebungen klar vor
den Augen: Unsere Kenntnis von den seelischen Vorgängen bei
597
den Psychoneurosen soll vertieft werden. Die Zeit wird auch in
diesen Dingen das Korn von der Spreu sondern.
Wenn, wie erwähnt, die Vorgänge bei den funktionellen seeli-
schen Erkrankungen meist nur quantitativ von den normalen psy-
chischen Erscheinungen verschieden sind, so muss uns die tiefere Er-
forschung dieser pathologischen Zustände die wertvollsten Ergebnisse
für die Kenntnis des gesunden Geisteslebens ergeben. — Der
wissenschaftliche Fortschritt ist aber auch auf diesem Gebiete das
beste Mittel, um die vorteilhaftesten Heilungsbedingungen kennen
zu lernen. Die Zahl der zu Psychoneurosen disponierten Men-
schen ist äußerst groß. Es muss unser Ziel sein, nicht nur die
Störungen des seelischen Gleichgewichts zu heilen oder zu bessern,
sondern insbesondere sie verhüten zu lernen. Wenn die seelische
Verschiedenheit zwischen den einzelnen Menschen auch sehr groß
ist, so werden wir doch mit der Zeit durch die wachsende Er-
fahrung die allgemein gefährlichsten und konfliktreichsten Momente
kennen und umgehen lernen.
Die Vorbeugung ist der sozial wichtigste Teil der Heilkunde,
und so muss auch die psychische Hygiene der höchste Gesichts-
punkt der ärztlichen Seelenforscher sein ; dabei ist zu berücksich-
tigen, dass das erwachsene Individuum psychisch für sich allein
anders reagiert, wie der in der Entwicklung stehende Mensch
und besonders wie eine Masse von Personen. Diese Unterschiede
müssen deshalb genau untersucht und berücksichtigt werden.
Von besonderer Wichtigkeit ist hier das Studium der seeli-
schen Entwicklung der heranwachsenden Menschen. Über die
Art der Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten, die beste An-
ordnung der einzelnen Lerngebiete, die Ermüdung und ähnliche
Erscheinungen hat uns die pädagogische Psychologie bereits sehr
brauchbare Resultate geliefert, und es ist zu erwarten, dass sie
die weiter nötigen Aufklärungen auch ohne Mitwirkung speziell
des Arztes zu geben imstande sein wird. Es wird aber wohl
allgemein anerkannt, dass unsere heutige Jugendbildung zu sehr
intellektualistisch ist, und dass das Gefühlsleben darüber vernach-
lässigt wird. An einer Methodik zur erzieherischen Beeinflussung
der Affektivität fehl es noch durchaus, und es ist heute ganz dem
nicht allzu häufigen Geschick des Lehrers oder der Eltern über-
lassen, ob in dieser Richtung der richtige Weg gefunden wird.
598
Die Affekte gerade lassen sich einstweilen in ihren feineren Ab-
stufungen noch nicht genügend experimentell fassen, und ihre
bewusste Beobachtung und Wertung ist ohne die Gefahr bestän-
diger Täuschung äußerst schwierig. Zur Erfassung dieser Fein-
heiten in der Seele des Kindes bedarf es des praktisch geschulten
Auges. Wer gelernt hat, die gröberen Unterschiede der Affek-
tivität, wie sie sich in krankhaften Zuständen aussprechen, zu
beobachten, wird hier am leichtesten zu einigermaßen sicheren
Resultaten kommen. Es dürfte dabei vorteilhaft sein, von der
Beobachtung des seelisch, insbesondere inbezug auf das Gefühls-
leben kranken Kindes auszugehen. Hier wird es gerade dem
Arzte leichter, von den Eltern wie von dem kleinen Patienten
selbst genauere Auskunft zu erhalten ; denn der Gesunde hat, ob
er nun jung oder alt ist, eine instinktive Abneigung dagegen, sein
innerstes Gefühlsleben einem andern Menschen als dem, von dem
er Hilfe erwartet, zu eröffnen. Dieser Teil der psychiatrischen
Durchforschung des Kindesalters ist heute noch kaum in den
Anfängen vorhanden und zwar aus praktischen Gründen. Das
psychisch abnorme Kind kommt mit wenigen Ausnahmen nur
dann in Beobachtung eines spezialistisch gebildeten Arztes, wenn
es intellektuell schwachsinnig ist; sonst bleibt es in der Obhut
der Familie oder der Schule. Man findet sich mit seinen Ge-
fühlsstörungen so gut wie möglich ab, ohne einen genaueren
Einblick in ihre Entstehung und ihr Wesen zu erhalten.
Wenn wir die psychiatrische Forschung aus den Mauern der
Irrenanstalten, in die sie bis jetzt zum größten Teil eingeschlossen
war, hinausverlegen, wird es uns möglich sein, diese wichtige
Arbeit an die Hand zu nehmen. Um nur einige Beispiele anzu-
führen wird es nötig sein, vielfach bei Kindern, die ethische De-
fekte zeigen, genau zu untersuchen, was davon die Folge einer
ererbten Anlage und was der Einfluss des Milieus ist, wie diese
verschiedenen Ursachen wirkten und wie sie zu beseitigen sind.
Aus diesen Studien wird sich dann hoffentlich mit der Zeit eine
feste Grundlage der Moralpädagogik ergeben. Es ist wohl nicht
nötig darauf hinzuweisen, dass heute gerade hier sehr wesentliche
Lücken bestehen. Viel größere Schichten der Bevölkerung wie
früher stehen nicht mehr unter dem Einfluss der religiösen Moral-
lehre. Wir sehen noch keineswegs, dass die Lücke, die hierdurch
599
frei geworden, ausgefüllt wird. Die Entwicklung einfach zurück-
zuschrauben wird wohl aus vielerlei Gründen auf diesem Gebiete
ebenso wenig möglich sein wie auf anderen. Der neue Weg
muss, entsprechend unserer ganzen Kulturentwicklung, im Einklang
mit den heutigen Lebensanschauungen stehen ; eine genaue Kennt-
nis der Entwicklung und der Beeinflussbarkeit der ethischen Seite
des Gefühlslebens wird wesentliches beitragen, um hier die richtige
Spur zu finden.
Ein anderer Punkt, wo wir inbezug auf die Beeinflussung
der kindlichen Affekte noch sehr im Dunklen sind, ist die Ent-
wicklung der sexuellen Gefühle. Wir besitzen bei weitem noch
nicht genügend psychologische Erfahrung, um zu entscheiden, in
welchem Alter eine sexuelle Aufklärung des Kindes angebracht
ist. Wir wissen aber aus der ärztlichen Erfahrung, wie unendlich
viel Unglück, auch innerhalb der Gesundheitsbreite, durch falsche
Richtungen verursacht wird, die dieser in unseren sozialen Ver-
hältnissen mächtigste Trieb einschlägt. Wir sehen, dass zum Bei-
spiel eine Unmenge Menschen unter einem unbegründeten psychi-
schen Druck leiden und für eine oft lange Reihe von Jahren in
ihrer geistigen Entwicklung dadurch gehemmt werden, dass sie
gewisse leichtere Abweichungen von der normalen Sexualbetätigung
(am häufigsten die so sehr verbreitete Onanie) als schv/ere morali-
sche Schuld empfinden. Andere werden durch falsche, aber ver-
meidbare Einwirkung auf ihre Sinnlichkeit und das Fehlen einer
entsprechenden Hilfe in perverse Richtungen getrieben, die ihr
ganzes Lebensglück untergraben. Die unvollständige Durch-
forschung der Entwicklung des Sexualtriebes verhindert uns einst-
weilen, in diesem Punkte pädagogisch und vorbeugend einzuwirken.
Es dürfte wohl keinem Zweifel unterliegen, dass der psychologisch
gut gebildete Arzt der beste Beobachter und Helfer auf diesem
Gebiete der Erziehungslehre werden könnte.
Die Berufswahl wirft Probleme auf, die heute vielfach dem
Zufall überlassen sind, und das weder zum Vorteil des Einzelnen
noch der Gesellschaft. Es ist in der Tat oft bei einem Individuum
gar nicht möglich, in der Pubertätszeit schon zu bestimmen, für
welche Berufsrichtung eine Anlage am besten geeignet ist; eine
systematische Forschung in dieser Richtung müsste Regeln finden
können, nach der sich, natürlich nicht ohne Ausnahme, die
600
spätere Entwicklung einer noch unfertigen Individualität einiger-
maßen voraussehen ließe; v^^ie viel Unglück könnte vermieden
werden, wenn den Eltern in der so überaus wichtigen Frage eine
auf genaue Kenntnisse sich stützende Hilfe des Psychologen zur
Seite stehen könnte?
Aber auch im Leben des Erwachsenen gibt es eine Unmenge
Fragen und Konflikte, die typisch bei den verschiedensten Men-
schen wiederkehren und die durch eine systematisch-psychologische
Betrachtungsweise richtiger und leichter gelöst werden könnten.
Es sei hier an die seelischen Probleme erinnert, die sich im ehe-
lichen Zusammenleben ergeben. Wer als Arzt Gelegenheit hat,
tiefer in die Beziehungen von Gatten hineinzublicken, der weiß,
wie viel Fehler inbezug auf die gegenseitige Einwirkung der Ge-
fühle hier gemacht werden ; sie wären oft vermeidbar und könnten
auch später wieder gut gemacht werden, wenn der richtige sachver-
ständige Rat, so lange es Zeit ist, zur Stelle wäre. Auch hier
griff früher in ganz anderem Maße wie heute, oft mit intuitivem
Verständnis, der Geistliche oder der erfahrene Hausarzt ein, der
ja heute auch immer seltener wird. — in die gleiche Kategorie
gehört die wichtige Frage, in welchem Maße die geistige oder
auch die körperliche Berufsarbeit von Zeiten der Erholung zweck-
mäßigerweise unterbrochen werden sollte. Es wäre zu prüfen,
inwieweit diese freie Zeit zu körperlicher Kräftigung und inwieweit
zu anregender geistiger Arbeit, die außerhalb des Berufslebens
liegt, benützt werden sollte. Der Einfluss der Kunst auf unser
seelisches Leben sollte studiert und in ganz anderem Maße syste-
matisch ausgenutzt und befördert werden wie heute. Schließlich
wäre die Wirkung der verschiedenen Genussmittel zu untersuchen,
die chemisch auf unser Gehirn wirken, und es wäre die beste
und am wenigsten schädliche Art dieses Einflusses festzustellen.
Der psychischen Hygiene des einzelnen Menschen wäre nun
als ebenso wichtiges, wesentlich andersartiges Gebiet die Unter-
suchung des seelischen Verhaltens einer größeren Zahl von Indi-
viduen oder der Gesamtheit eines Volkes zu untersuchen. Als
pathologisches Vergleichsmaterial könnte hier bei den nicht selte-
nen Fällen eingesetzt werden, wo krankhafte Seelenzustände durch
ihre starke Suggestivwirkung auf gesunde Glieder einer großen
Menge übertragen werden (Massenpsychosen). Ich erinnere
601
an die von Stoll so trefflich beschriebene Verzückungsepidemie
in dem Zürcher Dorf Buch im Jahre 1819, an die Kreuzigung in
dem benachbarten Wildensbuch aus dem Jahr 1823 und an viele
Sektenbewegungen aller Zeiten. Es ließen sich ja hiefür eine
Menge Beispiele aus jeder Epoche der Geschichte anführen. Be-
sonders demonstrativ sind die Fälle, wo eine Menge von Men-
schen unter dem Einfluss einer besonders starken Idee eigentliche
Verbrechen begehen, zu deren Ausführungjeder von ihnen allein nie
gekommen wäre. Wir wissen heute schon, dass eine Mehrzahl
von Menschen in der gleichen Konstellation anders seelisch rea-
gieren wie der Einzelne ; aber genauere Gesetze dieser Abweichung
könnten erst durch eingehende und vielfache Untersuchungen
festgestellt werden, zu denen heute nur — wenn auch wertvolle —
Anfangsstudien vorliegen.
Wenn auch die wirtschaftlichen Faktoren im sozialen Leben
besonders stark wirken, so darf doch neben ihnen die Bedeutung
der seelischen Anlage und des psychischen Einflusses der Um-
gebung nicht unterschätzt werden. Die soziale Frage ist nicht
nur eine Brotfrage, und manche Ausgleichung bedauerlicher Gegen-
sätze könnte unterstützt werden, wenn wir die Faktoren der
Massenpsychologie dabei besser kennen und berücksichtigen
würden.
Der Hang, den die Mehrzahl der Menschen auch außerhalb
des Religiösen zum Mystischen hat, ist in seinen Wurzeln noch
nicht genügend erforscht. Er verdichtet sich in der Masse zu
gefährlichen Erscheinungen. Es ist bekannt, dass gerade jetzt
wieder in unseren großstädtischen Bildungszentren ein Anwachsen
der tollsten abergläubischen Vorstellungen besteht, das eine Ge-
fahr für den ruhigen Fortgang unserer Kulturentwicklung werden
kann. Über die Gründe der bedauerlichen Erscheinung sind wir
nicht genügend orientiert; ihre Durchforschung wäre aber für die
Beförderung der Volksbildung und Aufklärung wichtiger, wie
manche unserer heute zum sozialen Wohl getroffenen Einrich-
tungen, die bei der wohltätigsten Absicht ihr eigentliches Ziel
verfehlen.
Aus einer genaueren Verfolgung dieser Gesichtspunkte heraus
könnten vielleicht auch manche auffallenden Erscheinungen im
politischen Leben eine Erklärung finden. Gerade für ein rein
602
demokratisches Staatswesen müsste die Aufdeckung aller psycho-
logischen Wirkungen, die zum Beispiel bei Abstimmungen mit-
spielen, überaus lehrreich sein ; es könnte ferner untersucht wer-
den, ob und welche neuen, speziell wohl gefühlsbetonten Kräfte
durch die angestrebte Stimmberechtigung der Frauen wirksam
würden.
Es wurden hier einige der Ziele angeführt, zu deren Erreichung
besonders der psychologisch gebildete Arzt, der weniger von der
Theorie ausgeht, dafür aber mit dem Leben in engster Fühlung
steht, geeignet wäre. Ich glaube gezeigt zu haben, dass die an-
geführten Gesichtspunkte von größter Wichtigkeit sind, und zwar
nicht nur für die rein wissenschaftliche Erkenntnis, sondern direkt
für die Fortentwicklung des Einzelnen und der Gemeinschaft.
Dieses erst am Anfang seines Ausbaus stehende Lehrfach kann
nicht besser bezeichnet werden wie „Medizinische Psychologie",
Es wird zusammenarbeiten mit jenem Seelenforscher, der sich
des Rüstzeugs der philosophischen Richtung und des experimen-
tellen physiologisch-psychologischen Laboratoriums bedient, aber
es wird nie die Fühlung mit der möglichst exakten Beobachtung
am lebenden und vor allem am kranken Menschen verlieren.
Die psychiatrische Klinik muss der Stützpunkt dieser Forschungs-
richtung werden, ohne dass dadurch die Förderung der Fürsorge
für die Geisteskranken oder andere von ihr zu pflegende Wissens-
zweige (anatomische, physiologische etc.) Einbuße leiden. Durch
diese veränderte Auffassung wird auch die Psychiatrie ihre Stel-
lung im Kreise der Wissenschaften wesentlich verändern. Sie war
vor noch nicht langer Zeit ein medizinisches Nebenfach, das in
der Hauptsache die richtige Beobachtung und geeignete Versor-
gung der internierungsbedürftigen Geisteskranken behandelte. Das
Gehirn ist nun aber doch das höchste Organ, das wir besitzen;
auf ihm beruht unsere ganze Kulturentwicklung. So ist es eine
Forderung der nächsten Zukunft, dass die psychiatrische Klinik
aus den Mauern der Irrenanstalt befreit werden muss, um in
erster Linie ein Forschungsinstitut zu werden, das dafür arbeitet,
Mittel zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit und zur Vermeidung
der Störungen des menschlichen Gehirns zu finden.
Einen äußerst wichtigen Bestandteil dieser Aufgabe bildet
natürlich auch der klinische Unterricht der Studierenden. Wer
603
bis vor kurzem sich der Psychiatrie widmen wollte, der musste
in den meisten Fällen seine Tätigkeit auf den relativ engen und
manche Schattenseiten mit sich bringenden Wirkungskreis einer
Irrenanstalt beschränken. Tritt diese Disziplin auch praktisch in
das Leben hinaus, so werden sich neue Wirkungsgebiete erschließen,
die manchen tüchtigen Mitarbeiter anziehen werden, der früher
fern geblieben wäre. Aber auch die Gesamtheit der heranzubil-
denden Ärzte muss immer tiefer psychologisch geschult werden,
damit sie die überaus häufigen seelischen Ursachen von schein-
bar andersartigen Krankheitszuständen erkennt; und in steigendem
Maße muss sie darin geschult werden, auch körperlich Leidende
psychisch in richtiger Weise anzufassen. Wie das Gehirn eine
hervorragende Stellung unter den Organen unseres Körpers ein-
nimmt, so wird die medizinische Psychologie mit ihrem sozialen
Brennpunkt, der psychischen Hygiene, für alle andern Zweige der
„Universitas literarum" von steigender Wichtigkeit werden und
wieder umgekehrt von deren Ergebnissen Nutzen ziehen. Von
der ärztlichen Seelenkunde sollte schon heute jeder werdende
Geistliche, Jurist oder Lehrer wenigstens etwas auf sein Wirkungs-
gebiet mitnehmen. Je mehr dieses Forschungsgebiet ausgebaut
wird, desto inniger wird der Zusammenhang werden.
Die praktischen Vorschläge für die Beförderung dieser Ent-
wicklung bestehen vor allem in dem Wunsch nach Ausgestaltung
der psychiatrischen Kliniken und nach einer Erleichterung der
wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten. Es müssen psychiatrische
Polikliniken geschaffen und zweckentsprechend organisiert werden,
wo leichtere und insbesondere psychoneurotische Kranke be-
handelt und studiert werden können.
Überblickt man alle die Forschungsrichtungen, die im vor-
hergehenden nur angedeutet werden konnten, so kann das ge-
steckte Ziel in dem Wunsche zusammengefasst werden: möge die
Zukunft in dem Psychiater nicht mehr den Irrenarzt, sondern den
Seelenforscher und Seelenarzt sehen.
ZÜRICH (Burghölzli) HANS W. MAIER
D □ D
604
EINST IN AFRIKA
Vor vielen Jahren habe ich diese Episode erlebt. Die ich
einst im Innern Afrikas traf, sind jetzt gestorben oder in alle
Welt verstreut.
Meine Dienstzeit als Krankenschwester ging zu Ende. Zwei
Jahre Westküste sind für eine Frau mehr wie genug, waren es
vor allem unter den dazumaligen primitiven Verhältnissen; mein
Ersatz traf ein; ich konnte den nächsten Dampfer besteigen.
Vom östlichen Küstenende auf der Hängematte mit meinen
schwarzen Trägern in der Hauptansiedelung eingetroffen, be-
trachtete ich liebevoll die neuerbaute Landungsbrücke, das her-
vorragendste Ereignis der Kolonie. Schon fühlte ich, wie mir
der kahle, rotbraune Küstensand mit semer Unzahl blitzschnell
huschender Eidechsen und erdfarbener Krabben unter den Füßen
brannte, fühlte, wie ich müde war der symmetrisch gepflanzten
Agaven, der in der Seebrise wiegenden Kokospalmen, der wild
blühenden Kakteen, müde der weißen Europäerhäuschen und
ihrer bald alkoholisch jovialen, bald fiebrig gereizten Bewohner^
ja müde auch der Negerhütten und der schwarzen, dumm-schlauen
Gesichter. Ich sehnte mich von ganzem Herzen nach allem, was
alt und ehrwürdig ist, nach beschaulichen Greisen und Greisinnen
und nach Europens uralter Kultur. Ja, sehnsüchtig, auch malaria-
müde, wartete ich auf den monatlich erscheinenden Heimatdampfer
— doch da zeigte sich plötzlich, dass irgendwo ein Versehen
vorgekommen war. — Hatte dies ein unzuverlässiger schwarzer
Bote, einer vom weißen Schreibertross, vielleicht der wenigen
hohen Beamten einer, oder gar der Gouverneur der kleinen Ko-
lonie selbst auf dem Gewissen — ich weiß es nicht — auf jeden
Fall machte es dessen Stellvertreter, einem blonden, schmalbrüsti-
gen Juristen, große Sorgen. Auf einer Station im Hinterlande
wartete nämlich, wie er mir mitteilte, eine Polizeimeistersfrau auf
Schwesternhilfe, hatte wohl, richtiger gesagt, umsonst gewartet,
war, wer weiß unter welchen Umständen, vielleicht schon Mutter
geworden, denn die vor ihm liegende Bitte, vier Wochen alt, kam
erst jetzt wieder zum Vorschein.
605
„Wahrscheinlich ist es zu spät," sagte der blauäugige, noch
gänzh"ch unafrikanisierte Assessor, „aber man soll mir nicht nach-
sagen, dass ich eine deutsche Frau im Stiche ließ. Darf ich Sie
bitten, ihren rechtmäßigen Urlaub um einen Monat hinauszu-
schieben? Dorthin kann ich nur jemand senden, der das Land
kennt."
Am nächsten Morgen schon standen zwanzig Träger zu meiner
Verfügung. In aller Eile waren sie in den nächstliegenden Neger-
dörfern zusammengetrieben worden. Mit Feldbett, Klappstuhl
und -Tisch, Petrollampe und Provisionskiste zog ich ins Hinter-
land. Fünf Tagereisen weit. Ein schwarzer Polizeisoldat, meinem
weiblichen Kommando gehorchend, sorgte für den einigermaßen
geordneten Marsch der Kolonne, denn der Europäer reiste dazu-
mal in einer Hängematte, an Querhölzern von vier Negern ge-
tragen, während hinter und vor ihm die Schwarzen sein Gepäck,
sorgfältig in Traglasten verteilt, auf ihren Wollköpfen balanzierten.
Stundenlang schaute ich in schwermütiges Palmengrün;
stundenlang sah ich träumend in blütenreiches Gebüsch, das, den
mühsam ausgehauenen Weg säumend, nach tropischer Pflanzen-
sitte Frucht und Blüte zugleich trug. Oft wanderte ich, eingelullt
vom eintönigen Trällern meiner Schwarzen, durch weite Gras-
länder, deren mattgrüne Flächen von armseligen Laubbäumen
und immer wiederkehrenden rotbraunen, über mannshohen Ter-
mitenkegeln unterbrochen waren. Zuweilen gab es ein Idyll.
Dann ruhten wir im Schatten riesengroßer Baumgruppen, die
unter hohem Astwerk grasbedachte Negerhütten bargen. Tiefer
im Innern und ferner der verdurstenden Küste rauschte von Zeit
zu Zeit ein Bach an uns vorbei ; und endlich, nahe am Ziele, stie-
gen ganz leise und wundersam die von blauem Licht umträumten
Profile grüner Bergketten empor. Eine Fata Morgana! Ein
himmlisches Bild! Nachdem ich zwei Jahre an der dürren, heißen,
malaria- und dysenterieverseuchten Küste verbracht hatte.
Ich war einsam und stolz wie ein alter Afrikareisender; hin-
gegen kindlich und unwissenschaftlich wie nie einer gewesen ist.
Vier Bilder blieben mir wie kleine Märchen in der Seele haften:
Eine schneeweiße Orchis auf einem mürben Baumast — der Traum
eines Toten, dann ein feines, smaragdgrünes Schlänglein, das
meinen Schritten enthuschte, ein karmoisinroter Schmetterling,
606
der vor mir funkelte wie das Diadem einer Glücksfee, und am
vierten Tage die düstere Nähe eines gigantischen Affenbrotbaumes,
dessen graue, qualvoll gekrümmte Äste ein Heer fliegender Hunde
wie unerlöste Geister umkrächzte.
Freilich: die Ruhestunden in den von der Regierung errich-
teten Lehmhütten, die Moskitos, die in gefangener Luft stets den
Weg unter das Netz fanden, waren kein Traum, sondern bittere
Wirklichkeit.
Am sechsten Morgen kam mir ein schneidiger Reiter ent-
gegen. Ein subalterner Geist konnte dies nicht sein. Die elas-
tische Gestalt, schlank wie eine Gerte, lenkte ein kräftiges Tier.
„Schwester, seien Sie willkommen in meinen Landen!" rief
er mir entgegen. „Friedrikchen, allerdings, ist schon da. Es ging
glaub' ich, alles recht nett. Aber Polizeimeisters freuen sich doch,
wenn Sie kommen."
Hinter ihm erschien zu Fuß ein zweiter Europäer, doch
stämmiger, breiter, schwerfälliger und strahlend wie die Mittags-
sonne.
Wir stiegen die Serpentinen eines ansehnlichen Hügels empor.
Vier einfache Holzhäuser mit Veranden bildeten auf seiner Höhe
die Station, in der Mitte stand die wenig ansehnliche Jung-
gesellenwohnung des Bezirksamtmanns, daneben ein sogenanntes
Gerichtshaus, rechts ein langes Gemäuer für die schwarze Diener-
schaft und in den vierten luftigen, von laubschweren Grenadillien
umrankten Holzkasten bogen wir selbst ein. Zu Hunderten hingen
die milchweißen Blüten mit dem schwermütigen Violett ihres
Innern an Brettern und Balken. — Wie wuchernde Passions-
blumen ! — Und welches Glück barg doch ihr grüner Mantel ! —
Schaaren von Eingebornen standen vor dem Hause.
„Sie haben alle noch kein weißes Kind gesehen," erklärte
erregt der glückliche Vater. Ja, ich erfuhr: bis Frau Schramgke
kam, auch keine weiße Frau. Die katholische Mission auf dem
gegenüberliegenden Berge bestand aus zwei Paters.
„Jetzt hat sich 's Gerücht verbreitet," erzählte der Polizei-
meister hastig; er war offenbar seit der Geburt Friederikchens
ständig im Freudentaumel. Rasch schien er auch heute seine
dienstlichen Pflichten erledigt zu haben. — Ja, der Chef war nach-
607
sichtig. — Immer von neuem erstürmte der überglückliche Vater
sein eigenes Haus.
Ich saß bei der Wöchnerin. Obschon etwas müde, wollte
die große, starkknochige Frau alles, alles erzählen. Ach, so lange
hatte sie kein weißes, weibliches Wesen mehr gesehen.
„Ich hab' gestern schon wieder Brot gebacken," fing sie
atemlos an, „Sie wissen, mit Palmwein, wir bekommen ihn frisch
aus 'em Busch. Ja, frisch muss er sein. Wissen's, sonst geht's
nit auf. Nit in die Höh'!"
Ja, und das Kind war ohne weiteres gekommen.
„Wir haben noch en Pater gerufen, der was davon versteht,"
sprudelte Frau Schramgke weiter, „und en alt Negerweib, das
auch viel weiß — und dann noch so en Art bekehrten Neger-
doktor!"
Plötzlich erscholl im Nebenzimmer der Radetzky-Marsch —
schrill — schmetternd — lustig. —
Ich vernahm bewundernde Grunzlaute aus der vor dem Hause
versammelten Volksmenge.
„Unser neuer Qramophon," unterbrach sich Frau Schramgke.
„Mei Mann is rein doli drauf. — Und wissen's," fuhr sie eifrig
weiter, „den Nabel, sag' ich Ihne, den Nabel, den hat der Neger-
doktor großartig behandelt! Ich sag' Ihne, gleich fiel die
Gschicht ab !"
Drüben schmetterte „Die Wacht am Rhein". Aber Schramgke
kam eilig, er hatte offenbar doch noch durch die dünnen Bretter-
wände gehorcht, und beim Nabel, wie ich auch später sah, be-
teiligte er sich stets.
„Ja, großartig, Schwester! Sehen Sie, so machte er's," und,
das Blütenblatt einer schwermütigen Passionsblume verknutschend,
demonstrierte er. —
Noch quoll sein Redefluss, da trat schon wieder, schüchtern
kauderwelschend, Amysanto, der schwarze Boy, heran : Häuptlinge
wollten das Kind sehen. — Da kamen sie auch schon, wie die
drei Weisen aus dem Morgenlande, mit Wollhaaren und wulstigen
Lippen. Sie bestaunten, benickten und begrinsten das kleine
Wunder gutmütig. Dann stellte sich der Eine, die Schultern von
einer blauen Toga umschlungen, in Positur und fing an irgend
608
etwas zu fragen. Die beiden andern horchten neugierig. Langes
Kauderwelschen.
Da — plötzh'ch stieß Schramgke eine helle Lache aus und
wollte sich vor Vergnügen den Bauch halten.
„Jesses, Jesses, Maria ! Nu meinen die Kerls, du hätt'st grad
wie 's Kind auch noch 's Grammophon kriegt!"
Die glückliche Doppelmutter wollte sich ausschütten vor
Lachen. Aber so en Bisschen fühlte sie sich doch geschmeichelt.
Da lag Ansehen drin! Einmal berühmt, warum sollte sie nicht
noch berühmter werden? Schramgkes hielten Cour in Afrika, es
war nicht zu verkennen.
Ein Muttergottesbild, ein Öldruck, hing an der Wand und
sah milde herab auf unser kindliches Treiben, und eine zweite
Madonna, ihm gegenüber, schaute mit gefalteten Händen klagend
zum Himmel empor.
Ich setzte mich auf die Veranda, die Mutter sollte schlafen;
der Polizeimeister wurde zum Dienst gerufen.
Das war der erste Morgen. Ein buntes, grelles Farbenspiel.
Am zweiten Tag, als Frau Schramgke schlummerte, saß ich
wieder auf der Veranda. Es war Gerichtstag.
Der afrikanische Bezirksamtmann hat nicht nur die Verant-
wortung für Weg und Steg, für Anbau und Erträgnisse des Landes,
Ausnutzung der schwarzen Arbeitskräfte und vieles andere,
ihm unterliegt vor allem die Rechtsprechung. An der Küste
drängte sich mir oft die Empfindung auf, das primitive Land
werde außer von Malaria, Dysenterie und Typhus auch von
Juristerei verseucht. Doch in diesen Dingen ist mein Urteil kind-
lich und unmaßgeblich. Wohl aber darf ich betonen, wie mir im
Hinterlande klar wurde, welch machtvoller Einfluss dem natürlichen
Innenkaliber eines ganzen Menschen entströmt, und welch reife
Früchte gesunder, humorvoller Menschenverstand zeitigt. Schon
auf der Reise, als ich kleine, weiße Frau mit zwanzig Schwarzen,
mutterseelenallein, mir unbekannte Gebiete durchwanderte, fühlte
ich, dass die Disziplin meiner Kolonne mit jeder Tagereise ins
Innere eher wuchs als abnahm. Dort am Ziele musste ohne
Zweifel die ausgeprägte Persönlichkeit residieren, deren macht-
volle Hand ich fühlte.
609
Dass es kein grausamer Meister, sondern nur ein konse-
quenter Herr war, sah ich jetzt von Tag zu Tag immer mehr.
Ich war Zeuge langer Verhöre und Verhandlungen, endloser
Geduldsproben. Später erschienen verurteilte Bösewichte. Irgend-
wo regnete es gesunde Hiebe. Kettengefangene wurden zur
Arbeit kommandiert.
Während ich noch saß und träumte, stieg ein seltsamer Zug
die geschlungenen Hügelpfade empor. Wie in bachantischem
Rausche trugen singende Männer ein schwarzes Weib unter einem
Baldachin. Langsam wiegte und wogte diese dunkle, doch bunte
dionysische Weile heran. Eile hatten sie nicht. Sachte und sin-
gend schritten sie vorwärts. Dann kamen sie näher. Und wie die
wilden Fluten der See des Sturmes Dämon in geregelter Tollheit
besingen, begleitete die Schar mit rhythmischem Johlen ihre innere
afrikanische Lust.
Der Zug machte Halt. Der Hängematte entwand sich ein
schlankes, grinsendes, schwarzes Weib und sah um sich.
„Maria, schöne Negerkönigin, was wünschest Du?" hörte
ich das komische Pathos des Bezirksamtmanns. Das Weib deutete
nach der Kinderstube.
„Dachte ich mir's doch, du bist neugierig, willst Friederike
sehn," fuhr Herr von Riemar lustig weiter, „ziehe hin in Frieden!"
Ich musste lachen. Doch Schramgkes fühlten sich diesmal
nicht sehr geschmeichelt.
„Wissen Sie," sagte nachher der Polizeimeister, „unsereins
ist gut katholisch und dies Sündenweib nennt sich Maria! Mir
nichts, dir nichts Maria — und — hat — ich kann Ihne net sage
wie viel Männer!"
„Zähl' sie doch mal," sagte Frau Schramgke. Aber der
Polizeimeister wies sie mit einem Blick in ihre europäischen
Schranken zurück.
Am nächsten Abend bat mich Herr von Riemar zu einem
Spaziergange. Wir gingen durch Versuchsplantagen an Kakao-,
Zimmtbäumchen und Kaffeesträuchern vorbei, um die Baumwoll-
pflanzungen zu erreichen, in denen des Landes Zukunft schlum-
merte. Dann weiter neben wassertragenden Schwarzen zu einer
Quelle im Busch. Mein Begleiter erzählte mir von den gewaltigen
610
Markttagen der Eingebornen, dit hier im Innern abgehalten
würden.
Einige Minuten später standen wir vor der magern, i<ostbaren
Quelle, über der in einem FelsbIoci< ein Bronzemedailion mit
dem Profil Bismarcks prangte.
„Es hat viel Überwindung gebraucht," erzählte lachend Herr
von Riemar, „ehe sich die schwarze Gesellschaft an dieses Bildnis
gewöhnen wollte. Erst kamen sie unaufhörlich, schickten wahre
Deputationen und flehten um schleunige Wegnahme. Nachdem
ich ihnen jedoch mit vieler Mühe klar gemacht hatte, dass Bis-
marck kein böser, sondern ein guter, starker Gott sei, gaben sie
sich zufrieden, um mir später treuherzig mitzuteilen : sie könnten
nun doch nicht mehr an ihn glauben — denn mehr Wasser gäbe
es seither auch nicht. — Ja, und Sie sahen Maria, den schwarzen
Schrecken der katholischen Mission. Sie ist in der Tat weit und
breit die einzige Negerkönigin. Ich glaube dank einer alten Tra-
dition im Stamme. Es gibt sonst hierzulande nur Häuptlinge. —
Ach Gott, auch sie machte mir zu schaffen." Herr von Riemar
warf den im afrikanischen Dienst ergrauten Kopf lustig zurück.
„Eines Tages, Gott weiß warum — ich weiß es nicht — nennt
sich dies Scheusal: Maria. Mir vollkommen rätselhaft, wie sie
zu diesem Namen kam. Ja, die Mission — die Mission beschwert
sich sogleich — ist außer sich — und ich armer, geplagter Be-
zirksamtmann soll dem Frauenzimmer Raison beibringen. Ja, was
sollt' ich denn tun, dem Bezirksamt macht sie keine Schwierig-
keiten." Er lachte herzlich.
Ich genoss in vollen Zügen die reine Luft des Hinterlandes
und fühlte mich weit erhaben über die fiebernde, sensationslüsterne
Küstenklatschatmosphäre. Schneeweiße, hochstenglige Blumen
sprossten im Gebüsch und da und dort eine lilafarbene Blüten-
kerze, die mich bezauberte. Vor dem glutroten Sonnenball, der
sich sachte nach Westen senkte, tanzten noch gelbe und blaue
Schmetterlinge.
Wir durchquerten in der Tiefe den Marktplatz, der noch immer
mit brodelnden Weibern, nackten Kindern und Kalebassen voller
Gewürze, Yams, Mais, Erdnüsse und andern Reichtümern be-
säet war.
611
Zwischen den rotbraunen Negerhütten flatterten kleine Hühner,
trotteten schwarze Schweine und kurzbeinige Ziegen. Eine aus
Latent kindisch geformte Fetischfigur ließ mich einen Augenblick
zaudern. Der Popanz war mit Federn, Blättern und Blumen
geschmückt. — Wer weiß — vielleicht betet der Neger darin
symbolisch zum ewig Unerforschlichen. Solch ein verziertes, selbst-
verfertigtes Monstrum war mir stets ein Rätsel. Aber welche
Götzen verfertigen wir nicht in Gedanken! Beten sie an und ver-
langen von andern dasselbe! Ich warf einen letzten, milden Blick
zum Fetisch hinüber.
Von irgend welchen neu erschienenen Büchern plaudernd,
stiegen wir langsam wieder zur Höhe. Da bannte ein scharfes:
„Halt!" meinen Schritt. Gerade vor unsern Füßen kroch ein
großer, schwarzer Skorpion über den gelben Fußpfad. — Für-
wahr ein schlechtes Omen. — Auch sollte ich noch eine Tragö-
die erleben.
AARAU GERTRUD HUNZIKER
(Schluss folgt.)
DDD
EIN LIED ZUM WEIN
Tief im Becher wogt der Lichter Glanz,
Goldne Kreise wirft er durch den Wein;
Mädchen, muss man da nicht glücklich sein —
Tanze, Liebste, denn im Wein liegt Tanz.
Trinke aus und schließ die Augen zu —
Hörst du, wie er leise in dir klingt
Und den Alltag stille aus dir singt;
Lausche in dich, denn im Wein liegt Ruh'.
Träume steigen aus dem Purpurrot,
Leise wird das Leben ausgewischt.
Und ein Licht ums andere erlischt.
Hüte dich — im Weine ruht der Tod.
SALOMON D. STEINBERG
612
VEREINFACHUNG
DER
STAATSVERWALTUNG UND ERLEICHTERUNG
DER STAATSLASTEN
(Schluss)
Der eigentliche Kern des Landschaftsrechtes ist das innere,
und dieses hat zum hauptsächhchsten Gegenstand das Landwirt-
schaftswesen. Der Staat hat hier wohl seine Aufgabe eri<annt,
die in der Fürsorge, in der Abwendung von Gefahren und Schä-
digungen, in Aufmunterung und Förderung besteht. Aber das
Vorgehen erscheint nicht immer planmäßig. Die Probe ist bald
gemacht, wenn, wie das auch für andere Zwerge der Verwaltung
und für diese im ganzen lehrreich wäre, mit dem Plane des
theoretischen Rechtes verglichen würde, was in der Praxis be-
steht und geleistet wird; es würde sich bald ergeben, was noch
zu tun wäre oder was zuerst getan werden sollte. Nicht dass
alles auf einmal oder von heute auf morgen anders gemacht
würde; Rom ist auch hier nicht in einem Tage erbaut worden.
Wir denken nicht an Maßnahmen, die in die Kompetenz des
Bundes fallen, wie es namentlich die sehr streitige Frage der
Schutzzölle zu Gunsten der Landwirtschaft ist, sondern nur an
die kantonale Politik, der das Landwirschaftswesen im übrigen
(abgesehen vom Subventionsgesetz des Bundes) noch überlassen
ist. Nun sollte man meinen, das erste wäre, sich der Not der
kleinen Landwirte anzunehmen. Viehveredlung und Viehprä-
mierung ist gewiss etwas schönes und löbliches, aber zuerst
muss die nötige Viehhabe da und gesichert sein. Es heißt das
Pferd beim Schwänze aufzäumen, wenn der Staat oben anfängt
und zuerst oder ausschließlich für rassiges und prämierbares Vieh
sorgt, eine Sorge, die mehr den Wohlhabenden und Reichen zu-
kommt. Zuerst sollen doch alle bestehen können, und es ist der
Einbruch jeder Existenz für das Gemeinwesen selbst eine und
unter Umständen doppelte und dreifache Einbuße: ein Verlust
an Steuerzahlern und vielleicht noch eine Last der Armenver-
sorgung, wo nicht gar der Strafjustiz. Mit dem Konkursrecht
ist es nicht mehr getan; es ist lediglich rechtsstaatlich, sorgt nur
613
für die Gläubiger; es sollte aber für den Schuldner selbst ge-
sorgt werden, und zwar um ihn womöglich vor dem Falle zu
bewahren, jedenfalls nicht völlig verderben zu lassen, sondern
wieder aufzustellen. Und das nicht seiner Person zulieb, sondern
im Interesse des Gemeinwesens. Der Kanton Zürich hatte ein-
mal einen kleinen Anfang mit der Sorge für die kleinen Vieh-
besitzer durch staatliche Unterstützung von Viehleihkassen ge-
macht, ist davon aber bald wieder zurückgegangen; über den
Grund schweigen die öffentlichen Akten.
Die umfassendste und ausgiebigste Hilfe wäre von der Kan-
tonalbank zu erwarten, und diese ist auch recht eigentlich zu
dem Zwecke gegründet worden, um den kleinen Leuten über-
haupt und den kleinen Landwirten speziell Geld und Kredit zu
verschaffen, die sie von Privatbanken nicht oder unter erdrücken-
den oder unerschwinglichen Bedingungen erhalten. Eine Kantonal-
bank hat- auch leichter wirtschaften als andere; sie lebt vom
Kredit des für ewig und unversinkbar erachteten Staates, während
andere sich den Kredit erst durch ihre Führung erwerben müssen
und ihn trotz aller Sorgfalt in außerordentlichen Zeiten einbüßen
können, wie sich erst jüngst beim Balkankriege wieder gezeigt
hat. Die Kantonalbank bekommt daher das Geld billiger und
könnte es auch billiger hergeben. Aber sie hat ihren Zweck
mehr und mehr aus den Augen verloren. Noch im Kantonalbank-
gesetz von 1883 war vorgesehen, dass, wenn der Reservefonds,
in welchen die Gewinne zunächst zu legen waren, eine bestimmte
Höhe erreicht habe, durch Gesetz über die weitere Verwendung
der Gewinne verfügt werde, in der Meinung, dass sie zur Herab-
setzung des Zinsfußes und zur Anlageerweiterung dienen sollen.
Laut dem neuen Bankgesetz dagegen vom Jahr 1902 — es ist,
wohlgemerkt, in der Zeit der Finanzmisere erlassen worden —
ist nun die Beschlussfassung über diese Verwendung dem Kantons-
rat vorbehalten, mit der Direktive, den überschüssigen Gewinn
dem Staat zuzuhalten. Diesem sind denn sofort für das Jahr 1903
drei Viertel Millionen zugeteilt worden, und seither hat er so
nicht weniger als gegen vier Millionen bezogen. Er hat also das
Geld, das eigentlich den kleinen Leuten gehörte, an sich genom-
men, und so könnte man fast sagen, er hat sich auf deren
Kosten bereichert. Um so mehr ist Sparsamkeit am Platz, um
614
dem Volke zu geben, was des Volkes ist, und zugleich dem
Gründungszweck der Bank getreu zu bleiben. Auch in dieser
Beziehung also heißt es, zu den Anfängen zurückkehren I
Aber auch bei der Fürsorge für die Landwirtschaft hat der
Staat so wenig als möglich selbst und unmittelbar einzutreten,
sondern die privaten Kräfte anzuleiten, zusammenzuführen und
erst nötigenfalls finanziell zu unterstützen. Dadurch erzielt er,
wie anderwärts, wo er so vorgeht, nicht nur den Vorteil, sein
Geld so gut und lang als möglich zu sparen, sondern er weckt
und belebt die private Initiative und die ihr entspringenden Vor-
züge individueller Kraft und Selbständigkeit, ohne die es kein
Leben und keine Kultur gibt.
Namentlich kommt in der Landwirtschaft das Genossenschafts-
wesen zur Geltung, das heute im Vordergrund auch des wissen-
schaftlichen Interesses steht. Hier gilt es, die gemeinsamen An-
stalten und Anlagen zu übernehmen und die Nachteile der Einzel-
wirtschaft darin zu überwinden, weiter vielleicht noch diese sonst
zu kräftigen und zu heben. Hier böte gerade für kleine Land-
wirte die Vereinigung den Vorteil größerer Kreditwürdigkeit, um
desto eher das für den Bedarf an Viehhabe und andern Betriebs-
mitteln nötige Geld zu erlangen. Im übrigen können hier die
einzelnen Arten landwirtschaftlicher Genossenschaften, die Feld-,
Flur-, Zuchtvieh- und Versicherungsgenossenschaften nicht durch-
gangen werden. Es wäre nur noch auf die Produktions- und
Konsumgenossenschaften als die besondere Form zu verweisen,
den teuren Zwischenhandel abzudanken und dem Produzenten
den ungeschmälerten Lohn seiner Arbeit zu verschaffen. Jeden-
falls aber hat der Staat sich dieser Verbände anzunehmen, sie
ins Leben zu rufen, wo sie nötig sind und noch fehlen, und sie
zu unterstützen, soweit es zu ihrem Fortkommen unumgänglich
erscheint.
In diesem Sinn hat der Kanton Zürich schon 1882 ein Flur-
gesetz erlassen, das sich allerdings noch auf die Flurpolizei,
das heißt die Bekämpfung landwirtschaftlicher Schädlinge, das
' Erste und Notwendigste der Landwirtschaftspolitik, beschränkte.
Neuestens aber, 1911, ist es durch ein vollständiges Landwirt-
schaftsgesetz ersetzt und ergänzt worden. Dem Umfang nach also
erscheint hier die zürcherische Gesetzgebung vollkommen, und
615
was die Beurteilung des Inhaltes betrifft, ist von folgenden Grund-
sätzen auszugehen. Polizeiliche Bestimmungen sollen nicht in
eine Reglementiererei aller Tätigkeit, auch derjenigen, die nur
den Einzelnen angeht, ausarten, sondern sind nur am Platz,
soweit das Qebahren auch für andere nachteilig oder schädlich
ist, und auch nach dieser Seite darf den Bürgern in ihrem gegen-
seitigen Verhältnis immer noch ein Stück Verträglichkeit zuge-
mutet werden. Dieser Grundsatz sollte übrigens nicht nur für die
landwirtschaftliche, sondern für alle Polizei gelten, und es lohnte
sich, darnach einmal die ganze Polizeigesetzgebung zu durch-
gehen, um bei Gelegenheit alle weitergehenden Vorschriften gleich-
mäßig wegzulassen und dadurch der Bewegungsfreiheit der Einzel-
nen mehr Raum zu geben. Die pfleglichen Bestimmungen aber
im Landwirtschaftswesen, die sich auf die positive Einrichtung
der Wirtschaft beziehen, sind, soweit überhaupt ein gemeinsames
Recht notwendig oder vorteilhaft erscheint, durchaus Genossen-
schaften zu überlassen die es nach dem Bedürfnis ihres Kreises
gestalten können; der Staat braucht ihnen dafür nur die nötige
Macht zu verleihen. Hier gilt, was schon als Standpunkt des
ersten Gesetzes bezeichnet worden ist: möglichste Freiheit in der
Organisation mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Interessen
und Anschauungen.
Beiden Anforderungen nun wird das neueste zürcherische
Gesetz prinzipiell gerecht; was zu wünschen bliebe, wäre vielleicht
folgendes. Der Staat könnte seinem unmittelbaren Eingreifen noch
eine größere Reserve auferlegen, was sich zum Teil in der Voll-
ziehung nachholen ließe. Weiter hätten für den Streitfall Bezirksrat
und Bezirksgericht ganz bei Seite gelassen und dem richtig erkannten
Grundsatz gemäß Fachgerichte eingeführt werden dürfen ; man hätte
die Aufgabe freien Vereinigungen oder Abordnungen der Genossen-
schaften übertragen dürfen, durch die auch sonst die ständige
kantonale Kommission mehr ersetzt werden könnte. Die Selbst-
verwaltung ist stets beliebter als die staatliche und genießt mehr
Vertrauen; der Staat tritt den Einzelnen eben als Gebieter gegen-
über, während ein Kollegium von Seinesgleichen als freundlicher
Berater erscheint. Zum dritten sollte die Unentgeltlichkeit des
Unterrichtes nicht auf Fachschulen, keinenfalls auf eine oberste
Lehranstalt, wie es der Strickhof in seiner Art ist, erstreckt,
616
sondern durch ein rationelles (klassenmäßiges) Gebührensystem
ersetzt werden, das nicht nur dem Staat einen weitern Ersatz
böte, sondern auch seine Leistung gewichtiger machte; was
etwas kostet, erscheint immer auch mehr wert, im ganzen aber
ist das neueste zürcherische Landwirtschaftsgesetz nach Inhalt
wie nach Umfang vorzüglich, eine Ehre und ein Verdienst für
die Urheber, und es wäre nur zu wünschen, dass auch die übrige
Gesetzgebung, wo es noch fehlt, sich zum gleichen Stand erhöbe.
Um der größeren Berücksichtigung der Landschaft im ganzen
mehr Nachdruck zu geben, wäre eine Vereinigung aller Inter-
essenten zu bilden, eine Landpartei, wie es solche im Lauf der
Geschichte auch schon gegeben hat. Was wollen die politischen
Parteien: Konservative, Liberale, Demokraten — von den Sozial-
demokraten nicht zu reden, die auf eine umgekehrte Staatsord-
nung ausgehen — noch besagen, nachdem ihre eigentliche Auf-
gabe erfüllt ist und die Staatsform und Verfassung des Staates
sich festgesetzt hat? Sie sind ihrem Ursprung und Zwecke nach
rechtliche Parteien, haben als solche sozusagen ihren Lebens-
inhalt verloren, sind öde und unfruchtbar geworden, wie die Er-
fahrung zeigt. Nun handelt es sich hauptsächlich oder ausschließ-
lich um die Ordnung der Wirtschaft. Um Demokratie, gewiss,
aber um vorzugsweise wirtschaftliche Demokratie, wie schon be-
merkt wurde. Wie die Arbeiter zur Wahrung ihrer Interessen
sich zu Vereinen und Parteien zusammenschließen, so dürfen es
auch andere tun, die durch gemeinsame Angelegenheiten ver-
bunden werden, und so sollen es auch die Landschafter. Es wird
dadurch kein Gegensatz zu den Städten und im besondern zur
Hauptstadt geschaffen, jedenfalls keiner, der über das Maß der
politischen Antagonien hinausginge oder gar in gegenseitige Feind-
schaft ausartete; im Gegenteil. Politische Parteiung bedingt auch
eine Differenzierung, und doch waren politische Parteien von
jeher für jedes freie Staatsleben nicht nur als Notwendigkeit,
sondern als eine Wohltat anerkannt, und nur das Übermaß an
Parteileidenschaft oder Parteiherrschaft, ein Missbrauch ihres We-
sens, wurde beklagt, der nicht notwendig vorkommen muss, und
wo er auch immer vorkommt, der Sache selbst nicht das Urteil
spricht. Für die Landschaft handelt es sich nur darum, durch
eine ihr eigentümliche Partei zu erkennen zu geben : wir sind
61^
auch da, so gut wie die Arbeiter oder die Stadt, und verlangen
den uns zukommenden Teil der Berücksiciitigung. Dadurch
wird nur das Verhältnis und die Bedeutung der Interessengruppen
zu einander festgestellt und abgeklärt, und eine Einseitigkeit in
der Pflege des Staatslebens vermieden, wie sie eintreten muss,
wenn ein Teil, so viele Interessen ihm gemeinsam sind, aufgelöst
und nicht organisiert ist. Und speziell das Verhältnis von Stadt
und Land zu einander würde gewinnen, statt Schaden zu neh-
men. Es ist ganz falsch, wenn, so oft ein Wunsch der Land-
schaft verlautet, er als eine Äußerung des Gegensatzes oder gar
der Feindschaft gegen die Stadt ausgegeben wird; das zeugt nur
davon, dass die Stadt nicht gewohnt ist, andere Interessen außer
ihr anzuerkennen. Die Stadt selbst gewinnt im Gegenteil, wenn
sich ihr gegenüber das Land in seinem Stand zu erkennen gibt,
nicht um sie zu befehden, sondern nur um sich nicht selbst bei
Seite schieben zu lassen. Die Stadt würde dadurch über eine
andere Art Wirtschaft belehrt und an ihr vielleicht ein Beispiel
nehmen; namentlich aber könnte durch die Kooperation von
Stadt und Land der richtige Ausgleich zwischen ihnen zustande
gebracht werden, zum Heil Beider und des Ganzen.
V.
Eine volkstümliche Rechtspflege gipfelt in dem Satze: „rasch
und billig", und das ist nicht nur für das Volk, sondern auch
für den Staat das zukömmlichste. Ein gewesener Oberrichter hat
erklärt, die Gerichte seien nicht da, um Recht zu sprechen, son-
dern zu entscheiden. Das sollte ein Spass sein, enthält aber die
ernste Wahrheit, dass es nicht darauf ankommt, eine Streitsache
nach dem Rechte, das ja immer zweifelhaft sein kann, um- und
umzulegen, sondern einmal abzutun. Dass damit nicht nur den
Parteien gedient ist, sondern auch dem Staat, liegt auf der Hand;
für beide ist ein rasches Verfahren jedenfalls billiger. Also schon
in der Raschheit liegt Billigkeit. Dann aber wird diese noch für
sich und extra gefordert, allerdings nur zugunsten des Volkes,
nicht des Staates. Dem Staat möchte die Rechtspflege also noch
so teuer anliegen, wenn sie nur schließlich für das Volk, die
Prozessführenden, billig ist, und das kostspieligste für ihn ist in
618
jedem Fall, mag die Rechtspflege dabei wie immer eingerichtet
sein, die Unentgeltlichkeit. Die Unentgeltlichkeit der Rechtspflege,
seinerzeit ein sozialpolitisches Postulat, ist denn vom Programm
abgesetzt worden, wie überhaupt die Unentgeltlichkeiten seither
nicht weiter vermehrt worden sind. Aber auch eine für den Staat
billige Rechtspflege kann es, wenn sie darnach eingerichtet wird,
auch für das Volk sein, und dann ist, wie mit der Raschheit,
beiden geholfen.
Nun sind Billigkeit und Raschheit nicht bloße Volkswünsche
oder allgemeine Interessen des Staates, sondern im Kanton Zürich
zu einem Grundsatz der Verfassung von 1869 (Art. 59) erhoben
worden, der also seine Vollziehung verlangt. Es handelt sich nur
um das Wie. Auch in dieser Beziehung gibt die Verfassung selbst
Direktiven. Einmal sind in dem kleinen Abschnitt der Verfassung
über die Rechtspflege, der die Organisation der Rechtspflege nicht
selbst angibt, wie es früher der Fall war und anderwärts geschieht,
sondern sie dem Gesetz überlässt, die vertragsmäßigen Schieds-
gerichte besonders hervorgehoben. Solche sind auch vor allem
aus geeignet, den Streit rasch und billig zu erledigen und nament-
lich den Staat zu entlasten. Nun war die Einrichtung auch im
Kanton Zürich vorher nicht unbekannt, sondern noch im frühern
Rechtspflegegesetz ausdrücklich vorgesehen. Aber das auf die
neue Verfassung folgende hat nichts weiter getan, als jenen Ab-
schnitt sozusagen unverändert nach Stellung und Inhalt hinüber-
zunehmen. Das v;ar offenbar nicht der Sinn der Verfassung,
sonst würde sie nicht ausnahmsweise auf diese Institution aus-
drücklich hingewiesen haben.
Statt dessen hätten die Schiedsgerichte in den Vordergrund
gestellt werden sollen, in der Meinung, dass erst, soweit solche
von den Parteien nicht vorgesehen oder gewünscht werden, die
amtliche Rechtpflege in Aktion tritt, ähnlich wie bei der Armen-
pflege und der Verwaltung im weitern der Staat oder das Gemein-
wesen nur einzutreten hat, soweit nicht durch die Privaten, die
Beteiligten selbst, vorgesorgt ist. Wenn sich die Privaten bei der
Selbstbesorgung überhaupt besser befinden, ihr mehr vertrauen,
so gilt das von Streithändeln noch ganz besonders. Und auch
wo Schiedsgerichte nicht vertragsmäßig und von vornherein vor-
gesehen sind, sollten die Parteien auf diese Art des Austrages
619
noch aufmerksam gemacht werden, bevor der Fall auf die Mühle
der langsamen und teuren Staatsrechtspflege geschüttet würde. Nicht
nur Gottes Mühlen mahlen langsam .... Zuerst vertragliche
Schiedsgerichte, wo solche bestellt sind, dann vor den Friedens-
richter, und von diesem soll noch zur nachträglichen Bestellung
eines Schiedsgerichtes aufgefordert werden, und erst wenn die
Parteien davon auch dann nichts wissen wollen, soll der Streit
in den Hochofen der Rechtsschmiede geschoben werden.
Zu diesem Zwecke und auch sonst sollten die Friedens-
richter eine weit größere Bedeutung erhalten, nach Art der eng-
lischen. Namentlich müssten sie auf die Beilegung von Streitig-
keiten nachdrücklich hingeleitet werden ; ja sie dafür zu prämieren
lohnte sich, werden dadurch doch die Parteien vom Streite
schnellstens erlöst und der Staat vor Kosten bewahrt. Die Frie-
densrichter selbst aber sollen darin ihre Hauptaufgabe sehen,
wie schon der Titel sie darauf verweist, den Ziegel nicht einfach
mechanisch weiterbieten, sonst braucht man sie überhaupt nicht.
Auf die Art der Erledigung kommt es nicht an, wenn nur er-
ledigt wird und so rasch als möglich — „die Gerichte sind nicht
da. Recht zu sprechen, sondern zu entscheiden", sogar die amt-
lichen Gerichte. Die Zivilprozessordnung ist auch nicht für die
Wissenschaft da, um ein Lehrstück für sie abzugeben, sondern
für das Volk. Die Wahrung des objektiven Rechts kann einer
letzten Instanz, Revisionsinstanz oder was immer vorbehalten
werden, worüber nachher noch ein Wort.
Für die weitere Gerichtsorganisation sodann enthält die Ver-
fassung auch noch eine Direktive, die Empfehlung von Ge-
schwornengerichten auch für die Zivilrechtspflege, offenbar im
Interesse einer volkstümlichen Rechtspflege. Nun ist durch das
seitherige Rechtspflegegesetz die Organisation allerdings zum
Teil etwas vereinfacht worden. Einmal durch Abschaffung der
Kreisgerichte oder Zunftgerichte, wie sie früher hießen, einer
Instanz zwischen Friedensrichter und Bezirksgericht. Zwei Mittel-
instanzen waren allerdings zu viel ; ob aber mit den Kreisgerichten
nicht der unrechte Zahn ausgezogen worden ist? Jedenfalls
waren diese volkstümlicher, standen dem Volke in jeder Beziehung
näher, kosteten wenig und hatten schon wegen der größern
620
Dezentralisation weniger Geschäfte, konnten sie also auch schneller
erledigen.
Vergleicht man damit die Bezirksgerichte, so weisen sie in
keiner Beziehung einen Vorzug auf. Was für ein Heidengeld
vor allem kosten sie! gegen eine Million bei einer halben Mil-
lion Einwohner, wohl die teuerste Justiz der Welt. Ein Privater
würde das Geschäft gerne zur Hälfte übernehmen und es nicht
schlechter besorgen. Und wie lange ziehen sie die Prozesse bei
sich hin! Das ist freilich nicht zu verwundern, wenn nach der
Maxime jenes alten Gerichtschreibers gearbeitet wird, die Urteile
müssten so begründet sein, dass ein Handwerksbursche, wenn er
eines auf der Straße finde, es verstehen und sich sagen müsse,
es sei recht. Abgesehen davon, was ein Handwerksbursche mit
einem gefundenen Papier anfängt — haben schon die Parteien
zu viel an den Erwägungen eines Urteils und sehen nur auf das
Dispositiv. Das bisherige Gesetz ist aber weniger darauf ausge-
gangen, die Rechtspflege volkstümlicher, als sie (man möchte fast
sagen gegenteils) wissenschaftlicher zu machen, in Misskennung
seiner Aufgabe und auch des Auftrages der Verfassung, und hat
den Zweck erst nicht erreicht. Gelehrter sind die Bezirksgerichte,
nach ihrer Zusammensetzung zu schließen, auch heute nicht, selbst
in den Städten nicht, so lange alle möglichen Bewerber, wenn
sie nur zur Partei gehören, darin aufgenommen und dafür Leute
vom Fach, die ihre Examina hinter sich haben, draußen gelassen
werden. Und wenn gar unfertige Rechtskandidaten examinierten
Doktoren und Anwälten vorgezogen werden, so wirkt das wie
eine Staatsprämie auf die Lodderigkeit. Die gelernten Juristen wen-
den sich dann privaten Betrieben zu, die sie besser zu schätzen
wissen und wieder um so mehr gewinnen. Aber es geht bei andern
Beamtungen auch so, und alle Parteien machen es gleich, nicht
zu ihrer Ehre. Und immer noch wird die Zahl unserer Richter
vermehrt, statt einmal genau zu prüfen, ob sich nicht die Un-
summe von Schreibereien vermindern und dadurch Zeit und Per-
sonal ersparen ließe, zum Vorteil der Rechtssuchenden wie des
Staates. So bureaukratisch die Verwaltung geworden ist, die
Rechtspflege ist es nicht weniger. Aber die Prüfung müsste nicht
den Advokaten und Richtern selbst überlassen werden, sonst
heißt es, den Bock zum Gärtner machen, oder eine Krähe . . .
621
\n andern Staaten wäre es unerhört, die Organisation der Rechts-
pflege durch die Beteiligten selbst treffen zu lassen; dafür sind
■die Justizministerien und ihre Räte da, und auch bei uns gäbe es
wohl noch unparteiische Sachverständige.
Sodann sind zur Vereinfachung der Organisation die Einzel-
kompetenzen eingeführt worden, beim Friedensrichter und beim
Bezirksgerichtspräsidenten. Darin liegt aber etwas Gewaltsames. Die
Einzelkompetenz eignet sich nur für die Verwaltung, und auch
hier nur zum Teil, namentlich für die Befehlgebung, für die Justiz
aber ganz und gar nicht. Sie bietet anerkanntermaßen einen
geringern Rechtsschutz als das Kollegialgericht und ist daher nur
als Notbehelf anzusehen, der je bälder desto besser ausgelöst
-wird. Sie ist denn auch auf die geringen Streitsummen, auf die
Bagatellgerichtsbarkeit beschränkt worden. Das ist aber ein sehr
relativer Begriff: für einen armen Teufel bedeuten ein paar Fran-
ken mehr als Tausende für den Reichen, und doch muss er
also mit der minderwertigen Gerichtsbarkeit vorlieb nehmen. Zu
alledem ist die Abgrenzung nach Streitsummen mechanisch, will-
kürlich und wird der Innern Verschiedenheit der Streitwerte nicht
gerecht. Darin liegt also in jedem Betracht ein Nachteil gegen
die frühere Einrichtung.
Jedenfalls war im Rechtspflegegesetz von 1875 noch keiner-
lei Ziviljury zu finden, außer wenn das Handelsgericht dazu ge-
rechnet werden wollte, das aber schon seit dem Verfassungs-
gesetz von 1865 besteht. So war also auch nach der zweiten
Direktive der Wunsch der Verfassung unerfüllt geblieben. Erst
1896 sind die gewerblichen Schiedsgerichte nach bekannten Mustern
und mit einem Verfahren eingeführt worden, das um nichts besser
ist, als das der allgemeinen Gerichte. Heute jedenfalls wären
Fachgerichte und nach allen Seiten am Platz, wo die Richter zu-
gleich Experten sind und es keiner besondern Expertisen mehr
bedarf, die die Prozesse am meisten verschleppen und verteuern,
den Advokaten aber darum gerade willkommen sind.
Anderseits ist die Rechtspflege seit 1869 noch dadurch ver-
wickelter geworden, dass dem Obergericht ein Kassationsgericht
vorgesetzt wurde. Das auch aus dem falschen Bestreben, die Rechts-
pflege wissenschaftlicher zu machen. Das Kassationsgericht ist
an oberster Stelle der Justiz, was der Bezirksrat in der Mitte der
622
Verwaltungsorganisation: das fünfte Rad am Wagen. Es geht
über das Verhältnis eines Kantons, diskreditiert das Obergericht
und kostet dafür immer noch gegen 8000 Franken. Auch weiß
man gelegentlich nicht, woher die Leute nehmen und verfällt auf
Advokaten, die dann als Kassationsrichter über den Oberrichtern
stehen, ein ganz unleidliches Verhältnis. Also ein Doppel des
Obergerichtes, statt dass dieses seinerseits vereinfacht worden
wäre. An Stelle der Appellation, die den ganzen Fall auch nach
dem Tatsachenmaterial neu behandelt, genügt die Revision mit der
Aufgabe, lediglich auf das Recht zu sehen und allfällige Rechts-
verletzungen in Urteilen der untern Instanz zurückzuweisen. Statt
einem Obergericht als Appellationsgericht also ein Revisionshof,
und nichts weiter. Aber die Advokaten wollen das nicht, sie ver-
lören dabei, und auf sie kommt es an. So hat das Obergericht
bereits auf fünfzehn Mitglieder vermehrt werden müssen, kostet
an die 300,000 Franken, und so wird es weiter gehen, bis das
Volk selbst etwa mit einer Initiative durchgreift. Es konnte sich
sogar fragen, ob man auch nur das Obergericht als zweite In-
stanz für alle Fälle beibehalten wollte, nachdem 1874 das Bundes-
gericht ständig geworden ist, und nicht diesem in Prozessen,
denen der Weg dahin offen stand, den zweiten Entscheid vor-
behalten sollte; an einer Oberinstanz genügt es doch, und es
braucht nicht mehr drei oder vier, wie zu heiligen Reichszeiten.
Aber es ist als ob man im Kanton Zürich alles nicht kompliziert
und kostspielig genug machen könnte.
Was das Rechtspflegegesetz an wirklicher Volkstümlichkeit
gebracht hatte, war die Freigebung der Advokatur. Aber gerade
damit ist man seither wieder abgefahren, durch das Rechts-
anwaltsgesetz von 1898. Es mag ja zugegeben werden, dass
diese neue Freiheit einige Auswüchse erzeugt hatte. Aber so
wenig man eine Freiheit wegen des möglichen Missbrauches ab-
schafft, so wenig hätte es hier geschehen sollen; es sind bloß
die Auswüchse zu stutzen. Es kam die Winkelagentur auf. Dieser
ist aber der Anwaltsstand ohnehin überlegen, und sie hätte sich noch
durch das Approbationssystem in ihre Schranken weisen lassen,
ohne dass wieder eine förmliche Kaste aufgerichtet worden wäre.
Auch schießt die Bedingung der Wissenschaft wieder über das
Ziel der Rechtspflege hinaus, und darauf kommt es jedenfalls nicht
623
an, dass der gelehrte Anwalt die Sache dem Richter besser auf
der Tranchierplatte vorzulegen versteht, so dass dieser sich weniger
bemühen muss. Es gibt allerdings Richter, die das vorziehen,
und deshalb sich den Advokaten geneigter zeigen als einer un-
verbelständeten Partei; die sogenannten Advokatenrichter, mit
Ehrennamen. Und wenn die Richterwahl Behördenwahl ist und
der Advokat in dieser Behörde sitzt, so bildet sich unter Um-
ständen noch ein weiteres Verhältnis, das den Ruf der Unab-
hängigkeit des Richterstandes nicht bessert. Nun haben wir also
wieder eine besondere Klasse von Advokaten wie von Ärzten,
was das Rechtsuchen jedenfalls nicht volkstümlicher gemacht und
unbestreitbar sehr verteuert hat. Der einzige Fortschritt des Rechts-
anwaltsgesetzes ist, dass nun auch Frauen die Advokatur ausüben
können, ein Fortschritt von so geteiltem Ansehen, dass darüber
besonders abzustimmen war. Sie hätte ihnen aber auch geöffnet
werden können, ohne anderseits den Beruf zur Kaste abzu-
schließen.
Zur Zeit liegt das bisherige Rechtspflegegesetz in Revision,
und zwar erscheint es nun in einer Trilogie. Die Gerichtsorga-
nisation, auf die es hier hauptsächlich ankommt, ist schon 1911
ausgegeben worden, nun kommt der Zivilprozess daran, und den
Schluss des Gesetzesdramas wird der Strafprozess bilden. Aber
die Revision besteht in der Hauptsache nur in einer Konsolidie-
rung und Neuausgabe des bisherigen Gesetzes und seiner No-
vellen und hat sich keines großen Zuges oder eines Fortschrittes
zu rühmen, am wenigsten im Sinn der Volkstümlichkeit; im Ge-
genteil ließen sich einige neue Künsteleien feststellen. Insofern also
ist die ganze Revision leeres Gepränge, und man hätte die Mühe
und Kosten einer Gesetzesarbeit sparen können. Die Arbeit
daran dauert bald zwanzig Jahre, und so hat der Berg eine Maus
geboren.
Kosten unsere Gerichte ein unverhältnismäßiges Geld, heute
jedes Jahr gegen zwei Millionen, so gibt man es dafür den Pro-
zessparteien um so billiger. Allerdings ist es nur demokratisch,
wenn den kleinen Leuten das Rechtsuchen möglichst leicht ge-
macht wird, bis zur Unentgeltlichkeit; dafür sollte nach oben aber
um so mehr dafür bezahlt werden. Aber das Maximum der
Staatsgebühren beträgt nach wie vor dreihundert Franken,
624
auch wenn der Streitwert in die Hunderttausende und Milliohen
geht. Das reimt sich schlecht mit den so sehr gesteigerten Un-
kosten des Gerichtswesens, und es ist nicht zu verwundern,
wenn bald eine ganze Million am Staat hängen bleibt, die er
sich so leicht und ohne Verletzung der Billigkeit ersetzen lassen
könnte. Und wenn durch höhere Gerichtsgebühren das Prozes-
sieren abnähme, so würde es dem Lande jedenfalls nicht schaden
und hinwieder nur die Unkosten für den Staat verringern.
Rechnet man alle die unnötigen, vorzeitigen oder überflüssi-
gen Ausgaben zusammen, wie bald wären die Defizite gedeckt,
um nie wiederzukehren!
Und nun, mein verehrter Herr Kantonsrat, Regierungsrat,
Referendumsbürger, oder in welcher Stellung immer Du Einfluss
auf die Staatsverwaltung habest:
Lies wohl dies Büchlein oft und viel,
Und tu' nicht stets das Widerspiel!
CASPAR SCHEIDT
DD D
KRIEG UND VOLKSWIRTSCHAFT
Die moderne Nationalökonomie hat sich erst in den letzten Jahren
systematisch mit dem Krieg befasst oder vielmehr mit den ökonomischen
Wirkungen, die von ihm auf die Volkswirtschaft ausgehen. Werner Sombart
beschäftigte sich letzthin mit dem Problem ; in seinem Buche ^) hat er eine Fülle
interessanter Feststellungen gebracht. Ob er damit dem ganzen gewaltigen
Stoffgebiet vollends gerecht wird, ist freilich eine andere Frage. Das Haupt-
gewicht legt der Verfasser richtigerweise auf die tatsächliche Abschätzung
des Mih'täraufwandes. Was kostet der Unterhalt, die Bewaffnung, Bekösti-
gung und Bekleidung der Heere, welches sind die Wirkungen des Schiff-
baues auf die nationale Produktion ? Das Buch von Sombart will vor
allem als historische Leistung gewürdigt sein; es bringt eine Menge ge-
schichtlicher Daten über den Kriegsaufwand bei, allein die Bedeutung des
Krieges für die moderne Volkswirtschaft tritt nicht in dem Maße in Er-
scheinung, wie es wünschbar gewesen wäre. Es fehlen auch die vergleichenden
statistischen Zusammenstellungen, es fehlt eine Aufarbeitung des Zahlen-
materials, die uns vor Augen führt, was der Militarismus der Großmächte
für ungeheure Opfer von der Nation fordert.
Im Kapitel über den Schiffsbau wird diese Vorstellung am ehesten
lebendig. Da zeigt uns Sombart die enorme Bedeutung des Schiffsbaues für
das Wirtschaftleben. Der Schiffsbau ist der Zerstörer der Wälder in Eu»
1) Krieg und Kapitalismus. Druck von Humblot, Leipzig 1913i
625
ropa geworden. Eisenindustrie und Schiffsbau seien letzthin Kinder, die
der Krieg gezeugt hat, und diese beiden Gewerbe vor allem stellten die
hohen Ansprüche an die Holzproduktion. Die Klagen über die zunehmende
Holzknappheit gehen auf das sechzehnte Jahrhundert zurück. Aus der
Zerstörung, die der Krieg schafft, steigt neuer schöpferischer Geist empor:
der Mangel an Holz und die Notdurft des täglichen Lebens drängten auf
die Auffindung oder die Erfindung von Ersatzstoffen für das Holz hin,
drängten zur Nutzung der Steinkohle als Heizmaterial, sie drängte zur Erfin-
dung des Kokesverfahrens bei der Eisenbereitung. Dass dieses aber die ganze
großartige Entwicklung des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert erst
möglich gemacht habe, stehe außer allem Zweifel. Auch hier, glaubt Som-
bart, in diesem entscheidenden Punkte, scheinen unsichtbare Fäden die
merkantilen und die militärischen Interessen eng miteinander zu verknüpfen.
Nur für die frühkapitalistische Epoche behauptet Sombart die über-
ragende Bedeutung des Militarismus. Später mischen sich tausend andere
Bestandteile hinein, später werde der Gang des Wirtschaftslebens durch
tausend andere Triebfedern ebenso stark, wenn nicht stärker, bestimmt als
durch militärische Interessen, die einen beherrschenden Einfluss nur bis
zum Beginn der hochkapitalistischen Zeit ausüben. Das sei nun aber ge-
rade das Entscheidende, weil eben in dieser Zeit der Charakter des modernen
Kapitalismus seine Qrundprägung erhielt. Den Nachweis wollte Sombart
vor allem leisten, dass der Krieg viel unmittelbarer als die Kolonien am
Aufbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems beteiligt ist, weil er die
modernen Heere geschaffen hat und die modernen Heere wichtige Bedin-
gungen kapitalistischer Wirtschaft erfüllen sollten. Die Bedingungen, die
hier in Betracht kommen, sind: die Vermögensbildung, der kapitalistische
Geist und vor allem ein großer Markt. Als ein Verdienst Sombarts kann
es bezeichnet werden, gerade in der jetzigen Zeit der enormen Kriegs-
rüstungen die Tragweite der Zusammenhänge zwischen Volkswirtschaft und
Krieg nachgewiesen zu haben.
Eine vielbeachtete Studie über die Volkswirtschaft der Schweiz im
Kriegsfall hat der Generalsekretär der Schweizerischen Nationalbank
Dr. Adolf Jöhr (Veriag Kuhn & Schürch, Zürich) geschrieben ; das Werk
erlebte bereits eine zweite Auflage. Die Bedeutung des Buches ist vor allem
darin zu suchen, dass es eine solid fundierte Gruppierung des Tatsachen
materials bietet und auch dem Laien den Stoff nahebringt.
Damit soll nicht gesagt sein, dass es der Arbeit an eigenen originalen
Betrachtungen fehle; solche sind zahlreich in das gut verarbeitete Material
eingeflochten und man kann dem Verfasser wohl an den meisten Stellen
zustimmen. Dank der Einhaltung einer strengen Systematik ist es Dr. Jöhr
trefflich gelungen, den umfangreichen Stoff zu meistern, eine Fülle von
Einzeltatsachen beizubringen und so das Bild zu einem wohlabgerundeten
zu gestalten. Der vorwiegend orientierende Charakter der Arbeit hat dazu
geführt, dass allerlei Elementartatsachen berücksichtigt werden mussten,
die bei rein wissenschaftlicher Bearbeitung ohne weiteres in Wegfall kämen.
Das Buch von Jöhr wird dadurch besonders nützlich, dass es dem Leser
2eigt: wie waren die Verhältnisse und der Stand der schweizerischen Volks-
wirtschaft im Kriege von 1870/71 und wie würden sich die Verhältnisse in
626
einem Zukunftskrieg gestalten. Über die Zustände im Jahre 1870/71 gibt
uns Jöhr ein wohlgelungenes Bild; nirgends fand sich bisher eine Gesamt-
darstellung. Diese ist ihm geradezu mustergültig gelungen. Wohl konnte er
sich dabei auf Denkschriften stützen (F. Mangold: Die Bank in Basel, P.
Gygax: Die Bank in St. Gallen, C. Keller: Die Krisis des Jahres 1870 usw.);
Alle diese Arbeiten haben jedoch die Frage mehr nach der banktechnischen
Seite behandelt, Jöhr hingegen bietet ein abgeschlossenes Bild davon, wie
es damals um die schweizerische Volkswirtschaft stand. Die Ergebnisse
der Studie werden in neue Schlussthesen zusammengefasst. Man wird dem
Verfasser zustimmen können, wenn er sagt, das schweizerische Geld- und
Bankwesen sei heute unendlich viel besser auf die Erschütterung einer
Kriegskrisis gerüstet als im Jahre 1870.
ZÜRICH PAUL GYGAX
DAS SONNENLAND
Ein Gipfel war er bestimmt, der liebe Hans Hoffmann, wenn er auch
sein Haupt nicht im Wolkendunste barg. Freilich mühte er sich vergeblich
damit ab, sorgfältig behauene Granitblöcke zum festgefügten geschichtlichen
Roman aufeinanderzutürmen, und seine Verse klingen da am besten, wo
sie eigne oder allgemein menschliche Schwächen mit scharfen Geißelhieben
treffen; aber keiner trete mir seiner Tante Fritzchen zu nah, die ihre über-
quellende Herzensgüte hinter einem stachligen Äußern schamhaft versteckt
und den kategorischen Imperativ der christlichen Allerweltsliebe mit dem
Recht auf einen tüchtigen Hass so wacker abtrumpft. Und welcher deutsche
Erzähler kündet die Freuden und Leiden des Gymnasiallehrers mit so
warmem Verständnis wie der Dichter des „Gymnasiums von Stolpenburg"?
Unsern Primanern allerdings, denen Hoffmanns Landsmann Eduard Engel
diese feinen, das Innerste der Schulmeisterseele durchleuchtenden Novellen
zu erbaulicher Lektüre empfiehlt, möchte denn doch das Sensorium für derart
subtile seelische Konflikte mangeln. Fest wurzelt Hans Hoffmann in seiner
pommerischen Heimat, deren „klägliche Öde" sein Herz doch nicht er-
starren ließ. Und doch seufzt er gelegentlich: „nur meine Augen wollen
hier verschmachten!", aber flugs schnürt er sein Bündel, verlässt, wie sein
Eberhard von Wildberg in den Bozener Märchen, „das frostige Land seiner
Jugend, steigt über die Alpen ins Etschtal, wo die Gefilde mit südlichem
Sonnenschein begnadet sind", und hier, wo schon Paul Heyse reiche Ernte
eingeheimst, bindet er sich eine bunte Garbe wunderhübscher Legenden,
Märchen und Gedichte. Zweimal hat er auch an dem Eiland der Phäaken
angelegt, und mit liebenswürdiger Freude erzählt er uns, dass sich die
modernen Korfioten von den homerischen ruderliebenden Phäaken, die sich
ja vor allem in der Kunst eines eleganten Faulenzens rühmlich hervortaten,
in keiner Weise lumpen lassen.
Ein warmer, vergnüglicher Humor waltet in Hans Hoffmanns meisten
Erzählungen; er versöhnt den Dichter mit seinem unmusischen Hinterpom-
mern, „wo nur ein einziger Gott, Jupiter Pluvius, herrscht", er verklärt ihm die
göttliche Faulheit seiner Phäaken, er zeigt ihm aber auch einen protestan-
tischen Pfarrhof im märkischen Sand in homerischem Glanz und würzt ihm
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eine Sönntagsfahrt auf der beschaulichsten der Kleinbahnen, der der Ber-'
liner Witz den freundlichen Namen „die stille Pauline" verliehen hat.
Mit verstehendem und verzeihendem Lächeln redet Hoffmann von den
Schwächen der Menschen; er weiß, dass ein kleines Fehlerlein auch dem
Trefflichsten Herzensbe'dürfnis ist, und wäre es auch nur etwa „ein kleines
Hausneidchen, wie es jedem Christenmenschen zu ruhiger Beschäftigung
gegönnt ist als ein mäßig knurrender Schoßmops, der niemanden heftig
anbellt, noch weniger ans Beißen denkt". Eichendorffs mannhafter Kampf-
ruf: „Krieg den Philistern!" hallt durch Hoffmanns ganze Dichtung;
das Luder ist so feig korreltt, ihn Itann der Teufel selbst nicht fassen !
knirscht er einmal ingrimmig; aber er weiß auch, dass man „dieselbe Ge-
sinnung aus Hochmut, Beschränktheit und Froschnatur, oder aber aus
Reinheit haben kann". Jegliches Tugendathletentum ist ihm im Grunde
seiner Seele zuwider; ihm selbst ist's in seiner bewussten Unvollkommen-
heit wohl genug, und mit mitleidigem Bedauern blickt er auf die Muster-
menschen herab, die in all ihrer blitzblanken Tugend lediglich das satte
Bewusstsein eigener Vortrefflichkeit mästen :
Welch glücklich Leben inuss das sein,
Stets Lob zu ernten bei Groß und Klein,
Lächelnd zu opfern jederzeit
Behäbiger Selbstzufriedenheit !
Vielleicht zwar mag ich sie doch nicht beneiden;
Doch eins ist sicher: ich kann sie nicht leiden.
Die mit Ironie gepaarte Weltfreude hat Hans Hoffmann mit Gottfried
Keller gemeinsam, dem er einmal seine Referenz machte, ohne dass es zu
einem innigen persönlichen Kontakt zwischen den beiden Dichtern gekom-
men wäre: „ich schied von ihm," erzählt Hoffmann selbst in einem Auf-
satz über Wilhelm Raabe, „nach einigem hingequälten Verweilen in etwas
verprügeltem Seelenzustande" ; dagegen müssen sich Briefe Kellers an ihn
in seiner Mappe finden. — Ohne Zweifel hat Hans Hoffmann von Keller
viel gelernt; Kellers Legendenstil mag er den weichen Wohlklang der
Sprache seiner Märchen abgelauscht haben ; seine schönste Dichtung dieser
Art, die Legende „Die heilige Kümmernis", hat er dem Zürcher Meister
zum siebzigsten Geburtstag auf den Tisch legen dürfen. Nur feiner, be-
wusster, kultivierter klingt Hoffmanns Sprachmelodie als die Kellers; er
weiß seinen Satz so zu biegen, die einzelnen Teile so zusammenzufügen
und mit schmückendem Beiwerk zu füllen, dass er, jede Ecke und Kante
meidend, in behaglichem Fluss seinem Ziele zustrebt. Eine Probe? Aber
schlürfen Sie die Sätze mit andächtig kostender Zunge in sich hinein, wie
ein Glas duftenden Rheinweins: „Und wo sie nun auf einem Tanzfest sich
zeigte, was sie fortan gern tat, und sich munter umherschwang, da gab es
des Jubels die überschwängliche Fülle und taumelnder Seligkeit, hinterher
aber in den Nächten viel Seufzer und Sehnen und das schmerzliche Rasen
ungestillten Verlangens." Oder: „Als Gottvater diese Worte sprach, rissen
die Wolken um ihn her auseinander und zerstoben in namenlose Fernen
vor dem Donner seines Mundes, da er doch flüsterte und raunte; und der
Donner seines Mundes war auf der Erde vernehmbar als ein weites Schwei-
gen des Entsetzens." — Läutet nicht das Zauberglöcklein der poetischen
Prosa nur noch im Tanzlegendchen so voll und rein ? Und doch hat Hans
Hoffmanns Art und Kunst kaum etwas Epigonenhaftes; er umkreist nicht
als bescheidener Trabant nur mit erborgtem Lichte leuchtend den glänzen-
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deren Planeten; er zieht seine Bahn als kleineres, aber nicht minder eigen-
artiges Gestirn, das gelegentlich einen Strahl eines andern hascht und in
neuer, wundervoller Brechung zurückwirft.
Die ganze stufenreiche Skala der verschiedenen Töne seiner Dichtung
erklingt in Hans Hoffmanns nachgelassenen vollendeten und unvollendeten
Märchen und Novellen, die Carl Schüddekopf in Zeitungen und Zeit-
schriften und im Arbeitszimmer des Dichters selbst eingefangen hat^). Nach-
gelassenes? Bruchstücke? Rümpfen Sie, bitte, die Nase nicht! denken Sie
nicht an die dürren Späne und Schnitzel, die übereifrige Gelehrtengründ-
lichkeit in den Werkstätten großer Toter zusammenzuscharren und zu un-
erfreulichen Haufen zu schichten pflegt! In diesem Buche steht nichts,
was uns nicht seines Geistes Hauch verspüren ließe; Mären wie das
grandios-schaurige Harzmärchen „Goslar" oder das ulkige Capriccio „Der
Forschungsreisende" bleiben auch als Torsen wertvolle Dokumente für die
packende Stimmungskunst und den geistvollen Übermut eines begnadeten
Erzählers. Ein alter, morscher Mann kann diese Geschichten nicht ge-
schrieben haben ; nur die Dichtung des innerlich Jungen kennt den wuchtig
hämmernden Pulsschlag großer Leidenschaft, der in der Novelle „Der Dolch"
und im einen und andern Märchen pocht; nur der unverbrauchten Jugend-
frische ist die ausgelassene, mitunter selbst zu einem lustigen Purzelbaum
aufgelegte Laune und daneben die wunderbar zarte Stimmung eigen, die
den Märchen Glanz und Farbe verleihen. Da und dort entzückt ein süperber
Einfall: so stellt Hoffmann den Teufel als Verwalter eines Standesamtes
für die Hässlichen oder als liebegirrenden Freier vor, der freilich den Schweif
vorsichtig in der Rocktasche birgt, oder er lässt einen naturwissenschaftlich
gebildeten Zwerg irgendwo im Wald einen Strohhut und einen Strickbeutel
finden und daraus in feierlichem Kathederton mit dem Finger an der Nase
die scharfsinnigsten Schlüsse auf die mutmaßliche Art der Wesen ziehen,
denen diese Gegenstände gehören. Einmal gelingt ihm auch, freilich als
Nachhall einer früheren Wendung, ein feines Bonmot: „Sie lernte es immer
besser, dass kein Mensch anders kann, als den lieben, dem er wohltut."
Das erste Märchen vor allem, das dem ganzen Band den Namen ge-
geben, gehört zum Duftigsten, was die deutsche Märchenpoesie seit Mörike
gezeitigt hat; der magnetische Rapport wirkt in der traumhaft-verklärten
Welt dieser Dichtung rein poetisch, nicht im geringsten krankhaft, wie
etwa in Storms seltsamer Altersnovelle „Ein Bekenntnis". Die Seele der
jungen Gräfin Gerhildis schwebt, während der Körper regungslos an der
Seite des Gatten liegt, durch die Einsamkeit der Wälder und Obstgärten.
Eines Tages reitet ein Gast durchs Burgtor, der Ritter Zeno, aber er und
Gerhildis erschrecken beide, wie sie sich grüßen: sie haben sich im Sonnen-
land ihrer Träume schon gesehen, und das scheint ihnen schweres Unheil
zu verheißen. Doch der Hausherr zwingt den Gast zum Bleiben. Da meldet
ihm am nächsten Morgen der Torwart, Zeno und Gerhildis haben beim
Mondschein das Schloss gemeinsam verlassen, und doch hat der Schlaflose
die ganze Nacht auf dem Antlitz des schlummernden Weibes nach huschen-
den Träumen gespäht, und Zenos Waffenknecht hat seinen Herrn geruhsam
schnarchen hören. Am folgenden Morgen aber berichtet der neue Wächter
dasselbe, und wie die beiden selbst starken Eisenbanden vor den Türen
') Das Sonnenland und andere Erzählungen aus dem Nachlass von Hans Hoffmann.
Zweite Auflage. München und Leipzig bei Georg Müller.
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trotzen, geht Graf Eckart, selber die Wacht am Burgtor zu halten. Um
Mitternacht öffnet sich das hohe Tor lautlos, und schwebenden Ganges
gleiten Frau Gerhildis und Ritter Zeno an dem Erstarrenden vorbei; jäh-
lings stürmt er den Liebenden nach, die sich eng umschlungen halten
und ihn mit großen, stummen Augen anblicken, stößt Gerhildis das Schwert
ins Herz und spaltet Zeno den Schädel. .,Deutlich sah er die grässlichen
Wunden; allein die Getroffenen sanken nicht zur Erde, sondern beide Ge-
stalten hoben sich auf und schwebten in der Mondeshelle weiter und weiter
und entschwanden seinen Blicken als ein weißschimmerndes Wölkchen.
Verstört betrachtete er sein wuchtiges Schwert: und siehe, es blinkte licht
und war rein von allem Blute." Zu Hause aber findet er Zeno gespaltenen
Hauptes auf dem Lager, und im ehelichen Gemache liegt Gerhildis mit
durchbohrtem Herzen.
Wie so manchem andern großen Erzähler hat Julius Rodenbergs
„Deutsche Rundschau", wo man noch heute, wie Keller dem Freunde Storm
schrieb, „immer sicher ist, gute Musik zu hören und feine Weinlein zu
trinken", auch Hans Hoffmann eine Heimstatt gewährt; hier ist nach
dem Tode des Dichters die muntere und geistvolle Stammtischplauderei
„Vox populi" erschienen, die Hoffmanns Lieblingsthema: die unkurierbare
Sündhaftigkeit und daneben die Seelengüte des Menschen illustriert. „Es
ist nicht anders, wir sind allzumal Sünder!" konstatiert der Landgerichts-
rat Meinecke, ohne deshalb selbst besonders peinliche Gewissensbisse zu
verspüren, und wenn die Stimme des Volkes, das Schwurgericht, in sittlicher
Entrüstung den sozialistischen Brandstifter von aller Schuld freispricht, weil
er durch seine Tat seine und seiner Braut Ehre vor dem reichen Wüstling
gerettet hat, so heuchelt sie im Grunde genommen sich selbst ein Maß
von Tugend vor, das sie gar nicht besitzt. Cosl fan tutti. Heuchelei aber
ist borniert oder feig.
Noch ein zweites hasst Hans Hoffmann: das geistige Beharrungs-
vermögen der Menge, der für göttlich gilt, was grau vor Alter ist.
Ich sehe Brauch und Sitte Überliefrung lutschen.
Vor tausendjährgem Unsinn Ehrerbietung rutschen,
grollt Harpalyke in Spittelers Olympischem Frühling; aber wehe dem, der
der Macht der Tradition zu widerstehen wagt! seiner harrt das Schicksal
des jungen Nix im Märchen „Der Väter Satzung", der dem ererbten Glauben,
dassderNix den Glanz der Sonne außerhalb des Wassers nicht auszuhalten
vermöge, in seiner verzehrenden Sehnsucht nach Licht und Wärme straflos
trotzt, aber als Frevler von Seinesgleichen verstoßen wird und an seiner
Einsamkeit langsam zugrunde geht.
Im Kern seines Wesens war Hans Hoffmann wohl Pessimist, wie so
mancher humoristische Dichter. Einer so tiefen Natur musste jener faden-
scheinige Optimismus fremd bleiben, der die ganze Welt mit rosigem Guss
überzuckert; aber dem Künstler war es gegeben, sich seine Welt, sein
Sonnenland zu schaffen, wo „aller Wesen unharmonische Menge" nicht mehr
„verdrießlich durch einander klingt", wo die Schönheit herrscht und — das
befreiende Lachen. Wie ein Abschiedswort Hans Hoffmanns selbst klingen
Anna Ritters Verse, die den Band würdig präludieren :
ich komme heim aus dem Sonnenland.
Ich bin den ganzen blühenden Tag
In lauter Schönheit gegangen.
ZÜRICH MAX ZOLLINGER
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LE REVEIL DE L'ESPRIT NATIONAL EN FRANCE
(CARNET D'UN SPECTATEUR)
Je ne crois pas qu'en France roplnion publique, cette dominante dans
la gamme des idees, se manifeste aussi souvent qu'en Suisse, et avec
autant de succes. En Suisse, la mediocre etendue du pays, ses institutions
et ses mcEurs democratiques fönt que les pouvoirs publics sont plus endins
ou plus obliges qu'ailleurs ä se laisser conduire par la voix du peuple, qui
est, comme chacun sait, la voix de Dieu. Et comme la crainte de Dieu est,
pour le politicien, le commencement et meme la totalite de la sagesse, les
hommes d'Etat suisses repondent plus volontiers ä l'appel de cette voix
quelquefois tyrannique, parfois salutaire.
En France, pour des raisons contraires, l'elu se sent tres distant de
l'electeur, et quand il y a des comptes ä rendre au peuple-roi, le quart
d'heure de Rabelais s'ecoule, sans qu'on y prenne garde dans une envol^e
d'eloquence. Mais si l'opinion publique parle moins souvent, eile parle plus
haut, car les sentiments longtemps contenus explosent plus bruyamment.
Les contradictions de l'opinion y sont plus apparentes aussi, de sorte
que Jaures qui, il y a un an, etait salue ä Bordeaux d'acclamations formi-
dables, ne recueillerait aujourd'hui que des sifflets et des outrages.
On a pretendu, ä une epoque de lüttes religieuses, que !a France
oscillera toujours entre le clericalisme et ranticiericalisme. Cette affirmation
reijoit un singulier dementi puisqu'on voit pratiquer actuellement la politique
d'apaisement prechee naguere parM. Briand. Maison pourrait tout aussi bien
affirmer aujourd'hui que la France oscillera sans cesse entre le nationa-
lisme et l'internationalisme. 11 est certain que le pacifisme antimilitariste,
apres avoir connu de beaux jours, est en forte baisse, tandis que le reveil
de l'esprit national se manifeste de fagon indeniable.
Temoin de cette houle sur la mer changeante de l'opinion, j'ai note
sans passion ces palpitations de l'äme fran^aise. Qu'on ne prenne les lignes
qui suivent que comme des instantanes de moments fugitifs de l'histoire
contemporaine, sans y chercher aucune intention de louange ou de bläme.
Cependant, sans vouloir tirer des conclusions ou une morale des evene-
ments, on ne peut s'empecher de constater la fuite, ou plutot l'alternance
rapide des idees collectives, et combien les foules evoluent vite, plus vite
meme que les individus, quelque paradoxale que semble cette assertion.
Ainsi, pour parier de l'expression la plus criante de rinternationalisme, oü
est M. Herve et son fameux furnier dans lequel il plantait le drapeau?
Est-il alle rejoindre en exil le roi Pataud qui fut maitre de la lumiere et
des tenebres de Paris? . . .
Dans quelques annees, quand la ferveur patriotique aura ete satisfaite
et qu'une autre vague l'aura couverte et remplacee, on regardera avec
curiosite peut-etre ces tableaux de la vie publique ä Bordeaux pendant ces
derniers mois :
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Place Pey-Berland, devant la Cathedrale; quatre heures de l'apres-
midi. — Des placards tricolores ont invite les patriotes ä venir conspue'r
ä la sortie de son cours, M. Ruyssen, „honte de l'Universite".
M. Ruyssen, professeur de droit et pacifiste notoire, est alle donner
une Conference en Alsace, sous les auspices d'une societe allemande, pour
y precher l'entente franco-allemande. II n'a pas craint de repudier toute
idee de revanche, c'est-ä-dire de reprise par la force des pays annexes
en 1871.
Les membres de I'Action fran^aise peuvent etre Contents: la place
Pey-Berland est noire de monde, de „patriotes" accourus ä leur appel. 11
y a plus de spectateurs que d'acteurs, bien sür. Les rues aboutissantes
sont barrees; sur la place, des gendarmes ä cheval circulent sans cesse
pour empecher la formation de corteges. Aimez-vous les agents? on en a
mis partout.
M. Ruyssen ne parait pas en scene: la semaine passee, les patriotes
lui ont fait une conduite de Grenoble ä la sortie de son cours, et toutes
les mesures sont prises pour qu'il puisse rentrer incognito ä la maison.
La, il n'y sera pas tranquille du reste, et des fanatiques iront, au nom de
la Patrie outragee, deposer des ordures dans sa boTte aux lettres.
Cependant la manifestation ne presente encore aucun caractere
d'emeute. Une elegante dame dit ä son fils, jeune etudiant qui l'avait invi-
vitee en lui promettant un spectacle avec coups et blessures au programme:
„Je m'en vais; cela ne se dessine decidement pas aujourd'hui." Delicieuse
naVvete d'une mondaine pressee.
Je m'approche de quelques groupes reunis sur le trottoir et oü Ton
discute; je recueilie ces propos: „Permettez . . . Ruyssen a raison . . .
Tant que TAllemagne . . . C'est indigne qu'un professeur frangais . . .
Monsieur, vous n'etes qu'un gamin ! . . ."
. Ceux-ci sont des spectateurs et non des manifestants. En general on
bläme M. Ruyssen d'avoir mal choisi son moment pour parier d'entente,
alors que l'AUemagne renforce ses armements ; qu'il n'appartient pas ä un
Fran^ais de precher en Alsace le renoncement ä l'ancienne patrie et de
briser le reve du retour ä la France . . .
Lä-bas, au fond de la place, des huees montent, des sifflets eclatent.
Des militants socialistes se sont masses pour contre-manifester: „Vive
Ruyssen! A bas la calotte! Hou ! Hou!" clament-ils en cadence. Les came-
lots du roi ripostent, tandis que les commer(;ants, apeures, ferment en häte
les volets de leurs magasins. Les deux groupes sont lä, en presence,
montrant une egale ardeur, une meme exaltation. Les Idees-Forces vont-
elles precipiter ces hommes les uns contre les autres, ces etudiants contre
ces ouvriers sur le parvis de la cathedrale?
Au moment oü retentit l'Internationale, les nationalistes brandissent
un drapeau tricolore qu'ils ont reussi ä dissimuler jusqu'ici. Les agents
de police, comme une sombre muraille mouvante, se mettent en marche.
Autour du porte-drapeau se serrent ses partisans. Un agent veut enlever
l'embleme qui peut provoquer l'effusion du sang, mais les jeunes gardes
se passent le drapeau de main en main. Je le vois s'incliner comme un
fetu qui va etre englouti par l'eau, mais bientöt il se redresse victorieuse-
ment au-dessus de ces tetes echauffees et de ces mains tendues. La ba-
632
garre est dechainee. Les sifflets font rage, D'immenses huees accom-
pagnent le flot des manifestants qui roule.
Entr'acte. — Deux agents emmenent un petit jeune homme de bonne
famille. Son vetement est dechire, son faux-col pend, lamentable; il est
nu-tete. Qu'importe: son visage est rayonnant, car il va etre conduit au
poste, et demain son nom sera dans tous les journaux. Pour un peu il
embrasserait ces braves agents, Instruments aveugles de sa gloire future,
bien qu'ils l'aient cueilli un peu rudement. C'est ainsi que devaient etre les
martyrs chretiens, et leur face illuminee n'avait sans doute pas d'expression
plus suave et plus joyeuse.
Un jeune gargon s'ecrie: „11 y a longtemps qu'ä Bordeaux on n'a pas
rigole autant que cela!" Madame, belle madame, qui tout ä l'heure mani-
festiez votre chagrin de ne rien voir venir, que n'etes-vous restee? Voici
du sang ä terre, du sang humain . . .
La manifestation s'eloigne et s'eparpille. Le commissaire de police du
quartier soupire de satisfaction. II öte son echarpe et la met dans sa
poche: qu'on se cogne plus loin, cela ne le regarde plus.
Le Jardin Public, ä dix heures du soir. — Le concert miütaire touche
ä sa fin. On attend avec impatience Le Reve passe, marche chantee. C'est
un tableau militaire en trois Couplets dont les spectateurs fredonnent le
refrain avec les soldats. On applaudit frenetiquement, et le chef de mu-
sique est oblige de faire recommencer.
J'ai vu le meme enthousiasme accompagner les retraites militaires du
samedi, retablies par M. Millerand. La veille du Quatorze-Juillet ce fut du
delire: Filles et gart^ons precedaient la troupe, bras-dessus bras-dessous.
Parmi la nuee indispensable des gamins, des couples ä l'air heureux, des
enfants portes sur les bras ou sur les epaules de robustes ouvriers. Ces
proletaires paraissent tout aussi „conscients" que ceux enröles sous le dra-
peau rouge. Tout cela ne marche pas, mais court en une poussee joyeuse,
comme si la troupe allait ä la frontiere. Je note ce diagnostic: Fievre pa-
triotique, 40 degres; tendance au chauvinisme. Actions de la Societe Jau-
res et C>e tombees ä zero. La Banque du Pacifisme suspend ses paie-
ments et ferme ses guichets.
Voici la composition d'un programme de concert public donne le
quatorze juillet par une musique de regiment: Apres l'indispensable Mar-
seillaise: Marche lorraine, Au Pays lorrain, Carillon lorrain, Fete mili-
taire, Seines alsaciennes, Charit du de'part.
Ce choix de morceaux n'est point du au hasard. II n'etonnera certes
pas ceux qui savent que depuis un ou deux ans l'Alsace a ses entrees dans
la litterature, le theätre et le music-hall.
Malgre tout, pas le moindre petit general Boulanger ä l'horizon. Une
tentative de dictature militaire sombrerait dans le ridicule. Decidement. ce
patriotisme est vaillant et sain sans etre querelleur.
Au cercle Gambetta, un publiciste alsacien, M. Hinzelin, donne une
Conference sur L'Ame et VEsprit de l'Alsace et de la Lorraine. Le Pre-
sident, apres avoir salue la presence des eminents deputes et senateurs
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qui . . . que . . . etc., fait allusion au Service de trois ans. Applaudisse-
ments. Le Conferencier viole ä son profit la consigne donnee par Qam-
betta: „N'en parlons Jamals, pensons-y toujours!" II en parle beaucoup,
certes, mais y pense-t-ii parfois? II se borne ä raconter des anec-
dotes destinees ä montrer le germanisme impuissant et bafoue en Al-
sace. Les traits pleuvent sur Guillaume II et sur ses fonctionnaires. L'as-
sistance, composee de personnes admises sur invitation, est en joie. En
somme, patriotisme de pacotille qui exciterait bien vite une foule ä crier:
,.A Berlin, ä Berlin!" Je pense, par contraste, ä l'enquete loyale et brillante
que vient de publier M. Georges Bourdon, du Figaro, apres avoir interroge
les hommes marquants de l'Allemagne sur les relations franco-allemandes.
Quand on a lu ce livre, il est difficile de croire ä la legende de l'Ogre
allemand que les caricaturistes nous ont dessine ne mangeant que de la
choucroüte avec des petits Fran<;ais dedans.
Du reste, en ecoutant le peuple, en tramway, dans la rue, il n'est pas
rare d'entendre parier de guerre prochaine, inevitable: „1! faudra que cela
eclate un jour, et que les comptes se reglent. Puisqu'„ils" le veulent . . ."
L'empereur allemand est devenu pour le peuple le Symbole du panger-
manisme agressif. Les manifestations personnelles de Guillaume II, col-
portees, denaturees souvent, ont fait du souverain une sorte de guignol-
croquemitaine: „Ah! ce Guillaume, qu'il y vienne donc!" Et j'entendais
cette declaration rassurante d'un charpentier: „II n'y viendra pas, car si
nous f. . . les Prussiens ä bas, alors plus de Guillaume!" Lors du jubile
de l'empereur, le Journal le plus important de la ville a reproduit un seul
article de la presse allemande: celui du Vorwärts, ün aurait pu traduire
avec plus de soin et de complaissance la mentalite allemande en cette
memorable circonstance. Cependant des centaines (de sujets) de „Guil-
laume", employes de commerce, gagnent en toute securite leur vie ä Bor-
deaux, et personne n'aurait l'idee de les molester.
Ce n'est pas qu'il n'y ait queique ecume sur la vague nationaliste qui
passe: L'autre dimanche, Carpentier, le Champion de boxe s'exhibe devant
plus de 10,000 spectateurs. Le soir, ses amis — lezards qui se chauffent
au soleil de sa gloire — le menent ä l'Alhambra. A son entree, l'orchestre
du music-hall interrompt un couplet joyeux et attaque la Marseillaise.
Les petites femmes de la Revue restent la jambe en l'air, une partie des
spectateurs se levent pour acclamer ce chef d'Etat nouveau style, tandis
que les autres maugreent contre cette deification intempestive.
Dernier Symptome: M. Jean Richepin sera candidat ä la Chambre.
Le farouche auteur des Blasphemes, mue en Conferencier des Annales, se
sent une irresistible vocation de representant du peuple. II a confie ä un
redacteur du Temps qu'ayant voue un culte ä Napoleon, il sera napoleo-
nien, mais point bonapartiste. Qu'on se le dise, et qu'on se rejouisse de
voir M. Richepin, heraut de la renaissance nationale, emboucher la trom-
pette epique restee sans titulaire depuis Victor Hugo!
BORDLAUX WIELAND MAYR
aao
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EIN ITALIENISCHER NOVELLENBAND
Vor kurzem wies in einem zürcherischen Blatte Fräulein Baragiola,
die den Lesern dieser Zeitschrift nicht vorgestellt zu werden braucht, auf
einen Band Novellen von einem der Jüngern italienischen Schriftsteller,
Mario Puccini, hin. Die Anzeige weckte die Begier, selber mit diesem Band
Bekanntschaft zu machen. Als Ferienlektüre begleitete er mich in die Berge.
Es sei gestattet, ein paar Worte zu diesen Novellen zu äußern.
La Viottola lautet der Titel. „Vom Wege ab" ließe er sich übersetzen.
Zehn Novellen vereinigt der Band; die größte, Lisetta, nimmt den vierten
Teil der 230 Seiten ein. Noch eine zweite ist von beträchtlichem Umfang,
die „Kleinen Siege". Beide geben für mein Empfinden zugleich mit den
besten Begriff von dem starken Talent des Verfassers. Lisetta schildert
das Los eines kräftigen, strotzenden Bauernmädchens, das, als vaterlose
Waise in einem Kloster auferzogen, erst der Arbeit auf dem Lande, bei
ihrer Mutter, sich widmet und dabei in eine Liebschaft mit einem Bauern-
sohn hineingerät, die aber zu keinem legitimen Ende führt, da der Vater
des Liebhabers nichts von einer Verbindung mit dem armen Mädchen wissen
will und den Sohn nach Amerika schickt. Enttäuscht und getäuscht nimmt
Lisetta eine Stelle als Magd in Rom an. Ihr heißes Blut treibt sie einem
aridern Mann in die Arme, der ihr auf die Ehe Hoffnung macht, sie aber
dann skrupellos sitzen lässt. Sie kommt um ihre Stelle und fällt nun in
ihrer völligen Ratlosigkeit einem ruchlosen Weibe in die Hände, das sie
auf den Weg der käuflichen Liebe leitet. Meisterhaft ist dieses allmähliche
Heruntergleiten geschildert, sachlich, mit grausamer Logik ; aus dem Einzel-
fall wird ein typisches Geschehen. Ergreifend, wie Schritt um Schritt das
Versinken des armen, guten Mädchens, das seiner Sinnlichkeit nicht Herr
wird, geschildert ist. Unwillkürlich denkt man an Maupassant.
Und der Name des großen Franzosen stellt sich bei der Lektüre des
Bandes immer wieder ein. In der Art zum Beispiel, wie in die Misere und
Vulgarität menschlichen Erlebens und Geschehens komische Lichter hin-
einblitzen; wie der Eindruck des Tragikomischen erweckt wird. Daist
unter anderm eine Novelle Ribellione postuma, eine Bauerngeschichte, die
sich jederzeit auch in der normannischen Bauernwelt Maupassants ab-
spielen könnte. Eine Bäuerin wird zum drittenmal Witwe. Bei ihren Ehen
hat sie sich stets stark von materiellen Interessen leiten lassen und darum
lieber die Hand einem Alten gereicht, der etwas hat, als einem Jungen, der
nur ihren sinnlichen Wünschen genügt hätte; freilich auch auf deren Befrie-
digung hat sie deshalb nie verzichtet und sich aus Nebenwegen, um ihre
Lust zu büßen, nichts gemacht. Ihr dritter Mann hat darum gewusst. Eifer-
süchtig bin ich nicht, hatte er zu seiner Frau gesagt; mach' ganz nach
deinem Willen; ich lasse dich frei; nur dass ich dich dabei nicht er-
tappe! Und nun ist er tot und das Testament wird eröffnet. Jetzt aber
kommt seine Rache. Die Frau soll all seine Habe erben, jedoch unter der
Bedingung, dass sie ihrem Liebhaber, einem jungen Taugenichts, den die
Witwe durchaus nicht zum Gatten haben möchte, heirate und dessen alte,
gebrechliche Mutter ins Haus nehme. Geht sie auf diese Bedingungen nicht
ein, so soll das Spital der Gegend in die Erbschaft eintreten. So rächt er
sich, und die Wütende mag nun zusehen, wie sie es halten will. Diese
Szene der Testamentseröffnung ist von einer unübertrefflichen Komik ; man
atmet die Luft der ächten Komödie.
035
Noch eine Geschichte ist da von solch grausamer Komik. // ritmo,
^Der Rhythmus", lautet ihr Titel. Ein Mann erzählt seinem Freund sein
Ehepech. Drei Schwestern, die, stets gleich gekleidet, durch ihren eleganten
Zusammenklang — man kann es nicht anders nennen — ihn wahrhaft ent-
zückt haben, sind sein Verhängnis geworden. Im Grunde ist er in diese
weibliche Dreiheit verliebt, aber schließlich: heiraten kann er doch nur eine.
So wählt er eine. Aber nun zeigt es sich, dass diese, losgelöst aus dem
Dreiklang, der ihn berückt hat, das trivialste Wesen der Welt ist, mit dem
er es auf die Dauer schlechterdings nicht aushalten kann. So trennt er
sich von ihr. Aber er braucht die Drei nur wieder auf der Straße zu sehen
in ihrem harmonisch sich wiegenden Ensemble, so flammt seine Leiden-
schaft wieder auf: lo le amo disperatamente ; er liebt sie alle drei; aber
sein Glück hat er verscherzt. Jeder Novellist darf Puccini um diesen
Fund beneiden.
In den „Kleinen Siegen" wird uns ein Musiker vorgeführt, der in einem
toskanischen Nest als maestro di musica als Leiter einer Harmoniemusik
amten soll. Er ist todunglücklich über sein Los. Aber seine tapfere Frau
hilft ihm über das Schwierigste hinweg. Und nach und nach erobert er
sich eine angenehme Stellung, und sein Name wird in der Gegend immer
bekannter als Dirigent und auch als Komponist; und schließlich ergattert
er sich sogar den Cavalieretitel. Aber über diesen kleinen Siegen geht
doch das Beste in dem Musiker zugrunde. Indem er immer mehr an seinen
kleinen ländlichen Erfolgen Genüge findet, entgleitet ihm die große künst-
lerische Schaffenskraft. Und es ist ausgezeichnet, wie Puccini gerade dieses
Versickern der eigentlichen Begabung des Musikers zum Bewusstsein bringt.
Nicht nur der Künstler aber schläft in dem Musiker ein, auch als Mensch
■wird er kleiner, und sein letzter Erfolg, der darin besteht, dass er den Ein-
zigen in der Ortschaft, der an seiner Begabung als Musikleiter noch immer
zweifelt, den Schulmeister, aus seinem Amte wegbringt, somit künftig völlig
unangefochten in seinem kleinen Ruhm sich spiegeln kann, gerade dieser
letzte Erfolg bedeutet seine tiefste ethische Niederlage. Das ist mit einer
feinen Ironie, einer grausamen Sachlichkeit geschildert, wie sie nur einem
echten Psychologen zu Gebote stehen.
Diese vier Novellen scheinen mir die Höhepunkte des Bandes zu
bilden. Aber auch in den andern findet man eine durchaus eigenartige
Erfindung und eine Kunst des knappen dramatischen Erzählens, die dem
Talent des Italieners ein glänzendes Zeugnis ausstellen. So stellt das Ganze
ein Buch dar, das jedem Freunde moderner italienischer Novellistik durch-
aus empfohlen werden darf. Der Band erschien in der Collezione econo-
mica di romanzi e novelle in Ancona bei Giovanni Puccini & Söhne. Gut
gedruckt kostet er — zwei Lire. In deutschen Landen würde er sich auf
das Doppelte stellen.
ZÜRICH H. TROG
DEUTSCHE LYRIKER DES 19. JAHRHUNDERTS
Dieses Buch ') ist eine so reiche poetische Lebensäußerung und ein
so wertvolles Geschenk an die Jugend, dass man es mit einer wahren
') Für Schweiz. Mittelschulen ausgewählt von Dr. Fritz Enderlin und Dr. Esther Oder-
matt, Professoren an der Höheren Töchterschule Zürich unter Mitwirkung ihrer Fachgenossen
an der Anstalt. Verlag des Kontors der Höheren Töchterschule. Zürich 1913.
636
Erregung gespannter Aufmerksamkeit betrachten und durchsuchen muss^
Aus dieser Notwendigkeit stammen die folgenden Gedanken und kritischen
Meinungen.
„Das Buch," so sagen die Herausgeber, „will die Jugend nicht bloß mit
einer Reihe schöner Gedichte bekannt machen, sondern ihr bedeutende
künstlerische Persönlichkeiten erschließen". Dabei galt es, ästhetische und
pädagogische Rücksichten zu nehmen und tunlichst zu vereinigen. Die
Aufgabe ist trefflich gelöst, das Resultat eine feine Läuterung der Schön-
heit ohne Schwächung ihres Glanzes. Ein erhebender Beweis auch wieder
für die untadelige ethische Beschaffenheit der großen Poesie! Um solche
handelt es sich mit einigen verschwindenden Ausnahmen in diesem Buche,
das mit fünfzehn Gruppen ihrer jeweiligen Gedichte Eichendorff, Uhiand,
Heine, Lenau, A. von Droste, Hebbel, Leuthold, Mörike, Storm, Keller»
Meyer, Frey, Lienert, Spitteler und Liliencron vertritt.
Ich muss die Gewalt dieses dichterischen Gesamtchors unbesprochen
lassen und kann die Fülle und Verschiedenheit der Kulturwerte, Weltan-
schauungen, Landschaftsbilder, Volksgeschicke und Dichterlose, die teil-
weise so interessante Sonderung der Ausdrucksformen und Gefühlsweisen
nach nord- und süddeutsch, deutsch und schweizerisch nicht aufzeigen,
wie sie hier, alles in allem genommen, die Lebenskenntnis und Seelen-
kunde und das künstlerische Gefühl den Jugendformen und von Grund aus
bestimmen können. Es würde zu weit führen. Die Wahl der Dichter ist
untadelig. Die Aufnahme Fontanes unterblieb wohl mit Rücksicht auf den
Raum.
Die einzelnen Gedichtgruppen sind mit Sorgfalt, Liebe und künstle-
rischem Bedacht geordnet. Es zeigt sich das Bestreben, etwas von der
Seele der Dichter in die Art zu legen, wie die Gedichte sich ablösen. Das
Charakterbild ist tunlichst gerundet. Einige der Eingangsgedichte (vergleiche
bei Mörike, Storm, Spitteler) wirken prologartig, nicht wenige handeln
vom Liede, wobei die Dichter ihres eigenen Liedes Wesen und Herkunft
fein und liebreich bewegt andeuten. Aufs reizendste fügt sich hier Lienerts
„Nüd schöinres as wänns dimmred" ein. Man wünschte in der Reihe der
Leitgedichte Kellers, „Am Himmelfahrtstage 1846" zu begegnen. Es ist
schön, wie zum Beispiel bei Uhiand die Landschaft sich lenzzart meldet,
aufblüht, fromme Menscheneinfalt und Treue aufnimmt, wiegt und zur
Ruhe bettet, sich romantisch umfärbt und mit dem Schwertklang und Minne-
sang der alten Zeit füllt und wie die zarte Empfindung des Dichters selbst
(„Droben stehet die Kapelle") mit der Herzhaftigkeit seiner alten kecken
kontrastiert. Auch die Gedichte Mörikes sind vorzüglich geordnet. Sein
Gesamtbild wogt und spielt mit süßer Heftigkeit, und doch darf jeder Ton,,
sei er beschaulich, wehmütig, heiter, selig schwärmend, mit Weile anschlagen
vibrieren und verklingen. Mich wundert, ob der Feuerreiter als der arme
Eiferer gegen die Elementargewalt der Leidenschaft schon der Jugend kennt*
lieh gemacht werden könne; bewirkt nicht der Sinn, so bewirkt das Symbol
eine unvergleichliche Gemütsbewegung. Schade, dass nicht genau in der
Mitte der Sammlung Mörike, „als auf einer Feuerleiter", diese fieberhafte
Schönheit aus dem in Erhabenheit beginnenden und in einzig-schwäbischer
Schalkheit endigenden Idyll heraussteigt!
Auch Storm steht prächtig da. In Absätzen, die ein melodisch schwel-
lendes und sinkendes Leben und Kolorit zeigen, durchläuft er seine Gebiete,
637
und zwar so, dass er von der Heride und grauen Stadt am Meer in die blitzende
Frühlingsbucht auf- und von dieser mit dem Gang des Jahres in die tiefste
Herbstschwermut niedersteigend, über Jubel und Klage der Liebe hinweg
und durch das Familienglück hindurch am Schlüsse zu seinem gewaltigsten
Stoffe, dem Schmerz um Schleswig-Holstein, vorgedrungen ist. Wenn noch
„Sie halten Siegesfest, sie ziehn die Stadt entlang" aufgenommen wäre, so
würde die vaterländische Schwermut Storms, Kellers „Wegelied" und Freys
„Du bist das Land" in einem noch helleren Glanz heben.
Die Auswahl der Gedichte ist bei Eichendorff, Uhland, Lenau, Heine
Hebbel, Leuthold, Mörike, Storm, Meyer, Keller und Lienert vorzüglich. Es
könnte bei Meyer statt des „Kaiserlichen Schreibens" eine Ballade wie
„Die Gaukler", „Haruns Söhne", „Mit zwei Worten", „Der Stromgott", , Kaiser
Sigmunds Ende" oder „Der Rappe des Komturs" stehen. „Das kaiserliche
Schreiben" zeigt den Dichter nicht in seiner vollen Kraft. Auch gegen die
Wahl der „Sterbenden Meduse" habe ich ein, natürlich nicht künstlerisches,
Bedenken. Das Gedicht übt eine quälend dämonische Wirkung aus. Nun
sind ja gerade bei Meyer so viele Stücke zu holen, die mit ihrer Serenität
für den Genuss durch die Jugend wie geschaffen sind. Gewiss gehörte ein
mythologisches Gedicht in das Lesebuch; wären nicht „Der tote Achill",
„Der Musensaal" oder „Nächtliche Fahrt" passend gewesen? Es scheint mir,
der Mi.„2nsaal wäre ein Gegenstück zu Freys „Kindern der Muße" gewesen,
da beide mit so hohem Bildungswert Götter und Genien umspielen. Beide
zeigen weltumfassende Grazie schweizerischen Geistes.
Ich möchte das mit viel Einsicht und Liebe gegebene Bild Gottfried
Kellers nicht antasten und betrachte die folgenden Bemerkungen als durch-
aus unmaßgeblich. Das Gedicht „Melancholie" ist für junge Leser etwas
schwer verständlich. Allerdings soll ja gerade bei Keller die Schönheit und
Inbrunst der Trauer hervorgehoben werden, aber, wo der Raum für sein
Bildnis beschränkt ist, bedürfte es vielleicht seines offiziellen Bekenntnisses
.zur Melancholie nicht; auch seine hoffnungsreichen, getrosten Gedichte
sind zu tief, als dass der Untergrund des Schmerzes verborgen bliebe. Und
dann sollten nur Gedichte, die ihm kein anderer nachmachte, in einer so
kleinen Sammlung stehen: „Jung gewohnt, alt getan" könnte von anderer
Herkunft sein. Hier war es ja eine Konzession ans Jugendbuch, und Lehre
(hohe Lehre!) ist allerdings eine der speziellen Gaben Kellers. In großer
Herrlichkeit finden wir sie in „Ufenau" und ein Wort, wie wir es kellerischer
ethisch für das Ohr nicht wünschen können („Heiter leuchte, Frühstern
guten Strebens, Lass mich treu in deinem Scheine gehn !") steht in „Jugend-
gedenken". Einige Sommerfarben und ein wenig Romantik wäre zu der
Sammlung hinzuzuwünschen. Beispiele: „Sommernacht", „Zur Erntezeit 1",
„Via Mala", „Gegenüber", „Fahrende Schüler", „Gruß der Sonne". Vielleicht irre
ich mich mit der Ansicht, dass der Idealgehalt von „Am Ufer des Stromes",
wiewohl Keller selbst im Gedichte einen Jüngling zum Hörer macht, nur
von Alternden voll erfasst werden kann. Bei Frey galt es hervorzuheben:
•die Bildkraft und Glut, vermehrt durch visionären Zustrom, die Klassik der
Darstellung und Sprache, den Wohllaut, überhaupt die ungewöhnlich starke
Durchdringung der Poesie mit den Schwesterkünsten, die Kunst der Ballade
und des sangbaren Liedes, das Temperament, die große Vielseitigkeit, das
innige Verhältnis zur schweizerischen Heldenzeit und ihre künstlerische
Bewältigung im Sinne des schweizerischen Genius. Alle diese Werte zeigen
«38
sich in der hier getroffenen Auswahl. Doch härte die Wiricung noch etwas
gekräftigt werden können. Eine Gruppe vaterländischer Gedichte leitet ein.
Sie umfasst und zeigt Lobpreisung und erhabenes Gelübde, Zug der Ahnen
durch die Augusthöhenfeuer, die Härte und Treue, die hitzige Kampflust,
das Todesgrauen der Heldenzeit. Die dem Dichter eigene Orgeltönigkeit,
Sprachgewalt, Bildstärke und vollkommene Psychologie der alten Schweizer
tritt hervor. Das Bollwerk seiner vaterländischen Balladenkunst trotzt aus
den lyrischen Gründen des Buches empor. Die Totenfahrt der Helden geht
durch ein starkes Abendrot. Bilder ekstatisch umflammter Not und Treue
bezeichnen überhaupt den Dichter:
Und herrisch stapft der Trommelschlag
In den feuergoldnen Oktobertag!
Diese Verse stehen in dem Gedichte „Die Bestattung des Dreibünden-
generals. 1) Mit großem Rechte wäre der Platz von „Themis" diesem kaum
20 Zeilen längeren Stücke überlassen worden. Eine mannhafte Schar, vom
Kriegselend, dem ihr tapferer Wille trotzt, gezeichnet — markanter kann
die Bedeutung Freys der Jugend überhaupt nicht eingeprägt werden.
In der ersten Gruppe hätte auch statt oder lieber neben „Brandolf
von Stein" „Zinnentanz" stehen sollen. Es ist malerischer und konzen-
trierter und, da der Untergang nicht nur mannhaft, sondern mit dem alt-
schweizerischen wilden Humor erlitten wird, ein Wegweiser zum heroischen
Gehalt der Freyschen Dichtung. Der von den Helden überwundene Schmerz
ergreift uns um so tiefer, als wir ihre Lebensgüter ihnen noch einmal nahen
und entschwinden sehen.
Die Totentänze sind gut gewählt. Nur lässt sich darüber nachdenken, ob
nicht einer von ihnen noch einer — dann außerschweizerischen — Ballade
hätte weichen sollen. Das „Flämmchen" z. B. der „Hut des Richters!" „Der
Feldherr" führt ja freilich auch in die Welt der fremden großen Historie, nach
der eben die Jugend doch auch immer begehrlich ausblickt. Der Raum von
„Themis" wäre auch der „Engelmesse" zu gönnen gewesen, und stärker
und.charakteristischerals „Abschied" hätten „Am Rüsthaus" oder „Gewitter-
ende im Gebirg" gewirkt. Die Lieder folgen sich fein ausgewählt mit schöner
Steigerung der seelischen und musikalischen Werte. Die Unterbrechung
durch das volksliederartige „Wildrosen", dessen Kolorit und Gehalt so jung
blühen, ist reizvoll und wohlangebracht.
Bei Spitteler ist die Auswahl nicht ganz glücklich und nicht ergiebig
genug. Der Glanz seiner Kolorite, die wunderbare Durchsichtigkeit seiner
Symbolik, sein epischer Idealklang kommen zur Geltung («Die Blütenfee"),
desgleichen seine Plastik („Die Glockenjungfern"), sein Künstlerleidens-
pathos („Berufung"), seine Inbrunst und Innigkeit („Der Traum vom lieben
Gott"). Was nicht oder nicht ganz hervortritt, ist sein Pessimismus, seine
extramundane Richtung, sein anklagender Zorn. Die überoriginellen unter
den Glockenliedern, „Die Nachzügler", „Die Vogelscheuche im Himmel",
„Die Betzeitglocke" und auch „Ein Bildchen" aus den „Schmetterlingen"
beanspruchen zu viel Raum; zudem verlangen sie, einer spielenden Laune
entsprossen, als Hintergrund das volle Lebenswerk Spittelers; dem Neuling
können sie das Bild des Dichters leicht verzerren. Unter den Balladen da-
gegen sind manche geeignet, zum Dichter des Olympischen Frühlings zu
J) Zuerst in dieser Zeitschrift erschienen. B. 7, S. 659 (15. Febr. 1911).
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führen. In unser Buch hätte „Die lote Erd«" gepasst. Die eifrige Jugend ist
bereit, dem Paradoxen an ihrem Schlüsse zuzustimmen, mit ihrem Über-
schuss an Glück verträgt sie es auch.
Mit etlicher Zusammenrückung bei Liliencron und der Droste wäre
Raum für eine größere Zahl Spittelerscher Balladen gewonnen worden.
„Kommissionsfriede", die Städtebildchen im Buche apart vervollständigend,
„Die Mittagsfrau", „Das Kostmaidlein", „Aurora", „Der besiegte Herzog^',
„Hausspruch" lagen bereit. Und warum fehlen „Der Wanderer" und „Die
Schneekönigin"? Das nordische Märchenlicht ist doch der Jugend teuer.
Zugegeben, dass „Berufung", Spittelers Hauptthema, die Leidenswilligkeit
und Treue des Künstlers, mit zusammengeraffter Kraft behandelt. Manche
unter den „Literarischen Gleichnissen" hätten es nur etwas leichter ver-
ständlich getan.
Es spricht für Liliencron, dass er als letzter in einer so illustren Dichter-
reihe noch einmal neu und ganz eigenartig entzückt. In der Tat sind sein
Schwung, seine Tiefe und seine Süßigkeit groß genug, dass man ihm, der
Leichtsinn mit Tiefsinn mische, dilettantische Trübungen oft seiner lauter-
sten Poesie übersehen kann. Seinem so jungen Ungestüm folgt doch die
Jugend rückhaltlos. Die Auswahl unter seinen Gedichten ist sehr schön,
dichterisch mitfühlend getroffen. „Pidder Lüng" und „Der Blitzzug" dürften
das erste als zu brutal und das zweite als zu wenig stark poetisch, und in
Ansehung des kostbaren Platzes weggeblieben sein. Zum Gesamtbild des
Dichters gehören sie allerdings.
Auch die Auswahl bei Anette von Droste ist gut und dankenswert.
Im dichterischen Sinne ist sie vielleicht um zwei bis drei Stücke zu reich,
während in menschlich-ethischer Beziehung der Kundgebungen einer Droste
freilich nie zu viel sind. Wir sehen sie nur nicht gerne mit stilistischen Un-
gewandtheiten oder auf Rechnung ihrer Zeit zu setzenden Empfindsamkeiten
vor das scharfe Urteil der heutigen Jugend gebracht. Die Anwesenheit der
übrigen Gedichte kann nicht herzlich genug begrüßt und gebilligt werden.
Welch' ein Rhythmus in den Äußerungen dieser Frauenseele! Welch' ein
Reichtum! Und was für Einsamkeiten, was für Ereignislosigkeiten und Ge-
bundenheiten konnte dieser Reichtum abgewonnen werden! Das mag die
heutige Jugend, deren Geschicke und Lebensmöglichkeiten so gegenteilig
sind, nachdenklich machen. Es war doch auch das Stilleben und war die
Beschränkung, in denen entstehen und geschehen konnten: diese Versunken-
heit und Hingabe, diese Herausarbeitung des Gefühls, diese Inbrunst der
Abschieds- und Trennungsschmerzen, diese Treue an den Toten, diese Be-
horchung der eigenen Seele wie der Naturseele, dieses Phantasiespiel,
diese Leidenschaft der Heimatliebe.
Gewissensernst, Reinheit und Feuer der Impulse, großherziger Mit-
teilungsdrang, Adel des Bekenntnisses, eine Bändigung der zauberisch ver-
schlungen sich überstürzenden Gedanken durch eine Sprachkraft, die in
Anbetracht der Entstehungszeit dieser Poesie nicht genug bewundert werden
kann, sind wohl dazu angetan, die Jugend ethisch und ästhetisch zu schulen.
ZÜRICH ANNA FIERZ
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
640
DIE EINIGUNGSVORSCHLÄGE
ZUM FABRIKGESETZENTWURF
Die sogenannte Einigungskonferenz hat also Beschlüsse ge-
fasst. Bevor wir uns aber dazu äußern, gestatte man uns ein
Wort zum Vorgehen. Wir möchten zum voraus Verwahrung
dagegen einlegen, dass später der Bundesrat in der Bundesver-
sammlung einfach Ratifikation dieser Einigungsbeschlüsse verlange.
Die öffentliche Meinung und die Bundesversammlung müssen
nach wie vor uneingeschränkt ihre Vorschläge machen können,
stehen sie nun auf dem Boden der Einigungskonferenz oder nicht.
Unseres Erachtens war der Gedanke der Einigungskonferenz
weder gut noch notwendig. Durch ihre bloße Ernennung hat
der Bundesrat den Mitgliedern dieser Kommission den still-
schweigenden Auftrag gegeben, sich in der Mitte zu finden. Das
ist aber gerade ein Eingehen auf jene Taktik, die die Arbeiter-
führer so oft bei Streiken mit Erfolg angewendet haben und wo-
gegen man sich auch schon verwahren musste: recht viel verlangen,
man kann dann etwas markten und sich in der Mitte finden lassen.
So gibt sich der unverschämtest Fordernde noch den Schein der
Billigkeit. Das Recht liegt aber nicht immer in der Mitte zwischen
Gut und Böse. In der Mitte liegt meist die Halbheit. Wirklich,
fast möchten wir glauben, der Vorschlag der Konferenz sei dem
Bundesrat in sehr schlauer Art zugeraunt worden. Wir müssen
wenigstens hoffen, dass er sich der Tragweite nicht voll bewusst
gewesen sei.
Und nun zu den einzelnen Fragen: Der Vorschlag bezüglich
des Decompte und schließlich auch der Kündigungsbedingungen
641
mag angehen. Wir wollen nur zwei Sachen näher besprechen,
nämlich die Vorschläge über das Bußenwesen und die Arbeitszeit.
Die Vertreter des Gewerkschaftsbundes haben also in der
Bußenfrage grundsätzlich nachgegeben, sie lassen jetzt Bußen
wieder zu. Sie verlangen also für sich wohl das Kompliment
der Billigkeit. Sie haben sich dagegen zugestehen lassen: Bußen
sind nur zulässig zur Aufrechterhaltung der Fabrikordnung. Wie
großmütig! Als ob Bußen je einen andern Zweck gehabt hätten.
Dann kommen aber gleich eine Menge Vorbehalte. Die Buße
sei nur zulässig, wenn sie in der Fabrikordnung speziell vorge-
sehen sei. Wenn also ein Arbeiter einmal eine besondere Un-
tugend betätigt, die der Fabrikleitung noch kaum begegnet ist,
dann soll keine Buße möglich sein. Und es wird ein ewiges
Rechten sein, ob ein Vergehen unter einen Punkt der Fabrikord-
nung falle oder nicht. Dass die Buße bei der Ausfällung gleich
mitgeteilt werde, ist ja richtig. Offenbar zu weit gehen aber heißt
es, wenn verlangt wird, dass Bußen über 25 Rappen vom Fabrik-
inhaber oder dessen Stellvertreter unterschriftlich und mit Begrün-
dung mitgeteilt werden müssen. Das könnte zu einer ganz un-
möglichen Schreiberei führen. Das ist Pedanterie oder Bureaukratie
bester Art. Wer weiß, wie es in einem intensiven Fabrikbetrieb
rasch vorangehen muss, wird nicht der ohnehin angestrengten
Betriebsleitung noch solches Schreibwerk aufnötigen, Fabrikinhaber
und Betriebsleiter haben wahrlich anderes zu tun, als 30-räppige
Bußen unterschriftlich zu bestätigen, Bußen, die doch ohnehin
nur im Interesse der Gesamtarbeiterschaft verhängt und wieder
verwendet werden. In Wirklichkeit würde man einfach jede Buße
über 25 Rappen verunmöglichen, also das Disziplinarmittel gegen-
über leichtsinnigen und flegelhaften Leuten ganz aus der Hand
geben. Und noch eins: Jener Schreibebrief, welcher dem Ar-
beiter eine kleine Buße von vielleicht 30 oder 40 Rappen schrift-
lich mitteilen und begründen soll, dürfte sehr oft nur als Anlass
zu allerlei Verunglimpfung und Heruntermachung des Fabrik-
inhabers dienen. Man soll nicht jeden Augenblick wegen Kleinig-
keiten mit der eigenhändigen Unterschrift des Fabrikinhabers
aufrücken.
642
Zur Frage der Arbeitszeit möchten wir uns auch noch äußern ;
man ist hierüber besonders in den Kreisen der Textilindustrie
und vorab der st. gallischen Stickereiindustrie beunruhigt und
geradezu unzufrieden. Die Einigungskonferenz „beschloss" den
Zehnstundentag. Die Verhältnisse liegen nun so, dass man in
den genannten Industrien vorzugsweise mit Maschinen arbeitet,
die vom Arbeiter meist keine körperliche Anstrengung fordern.
Nur Überwachung und gelegentlich Behebung einer kleinen Stö-
rung, zum Beispiel Wiedereinführung eines gerissenen Fadens. Wir
sprechen besonders von den neuen Automaten-Stickmaschinen.
Diese sehr teuren Maschinen leisten also eine Arbeit, die genau
proportional ist mit der Arbeitszeit: sie müssen ausgenützt werden
können, und eine halbe Stunde mehr im Tage ist da von sehr
großer Bedeutung. IOV2 Stunden sind das mindeste, was die
Stickerei noch behalten muss. Denn eine halbe Stunde mehr
bringt genau 5% Mehrleistung, vielleicht gerade das, was noch
nötig ist, damit ein Betriebsgewinn bleibt.
Und ist überhaupt eine Herabsetzung der Arbeitszeit so nötig?
Nein. Seit dem Bestehen des derzeitigen Fabrikgesetzes hatten
die Industriellen doch nicht die Tendenz, möglichst an der obern
zulässigen Grenze zu bleiben, so dass die Volksgesundheit jetzt
etwa schlechter daran wäre als vor 30 oder 40 Jahren, in den
körperlich anstrengenden Betrieben der schweren Industrie ist die
Zeit freiwillig reduziert worden. Aber in den säubern Industrien,
wie zum Beispiel der Stickerei, dort, wo man in hohen, geräumi-
gen Lokalen, vier Meter hoch und mehr, arbeitet; wo Zentral-
heizung und Ventilation fast die Regel sind; wo die Arbeiterzahl
im Verhältnis zum Raum gering ist, ein Arbeiter auf 30 bis 40
Kubikmeter Luft; wo schon im Interesse guter Arbeit hohe Fenster
mit viel Lichteinlass bestehen; wo also die günstigsten Bedingungen
für Leben und Gesundheit herrschen: da sollte man auch einen
andern Maßstab anlegen. Lasse man der Sache den Lauf wie
bisher; die Arbeiter sind dabei bis jetzt nicht schlecht gefahren.
Dass sich kein schlesisches Weberelend wiederhole, dafür sorgen
die Verhältnisse, der gesunde Menschenverstand und, wenn man
will, auch die politische Reife unseres Volkes.
Die fortschreitende Beschneidung der Arbeitszeit erleichtert
sodann der schweizerischen Textilindustrie die Stellung auf dem
643
Weltmarkt keineswegs. Im Gegenteil. Auch das Ausland besitzt:
Maschinen wie wir, in Voralberg, in Sachsen, in Böhmen, in
Frankreich, in Italien, in Amerika. Und wenn es seine Maschinen
mehr laufen lassen kann als wir, wird es billiger liefern und wir
werden noch mehr an die Wand gedrückt werden. Man vergesse
nicht und sei auch nicht zu stolz zu überlegen: unsere schwei-
zerische Industrie war vielleicht bis vor zwanzig oder zehn Jahren
als Qualitätsindustrie im ersten Range. Seither ist sie zwar nicht
zurückgegangen, aber die mit uns konkurrienden Länder haben
auch große Fortschritte gemacht, so dass der Abstand relativ
kleiner geworden ist. Schon auf ansehnlicher Höhe stehend^
war es für die Schweiz schwer, den gleichen Abstand voran ein-
zuhalten. Also Vorsicht im Dekretieren von sozialen Schutzge-
setzen! Es könnte sonst sein, dass wir vor lauter Volksgesund-
heit einmal kaum mehr zu essen hätten.
Der vorliegende Entwurf zum Fabrikgesetz hat jetzt schon-
geschadet. In der Ostschweiz gibt es jetzt schon Leute mit
mittlerem Vermögen, 40000 bis 50000 Franken, die ihr Geld
lieber nicht mehr in schweizerische Industrien legen, wo man
doch an kein Ende sehe in den nächsten Jahren, sondern in aus-
ländische Unternehmen; die Gelegenheit ist ja so leicht zu finden.
So treibt man die Leute dazu, unserer Volkswirtschaft direkt in
den Rücken zu schießen. Geld, das dank der Tatkraft schwei-
zerischer Unternehmer verdient werden konnte, wird jetzt in aus-
ländische Konkurrenzunternehmen gesteckt. Deutsche, Engländer
und Franzosen fühlen hierin viel nationaler als wir, die wir uns
auf unsere Unvoreingenommenheit immer noch viel zu gute tun.
Doch ich schweife ab. Ich will nur betonen, dass zu solch
fundamentaler Revision des Fabrikgesetzes doch kein dringender
Anlass vorliegt. In sozialer Gesetzgebung soll der Staat eingreifen,
wo Mißstände vorliegen. Er soll uns schützen, aber nicht dem
Leben voraneilen wollen; denn dieses macht sich oft ganz anders,
als man jetzt denkt. Darum soll er schon gar keine Bestim-
mungen aufstellen, die erst in zehn Jahren in Kraft treten sollen. .
FREIBURG C. F. KEEL
D D D
644
WÜNSCHE UND RICHTLINIEN FÜR
DAS SCHWEIZ. BIBLIOTHEKWESEN
Mit Reformgedanken für den gegenwärtigen schweizerischen
Bibliothei<betrieb vor die große Öffentlichkeit zu treten mag
mancherorts als eine Langweilerei des Publikums, mancherorts
vielleicht auch als ein überflüssiges „aus der Schule schwatzen"
angesehen werden. Jedenfalls ist diese Studie nicht geeignet, die
■Captatio benevolentiae des Lesers von vornherein sich zu sichern.
Und doch! Was wir mit unseren Darlegungen erreichen möchten,
ist eben ein vermehrtes Interesse der weiteren Kreise; wir
wünschten für unsere wissenschaftlichen Hilfsinstitute wie für
unsere Volksbibliotheken dieselbe Beachtung, die unsere Hoch-
schulen und Museen vor einem größeren Forum gefunden haben.
Heute mehr denn je wird die wissenschaftliche wie die Bildungs-
bibliothek zum wichtigen Kulturfaktor einer Stadt und einer ganzen
Gegend; ihr Stand wird mit Recht als ein Gradmesser des geisti-
gen Lebens ihrer Umgebung betrachtet.
Unsere städtischen und kantonalen Bibliotheken, vor allem
die wissenschaftlichen, vermögen den an sie gestellten Anforde-
rungen vielfach nicht mehr zu genügen; ihre Organisation ent-
stammt oft einer Zeit, die weit rückwärts liegt; ihre Räume ge-
währen bei dem Andränge der Bücher nicht mehr die gewünschte
Aufnahme; oft auch entbehrte eine neuzeitliche Reorganisation
weitblickender Direktiven; man begnügte sich mit der augenblick-
lichen Abhilfe eines schreienden Übelstandes. Kleinheit und Zer-
splitterung wiegen vor. Das dem Schweizer eigene Bedürfnis, in
kleinen Verhältnissen die großen nachahnen zu wollen, hat gerade
bei den Gründungen und Erweiterungen unserer Universitäten und
damit auch bei denjenigen unseren Universitätsbibliotheken arg
mitgespielt. Wo in aller Welt finden sich auf einem so kleinen
Fleck Erde so viele Hochschulen und wissenschaftliche Institute?
Es gereicht das unserem Lande gewiss zur Ehre — aber die
Konsequenzen kosten uns schwere Opfer. Ja wir können bereits
mit Bestimmtheit eine Zeit voraussehen, in der das eine oder
andere Institut der wissenschaftlichen Konkurrenz infolge Geld-
mangels unterliegen wird; die Anforderungen steigern sich von
645
Tag zu Tag, während die Mittel relativ geringer eingeschätzt werden
müssen, immer mehr wird es daher auch hier gelten, auf eine
zweckmäßige Zentralisation und Reorganisation hinzuarbeiten,
wenn unsere Bildungsanstalten wirklich noch nutzbringend wirken
sollen. Die Zeit der Selbstgenügsamkeit ist vorüber; hier wie im
wirtschaftlichen Leben gilt es, durch Arbeitsteilung und Ver-
schmelzung unserer bibliothekarischen Mittel und Kräfte uns zu
zweckmäßigerer Verwertung der Büchereien zu konzentrieren.
Unsere Studie zerfällt in drei Teile. Der erste behandelt Behör-
den und ihre Stellung im Gemeinwesen. Wir sehen heute von einer
Besprechung dieser Fragen ab, sie haben bereits eine einlässliche
Erörterung im „Bund" vom 26. Mai 1913 erhalten. Die dort auf-
gestellte These geht dahin, dass es erwünscht sei, staatliche Biblio-
thekzentralen zu besitzen, also Bibliotheken, die die kleinen und
größeren Vereinsbibliotheken in ihre Verwaltung aufnehmen: diese
sollten vom Staate und nicht von Korporationen verwaltet werden.
Ihre Kommissionen sollten klein und fachmännisch sein, nicht
wie vielfach heute mit bloßen Bücherkommissionen verwechselt
werden. In der fachmännischen Vertretung sind die hauptsäch-
lichsten Interessentenkreise und weniger die politischen Behörden
zu berücksichtigen.
An zweiter Stelle stehen Personal- und Organisationsfragen,
an dritter Vorschläge für die Benutzung und Sammeltätigkeit.
Zuletzt endlich kommt der Verkehr zwischen den Bibliotheken
und dem Verein Schweizerischer Bibliothekare zur Sprache.
Der Bibliothekarenstand darf bei uns füglich noch ein
werdender Stand genannt werden. Wir müssen also vielleicht
mehr als anderwärts den Berufsangehörigen Gelegenheit geben,
gemeinsame Interessen zu erörtern, Programmarbeit aufzustellen,
um diese schließlich auch allgemein zur Anerkennung zu bringen.
Es ist für unsere Bibliotheken von größter Wichtigkeit, dass der
bibliothekarische Nachwuchs derart ausgebildet wird, dass man
in Zukunft die Vorsteher unserer Anstalten nicht mehr dem Ge-
lehrtenstande oder gar den Liebhaberkreisen einer Stadt oder
eines Kantons zu entnehmen braucht, sondern dass die Biblio-
thekleiter aus dem wissenschaftlichen Bibliothekarenstande der
ganzen Schweiz für eine Neubesetzung in Betracht fallen. Für
den wissenschaftlichen Bibliothekbeamten soll abgeschlossene
646
Hochschulbildung unerlässlich werden. Wir hoffen damit auch an den
größeren Stadt- und Kantonsbibliotheken geschulte wissenschaft-
liche Kräfte zu erhalten. Diese bloßen Wünsche von heute lassen
sich immer mehr der Verwirklichung näher bringen, wenn die
heute noch ziemlich lose Vereinigung der schweizerischen Biblio-
thekare einen festeren Charakter annimmt, wenn einmal dessen
Vorstand ein gewisses Beratungsrecht in Besetzungsfragen aus-
zuüben vermag.
Für die innere Organisation besitzt die vielumstrittene Frage
der Arbeitszeit stets eine grundlegende Bedeutung.
Eine achtstündige Arbeitszeit für intensive Bibliothekarbeit
wird sich niemals empfehlen; sie wird in Wirklichkeit auch nicht ein-
gehalten, das heißt, die der Bibliothek gewidmete Arbeit beschränkt
sich auf eine niedrigere Stundenzahl, währtnd der Rest mit Privat-
arbeit ausgefüllt wird. Hier wie in vielen staatlichen Beamtungen
gibt sich die Kommission mit acht Sesselstunden zufrieden. Sie
erzieht, ich möchte sagen, fast gewaltsam einen sogenannten
„gemütlichen Betrieb". Sie bedenkt nicht, dass sie bei kürzerer Zeit
ein volleres Programm erzielen könnte, vorausgesetzt dass tüch-
tige Kräfte ihr zur Verfügung stehen, dass ein Mann, der aus-
schließlich für seinen Beruf lebt, oft eben auch zu einer Zeit
arbeitet, da die Komission schon längstens Bibliotheksfragen
vergessen hat. Ja das Reglement sieht nur selten einen Unter-
schied zwischen der Anstellungszeit des Dieners und des Biblio-
thekars vor. Eine neue zeitliche Einteilung für wissenschaftliche
Arbeit an der Bibliothek — und dazu gehört heute Alles was
den geistigen Betrieb eines solchen Institutes ausmacht — , kann
kaum auf Schwierigkeiten stoßen. Die Arbeit als solche wird
nur gewinnen und die Besucher können deswegen den Lesesaal
nach wie vor von 9—12 und 2 — 7 Uhr benützen. Das mit der
Aufsicht im Lesesaal betraute Personal erhält spezielle Dienst-
stunden. Wenn wir für den wissenschaftlichen Beamten eine sechs-
stündige Arbeitszeit einführen wollen, müssten wir aber auch vom
Bibliothekar verlangen, dass er sich auch außerdienstlich mit
Bibliotheksfragen beschäftige und sich weiterbilde, ähnlich wie der
Lehrer von Amtes wegen dazu angehalten ist. Wir sollen von
unsern Doktoren verlangen dürfen, dass sie dann und wann bi-
bliothekarische Preisaufgaben lösen, ab und zu in wissenschaft-
647
liehen und populären Blättern die Öffentlichkeit für die Biblio-
thek interessieren.
Was die Anstellungsdauer betrifft möchten wir auch in
schweizerischen Landen eine Altersgrenze eingeführt sehen. Der
Vorteil langjähriger Angestellter ist zweifelsohne für die Biblio-
thek von großer Tragweite; gute Orientierung und Routine kann
nur durch die Jahre erlangt werden; doch wird auch für den
tüchtigsten Arbeiter eine Zeit kommen, da seine Kräfte nachlassen
und seine Dienste für die Anstalt nur von mehr zweifelhafter Güte
sein werden. Solange nun die Kantone keine staatliche Pensions-
fonde besitzen, wird selbstverständlich die Versuchung nahe liegen,
einen im Amte ergrauten Beamten möglichst lange darin zu be-
lassen. Da die Gehalte ohnedies sehr dürftig sind, wird es
wohl den wenigsten Beamten möglich gewesen sein, für die alten
Tage zurückzulegen; der alte Angestellte sieht sich also gezwungen,
entweder auf sein Einkommen zu verzichten oder, was die Regel
ist, bis an sein seliges Ende auf dem Posten zu verharren. Für
bejahrte Staatsangestellte wird man sich schließlich auch bei uns
entschließen müssen, Pensionen einzuführen, Sie allein gestatten
einen gesunden und arbeitsfreudigen Nachschub. Versicherungen,
Studienprämien, Zulagen aller Art kennen nur die wenigsten An-
stalten, und doch gehören auch diese wohltätigen Institutionen zu
den Forderungen der Zeit.
Nebenbei sei noch ein Vorschlag beigefügt, der sich unter
den gegenwärtigen Verhältnissen da und dort ebenfalls bewähren
dürfte. Es kommt oft vor, dass durch das Anwachsen der
Bücherei Personen, die ihrer früheren Aufgabe völlig genügten,
den neuen Verhältnissen nicht mehr gewachsen sind. Statt diese
ungenügend qualifizierten Beamten in der einmal bekleideten
Stellung zu belassen würde man doch viel zweckmäßiger handeln,
wenn man solche Leute an einen Posten stellt, der bei der gleichen
Dotierung ihre Arbeit nützlicher zu verwenden gestattete. Der Fall
tritt häufig beim Personal von Lesesälen ein, in denen nach
früherer Ansicht bloßes Hilfspersonal verwendet wurde, das nach
heutiger Auffassung aber unbedingt durch Bibliothekare oder
Assistenten ersetzt werden muss. Der Dienst im Lesesaal darf
überhaupt nicht mehr einer Person Überbunden werden, sondern
er soll abwechslungsweise organisiert sein, so dass in größeren
648
Instituten jeder wissenschaftliche Bibiiothei<ar Gelegenheit findet,
während einiger Zeit einerseits die Bedürfnisse des Publikums
kennen zu lernen, anderseits die gewünschte wissenschaftliche
Auskunft zu erteilen. Die Auskunftei darf nicht das Privileg des
Bibliothekleitenden sein; er soll erst dann in Funktion treten,
wann seine Mitarbeiter versagen. Der Grundsatz, dass der Obere
nur solche Arbeit verrichten darf, die nicht auch ein Unterer zu
bewältigen vermag, hat auch hier seine Gültigkeit.
Die Bibliothekare der wenigsten Kantons- und Stadtbiblio-
theken beziehen einem Gehalt von 4—5000 Franken. Hier ent-
sprechen die Gehalte denjenigen der in leitender Stellung sich be-
findenden Staatsbeamten. Ähnlich verhält es sich um die Ent-
löhnung der übrigen Angestellten dieser Institute. Merkwürdige
Anschauungen über die Verwaltung von öffentlichen Instituten
liefern einige Stadt- und Kantonsbibliotheken, in denen bei einer
Anstellung von drei bis vier Personen der leitende Bibliothekar
einen Gehalt von 600—1000 Franken bezieht. Derselbe muss
also noch im Schulfache oder anderswo tätig sein, um ein
Existenzminimum erreichen zu können. Sein Hilfspersonal ist
bisweilen sogar verhältnismäßig besser besoldet. Wir haben hier
speziell die Bibliotheken von St.-Gallen, Schaffhausen, Sitten,
Solothurn, Chur ins Auge gefasst. Wäre es da nicht an der Zeit,
in solchen Städten eine verantwortliche Bibliothekarstelle mit
einem Diener zu schaffen und diesem ständigen Amte auch die
Verwaltung der verschiedenen, oft nicht geringen Vereinsbiblio-
theken anzuvertrauen? Die zahlreichen Sportelerträge, die aus
diesen Verwaltungen flössen, würden sicherlich einen ordentlichen
Beitrag an das wenigstens auf 3— 4000 Franken angesetzte Honorar
ausmachen. Das ganze Bücherwesen des Kantons läge in den
Händen einer verantwortlichen Beamtung, statt wie gegenwärtig
zersplittert und verhältnismäßig unfruchtbar einem sehr geringen
Interessentenkreise ungenügende Dienste zu leisten.
Unser Postulat von sechsunddreißig Wochenstunden für das
wissenschaftliche Personal, von siebenundvierzig für das Bureau-
personal dürfte heute allgemeinen Wünschen entsprechen, die
übrigens an manchen Bibliotheken auch anerkannt worden sind.
Die Ansätze für wissenschaftliche Kräfte, die mit den übrigen
Entlöhnungen der kantonalen wissenschaftlichen Angestellten im
649
Einklang stehen, sollten sich für Bibliothekaren im Rahmen von
4—6000 Franken, für Assistenten von 2—4000 Franken bewegen,
während die Leiter der Hochschulbibliotheken jedenfalls einen Gehalt
von 6—8000 beanspruchen dürften. Für das technische Bureau-
personal glauben wir mit Ansätzen von 2 — 4000 Franken einstehen
zu müssen, für Hilfskräfte mit einem solchen von 1500—3000
Franken. Diese Zahlen und Ansätze richten sich natürlich nach
der zu erfüllenden Arbeit und nach den Ortsverhältnissen; sie
lassen eine proportionale Steigerung zu, die sich den Zuwachs-
verordnungen der einzelnen Kantone anzupassen hätten. Unsere
Gehaltsansätze sind den Normen der eidgenössischen Beamten
an der Landesbibliothek entnommen; sie stellen sich immer noch
weniger günstig als die der Berufsgenossen in den Nachbarländern.
Ein gleichzeitig bei sämtlichen Behörden von sämtlichen bedeu-
tenderen schweizerischen Bibliotheken eingereichtes Gesuch um
Regelung dieser Frage, dem auch einheitliche, im Sinne unserer
Vorschläge durchgeführte Organisationsentwürfe beigelegt würden,
dürfte von Erfolg begleitet sein. Das Postulat wird dringend,
wenn wir nicht unsere Bibliotheken in Zukunft minderwertigen
Berufsgenossen ausliefern wollen, Männern, die im praktischen
Leben nicht für tauglich befunden wurden oder die Vermögen
genug besitzen, um für billiges Geld in sicherer Stelle unterge-
bracht zu werden.
Auch Rang- und Titelfragen können für unsere Verhältnisse
von Bedeutung sein. Die Verwaltung unserer größeren schweize-
rischen Institute umfasst eine ansehnliche Zahl von wissenschaft-
lichen Beamten, technischen Hilfskräften, Schreibern und Die-
nern, die alle unter einem gemeinsamen Oberhaupte stehen,
das sich bald Direktor, bald Oberbibliothekar, bald erster Biblio-
thekar, bald Stadtbibliothekar nennt. Schon die bunte Abwechs-
lung dieser Titel lässt auf die Buntheit der Organisation schließen.
Eine Ausnahme für den Vorsteher der Landesbibliothek, die eine
Organisation für sich bedeutet, halten wir für berechtigt. Im
übrigen brächte die Regelung der Titulaturen gegenüber dem Aus-
lande eine orientierende Gleichstellung; denn heute noch kann
der Vorsteher einer der wichtigsten Bibliotheken des Landes, der
den Titel erster Bibliothekar führt, de nomine mit dem zweiten
technischen Beamten einer andern Hochschulbibliothek, der eben-
650
falls diesen Titel führt, verwechselt werden. Wir sind weit ent- '^'^^■-
fernt, spanische Hofetikette einführen zu wollen; aber bessere gra-
duelle Einteilung erscheint uns auch im Interesse der Gleich-
stellung einzelner Beamtengruppen zu sein.
Warum könnten also nicht sämtliche Vorstände von Hoch-
schulbibiiotheken Oberbibliothekar (directeurs) genannt werden,
diejenigen der kleineren Institute Stadt- oder Kantonsbibliothekare?
Ihnen im Range gleich ständen der erste und zweite Bibliothe-
kar einer Hochschulbibliothek, während der dritte und vierte wie
auch die besoldeten Assistenten und die unbesoldeten Volontäre
eine weitere Klasse für sich bilden würden. Weitere Gruppen
bilden die technischen Hilfskräfte, die Schreiber und Diener.
Der leitende Bibliothekar gehört ausschließlich der Biblio-
thek an. Er darf nicht, wie es bisher oft der Fall war, zum Scha-
den des Institutes eine Reihe von Nebenämtern besitzen oder gar
Universitätslehrer sein. Man wähle den tüchtigsten aus den Be-
rufsgenossen des Institutes; findet sich darunter keine führende
Kraft, dann dürfte wohl andernorts in der Schweiz ein gut quali-
fizierter Bibliothekar in Betracht fallen.
Damit wollen wir freilich nicht die Behauptung aufstellen,
dass der Bibliothekleiter der Zukunft ein auschließlicher Stati-
stiker und Organisator sein soll, im Gegenteil. Es soll ebenso das
Bestreben eines jeden Bibliothekars sein, über ein möglichst ency-
klopädisches Wissen zu verfügen; Einseitigkeit möchten wir von
vornherein ausgeschaltet wissen, sie findet sich leider noch ziem-
lich oft in unseren kleinlichen Verhältnissen. In den meisten
Fällen hängt dieser Zustand damit zusammen, dass manche unserer
Bibliothekvorstände ausgesprochen wissenschaftliche Spezialisten
sind, die ihr Interesse eben nur zu gerne ihrer Spezialität schenken.
Und doch gibt es kaum einen Beruf, in dem man bei richtigem
Verständnis und bei guter Organisation ein so abwechslungs-
reiches Pensum erledigen kann. Prinzipielle Ordnungsfragen sind
in manchen unserer Anstalten noch unentschieden; die wissen-
schaftliche Ausbeute, die ebenfalls zum Teil in den Bereich des
wissenschaftlichen Bibliothekars fällt, fehlt bei uns vollständig; die
künstlerische Seite des Buches wird kaum gewürdigt, — ich kenne
Bibliothekare, die nicht einmal mit den graphischen Verfahren
vertraut sind — ; viele Kataloge sind veraltet, viele Sammlungen
651
nur fragmentarisch ; kurz, wir könnten noch eine lange Reihe von
wünschenswerten Aufgaben anführen, die wenigstens für drei Bib-
h'othekgenerationen eine interessante, nützliche und abwechslungs-
reiche Arbeit böten. Statt dessen wird bei uns das Bibliothekariat
vielfach für gewöhnliche Kassaverwaltung, tägliche Korrespondenz
und banale Auskunftei benutzt; die beste und meiste Zeit muss
Nebensächlichkeiten gewidmet sein. Besitzt der leitende Bibliothekar
von Haus aus nicht die nötigen bibliothekarischen Eigenschaften,
so geht sein Verständnis für die übrigen wichtigeren Bibliothek-
arbeiten bald verloren; er geht in den von der Kommission als
hinreichend befundenen, mehr administrativen Obliegenheiten
vollständig auf.
Ausleihe- und Benutzungsverhältnisse lassen sich bei uns
nur durch lokale Vorschriften regeln. Sie hängen vor allem von
der Besuchszahl, den Bibliothekräumen, bereits bestehenden Ein-
richtungen usw. ab. Ein Fehler, der noch recht häufig hier zum
Ausdruck kommt, liegt in der zu wenig präzisen Arbeitsteilung
der Beamten. Dienstpersonal wie Bibliothekbenutzer kennen wohl
die allgemeinen Bestimmungen und Reglemente; über Kompeten-
zen, über zeitliche Einteilung ihrer Arbeit herrscht vielfach Un-
klarheit. Eine Art von Diarien, die das Arbeitsprogramm des
Jahres und die regelmäßig wiederkehrenden Aufgaben des ge-
samten Personals enthalten, würden auch für unsere Institute von
großem Nutzen sein.
Die unglückliche, von der Verwaltung herübergenommene
Idee der Stundenabsitzung fördert einen lethargischen Betrieb. Ich
habe mich an in- und ausländischen Instituten überzeugen können,
wie sehr der freie Intellektualismus besser arbeitet als das üb-
liche Bureaubrüten, bei dem der wissenschaftliche Angestelite
wie der Kopist, einer Uhr gleich, täglich fast mechanisch im Ver-
laufe einer bestimmten Stundenzahl einige hundert Zettel abschreibt
oder einreiht. Kein Mensch bekümmert sich um ihn, er hat seine
Arbeit und diese dauert auf Wunsch ein ganzes Leben!
Dann aber sollen wir auch dahin trachten, dass nicht Kon-
trollen und mechanische Arbeiten allein die Tagesaufgabe eines
Bibliothekars ausmachen; gemeinschaftliche Nachforschungen und
wissenschaftliche Studien fördern das Interesse und erhöhen den
Ruf der Anstalt. Die Einrichtung kleiner Ausstellungen macht ihr
652
neue Freunde, eine rege Sammeltätigkeit vermag ihre wert-
volle Bestände zu sichern. Kurz, es braucht nur der verständigen
Anregung, um in die toten Bücherhallen rastlos pulsierendes Leben
zu bringen. Die individuelle und praktische Arbeitsverteilung be-
dingt freilich eine tüchtige Leitung, die ihr Personal kennt und
Wissen genug besitzt, um selbständig disponieren zu können.
Hier zeigt es sich, ob der Leitende auf der Höhe seiner Aufgabe
steht und nicht im gewissenhaften Buchführen und in einer stets-
gefälligen Korrespondenz untergeht. Hieher gehört auch die oft be-
obachtete Doppelspurigkeit in der Bibliothekorganisation ein und
der selben Stadt, ja, ein und des selben Besitzers. Wir haben
zum Beispiel im Bundeshaus eine Reihe kleinerer Bibliotheken,
die sämtlich auf eigene Rechnung und Verantwortung Ihre Bücher
kaufen. Mit Recht fragt man sich, ob es nicht angezeigt wäre, diese
Ankäufe gemeinsam durch einen Fachmann an Hand von Wunsch-
listen der Departemente besorgen zu lassen. Die Eidgenossenschaft
würde sich jährlich ein gutes Stück Geld ersparen und die Lektüre
der Beamten würde dadurch gewiss keinen Schaden leiden. Ähn-
lich verhält es sich in den Städten mit dem Verkehr der einzelnen
Bibliotheken unter sich. Nur dadurch, dass ein verantwortlicher
Leiter die Fäden der gesamten Organisation in seiner Hand ver-
einigte, wäre es möglich, einen vorteilhafteren und sparsameren
Betrieb einzuführen. Ja, In den kleinern Bibliotheken brächte
diese Organisation sogar die Möglichkeit, die nötigen Mittel zur
Schaffung eines eigenen ausschließlichen Bibliothekariates aufzu-
treiben. In den großen Städten unterstände vielleicht dem Ober-
bibliothekar auch ein Bibliothekar, der sich ausschließlich mit den
Schul- und Lehrbibliotheken zu befassen hätte.
Eine bloße mechanische Erledigung der laufenden Arbeit ver-
urteilen wir an jeder Bibliothek; sie bedeutet für uns einen Mangel
an initiative, der, wie bereits gesagt, einem der Zukunft entgegen,
arbeitenden Institute von wesentlichem Nachteil ist. Gerade weil
bei uns mancherorts auf diesem Gebiete viel gesündigt worden
ist und noch wird, sollten wir alles daran setzen, unsere pro-
duktive Tätigkeit mit aller Energie zu erhöhen. Ein gutes Mittel
hiefür besitzen wir in den obligaten gemeinsamen wöchentlichen
oder sogar täglichen Programmbesprechungen. Die wertvollen
Morgenstunden, die für gewöhnlich In administrativen Neben-
653
beschäftigungen, die ebensogut von einem Sekretariat besorgt wer-
den können, aufgehen, kämen der Bibliothek zu gute. Gegen die
vielen störenden, meist recht überflüssigen Besuche empfiehlt es
sich, Sprechstunden oder -Tage einzuführen. Der Wunsch nach
einer gemeinschaftlichen systematischen Arbeit benimmt der Direk-
tion keineswegs die Autorität; im Gegenteil, sie stärkt das vielfach
geschwächte Zutrauen und Ansehen. Eine Direktion, die in stiller
Abgeschlossenheit sich dem Auge des Personals entzieht, begeht
nach meiner Ansicht einen schweren taktischen Fehler.
Ist der Personalaustausch unter den einzelnen Kantonen
schon bei der Anstellung von Bibliothekaren in leitender Stellung
wünschenswert, so wird er es noch mehr bei der Besetzung von
Subalternposten. Wir besitzen in der Schweiz verhältnismäßig
wenige große Institute; an ihrer Spitze einstens zu stehen, sollte
das Endziel der Karriere jedes schweizerischen Bibliothekars bedeuten.
Um zu diesem Berufsabschluss zu gelangen, scheint es mir nötig,
dass der Kandidat an verschiedenen Orten Dienst getan hat. Ein
derartiges stufenweises Vorrücken hat für die bibliothekarische
Erfahrung viele praktische Vorteile. Bisher verhielt sich die Sache
sehr einfach. Man übergab mit Vorliebe einem Stadtbürger oder
Hochschullehrer des Institutes die Leitung, während die übrigen
Bibliothekare gewöhnlich ihr Leben lang in der selben Stellung
blieben — mochten sie noch so tüchtig sein. Ebenso wichtig
scheint mir der Austausch junger Kräfte zwischen der deutschen
und der französischen Schweiz. Auch der mittlere und untere
Bibliothekdienst erhielte damit gewiss besseres Personal. Ist eine
eigentliche Schule nicht möglich, dann verlange man wenigstens
eine einjährige Lehrzeit im eigenen Institute. Zürich bietet uns
mit seiner künftigen Zentralbibliothek vielleicht auch eine einzig
günstige Gelegenheit, junge Bibliothekare heranzubilden. Ein Lehr-
stuhl für Bibliothekwesen an der dortigen Hochschule dürfte
als eine zeitgemäße Neuerung begrüßt werden. Bei einer Bewer-
bung sollte also in Zukunft stets eine interkantonale Konkurrenz
angestrebt werden. Ausschreibungszirkulare, die an sämtliche
Bibliotheken des Landes versendet würden, hätten hier wohl
am meisten Aussicht auf Erfolg. Wir müssen aus bibliothekari-
schen Interessen den schweizerischen Bibliothekaren wenigstens
die Gelegenheit zu einem aussichtsreicheren Avancement schaffen;
654
sie ist bei den heutigen Verliältnissen nur möglich, wenn wir uns
auf eine interi<antonale Basis steilen.
Wir kommen zu den Reformbedürfnissen gegenüber den
Besuchern. Sind einmal Organisation und Verwaltung neugestaltet,
dann greift die produzierende Kraft von selbst ein; sie wird Ab-
hilfe schaffen und den Forderungen der Zeit aus eigenem Antriebe
gerecht werden. Im Vordergrunde stehen hier die Katalog fragen.
Wir besitzen darüber eingehende Studien von Dr. H. Escher, der
diese 1912 im Zentralblatt für Bibliothekwesen (Jahrgang XXX,
Heft 7/8) veröffentlicht hat. Ein allgemeiner Wunsch geht nach
einem schweizerischen Generalkatalog. Ein Ausschnittbeispiel zur
Einsichtnahme in die beabsichtigte Redaktionsweise wird, wie zu
hoffen ist, an der schweizerischen Landesausstellung in Bern 1914
vorgeführt werden. Das Ergebnis der bisher angestellten Unter-
suchung führt Dr. Escher zur Ansicht, dass es nötig sein wird, nach
Möglichkeit Rücksicht gegenüber den großen Nachbarn walten zu
lassen, und dass wir bei der Abfassung unseres Qeneralkataloges
„nach dem Gesetze des Parallelogramms der Kräfte vorgehen und
eine Mittellinie ziehen müssen". Die Redaktion wird sich also der
in den meisten Bibliotheken bestehenden Praxis anschließen, so
weit sich das ohne Inkonsequenz tun iässt. Der schweizerische
Inkunabelnkatalog ist bereits in Arbeit genommen und dürfte in
nicht allzu ferner Zeit erscheinen. Zwei weitere Forderungen sind
zum Teil bereits erfüllt. Wir besitzen ein Verzeichnis der 1912 in
den schweizerischen Bibliotheken aufgelegten laufenden Periodica
und Serienpublikationen, bei dem wir allerdings sehr ein Sach-
register vermissen. Die schweizerischen Einblattdrucke haben
ebenfalls ihre Aufnahme in den Heitzschen Frühdruckpublikationen
gefunden. Diesen Veröffentlichungen wird sich hoffentlich wohl
bald auch der schweizerische Handschriftenkatalog anreihen. An
den meisten Bibliotheken erscheinen heute gedruckte Zuwachs-
kataloge. Dort, wo man mit Rücksicht auf falsch verstandene
Sparsamkeitsgründe auf eine Fortsetzung verzichtet hat, möchten
wir eine Wiederaufnahme dieser Verzeichnisse sehr befürworten.
Wir müssen überdies von jeder Bibliothek eine genaue detail-
lierte Rechenschaft über die Erwerbe erwarten, sonst wird ein ratio-
neller, im richtigen Verhältnisse zu Bedarf und Mitteln geleiteter
Ankauf immer mehr ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Kontrolle
655
auf ein bloßes Eingangsregister mit Titel, Preis- oder Geschenkan-
gaben und Bibliotheksignatur genügt nicht. Bibliothekar wie Besucher
sollen wissen, was für Werke alljährlich in den einzelnen Gebieten
angeschafft wurden. Wenn im Jahresbericht bei der Theologie
zum Beispiel ein jährlicher Zuwachs von nahezu tausend Druck-
sachen steht, ist mir nicht im geringsten gedient; ich möchte
wissen, welche grundlegenden Werke gekauft worden sind, wie
viel und welche Bücher der liberalen theologischen Richtung, wie
viel der strengen Observanz, wie viele in den verschiedenen
Literaturen der Religionen; — erst dann gibt sich der gewissen-
hafte Bibliothekar zufrieden, erst dann aber interessiert sich auch
die theologische Öffentlichkeit mehr um die Bestände. Besitzen
wir einmal derartige gedruckte Kataloge der Neuerscheinungen,
dann ersparen wir uns auch viel Zeit an Zettelschreiben; die ge-
druckten Zettel lassen sich auch für die Nachschlagkataloge ver-
wenden, ja es wird vielleicht mit der Zeit möglich, in allen An-
stalten einen Fachkatalog anzulegen. Mancherorts muss man bei
uns noch viel Arbeit darauf verwenden, einen einheitlichen Haupt-
katalog auszuarbeiten. Mit der Abfassung des Generalkataloges
erhalten wir eine günstige Gelegenheit, die großen Fehler früherer
Redaktionen auszumerzen. Eine Kollationierung sämtlicher Titel
während des Erscheinens des Generalkataloges dürfte hier für alle
schweizerischen Bibliotheken angezeigt sein. In den größeren Druck-
städten wäre bei diesem Anlasse eine ausführliche Bibliographie der
älteren lokalen Druckwerke sehr erwünscht. Mit einer Neube-
arbeitung von G. E. Hallers Bibliothek der Schweizergeschichte
würde der schweizerischen Geschichtsforschung ein großer Dienst
geleistet; die eidgenössische Literatur des sechzehnten, siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts ist uns nur sehr fragmentarich be-
kannt und ist dem Forscher oft nur schwer zugänglich.
So ließe sich noch eine Fülle von Anregungen bringen. Wir
glauben aber; damit für heute schon mehr als genug des Guten
getan zu haben. Möge der Leser diese Fachstudie mit Nachsicht
prüfen, möge sich sein Interesse unseren dem öffentlichen Leben
immer näher rückenden Bibliotheken auch immer mehr zuwenden.
Nur wenn die Allgemeinheit ihre tatkräftige Mithilfe uns schenkt,
werden wir auch in der Schweiz ein gedeihliches Aufblühen der
Bibliotheken erleben.
BERN C. BENZIGER
656
EINST IN AFRIKA
(Schluss.)
Krankenschwestern sind menschenähnliche Gebilde, vom alten
Europa zum Wohle aller Gesellschaftsklassen produziert. So gab
ich mir Mühe, mich in die Tagesinteressen, Familienverhältnisse,
Erinnerungen und Zukunftsträume des Unteroffizierspaars einzu-
leben ; denn, obschon meine Persönlichkeit außerordentlich ent-
behrlich war, sollte ich auf höheren und allseitigen Wunsch in
der gesunden Luft des Hinterlandes bleiben, wo ich besser Quar-
tier fand als an der Küste. Ach, und Frau Schramgke hatte mir
jeden Tag so viel zu erzählen, oft recht bedenkliche Geschichten,
denn anders als in meinem malte sich die afrikanische Welt in
ihrem Kopfe. Klipp und klar zeigte sie mir stündlich, welch
kohlrabenschwarze Pfeile Eros, der arme griechische Knabe, im
Interesse der weißen Zivilisatoren zu verschießen hatte. Kam ich
von einer einsamen botanischen Exkursion zurück, denn ich eilte
täglich zwischen fünf und sechs nach Blumen und Schmetterlingen,
fand ich sie oft in trautem Gespräche mit einem ansehnlichen
Negerweibe, welches, wie sie mir dann mitteilte: „Auch schon
mehr g'sehn hat, als der Schweinemarkt von sei'm Dorf." Vom
Kirchturm konnte man allerdings nicht reden, denn Kirchtürme
gab's nicht.
Eines schönen Tages wurde beim Bezirksamtmann und bei
Schramgkes Besuch erwartet. Bei Herrn von Riemar war es ein
Fachmann, der die Gesteinsarten des Hinterlandes, ich glaube auf
Goldadern, untersuchen sollte; bei Polizeimeisters ein Kollege von
der äußersten Nordgrenze, der seinen Europaurlaub antrat. Beide
konnten nur diesen von der Regierung gut unterhaltenen Weg
benutzen, kreuzten sich auf unserer Station, wurden selbstver-
ständlich beherbergt und bewirtet, auf Wunsch Tage, ja Wochen
lang, denn die afrikanische Gastfreundschaft, von jedem dazumals
in dem herberg- und hotellosen Lande als Selbstverständlichkeit
geübt und angenommen, ging ins Grenzenlose.
„Schwester," sagte Schramgke, „nu werden Sie was sehen
und hören: der Polizeimeister Fricke kommt. Der nimmt's Maul
grandig voll und dabei krümmt er keinem Moskitos en Beenchen.
Ich sag' Ihne, 's sanfteste Lamm! Aber aus der Kartoffelfair
pulvert's nur so!"
657
Dann sah er mich schlau und wichtig zugleich an: „Wissen
Sie, aus dem Fricke seinen Kisten geh' ich Ihne en schönes Ab-
schiedsgeschenk, ein's das sich gewaschen hat. Wissen Sie," und
er zog die Achseln ein wenig höher: „Ethnographika! Ja, die
gibt's noch dort hinten."
Ethnographika, dies Wort, ich habe es beobachtet, sprechen
alle Unterbeamten leidenschaftlich gern aus. — Aber ein Abschieds-
geschenk — und erst noch aus fremden Kisten — ; es wurde mir
unbehaglich.
„Haben Sie ja keine Bange," fuhr der Polizeimeister unbeirrt
fort, „Fricke wehrt sich immer wie en angeschossene Zibetkatze,
der Kerl vernagelt sein Zeug wie toll, aber ich hab' en gutes
Stemmeisen und zuletzt, wenn alles nichts hilft, gibt er immer
klein bei. Wissen Sie, Schwester, im Grund ist's nämlich en
Lamm."
Ich wollte remonstrieren, da kam die stolze Mutter, das
schlummernde Kindchen im Arme.
„Du, Mann," fing sie an, „den Fricke wolle mer tüchtig
einseife. Weißte, der hat so en Schlägelchen gehabt, nu kann er
keinen Wein vertragen ohne blödsinnig Zeug zu reden. Den will
ich mit sei'm große Schwatzmaul tüchtig reinlege."
In diesem Augenblick ertönte die Stimme des Bezirksamt-
manns. Der Polizeimeister rannte, rannte so schnell er konnte,
eifrig und devot wie immer, denn Disziplin gab's auch im afrika-
nischen Hinterlande.
Am Abend erschien Herr von Riemar. Er bat mich zu einem
kleinen Spaziergange und lud, wenn sein gelehrter Gast einge-
troffen wäre, zu einem simplen Diner auf luftiger, umwucherter
Pergola ein.
„Am schönsten wär's," er deutete auf den einzigen Riesen-
baum, der die Gegend überragte, „wir könnten zu dritt dort oben
tafeln — weit — weit — über der Trivialität der Welt." Er lächelte:
„Über der Menschenmisere."
Abends saß ich auf Schramgkes Veranda zwischen zwei
Polizeimeistern, von denen der eine die Spuren des Schlaganfalls
noch auf der linken Gesichtshälfte trug. Die beiden Unteroffiziere
überboten sich in dienstlichen Wichtigkeiten. Dann aber gab's
658
auch Busch- und Jagdabenteuer zu erzählen, und wie man den
Häupth'ngen imponiert, teils durch scharfsinnige Gerechtigkeit —
aber dann auch durch's Auftreten. Das war für die Damen !
Leicht stotternd brachte Fricke den Knalleffekt doch immer zur
richtigen Zeit heraus — und — er blieb ängstlich dezent.
Ich betrachtete mit Vergnügen seinen langen, struppigen
Rübezahlkopf mit den etwas gnomenhaft verzerrten Gesichtszügen
und schaute träumend über seine Schultern in den weiten afri-
kanischen Busch, der sich unter dem Silberglanz eines magischen
Mondscheins ausbreitete. Dort in der Ferne stiegen wie Feuer-
lilienkränze die Lohen der Buschbrände empor. Doch rechts
verflutete die stille, klare Märchenwelt, deren burleske Verkörpe-
rung mir Fricke augenblicklich wurde, in zartes, nebelhaftes Dunkel.
Da goss ihm plötzlich Frau Schramgke Wein ins Wasserglas.
Es half nichts, sie machte eben ihr Witzchen.
„Auf mei Wohl und auf Friederikche sein's müssen's trinken!"
Fricke wehrte sich verlegen.
„Was, nit emal trinke können's und protzen drauf los! Auf
mei Wohl müssen's trinke, so schickt sich des!"
Der gute Kerl trank. Er wollte sich nicht lumpen lassen. —
Sein Kopf wurde röter. — Er stotterte bereits bedenklich — und —
ich fühlte genau — war nicht mehr im geringsten orientiert.
„Jetzt kommt's Gequassel und der Blödsinn!" lachte die Frau
verschmitzt zu mir herüber.
Ja und es kam — leider nicht blödsinnig genug — aber es
wurde mir peinlich.
Fricke stützte plötzlich die müde Stirne und fing an tief
zu grübeln — irgend etwas schien er vergessen zu haben — das
wollte nicht mehr in seinen schweren Kopf zurück. Er besann
sich und besann sich — es schien umsonst — mit glasigen Augen
schüttelte er sein hilfloses Haupt. — Da fiel ihm offenbar sein
treuester Freund, ein kleines, schwarzes Notizbüchlein ein. Mit
unsichern Händen holte er es aus der Westentasche, blies liebe-
voll ein Stäubchen vom glänzenden Wachstuch — legte das Kleinod
auf die weiße Tischdecke und fing an, sorgfältig und umständlich
zu blättern. Alles war sauber liniert, bis ins kleinste rubriziert,
dann nummeriert und zierlich reingeschrieben.
Endlich Seite dreiundzwanzig — da schien es zu sein.
659
„Hier lies, Schramgke, damit ich's nicht vergesse."
„Lies doch selbst," lachte sein Kollege, „wenn de noch kannst,"
und nagte an seinem dicken Hühnerbein weiter.
„Also dein — früheres, schwarzes Weib — Schramgke — hat
jetzt mei Nachfolger übernommen. Er sagt, 's war g'sund," Frfcke
stotterte es bewundernd, „hingegen ich glaub net . . . "
Ein Schmerzensschrei unterbrach ihn. Seine Nachbarin wand
sich totenblass auf ihrem Stuhle — krampfhaftes Schluchzen —
ich musste ihr rasch beispringen und sie eilends zu Bett bringen.
Die ganze Nacht gabs Aufschreie und Qestöhne.
Am nächsten Morgen fand ich sie bleich und leblos im Bette
liegend — dann fings von neuem an.
„Schwester," schrie sie zuletzt, „wie wenn der Kerl Hühner
zähle müeßt, wie wenn er 's Vieh verrechne tat, treibt er's mit
seim lästerliche Notizbuch! Der Hund!"
„Aber Sie hat er ja nicht verrechnet," sagte ich etwas ge-
ärgert, „beruhigen Sie sich doch."
Nicht möglich. Die Kissen, krampfhaft zusammengeballt,
erstickten von neuem ihr krampfhaftes Schluchzen. Drei Wochen
waren seit der Geburt vergangen. Friederikchen lächelte in seiner
großen Bierkiste; sie war so liebevoll vom Vater zurechtgezimmert
worden. Ja, alles wurde bis gestern nur zum Wiederschein der
strahlenden Freude, die so warm und lebendig vor zwanzig Tagen
ins Haus zog. Jetzt dieser Rückschlag! — Ich sah nachdenklich
in die Üppigkeit der tropisch wuchernden Passionsblumen, welche
das Haus umrankten. Bleich, traurig lief der Polizeimeister herum.
Immer wieder, wenn ihn der Dienst frei ließ, kam er, die Frau
zu beschwichtigen, ihr zuzureden. Es nützte nichts. Sie schluchzte,
grollte, giftelte. Auch das Grammophon hatte gute Ruhe. Die
Wacht am Rhein war ein überwundener Standpunkt.
Als Schramgke mal wieder zur Frau lief, hörte ich den Chef
ärgerlich rufen: „Der Teufel hol' die Frauen in Afrika, ein verheira-
teter Beamter ist nur ein halber Beamter." im Grunde war es
auch so. Fricke, der auf der Treppe saß, meldete mir wichtig
diesen Ausspruch des Vorgesetzten, dann sagte er traurig: „Ich
hab' mich so gefreut, nach langer Zeit mit weißen Frauen zu-
sammen zu sein, eine durchlauchtige Ehr' ist's mir gewesen, und
jetzt ist alles futsch ! Sie hätt' mir halt kein' Wein einschenken sollen."
660
Den nächsten Abend saß ich unter der laubumwucherten
Pergola des Bezirksamtmanns, rechts ein Gentleman, links ein
Gentleman, nur der Rahmen blieb afrikanisch. Von bunten Tüchern
malerisch umschlungen, servierte die schwarze Dienerschaft. Die
übliche Petrollampe in der Mitte des Tisches war von glänzenden
Käfern, roten und gelben Motten, Schmetterlingen und fliegenden
Ameisen umworben.
„Platsch," hörte ich plötzlich neben mir, Herr von Riemar
zog einen kleinen fliegenden Hund aus dem Suppenteller und
beförderte ihn mit einer eleganten Geste ins Buschwerk.
Auch ich zog ein rätselhaftes Etwas aus der Suppe, zu näherer
Bestimmung fehlten mir die zoologischen Kenntnisse. Dann zog
das Aroma des Weines einen großen Nachtfalter in unsere Nähe.
Grau, mit leuchtend roten Unterschwingen umkreiste er uns laut-
los, wie ein stiller, heidnischer Zauber. — Enger und enger zog
er seine seltsamen Schlingen.
„Weinsegler," nenne ich ihn, lächelte Herr von Riemar, „er
gibt dem feinsten Trunk noch einen gewissen Rhythmus." Lang-
samer und langsamer umschwebte er uns ; wie ein dunkler, schwer-
mütiger Traum streifte er unsere Häupter.
„Er verlässt uns nicht mehr," sagte der gelehrte Herr neben
mir versonnen und schaute mit seinen bebrillten Augen dem sich
wiegenden Zauber nach. Schwermut lag plötzlich im warm er-
leuchteten Grün der Sträucher, und hinter ihnen huschte sie leise
über den mondbeglänzten Rasen. Wir sprachen, ich weiß nicht
mehr warum, vom griechischen Altertum. Dann war der Bann
gebrochen, Englands Kolonialpolitik kam an die Reihe. Einem
feinen Disput hatte ich zuzuhören und er bildete den Übergang
zur anregenden Besprechung des kleinen Schutzgebietes selbst.
Bald zog ich mich zurück, um nach Friederikchen zu sehen.
Die Kleine hatte sich heute etwas mausig gemacht.
Am Morgen verlangte Frau Schramgke sofort nach mir; be-
ruhigt hatte sie sich noch kein bisschen.
„Was haben's beim Chef g'sprochen?" frug sie neugierig,
„und was gegessen?"
Ich erzählte, um sie abzulenken, was mir just einfiel. Wohl
manches, das über ihren Horizont ging.
661
„So, von deutscher G'schicht habe sie g'sproche und de
Engländer ihrem Kolonisiere. Ja, des ist freilich was anderes,
als dem Fricke sein' Dreck!"
Plötzlich, ich hörte den müden Tritt des Polizeimeisters auf
der Treppe, sagte sie überlaut: „Wartens nur, ich meld' alles
dem Chef, mei ganz Schmerz sag' ich dem Chef; des is ein feiner
Mann und hat kein' Notizbücher."
„Aber en schwarzes Weib hat er!" polterte der Polizeimeister,
„der wird dich mit dei'm undienstlichen G'stöhn schön heim-
schicken !"
„Was sage Sie dazu , Schwester ? " fragte hämisch die
arme Frau.
Es war mir wirklich einerlei. Seine Reden und Manieren
waren waren die eines Gentlemens; sein Wirken das eines tüch-
tigen, ehrenhaften Mannes. „Katholischer Pater bin ich, Gott sei
Lob und Dank, nicht," antwortete ich etwas unvorsichtig, „und
brauche mich deshalb über anderer Leute Lebensführung und
Ansichten nicht aufzuregen."
„Siehste, Mann, dem Pater Schenkelmeier werd' ich's sage.
Des is der richtige Ort!"
Unwillkürlich sah ich zur Wand hinauf, zu den beiden Marien.
Mild senkte die eine die Augen hernieder, erschreckt und klagend
schlug sie die andere empor.
Der Pater kam. Wie er sprach, weiß ich nicht. Großer Er-
folg war erst nicht zu verzeichnen.
Abends darauf saß ich wieder am grünen Hang bei den
Schmetterlingen; da erschien oben am Rande Schramgkes weiße,
breite Gestalt.
„Darf ich en Augenblick zu ihnen kommen, Schwester?"
sagte er bittend.
Er setzte sich neben mir ins Gras und die Blicke seiner weit
auseinanderliegenden Augen irrten zuerst in der Landschaft herum.
„Schwester," fing er dann an, „Sie denken gewiss, dass ich
en schlechter Mensch bin. Nun — nun — " seine Stimme war
unsicher, „der Pater Schenkelmeier sagt, 's war en Fehler gewesen,
vielleicht war's einer — ich weiß nicht, wie die's machen — aber
mei Frau sollt verzeih'n und vergessen. Sie hat ja auch eben
verziehn, aber wissen Sie, weil sie sagt, vergessen könnt sie's
662
doch net so recht, so sprechen Sie vielleicht am besten mit ihr.
Sie hat immer gern aufg'wärmt, auch beim Essen, und jetzt sitzt's
so tief drin, dass es net zum Aushalten ist. Und wissen Sie,
Schwester, ich hab' mei Frau g'holt, so bald ich g'konnt hab',
aber so'n lange Brautzeit — ich sage Ihne — das ist 's Ver-
fluchteste, was 's in Afrika für en Mann gibt!"
Er stützte den Kopf in beide Hände und seufzte nochmals;
„'s sitzt so tief drinn!"
Selbst über Frau Schramgkes schlechtes Aussehen etwas be-
unruhigt, musste ich dies zugeben. Ja, sie war fahl, gelb, und
ich dachte unwillkürlich an jene Kindbettneurosen, wo ein Wort in
den ersten Tagen des Wochenbetts genügt, einen Rattenschwanz quä-
lendster Zwangsvorstellungen hervorzurufen, die sich wie spitze
Nägel in's Gehirn bohren. Aber es ging ihr ja schon so gut.
Anderseits kam mir ihre gänzliche Vernichtung, nachdem sie von
andern so viel kohlrabenschwarze Moritaten erzählt hatte, denn
doch etwas komisch vor.
„Nicht wahr, Schwester, Friederikchen ist gesund?" fing der
Polizeimeister wieder an. „Nicht wahr?" Es zuckte um seine
Mundwinkel. Ja, darüber dachte er ernst.
Gewiss, es war ein schönes, kräftiges Mädchen mit tadellos
reiner Haut.
„Sehen Sie, Schwester, wegen mir braucht 's Friederikelchen
in kein' Nervenheilanstalt, in kein' Narrenhaus, in kein' Kaltbaderei,
in kein' Gehirnaufweichungsort, in kein' Knochenfraßabteil. Wegen
mir kann sich's emal seines Lebens freuen, wie g'sund Leut sich
freuen können. Das ist mehr wie tausend Väter in Afrika und
millione Väter in Europa von sich sage können!"
Vor uns lag wieder der langsam sich senkende, glutrote Ball
der afrikanischen Sonne. Noch blaute im Süden und Norden
der Himmel, doch die Umrisse der Bäume und Sträucher wurden
immer schärfer und schärfer. Ein paar Ölpalmen und hohe,
üppige Bambusstauden gaben bald ein zierliches Schattenspiel.
Feurige Gluten, ganz kurze Dämmerung, plötzliche Finsternis, das
war das Scheiden des Tropentages.
Schramgke starrte, beschaulich vor sich hin redend, in die
scheidende Sonne und schien, müde der ehelichen Szenen, dem
leuchtenden Gestirn, ohne viel dabei zu denken, von allen An-
663
staltsschattierungen zu erzählen, wo 's Friederikelchen seinetwegen
nicht hin musste. Und die Sonne antwortete dem besorgten Vater
mit ihren schönsten Strahlen. Wenigstens schien es fast so.
Dann sprang er auf und seufzte schwer. Langsam schritten
wir dem Hause zu. „Wo ist eigentlich Fricke?" fragte ich, um
abzulenken. Der Polizeimeister deutete in einen Lagerraum.
Richtig, da saß er, ausdauernd und fest auf seinen vernagelten
Kisten. Der arme Kerl! Ihm mochte bei allem Schmerz vom
geplanten Abschiedsgeschenke ahnen.
Friederikchen schrie, wie wenn's am Messer steckte. Natür-
lich, die ewige Aufregung, das Giftein und Grollen hatten die
Milch verdorben. Die Mutter weinte. Ich setzte mich neben sie,
da fing sie wieder an zu jammern über „des G'sindel, was sich
Mann nennt".
„Machen Sie jetzt Schluss, Frau Schramgke," sagte ich be-
gütigend, „es ist wegen der Milch."
„Ich lass mer scheiden," entgegnete sie trotzig, „oder vielmehr
ich reis' nach Europa."
„Erstens sind Sie katholisch und können sich nicht schei-
den lassen," sagte ich gemütlich, „zweitens ist 's Friederikchen
kerngesund und ich würde das Scheiden den Frauen überlassen,
deren Kinder dank dem Vater keine Aussicht haben, gesund zu
werden. Ihrer sind genug in Afrika und Millionen in Europa."
Sie hob den Kopf und musterte liebevoll ihr lutschendes
Kindchen. „Meinen Sie," sagte dann Frau Schramgke herab-
lassend, „'s war auch en Standpunkt." Ja, auch da drinn konnte
Ansehn und Auszeichnung liegen. Und das war die Hauptsache.
Wieder bat mich Herr von Riemar zu einem kleinen Spazier-
gang. Er wollte mir eine besonders üppige Baumwollplantage
zeigen und dann noch die Zwischenkulturen. — Ich weiß nicht
mehr wie, aber wir kamen auf Häckel zu sprechen.
„Ein mutiger, tapferer Mann," sagte mein Begleiter.
„Ihr religiöses Bekenntnis?" fragte ich indiskret.
Er machte einen Augenblick halt. In den herben, scharf
ausgemeißelten Zügen lag etwas Feierliches und die Hand auf
dem Herzen sprach er mit Ernst: „Mein Prophet ist Bismarck,
664
meine Religion heißt : Ein mächtiges Deutschland unter den
Hohenzollern!"
Ein alter Neger, der vor seiner Hütte saß, grinste uns gut-
mütig entgegen. Als wir zurückkehrten, hörte ich von ferne Frau
Schramgkes Stimme: „Amysanto, du schwarzes Rindvieh, wo
treibst dich rum? Wann willst du endlich dein Brot backen?"
Als wir näher kamen, stand sie in vertraulichem Gespräch mit
zwei Negerweibern.
„Schade," sagte mein Begleiter, „sie ist eine brave, tüchtige
Frau, doch so sehr hoch steht ihr Geistesniveau nicht über dem
der Negerweiber. Leider hat sie, die Klatschsucht zu befriedigen,
keine Rassengenossin. Der Mohr soll zur weißen Frau aufsehen,
wie zu einem höhern Wesen, und der Mohr tut es auch, denn
das ist ihm angeboren. Sonst — ja sonst — ich muss gestehn —
gibts eine burleske — eine drollige Psychologie."
Endlich rückte der Tag meines Abschieds heran. In der Um-
gebung wurden Träger requiriert, eine stattliche Kolonne. Auf
diese Weise mochte Maria, die schwarze Bachantin, von meiner
Abreise vernommen haben. Als ich schwesterlich meines Weges
zog, tauchte plötzlich ein trunkener Zug vor mir auf, und in
wilden, rhythmischen Lauten umjohlte mich afrikanische Lust.
Und wie einst der Falter mit schwermütigem Grau und
brennendem Rot uns magisch umwoben hatte, umkreiste mich
hier noch zum letztenmal ein seltsamer, heidnischer Reigen. Ich
weiß nicht warum, aber dunkel und schwermütig klang er mir in
die Ohren, schwermütig wie das afrikanische Busch- und
Palmengrün.
Still, unbehelligt trottete ich meines Weges; der schwarze
Polizeisoldat schritt in gehorsamem Phlegma treulich neben mir
über die säubern, vom Europäer geglätteten Straßen ; die Träger
trällerten eintönige Weisen, ohne den Befehlen zu widerstreben.
Ich war längst am andern Ende der Weit, als mich eines
Tages ein Brief aus Westafrika erreichte. Darin stand unter
anderm : Frau Polizeimeister Schramgke, die Sie, so viel ich weiß,
kannten, ist kürzlich gestorben; man sagt, am Gallenfieber. Der
Mann macht den Eindruck, wie wenn er einem schweren Auto-
665
mobilunglück entronnen wäre. Friederikchen ist gesund und bleich,
doch für Afrika immerhin noch blühend. Aber eine Schwester
Schramgkes soll aus besondern Gründen Nonne werden. Richtige
katholische Nonne! Wissen Sie warum?
„Auch das noch!" dachte ich bei mir selbst.
AARAU GERTRUD HUNZIKER
ODD
REFORMATIONSLIED
aus der Oper „Die Schweizer" von HANS JELMOLI
Wir wollen ha'n das lautre Wort,
Wie's Gott der Herr geschaffen,
Und nicht verschnitten und verschnorrt
Von Schreibern und von Pfaffen.
Wir wollen steh'n mit unsrer Sund'
Vor unserm Gott mit Bangen;
Uns kann, da wir doch Sünder sind.
Kein Papst das Heil erlangen.
Wir wollen bau'n auf Christi Blut
Und nicht auf Ablasszettel:
Zum Teufel mit der Römerbrut
Und mit dem römischen Bettel!
Wir wollen freie Schweizer sein
Und nur den Herrgott ehren;
Dem schlagen wir den Schädel ein,
Der's länger uns will wehren.
Auf, Brüder, frisch das Schwert zur Hand,
Lasst uns das Heil erwerben —
Kommt uns zu Hilf durch's ganze Land,
Zu siegen oder sterben!
KONRAD FALKE
666
BEBEL
August Bebel hatte eine selten gute Presse. Auch die Blätter
der deutschen Feudalaristokratie, die zeitlebens kein gutes Haar
an dem roten König ließen, fanden weiche, versöhnende Worte.
Zürichs Bevölkerung ist dem toten Bebel mit innerer Anteil-
nahme gegenübergestanden und seine letzte Fahrt vom Schanzen-
berg bis hinaus zum Friedhof hat der Bourgeoisie wie vielleicht
nie vorher zum Bewusstsein gebracht, was für einen Machtfaktor
die internationale Sozialdemokratie heute bedeutet. Man muss
auch gesehen haben, wie Tausende und Abertausende an der auf-
gebahrten Leiche im Volkshaus vorbeidefilierten, um eine richtige
Vorstellung von der Verehrung zu erhalten, die Bebel bei den
proletarischen Massen genoss. Es ist buchstäblich wahr, was
Bebeis Parteigänger im Wiener Kampf bei seinem siebzigsten Ge-
burtstag behaupteten : Bebel gehört der Internationale, seine Macht
reicht weit über Deutschlands Grenzen, in allen Industriegebieten
der Welt ahmt proletarische Agitations- und Organisationsarbeit
sein Beispiel nach, in allen Kultursprachen sprechen seine Schriften,
zu zahllosen Arbeitern.
Das Geheimnis der fast beispiellosen Volkstümlichkeit Bebeis
darf darin gesucht werden, dass die deutsche Sozialdemokratie
durch ihn und mit ihm diesen meteorhaften Aufstieg genommen
hat. Bebel war bescheiden genug, auch der gewaltigen wirtschaft-
lichen Expansion Deutschlands einen guten Teil an dem Wachs-
tum der Partei zuzubilligen.
Dem großen Parteiführer haben seine heftigsten Gegner per-
sönlich nichts anhaben können, er stand zeitlebens rein da, er war
die menschgewordene Ehrlichkeit. Hans von Gerlach, ein Volks-
parteiler, der ihn aus nächster Nähe kannte, sagte von Bebel,
keine größere Infamie sei denkbar, als ihn als Lügner und Ver-
leumder hinzustellen, wie es eine gewisse Presse der Rechten tat.
Er erblickte in jedem Angriff gegen seine Taktik eine Gefähr-
dung der Parteiinteressen. Das gab seinem Auftreten eine unge-
heure Wucht. Das allein hätte aber nicht genügt, um ihm das Herz
der Masse jahrzehntelang zu sichern. Nur der bildhafte Sozialis-
mus vermag in die Seele des Proletariers hinienzuwachsen. Mit
abstrakten Definitionen hat noch keiner die Masse besessen;
667
der ehemalige Handwerksmeister wusste, dass nur die anschauliche
Vorstellung die Masse gewinnt.
Bebel hatte auch vor den Akademikern der Partei voraus,
dass er selbst Arbeiter war, die Nöten des Kleinhandwerkerstandes
und das Arbeiterschicksal am eignen Leibe kennen lernte, den
beständigen Kampf um die kleinbürgerliche Existenz, die Aussichts-
losigkeit für Millionen von Arbeitern, je zum selbständigen Be-
triebsinhaber emporsteigen zu können. Er sah die gewaltige, groß-
artige kapitalistische Entwicklung unter dem Gesichtswinkel des
durch sie bedrohten Kleinmeisters an, und diese Betrachtungsweise
kehrt selbst in späteren Flugschriften und Vorträgen wieder. Als
Bebel in die politische Arena stieg, waren nicht konservative Groß-
grundbesitzer seine heftigsten Widersacher, sondern die Vertreter
des damals noch überwiegend rein manchesterlich orientierten
Liberalismus. Die konservative Partei hatte lange vor der liberalen
ihr sozialpolitisches Programm, das in der praktischen Politik
freilich mehr auf dem Papier blieb. Bismarck und sein Kreis
spielten die Arbeiterbewegung gegen Nationalliberale und Fort-
schritter aus; in Österreich war es die feudale Partei, der ver-
fassungstreue Großgrundbesitz, der für die Ausbildung der Fabrik-
gesetzgebung wirkte. Die Konservativen wussten, dass sie den
manchesterlichen Liberalismus ins Herz treffen konnten, wenn sie
ihm die Arbeiterverhältnisse bei liberalen Fabrikanten vorhielten.
Auch die wirtschaftliche Überzeugungstreue des Nationalliberalis-
mus, der, wenn es sich um den Staatseingriff zu Gunsten der
Arbeiter handelte, ein Feind des Staates war, ein Freund aber,
sobald Schutzzölle und Staatssubventionen für Bahnen in Frage
standen, wurde in grelle Beleuchtung gerückt.
Der konservative Reformeifer hat indessen nicht lange vor-
gehalten. Der Begründer der Kreuzzeitung, Hermann Wagner,
erklärte nicht ohne Bitternis, die große Masse der Konservativon
hätte für sozialpolitische Fragen noch absolut kein Verständnis;
sie ständen, wie sich Präsident von Gerlach ausdrückt, „mit der
Front nach dem Mist, mit dem Rücken gegen den Staat".
Bebeis Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie kann im
einzelnen hier nicht geschildert werden. Die Frage nur soll ge-
stellt werden: war der Vielgefeierte eigentlich ein superiorer Kopf?
Bismarck sagte einst: „Was hat denn der Bebel gemacht? Sein
668
Lebenlang im Reichstag gesessen und geredet. Na, und nun kann
er reden!" Nun, etwas mehr hat Bebel schon getan. Er war
ein Organisator großen Stils und auch gar kein übler parlamen-
tarischer Taktiker. Nicht seine geistige Überlegenheit sicherte
ihm bis in die letzten Jahre die Führung — unter den Hundert-
zehn gibt es einige sehr feine Köpfe — das Geheimnis dieser
langen Führerrolle war in der Tradition begründet. Er hatte die
Partei hoch gebracht, für sie gelitten, und die Masse hätte es nicht
geduldet, wenn der alte mit einer guten Portion Rücksichtslosig-
keit ausgestattete Kämpe durch einen jüngeren Akademiker ersetzt
worden wäre. Seine Halbbildung stand Bebeis Lebenserfolg
keineswegs im Wege; im Gegenteil, sie nützte ihm. Einen Bebel,
der nicht auf die Instinkte der Masse eingegangen wäre, einen
kritischen, abwägenden Kopf hätte die Masse nicht verstanden.
Sie wollte einen Draufgänger, einen Temperamentsmenschen, der
es tausendfach aussprach, an alle Wände schrieb, dass die heutige
Gesellschaftsordnung den Besitzlosen knechtet, ausbeutet, entehrt.
Das hat Bebel bis in seine letzten Tage getan. Noch vor wenigen
Monaten schrieb er in den von Freiherrn von Paungarten heraus-
gegebenen Äußerungen zum Eheproblem, es gebe keine Lösung
ohne Umgestaltung der Eigentums- und Erwerbsverhältnisse.
Bebel ist sein Leben lang ein Verneiner gewesen, ein Ver-
walter des geistigen Betriebskapitals, das Karl Marx hinterlassen
hat. Zu einer wahrhaft großen Auffassung konnte er sich nie
durchringen; wenn er ernstlich gewollt hätte, so wäre ihm ge-
lungen, mit der bürgerlichen Linken in Preußen die Herrschaft
der Demokratie vorzubereiten. Aber freilich, der Marxismus fühlt
sich wohler bei dem Bestehen der Two nations.
Es soll hier nicht von Bebeis unrühmlichem Kampf gegen
die Führer des revisionistischen Flügels gesprochen werden, gegen
jene feingebildeten Leute, welche die überkommenen Lehrsätze
des Marxismus den Anforderungen einer neuen Zeit und dem
Stande der ökonomischen Forschung anpassen möchten. Das
ist ja gerade die Tragik der Sozialdemokratie, dass sie praktisch
bei der Mitarbeit am Staatsganzen in Deutschland nur untergeordnet
in Erscheinung tritt. Seit Jahren rufen die Revisionisten : „Heraus
aus dem toten Geleise." Eine aktionsfähige Mehrheit gegen die
Reaktion ist so lange ausgeschlossen, als die Sozialdemokratie
669
an einer Taktik festhält, die der Reaktion das politische Über-
gewicht geben muss. Wo ist der Einfluss der vier Millionen
Stimmen, die sozialdemokratisch wählen, der 110 Reichtagsmandate
zu erkennen? Ein badischer Revisionist, Wilhelm Kolb, schrieb
einst: „Die Angst vor der politischen Mitverantwortlichkeit spielt
uns einen Streich um den andern, die Reaktion aber ist zufrieden
und hegt die Hoffnung, dass wir noch recht lange uns von solcher
Theorie leiten lassen. Jene Regierung des Klassenstaates und
seiner Einrichtungen hat also nur den Erfolg, damit wir uns selbst
politisch isolieren und damit den Konservatismus immer wieder
zum ausschlaggebenden Faktor machen."
Es ist allerdings richtig, wenn Kautsky sagt, dass es unter
den Revisionisten wie unter den Marxisten stets sehr verschiedene
praktische Tendenzen gegeben hat. Die gemeinsame Abneigung
gegen des Marxismus schweißte bei den Revisionisen Freihändler
und Schutzzöllner, Verfechtung der Abrüstung und der Flotten-
politik, Freunde und Verächter des Liberalismus zu einer Phalanx
zusammen. Dem Chaos der Meinungen entspricht keineswegs
ein Chaos der Praxis. Die Partei, meint Kautsky, sei in den letz-
ten Jahren einheitlicher geworden, als sie je war; aber sie wurde
es wohl nur deshalb, weil den Revisionisten, so lange der alte
Bebel auf der Kommandobrücke stand, jede Aussicht auf einen
positiven Erfolg fehlte. Ein demokratisches Blatt schrieb bei
seinem siebzigsten Geburtstag, der Grund, warum Bebel niemals
im eigentlichen Sinne ein großer Politiker gewesen, ist, dass er
sich von den theoretischen Zwirnsfäden binden ließ. Er wollte
so etwas wie den Vollstrecker spielen.
Die bürgerlichen Vertreter der Sozialreform können nur mit
gemischten Gefühlen an den verstorbenen Sozialistenführer zu-
rückdenken. Er hat zwar die ungerechten Worte von der einen
reaktionären Masse nicht kolportiert, aber im Grunde genommen
liefen die meisten seiner Reden darauf hinaus, dass die bürger-
liche Gesellschaft samt und sonders blutwenig für die bedrückten
Volksschichten zu leisten vermöge. Wohlmeinende und tatkräftige
Sozialreformen hat Bebel mitleidig belächelt. Er forderte von
ihnen alles oder nichts, einen vollständigen Bruch mit der bürger-
lichen Tradition. Im Kasino Außersihl sprach er einst von jener
Art Idealisten, die immer noch eine Hälfe der alten Eierschale
670
herumtragen und sich nie ganz davon befreien i<önnen. „Leute
der Halbheit, die sich nie ganz auf die Höhe der Situation zu
schwingen vermögen und die meinen, man i^önne der Gesellschaft
mit halben Konzessionen helfen."
Alle Erörterungen darüber, ob eine radikale Änderung des
Kurses mit Bebeis Ausscheiden erfolge, sind vorderhand belanglos.
Ein solcher Frontwechsel vollzieht sich nicht von heute auf mor-
gen ; auch die innerpolitische Lage Deutschlands ist an einem sol-
chen Umschwung wesentlich beteiligt. Für den Kenner deutscher
Verhältnisse kann kein Zweifel bestehen, dass die Überwindung der
konservativ-klerikalen Reaktion, die Deutschland als Kulturstaat
und in der Wirtschaftspolitik ins Hintertreffen gestellt hat, ohne
das Zusammengehen von Liberalismus, Demokratie und Sozial-
demokratie nicht möglich ist. Ein früherer Manchestermann, der
spätere Führer der deutschen Freisinnspartei, der hochtalentierte
Theodor Barth, hat diesem Zusammengehen das Wort geredet
und gesagt, dass ein fortschrittliches Deutschland sich auf die
Millionen der Arbeiterheere stützen müsse.
ZÜRICH PAUL GYGAX
D D Q
HIRTENFEUER
Sieh' unter den Eichen drüben die Flamme werden und wehn!
Dort wollen wir uns lagern, o Seele, und wollen uns recht verstehn.
Die weißen Herden weiden die hellen Hügel entlang;
Vor unseren zwei roten Hunden, da sind die Wölfe bang.
Und horch, was die Flamme singt: In Erd' und Gestein gebannt.
In Strom und Berg und Wald — so fest ist keine Wand:
Ich tanze hervor und bin vom eigenen Atem verweht —
Ich ruh' in ewiger Ruh'; ich bin, was vorübergeht.
O Seele, du Tänzerin auch, der Flamme durch Traum und Tag —
Vom Hirtenfeuer da glüht, da leuchtet die Asche nach.
Über weiße Herden gehen die Sterne den goldenen Gang;
Vor unseren zwei roten Hunden, da sind die Wölfe bang.
VICTOR HARDUNG
aaa
671
SULLY PRUDHOMME
(AVEC LETTRES IN^DITES)
Les quelques pages que je consacre ici ä Sully Prudhomme
n'ont pas la pretention d'etre une „etude"; il faudrait pour cela
un volume entier, et je ne songe pas ä ajouter un livre ä tous
ceux qu'on a dejä publies sur ce grand sujet. Je desire sim-
plement signaler ä nos lecteurs de langue allemande l'oeuvre tres
noble d'un poete peu connu hors de France. A nos lecteurs
fran^ais j'apporte quelques lettres inedites; elles furent adressees,
avec beaucoup d'autres, ä une amie, confidente intellectuelle, qui ne
veut pas etre nommee. Je dois ä cette amie bien mieux encore
que des „documents inedits": un tresor de purs Souvenirs . . .
L'cEuvre de Sully Prudhomme a plus d'un rapport avec le
Programme de cette revue ; eile tend, ä travers des conflits dou-
loureux, ä une synthese de la science et de la vie, ä une Har-
monie de la raison avec le coeur. Cette rencontre n'est pas for-
tuite. Depuis vingt-cinq ans je suis de ces „amis inconnus" sur
lesquels le poete de Justice a exerce une influence constante et
profonde, et qui, aujourd'hui, retrouvent, entre les feuillets de ses
livres, leur jeunesse enfievree, leurs angoisses, et les raisons de
leur discipline. „A ses vers sont attaches des moments inoublia-
bles de leur vie Interieure". (G. Paris).
I.
La meilleure introduction ä une lecture de Sully Prudhomme,
c'est l'etude de son ami intime, Gaston Paris, parue en octo-
bre 1895 et janvier 1896 dans la Revue de Paris et plus tard
dans le volume Penseurs et poetes. On lira ensuite l'excellent
ouvrage de M. Zyromski: Sully Prudhomme (Colin, 1907) et enfin
celui de M. Hemon: La Philosophie de M. Sully Prudhomme
(Alcan, 1907)1).
^) Je cite encore deux ouvrages allemands: Karl, Sully Prudhomme,
eine psychologisch literaturgeschichtliche Studie (Leipzig, Gronau 1907,
et Brangsch, Philosophie und Dichtung bei Sully Prudhomme (Berlin,
Felber 1911). Pour la bibliographie plus complete, voir Lanson: Manuel
bibliographique p. 1284 (Hachette 1912).
672
Je resume en peu de lignes les faits essentiels de la bio-
graphie: ne ä Paris en 1839, de sante delicate, Sully Prudhomme^)
avait deux ans lorsque son pere mourut; eleve par sa mere dans
le deuil, puis malheureux dans la solitude morale de Tinternat,
il etonna ses camarades par sa precocite intellectuelle ; quoique
poete dejä (et romantique) il se passionnait surtout pour les
mathematiques et allait entrer ä l'Ecole polytechnique lorsqu'une
ophtalmie le for(;a ä orienter sa carriere dans une autre direc-
tion; il essaya de l'industrie, puis il fit du droit, sans enthou-
siasme, et se voua enfin entierement ä la poesie et ä la me-
ditation philosophique. Un grand amour, malheureux; la guerre
de 1870; une cruelle maladie (paralysie partielle de la partie in-
ferieure du corps); et surtout la lutte intime avec le Sphinx de
la destinee, ce sont les faits essentiels pour qui veut comprendre
le caractere et l'evolution de sa poesie. Elu ä l'Academie fran(jaise
en 1881, laureat du prix Nobel en 1902, aime et venere par une
elite, mais etrangement dedaigne par les critiques et poetes d'une
ecole nouvelle, Sully Prudhomme mourut le 7 septembre 1907.
II.
La critique aime ä distinguer chez Sully Prudhomme deux
poetes differents: Tun est elegiaque et dit sa vie intime en des
pieces assez courtes; l'autre expose en de grands poemes son
Systeme philosophique et les decouvertes de la science moderne.
Cette division est en partie arbitraire; eile m^connait Tunite de
l'oeuvre qui seule explique la melancolie poignante du poete ele-
giaque.
En effet, les experiences personnelles (enfance endeuillee,
maladie, chagrins d'amour) ne suffisent pas ä expliquer cette
^) Le nom du poete demande une remarque expresse. II s'appelait en
realite Rene-Fran^ois-Armand Prudhomme, mais toutes ses oeuvres sont
signees Sully Prudhomme. Sully est un surnom „devenu inseparable de son
nom" (G. Paris). C'est que, gräce ä une comedie de Henry Monnier,
Grandeur et decadence de Joseph Prudhomme (1852), ce nom etait devenu
synonyme de bourgeois sot et pretentieux; il eüt ete dangereux de le
mettre sur un volume de vers. C'est donc une erreur formelle que de
nommer notre poete Prudhomme, ainsi que le fönt plusieurs ouvrages et
catalogues allemands, et meme V Anthologie des poetes franfais de Walch
et le Re'pertoire de Thieme.
673
tristesse, ni surtout le triomphe final de la serenite. II y a ä
cela des raisons plus profondes et plus generales.
Je ne puis donner raison ä M. Zyromski quand il ecrit:
„Sully Prudhomme s'est iibere sans effort de l'esprit romantique".
Je crois au contraire ä une persistance de l'esprit romantique,
en conflit avec le positivisme scientifique ; d'oii une douleur nou-
velle que seul Vigny avait dejä connue.
On aura beau dire et beau faire : par action ou par reaction,
le romantisme est ä la base de toute la litterature du XIX^ siecle.
Flaubert ecrivait ä George Sand, en 1866: „Enfin nous etions
des romantiques d'un ridicule accompli, mais d'une efflorescence
complete. Le peu de bon qui me reste vient de ce temps-lä."
Et le 3 fevrier 1873 il lui ecrivait encore: „Votre vieille ganache
romantique et liberale vous embrasse tendrement". Zola a fait
quelque part un aveu identique; et Taine, grand admirateur de
Musset, aimait ä citer ces vers de Don Paez:
Oh ! dans cette saison de verdeur et de force,
Oü la chaude jeunesse, arbre ä la rüde ecorce,
Couvre tout de son ombre, horizon et chemin,
Heureux, heureux celui qui frappe de la main
Le col d'un etalon retif, ou qui caresse
Les seins etincelants d'une folle maitresse!
Sans doute, depuis quelques annees, le romantisme a une
mauvaise presse; on ne veut plus en voir que les exagerations
ou les petits cötes; on exhume les poetes les plus mediocres
pour voller en quelque sorte la gloire des plus grands; leurs
inepties documentent la „neurasthenie romantique". Avec cette
methode il serait aise de demolir toutes les ecoles litteraires; ce
n'est plus de l'histoire, c'est de la politique tendancieuse; et
l'ereintement du Romantisme se rattache ä la campagne syste-
matique dirigee contre la Revolution et contre J.-J. Rousseau.
Le Romantisme, une maladie? soit, si la jeunesse est une
maladie. II a eu de la jeunesse l'exuberance, la force tumul-
tueuse, l'angoisse et l'enthousiasme^). Tout en reagissant contre
^) Zyromski clte le mot de Goethe: „Le classlque, c'est le sain; le
romantique, c'est le malade". Que Goethe, ne en 1749, alt parle ainsi, c'est
compr^hensible, surtout si l'on songe au romantisme ailemand. Mais nous
avons de bonnes raisons pour sentir et penser autrement.
674
lui, le realisme n'en fut pas moins une continuation ; !e Ro-
mantisme portait en lui tout le XIX* siecle; Vigny en est une
preuve, et M. Zyromski a parfaitement raison de rapprocher
SuUy Prudhomme de Vigny.
Sully Prudhomme a adresse ä J.-J. Rousseau des vers dont
je detache deux strophes significatives. En parlant de la Muse:
Elle salue en toi le premier qui sut rendre
Aux yeux pour la campagne un regard attendri,
Au coeur l'intlme accent que tout coeur peut comprendre,
La chair et la couleur au langage amaigri.
Car si tu n'as pas eu les divines ressources
Du murmure des vers pour endormir tes maux,
Des poetes futurs tu fecondas les sources
Par de nouveaux tourments et des soupirs nouveaux.
(Le PrismeJ
L'„intime accent que tout coeur peut comprendre", c'est la
sensibiiite romantique, qui est la moitie du genie de Sully Prud-
homme. D'autre part, ne en 1839, l'annee meme oü commen^ait
ä paraitre le Cours de Philosophie positive de Comte, et contem-
porain de Flaubert, de Taine, de Zola, Sully Prudhomme ne pou-
vait se soustraire aux idees de son epoque ; sa forme intellectuelle
le portait meme aux sciences exactes, au positivisme. En 1865, lors-
qu'il publia les Stances et poemes, ses amis furent pris d'une
grande emotion. Qaston Paris le dit: „Notre generation allait-
elle voir proclamer celui que nous regardions comme son poete?"
mais, apres les Epreuves (1868) et les Solitudes (1869) „nous
comprtmes qu'il n'emboucherait pas, comme nous avions pu le
croire un instant, la trompette qui nous menerait au combat".
La tristesse, le decouragement dominaient; cela s'explique en
partie par la debilite physique, par le manque de volonte agissante,
mais surtout par le conflit que je viens d'indiquer: la sensibiiite
idealiste en lutte avec l'intellect positiviste. Toute sa vie Sully
Prudhomme cherchera, avec angoisse, la Synthese de ces deux
forces, Synthese que nous cherchons aujourd'hui encore, avec plus
de chances de reussir.
Qu'il s'agisse de la nature eternelle et indifferente, des amours
qui passent, ou de l'äme qui s'affirme sans preuve, tous les des-
espoirs et tous les reves romantiques se retrouvent chez Sully
675
Prudhomme, mais sous une forme nouvelle, fortement concentree,
Sans rhetorique, d'une precision analytique qui a quelque chose
de scientifique. Tout le monde connait le Lac de Lamartine et
la Tristesse d'Olympio de Victor Hugo. Voici un motif sem-
blable en trois petites strophes :
Ici-bas tous les lilas meurent,
Tous les chants des oiseaux sont courts;
Je reve aux etes qui demeurent
Toujours . . .
Ici-bas les levres effleurent
Sans rien laisser de leur velours;
Je reve aux baisers qui demeurent
Toujours . . .
Ici-bas tous les hommes pleurent
Leurs amities ou leurs amours;
Je reve aux couples qui demeurent
Toujours . . .
(Stances et poimes)
Qu'on reiise de Musset la Lettre ä Lamartine et VEspoir en
Dieu et qu'on medite ensuite ces deux petites pieces:
LES YEUX
Bleus ou noirs, tous aimes, tous beaux,
Des yeux sans nombre ont vu l'aurore;
Ils dorment au fond des tombeaux
Et le soleil se leve encore.
Les nuits, plus douces que les jours,
Ont enchante des yeux sans nombre;
Les etoiles brillent toujours
Et les yeux se sont remplis d'ombre.
Oh! qu'ils aient perdu le regard,
Non, non, cela n'est pas possible!
Ils se sont tournes quelque part
Vers ce qu'on nomme l'invisible;
Et comme les astres penchants
Nous quittent, mais au ciel demeurent,
Les prunelles ont leurs couchants,
Mais il n'est pas vrai qu'eiles meurent.
Bleus ou noirs, tous aimes, tous beaux,
Ouverts ä quelque immense aurore,
De l'autre cöte des tombeaux
Les yeux qu'on ferme voient encore.
(Stances et poimes)
676
L'AME
J'ai dans mon coeur, j'ai sous mon front
Une äme invisible et presente:
Ceux qui doutent la chercheront,
Je la repands pour qu'on la sente.
Partout scintillent les couleurs,
Mais d'oü vient cette force en elles?
II existe un bleu dont je meurs,
Parce qu'il est dans les prunelles.
Tous les Corps offrent des contours,
Mais d'oü vient la forme qui touche?
Comment fais-tu les grands amours,
Petite ligne de la bouche?
Partout l'air vibre et rend des sons,
Mais d'oü vient le delice intime
Que nous apportent ses frissons,
Quand c'est une voix qui l'anime?
J'ai dans mon coeur, j'ai sous mon front
Une äme invisible et presente.
Ceux qui doutent la chercheront,
Je la repands pour qu'on la sente.
(Stances et poimes)
On pourrai't multiplier les exemples; partout on retrouverait
ce melange inextricable du doute et de raffirmation, de la science
et du sentiment. C'est ainsi que le poete dit ä la Grande Ourse :
Tu n'as pas l'air chretien, le croyant s'en etonne,
O figure fatale, exacte et monotone,
Pareille ä sept clous d'or plantes dans un drap noir.
Ta precise lenteur et ta froide lumiere
Deconcertent la foi: c'est toi qui la premiere
M'as fait examiner mes prieres du soir.
(Epreuves)
Au Romantique, les daires etoiles etaient un regard de Dieu ;
ä Sully Prudhomme, elles disent les lois eterneiles de la matiere.
II y a lä une sobriete d'expression et une acuite de pensee in-
connues en 1830; mais 11 s'y mele un accent personnel et une
emotion que les Parnassiens reprouvaient. Et pourtant les his-
toires de la litterature mettent Sully Prudhomme au nombre des
Parnassiens! Cela s'explique par la forme, par le cöte scien-
tifique et philosophique de son oeuvre; c'est une erreur nean-
moins, une simplification excessive. Voici deux fragments de let-
tres oü le poete est tres net:
677
„Le Parnasse proprement dit est un recueil de poesies public par
Alphonse Lemerre et auquel ont contribue des poetes qui ne se doutaient
pas du tout qu'un jour ils seraient tous ranges pele-mele dans une meme
Ecole portant le nom de ce recueil. II est vrai, plusieurs d'entre eux avaient
une preoccupation tres accentuee de la faijon du vers; ils en soignaient
l'harmonie et la rime avec beaucoup de zele, mais ce n'a pas ete un Pro-
gramme et tous les autres etaient differemment doues et inspires. C'est
M. Xavier de Ricard qui a principalement pousse Lemerre ä faire cette
publication, et ce poete etait sans doute curieux du style, mais non moins
soucieux de la pensee.
Quant ä moi, je suis toujours demeure tout ä fait independant, et
Ton commet une grave erreur en m'enrölant parmi ceux de mes confröres
qu'on a nommes depuis parnasslens. Je n'ai de commun avec eux que la
forme classique des vers et le respect de la consonne d'appui, dont l'emploi
est du reste bien anterieur au present siecle. II serait impossible de rap-
porter mon Inspiration ä aucune ecole . . ."
Ailleurs il parle de Leconte de Lisle, autour duquel on groupe
generalement les Parnassiens; ä propos de divers poemes pre-
sentes ä un concours de poesie de rAcademie, 11 ecrit:
„Leconte de Lisle et moi nous ne nous entendons guere dans nos appre-
ciations de la valeur poetique des ouvrages de ce genre. J'essaie de bien
entrer dans sa pensee, je n'y reussis pas comme je le voudrais. Ce qui
l'interesse, c'est la nature ä 1 etat sauvage et brüte, atroce, et belle seule-
ment de la naivete de ses appetits; par exemple il representera volontiers
une femme de chef barbare arrachant le coeur du vaincu pour l'offrir pal-
pitant ä son mari, et je ne sais s'il ne se complairait pas ä montrer ce
coeur roti par cette magere pour le regal du vainqueur. 11 est certain qu'il
y a une beaute propre ä la nature farouche, une beaute plastique. Je ne
le conteste pas. Leconte de Lisle aime, non pas seulement la sauvagerie,
mais bien encore la plus haute elegance de la forme, surtout ce qu'il y a
de typique et de simple dans la nature; les moeurs homeriques, dans ce
qu'elles ont de noble et de virilement naVf le captivent. Je n'y vois pas
d'objection. Mais ce n'est pas dans les choses primitives qu'il faut cher-
cher, ä mon avis, de quoi satisfaire l'äme moderne, je parle de l'äme affi-
nee par les conquetes d'une civilisation prodigieusement developpee dans
tous les sens. La gräce n'exclut pas du tout la complexite, car eile sup-
pose la Variete; une poesie gracieuse datee d'aujourd'hui est antipathique
ä Leconte de Lisle; je m'imagine que le goüt qui preside ä la toilette d'une
femme elegante de nos jours lui est absolument etranger; il ne doit admi-
rer que la tunique grecque pour la noblesse de ses plis ou le sayon
d'un chevrier pour la rudesse de ses poils. Toute delicatesse dans l'ex-
pression lui semble mievrerie; un vers coulant au bout duquel la rime
s'epanouit naturellement comme la fleur meme de ce vers, lui semble in-
sipide. Pour lui plaire on ne gagne rien ä effacer l'art dans une oeuvre
en le poussant jusqu'ä le rendre indiscernable du naturel; il paratt aimer
que l'art se montre toujours, ä la condition de reussir toujours. Un coeur
moderne me semble beaucoup plus curieux ä analyser que celui d'une
brüte oü l'instinct et l'appetit dominent aveuglement, ou que celui d'une
678
belle esclave dont le reve est fait du souvenir tres simple de sa hutte na-
tale. Je ne veux pas etre dupe de la perspective des äges. Briseis ne pou-
vait pas avoir les mains propres, non plus que la fameuse Helene; malgre
les aiguieres, un fond de graisse de mouton devait demeurer incruste dans
le bout des doigts qui saisissaient les viandes. Rien en realite ne devait etre
plus grossier qu'un Ajax. C'est en les degageant de leur croüte reelle que
l'imagination fait de ces etres-lä des types de haute elegance capables de
tenter le ciseau d'un Phidias. Je täche de comprendre l'esthetique de Leconte
de Lisle, car il a fait des vers admirables tels qu'il n'y en a pas de plus
acheves dans notre langue; je trouve qu'il ne s'assimile pas le tempera-
ment d'autrui et pretend imposer ä tous la loi du sien . . ."
Ces derniers mots sont ä mediter par ceux qui croient en-
core ä „robjectivite" du Parnasse!
Infiniment sensible, et pourtant epris de certitudes scienti-
fiques; analyste impitoyable, et pourtant respectueux du mystere
des ämes, Sully Prudhomme est une individualite tres ä part;
c'est avec Pascal, c'est avec Vigny qu'il a les affinites les plus
profondes. Donc pas d'„ecole" ; mais une fraternite intellectuelle
et morale; la meme souffrance devant les memes problemes qui
reparaissent derriere les „Solutions" de meme que l'horizon in-
fini reparait derriere les cimes conquises.
De Sully Prudhomme je ne veux dire ici ni les amours, ni
les angoisses philosophiques, ni d'autres douleurs encore; c'est
dans ses vers qu'il laut les connaitre et les revivre. Constatons
simplement que son pessimisme va d'abord grandissant, jusqu'au
desespoir, des Epreuves aux SoUtudes et des Solitudes aux Vaines
Tendresses (1875). La vie humaine ne serait-elle vraiment qu'un
triomphe inexorable de la force brutale? L'ideal des ämes ne
serait-il qu'une illusion? Au moment oü la froide science semble
avoir dissipe cette illusion, une reaction vigoureuse se produit.
II y a ä cela une raison generale, patriotique: la France,
vaincue en 1870, s'est relevee comme par miracle; d'oü lui sont
venues ces energies nouvelles? Et il y a une raison plus parti-
culiere: les intellectuels positivistes ont-ils peut-etre leur part de
responsabilite aux desastres de 1870? N'ont-ils pas maintenant ä
expliquer, ä legitimer, ä encourager cette resurrection d'un peuple
republicain qui ne veut pas disparaitre? N'y aurait-il pas une
verite superieure aux certitudes de la science? Toutes ces ques-
tions, que Sully Prudhomme s'etait dejä posees, reapparaissent
devant lui, sous un jour nouveau; il les reprend en une serie
679
de poemes, Les Destins, Le Zenitfi, La Justice (1878), Le Bon-
heur (1888), qui sont un crescendo de courageux optimisme.
Dans Les Destins l'homme disait dejä ä la nature:
Ne mesurant jamais sur ma fortune infime
Ni le bien, ni le mal, dans mon etroit sentier
J'irai calme, et je voue, atome dans Tabime,
Mon humble part de force ä ton chef-d'oeuvre entier.
Dans Le Zenith, cette noble ambition se precise encore:
NonI de sa vie ä tous leguer l'cEuvre et l'exemple,
C'est la revivre en eux plus profonde et plus ample,
C'est durer dans l'espece en tout temps, en tout Heu,
C'est finir d'exister dans Fair oü l'heure sonne
Sous le fantöme etroit qui borne la personne,
Mais pour commencer d'etre ä la fa^on d'un dieu!
L'eternite du sage est dans les lois qu'il trouve;
Le delice eternel que le poete eprouve,
C'est un soir de duree au cceur des amoureux!
Car l'immortalite, l'äme de ceux qu'on aime,
C'est l'essence du bien, du beau, du vrai, Dieu meme,
Et ceux-lä seuls sont morts qui n'ont rien laisse d'eux.
Dans cette evolution de Suliy Prudhomme, qui va du pessi-
misme ä Toptimisme, il y a evidemment, tout au fond, une ques-
tion de „temperament", d'intuitlon, qu'on ne saurait expliquer
ä des esprits d'une autre categorie. A la petite communaute
que constituent les lecteurs de Wissen und Leben, toute expli-
cation serait superflue; nous nous sommes unis precisement
parce que nous avons cette confiance du poete, parce que pour
nous l'histoire, maigre ses brutalites, est un triomphe de la vo-
lonte, de la conscience humaine, superieure aux lois physiques.
Pour nous l'histoire est une creation toujours renouvelee. On peut
fort bien s'emanciper de tous les mythes chretiens, de toutes les
revelations, et constater pourtant (sans en savoir l'origine) cette
force intime qui entralne l'humanite vers un ideal de justice et
de bonte. C'est ici, dans la franche acceptation de ce mystere,
que rideaiisme se heurtera toujours au positivisme ; et c'est ainsi
que Sully Prudhomme se heurta ä Taine. II ecrit:
„Je suis alle hier voir Gaston Paris et j'ai rencontre chez lui ses
visiteurs ordinaires, Taine entre autres, et Boissier ; de Vogüe et Leroy-
Beaulieu (Anatole) y sont venus aussi, puis un Anglais et des gens que je
ne connais pas. Les relations professionnelles de Gaston sont trös eten-
680
dues. II connait beaucoup d'Allemands, ses anciens condisciples d'Heidel-
berg oü il a suivi les cours de l'Universite *), mais il ne leur rend pas leurs
visites, depuis la guerre. On a traite des questions tres interessantes;
Taine a critique la Declaraüon des droits de l'homme, et je Tai defendue
en principe. II pretend qu'on ne peut rien edicter de general et d'abstrait
touchant les principes de la legislation, que chaque peuple exige une Cons-
titution adaptee ä son caractere, qu'il n'y a pas de droit egalement appli-
cable aux Fran^ais et aux sujets du roi de Dahomey. Je reponds que la
seule qualite d'hommes donnee aux uns et aux autres leur confere ä tous
un fond de droit commun, tres large, il est vrai, mais neanmoins precis et
respectable. Un homme ne natt pas esciave d'un autre homme, par exem-
ple; voilä un principe de droit universel qui peut entrer dans une decla-
ration des droits de l'homme. Taine replique: les s'ijets du roi de Da-
homey ne l'entendent pas ainsi, ils lui reconnaissent parfaitement le droit
de les faire obeir et de les tuer. — C'est possible, mais il ne s'agit pas de
savoir si tous les hommes, quelle que soit leur culture, se fönt la meme
idee du droit; il s'agit de savoir s'il existe un droit primordial commun ä
tous, qu'ils le connaissent et en usent, ou qu'ils l'ignorent et le negligent.
J'ai toujours admire la De'claration des droits de l'homme; c'est I'acte par
lequel a ete degagee pour la premiere fois, de toutes les alterations que
les tyrannies ont fait subir ä la nature humaine, la veritable essence de
l'homme, sur laquelle se fondent ses droits inalienables . . ."
On reconnait lä celui qui a dit dans La Justice:
Le respect de tout homme est la justice meme:
Le juste sent qu'il porte un commun diademe
Qui lui rend tous les fronts sacres.
Nuire ä l'humanite, c'est rompre la spirale
Oü se fait pas ä pas l'ascension morale
Dont les mondes sont les degres.
Je sais bien que, dans i'oeuvre de Sully Prudhomme, La
Justice est le poeme le moins heureux; la pensee philosophique
n'y trouve souvent qu'une expression froide et prosaique; mal-
gre quelques strophes emues, l'ensemble est trop schematique;
mais le poeme demeure interessant en tant qu'une etape de l'evo-
lution morale, et comme preparation au Bonheur. La Dedicace
pose nettement le probleme: „La raison et le coeur sont divises.
Ce grand proces est ä instruire dans toutes les questions mu-
rales; je m'en tiens ä celle de la justice. Je voudrais montrer que
la justice ne peut sortir ni de la science seule qui suspecte les
intuitions du coeur, ni de l'ignorance genereuse qui s'y fie exclu-
sivement; mais que l'application de la justice requiert la plus
delicate Sympathie pour l'homme, eclairee par la plus profonde
^) Erreur; G. Paris etudia ä Bonn et ä Goettingue, mais non ä Hei-
delberg.
681
connaissance de sa nature; qu'elle est, par consequent, le terme
idea! de la science etroitement unie ä Tamour."
A ne constater que les „faits", la justice ne regne nulle part
sur la terre: les especes entre elles, les individus d'une espece
entre eux, les Etats entre eux, et les individus dans l'Etat, tous
les etres n'obeissent qu'ä l'instinct egoiste, au besoin ou ä des
lois imparfaites et inefficaces. Et si, dans Tunivers, la matiere
est ä peu pres identique, on ne saurait admettre qu'elle ait con-
stitue quelque part un monde meilleur. L'univers est soumis
ä des lois fatales, excluant la justice qui suppose la liberte. Et
pourtant le poete constate un autre fait: c'est que la conscience
rend l'homme responsable devant la loi morale. D'oü vient cette
voix qui s'oppose ä la fatalite? Mystere. Elle permet du moins
de conclure que Thomme, degre supreme dans l'echelle des etres,
a cree la notion de justice, et que, par une lente evolution vers
le Divin, il tend ä realiser la justice dans la Cite. Si puissan-
tes que soient la matiere et la critique analytique, elles ne peu-
vent rien contre la conscience, contre la dignite humaine. „Le
sentiment de la dignite, inconcevable si tout n'est que force
aveugle, implique la liberte en depit de tous les raisonnements.
11 est la vraie base de la moralite prise dans son sens le plus
haut, et il est le gage que cette moralite n'est pas illusoire"
(G. Paris). On reconnait ici Pascal: „Mais quand l'Univers l'ecrase-
rait, l'homme serait encore plus noble que ce qui le tue . . .
toute notre dignite consiste donc en la pensee . . ." et le Vigny
de la Bouteille ä la mer. Et c'est bien le seul rocher solide dans
l'ocean de nos incertitudes. „Comment fais-tu les grands amours
— Petite ligne de la bouche?'' Si des levres de chair cueillent
sur d'autres levres le baiser de l'amour et celui du pardon, pour-
quoi les instincts obscurs ne se transformeraient-ils pas en ideal
moral? Que d'autres parlent de „miracle" et de „revelation",
nous dirons avec plus de respect: mystere. Nous ne som-
mes point chasses d'un paradis, dechus d'une divinite: nous y
montons. Et le choeur chante:
Un jour les coeurs, tous envahis
Par le grand flux d'amour qui monte.
De s'etre si longtemps hais
N'auront plus que surprise et honte.
682
11 nous semble que le present
N'offre que rapine et carnage;
Toujours pourtant il en surnage
Un nouveau dogme bienfaisant.
Toujours les causes magnanimes
Ont leur triomphe, lent ou prompt :
Fumes par le sang des victimes,
Les oliviers triompheront.
Dans l'evolution de Sully Prudhomme, il taut degager un
fait essentiel: tant qu'il fut pessimiste, il analysa surtout ses dou-
leurs personnelles. Disons mieux: tant qu'il analysa ses dou-
leurs personnelles, il demeura pessimiste. Une lueur d'esperance
grandit pour lui avec Pidee de solidarite. Cest par lä qu'il se
differencie, de plus en plus, des Romantiques et des Parnassiens^).
Parlant des artistes en general, j'ai ecrit ailleurs ces mots qui ne
s'appliquent ä nul autre mieux qu'ä Sully Prudhomme: „Creature
perissable, soumise aux innombrables contingences de son temps,
l'artiste penetre en martyr volontaire jusqu'au fond de sa douleur ;
il y trouve l'humaine fraternite" 2). Desormais il ne voit plus,
dans l'homme, l'individu, mais l'etre social; et si tout ä l'heure
il donnait comme ideal la justice, dans la Cite, maintenant il
s'eleve d'un degre encore, il trouve le bonheur dans le sacrifice,
c'est-ä-dire dans la loi de travail et de douleur librement accep-
tee. Cest son dernier poeme, Le Bonheur (1888).
Sur terre Faustus et Stella ont ete separes par un obstacle
insurmontabie; ils se retrouvent dans un monde superieur, affran-
chis de toute contrainte, de tout effort. Leur amour semble rea-
liser le plus beau des reves terrestres; mais cette felicite meme
engendre une sorte de satiete; la vie sans desir perd de son
prix; ä l'inquietude vague qui penetre les deux amants vient
s'ajouter un cri, cri d'angoisse, parti de la terre, et qui monte de
cieux en cieux. Faustus et Stella decident de renoncer ä leur
bonheur pour porter aux hommes la certitude d'un monde meil-
leur. L'ange de la mort les empörte sur son aile; quand ils
arrivent sur la terre, l'humanite est morte, et la nature brüte a
^) M. Zyromski l'a fort bien dit, et me semble avoir vu mieux que
tout autre l'idee de foi et de discipline chez Sully Prudhomme. Je ne sau-
rais trop recommander la lecture de son livre, surtout dans sa deuxieme
partie.
2) Lyrisme, epopee, drame, p. 230.
683
reconquis tout ce que notre civilisation lui avait arrache. Faus-
tus et Stella decident alors de recommencer la vie humaine, avec
tous ses risques ... „Ils ont compris qu'il n'y a pas de joie
Sans souffrance, qu'il n'y a pas de dignite sans sacrifice, et que
le sentiment du bonheur ne peut etre que celui d'une halte mo-
mentanee dans un chemin qui mene ä un but toujours entrevu
et Jamals atteint" dit Gaston Paris, ä qui le poeme fut dedie.
Le bonheur n'est du qu'ä l'effort.
Cest la conclusion de Sully Prudhomme; et ces mots, si
simples en apparence, contiennent une synthese en raccourci: ä
la revolte individualiste des Romantiques ils opposent la disci-
pline; au determinisme deprimant des positivistes ils opposent
le libre consentement. „Faire de necessite vertu" est une expres-
sion de la sagesse pratique; la sagesse plus haute d'un Sully
Prudhomme reussit ä degager de la necessite la liberte meme.
Dans le domaine moral, l'homme qui prend conscience de la loi
la domine en s'y soumettant; eile n'est plus un cercle ferme,
eile est la spirale ascendante. Se connaitre soi-meme, savoir oü
l'on va, c'est remplacer peu ä peu le devoir par le vouloir. Par-
venü ä ce triomphe de la volonte par le sacrifice altruiste, le
poete avait atteint le degre supreme de sa poesie; il ne voulut
point se repeter ou revenir ä des confessions personnelles. 11
se tut, comme poete ^); jusqu'ä sa mort (7 septembre 1907) il
ne fut plus qu'un etre de bonte, et un directeur de conscience
pour les amis, connus et inconnus. Meme disparu, il est en-
core notre guide le plus sür vers la lumiere d'une foi nouvelle.
III.
II n'a pas que des amis; parmi les „jeunes" (ou ceux qui
le furent vers 1890) plusieurs ont reagi; cela se comprend; c'est
dans la regle et ne signifie pas grand chose pour la valeur
durable d'une oeuvre; mais la reaction contre Sully Prudhomme
*) Les poesies sont editees chez Lemerre; en 5 volumes in-lZ^ ou
4 volumes in-8*'; il faut y ajouter un volume posthume, Epaves. L'oeuvre
en prose a paru en partie chez Lemerre, en 3 volumes in-8''. En outre,
chez Alcan: La vraie religion selon Pascal, Psychologie du libre arbitre,
et Le lien social. Enfin, recemment, Lettres ä une amie (M^e E. Amiel)
2 volumes in-8*'.
684
a ete particulierement brutale ou dedaigneuse. M. Charles Morice,
rendant compte de mon livre Lyrisme, epopee, drame, le resume
et l'ereinte en quelques lignes, disant entre autres: „que voulez-
vous qu'on fasse de l'opinion d'un critique . . . qui ne soupgonne
pas Villiers de TIsle-Adam, Rimbaud, qui admire passionnement
Dumas fils et Sully Prudhomme?" Voilä des raisons probantes.
Or, c'est ä M. Morice, sauf erreur, que je dois d'avoir lu, il y
a longtemps, Villiers de l'Isle-Adam et Rimbaud, car c'est vers
1892 que j'achetai son livre si suggestif La Utterature de tout ä
l'heure. On y lit ä la page 249, en note: „M. Sülly Prudhomme
n'est pas un poete. Des trois actes qui decomposent l'action
esthetique (Pensee, Idee, Expression) il n'accomplit que le Pre-
mier. Meme il l'accomplit tres insuffisamment, ses abstractions
se maintenant toujours dans les vieilles generalisations. Quant
au poete sentimental qui est l'autre face de ce poete philosophe^
je pense qu'il a dejä rejoint dans l'ingrate memoire des hommes
les faiseurs de romances du premier Empire, et Reboul, et Du-
paty; ses tendresses sucrees, sirupeuses, sont vaines, en effet, et
cet amant eut sans doute toujours la tete chenue". Cela est
grossier; et, depuis l'etude de G. Paris (1895) jusqu'ä aujour-
d'hui Sully Prudhomme n'a pas ä se plaindre de l'ingrate me-
moire des hommes; mais il est vrai qu'il y a des reserves ä
faire, et Q. Paris les a faites avec une franchise entiere. Nous
regrettons que le poete soit demeure si obstinement fidele ä une
prosodie vieillie; que la precision de son analyse laisse si peu
de place ä la reverie, ä la Suggestion; que sa poesie scientifique,
si hardie d'intention, voisine trop souvent avec la prose; mais
c'est lä la ran(;on de certaines qualites. Dans une lettre inedite,
Sully Prudhomme se jugeait lui-meme en ces termes:
„La fausse modestie m'est aussi odieuse que la vanite, dont eile est
d'ailleurs une forme assez maladroite. Je vous demande si, de bonne foi,.
vous ne trouvez pas meridionalement outrees les epithetes dont use X . . .
ä mon egard (pour ne parier que de lui)? N'est-ce pas evidemment ex-
cessif? Est-il donc etonnant que je ne livre sa lettre qu'avec un peu d'he-
sitation? Si vous etes juste (et, certes, vous l'etes) vous vous mettrez ä
ma place et vous reconnattrez qu'il n'y a pas besoin d'affecter la modestie
pour trahir quelque gene ä evoquer de pareilles lettres des archives de la
flatterie confraternelle. J'ai trop pratique mon art pour n'en pas connaitre
ä la fois les ressources et les difficultes ; je me rends parfaitement compte du
parti que j'ai tire des unes et de la resistance que j'ai rencontree dans les
68S
autres. Nul mieux que moi ne peut mesurer la distance qui separe mon
ceuvre de mon ideal et savoir combien souvent j'ai ete humilie par mon
impuissance aux prises avec mon aspiration. Je sais exactement ce que je
vaux en tant que poete et Ton me fait beaucoup plus de plaisir quand on
analyse mes qualites avec justesse que quand on me loue sans discerne-
ment en bloc. Je n'ignore pas qu'un eloge de confrere ä confrere est, neuf
fois sur dix, un pret usuraire et qu'il est plus facile ä donner qu'ä motiver.
11 faut entendre, ou plutot il faudrait entendre toutes les reserves sour-
noises, toutes les reticences ambigues qui accompagnent cet eloge quand il
n'est pas formule devant celui qui en est gratifie! Et lors meme qu'il
est sincere, peut-on oublier que le goüt litteraire est sujet ä se transformer
du tout au tout en un quart de siecle? Je me rends cette justice que j'ai
accepte toutes les regles de la versification classique, augmentees des re-
centes exigences de l'oreille pour la rime, sans chercher aucune facilite, en
compensation, dans la suppression des hemistiches ni dans les rejets; je
suis tres fier de cela. Je me rends encore cette justice que j'ai tente, sou-
vent avec succes, l'expression des etats d'äme profonds et intimes dans
mes poesies personnelles et que j'ai essaye, mais avec beaucoup moins de
bonheur, l'introduction de la pensee philosophique dans la reverie poetique.
Voilä ce que je revendique tres hautement et avec confiance, mais je ne
me suis pas satisfait moi-meme dans ces entreprises au point de concevoir
de l'orgueil. Je sais oü le bat me blesse. Voilä exactement l'etat de ma
conscience de poete. Je souffrirais d'etre meconnu, je ne sais pas me fe-
Uciter d'etre surfait. Je desire etre simple, mais il devient difficile de l'etre
quand on se sent estime trop au dessous ou trop au dessus de sa valeur . . ."
Laissons passer encore quelques annees. Je serais etonne
si bientot d'autres „jeunes" nesaluaient pas en Sully Prudhomme
un precurseur, non point dans sa forme, mais dans sa pensee
et dans Tambition de sa poesie^).
Pour que ces pages ne depassent pas les limites d'un article,
je me suis borne ä une esquisse du poete, tres incomplete et
pourtant plus malaisee ä faire qu'une longue etude.
L'oeuvre philosophique, qui compte plusieurs volumes, est
de Premier ordre par sa profondeur et sa clarte. Elle n'aboutit
pas ä un „Systeme" proprement dit, puisque Sully Prudhomme
^) G. Paris remarque, avec beaucoup de justesse, que Sully Prudhomme
n'a pas que des symboles ä l'ancienne maniere, c'est ä dire expliques et
peut-etre trop clairs, mais qu'il a aussi des symboles purement suggestifs,
ouvrant le plus lange espace ä l'interpretation ; ainsi Declin d'amour (dans
les Solitudes) ; et il ajoute : „Ne füt-ce qu'ä cause de cette piece, nos sym-
bolistes devraient regarder Sully comme un maitre et un precurseur." Et
voilä precisement, par une psychologie bien connue, la raison principale de
leur animosite. Sully Prudhomme touche ä eux, et les depasse ä certains
egards, mais par une methode toute differente. II ouvre une breche dans
leur Systeme exclusiviste ; <;a ne se pardonne pas. Ce sujet serait ä re-
prendre en detail.
686
n'a jamais voulu „conclure"; dans son ensemble eile n'en a pas
moins une tendance assez nette. Tocs les problemes que le
poete avait affrontes, dejä dans ses breves poesies, puis dans
ses poemes, sont repris ici avec une rigueur et une prudence
toutes scientifiques: l'origine de la vie terrestre, le libre arbitre,
les causes finales, la notion du mystere, les rapports de l'ethique
et de Testhetique, la dignite humaine, le devoir social ... Un
disciple et ami, M. Camille Hemon, a coordonne ces idees en un
livre admirable de clarte et d'impartialite. C'est ä ce livre que
je renvoie mes lecteurs. Ici, je ne veux discuter que la derniere
page de M. Hemon; la voici:
Le drame psychologique qui s'est deroule, sans se denouer, dans sa
conscience n'est guere moins saisissant que ceux d'oü sont sorties des
pages comme Celles de Faust et des Pensees. C'est par lä que l'oeuvre
philosophlque de M. Sully Prudhomme est un veritable Symbole de l'esprit
du siecie oü eile a ete produite. 11 semble que quelque chose meure et
que quelque chose naisse dans notre conscience moderne. Les progres
foudroyants de la connaissance scientifique, en revelant ä la pensee hu-
maine ses ressources, lui ont aussi trace son domaine limit^ hors duquel
ce que la naive imagination des hommes d'autrefois avait reve s'est eva-
noui Sans retour . . . Mais en meme temps que la science nouveüe,
l'ethique des temps nouveaux commence ä poindre, faisant naitre d'im-
menses esperances de justice et de verite — ceci remplacera cela. La tran-
sition s'operera-t-elle sans crise et sans souffrance? NonI La pensee af-
franchie par la logique positiviste garde encore ia nostalgie des mythes
poetiques, des paradis, des credo, de tout ce qui fut pour eile l'Absolu
adore, revere, formule ou figure. La conscience, encore tout impregnee
de la morale chretienne, s'efforce d'en garder tout l'esprit sans les dogmes
et s'etonne de la trouver, cette foi si aimable et si humaine, trop peu con-
forme ä la verite scientifique, base de l'ethique future. Conscience et rai-
son, fideles encore ä leurs habitudes hereditaires, s'evertuent d'un commun
accord ä garder sa poesie au reel, sa divinite ä l'etre, son sens religieux
au devoir; et pour se donner encore l'illusion des certitudes passees en
attendant la certitude ä venir, elles Inventent des paradis point trop sur-
naturels, un Dieu point trop personnel, une poesie point trop mensongere.
Mais la critique denonce les sophismes et les fraudes, ruinant pas ä pas
ces fragiles constructions de reve et de logique pure: chacun de ses de-
mentis coüte une douleur nouvelle au malheureux penseur qui tient par
tous ses instincts au passe, par tout son genie ä l'avenir. Cependant la
vie va son train, faite de compromis et d'affirmations provisoires toujours
legitimes lorsque moralement elles sont bienfaisantes; le philosophe, comme
les autres, „vit avant de savoir le secret de la vie", parce qu'il faut vivre.
II vit bien, il en a la conscience pure et satisfaite, mais il n'en est pas
plus heureux, n'ayant pas la paix intellectuelle. La poesie s'eteint en lui,
non qu'il la trahisse et cesse de lui rendre un culte; mais ce n'est plus le
temps de rever. Et c'est pourquoi, ä l'issue de ce douloureux XlXe siecie,
687
Toeuvre philosophique de M. Sully Prudhomme est bien un Symbole : celui de
l'agonie de la Poesie et de la Foi mystique frappees au coeur par la Science
grandissante."
Je ne sais si M. Hemon maintiendrait aujourd'hui cette con-
clusion ecrite en 1907. Pour moi, je n'ai plus cette confiance
en la „logique positiviste" ; et la „Science grandissante" me sem-
ble etre, chez plusieurs, un Absolu aussi revere et aussi proble-
matique que celui des Credo. Oü sont donc ces „progres fou-
droyants de la connaissance scientifique" ? Je vois bien et j'ad-
mire certaines conquetes: la telegraphie sans fils, l'aeroplane, mais
je n'y vois aucun rapport avec les causes finales; les graphiques
de la Psychologie experimentale sont d'une certaine utilite pra-
tique, mais ils n'ont pas fait avancer la morale d'un seul pas.
Bien plus: chez plusieurs d'entre nous, qui avons ete deterministes,
il y a une reaction spontanee, irresistible, contre le positivisme.
Entendons-nous bien: le nombre et la qualite de ceux qui
reagissent ne prouvent nullement que nous ayons raison, mais
prouvent du moins que la verite scientifique est loin d'etre faite;
en outre: bien que la question morale nous preoccupe vivement,
ce n'est pas le besoin d'une morale-gendarme qui nous pousse
ä reagir; non, notre mentalite est assez scientifique pour accepter
une preuve, quelles qu'en soient les consequences, quand cette
preuve est faite; mais celle du determinisme est encore ä faire.
Nous constatons que le progres moral de l'humanite est du
en partie ä la science, mais davantage encore ä des intuitions
d'un ordre tout different. Ces intuitions n'etaient-elles que des
mythes bienfaisants ? Dans leur forme, sans doute; mais dans
leur fond? cela n'est point encore prouve. Nous constatons en-
core que la Science (si vieille dejä) n'est point en progres cons-
tant; qu'elle a ses erreurs de methode, ses exclusivismes dog-
matiques et souvent ses impasses. Et nous croyons enfin qu'au-
jourd'hui precisement, la science, en tant qu'elle etudie l'homme,
se trouve dans une impasse d'oü il faut la faire sortir; partie
du concept materialiste, eile a, nous semble-t-il, confondu des
phenomenes d'ordres differents et applique aux uns une methode
qui ne convient qu'aux autres. De lä son Information unilaterale,
qui donne l'illusion d'une preuve. Quand la curiosite aura change
d'objet et de methode, eile verra se renouveler des problemes
688
qu'on croyait resolus^). Et ce ne sera ni la premiere fois dans
Thistoire, ni la derniere.
Les positivistes seraient-ils peut-etre genes, ä leur insu, par
une crainte identique ä celle qui paralyse tant de croyants? Ceux-
ci redoutent dans la science, et ceux-lä redoutent dans l'intuition,
une atteinte au Systeme qui fait leur paix interieure. La noblesse
de Sully Prudhomme est precisement de n'avoir jamais recule
devant l'angoisse ; c'est en la traversant qu'il a trouve la serenite.
II nous apprend ä ne pas conclure, ä ne jamais fermer
notre äme ä de nouvelles possibilites, ä distinguer toujours la
science qui prouve de la foi qui cree. Ce n'est pas un recul de
la foi; c'est une ascension, oü, gräce aux progres de la science,
la foi s'ennoblit sans cesse. De ces deux soeurs qui semblent
ennemies, l'aTnee sera-t-elle remplacee jamais par la cadette? Ce
serait, comme dans le Bonheur, la vie figee dans la certitude.
Si l'homme savait, goüterait-il encore la tendresse sacree en bai-
sant les yeux d'une femme et le front d'un enfant? L'amour est
un acte de foi. On peut esperer neanmoins que les deux soeurs,
sans se confondre, se reconcilieront un jour, quand la science
aura enfin reconnu que l'humanite, patiente creatrice de liberte,
trouve dans sa conscience, et non ailleurs, la loi supreme.
L'oeuvre poetique et philosophique de M. Sully Prudhomme
est donc bien un Symbole; non pas de hier seulement, mais de
demain aussi; non pas de l'agonie de la poesie et de la foi,
mais de l'esperance humaine qui sans cesse reprend son envol
de la verite acquise ä la lumiere qu'on devine.
Commentant la parole de Pascal: „Le coeur a ses raisons
que la raison ne connait pas", Sully Prudhomme a dit:
L'esprit fait le savant, le coeur seul fait l'apötre.
Et sans lui le genie est grand sans majeste.
Ne separons jamais ce sens divin de l'autre,
Car on n'a jamais cru ce qu'il a conteste.
(EpavesJ
ZÜRICH E. BOVET
□ OD
^) La psycho-analyse me semble etre un de ces changements d'orien-
tation ; eile en est encore ä ses debuts, souvent perilleux ; mais eile compte
dejä des succes certains, inattendus, gräce ä une methode toute nouvelle.
689
THOMAS MANN:
DER TOD IN VENEDIG
Wie doch jeder Dichter in seinen Wenigen einmal eine Fläche
zum Spiegel poliert, um lächelnd zu beraten, wie viel er
seinem Publikum von sich selbst vorteilbedacht verrate ! Narzissos
vor dem Schreibtische! Solch prüfender Blick überraschte viel-
leicht Thomas Mann mit der produktiven Erkenntnis, dass der
Künstler wahrscheinlich doch nicht Narzissos in ephebenhafter
Schönheit sei, weil die Übung den jedwede Kunst Übenden
lädiert. Hätte Thomas Mann es nicht gewusst, die Pallas Athene
Ovids würde ihn belehrt haben, dass sie die Flöte verrachte,
weil sie das Gesicht verzerrt: Ars mihi non tanti est, valeas
mea tibia!
Nein, der Held dieser Novelle, der Dichter Aschenbach,
ist kein Narzissos, wohl aber das Bild übereinander photo-
graphierter literarischer Zeitgenossen, ein Bild, in dem Thomas
Manns Typus wahrscheinlich seelebestimmend blieb. Der Dichter
unserer Tage! Ikonographisch nicht mehr zu verwechseln mit dem
Byrontypus, dessen eitle Locken alles wiegen, weil der Ruhm
noch keine Locke wiegt; nicht zu verwechseln mit dem Stutzer
Theophile Gautier, dessen rote Weste — seine persönliche
Lizenz, aber nicht die Erlaubnis für die andern war; nicht zu
verwechseln mit dem Revolutionsdichter der Vierziger Jahre, der
in würdig gepflegtem Barte und reckenhafter Statur Parlamente
zieren wollte; nicht zu verwechseln mit dem forschen Realismus-
protzen, der, einen Glimmstengel auf den Lippen und einen er-
lebnisreichen Schlapphut auf scheitellosem Kopfe, sich in der
Rangliste der Gesellschaft vor Verwechslung schützt. Thomas
Manns vorgeschobener Dichter dürfte darin moderner Dichter
sein, dass er seinen Innern Beruf eher in einer neutralen Gesell-
schaftsmaske verbirgt. Ja sogar die Bügel einer Goldbrille schneiden
ihm an der Wurzel der Nase ein ; denn dieser Gustav Aschenbach
empfindet immer Sehnsucht „in den heilig nüchternen Dienst
seines Alltags" zurückzukehren, und da er auf zarten Schultern
viel Talent und Zucht trägt, opfert er wie ein Gelehrter die
stärksten und würdigsten Stunden seines Tages der Arbeit. In-
690
brunstig gewissenhafte Morgenstunden! Ein Narr, der mehr gibt,
als er hat. Aschenbach gibt mehr und wird dadurch gefeierter
Dichter, der früh vom Schreibtische aus repräsentieren lernt. Wir
sind an andere Vergleiche gewohnt: an den Dichter von Gottes
Gnaden, der nur am Baume zu schütteln braucht und die Granat-
äpfel der Poesie sammelt, der den Taktstock anrührt und schon
von den flutenden Stimmungen eines unsichtbaren Orchesters
betört wird. Armer Aschenbach! Du bist ein verzwergter
Flaubert, du gleichst dem heiligen Sebastian in der Kunst. Dein
Schaffen ist eine große Passion, Vortäuschung von Energien.
Man glaubt von der Höhe des zwanzigsten Jahrhunderts herab
ein synthetisches Urteil über die erzählende Literatur unserer
Tage zu hören, wenn man Thomas Manns Kasteiung liest:
„Blickte man hinein in diese erzählte Welt, sah man: die ele-
gante Selbstbeherrschung, die bis zum letzten Augenblick eine
innere Unterhöhlung, den biologischen Zerfall vor den Augen der
Welt verbirgt; die gelbe, sinnlich benachteiligte Hässlichkeit, die
es vermag, ihre schwellende Brust zur reinen Flamme zu entfachen,
ja, sich zur Herrschaft im Reiche der Schönheit aufzuschwingen;
die bleiche Ohnmacht, welche aus den glühenden Tiefen des
Geistes die Kraft holt, ein ganzes übermütiges Volk zu Füßen
des Kreuzes, zu ihren Füßen niederzuwerfen; die liebenswürdige
Haltung im leeren und strengen Dienste der Form; das falsche,
gefährliche Leben, die rasch entnervende Sehnsucht und Kunst
des geborenen Betrügers: betrachtete man all dies Schicksal und
wieviel gleichartiges noch, so konnte man zweifeln, ob es über-
haupt einen andern Heroismus gäbe, als denjenigen der Schwäche . . .
Gustav Aschenbach war der Dichter all derer, die am Rande der
Erschöpfung arbeiten, der Überbürdeten, schon Aufgeriebenen,
sich noch Aufrechterhaltenden, all dieser Moralisten der Leistung,
die, schmächtig von Wuchs und spröde von Mitteln, durch
Willensverzückung und kluge Verwaltung sich wenigstens eine
Zeitlang die Wirkungen der Größe abgewinnen. Ihrer sind viele,
sie sind die Helden des Zeitalters." Erklärt der Dichter der Bud-
denbrooks, der um so vieles lieber die bröckelnde Spitze als die
gesunde Basis einer Pyramide von Geschlechtern schildert, den
eigenen Bankerott? Leichtfertige Kritiker bejahen die Frage, denn
sie vergessen, dass „Königliche Hoheit", „Fiorenza", „der Tod
691
in Venedig" nur dem Gegenteil einer Insolvenzerklärung ähneln.
Vielmehr wird durch dieses Bekenntnis klar, warum Thomas
Mann sich der von ihm geschilderten erschöpften Kultur gegen-
über behaupten kann. Weil er als „Moralist der Leistung" diesem
Aschenbach überlegen ist, der vielleicht sein geistiger Vetter, viel-
leicht ein Herzbruder Hofmannsthals, gewiss aber die Erläuterung
zu Goethes vorzeitigem Signalement unserer Dichter: Forcierte
Talente. — Dieses forcierte Talent stellt Thomas Mann uns vor.
Zu Anfang der Novelle stehen sich drei Gestalten gegen-
über kühl bis ans Herz hinan. Thomas Mann, Aschenbach,
der Leser. Feindliche, aber sachliche Interessenten! Jeder wagt
schließlich einen Schritt! Jetzt ein geheimnisvolles Experiment!
Aschenbach und der Leser haben nur noch einen Blutkreis-
lauf. Der Beherrscher dieses gemeinsamen Lebens ist Thomas
Mann! Auch er schwingt sympathetisch mit. Dann eine kalte
Trennung! Thomas Mann tritt aus dem Schatten seines Hel-
den! Der Leser zieht sich fröstelnd zurück, und Thomas Mann
und der Leser verabschieden sich „respektvoll erschüttert"
bei Aschenbachs Tod! — Eine unaufdringliches Symbolik, die
erst vom Ende der Novelle aus, also retrospektiv erkannt wird,
bestimmt den Charakter der Dichtung. Wie vom Zufall hinge-
pflanzt steht Aschenbach objektiv betrachtend vor einem Friedhofe.
Auf dem betagten Fahrzeug, das seine Reiselust in Venedig be-
ruhigen soll, entsetzt ihn der Anblick eines dem Tode verfallenen
alten Stutzers, der sich mit Schminke und Perücke zum Jüngling
zurückschwindeln will; die Gondel, die ihn in Venedig trägt,
gleicht einer Bahre und düsterem Begräbnis. Venedig selbst,
wieder einmal verseucht, atmet nicht bloß Lagunengeruch, sondern
Karbolduft. In diesem todesschwangeren Bezirk schreitet aber der
mythischen Ferne entrückt Eros mit der lodernden Fackel.
Das zwingt den Wandrer still zu stehen. — Auf einigen Seiten der
zartesten und luxuriösesten, aber zugleich geschmackvollsten
deutschen Prosa, der man mit dem Gedanken an den hundert-
undfünfundsiebzigsten Paragraphen des Strafgesetzbuches Un-
recht tut, schildert Thomas Mann, wie Aschenbach an dem
zarten Gliederspiel und der Eurhythmie eines Knaben alle die
Schönheitsgesetze erfüllter Form mit gieriger Wimper einsaugt
und in inbrünstiglichen Gedanken empfindet. Thomas Mann hat
692
das Erlebnis seines Dichters einzig in ein letzte Formen erken-
nendes Auge verlegt. Kein Wort, kein Dialog baut eine Brücke
zwischen dem Knaben und dem Dichter. Herrliche Augenweide
ist alles. Da Thomas Mann derjenige deutsche Dichter ist,
der alle Physiognomik seit Lavaters Tagen in verfeinerter Prä-
gung eroberte, kann niemanden verwundern, dass hier ein novel-
listisches Wunder geschehen musste. Das silbrige Blau des Äthers,
die wunderbare Landschaftsvedute wird nur angedeutet — um
das Knaben willen, dem sie zur Folie dient; die Sonne leuchtet
bloss, um den Flaum des Rückgrates dieses Knaben zu betonen,
die feine Zeichnung der Rippen, die Kniekehlen mit bläulichen
Geäder, das Haupt dieses Eros von gelblichem Schmelze parischen
Marmors. Im Anblick dieses Bildwerkes überträgt Aschenbach
die Schönheit in den Geist und formt „jene anderthalb Seiten
erlesener Prosa, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühls-
spannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollten.
Es ist sicher gut, dass die Welt nur das schöne Werk, nicht auch
seine Ursprünge, nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn
die Kenntnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung
floß, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wir-
kungen des Vortrefflichen aufheben". Wann wird die zünftige
Literaturgeschichte nicht nur von einem Wilhelm Dilthey, oder
neuestens von O. F. Walzel über Erlebnis und Dichtung sich
belehren lassen sondern auch von einem so tiefen Berater wie
Thomas Mann? Eine exakte Darstellung des Künstlerrausches
schreibt Thomas Mann. Der Leser, verführt durch die hin-
gebungsvolle Wortkunst, taumelt mit, bis er, von robusteren,
gesunderen Sinnen zurückgehalten, entdeckt, dass Aschenbach
mit einer Flamme und einem Abgrunde spielt. Thomas Mann,
der seinen Helden bis zur Preisgabe der Würde — merkwürdig
genut genug bedeutet ein wilder Traum die innere Katastrophe
— begleitet, oder am Narrenseil dieser Passion für den Knaben
führen muss, straft Aschenbach mit der grausamen Pein, dass er,
vor seinem Alter und der physischen Gebrechlichkeit schaudernd,
die letzte Zuflucht in kosmetischen Künsten sucht, um auch sich
zu verjüngen. Aber eine Coiffeurbude im Sonnenglast Venedigs
ist kein Lukas Kranachscher Verjüngungsbrunnen. Was Hans Sachs
so männlich hinnimmt:
693
Kain Kraut auf erd ist gewachsen
Heint zu verjüngen mich, Hans Sachsen
will Aschenbach betört leugnen. Ein haltungsloser Zusammen-
bruch! Der Gebrochene erkennt in dem Eros, der im Sande
spielt und von einem Partner unterjocht wird, auf einmal — Tha-
nathos mit der gesenkten Fackel.
Eine kurze Strecke vor dem Ende hat Thomas Mann ihn
noch bemitleidet, am Schlüsse sich von ihm so weit entfernt
wie der Leser, der — sei es, weil es sich um eine staatlich nicht
konzessionierte Dosis Erotik handelt, sei es aus Neugier an der
pathologischen Erscheinung — den Niedergang miterlebt. Welch ein
Ende! Man streift es, wenn möglich, nur mit einem Wort, etwa
jenem kalten Satze: „Desselben Tages empfing eine respektvoll
erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode." Und wirk-
lich, die vielen Aschenbachs müssen an die eigene Brust schlagen,
wenn sie sich fragen, warum es keine begeisterten Zeiten mehr
gebe wie jene, da in Missolunghi eine Batterie mit siebenund-
dreißig Kanonenschüssen dem Schmerz über den Verlust des
siebenunddreißigjährigen Lebens Lord Byrons Rechnung trug.
Wenn Thomas Manns Novelle ein Methusalemsalter der
Wirkung erreichen könnte, würde sie wahrscheinlich als ein lite-
rarisches Kulturdokument gelten. Jetzt aber bedeutet sie in ihrer
Liebe zur Wahrheit, in ihrem Mut und Takt, in ihrer erfüllten
Form — ein Ergebnis der vornehmsten deutschen Erzählerkunst.
ZÜRICH EDUARD KORRODl
DDD
IRDISCHES GLÜCK
Ich bin ein Mensch, dem keinen Tag das Glück
Ununterbrochnen Stromes zugeflossen.
Was immer ich an Freuden auch genossen,
Sie ließen mich am End' allein zurück.
Es gibt kein Glück, es war' nicht bald zergangen ;
So licht die Blume glänzt, so welkt sie doch.
Besinne dich, mein Herz. Was willst du noch
Nach dieses Lebens falschem Glück verlangen ?
Übertragungen von Walther von der Vogelweide
: Max Nussberger :
(Frauenfeld, Huber & Co.)
naa
694
SCHMUTZ
Es braucht so wenig, um in Misskredit zu l<ommen. Am
leichtesten und verzerrtesten aber kommen natürliche Dinge in
Verruf.
Der Schmutz zum Beispiel.
Stammt nicht aller sogenannter Schmutz von Mutter Erde?
Und die ehren wir doch, weil wir samt und sonders aus ihr er-
blüht sind, nicht nur die Pflanzen. Weil wir ihre Söhne sind, so
gut wie der Riese Antäus, den Herkules nur besiegen konnte, als
er ihm die Füße von der kräftespendenden Mutter löste und hoch
in der Luft die Knochen zerdrückte.
Es ist kein Bild, sondern eine wörtliche Wirklichkeit, wenn
der Heimgekehrte aus dem Schiffe sprang und die Erde seiner
Heimat küsste.
Die selbe Erde, die, millimeterbreit unter seinen Fingernägeln,
ihn aus der Gemeinschaft der Gebildeten und der Wohlanständigen
unnachsichtlich ausschloss.
Nichts schöneres, als wenn die reiche Haarflut der Geliebten
durch schmeichelnde Finger gleitet. Ein einzelnes Haar der selben
Geliebten aber in deiner Suppe, mein Freund — und du sprichst
von Schmutz und Ekel. Wie sonderbar, dass ein Singular die
ästhetische Schätzung des Plural so grimmig soll wandeln können.
Müssen wir da nicht in unsere ästhetischen Werturteile miss-
trauisch werden?
Kinder haben noch ein natürliches Verhältnis zur Erde, zum
Schmutz, wenn Sie wollen. Eltern nicht mehr. Daher die seit
Jahrtausenden bestehende Divergenz zwischen beiden wegen Hals
und Hand und Seife.
Einmal spielten Kinder mit dem Schmutz am Dorfweg.
„Was macht ihr da, meine Kinder," sagte der Pfarrer und
blieb stehen.
„Eine Kirche, Hochwürden."
„So, so. Aber da fehlt ja noch der Pfarrer?"
„Ja, da hat uns der Dreck nimmer g'Iangt dazu," sagten
die Kinder treuherzig.
Das sind leider die gleichen Kinder, die, einmal von den
Reinlichkeitsfanatismen der Schulen und der Konvention durch-
695
tränkt, sich zu jenen grässlichen Haus- und Scheuerfrauen aus-
wachsen können, deren maniakalische Seifenströme und ewige
Staubwedel rücksichtslos das gemütliche Heim zerwaschen und
zerstauben.
Es gibt eine aufdringliche Reinlichkeit, die schlimmer ist als
ein verstaubter Hemdkragen. Aller Fanatismus ist eine Qual. Der
Reinlichkeitsfanatismus mancher Frauen aber ist ein Unglück. Die
ungetreue Frau ist auch eines, gewiss. Gegen sie aber kann man
sich wehren. Sogar zur tragischen Größe mag der Mann daran
emporwachsen. Was vermag er jedoch gegen den rohen frau-
lichen Fliegenwedel auszurichten, der ihm zu jeder Stunde über
seine Papiere und seinen Schreibtisch fährt? Hilflos steht er vor
den Fluten des epidemischen Reinemachens.
Mit dem hochnäsigen Anspruch eines ersten Kulturträgers
tritt der Reinlichkeitseifer auf. Der geringste Versuch, ihn in Maß
und Ziel zu dämmen, wird einem mitleidig als Minderwertigkeit
ausgedeutet. Viel mehr Menschen leiden darunter, als man glaubt.
Haben Sie schon solche blitzblanken Heimstätten betreten? Freund-
lich sind sie nicht. Der Geist der Wohnlichkeit wird täglich
wütend weggescheuert und abgeschruppt. Gejagt wird er — im
Zimmer herum, den Gang entlang, die Treppe hinab, zur Tür
hinaus. Bitte, das ist nicht komisch, sondern traurig.
Absonderliche Wege geht dieser Hyperkultus. Ein adeliger
Assessor war in drei Dutzend Vorträgen, die ich an seiner Seite
anhören musste, intensiv damit beschäftigt, 35 von den akademi-
schen 45 Minuten eines Vortrages seine Fingernägel unermüdlich
zu beschneiden, zu plätten, zu polieren. Und das war nicht etwa
ein Trottel, sondern ein intelligenter Mann. Aber sein Reinlich-
keitsbazillus hatte die Hemmungen einer gesunden Unbekümmert-
heit um das Drum und Dran überwuchert und fing an, seinen
Lebensinhalt in einer krampfhaften steten Sorge um blanke Finger-
nägel zu zerreiben.
Ich habe mich von ihm dadurch erholt, dass ich eine Zeit
lang einem braunen Italiener vor der Hochschule zusah, wie er
in schmutzigen Hosen, verstaubtem Gesicht und zerarbeiteten
Händen seine Steine klopfte. Richtig erfrischend war das.
Ich weiß wohl: derselbe Italiener wird nach einigen Jahren
deutschen Reinlichkeitseinflusses am Sonntag früh mit sauber
696
glänzendem Scheitel auf der Bank vor seinem Hause sitzen. Seine
Baci<en werden brennen von fanatischen Abreibungen. Ein blitzen-
der Stehkragen und ein knitterndes Weißblech vor der Brust
werden ihn vollends verhunzen. Schade.
Das russige Gewand des Kaminkehrers galt sonst als Ehren-
kleid. Auf dem Neubau vor meinem Hause stehen verstaubte
Gestalten. Schmutz rundum und auf den Gesichtern. Mutter
Erde hat sie bei ihrer Arbeit liebkost, hat ihnen Grüße zugespritzt.
Wie aus der Erde geblüht, stehen sie da. Auch dem Waldpilz,
der aus dem Boden bricht, haften Teile der Mutter an. Die
schmutzigen Arbeiter schämen sich nicht, und der unverbildete
Mensch sieht sie mit innigem Behagen. Der sauber gestrigelte
Plebejer freilich hat das unbezwingliche Verlangen, mit Seife und
Bürsten . . . Die Halb und Halben sagen immerhin, sie seien
malerisch. Jedoch die Hand mögen sie ihnen nicht geben,
Wir haben uns ästhetisch verbiegen lassen in allem, was wir
Schmutz heißen. Hätten sonst unsere Fräulein und Herrlein ein
Grauen, die Arbeiterhand zu fassen, an der die graue Erde in
unauslöschlichen Rinnsälchen sich festgesetzt hat? Dann und wann
habe ich bei offiziellen Arbeiterjubiläen die rauschende Gemahlin
des Direktors oder sein verlegenes Töchterlein dennoch solche
Hände fassen sehen, weil's im Programm so stand — „generös-
halber", sagt der Bruder Österreicher. Dass sie aber hinterher
die eigene Hand am Taschentuch wischen, hat wirklichen und
dauernden Ekel verursacht. Der freilich mit jenem Ekel nichts
zu tun hat, vor dem man sich mit Handschuhen schützen kann.
Die Erdflucht hat man in Schmutzflucht umgetauft. Die
Degeneration ist aber bloß bemäntelt. Die Erdständigkeit in jedem
Sinn verloren hat der Großstädter. Ergötzlich ist es, wie mancher
staubige Spuren auf seiner Gewandung mit Entsetzen entdeckt.
Kommt's öfter vor, so setzt es ihn den Augen seiner Umwelt
mehr herab, als wenn die selbe Umwelt ihn am hellen Tage in
dem wirklichen Schmutz schlechter Häuser ein- und aus-
gehen sähe.
Ist es nicht seltsam, moralischen Schmutz vereinbarungsge-
mäß nicht zu sehen? Dazu hat sich die Gesellschaft ebenso ver-
schworen, als sie empfindlich ist gegen das äußere Gewand. Und
697
was für Männer laufen heute oft mit der tadellosesten weißen
Weste herum?
Die schlechtesten und die flachsten Menschen habe ich immer
unter den blankgeputzten Leuten gefunden. Mit einer augen-
zwinkernden mitleidigen Verachtung belästigen diese Oberflächler
den Unbekümmerten. Die glänzenden Gesichter gewisser Reise-
onkels sehen aus, als seien sie bis zur ewigen Röte blank gerieben.
Sie flößen mir kein Vertrauen mehr ein, seitdem ich ihre Männer-
gespräche am Wirtstisch mit angehört habe. Welcher Schmutz
sprudelte da aus ihren glatten Gesichtern. Was für kaltnasige
Lumpen kann man gerade unter dem Geschlecht der besorgten
Oberflächler, der brillanten Hemdkrägler und blähenden Ober-
hemdler entdecken. Die abgefeimtesten Hochstapler machen sich
unser Vorurteil zu Nutze, von der äußeren Reinlichkeit auf die
innere Anständigkeit zu schließen.
Kinder, deren junges Leben von reichen Eltern in die be-
sorgteste Reinlichkeit eingekapselt wird, schätzen diesen Vorzug
nicht. Es war kein Witz, dass sich ein solches Kind zu seinem
Geburtstag wünschte, ein einziges mal mit bloßen Füßen durch
den Straßenschlamm waten zu dürfen.
Selten nur noch bricht beim Erwachsenen der alte Erd-
instinkt durch. Der Kulturmensch, über Land von einem Insekt
gestochen, lässt sich vom Hüterjungen mit staunendem Wohlge-
fallen eine Erdschmutzschicht auf die schmerzende Stelle legen.
Wie das kühlt. Mutter Erde saugt allerlei Gift aus wunden
Stellen.
Es muss so ganz sinnlos nicht sein, wenn wilde Stämme
ihren Körper täglich mit Erde reiben. Es ist sicher gesünder,
als ihn mit künstlichen Schminken, Salben und Farben zu be-
decken. Und ob ihnen das Erdessen nicht bekömmlicher ist, als
den Mägen unserer Kulturmenschen die Gänseleberpastete?
Sie lebten in Erdhöhlen — wird uns mit Gruseln von den
Vorfahren berichtet. Aber unsere Kinder, in denen noch erstaun-
lich alte Instinkte lebendig sind, bauen sich mit heimlichem Be-
hagen versteckte Gelasse in die Erde und in felsige Spalten, sitzen
und erzählen darin lange Geschichten, die in ihnen aus dem Blut
ihrer fernen Mütter und Väter wach sind, und tauschten nicht
gegen das stillvollste Gemach. Und dann: wandern Sie doch
698
durch die Wohnungen des Hast End in London, darauf durch
Calabrien, wo der unbelehrbare Süditaliener noch in solchen Erd-
höhlen haust, und dann sagen Sie ehrlich, wer besser dran ist.
Dem Taglöhner Sextl in Partenkirchen hatte die Gemeinde
als „Zug'roasten" die Wohnung verweigert. Wohin mit acht Kin-
dern? Im Wald irgendwo stellte er ein Stückel Zaun auf und
davor eine Tür von einem verlassenen Bau. Salve ! stand darauf.
Und wenn die Familie Sextl sie aufklinkte, war sie in ihrer Woh-
nung und auf ihrer Erde.
Breit und behaglich liegt das Haus in der Kaide. Hier hat
die Erde geatmet und mit dem Haus ein Brüstlein gebildet. Auf
dem Dach, über das noch täglich streuend die Haide läuft, liegt
die gleiche Erde, aus der sich das Häuslein bescheiden und leise
atmend aufreckt. Was ist dagegen ein sauber geschlecktes Stadt-
haus mit seiner kalten Eisenblechhaut, die ihm eng auf dem Kopf
sitzt, wie ein charakterloser Steifhut ohne Rand. Es hat keine
Verwandtschaft und keine Ehrlichkeit gegenüber dem Boden, auf dem
es steht. Mit der gleichen erkältenden Sauberkeit schießt es als
Hotel aus dem Pyramidensand wie als Wohnpalast aus dem Seine-
strand. Mutter Erde will nichts zu tun haben mit dieser blitz-
blanken Charakterlosigkeit und verkriecht sich auf hundert Meter
im Geviert unter das harte Pflaster.
Es gibt nordische Kulturmenschen, die sich in Neapel nur
über Schmutz entrüsten. Sie kommen nach Hause und resümieren
auf alle Fragen: „ich sage Ihnen, einen Schmutz hat es in dem
Italien . . ." Sagte ihnen einer: Schmutz, von der Sonne be-
schienen, von fröhlichen Augen gesehen, sei nichts schlimmes —
sie verstünden ihn nicht.
Auf einer Studienreise nach Neapel empfingen uns die „pre-
sidenti" verschiedener Korporationen — einer hatte lustige Löcher
in den weißbaumwollenen Handschuhen — im Palast der Handels-
kammer. Mit Rücksicht auf uns Deutsche hatten sich tags zuvor
durch das Haus gewaltige Wasserfluten ergossen. Seit undenk-
lichen Zeiten war das nicht mehr geschehen. Aber ich muss auf
die Gefahr eines Missverständnisses ehrlich gestehen: mir hat es
vor der gewaltsamen Reinigung besser gefallen.
Was haben die verwöhnten W. C. Menschen Rom verlästert.
Die Straßen seien schmutzig. Unerträglich sei der Lärm der Ver-
699
käufer. Ein Skandal die farbigen Fetzen der strolchenden Buben.
Heute nun ist die ewige Stadt modern und reinlich geworden.
Keine Verkäufer mehr auf den Straßen. Und die Jungens haben
Kragen und an den Beinen Ofenröhren. Und der Erfolg? Betrübt
steht der Romfreund vor dieser Zivilisation. Es ist sein geliebtes
Rom nicht mehr. An Menschen muss er denken, die ihren letzten
Wert wegwarfen, als man ihnen glücklich die „schlechten" Quali-
täten abgestreift hatte.
In der Hofkirche zu Insbruck war eine neue Putzfrau einge-
zogen. Missbilligend sah sie die Jahrhundertpatina an den wunder-
vollen Fürstenstatuen. Dreck ist Dreck, dachte sie, und hatte sie
über Nacht blank gescheuert.
Solche Putzfrauen, männliche und weibliche, gibt's bis in die
höchsten Stände^). Ich erkenne sie an der anmaßlichen Wichtig-
keit, womit sie wie hypnotisiert auf ein armseliges Stäubchen auf
meinem Rocke blinzeln und gehe ihnen aus dem Wege.
Wenn sie englisch können, sagen sie mit einem heuchleri-
schen Augenaufschlag „Cleanliness next to godliness" und be-
haupten, die Kultur eines Landes ließe sich an dem Seifenverbrauch
ermessen. Wie eng muss ihr Kulturbegriff sein. Er wird sich
und sie erschöpfen, wenn er von ihnen verlangt, dass sie sich
zwölf- bis fünfzehnmal täglich die Hände waschen. Sind sie nicht
fortwährend auf der Flucht vor einer noch so dünnen, ehrlichen
Staubschicht auf ihren Händen?
Und dann sollen sich die verbissenen Reinlichkeitsapostel
gesagt sein lassen, dass es eine absolute Reinlichkeit gar nicht
gibt. Ein Blick mit dem Mikroskop auf die „abgeschruppteste"
Hautfläche wird ihnen das Relative aller Reinlichkeit beweisen.
Was für ein Wahnsinn der sogenannten Reinlichkeit hat die
Damen und Herren unserer Gesellschaft ergriffen, die so reichlich
Zeit haben, dass sie ein Heer von Maniküren, Pediküren und,
was weiß ich noch, in Atem und Nahrung setzen.
Dann und wann wird diesen Selbstgerechten eine blitzende
Abfuhr.
') Sie sitzen massenhaft in Zürcher Staats- und Kirchenbehörden, in
unsern Zunftvorständen; Beweis: die stolzen Renovationen, mit denen man
die Stadt verschandelt. a. b.
700
Ein Freund besuchte Rousseau. Der war nicht zu Hause.
Aber ein staubiges Buch lag auf dem Tische. „Cochon!" schrieb
der Freund in den Staub. Andern Tags trafen sie sich. „Ich
habe dich gestern zu Hause verfehlt, lieber Rousseau." — „Ja»
ja, weiß schon, du hast ja deine Visitenkarte da gelassen."
Und was nicht ist diesen Blankgeriebenen schon Schmutz?
Auch das Natürlichste.
In einem einsamen Gasthause vor den Toren Genuas fand
einer aus diesem Geschlecht die Retirade nicht. „Dove," sagte
er endlich errötend mit Hilfe des Wörterbuches, „dove sono
i cessi?" Die freundlich-resolute Wirtin führte ihn vor die Türe
und erklärte mit einer umfassenden Handbewegung gegen das
Flachland : „Tutta la campagna, Signore." — Jahrelang hallte die
Entrüstung darüber in den Reden dieses Italienfahrers.
Einmal fuhr ich über den Brenner. Zwei lustige deutsche
Lehrerinnen waren im Abteil mit mir. Des fröhlichen Fragens
war kein Ende, fuhren sie doch zum erstenmale nach dem Süden.
Als die ersten italienischen Namen kamen — wie oft fuhren da
die neugierigen Köpflein durch's Fenster.
„Und wo sind wir jetzt?" ging's immerzu.
Nun sind da drunten die Stationsnamen so klein und be-
scheiden, die Aufschriften vor stillen Örtlichkeiten aber leuchten
mit riesigen Lettern. Was Wunder, dass da die andere sagte:
„In Cessi sind wir jetzt."
Ich sollte auf der Landkarte suchen helfen. Da hielt der
Zug wieder.
„Aber da sind wir ja schon wieder in Cessi," riefen sie ver-
wundert aus und — begriffen. Aber anstatt dass wir zu dritt
fröhlich hätten lachen dürfen über das Missverständnis, drückten
sie sich peinlich beruht in die Ecke und schwiegen drei Stunden
lang bis Verona.
Da war eine berühmte Wiener Schauspielerin aus anderem
Holz. Die kaiserliche Gesellschaft hatte sie zu einer Wagenfahrt
durch die Wälder eingeladen.
„Lassen's halten, Majestät," sagte sie, „ich komm' gleich,
wieder."
Als wiederkam — verlegenes Schweigen.
70i
„Aber, meine Herren," brach sie den Bann, „ich hab' doch
g'hört, die Naturalien seien keine Schand'." Naturalia non sunt
turpia, meinte sie.
Und doch ist schon manches besser geworden auf den Grenz-
gebieten zwischen Natur und Ästhetik. Heute wäre es nicht mehr
möglich, dass der Generaldirektor einer großen Bahn, wie der
französischen Ostbahn, auf den Antrag in der Generalversammlung,
W. C.'s in die Eisenbahnwagen einzubauen, entrüstet erklärte:
„Des cochonneries comme ?a dans mes Waggons — jamais!"
Schön, sagt ihr, das wäre die Ästhetik, wo aber bleibt die
Hygiene? Hygiene, ja, ich weiß schon, die ungewaschensten
Mäuler wälzen jetzt anmaßlich dies Fremdwort. So spitz und
feindselig sprechen sie's aus, wie ein Oberlehrer, wenn er von
„Pflicht" spricht.
Unser Fremdenführer in Pompeji sagte am Morgen :
„Trinken Sie kein Wasser hier, meine Herren, es ist gesund-
heitsschädlich." Und nachmittags:
„Essen Sie um Gotteswillen keine Früchte hier, ohne dass
Sie sie mit Wasser abgewaschen haben."
Sie kennen den zarten Flaum, der auf Frühfrüchten liegt?
Nur rohe Menschen waschen ihn weg.
Seitdem Pettenkofer in München mit seinem Assistenten ver-
gnügt und ungestraft ein Butterbrot mit einer Reinkultur von
hunderttausend Cholerabazillen bestrich und zum Frühstück aß,
habe ich ohne Schaden die meisten hygienischen aufdringlichen
Angstregeln von mir fort nach Pompeji gehen heißen.
Strömen nicht mit jedem Atemzug Millionen Bakterien in
unser Inneres, die wir vielleicht nötig haben zum Leben? Die Leute
mit der epidemischen Schmutz- und Bakterienfurcht sollten sich
unter eine Glasglocke stellen lassen von Geburt an und da selig
sterben.
Als kleiner Junge hatte ich am Abend eine mühsame Schön-
schrift den Eltern vorgelegt und war, ohne das sichere Lob ab-
zuwarten, ins Bettlein geschlüpft. Stolz gab ich die Arbeit andern
Tags dem Lehrer. Der entfaltete das Heft, hob es hoch und
frug die Klasse: „Was hat der Müller im Schönschreibheft?" —
702
„Einen Schmutzflecken, einen großen, einen runden," riefen die
unbarmherzigen Münchner Kindel. Erschrocken sah ich in meinem
Heft, dass ein großer Tropfen die Schrift verwischt hatte und
rannte nach der Schule schwermütig zu den Eltern. Sie hatten
verweinte Augen gehabt gestern, fiel mir noch ein.
„Da, da, das habt Ihr gemacht gestern Abend!"
Was das nur war? Vater und Mutter neigten vor dem
Rechenschaft fordernden Söhnlein den Kopf, blickten sich lange
und still an — goldig sah ich's im Mutterauge blinken . . .
Keine schönere Erinnerung habe ich von meinen Eltern, als
diesen großen, runden Schmutzflecken In meinem Schönschreib-
heft. Darum allein könnte ich dem Schmutz gut sein. Und nun
wollte ich Euch noch bitten, Ihr Allzureinlichen:
Wie, wenn Ihr dem sogenannten Schmutz in Zukunft weniger
gram sein wolltet?
CANNERO FRITZ MÜLLER
DDD
KUNSTNACHRICHTEN
OFFENER BRIEF AN HERRN HANS FRIEDRICH IN MÜNCHEN
Wenn Sie jetzt nach Zürich kämen, Herr Doktor, könnten Sie dort
im Kunsthaus die Bilder eines Sammlers sehen, der, seit es eine neue
Schweizer Kunst gibt, zusammengerafft hat, was ihm am wertvollsten schien,
und uns nun gestattet, in einem Blick zu erfassen, was wir im Laufe langer
Jahre haben werden sehen. Ich bin überzeugt, Sie würden gleich die gute
Haltung verlieren über den vielen Künstlern, die nicht zeichnen können, die
noch faulere Herren sind als Hodler, die von Perspektive keine Ahnung
haben, und sie würden nicht nur die Schweizer Künstler, sondern die ganze
Bevölkerung für wahnsinnig erklären, dass sie einen solchen Unfug duldet.
Wenn Sie sich dann die Hitze weggeschimpft hätten — ich weiß zwar nicht,
ob Sie das mündlich so gut können wie schriftlich — , möchte ich Sie gern
am Arm nehmen und Sie auf ein paar Kleinigkeiten aufmerksam machen,
wozu mir diese Ausstellung die beste Gelegenheit böte.
Ich würde Ihnen zeigen, dass Hodler vor allem, aber auch Giovanni
Giacometti, Amiet und die andern eine Entwicklung durchgemacht haben,
die nie stille stand. Sie gehörten nie zu den Leuten, die jeden Tag auf
der Kurpromenade auf und ab gehen, die höchstens die Wege aufsuchen,
die ihnen Bädecker beschreibt; allezeit durstig nach Neuland drangen sie
in Schluchten, die noch keines Menschen Fuß betrat, strebten sie nach
Gipfeln, die noch keiner bestieg. Und wenn ein Kurpromenademensch
rief: der Weg ist falsch, nirgends steht er vorgezeichnet; sie blieben unbe-
703
kümmert. Und wenn mancher fürchtete, sie könnten sich versteigen oder
fallen: auf einmal standen sie oben auf sonniger Höhe. Dass aber diese
Künstler nie ein faustisch: Verweile doch, Du bist so schön, sagten, das
bringt sie uns menschlich nahe und dürfte jeden, der über sie schreiben
will, veranlassen, sich vorerst ernsthaft mit ihnen abzugeben.
Wenn Sie das getan hätten, Herr Doktor, müssten Sie wissen, dass
diese Künstler in jungen Jahren auch im Sinn der Kurpromenademenschen
gut zeichnen konnten; Hodler beweist es im „Gebet", Amiet in der „Hoff-
nung", Giacometti im „Segantini auf dem Totenbette". Und wenn sie das
heute nicht mehr tun, so müssen Sie, wenn Sie gerecht sein wollen, neben
der Möglichkeit, dass trottelhafte Kritiker und Käufer betrogen werden
sollen, die andere Möglichkeit gelten lassen, dass das Streben nach neuen
Harmonien, Rhythmen und andern Ausdrucksmitteln die Veranlassung sein
konnte, auf die Mittel zu billigen Erfolgen zu verzichten. Und hier glaube
ich den Punkt gekommen, wo wir uns sehr schwer verständigen werden.
Ich muss Sie bitten, anzunehmen, dass ich zu dem Schlüsse gekommen
sei, Ihre Einsichten in das Wesen des Kunstwerks seien äußerst gering.
Sonst wäre es ja gar nicht möglich, dass Sie die bemalten Leinwandstücke
von Joseph Clemens Kaufmann für Bilder, für Kunstwerke erklärten, die
doch nur schlechte Surrogate für farbige Photographien sind. Farbige und
lineare Komposition, Vereinfachung und Vereinheitlichung der Form um
Bildhaftigkeit und Ausdruck zu steigern, gleichmäßige Durchführung einer
persönlichen Technik, alles, alles, was einem Kunstwerk Reichtum an Ideen
und Kraft an Gefühlen gibt, fehlt den Malereien Kaufmanns ganz und gar.
Durch ihre Unpersönlichkeit und Problemlosigkeit kennzeichnen sie sich
als Dilettantenwerk, und nur ein Dilettant kann diesen werktätigen Hass
gegen alle Künstler, die etwas leisten, aufbringen. Von allen guten Malern
der Vergangenheit ist er ebenso weit entfernt wie von Hodler; das kann
niemand entgehen, der sich je ernsthaft mit Fragen der Kunst befasst hat.
Und darum ist es auch ganz überflüßig, Herr Doktor, wenn Sie am Ende
Ihres Schriftchens betonen, dass Sie aufgehört haben, die neuere französi-
sche Kunst noch ernst zu nehmen; Sie haben durch ihre Stellung zu Kauf-
mann Ihren Mangel an Einsicht genügend bewiesen.
Vielleicht wäre es für Ihre Erziehung vorteilhaft, wenn Sie Verstand
und Einfühlungsvermögen an Künstlern betätigen würden, die dem verbil-
deten Laien noch ferner stehen als Hodler; ich denke hier nicht einmal an
die Kubisten, sondern an Leute, die alles aus der Arabeske aufbauen, wie
Huber, Kündig und andere. Auf dem Rückweg könnten Ihnen dann sehr
lehrreiche Dinge begegnen.
So sehr es die Pflicht des Kritikers ist, den Kurpromenadenmenschen,
die Künstlertum vortäuschen wollen, ihre Glorie zu entreißen, so sehr ist
es seine Pflicht, den Forschern zu folgen, ihre Anstrengung nachzufühlen.
Das Alte beloben, das Neue beschimpfen und beides nicht verstehen, das
kann der Philister auch. Und wenn Sie auch Verse machen, Herr Doktor,
die Unmöglichkeit, sich in das Gefühlsmäßige der Malerei einzufühlen»,
macht Sie hier zum vollkommenen Philister.
ZÜRICH ALBERT BAUR
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
704
VEREINTE KRÄFTE
Mit dem letzten Hefte unseres sechsten Jahrgangs bringen
wir unseren Freunden eine glückh'che Nachricht.
Als im Jahre 1907 der Verein Wissen und Leben gegründet
wurde, gab es bereits in Bern eine gute Zeitschrift, die Berner
Rundschau, an die wir uns gern direkt angeschlossen hätten.
Unser Programm war jedoch auf ganz bestimmten Grundsätzen
aufgebaut, betonte in erster Linie die schweizerische Politik,
soziale Fragen, philosophische Probleme, in einem Worte die
Verbindung von Wissen und Leben, während die Berner Rund-
schau sich fast ausschließlich mit Dichtung und Kunst beschäftigte.
So mussten wir ein neues Organ schaffen ; nur ungern, da wir ja
nach dem Zusammenschluss der geistigen Kräfte in der Schweiz
strebten.
Unser Land ist so klein (und dazu noch in vier Sprachgebiete
geteilt), dass mehrere Zeitschriften nebeneinander sich stets ge-
fährden und schaden müssen; immer werden sie mehr einzelnen
Landesteilen als der ganzen Schweiz dienen. Und dabei gewinnen
nur die ausländischen Zeitschriften, die bei ihrem großen Absatz-
gebiet leicht noch die kleine Schweiz mitnehmen; sie ziehen
unsere besten Schriftsteller zu sich herüber, kümmern sich jedoch
705
herzlich wenig um schweizerische Fragen, wenn sie ihnen nicht
als Mittel zur Reklame dienen. So wird allmählig der Gedanken-
umsatz in unserm Lande geschwächt und manche Kraft unserem
nationalen Leben entfremdet. In der berüchtigten Fremdenfrage
gründet nichts so tief wie diese Tatsache, wird sie auch am
allerwenigsten erkannt. Man verwahrt sich bloß mit Worten gegen
die Fremden und meistens nur auf wirtschaftlichem Gebiete, und
man sieht nicht ein, dass wir auf geistigem Gebiete mit vereinter
Tatkraft vorgehen müssen. Weil diese höhere Einsicht und diese
geistige Einheit fehlen, lässt sich auch der Einzelne so leicht vom
Auslande anlocken. Ich möchte nächstens unsern Lesern einige
Erfahrungen mitteilen, die ich während der sechs Jahre unseres
Bestehens in dieser Hinsicht gemacht habe.
Mit der Berner Rundschau (seit 1910 Die Alpen) in Wett-
streit zu treten war mir um so peinlicher, als deren Gründer,
Herr F. O. Schmid, und viele Berner Freunde die oben ausge-
sprochenen Überzeugungen und Befürchtungen mit mir teilten.
Nun ist Herr F. O. Schmid wegen starker anderweitiger In-
anspruchnahme zum Entschlüsse gekommen, seine Zeitschrift
aufzugeben. Statt sie einfach eingehen zu lassen, schlug er mir
vor, sie in irgend einer Weise mit Wissen und Leben zu ver-
einigen. Ich bin ihm für die offene Aussprache und für sein
echt schweizerisches Entgegenkommen von Herzen dankbar. Eben-
so sind die Unterhandlungen mit dem derzeitigen Redaktor der
Alpen, Herrn Dr. Bloesch, und mit deren Verleger, Herrn Dr.
Grünau in freundschaftlicher Weise sehr rasch zu einem guten
Ende geführt worden. Es war eine Freude, sich mit gleichge-
sinnten Landsleuten zu einem gleichen Ziel zu vereinigen.
Vom ersten Oktober an tritt also Wissen und Leben in eine
neue Periode seines Lebens ein. Herr Rascher in Zürich und
Herr Dr. Grünau in Bern teilen sich nach besonderen Ab-
machungen in den Verlag; Herr Dr. Hans Bloesch tritt in die
706
Redaktion ein, deren Leiter Herr Dr. Albert Baur bleibt. Herr
F. O. Schmid wird sich, so bald er wieder etwas freie Zeit hat,
als Mitarbeiter beteiligen; und da wir unseren jetzigen Geschäfts-
ausschuss zu einem Vorstand zu erweitern haben ^), werden Herr
F. O. Schmid und einige Berner Freunde hoffentlich auch im
Vorstande unserer Sache ihre Kräfte widmen. Nächstens soll
auch eine Berner Gruppe von Wissen und Leben entstehen, so
dass wir in unserem nationalen Programm um einen tüchtigen
Schritt vorwärts kommen.
Der Charakter unserer Zeitschrift bleibt der selbe ; wir werden
uns jedoch bestreben, unsere Mitteilungen über Schrifttum, Bücher,
Theater und Musik planmäßig weiter auszubauen. Mit jeder
Besserung unserer Finanzen wird auch eine Bereicherung der
Zeitschrift eintreten.
Bei Beginn des siebenten Jahrganges bitten wir unsere Leser,
für die vereinigte Zeitschrift neue Freunde und Anhänger zu
werben. '
Dem Herausgeber, dem Redaktor und dem Verleger der
Alpen danke ich nochmals von Herzen. Wo Bern und Zürich
mit vereinten Kräften arbeiten, werden andere mithelfen, und dann
kann der Sieg nicht ausbleiben. Wir müssen in der Schweiz zur
Einsicht kommen, dass die größte Gefahr für uns nicht etwa in
der „bösen Absicht" eines Nachbarn liegt, sondern einzig und
allein in unserer eigenen Zersplitterung. „Kantönligeist" heißt der
Todfeind unserer nationalen Entwicklung; nur im Streben nach
immer stärker geschlossener Kraft des ganzen Landes kann unser
Heil liegen.
LAUSANNE E. BOVET
ODD
1) § 6 der Statuten : Der Vorstand besteht aus ... 14 bis 20 Mit-
gliedern, welche möglichst aus den verschiedenen Landesgegenden der
Schweiz zu wählen sind.
707
/'?
DAS EINE UND DAS ANDERE ICH
NOVELLE VON HEINRICH ADOLF GRIMM
Doktor Hans Christoph Sterngassen, der nach größeren
Studienreisen in die Stadt seiner Väter, die Generationen hindurch
immer das Amt eines Richters innehatten, zurückkehrte, war in
den Augen seiner Mitbürger eine eigenartige Persönlichkeit. In
den ersten Jahren hatte man ihn seiner Schrullen wegen verlacht;
dann hieß es, er habe sich durch religionsphilosophische For-
schungen einen Namen erworben, und in der Folge begegnete
man ihm mit einer scheuen Zuvorkommenheit. Leute, die ihn
besuchten, erzählten geheimnisvoll in ihrer Gesellschaft vori einer
schrecklich aussehenden, großen Gestalt, die in seinem Arbeits-
zimmer zwischen den Büchergestellen stehe. Das Dunkel, das
so sein Tun und Treiben mit einem dichten Schleier umgab,
schwand nie, und wie sein Leben war auch sein Ende. Am Morgen
eines Februartages fand man ihn tot auf dem Teppich seines
Arbeitszimmers liegen ; eines jener alten, breiten indischen Messer,
wie sie die Brahmanen trugen, stak in seiner Brust; seine Augen
waren offen und hatten einen seltsamen Glanz; seine Blicke
träumten. Der Polizeikommissar und der Gerichtsarzt stellten fest,
dass ein Selbstmord nicht vorlag. Doktor Hans Christoph Stern-
gassen war also ermordet worden; ein verdächtiges Individuum
wurde verhaftet, musste aber, da es sein Alibi nachwies, frei-
gelassen werden. Die Polizei forschte weiter, doch vergebens.
In der Stadt legte sich allmählich die Aufregung und sein Tod
ward vergessen. Ein Vetter ward der Erbe des Hauses und der
reichhaltigen Bibliothek, die er — - da er im Ausland weilte —
verwalten ließ. Erst drei Jahre nach dem Tode des Dr. Stern-
gassen kehrte er nach Deutschland zurück und begann Nach-
forschungen über dessen Todesumstände anzustellen. An Hand
des Tagebuches und mehrerer Zettel erlangte er sichere Gewiss-
heit über das am 18. Februar 189.. erfolgte Ende. Man las da
im Tagebuch von Dr. Sterngassens Hand eingetragen:
„20. Januar, nachmittags. Ich fühle mich beobachtet, ich
werde unsicher und kann an meinem Werk über Meister Ekhart
nicht weiter arbeiten. — Ich schreibe; plötzlich fühle ich, dass
jemand auf mich sieht; niemand ist im Zimmer. Ich spiele mit
708
dem Messer, die feine Ziselierung erfreut mich, mit dem An-
brechen der Dämmerung werde ich ruhiger; abends lese ich —
zum ersten Male wieder nach langer Zeit — in Goethes Wahl-
verwandtschaften. Warum weiß ich nicht, das Buch fiel mir ge-
rade in die Hände."
„26. Januar, morgens. Gewißheit ist besser als alle Qual.
Ich weiß nun, dass ich ständig beobachtet werde, mein Gefühl
hat mich nicht betrogen. Ja, ich weiß noch mehr; ich kenne die
Handschrift des Mannes und muss sie schon einmal vor langer
Zeit gesehen haben, vor vielen Jahren habe ich vielleicht mit ihm
selbst Karten gespielt und roten Wein getrunken ; es muss in
Italien gewesen sein. Doch warum er das alles tut, wer weiß. —
Dass er mich die ganze Nacht beobachtete, das beweist der Zet-
tel, der auf meinem Schreibtisch lag. Auf einen Bogen meines
eignen Briefpapiers hat er geschrieben, in Zukunft steht meine
Briefkassette unter Schloß und Riegel."
Hinten im Tagebuch lagen drei gleiche Briefbogen, jeder mit
einigen Zeilen einer steilen, verschnörkelten Handschrift bedeckt.
Auf dem ersten Bogen stand:
„Ich bin immer bei dir, sei es Tag oder Nacht. Es gibt
kein Ich; denn das Ich, das eben war, ist in der nächsten Sekunde
ein anderes. Es gibt Personen, Summen ihrer eignen Ichs; ich
bin ein Teil der Summe deiner eigenen Ichs, das andere. Und
das Andere ist immer bei dem Einen . . ."
Im Tagebuch stand weiter:
„10. Februar. Draußen regt sich schon etwas wie Vorfrüh-
ling. Ich werde abreisen, wenn ich weiß, wer mein Beobachter
ist. Ich lasse schon packen, in einigen Tagen wird das Geheim-
nis gelöst sein."
"14. Februar. Ich hatte meine Briefkassette verschlossen, die
Schranktür versiegelt und das Siegel auf meinen Nachttisch ge-
legt; heute Morgen liegt wieder einer meiner Briefbogen auf dem
Schreibtisch, das Siegel aber ist unverletzt. — Es ist ein gräss-
liches Wort: Das Andere ist immer bei dem Einen. Es ist das
beste für den Menschen zu sterben, wenn er kein Geheimnis mehr
haben kann. Dass diese andere Person weiß, was ich tue, was
und wann ich arbeite den ganzen Tag über, das läßt alles Wollen
schwinden; und wenn ich nichts weiter bin als ein Tropfen
709
Wasser, dann mögen sie mich doch recht bald zu dem großen
Sterne schlagen. Schrecklich ist es, zu wissen, der Andere weiß
alles, was du tust. Ob es ein Leben ohne Wissen geben kann?
Ich fürchte, nein."
Auf dem zweiten Briefbogen, der hinten im Tagebuch lag,
war zu lesen:
„Ich schreite mit dir durch die Zeit und sehe, was du tust,
und mache dich auf das aufmerksam, was du zu tun unterlässt.
Gib den Rosen im Kelch frisches Wasser! Vergiß nicht vor dem,
der Liebe und Hass in sich eint, zu beten 1 Ich bin immer bei dir.*
Auf dem dritten Bogen las man:
„Du kamst heute Nacht spät nach Hause; durch deinen
Lärm ist dein Gärtner erwacht. Gönne den Leuten, die sich tags-
über für dich plagen, nächtens den Schlaf. Ich bin immer bei dir.**
Die Tagebucheintragung lautete am 17. Februar, vormittags:
„Meine Briefbogen sind abgezählt; ich werde heute Nacht,
auf den, der immer kommt, warten; es ist notwendig, auch bringt
es ein gewisser Anstand mit sich, sich einmal persönlich vorzustellen.
Unser Verkehr muss früher oder später wohl enger werden."
Und am 17. Februar, nachmittags:
"Ich habe hohes Fieber, meine Sinne zittern vor Erwartung,
ein Strahl von milden Licht der Schreibtischlampe spielt auf dem
feinen Stahl des Messers; ich weiß, dass ich ihn heute lebendig
oder tot in meinen Armen halte. Mir ist alles eins. — Meine
Koffer sind gepackt, und ich bin reisefertig. Die Nachtluft weht
frisch. Ich glaube, es ist gibt gut Wetter zur Fahrt!"
Dies war die letzte Eintragung. Die Tagebücher waren un-
versehrt geblieben, sie hatten in dem kleinen chinesischen Holz-
schranke, der zu des Buddha Füßen stand, geruht. Mit Hilfe der
Daktyloskopie stellte man fest, dass die drei mit den fremdartigen
Schriftzügen bedeckten Briefbogen nur ein und dieselbe Art
Fingerabdrücke trugen, — die des Doktor Sterngassen. In irgend-
einer Upanishade der Veda stand der von Doktor Hans Christoph
Sterngassens Hand mit Bleistift unterstrichene Satz: Das Ich hat
viele der Wandlungen, vor allem aber sieben große. Das eine
Ich muss das andere Ich töten. Wenn das letzte Ich in sich
selbst erlischt, dann ist Wunschlosigkeit.
DDD
710
WÜNSCHE UND RICHTLINIEN FÜR
DAS SCHWEIZ. BIBLIOTHEKWESEN
(Schluss)
Für den Verkehr mit dem Publikum wird es immer wichtiger,
große Sorgfalt auf die Ausgestaltung der Handbibliothek zu ver-
wenden. Das mancherorts noch wenig vollständige bibliogra-
phische Hilfsmaterial soll in größtmöglicher Vollständigkeit dem
ständigen Gebrauche dienstbar gemacht werden. Es wird die
Pflicht des wissenschaftlichen Aufsehers des Lesesaales sein, das
Publikum, besonders Studierende, mit der Benutzung dieser Bücher
vertraut zu machen. Mehrjährige Beobachtung hat mir gezeigt,
wie unselbständig und unaufgeklärt im allgemeinen die Hoch-
schulstudenten die Bibliothek benutzen; ein Mangel an Orien-
tierung durch die Lehrer kann hier nicht außer Frage gestellt
werden. Statt gleich im ersten Semester dem angehenden Juristen
einige Stunden Quellenkunde und bibliographische Einführung in
die grundlegenden Handbücher und Hilfswerke zu geben, lernt
er sie meistens nur durch Zufall kennen, wenn er sich bereits
mit der Dissertation beschäftigt. — Der Fehler liegt also im Studien-
gang, der von einer Aufklärung in dieser Hinsicht absieht. Warum
sollte also auch da nicht der Aufseher im Lesesaal jungen Leuten
die nötigen Winke für eine praktische Arbeit erteilen?
Manche Auskünfte ließen sich zweifelsohne bei Gelegenheit
von bestimmten Kontrollen leicht erteilen, Spezialisten besonders
könnten sich bei solchen Anlässen bequem orientieren. Es wäre
nicht mehr nötig wie heute, dass oft für eine Dilettantenanfrage
Stunden und Tage aufgewendet werden müssten, während diese
Fragen miteinander von Zeit zu Zeit bequem erledigt werden
könnten. Neben dem bisherigen fast unerlässlichen Faktotum
gehört auf jede große Bibliothek eine Buchbinderei, die in erster
Linie Flickarbeit besorgt, und ein photographisches Atelier, für
dessen Unterhalt die wissenschaftlichen Anstalten einer Stadt ge-
samthaft aufkommen müssen. Die sehr teuren Aufnahmepreise,
wie sie vom schweizerischen Photographenverein festgesetzt wurden,
halten unsere Institute von mancher nützlichen Arbeit auf diesem
711
Gebiete ab. Vergleichsstudien, Handschriftenstudium und Kunst-
geschichte erhielten damit eine mächtige Förderung.
Nicht auf die Bedienung des Publikums, wohl aber in den
Bereich des Verkehrs mit dem Publikum fällt die Sammeltätigkeit
der Bibliothek. Diese soll sich keine Gelegenheit entgehen lassen
bei ihrer „Kundschaft" zu werben; gerade bei uns, wo das Interesse
für die Büchereien gering ist, hat die Gunst hilfsbereiter Gönner
große Bedeutung. Durch kurze Berichte und Gesuche in den
Tageszeitungen werden viele Bücherbesitzer aufmerksam gemacht,
wie oft eine kleine an sich wertlose Gabe für die Bibliothek die
gesuchte Ergänzung einer lückenhaften Serie und dergleichen
bedeutet. Wir erwähnen hier einzig die unzähligen Jahresberichte
einer Stadt, die nur selten vollständig auf unsern Bibliotheken
erhältlich sind. Ob Stadtbildersammlungen auf ein Archiv, Museum
oder eine Bibliothek gehören, lassen wir dahin gestellt; jedenfalls
soll an einer dieser Stellen die Sammlung gründlich und syste-
matisch betrieben werden. Hochschulbibliotheken sollten vertrag-
lich das Recht haben, von der Professorenschaft während ihrer
Tätigkeit an der zugehörigen Universität Arbeiten, die einen Kauf-
wert von zwanzig Franken nicht überschreiten, als Pflichtexemplare
einfordern zu dürfen. Wünschenswert wäre auch die Stellung
eines Pflichtexemplares solcher Bücher und Brochüren, die im
betreffenden Kanton über den Kanton erschienen oder von Kan-
tonsangehörigen verfasst worden sind. Wir sind überzeugt, dass
Buchdrucker und Verleger sich dafür entgegenkommend zeigen
würden, besonders wenn solche von der Bibliothek als Gegen-
leistung in der Tagespresse rezensiert würden. Als einen Mangel
in mancher Bibliothek empfinde ich es, wenn Veröffentlichungen
über die Bibliothek und deren Inhalt an zunächstliegender Stelle
fehlen. Es ist bei uns eine häufige Erscheinung, dass wir infolge
Mangels an Kontrolle keine befriedigende Auskunft über die Be-
nutzungen von Handschriften zu geben vermögen. Ein „ziel-
bewusstes Betteln" lässt sich bei unseren geringen Kaufmitteln
oft nicht vermeiden; es steht aber auch nicht unter der Würde
des für sein Institut wirklich besorgten Bibliothekars. Wir möchten
hier noch lobend die große Hilfsbereitschaft gewisser Zürcher-,
Basler-, Genfer- und Neuenburgerkreise erwähnen, die bei wieder-
712
holten Gelegenheiten ihren Bibliotheken bedeutende Summen zur
Verfügung gestellt haben.
Außer der Sammeltätigkeit kommt auch der Doabletienabstoß
oft zur Sprache. Es empfiehlt sich nicht, wie es vielerorts zu
geschehen pflegt, diese aufzubewahren, um passende Gelegenheiten
abzuwarten. Periodische, vielleicht monatliche Auktionen, bei
denen das gesamte Material unter den Hammer kommt, haben
sich mancherorts bewährt. Ein Inserat in der Presse des Ortes
empfiehlt sich sehr dafür. Die niedrigst angeschriebenen Preise finden
gewöhnlich immer ihre Liebhaber, was übrig bleibt, soll dem
Antiquar abgetreten oder, sofern es Interesse genug hat, den
kleineren Landbibliotheken angeboten werden.
Über den bisherigen Verkehr der Bibliotheken unter sich lässt
sich nur sagen, daß er vorderhand durchaus ungenügend ge-
blieben ist. Jede Bibliothek arbeitete bisher nach eigenem Gut-
dünken fast ohne alle Rücksicht auf den Nachbarn ; erst die
schlimmen Folgen der neueren Zeit zwingen uns, nach einer Ab-
hilfe Umschau zu halten. Geldmangel und ungenügende Zufrieden-
stellung der Leser nennt man gerne als Ursachen, während es in
Wirklichkeit ein Mangel an zeitgenössischer Organisation und
rationeller Arbeitsverteilung ist.
Die weitere Ausgestaltung der Spezialisierung der verschier
denen Wissenschaften in den einzelnen Bibliotheken wird ebenfalls
auf die Traktandenliste des allgemeinen Bibliothekverkehrs kom-
men. Jede größere Bibliothek wird ein ihr am nächsten liegendes
Gebiet besonders sorgfältig ausbauen und so die anderen Schwester-
institute einer eingehenden Pflege dieses Zweiges entheben. Basel
würde zum Beispiel mit einer reichen Abteilung über frühe
Graphik ausgestattet, Freiburg erhielte als besondere Spezialität
katholische Theologie usw. Kurz, wir sollten es dazu bringen,
dass nach Ablauf eines Dezenniums ungefähr in allen größeren
Bibliotheken die Spezialfächer bereits derart erstarkt wären, dass
jeder schweizerische Bibliothekar für die selteneren Neuerschei-
nungen auf den betreffenden Gebieten sich direkt an das offiziell
dafür bestimmte Sammelinstitut zu wenden hätte.
Eine interkantonale Vereinbarung für das Redaktionsschema
der Jahresberichte würde spätere Arbeiten über bibliothekwissen-
713
schaftliche Materien wesenth'ch erleichtern, ohne dass dabei den
Bibliotheken besondere Mühen erwachsen würden.
Zu den Fragen des gegenseitigen Leiheverkehrs gehört das
Postulat der größtmöglichen Portofreiheit und Portoerleichterung.
Das angestrebte Ziel kann nur durch eine gemeinsame Aktion
erreicht werden. Wir werden es uns angelegen sein lassen
müssen, Vergünstigungen nicht nur für die Schweiz allein anzu-
streben; unsere Institute werden auch die Frage der Transport-
vereinfachung mit Deutschland eingehend prüfen müssen. Mit
Hilfe einer kaufmännisch gut organisierten Spedition dürfte gewiss
die Verzögerung auf ein Minimum beschränkt werden, voraus-
gesetzt, dass wir in der Schweiz die Portofreiheit für zwei Kiio-
pakete erlangen können.
Über den Austausch von Doubletten, über die gegenseitige
Anzeige von besonders günstigen Gelegenheitsofferten, über den
Ankauf besonders wichtiger und kostbarer Werke sollte ein viel
geregelterer Nachrichtendienst bestehen. Es darf nicht mehr wie heute
vorkommen, dass mehrere Bibliotheken für bedeutende Summen
die nämlichen Werke kaufen, wenn es sich nicht um allgemein
begehrte Texte handelt, dass Auktionen veranstaltet werden, ohne
dass alle Bibliotheken eingeladen werden usw. Teure Spezialwerke
müssen nach gemeinsamer Listenbereinigung durch die mit dem
jeweiligen Ankauf betrauten Bibliothek angeschafft werden. Damit
werden wir mit der Zeit berechtigte Aussicht besitzen, wenigstens
die wichtigsten großen und teuren Spezialwerke im Inland beziehen
zu können.
In den meisten Fällen fehlen auch Zeit und Mittel, die Lei-
tung oder tüchtige Angestellte zum eingehenden Studium gele-
gentlich auf Reisen zu senden. Wir vertreten die Ansicht, dass
nicht teuer reisende Kommissionen hier mit der Aufgabe betraut
werden müssen, sondern dass die Bibliotheken viel lieber ihren
tüchtigsten Vertreter mit solchen Aufgaben beehren sollten. Das
ausgelegte Geld wird in diesem Falle der Anstalt reichlich wieder
zugute kommen. Ebenso ist es wünschenswert, dass die Leitung
wie Bibliothekare Gelegenheit erhielten, mehr in Kontakt mit aus-
wärtigen Berufsgenossen zu kommen. Jedenfalls entstehen mehr
nützliche Anregungen durch persönlichen Verkehr und persön-
lichen Augenschein als durch bloßes Bücherstudium. Sich aus
714
Gründen der Ersparnis zurückzuziehen zeugt von einer beschränkten
Auffassung. So freute es mich zu sehen, dass nach persönh'ch
gemachten Erkundigungen sämtliche größeren schweizerischen
Bibh'otheken mit Ausnahme der Universitätsbibliotheken Bern und
Lausanne ihre offiziellen oder entschädigten Vertreter an die inter-
nationale Bibliothekarentagung von 1912 nach München gesandt
hatten. Es bewies mir, dass der Boden für bibliothekarisches
Interesse vorhanden ist und dass es nur verlangt, geweckt und
angeregt zu werden braucht.
Dass neben Fragen allgemeiner und wissenschaftlicher Natur
gerade die technischen Probleme, die Fragen des praktischen
Betriebes sich fast ausschließlich bei solch großen Zusammenkünften
klären lassen, wird jeder Bibliothekar, der sich mit einer fort-
schrittlichen Einrichtung seiner Räume befasst, ohne weiters
zugeben müssen. Wie viel hat auch hier die Schweiz noch zu
erstreben. Wie lange wird es noch gehen, bis die Bibliotheken
ihren eigenen Buchbindertarif besitzen werden, wie lange bis die
Lederfrage für größere Institute positive Gestalt angenommen
haben wird. Wir stehen mancherorts vor baulicher Erweiterung.
Ich glaube man darf ruhig behaupten, dass für die neueren
Bibliothekbauten der Bücher- und Benützerzuwachs viel zu wenig
berücksichtigt wurde, so dass bereits nach zehn bis zwanzig
Jahren Abänderungsanlagen vorgenommen werden müssen. Die
Zukunft wird uns dankbar sein, wenn wenigstens von heute ab
nur mehr Bauten entstehen, die, ich möchte sagen, sich ein Areal
und Raumdispositionen für hundert Jahre zu sichern trachten.
Seit 1898 besitzen wir eine Vereinigung Schweizerischer Bi-
bliothekare, die die Interessen der schweizerischen Bibliotheken
„nach allen Richtungen" fördern soll. Ihre Versammlungen finden
in einjährigem Turnus statt. Wir begrüßen dieses Unternehmen
ganz besonders deswegen, weil es unserem angehenden Biblio-
thekarenstand bis jetzt die einzige Gelegenheit bietet, sich gegen-
seitig kennen zu lernen und Ideen auszutauschen. Aus diesem
Grunde sähen wir es gerne, wenn diese Versammlungen häufiger
stattfänden und zwar an einem zentral gelegenen Orte, wo sich
auch das Vereinsarchiv befände. Die einzelnen Bibliotheken
könnten sich hiebei auch durch Delegierte aus dem Bibliothek-
personal vertreten lassen und ihnen allenfalls die gewünschten
715
Vorschläge mit auf den Weg geben. Es ist absolut dringend, dass
die schweizerischen Institute mehr Fühlung unter sich bekommen,
wenn sie wirklich mit den Jahren eine feste Organisation er-
reichen wollen. Die von der Landesbibliothek angeregte und vom
Eidgenössischen statistischen Bureau durchgeführte Bibliothek-
statistik wird uns für die Propaganda der Vereinigung große
Dienste leisten. Es steht zu hoffen, dass diese einmal durch hin-
reichenden Zuwachs an Mitgliedern gestärkt, mächtig genug sein
wird, um auf sämtliche schweizerische Institute einen wohltätigen
Einfluss auszuüben. Damit erhalten wir eine feste Repräsenta-
tivinstitution nach außen; von ihrem Einflüsse wird es abhängen,
ob die Bibliotheken auf diesem Wege Forderungen allgemeiner
Natur zur Anerkennung bringen werden können. Aus diesem
Grunde wäre auch die Aufnahme von Bibliothekfreunden, Kom-
missionsmitgliedern in der Vereinigung zu wünschen. Sie bilden
eine Art Vertreter der Öffentlichkeit, also auch eine Art von Gesell-
schaft von Bücherfreunden. Anderseits dürfen wir uns nicht ver-
leiten lassen, die kleinen schwachen Institute mit den Forderungen
ihrer großen Geschwister zu überrumpeln. Die Erfahrung wird
hier übrigens bald zeigen, wie weit unsere bibliothekarischen
Reformbestrebungen allgemein durchführbar sein werden und wo
in Rücksicht auf bescheidene Verhältnisse besondere Lösungen
gesucht werden müssten. Die Mitteilungen der Vereinigung dienten
vor allem zur Besprechung aktueller Bibliothekfragen unseres
Landes, aber auch die Beschlüsse und Protokolle der Verhand-
lungen sollten darin enthalten sein.
Wir hoffen damit. Eingeweihte und Nichteingeweihte hin-
reichend überzeugt zu haben, dass auf unseren Bibliotheken noch
ein großes Stück Arbeit zu tun bleibt, ehe wir uns als „auf der
Höhe" der Anforderungen betrachten dürfen. Die Öffentlichkeit
soll in Zukunft einen möglichst klaren Einblick über die geleistete
Arbeit erhalten; sie soll immer mehr in dem Gefühle bestärkt
werden, dass die Bibliotheken fortab für die Zukunft schaffen
und schon in diesem Sinne zu den fortschrittlichen Instituten
gehören. Der frühere Ruf einer toten Bücherkammer darf heute
selbst auf die kleinste Bibliothek nicht mehr passen. Sobald die
Öffentlichkeit ihr vermehrtes Interesse unseren Bibliotheken durch
eine berechtigte Kritik entgegen bringen wird, werden auch
716
schlummernde Institute zu neuem Leben erwachen. Unser ganzes
bibliothekarisches Streben gehe dahin, alte, nicht mehr lebens-
kräftige Systeme und Organisationen durch neue, den modernen
Verhältnissen angepasste, zu ersetzen. Wir wollen einen biblio-
thekarisch tüchtigen und sorgfältig ausgewählten Stand auferziehen,
und uns selbst zu einem festen Gefüge, zu einem angesehenen
und einflussreichen Stande emporarbeiten. Dazu gebraucht es der
Mithilfe aller, der Bibliothekare, des Hilfspersonales, wie des Pu-
blikums; erst wenn alle gemeinschaftlich Hand ans Werk legen,
wird auch die Schweiz ein gedeihliches Aufblühen ihrer sämt-
lichen Bibliotheken erleben und das Vaterland wird die Segnungen
einer solchen Kulturförderung in reichem Maße ernten.
BERN C. BENZIGER
DDD
ZUR KRITIK DER RECHTSPFLEGE
IM KANTON ZÜRICH
(EINE ERWIDERUNG)
Unter dem Titel „Vereinfachung der Staatsverwaltung und
Erleichterung der Staatslasten" zieht sich durch die Nummern
18 bis 22 von „Wissen und Leben" ein höchst interessanter Auf-
satz hin, der eine Reihe von trefflichen Anregungen in sich birgt,
und so ziemlich alles, was im Staate Zürich geschieht und nicht
geschieht, einer manchmal recht scharfen Kritik unterzieht. Ich
bin wohl der letzte, der nicht anerkennt, dass auch im „Staate
Zürich" manches „faul" ist. Ich glaube aber doch, dass eine fast
mit Prophetenton auftretende Kritik, wie sie Herr Caspar Scheidt
übt, ihre Gefahren in sich birgt. Ein großer Teil der Leser —
Sie verzeihen mir diesen Zweifel — verfügt wohl nicht über die
Erfahrungen, um zu unterscheiden, wo die Kritik berechtigt ist
und wo sie übertreibt oder gar ganz schiefe Urteile zeitigt. —
Auch solche sind nämlich Herrn Scheidt mitunterlaufen.
Da auch ich mir nicht anmaße, in allen Gebieten, die kriti-
siert werden, ein genügendes Urteil zu besitzen, um die Scheidt-
schen Kritiken nachprüfen zu können, so erlaube ich mir nur auf
dem Gebiete der Rechtspflege, wo mir eine fünfzehnjährige An-
717
waltspraxis ein Recht gibt, mitzusprechen, einige der allerschiefsten
Urteile richtig zu stellen. Sie unwidersprochen durchgehen zu
lassen, wäre meines Erachtens ein Unrecht.
I.
Die „Mühle der langsamen und teuren Staatsrechtspflege''
(nebenbei bemerkt soll dieser Ausdruck hier heißen „Rechtspflege
durch vom Staate bestellte Richter", während das gleiche Wort
u ristisch -technisch etwas ganz anderes, nämlich die Rechtspflege
auf dem Gebiete des Staatsrechts bedeutet) wird in Gegensatz
gestellt zu den „vertragsgemäßen Schiedsgerichten'', die „vor
allem aus geeignet" sein sollen, „den Streit rasch und billig zu
erledigen".
Zunächst also wird unseren ordentlichen Gerichten gegenüber
der Vorwurf der Langsamkeit erhoben, ein Vorwurf, den jeder
Anwalt aus den Kreisen seiner Klienten reichlich zu hören be-
kommt. Jedem scheint ja seine eigene Sache die wichtigste zu
sein. Jeder wartet auf ihren Ausgang mit Ungeduld und glaubt
sich zu Vorwürfen berechtigt, wenn sein Rechtsstreit nicht vor
allen andern erledigt wird, wenn Anwalt und Richter ältere Ein-
gänge zuerst erledigen und nicht ihm vor allen den Vortritt lassen.
Ist der Vorwurf aber auch objektiv berechtigt? Was heißt lang-
sam? Langsam und schnell sind relative Begriffe. Was für den
Hasen langsam ist, ist für die Schnecke schnell. Wenn wir Vor-
würfe erheben wollen, so müssen wir also darnach fragen, ob
man billigerweise eine raschere Geschäftsbehandlung verlangen
darf oder nicht. Dass in Einzelfällen auch bei unseren Zürcher
Gerichten Verschleppungen vorkommen können, soll ja nicht ge-
leugnet werden. Nehmen wir aber den Durchschnitt und ver-
gleichen wir ihn mit dem Durchschnitt in andern Ländern und
in andern Kantonen, so dürfen wir sehr zufrieden sein mit der
Raschheit der zürcherischen Rechtspflege. Als Rechtskonsulent
des deutschen Generalkonsulates habe ich vielfach Gelegenheit,
Vergleiche zu ziehen mit der Erledigung der Prozesse im deut-
schen Reiche, und Urteile von reichsdeutschen Kollegen zu hören,
und da fällt nun die Vergleichung sehr zugunsten der zürcheri-
schen Rechtspflege aus. Aus den übrigen Nachbarstaaten fehlt
mir selbst eine reichere Erfahrung. Gelegentlich aber liest man,
718
dass es da und dort noch weit schlimmer bestellt sei mit der
Verschleppung der Prozesse als in Deutschland. So weit mir
die Gepflogenheit der anderen Schweizerkantone bekannt ist, sind
überall die Prozesse dauerhafter oder zum mindesten nicht kürzer
als in Zürich. Höchstens Basel nimmt eine ehrenhafte Ausnahme-
stellung bezüglich rascherer Erledigung der Prozesse ein, aber —
wie ich glaube — nur scheinbar; denn dort erfordert die Vorbe-
reitung der Klage vor deren Einleitung der strengen Eventual-
maxime wegen (die Klage muss sofort alle Möglichkeiten vorweg
nehmen) so viel Zeit, dass bei Hinzurechnung dieser Vorbereitungs-
zeit (die nach zürcherischem Verfahren meist zwischen die Ein-
leitung der Klage durch Einreichung der Weisung und Hauptver-
handlung fällt, und deshalb bei der Berechnung der Prozessdauer
mitgerechnet wird) auch in Basel wieder ungefähr die gleiche
Durchschnittsdauer herauskäme wie in Zürich. Ein Bundesrichter
beantwortete kürzlich im Privatgespräch meine Frage, ob das
Gericht schon häufig Gelegenheit habe, nach neuem Recht (Zivil-
gesetzbuch und Obligationenrecht in Kraft seit 1912) zu entschei-
den, die Prozesse des neuen Rechtes seien selten, nur aus wenigen
Kantonen, worunter insbesondere Zürich, seien einige eingegangen.
Diese Antwort enthielt ein hohes Lob der Zürcher Gerichte. Sie
beweist, dass die Zürcher Gerichte verhältnismäßig rasch ihre nach
Januar 1912 anhängig gewordenen Prozesse bis in die höchste
Instanz gefördert haben.
Wir dürfen also gegen die zürcherische Rechtspflege, wenn
wir nach billigem Maße messen, den Vorwurf den Langsamkeit
nicht erheben.
II.
Damit ist aber noch nicht entschieden, ob nicht die „ver-
tragsgemäßen Schiedsgerichte" noch rascher arbeiten als die
zürcherischen ordentlichen Gerichte. Dass das der Fall sei, ist
eine auch in Kaufmannskreisen weit verbreitete Ansicht. Hier
kann ich wiederum aus Erfahrung reden, und ich bin überzeugt,
dass jeder Kaufmann oder Anwalt, der auch nur ein halbes Dutzend
Schiedsgerichte miterlebt hat, mir zustimmen wird: Die Sage von
der größeren Raschheit der Schiedsgerichte ist ein Vorurteil.
719
Das vertragliche Schiedsgericht (im Gegensatz zum ständigen
Fachgericht) arbeitet erfahrungsgemäß langsamer (denn auch nur
drei Schiedsrichter zu einer Sitzung zusammen zu kriegen, ist oft
ein schwieriges Ding; werden doch meist vielbeschäftigte Ge-
schäftsleute, die nur schwer über ihre Zeit verfügen, zu Schieds-
richtern ernannt), unzuverlässiger (denn meist ist die Mehrzahl
der Schiedsrichter zum erstenmal in einem solchen tätig, und
daher trotz sonstiger Vorzüge des Charakters und des Intellekts
ungewandt) und teurer als die ordentlichen Gerichte. Ja! auch
teurer! Denn Herr Scheidt wird uns den Beweis dafür, dass die
„Bezirksgerichte wohl die teuerste Justiz der Welt" seien, und
dass „ein Privater das Geschäft gern zur Hälfte übernehmen und
nicht schlechter besorgen würde", unbedingt schuldig bleiben. Es
ist das eine leere Behauptung. Über die niedrigen Gebühren
unserer Justiz (die, nebenbei bemerkt — was er zu übersehen
scheint, denn er nennt ein Beispiel aus der alten Gebührenord-
nung — durch die Gesetzesrevision wesentlich erhöht worden sind)
regt sich ja Herr Scheidt selbst auf. Und auch objektiv kann die
Behauptung nicht wahr sein, denn im Verhältnis zur geleisteten
Arbeit sind die Gehälter unbedeutend, und auch unter den Laien-
richtern gibt es eine Anzahl Leute, die sich den Gelehrten zum
Trotz vorzüglich in ihr Amt eingearbeitet haben. Vor dem Laien-
schiedsrichter hat aber auch der Laienberufsrichter stets den Vor-
zug, dass er Gelegenheit hat, sich in der Tätigkeit des Richtens
zu üben, jener aber ungeübt an den Einzelfall herantritt. Dass
ein Schuster gelernt haben muss, Schuhe zu machen, sieht ein
jeder ein. Dass aber auch ein Richter zum Richten gewisser
Kenntnisse und der ständigen Übung nicht entraten kann, das will
merkwürdigerweise den meisten Leuten nicht in den Kopf hinein.
Der schlimmste Nachteil der Schiedsgerichte liegt aber darin,
dass in der Regel gleich viel Richter (je einer oder je zwei) durch
die Parteien ernannt werden, und nur der Obmann im Einver-
ständnis beider Parteien bestellt wird. Die Parteischiedsrichter
fassen aber ihre Aufgabe mehr als Parteimandat, als Anwalts-
mandat auf. Sie vertreten die Interessen ihrer Partei. Verhängnis-
voll wird das besonders, wenn die eine Partei anständiger ist als
die andere, und einen unparteiischen Schiedsrichter wählt, oder
bei der Bestimmung des Obmannes zu vertrauensselig ist. Dann
720
ist sie der weniger anständigen, der ihre Interessen rücksichtslos
wahrenden Partei einfach auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.
Abgesehen von den seltenen Fällen, in denen alle Richter gleich-
mäßig ihr Amt als Richteramt auffassen (sie kommen etwa vor,
wenn alle Schiedsrichter aus Richter- und Anwaltskreisen gewählt
werden), ist das vertragliche Schiedsgericht günstigsten Falls eine
verdeckte Einzelrichterei, bei der die Verantwortlichkeit des Einzel-
richters nach außen nicht so deutlich in die Erscheinung tritt, weil
nach außen hin das Kollegium der Schiedsrichter die Verant-
wortung trägt.
III.
Einen gewissen Gegensatz zum vertragsgemäßen Schieds-
gericht und zum ordentlichen Gericht, ein Mittelding zwischen
beiden, stellt das durch Herrn Scheidt so warm empfohlene Fach-
gericht dar, das angeblich die Experten entbehrlich machen soll.
Hier ist zuzugeben, dass unter gewissen Vorbedingungen das
Fachgericht besser arbeitet als das Schiedsgericht, gelegentlich
auch als das ordentliche Gericht. Erste Vorbedingung ist, dass
die Richter nicht von Fall zu Fall durch die Parteien gewählt
werden, wie beim Schiedsgericht, sondern dass die Vertrauensleute
gewisser Interessengruppen ständig im Gerichte tätig seien, sich
also wirklich als Richter und nicht als Parteivertreter fühlen lernen,
und Gelegenheit haben, sich im Richten zu üben. Weitere Vor-
bedingung ist, dass der Kreis der durch das Fachgericht zu be-
urteilenden Streitigkeiten nicht allzu weit gesteckt sei. Ich denke
dabei an die vielfach sehr segensreich wirkenden Börsenschieds-
gerichte, die über Börsenusanzen urteilen, oder die ständigen
Schiedsgerichte gewisser eng begrenzter Interessenkreise, auch
noch an die gewerblichen Schiedsgerichte, die meist nur über
Dienstvertrags-Streitigkeiten Recht sprechen.
Der Vorzug dieser Fachgerichte kehrt sich aber in das Gegen-
teil um, sobald ihnen Prozesse mit schwierigen juristischen Fragen
vorliegen. Und der so viel gerühmte Vorzug, die Expertisen
überflüssig zu machen, hört auf, sobald technische Spezialfragen
eine Rolle spielen, deren Entscheidung dem Fachrichter nicht mehr
zugemutet werden kann. Der beste Handelsrichter, ja sogar der
bedeutendste Techniker ist hilflos und wiederum auf den Experten
721
angewiesen, wenn es sich beispielsweise um die Beurteilung der
Neuheit und der Verwertbarkeit eines Patentes handelt, das seinem
speziellen Schaffensgebiet fern liegt. In Grenzfällen, in denen der
Fachrichter sich einbildet, die nötigen Kenntnisse zum eigenen
Entscheid zu besitzen, ohne dass es wirklich der Fall ist, ist der
Fachrichter sogar gefährlicher als der Berufsrichter, der sich seiner
Ohnmacht bewusst bleibt.
Letzten Endes wird in der Regel und bei Berücksichtigung
aller Fälle doch das ordentliche Gericht den Vorzug verdienen.
IV.
Schon anlässlich der Schiedsgerichte sprach ich scheinbar
vielleicht etwas abschätzig von der verdeckten Einzelrichterei. Ich
möchte aber betonen, dass das Abschätzige in meinem Tone sich
gegen das „verdeckte", nicht gegen die „Einzelrichterei" als solche
richten soll.
Herr Scheidt sagt: „Die Einzelkompetenz eignet sich für die
Justiz ganz und gar nicht. Sie bietet anerkanntermaßen einen
geringeren Rechtsschutz als das Kollegialgericht."
Ist diese Behauptung wirklich allgemein anerkannt?
Der höchst verdienstvolle frühere Oberbürgermeister von
Frankfurt a. M., Adikes, ein Mann von hervorragend praktischem
Blick, hat durch das Studium der englischen Rechtspflege sich
vom Gegenteil überzeugt und empfiehlt seinem Heimatstaate warm
die Einführung der Einzelrichterei.
Der jedem mit der modernen Literatur vertrauten Juristen
wohlbekannte, trotz seiner oft maßlosen und über's Ziel hinaus-
schießenden Angriffe auf den heutigen Betrieb der Jurisprudenz
— Pandektologie nennt er sie — sehr ernst zu nehmende Justiz-
reformer Rechtsanwalt Dr. Fuchs in Karlsruhe schwärmt für das
Richterkönigtum. Er denkt sich dabei einen Mann, der durch
jahrzehntelange vortreffliche Ausübung eines juristischen Berufs,
zum Beispiel des Rechtsanwaltsberufs, das volle Vertrauen seiner
Volksgenossen erworben hat, der sie durch Geist und Kenntnisse
und Charakter so hoch überragt, dass sie sich ihm — dem Manne
ihres Vertrauens — willig fügen. Dieser Mann wäre nach seiner
Ansicht so glänzend zu besolden, dass er seinen früheren Beruf
722
gerne mit dem Richterberuf vertauschte, und würde nun in erster
Linie die Streite seines Bezirkes zu schhchten suchen, wo das
nicht gelingt, sie erst- und einziginstanzlich nach seiner höheren
Einsicht, nach freiem und gütigem Ermessen entscheiden. Dann
gäbe es i<aum mehr Prozesse und Urteile, dann würde der Rat
des Richteri<önigs genügen. Wahrlich ein Ideal, das anzustreben
des Schweißes der Edeln wert wäre.
Aber auch ganz nüchterne Beurteiler haben schon vorge-
schlagen, dem Einzelrichtertum größere Ausdehnung zu geben.
Dass der Einzelrichter — wenn er schlecht ist -- mehr Unheil
stiften kann als der Richter im Kollegium, soll zugegeben werden.
Dem gegenüber stehen aber auch große Vorzüge des Einzelrichter-
tums. Einmal weiß der Einzelrichter in viel höherem Maße als
der Kollegialrichter, dass er für sein Urteil verantwortlich ist, dass
ein gutes Urteil ihn in der Wertschätzung der Mitmenschen erhöht,
ein schlechtes ihm persönlich zur Last fällt — ein nicht zu unter-
schätzender Sporn zur Gewissenhaftigkeit. Dann würde durch
die Übertragung der Arbeit der Kollegialgerichte an Einzelrichter
viel Arbeitszeit frei. Der Einzelrichter würde allein den Stoff be-
wältigen, den sonst drei oder fünf Richter parallel bearbeiten
müssen. Man wäre also in der Lage, den Einzelrichter bedeutend
besser zu besolden als den Kollegialrichter, folglich eine bessere
Auswahl zu treffen und doch noch zu sparen.
Bei Arbeitsüberlastung arbeitet auch das Kollegialgericht nach
dem verdeckten Einzelrichtersystem, das heißt die Richterkollegen
verlassen sich auf den Referenten und widmen sich ihrerseits nur
oder doch vorwiegend ihren eigenen Referaten. Das macht aber
auch den Referenten weniger gewissenhaft. Er weiß sich ja ge-
deckt durch das Kollegium.
Wo keine Arbeitsüberlastung besteht, wo also alle Kollegial-
richter gleich gründlich den Rechtsstreit behandeln können und
wollen — ein Fall, der wohl fast nur in der Theorie, nicht aber
in der Praxis vorkommt — mag das Kollegialsystem gewisse
Vorzüge vor dem Einzelrichtersystem haben. Das verdeckte
Einzelrichtersystem, wie es praktisch in den Kollegialgerichten die
Regel bildet, ist sicher zum mindesten nicht besser.
Erkundigen wir uns einmal bei der Erfahrung. Wir haben
im Kanton Zürich neben einander Einzelrichter und Kollegial-
723
gerichte, die ganz ähnliche Stoffgebiete bearbeiten. Der Einzel-
richter im ordenth'chen Verfahren und im beschleunigten Verfahren
behandelt in ganz gleicher Weise Zivilprozesse wie die Kollegial-
gerichte. Die Urteile sind besser oder schlechter, je nach der
Person des Richters oder des Gerichtsschreibers, der das Urteil
begründet, nicht aber nach der Art der Kompetenzen. Es gibt
vorzügliche Urteile des Kollegiums und des Einzelrichters, aber
auch andere bei beiden. Dass die Urteile der Kollegialgerichte
durchschnittlich inhaltlich besser wären oder besser begründet
seien als die der Einzelrichter, wird kaum behauptet werden
können.
V.
Mit dem durch Fuchs geforderten Richterkönigtum habe ich
schon eine Frage gestreift, die auch Scheidt behandelt. Er meint,
die „Friedensrichter" sollten „eine größere Bedeutung erhalten,
ähnlich den englischen". Ganz recht! aber das hätte eine völlig
andere Rekrutierung der Friedensrichter zur Voraussetzung. Ich
will nicht leugnen, dass auch heute schon darunter zahlreiche
Leute sind, die ihre Aufgabe richtig erfassen und geschickt erfüllen.
Ich kenne sogar solche. So lange es aber noch möglich ist, dass
Leute gewählt werden, denen der Anwalt erst klar machen muss,
dass sie auch einwilligende Ehegatten nicht ohne Mithilfe des zu-
ständigen Gerichtes scheiden dürfen, oder solche, die den Anwalt
bitten, das Zeugenprotokoll zu schreiben, weil sie selbst nahezu
Analphabeten sind, wenigstens nicht einen auch nur halbwegs
stilistisch und orthographisch richtigen Satz schreiben können —
beides habe ich selbst erlebt — so lange ist es besser, ihre Kom-
petenzen zu beschneiden als zu erhöhen.
VI.
Wenn Herr Scheidt sich über den Witz eines alten Gerichts-
schreibers, „die Urteile müssen so begründet sein, dass ein Hand-
werksbursche, wenn er eines auf der Straße findet, es verstehen
und sich sagen muss, es sei recht", lustig macht, so hat er sehr
unrecht. In diesem Witz liegt eine tiefe Weisheit. Nicht gelehrt,
sondern klar soll das Urteil sein, so klar, dass ein beliebiger
724
ungebildeter Fremder es versteht und billigt, womöglich so klar,
— es ist das allerdings nicht leicht möglich — dass sogar die
unterliegende Partei ihr Unrecht einsieht. Es ist nämlich einfach
der Erfahrung widerstreitend, dass die Parteien „nur auf das Dis-
positiv sehen". Ein schlecht begründetes Urteil wird von der
unterliegenden Partei viel schwerer empfunden, als ein solches
mit einleuchtender Begründung. Ja sogar die obsiegende Partei
hat keine ungetrübte Freude, wenn sie mit unzutreffender Be-
gründung obsiegt. Für den Richter vollends aber ist die Begrün-
dung ein sehr heilsames Kontrollmittel gegen bewusste und un-
bewusste Willkür. Ohne den Zwang zur Begründung würden
viel mehr Entgleisungen nach der Richtung der Freundschafts-,
Sympathie-, Gefühls- und Partei-Justiz zu befürchten sein. Die
unbegründeten Urteile der Friedensrichter und der Schwurgerichte
sprechen da eine beredte Sprache.
VII.
Der Vorwurf der Bureaukratie gegenüber unserer Zürcher
Rechtspflege ist gänzlich aus der Luft gegriffen. Erst vor wenigen
Tagen hatte ich zusammen mit einem reichsdeutschen Kollegen
mit unseren Justizbeamten zu verkehren. Die freie, freundliche,
zuvorkommende und gar nicht ängstliche Art der Behandlung
entlockte dem Kollegen ein über's andere mal Ausrufe der Be-
wunderung und Verwunderung mit dem Kehrreim: „So etwas
wäre bei uns ganz undenkbar."
Dass gewisse Formen gewahrt werden müssen, liegt in der
Natur der Sache, in unserer Rechtspflege wird darin eher nach
der Richtung der Missachtung der Form als der Überschätzung
gesündigt. Dass im Einzelfalle auch Justizbeamte gelegentlich
grob oder bureaukratisch vorgehen, mag sein. Das hat aber wohl
meist seinen Grund in den übermäßigen Ansprüchen des Rechts-
suchenden, der sich hierüber beklagt. Auf jeden Fall darf aber
ein solcher Einzelfall nicht verallgemeinert und daraus der Rechts-
pflege in ihrer Gesamtheit ein Vorwurf gemacht werden.
VIII.
Dass auch in unserer Rechtspflege nicht alles Gold ist und
nicht einmal alles glänzt, will ich gerne zugeben.
725
Hier wie überall sind es aber nicht die Einrichtungen, die gut
oder schlecht sind, sondern die Menschen, die diese Einrich-
tungen handhaben.
Und hier liegt der Punkt, bei dem man mit berechtigter
Kritik einsetzen könnte. Die Auswahl der Justizbeamten lässt
gelegentlich zu wünschen übrig. Dabei denke ich nicht daran,
dass das Laienrichtertum bei uns stets sehr stark vertreten ist,
teilweise sogar überwiegt. Ich halte nämlich die Überschätzung
der formal-juristischen Bildung, wie man sie namentlich im deut-
schen Reiche antrifft, für fast gefährlicher als den bei uns weit
verbreiteten Aberglauben, der gesunde Menschenverstand sei eine
Eigenschaft, die nur dem Nicht- Juristen eigentümlich sei. Es
gibt dumme und gescheite, brauchbare und unbrauchbare Juristen-
und Laienrichter.
Der Laienrichter kommt meist in reiferem Alter, und nach-
dem er sich in anderer Stellung schon Lebenserfahrung erworben
hat, zum Richteramt und hat dadurch einen wesentlichen Vorzug
vor dem soeben der Hochschule entsprungenen Juristen. Der
Laienrichter kann durch Selbststudium und Praxis die für ihn
nötigen Rechtskenntnisse so gut hinzu erwerben, wie der junge
Jurist die Lebenserfahrung. Aus beiden Kategorien können also
tüchtige Berufsrichter hervorgehen.
Wenn aber bei der Auswahl nicht auf Geist, Bildung, Fleiß
und namentlich auch auf den Charakter des Kandidaten das Haupt-
gewicht gelegt wird, sondern die Zugehörigkeit zu einer der
historischen Parteien den Ausschlag gibt, dann haben wir keine
Gewähr, dass die richtigen Männer zu Richtern unseres Volkes
bestellt werden.
Wenn schon der Vorwurf, Parteirichter zu wählen, in erster
Linie die sozialdemokratische Partei mit trifft, so trifft er sie doch
nicht allein. Auch die andern Parteien haben aus taktischen
Rücksichten schon unfähige Richter vorgeschlagen. Als ich kürz-
lich mit einem höheren Richter (dem Angehörigen einer bürger-
lichen Partei) über eine sehr wichtige Richterwahl redete und die
Eignung eines der vorgeschlagenen Kandidaten anzweifelte, erhielt
ich zu meiner Verblüffung die Antwort: „Ja! aber er hat doch
ein Anrecht auf die Stelle. Er hat doch große Verdienste um die
726
Partei." Wenn selbst in Richterkreisen diese Auffassung vor-
i<ommen l<ann — ich sage absichtlich nicht herrscht — so muss
man sich nicht wundern, wenn allerhand verbesserungsbedürftig
ist auch in unserer Rechtspflege.
Dass die Parteien die Richter wählen und vorschlagen, wird
man in unserem demokratischen Staate als ein notwendiges Übel
mit in Kauf nehmen müssen.
Das aber sollte man wenigstens bei den maßgebenden Per-
sonen, bei den Leitern der Parteien erzielen können, dass sie die
Parteizugehörigkeit höchstens dann ausschlaggebend sein lassen,
wenn im übrigen die Eignung der sich gegenüberstehenden Kan-
didaten vollkommen gleich erscheint.
Dieser Wunsch scheint mir der einzig dringende für unsere
Rechtspflege zu sein und überdies innert den Grenzen des Er-
reichbaren.
IX.
So lange dieser Wunsch aber noch nicht erfüllt ist, so lange
werden wir nicht nur auf das Ideal des Richterkönigtums ver-
zichten müssen, sondern auch den mehrstufigen Instanzenzug,
ja sogar das Kassationsgericht nicht entbehren können.
Gibt doch der Instanzenzug eine gewisse, wenn auch keine
vollkommene Gewähr dafür, dass offenkundige Fehler der untern
Instanzen durch die oberen verbessert werden, was allerdings die
Voraussetzung hat, dass die obere Instanz aus dem vorhandenen
Richtermaterial die bestgesiebte Auswahl darstellt.
Um den Zweck wirklicher Verbesserung fehlerhafter Entscheide
der Unterinstanzen zu erreichen, muss aber das Obergericht, wie
bisher, ein wirkliches Appellationsgericht bleiben und auch den
Tatbestand überprüfen dürfen, nicht nur als Revisionshof die
Rechtsfragen erörtern. Würde es auf die letztern beschränkt,
dann allerdings könnte es in allen Fällen der bundesgerichtlichen
Zuständigkeit als überflüssig ausgeschaltet werden.
KÜSNACHT Dr. FRITZ FICK
Rechtsanwalt
D a □
727
UNE EXHUMATION
Une exhumation! Le mot que je choisis pour le titre de
cette causerie n'est pas tres heureux. Et je le regrette presque
aussitot apres l'avoir ecrit. I! a decidement quelque chose de bien
funebre et il annonce bien mal une reedition partielle des jolies
Lettres parisiennes de M"^^ de Qirardin. Ces billets spirituels et
faciles, publies dans La Presse, de 1836 ä 1848, paraissaient
sous la signature du vicomte de Launay. 11s furent reimprimes
en 1857. Mais on eut le tort de ne point faire la selection qu'a
entreprise M. F. Roger-Cornaz, le gracieux poete du Trlanon de
porcelaine. II y avait lä quatre volumes. Et quatre volumes de
chroniques, c'etait dejä long pour un lecteur de 1857; c'est beau-
coup trop long pour les lecteurs d'aujourd'hui.
II eüt ete fächeux cependant que cet aimable recueil ne füt
plus mentionne qu'en deux ou trois lignes dans les histoires de
la litterature fran^aise. 11 meritalt de vivre, car il est proprement
une Oeuvre classique par ses qualites de goiJt, de tenue et de
Charme.
M'"^ de Girardin qui, sous le Pseudonyme du vicomte de
Launay, collabora pendant une quinzaine d'annees au Journal de
son mari, naquit en 1804 ä Aix-la-Chapelle oü son pere, M. Gay,
etait receveur-general. On l'avait appelee Delphine, comme l'he-
roine de Tun des romans de M"^^ de Stael. Elle debuta dans les
Salons de la Restauration, sous la conduite de sa mere, l'une des
femmes les plus belies et les plus distinguees de son epoque.
Delphine elle-meme, ä laquelle Theophile Gautier appliquait ce
vers de Dante:
La bella creatura di bianco vestita,
fut, comme le dit M. Roger-Cornaz, „des son enfance promise
ä la gloire et vouee aux Muses". Mais eile ressemblait aussi peu
que possible ä cette Louise Colet dont j'ai recemment parle, ä
cette place. Infiniment intelligente, d'education achevee, de ma-
nieres exquises, de caractere egal et sür, eile n'avait rien du bas-
bleu remuant, ambitieux et vulgaire. Elle etait trop naturellement
grande dame et femme comme il faut, pour etre jamais encom-
brante ou ridicule.
728
Elle fut couronnee par rAcademie, eile commit quelques
volumes de vers, quelques volumes de prose. Ayant acquis une
notoriete de bon aloi, eile ne se laissa point griser par le succes.
Apres son mariage avec Emile de Qirardin, eile donna ä la Presse
les „lettres parisiennes" du vicomte de Launay. Elle avait trouve
sa voie. Elle n'etait qu'une poetesse d'un talent moyen; eile de-
vint le Premier chroniqueur mondain de son temps. Plus tard,
eile s'essaya, non sans bonheur, au theätre, avec La Joie fait
peur et Lady Tartufe. Elle mourut en 1855. On connait l'ad-
mirable piece de Victor Hugo, sur celle que pleura tout le Paris
litteraire:
Jadis je vous disais: Vivez, regnez, Madame . . .
Si M^"^ de Girardin, auteur du Bonheur d'etre belle ou du
Dernier jour de Pompei, ou meme de La Joie fait peur, etait
condamnee ä l'oubli, il ne pouvait pas, il ne devait pas en etre
de meme du vicomte de Launay. Comme l'a excellemment indique
M. Roger-Cornaz, dans son elegante introduction pour Le vicomte
de Launay, lettres choisies (in 12^ Librairle Payot, Lausanne):
„Celui-ci est toujours vivant, fringant, charmant. S'il a pris de
Tage, c'est ä la fa^on des gens d'esprit: ils ne vieillissent pas,
ils durent . . . Ses lettres sont des modeles parfaits de chroni-
ques. W^^ de Girardin, en en creant le genre, l'a eleve tout de
suite ä la dignite artistique. Elle y a mis tout ce qu'on peut et
tout ce qu'on doit y mettre. La chronique est une causerie
ecrite. M""« de Qirardin, dont la conversation etait eblouissante,
ne perd pas, la plume ä la main, ses qualites de causeur."
D'abord, eile a de la gaite, de l'ironie, voire de l'impertinence.
Et puis, que d'aisance et d'entrain! Et encore, quel style lim-
pide, exact et pur! Citons cette appreciation de M. E. Faguet:
„Son style est le style parle, et c'est ä savoir le meilleur des
styles, ä preuve que pour les sots ce n'est pas du style, et qu'ils
n'appellent style que ce qui d'une fa^on ou d'une autre s'eloigne
de celui-ci. Pour eux, Montaigne, La Fontaine, M""^ de Sevigne,
Voltaire, Merimee, Edmond About ont du merite, chacun le leur,
mais il est regrettable qu'ils n'aient pas de style. A la bonne
heure; Flechier en a un. W^^ de Girardin n'est pas de la famille
de Flechier; eile est de la famille des autres". Qu'elle meta-
729
morphose une anecdote en recit alerte et piquant, qu'elle es-
quisse ou burine un portrait, qu'elle adopte le ton et poursuive
les desseins du moraliste, qu'elle se borne ä causer d'un air de-
tache et comme du bout des levres, eile reste dans la plus se-
duisante tradition fran^aise. Elle a cet art delicat de glisser oü
d'autres appuieraient lourdement, ce privilege singulier d'echapper
ä la Pedanterie oü d'autres, de moindre discernement, s'y aban-
donneraient sans mesure; et oü d'autres delaieraient de la Philo-
sophie, eile se contente de semer son gentil grain de sei. Avec
cela et malgre quelque passion du paradoxe, une raison avertie
et solide qui ne trebuche jamais. N'a-t-elle pas eu le courage
d'affirmer, en 1840, eile, la deesse des romantiques, qu'elle ai-
mait d'un meme amour Racine et Victor Hugo?
Nous pouvons maintenant feuilleter les chroniques du vi-
comte de Launay. M'"^ de Girardin nous revelera d'elle ce qu'il
lui plaira de ne point nous cacher et, du meme coup, eile nous
offrira le tableau le plus desinvolte, le plus amüsant, le plus
precis sous son apparence legere, de la societe parisienne, entre
la revolution de juillet et la tourmente de 1848.
Assurement, trois cents pages de chroniques, et de chroni-
ques vieilles de plus d'un demi-siecle, c'est peut-etre trop pour
nos curiosites hätives et distraites. M. Roger-Cornaz eüt reduit
du tiers ou du quart son choix de „lettres parisiennes", que je
me serais bien garde de Ten blämer. Mais je serais fort em-
barrasse de lui conseiller telles ou telles suppressions. De fait,
il n'est pas une de ces oeuvrettes qui ne soit au moins agreable.
Pour les savourer congrüment, il faut les lire en gourmet, non
en glouton. A les devorer comme un roman d'aventures, on leur
rendrait le plus detestable des Services. Le mieux est de les
deguster lentement, de poser le livre, de le rouvrir le lendemain,
et de recommencer.
Est-il rien de plus vif — et de plus actuel — que les re-
flexions du vicomte de Launay sur „l'automne ä Paris"? Ce qui
etait vrai en 1840, ne l'est-il plus en 1913? Voyez plutöt: „Les
theätres renaissent, le public rajeunit; ce n'est plus ce parterre
use et jugeur de l'hiver, ce public hostile, ce tyran jaloux de
ceux qu'il paye pour l'amuser, que tout scandalise et que rien
n'enflamme; ce public sature de plaisir, grandi dans les corridors
730
de theätre; ce vieux bellätre de foyer qui n'ose sourire parce
qu'il n'a plus de dents; cette vieille coquette de gaieries, qui ne
veut point pleurer de peur de sillonner son rouge. — C'est un
public naif, joyeux et dispos, ä la fois juge et complice, qui vous
aide franchement ä le faire rire, qui vous entraine ä l'emouvoir;
un public bon enfant qui ne se formalise pas de ce qu'on l'amuser
un public enfin qui croit au plaisir". N'est-ce pas que cela pour-
rait etre ecrit par un chroniqueur du Gaulois ou du Figaro?
Les „jolies femmes et la mode" ne seront pas, comme bien
Ton pense, pour le vicomte de Launay, un sujet moins ingrat^
Evidemment, la beaute n'est pas aussi capricieuse que la mode.
Ah ! la mode, qui change et se repete infatigablemeni ! Que ceux qui
ne la suivent pas, et qui retardent, perseverent un lustre ou deux,.
eile les aura rejoints. Et tenez! On raffole du „marabout", en
1840, apres l'avoir ignominieusement delaisse. W^^ de Girardin
se moque finement de la versatilite feminine: „Les marabouts
(duvet leger qu'il ne faut confondre ni avec les pretres, ni avec
les cafetieres du Levant) sont redevenus ä la mode; pourquoi?
veut-on le savoir? C'est que voilä dix ans qu'ils n'y etaient plus;
car la Mode, comme la Fortune, a une roue qui tourne sans
cesse et ramene alternativement les memes choses. Avoir ete
est une raison pour redevenir. Voyez plutöt les marabouts et les
ministres." Raillerie pimpante et preste, flamme rapide et courte
qu'allume l'etincelle de l'esprit. Ce n'est pas un discours en trois
points sur un theme quelconque, une dissertation savamment
ordonnee qui descend au coeur des problemes. C'est une brillante
Improvisation d'ingenieux causeur.
L'„histoire de voleur" nous montre sous une tout autre face
le talent du vicomte de Launay. Paul-Louis Courrier ne Teüt
pas mieux contee. De la sobriete sans secheresse, de la malice
sans mechancete, l'art d'effleurer ce qui ne vaut pas la peine
d'etre creuse, et un denouement amene avec autant d'adresse
que la chute d'un bon sonnet. Une fleur d'anthologie, un bijou
de prose fran^aise, un modele de recit enjoue et palpitant.
Mais voici que M"^^ de Girardin invente d'allechants titres de
comedies, qu'Edouard Pailleron lui derobera un jour. L'une de
ses „lettres parisiennes" nous conduit dans „le monde oü Ton
s'ennuie et le monde oü Ton s'amuse". Cette divertissante revue . . .
731
des deux mondes nous arretera un instant. A cöte du monde
grave, depositaire des anciennes croyances, des anciennes vertus,
chez qui la dignite est plus qu'une nature — un Systeme, vous
avez l'autre, „melange d'incredulite et de prejuges, de petites
independances et de grandes preventions, de vieilles manies et de
besoins nouveaux, de fantaisies et de routines", et qui, sans etre pire
n'est pas meilleur que le premier. „Les uns disent: lis ne sortent
jamais, ils ont de vieux ciievaux qui tirent peniblement de vieilles
caleches fermees; les femmes portent de petites douillettes mar-
rons, pauvres, etroites, et ils ont deux cent mille livres de rente!
cela fait pitie! Les autres disent: ils sont toujours en fete, ce
sont des bals, des spectacles, des soupers qui n'en finissent pas;
ils rentrent au jour, leurs femmes depensent des sommes folles
pour leur toilette, et ils n'ont jamais le sou! cela fait pitie!"
Autre Chanson, et meme refrain!
Dans une chronique sur „les journalistes et le monde",
M^"^ de Girardin se plaint avec humour de la fureur des gens de
plume contre les salons: „Ces messieurs parlent des salons avec
la haine de gens qu'on en aurait excius." Ailleurs, eile se rit de
la „legerete fran^aise". Est-il de plus sötte legende que celle-lä?
„Quel est le flatteur qui, le premier, a ose dire que les Fran^ais
etaient un peuple leger? Nous, legers! mais il n'existe pas de
peuple plus grave, plus routinier que nous, plus maniaque. Or,
rien n'est moins leger qu'une manie; car on peut vaincre quelque-
fois une passion, mais on ne triomphe jamais d'une manie. Nous,
legers! et pourquoi nous dit-on legers? parce que nous nous occupons
de choses frivoles? mais si nous nous en occupons serieusement,
cela n'est plus de la legerete." Si l'esprit fran^ais est leger, l'es-
prit devrait etre leger en tous pays. Que le Fran^ais meure en riant,
cette legerete ne serait-elle pas du courage, tout uniment? „Nous
varions un peu nos rois, mais voilä tout; nos plaisirs ne varient
point, nos goüts sont eternels, nos modes sont d'une solidite
desolante . . . Les Turcs ont quitte le turban, mais les Fran^ais
ne quitteront jamais leur chapeau rond. En Espagne, les com-
bats de taureaux ont pu cesser quelque temps; en France, les
pirouettes ne cesseront jamais. Or, ce n'est pas un peuple leger
que celui dont les danses sont lugubres, dont les fantaisies sont
invariables, dont les modes sont eternelles." N'est-ce pas que
732
cette caracteristique du Fran^ais n'est pas trop paradoxale, ä y
regarder de pres? On peut etre mobile sans etre changeant, et
faire des revolutions pour etaler immediatement apres le fond
conservateur de la race.
Que „le chemin de fer de Saint-Germain", le premier chemin
de fer parisien, est bien fran^ais, lui! O merveille! on va en
vingt-huit minutes ä Saint-Germain. Un roulement, puis bst, on
est arrive. Oui, sous le doux ciel de France, „on va ä Saint-
Germain en vingt-huit minutes, c'est vrai, mais on fait attendre
les voyageurs une heure ä Paris, et trois quarts d'heure ä Saint-
Germain, ce qui rend la promptitude du voyage inutile". On
croirait entendre les recriminations des Fran^ais de 1913 ä propos
de rOuest-Etat.
Le fosse serait-il comble, qui separe „les gens qui se lavent
les mains et les gens qui ne se lavent pas les mains"? 11 etait
large et profond, du temps de M'"^ de Girardin. „Vous aurez
beau faire des lois, prophetise-t-elle, donner des libertes, octroyer
des chartes, supprimer les impöts, ces deux nations seront tou-
jours ennemies." 11 ne semble pas que le pessimisme de l'aristo-
cratique vicomte de Launay ne soit plus de saison. L'auteur des
„lettres parisiennes" s'egare volontiers dans les chemins raboteux
de la politique. L'egalite, que des orateurs populaires se flattent
de realiser ici-bas, ne lui inspire que des plaisanteries pueriles et
dröles: „Ainsi, voilä le peuple qui veut qu'on aille ä pied! Et
pas un sellier n'a reclame contre cet arret. 11 est evident qu'au
sein de l'emeute les cordonniers avaient la majorite . . . A quoi
bon aussi une robe de satin blanc ou de velours bleu de ciel,
pour courir sur les trottoirs? une robe de laine suffit. Miez donc,
ouvriers de notre bonne ville de Lyon, quittez vos ateliers: allez,
vous etes libres. Nous ne voulons plus d'ouvriers, plus de tra-
vail pour vous; soyez heureux, et redevenez citoyens." On crie
au tyran. Ce n'est pas le roi qui est le tyran ; c'est le journaliste,
„dont on admire les faiblesses, dont on consacre les mensonges",
et qui Souffle le mecontentement sur la France.
11 est preferable de ne pas accorder une importance exageree
aux partis-pris politiques du vicomte de Launay. M^^^ de Girardin
est femme, ce qui signifie que les affaires des salons lui sont
plus familieres que Celles des parlements ou des reunions pu-
73a
bliques. Lorsqu'elle tonne contre les „tartufes de la liberte", eile
oublie qu'elle sort de son role et qu'elle force sa maniere. Elle
reussit mieux ä narrer les tribulations du „jeune homme aux mille
serins", ä definir „le caractere d'apres la parure", ou ä s'egayer
de „ranimal ä la mode", — qui etait, sous Louis-Philippe, „tout
simplement une tortue, mais une toute petite tortue rapportee ou
envoyee d'Afrique".
Oü le vicomte de Launay est incomparable, c'est quand il
n'est qu'un moraliste mondain. Toutes ses qualites, et meme ses
mignons travers, le servent ä souhait. 11 a du trait, du brio, de
la gräce, pas plus de scepticisme qu'il n'est besoin d'en avoir, et
plus de Penetration que nombre de graves psychologues. Quels
sont nos defauts profitables et nos vertus nuisibles? La reponse
est delicieuse: „Un philosphe a dit: connais-toi toi-meme! Oui,
si tu veux rester philosophe, vivre en philosophe, c'est-ä-dire ne
pretendre ä rien, n'arriver ä rien. Pour vivre ainsi, connais-toi
tant que tu voudras; tu peux, sans risques, te donner ce pauvre
plaisir . . . Mais si tu veux vivre avec tes semblables, si tu veux
faire ton chemin et arriver ä la fortune, garde-toi bien de te con-
naitre, ne t'etudie point, ne t'analyse point, ne t'interroge point,
marche droit, marche vite, sans regarder derriere toi ni devant
toi. Oh! garde-toi de te connaitre; car, du jour oü tu appren-
drais ce que tu es, tu saurais ä quoi tu peux pretendre et tu serais
pour toujours decourage. Avoir le secret de ses forces, c'est
souvent decouvrir qu'on n'est bon ä rien." Tous les parvenus, si
orgueilleux d'avoir agrippe les plus hauts emplois, ne croupiraient-
ils pas dans l'obscurite finale s'ils avaient pratique la maxime
du sage?
Leur modestie les aurait-elle prives d'un bonheur que
leur presomption leur a valu? La presomption ! il n'est pas de
plus profitable defaut. A lui seul, il est une fortune. Comme
la complete ineptie: „Vous avez deux jeunes cousins: Tun est un
gar^on plein de courage, d'activite, d'intelligence; vous reconnais-
sez son merite, en disant: Ah! celui-lä ne m'inquiete pas. Et,
en effet, vous ne prenez nul soin de son destin. Vous ne lui
donnez ni aide, ni protection : vous le laissez piocher tout ä son
aise et se tirer d'affaire comme il peut . . . Mais il a un frere
qui est un parfait imbecile; il ne sait pas l'orthographe, il est
734
incapable d'exercer la moindre profession; celui-lä vous inquiete,
car vous avez mllle desagrements ä redouter de sa part. Alors,
vous rassemblez toute votre famille, et vous vous dites avec anxiete:
Que ferons nous d'Auguste ? Et vos parents, consternes, sachant ce
qu'on peut attendre du jeune sire, se regardent entre eux et re-
petent: Que ferons-nous d'Auguste? il n'arrivera jamais ä rien
par lui-meme, il faut le placer dans quelque administration (pauvre
administration !) ou lui faire avoir quelque emploi du gouverne-
ment (pauvre gouvernement!). Que Dieu vous preserve d'Au-
guste!" On multipliera les demarches pour Auguste. 11 aura sa
place et il ne la perdra que pour en trouver une meilleure, — les
bonnes places etant Celles oü il n'y a rien ä faire. Son frere,
ecrase sous le poids de son inteliigence et de son ardeur au
travail, est de ces pietons robustes qui vont moins vite que les
sots en voiture.
Un autre defaut tres recommandable: la susceptibilite. On
ne traite pas sans fa^on une personne susceptible. On la menage,
on la caresse, on s'epuise pour eile en attentions et prevenances.
L'entetement est un autre defaut de rapport. Comme la brutalite,
puisqu'il n'est pas d'argument plus irresistible qu'un orage. Et
la versatilite n'est point ä dedaigner, surtout en politique. Quant
aux vertus, dame, les plus belies ne sont pas les plus avanta-
geuses: „La bonte ne nuit pas precisement, mais eile deconsidere.
La franchise vous fait passer pour un fou, et l'independance
pour un original. L'impartialite vous isole." Quant ä la deli-
catesse, il n'est pas de vertu plus dangereuse. Eh quoi! on l'a
dit en vers:
C'est que de tels efforts si grandement sublimes,
Si monstrueux en bleu, ressemblent ä des crimes!
Le monde est effraye des trop beaux sentiments.
II voit dans leur exces d'affreux egarements:
II ne peut les comprendre; il juge de sa place.
Un romanesque amour du bien, une heroi'que generosite, un
desinteressement pousse jusqu'ä la pruderie, mais tout cela dis-
cret et comme enveloppe de mystere, froisse le prochain, fait le
desespoir des amis: „Les gens doues de cette qualite fächeuse
dont nous parlons sont remplis d'une si noble dissimulation!
Comment pourrait-on jamais les comprendre et les forcer ä s'ex-
735
pliquer? 11s mettent toute leur delicatesse ä cacher leur delica-
tesse." Serait-ce donc que les defauts profitent et que les quaiites
nuisent invariablement? Non: „Se priver d'un brillant destin pour
rester consequent avec ses principes, se sacrifier ä une idee qui
doit ne vous rapporter que des ennuis, savoir qu'on sera mal
juge et braver ce cruel jugement des hommes, cela est beau:
c'est tout simplement prouver DIeu."
Ces extraits auront-ils suffi ä marquer le charme rare des
„lettres parisiennes" ? Nous avons ici la fine fleur de l'esprit
fraiKjais. II y eut des chroniqueurs plus spontanes, de plus de
verve et plus eblouissants que le vicomte de Launay. 11 n'en est
pas qui aient eu plus que lui la vocation de ce genre leger et
difficile. M"'« de Girardin a elle-meme senti qu'elle vivrait par ses
„commerages" plus longtemps que par ses vers ou son theätre.
Nos vers, ce n'est que nous, et que demeure-t-il d'un poete sans
genie? Nos „commerages", c'est nous encore, mais c'est aussi
notre epoque, „dont les moindres recits, les plus insignifiants
Souvenirs auront un jour un puissant interet, un inestimable prix".
On ne reeditera pas le Bonheur d'etre belle, ni Ourlka, ni la
Vision de Jeanne d'Arc. On a reedite les Lettres parisiennes,
et, en terminant, nous remercierons M. Roger-Cornaz qui a mis
ces petits chefs-d'oeuvre ä la portee de tous.
VIRGILE RÖSSEL
ODD
Pourquoi cette folie?
Parce qu'il y a une äme cachee, des puissances aveugles, des demons
que chacun porte emprisonnes en soi. Tout notre effort, depuis que l'hu-
manite existe, a ete d'opposer ä cette mer Interieure les digues de notre
raison ou de nos religions. Mais que vienne une tempete (et les ämes les
plus riches sont les plus sujettes aux tempetes), que les digues aient cede»
que les demons aient le champ libre, qu'ils se trouvent en presence d'au-
tres ämes que soulevent des puissances semblables ... ils se jettent Tun
sur l'autre. Haine ou amour? Fureur de destruction mutuelle? — La pas-
sion, c'est l'äme de proie.
Le buisson ardent Romain Rolland
DDD
736
HELENE VON WILLEMOES
Die literarische Überprodul^tion ist ins Ungeheure gestiegen.
Jahr auf Jahr schenkt uns Gedichte, Romane, Dramen in Fülle.
Und wenn man sich fragt, was bringen diese Schöpfungen an
Mehr, an Bleibendem, dann wäre man versucht, mit Nietzsche zu
wünschen, dass auf das Schreiben die Todesstrafe gesetzt würde.
Insonderheit die dramatische Produktion der letzten Jahre
hat die ernsthaften Kritiker skeptisch gemacht; außerordentlich
skeptisch.
Welches dieser Stücke brachte uns mehr als die Befriedigung
der Bedürfnisse einer Saison, erhob sich über Augenblickswünsche
eines Jahres oder Jahrzehntes? Welches entließ uns mit „Ge-
danken"? Mit Gedanken, aus denen wir ein Leben lang schöpfen
konnten? Welches brachte uns selber dem Sinn des Lebens
näher? Welches löste und erlöste in uns die Schauer tiefer Er-
kenntnis?—Man sehe sich von diesem Gesichtspunkte aus unsere
Dramenliteratur der letzten Jahrzehnte an.
Wenn ich es da unternehme, über einen Dramatiker zu spre-
chen und nur von Dramen, so wird man mir glauben müssen,
dass die literarische Erscheinung, von der die Rede sein soll, über
den Rahmen des Alltäglichen hinausragt.
Diese Erscheinung wird um so merkwürdiger und um so
weniger glaubwürdig, als es sich um einen Dramatiker handelt,
der eine Frau ist. Das Dramatische war der Frau bis jetzt ver-
sagt, ebenso wie die schöpferische Musik. Der Dramatiker muss
in hohem Maße Selbstzucht üben können und es verstehen, seine
Gedanken in komprimierte Form zu fassen, er muss eine gewisse
Veranlagung zum Heroischen haben — die Begabung auch der
wertvolleren unter den dichtenden Frauen ist eine lyrische oder
epische. Wer aber eine Tragödie wie den „Savonarola" liest,
wird schwerlich die Hand einer Frau spüren. ~ In der Tat, das
ist das Auszeichnende an der Kunst Helene von Willemoes' : diese
Werke hat kein „Weib" geschaffen, auch kein „Mann" — nein:
ein Mensch.
Aber wer erfasste dies Wort in seiner ganzen Tiefe und er-
schöpfte es? Ein Mensch, der weit und allgemein genug wäre,
737
ein Dichter zu sein! „Ist doch der Dichter der allgemeine Mensch,"
sagt Schopenhauer, „alles, was irgend eines Menschen Herz be-
wegt, und was die menschliche Natur in irgend einer Lage aus
sich hervortreibt, was irgendwo in einer Menschenbrust wohnt
und brütet, ist sein Thema und sein Stoff."
Der kürzlich in den Süddeutschen Monatsheften erschienene
Sieger behandelt eine Gestalt, an die sich so viele gewagt,
ohne sie meistern zu können. Ist das Napoleonproblem hier
auch nicht erschöpft, ist es mehr eine Studie und Vorübung, so
fühlen wir doch: hier ist ein Großer von einem vollwertigen Geist
erfasst. Nur ein Bild! Aber die diktatorische Gewalt der napo-
leonischen Gestalt ist wie eine scharfumrissene Silhouette an einen
gewitterdunklen Himmel gezeichnet, in ein paar Momenten rast
eine Glut über die Bühne, eine lang und schwer verhaltene Lei-
denschaft bricht jäh hervor — und doch kein unzartes Wort,
nirgends die entfesselte Bestie. Maß und Beherrschung der Form
gemischt mit bebender Leidenschaft scheint mir das Kennzeichen
dieser Kunst.
Ein Motiv, das im „Sieger" verwendet ist, finden wir in einigen
andern Stücken Helene von Willemoes': das sehnende, suchende
Weib. Bald ist es, wie in der Dw5/ („Frühlingstreiben", ein Lust-
spiel), wo eine holdselige liebliche Menschenknospe sich dem Tau
des Lebensmorgens öffnen will, wo unter silbernem Lachen und
Schellengeläute eine Mädchengestalt zum Weibe geformt wird;
bald ist es, wie in der Maria della Salute die Frau im Lebens-
mittag. Die Frau, die ein halbes Leben lang entbehrt und ge-
schwiegen, getragen und gelächelt, um dann, als endlich, endlich
die Stunde naht, als das Glück, die Lösung, die Erlösung am
nächsten — ein gellendes Zuspät zu hören. — Dann wieder eine
Gestalt wie Tatjana Purtscheloff. Herbe, hoheitsvolle Züge. Nicht
das schelmische Lächeln, das schalkhafte Schmollen, die hindernis-
losen Einfälle einer Dusi — nicht die himmelhoch lodernde Glut
einer Anna, nicht das hastige stürmende Drängen der Maria della
Salute: ernst und gemessen tritt uns diese Frau entgegen; es ist,
als halte der Hauch der nordischen Steppe diese Frau umfangen.
Freilich, auch in ihr lebt, wie in den übrigen weiblichen Figuren,
Helene von Willemoes' bebende Glut und suchende Sehnsucht.
Sie streckt die Arme aus, sehnsuchtsvoll verlangend, wie der
738
Jüngling auf Thomas Bild die Hände erhebt zu den Wunder-
vögeln, die am Himmel hineilen.
Allein Helene von Willemoes hat sich nicht auf Probleme
der Frauenseele beschränkt; sie hat auch dargestellt, wie die
Probleme des Werdens und Seins in der Seele des Mannes aus-
gefochten werden; ja, vielleicht liegt hier ihre Hauptstärke, und
eine ihrer Hauptgestalten, ihr Savonarola (Tragödie in fünf
Akten), erhebt sich denn auch zu einem rein menschlichen
Problem.
Auf einem farbenprächtigen Hintergrunde, dem Florenz von
Lorenzo il magnifico, spielt sich die Handlung ab. In Glanz,
Geist, Licht und Schönheit gefüllt — Lorenzo ; im härenen Büßer-
gewand — Savonarola. Zwei Welten prallen aufeinander. Der
Kampf, der damals im fünfzehnten Jahrhundert begonnen und
geführt wurde, ist heute noch nicht entschieden : der Kampf, den jeder
kennt, der mit dem Leben rang. Die Zwiespältigkeit unserer
Seele ist hier in die Außenwelt projiziert. Wie Mephisto den derb
sinnlichen Teil unserer Seele, das unbewusste Triebleben in uns
verkörpert und Faust jene zweite Seele, die gewaltsam sich vom
Dunst zu den Gefielden hoher Ahnen hebt, so hat hier ein Zeit-
genosse den Kampf unserer Seelenmächte uns zum Bewusstsein ge-
bracht in Lorenzo und Savonarola. Der Medicäer ruft Savonarola
zu: „Wir beide wollen des Volkes Glück. Ihr für das Jenseits, ich
für das Diesseits. Ihr reicht ihm das Kreuz, ich den vollen Becher.
Weil ich nun einmal weiß, dass Freude allein die Macht besitzt,
den Menschen brauchbar zu erhalten." Allein Savonarola sieht
in dem Trunk aus vollem Becher kein „Glück", er sieht darin
Betäubung und Feigheit, er predigt den „Segen der Not": „Weil
du das Morgen scheust, raubst du dir das Heute. Eine Brand-
fackel zündest du an, um die große Finsternis nicht zu sehen,
die in dir lauert. Weil du den Anblick des Richters in dir nicht
ertragen kannst, erwürgst du ihn! Täglich, stündlich begehst du
Mord an deiner Seele I Gegen ihre Stimme, die leise, leise spricht,
lässt du all deine Raubtiere los, damit sie mit ihrem Brüllen diese
Stimme ersticken. Freude, Lust, Liebe, Tanz, Musik, das sind
die Würgengel Eures besten Kindes in Euch! O, dass ihr die
Scham nicht verloren hättet! Die Scham Eurer Seele! Dass ihr
sie hörtet, wie sie bittet und fleht — und weint — und Euch
739
verspricht, das einzige Gut verspricht, das ein Gut ist — da es
von Gott kommt und zu Gott führt."
Goethe hat diesen Kampf in sich oft und tief erlebt und ihm
im Faust schwermütigen Ausdruck gegeben. Allein selbst der
zahmere Jenenser Freund kannte ihn und sang: „Zwischen
Sinnenglück und Seelenfrieden bleibt dem Menschen nur die
bange Wahl."
Aber Helene von Willemoes wirft nicht wie unsere Modernen
die Frage auf, um uns in bangem Zweifel zu entlassen: sie gibt
die Lösung. Das ist etwas, was sie vor den meisten unserer
heutigen Dramatiker voraus hat. So sehen wir den Savonarola
zu seiner Höhe emporwachsen ; er ist kein Fertiger.
Vom blassen Mond beschienen sitzt der Mönch im Kloster-
garten, einsam, tief in Gedanken . . . „Aller Anfänge Anfang, aller
Enden Ende ist die Liebe. Und zwischen drinn ist Hast und
Hader, Kampf und Not . . . Unsere Seele dehnt sich und sehnt
sich — unser Auge leuchtet und feuchtet — unsere Hände schwei-
fen und greifen nach Liebe — - und unser Fuß tritt und zertritt
die Liebe." — Dem Freunde, der ihm naht, gesteht er es: „Ich
bin müde, Domenico, müde." Ihm, dem Unermüdlichen, dem
Unentwegten, der, ähnlich wie Ibsens „Brand", hinstürmte seinen
Weg über Eis und Gletscherspalten, unbekümmert um Natur und
Menschliches, der starr an seiner Wahrheit, der unter Schmerzen
erkämpften, festhielt, muss eine Stunde tieferer Erkenntnis ge-
naht sein. — Er hat die Beschränkung in der Zeit erkannt. Er
sieht, welch winzige Spanne Zeit das Leben des Individuums
ausmacht. Die Wahrheit gibt es nicht. Es ist ein ewig Neu-
erkennen, Neusuchen. — Während er sich im ersten Akt für eine
„Geißel Gottes" hält, die da „gesandt worden ist, aufzuräumen
und hinwegzufegen", tönt heute wehmutsvoll der leise Schrei nach
Liebe aus seiner Seele. Er, der des Medicäers schönheitsdurstiges
Suchen verflucht und sündig gescholten, fragt seufzend: „Was
ist Sünde?"
Nun er einmal zweifelnd geworden, unsicher, schwankend,
ist er auch reif für eine Weiter- und Aufwärtsentwicklung. Sein
Niedergang beginnt — sein Aufstieg im Sinne Zarathustras. Der
Savonarola, der uns am Schluss entgegentritt, ist der Ausdruck
und Verkünder einer neuen Welt. In Stunden ist er der Zeit um
740
Jahrhunderte vorausgeeilt, als der Mensch der Zukunft steht er
da; wir fühlen die tragische Notwendigkeit seines Todes — es
ist für ihn kein Raum mehr in dieser Welt. — Rückwärtsblickend
überschaut er sein Leben. Er sieht sein eigenes Tun, seine Fehler,
die notwendig waren, die innere Entwicklung, die er durchgemacht.
Anders ist es gekommen als er gehofft; aber dieser neue Weg
ist der notwendige. — Er erkennt, dass Lorenzos Welt auch ihr
Recht hat, dass er (Savonarola) in hochmütiger Beschränktheit
eine Vollendung angestrebt, wo es auf Erden nur „ein Beginnen,
ein Vorwärts oder auch ein Rückwärts", aber nie „ein Vollenden"
gibt. „Die Erfüllung liegt jenseits." — Nun ist eine tiefe Ruhe
über ihn gekommen. Er ist bereit für das Ende. Zu tief hat er
„geschaut", als dass der Tod ihn schrecken könnte. — In dem
Abschied von seinen Freunden, in den Trostworten, die er den
Bleibenden schenkt, erhebt sich Savonarolas Gestalt zu der Größe,
die ihr im Tiefsten innewohnt. — Noch einmal tritt das Leben
lockend und versuchend an ihn heran: es winkt ihm für einen
Augenblick Befreiung. — Er will nicht. Er hat sein Gethsemane
hinter sich. Noch bewegt er einmal die Lippen, als wolle er
antworten, dann betritt er stumm den Todesweg.
Der Savonarola ist 1901 in Weimar aufgeführt worden.
Zweimal. Mit großem Erfolg. Ein Jahr darauf erschien er bei
Franz Grunert, Berlin, in Buchform. Literaturkenner, wie Erich
Schmidt und Ferd. Gregory, sprachen sich über das Stück mit
Bewunderung aus.
Trotzdem blieb Savonarola bis heute im Dunkeln. Wenn
ein Werk von der literarischen Bedeutung des Savonarola seit
zehn Jahren unter uns lebt, ohne zu „leben", so muss das tiefere
Gründe haben. In der Tat, es war noch die Zeit, in der man
auf der Bühne nur den nüchternsten Realismus gelten lassen
wollte. Die gebändigte Kraft großzügiger Leidenschaft wurde
Idealismus geschimpft, Epigonentum und überwundenes Pathos
nach-Schillerscher Zeit; man glaubte ihr nicht! Zumal, wenn sie
aus der Seele einer Frau kam. Man verwechselte Wirklichkeit
mit Wahrheit. Heute ist das anders geworden. Wir streben vom
Realismus los, die Neo-Romantik in der Dramatik kann für die
ernsthaften Sucher nur einen Übergang bedeuten; wir erwarten
741
seit Jahren die Synthese von Realismus und Idealismus und die
Kunst Helene von Willemoes bahnt uns hier den Weg.
Dass auch ihre Sprache für damalige Zeiten ungenießbar sein
musste, geht aus dem eben Gesagten hervor. Die Schauspieler
konnten Berliner Jargon oder schlesischen Dialekt sprechen, die
Musik, die in den Worten liegt, die Lorenzo und Donna Lucrezia
wechseln, fand keine Ohren, geschweige Zungen. Die süße Me-
lodik guter Prosa war damals wie Perlen im biblischen Sinne. Zu
diesen inneren Gründen kamen noch äußere. Den großen Bühnen
katholischer Länder musste das Stück bei unsern absonderlichen
Begriffen von Religion und Kunst verschlossen bleiben. Privat-
bühnen, die eine Aufgabe wie den „Savonarola" hätten meistern
können, gab es vor zehn Jahren wenige.
Das letzte Stück der Dichterin, das mir zu Gesicht kam,
stammt aus dem Frühling 1911. Tatjana Purtscheloff ist auf
einem anderen Boden gewachsen als der Savonarola oder die
Maria della Salute. Ohne damit eine graduelle Wertung auszu-
drücken muss ich dies vorausschicken. Hier war es der Stoff
und die Gelegenheit, welche die Dichterin inspirierten. Einer
glücklichen Anregung und Unterstützung, die von anderer Seite
kam, verdanken wir dies letzte Werk, ein Stück voll Leben, Be-
wegung und Sturm. Der Stoff ist der russischen Revolution
entnommen. Eine Fülle von Gestalten; Menschen von Blut und
Mark; eine echte Kinderszene ; eine bis zur Grenze des Möglichen
getriebene Konzentration im Ausdruck; eine dramatische Stei-
gerung, die selbst beim Lesen den Atem benimmt, — und in
wenigen Stunden sind Menschenschicksale ausgekämpft, Leben
und Sterben entschieden, und geläutert erhebt sich eine ringende
Seele.
ZÜRICH HERBERT OCZERET
742
PARSIFAL
Wagner hat gehofft, durch seine Werke eine Regeneration
der Menschheit heraufzuführen. Dürfen wir behaupten, dass wenig-
stens der Anfang dieser Wiedergeburt zu spüren ist? Eine vor-
urteilsfreie Beurteilung der Wirkung der Wagnerschen Kunst muss
diese Frage bisher mit einem entschiedenen Nein beantworten.
Noch immer dürfte der Meister dieselbe Klage wie zu seinen
Lebzeiten erheben, dass sein Erfolg beim Publikum auf einem
Missverständnis beruhe. Denn das, was meist in Wagner gefunden
wird, ist nicht das, was er geben wollte. Man schwärmt für seine
Musik und ahnt oft nicht einmal, dass sie, losgelöst von der sie
begleitenden Sprache und mimischen Bewegung und dem durch
Wort, Ton und Gebärde wiedergegebenen Gedanken, gerade das
Gegenteil von ihrem eigentlichen Zweck bewirkt, nämlich Rausch
statt neuer Kraft. Das ist sehr zu beklagen. Wir verlieren da-
durch Werte, die wir gerade in unserer schnell lebenden Zeit für
die Erhaltung und Entwicklung des „Herzensmenschen" in uns
nicht entbehren können. Es geht Manchem wie dem „tumben"
Parsifal. Die Ritter singen von Glauben und Erlösung, Amfortas
klagt in höchster Not, der Gral leuchtet, aber er leuchtet nicht
für ihn. Er sieht und hört und steht staunend da, aber es ist
ihm nicht ein eigenes, inneres Erlebnis, weil er nicht weiß, was
das alles ihm bedeute. Darum wird der tumbe Parsifal hinaus-
gewiesen, und die Tore der Gralsburg schlagen hinter ihm zu.
Er hat die Gelegenheit, zu fühlen, was er soll und was auf ihn
wartet, versäumt. Und doch ist er gerade derjenige, der berufen
ist, den verlorenen heiligen Speer zurückzugewinnen, das verratene
Heiligtum aus schuldbefleckten Händen zu befreien und damit
zugleich Kundry, der Unseligen, der Erlöser zu werden, den sie
sucht von Welt zu Welt.
Parsifal und Kundry gehen durch eine schmerzliche, aber
notwendige Entwicklung. Sie suchen ihre Lebenserfüllung lange
Zeit dort, wo sie ihnen nie und nimmer zuteil werden kann. Sie
in einer Liebe, von der sie selbst fühlt, dass sie ihr nicht gibt,
was sie eigentlich will. Er im Kampf gegen diese Liebe, weil er
nicht sieht, welch tiefe Sehnsucht in ihr zum Lichte drängt und
743
welche Aufgabe ihn in ihr erwartet. Irrende sind beide, und
doch sind beide auf dem rechten Weg. In ihrem Begehren und
Widerstreben liegt auch schon ihr höheres und bestes Wollen.
Die Dichtung Parsifal wurde von Wagner 1877 vollendet,
die Partitur 1882, aber schon etwa dreißig Jahre vorher stieg in
ihm in einer entscheidenden Entwicklungsperiode seines Lebens
zum ersten Mal die Ahnung von der Bedeutung des Grals auf,
zu gleicher Zeit, als er den Ring des Nibelungen skizzierte. Das
ist sehr bemerkenswert. Glaubte er doch damals in der Be-
arbeitung der Nibelungensage seine optimistische Weltanschauung
zum Ausdruck zu bringen. Man begreift also nicht recht, was
neben dem Hort der Gral noch zu leisten haben sollte, wenn
man nicht annehmen will, Wagner habe damals schon gespürt,
dass dieser vermeintliche Optimismus in Anlehnung an eine
Feuerbachsche hellenistische Glückseligkeitslehre nicht den tiefsten
Ton seiner Seele schwingen ließ. Und so war es auch. Denn
einige Jahre später erfuhr Wagner durch die Bekanntschaft mit
Schopenhauers Schriften zu seinem eigenen Erstaunen, dass ihm
dessen Pessimismus, den er theoretisch immer noch ablehnen
wollte, durch seine poetischen Konzeptionen aus dem eigenen
Nibelungengedicht längst vertraut sei. Jetzt erst verstand er seinen
Wotan. Daher also die Ahnung, dass Siegfried und Hort nicht
der Weisheit letzter Schluss seien, dass ihnen vielmehr eine Seite
des Lebens noch fehle, und zwar diejenige, auf die Wagner letzten
Endes hinaus wollte: die Bedeutung der wirksamen, schaffenden
Persönlichkeit. Was im Ring zur Darstellung gekommen war,
war ja gar nicht die Welt des wohlgeordneten, die Menschheit
beglückenden Kosmos, in dem Siegfried und Brunhilde nach
kurzen Leiden als „Allvaters freie Genossen zu ewiger Wonne
vereint" werden, wie es ursprünglich heißen sollte, war vielmehr
die Welt des Wahns und des Begehrens, daher der ständigen
Qual und Enttäuschung, von der der Mensch sich befreien sollte
durch völligen Verzicht, durch Verneinung des Willens zum Leben,
um zur Ruhe zu kommen.
Das war Wagners Sehnsucht damals. Den früheren opti-
mistischen Glauben konnte er trotz höchster Anstrengung nicht
mehr aufrecht halten. Die bittersten Erfahrungen aller Art führten
ihn unwiderstehlich zu einer andern Lebensansicht: nicht Minne,
744
sondern der Fluch der Lust durch den Ring, den die Unterir-
dischen geschmiedet, beherrscht die Weit. Zum zweiten Mal
taucht jetzt, aber deutlicher, die mit dem Gral verbundene Hoff-
nung auf.
Die Komposition des Siegfried wurde bekanntlich zirka zwölf
Jahre unterbrochen; dort, wo Siegfried zum Walkürenstein zieht,
um Brünhilde zu erwecken, musste Wagner lange Zeit die musi-
kalische Gestaltung der Dichtung aufgeben. Sie gelang ihm nicht.
Hier versagte sich ihm die Musik, die Sprache des Herzens. Die
herrliche Siegfried-Brünhilden Liebe, wie konnte sie zum Aus-
druck kommen in seiner Kunst, die nach seinen Worten die Er-
füllung des Verlangens ist, sich selbst in den Erscheinungen der
Außenwelt wiederzufinden ! Die leidenschaftliche Liebe „des leuch-
tenden Tages" war ihm nicht zu Teil geworden. Er konnte sie
also nicht „wiederfinden". Sie war nur eine heiße Sehnsucht,
nie erfüllt, die Quelle aller Bitternis, und schien die böse Zauberin
zu sein, die immer wieder zum Glauben an die trügende Er-
scheinungswelt verführt. Nicht ein „siegendes Licht" wie Sieg-
fried war sich Wagner damals in ihr. Seine Liebe war ihm eine
düstere, verzehrende Glut, wenn auch heiß begehrt als „schönster
aller Träume" Es war die des jetzt gedichteten und kompo-
nierten Tristan, der in verzweifeltem Liebesleiden auf dem Sterbe-
bette liegt. Und zu ihm sollte, so war es Wagners Absicht, der
nach dem Gral suchende Parsifal einkehren.
Wie der Gral zugleich mit dem Ring, so taucht also Parsifal
zugleich mit dem Tristan auf, als Ergänzung, als Höherführung
des Willens. „Das Streben nach dem Gral vertritt das Ringen
nach dem Nibelungenhort" lautet Wagners Erläuterung, und an
die Stelle des Liebestodes durch Begehren tritt die Erlösung
durch Entsagung, einstweilen immer noch in der Bedeutung des
absoluten Lebensverzichts, worin Wagner durch die indische Phi-
losophie der buddhistischen Religion zeitweilig bestärkt wurde,
wobei sein rastlos sich entwickelnder Geist aber nicht definitiv
stehen bleiben konnte. Die Wotanswelt, die statt Minne Gold
wählt, statt Lebensinhalt Lebensgenuss, war in der Götterdämme-
rung der Vernichtung preisgegeben, Brünhilde gibt den Ring, das
Symbol alles fluchbeladenen Sehnens zurück, der Verzicht auf
die sinnliche Begehrlichkeit ist geleistet. Eine andere, bessere
745
Form des Entsagens gibt es nicht, die nun noch durch Parsifal
dargestellt werden müsste. Der Weg ist frei, nach Wagners Ab-
sicht, für ein neues Streben. Wonach? Wagners Seele kannte nur
ein Streben: nach Liebe! Was sie nicht sein soll, dies innere
Erlebnis war im Ring und im Tristan dargestellt: eigensüchtige
Triebbefriedigung. Sie stirbt den Liebestod. Ihre höhere Be-
stimmung gibt Wagner in Harmonie mit dem eigenen Erleben in
den Meistersingern und zeigt dort, einige Jahre nach dem Tristan,
wie Hans Sachs es macht, dass er „den Wahn fein lenken mag,
ein edles Werk zu tun". Das war der Anfang zur Verneinung
der Verneinung im Parsifal.
Als Wagner nach fast zwölfjähriger Pause die Komposition
des Siegfried in Triebschen wieder aufnahm und zu Ende führte
und in der unvergleichlichen Musik der jubelnden Liebe Ausdruck
verlieh, da hatte er sie selbst kennen gelernt. Der Ring behält
trotzdem seinen Charakter als Tragödie. „Selig in Lust und Leid
lässt die Liebe nur sein!" Diese Worte der Dichtung werden
nicht komponiert. Denn diese hohe Bestimmung kommt der
Minne in Wotans Welt nicht zu. Aber wer den mit dem Ring
verbundenen Fluch des Begehrens in sich nachempfinden kann
und entsagt, der findet im Gral den höheren Sinn der Liebe. Was
in allem Irrtum als notwendiger Durchgang längst geahnt war,
die Ergänzung, Fortsetzung und Vollendung des Ringens nach
dem Hort durch den Gral, jetzt tritt es in die Erscheinung, nach-
dem es in wahrer Liebe zum eigenen Erlebnis geworden war,
und wird in seiner ganzen Entwicklung vom Anfang bis zum
schließlich siegreich errungenen Ziel als Weg des Menschen und
der Menschheit im Bühnenweihfestspiel Parsifal dargestellt, im
Werk des Siegers.
Drei zieht es zum Gral: Klingsor, Amfortas und Parsifal, die
selben drei sind Kundrys Schicksal, sind mit Kundry durch gegen-
seitige Schicksalsbestimmung verbunden. Dem Zauberer Klingsor
ist sie die Verführerin, bei dem leidenden Amfortas die verzweifelte
Dienerin, bei dem erlösten Parsifal die liebende Gefährtin. Klingsor
wollte, trotz des sündhaften Wesens, das ihn ganz offenbar in
Gegensatz stellt zu den Rittern der Gralsburg, denen eine reinere
Lebensführung schon zur bewussten Willenstendenz geworden ist,
ohne vorausgegangene innere Überwindung sofort „heilig" werden,
746
einen Vollkommenheitszustand erreichen, in dem der Kampf mit
den widerstreitenden Trieben ohne weiteres aufgehoben ist. Er
entmannte sich selbst. Ein uralter Irrtum, der hier von Wagner
aus vertiefter Seelenerkenntnis verwandt wird, um zu zeigen, wie
ein Klingsor durch diese Vergewaltigung seines Wesens gerade in
das Gegenteil von dem getrieben wird, was er gehofft hatte. Er
hatte seiner Natur die gottgewollte Entwicklung und Bestimmung,
aus sich heraus über sich selbst hinauszuwachsen, abgeschnitten.
Von der Leitung durch den bewussten Willen getrennt, ging sie
nun ihre eigenen, ganz und gar sinnlichen Wege. Klingsor, der
ein Heiliger des Himmels zu werden beabsichtigte, wird zum ge-
fährlichsten Feinde des Grals, zur Personifizierung der Verführung
zur fleischlichen Lust, der in seinem Zauberschloss „selbst Heilige"
zum Opfer fallen.
Amfortas, der König der Gralsburg, zieht aus, ihn zu be-
kämpfen. Auf dem Wege dahin wird er durch seine sinnliche
Begehrlichkeit verführt, und während er in den Armen des schönen
Weibes liegt, stürmt Klingsor herbei. „Ein Todesschrei!" — Der
Speer, das Symbol seiner höchsten und heiligsten Aufgabe, den
Gral zu hüten, ward dem Amfortas entrissen und traf ihn mit
unheilbarer Wunde. Wie konnte das Amfortas geschehen? Er
ist doch Sohn und Nachfolger des Titurel, des Gründers der Grals-
burg und der heiligen Zeremonie, als Ausdruck des eigenen Willens,
die mit dem Symbol der Erlösung verbundene Überwindung der
sinnlichen Persönlichkeit selbst zu üben. Aber was in dieser Be-
deutung von Amfortas hätte angeeignet, gepflegt und entwickelt
werden können, wurde von ihm nur äußerlich als schöne Pose
dargestellt, so dass es die inneren Triebe nicht mehr leitete. So
wird ihm gerade der heilige Speer zum Verderben; er empfängt
durch ihn die Wunde, die nie sich schließen will. Nun seufzt und
stöhnt er unter dem heiligen Gut, das ihm anvertraut ist. Er fühlt
sich zu seinem Amt verdammt, sieht in sich den schlimmsten
Sünder unter allen, weil er gerade dort versagte, wo allein ein
Sieg erfochten werden sollte. Er meinte nur einfach als gekröntes
Haupt der Gralsritterschaft zum Streit ausziehen zu können. Er
fühlte nicht, dass nicht Klingsor, sondern dass in ihm selbst etwas
zu überwinden sei. So stürzt er sich in den Kampf mit dem
andern und unterliegt in der eigenen Seele. Zwar entsteht durch
747
(liese Todeswunde in ihm die Ahnung der einzig mögh'chen Hei^
lung, nämlich durch den reinen Tor, der durch Mitleid wissend
wurde, der die Erkenntnis von Gut und Böse nicht mit dem Ver-
lust der Unschuld erkauft hat, sondern in dem sie erwuchs durch
das Miterleben des Leidens der Menschheit. Aber mehr und mehr
entschwindet diese Hoffnung, denn „das heiße Sündenblut ent-
quillt ewig erneut aus des Sehnens Quelle"; möchte der Tod ihm
Erlösung bringen von der nie endenden Qual.
War des Amfortas Sehnsucht nur auf das schöne Weib ge-
richtet, hatte sie im Grunde nicht ein anderes Ziel? Warum fand
Amfortas es nicht?
Noch ein anderer Mensch der Gralsburg lebt in der großen
Sehnsucht, scheinbar ohne Ziel: Kundry. In rastlosem Dienen
hat sie versucht, sich Ersatz zu schaffen für die unerfüllt geblie-
benen Wünsche ihrer Seele. Aber das genügt weder ihr noch
andern. Die sehen in ihr doch nur das unheimliche Zauberweib,
die Verfehmte, ein wildes Tier, und sich selbst ist sie nur die
zwecklos Schaffende, die nie und niemandem hilft, und bisweilen
von innerem Zwang fortgetrieben wird von der heiligen Stätte,
wenn der Hunger in ihr zu groß wird und zugleich mit der Sehn-
sucht der Glaube an den Erlösenden in ihr erwacht. Doch immer
wieder erlebt sie die gleiche, furchtbare Enttäuschung. Denn
keiner weiß ja, wen sie sucht, wessen Bild sie treibt und lockt
aus schier unerreichbarer Ferne. Einst sah sie Ihn! Auf seinem
Kreuzesweg, als er hinging sich zu opfern, damit der neue Mensch
erstehe und lebe. Da traf sie sein Blick und etwas sprang in
ihr auf, das sie tief erschauern ließ, eine erschütternd große, selige
Ahnung ihrer höchsten Wesensbestimmung. Aber — sie lachte,
lachte blöd und höhnisch. Sie gab der neuen Hoffnung, die ihr
zum erstenmal einen Blick in eine höhere Welt öffnete, nicht Raum
in sich ; auch in ihm sah sie nur einen Mann. — Und dann war
er vorübergegangen! — Nun sucht sie ihn von Welt zu Welt,
bisweilen meint sie ihn wiedergefunden zu haben, schon ruht sein
Blick auf ihr, und um ihn festzuhalten, drängt sie sich an ihn
mit ihrer ganzen leidenschaftlichen Frauenliebe, mit all den an-
ziehenden Eigenschaften, die die Natur ihr gab, damit sie endlich
die Erfüllung ihrer tiefsten Sehnsucht fände — aber wieder sinkt
ihr ein Sünder in die Arme! So scheint ihr Sehnen ihr Fluch
748
zu sein ; keiner gibt ihr, wonach sie so brennend verlangt, denn
„schwach sind sie alle" ; auch Amfortas konnte ihr nicht wider-
stehen, als ihre körperliche Schönheit ihn reizte. Nur der, der
ihr nicht gibt, was sie zu wünschen scheint, könnte sie erlösen!
In diese Welt, in der der Wunsch „heilig" zu sein, zum bösen
Zauberer werden lässt, in der aus der Liebe nie endende Qual
entsieht, die nach dem Tod als dem einzigen Erlöser schreit, in
der das Sehnen nach ihm als Fluch gefühlt wird, tritt Parsifal ein,
wild, ungebärdig, ein reiner Tor, der ohne Wissen von Gut und
Böse ganz unwillkürlich sich treiben lässt, wohin der Reiz der
Welt ihn zieht, ganz ohne Verständnis für die Heiligkeit des Grals
und die Wunde des Amfortas; ganz naiv auch den Verführungen
der schönen Mädchen gegenüber, die ihn in Klingsors Garten
umschmeicheln. Dort ruft ihn Kundry. Sie lockt ihn, wie ihr
Wesen es ihr vorschreibt, nicht um ihn zu verführen, sondern
um durch ihn zu bekommen, wonach sie sich sehnt, lockt ihn
mit allem, was den Mann zum Weibe zieht, mit zarter Liebe und
glühender Leidenschaft, mit Verständnis für seine Schmerzen und
mit dem Glauben an den Helden und Erlöser in ihm, der berufen
sei, sie, die Unglückliche, endlich von langen, hoffnungslosen
Leiden zu befreien.
Bei alledem, je glühender sie wirbt und in ihm selbst die
Begier erweckt, brennt in Parsifal schließlich nur noch eins, ein
Schmerz des Körpers und der Seele: Amfortas' Wunde. Er weiß
jetzt, was sie bedeutet, fühlt in ihr die eine große Verfehlung der
Menschheit, den eigentlichen Wahn und Irrtum: „in höchsten
Heiles heißer Sucht nach der Verdammnis Quell zu schmachten!"
Der Mensch will Liebe. Unwiderstehlich zieht sie ihn, sie treibt
ihn zum Höchsten und wird ihm zum Fluch. Um sich und ihr
die Liebe nicht zum Fluch werden zu lassen, stößt Parsifal die
Kundry von sich.
Eine gewaltige Entwicklung der Menschheit widerholt sich in^
dieser Überwindung der sinnlichen Wünsche. Eine Erlösung von>
Egoismus, der in der Verbindung mit dem Menschen nur sich
selbst fühlt, nur das sieht, was der andre ihm sein soll. Da er jedoch
hinter den Liebeswünschen der Kundry nur die sinnliche Begehr-
lichkeit, aber nicht hinter dieser das tiefere: „Sehnen, Sehnen"
sieht, so ist die Abwehr der Kundry und die Verneinung der
749»
sinnlichen Wünsche nur die Vorbedingung der weiteren Entwick-
lung, die Hauptsache, die Wandlung der Wünsche, der „Torheit
in Sinn" fehlt noch durchaus.
Darum steht Parsifal jetzt, trotz der großen Tat der Über-
windung, noch viel Leid bevor. Er wendet sich von Kundry und
dem Gral, nicht so wie Amfortas es tut, der den Gral, der immer
wieder den Willen zum Leben in ihm erweckt, nicht mehr sehen
will ; Amfortas möchte endgiltig durch Verzicht auf den Gral den
Schluss des Lebens herbeiführen, um mit dem Leben seine Qual
zu enden. Parsifal geht fort, in die Welt hinaus, die er glaubt
durch Kampf und Streit überwinden zu müssen, und findet dort:
„Des Irrens und der Leiden Pfade". Lange, lange Zeit! — Schließ-
lich kehrt er dahin zurück, wohin ihn einst unwillkürlich die
Ahnung seiner Jugend gebracht, in's Gebiet des Gral. Dort er-
fährt er, wie das ganze Heiligtum zerfiel, seit Amfortas seines
Amtes nicht mehr waltet und bricht in großem Schmerz in die
Worte aus: „Und ich, ich bin's, der all dies Elend schuf!" Der
Tor ist durch Mitleid wissend geworden, nicht nur in dem Sinne,
dass er der Menschheit Weh und Verfehlung im eigenen Busen
fühlt, sondern jetzt in dem viel höheren: Die Menschheit leidet
mit ihm in seiner eigenen und durch seine Schuld.
Er weiß, er war „zur Rettung auserkoren", er hätte schon
das erste Mal, als die Gottesklage um das verratene Heiligtum
an sein Ohr schlug, helfen können. Statt dessen stürzte er hin
zu „wilden Knabentaten".
Diese erschütternde Erkenntnis möchte ihn fast vernichten,
aber mit der vollständigen Verurteilung seines bisherigen Wesens
ist er endlich frei geworden von selbstischen Wünschen. Er will
nichts von sich für sich. Dieser Oberflächenwille ist gebrochen
und öffnet dem tieferen Willen den Weg zum Licht. Wieder tritt
Kundry zu ihm. Sie lockt ihn mit dienender Liebe, unter der er,
der ganz Ermattete, die Augen aufschlägt. Jetzt haben sich die
Beiden in dem gefunden, was bisher in allem Sehnen so verzerrt
zum Ausdruck kam. Und als durch die Taufe, das Symbol der
Wiedergeburt des innersten Menschen, aller Schuld Bekümmernis
von ihm genommen ist, da kann er Kundry geben, was sie
braucht: Den Glauben an den Erlöser.
750
Nun enthüllt sich ihm durch Gurnemanz das letzte Geheimnis
im Mysterium des Lebens: Für die wahre Liebe ist der Karfreitag
nicht ein Schmerzenstag, denn am Karfreitag wurde der Mensch-
heit durch den Opfertod Christi die Erlösung gebracht und zu-
gleich das Vorbild der Nachfolge vollendet: „Wer sein Leben
verliert, der wird es gewinnen"; indem auf den der Welt der Er-
scheinungen zugewandten, begehrenden Willen als auf einen Irrtum
verzichtet wird, kommt der wahre Wille erst zur Entfaltung. Aus
dem Wahn entsteht das edlere Werk. Kundrys „Sehnen" ist doch
ihr bestes Teil gewesen. Es war ihr Fluch und wurde ihr Segen.
Denn damit lockte sie Parsifal zur Erkenntnis des Bösen und
des Guten, der nur begehrenden und der dienenden Liebe. Sie
gehört zu ihm durch das, was sie ihm geworden ist. Darum
geht Parsifal jetzt mit Kundry zur Gralsburg.
Parsifal ist des heiligsten Amtes würdig geworden, in er-
hobenen Händen für die Menschen das allerheiligste Symbol ihrer
Sehnsucht und ihrer Erlösung leuchten zu lassen. Er ist nicht
selbst der Erlöser, sondern nur der „erlöste Mensch", zu dem die
andern freudig aufblicken; denn er zeigt ihnen, wer die Erlösung
für sich gewinnt: Nicht ein Klingsor, der scheinbar in hehrstem
Bestreben die Natur vergewaltigt, nicht ein Amfortas, der in seinem
Sehnen nur die Sünde und Qual des Begehrens fühlt, daher
endgiltig auf alles verzichten möchte. Beide sind in einem Irrtum,
der die Erlösung trotz des Karfreitags unmöglich macht. Parsifal
— und Jeder ist Parsifal, wenn er, oder vielmehr soweit er den
Klingsor und Amfortas in sich überwindet — dringt allmählich
durch den Irrtum zur Erkenntnis hindurch : wer in der Liebe der
gegenseitigen Bestimmung lebt, dem wird sie die Kraft zur Er-
füllung der höchsten Aufgabe.
So sah Wagner am Schluss seines künstlerischen Schaffens,
aus dem Erleben der eigenen Entwicklung heraus, den Menschen.
Er brachte Licht in lange Dunkelheit: „Erlösung dem Erlöser!"
ZÜRICH OTTO MENSENDIECK
D DD
751
DAS „UNVERDORBENE" VOLK
Keiner wird es bestreiten wollen: seit die Welt steht, waren
die Ansichten und Empfindungen zwischen den Leuten, die sich
als Künstler, Kritiker und Sammler fortwährend und eingehend
mit der Kunst und ihrem Werden und Wachsen befassen, und
den vollkommenen Laien, die sich gerne das „unverdorbene Volk"
rühmen lassen, nie so himmelweit von einander entfernt. Fast
immer, wo der eine Hosiannah jubelt, schreit der andere Kreuziget
ihn; Erbitterung und Spott haben auf beiden Seiten einen solchen
Grad ereicht, dass man längst verzichtet hat, nach einer Brücke
zu suchen.
Jene merkwürdigen Schwärmer mögen wohl selten sein, die
da glauben, das Heil liege in der Anwendung demokratischer
Grundsätze auf die Kunst, und der Künstler habe sich einfach
nach der Mehrheit zu richten; andere Möglichkeiten, sich auf
einer Straße zu finden, werde wohl keiner entdecken. Weniger
selten hört man aber, das „unverdorbene" Volk, das sich noch
nie in ästhetischen Ideen verloren habe, folge seinem reinen
Empfinden und könne unmöglich in die Irre gehen.
Nun erlaubt aber das Prinzip der Aurea Mediocritas, das die
notwendige Folge jeder Demokratie ist, gerade noch, einen Staat
auf die Beine zu stellen, der nur für wenige ein starkes Hemmnis
ihres persönlichen Strebens bedeutet. Aber Kunst und Mittel-
mäßigkeit schließen sich aus wie Feuer und Wasser.
Zugegeben : es ist ein Übelstand, dass diese gleiche Straße
für Künstler und Volk nicht gefunden werden konnte. Bisweilen
möchte es zwar fast scheinen, man hätte sie erreicht; nur betrage
der Abstand zwischen Vortrupp und Gewalthaufe ein Dutzend
Jahre zum mindesten; das „unverdorbene" Volk von heute hat
längst vergessen, welch gehässigen Empfang es seinerzeit den
Marignanofresken bereitet hat.
Muss denn aber die Schuld an dem langen Abstand — oder
gar am ganz verfehlten Anschluss — durchaus bei den Künstlern
gesucht werden? Weil sie zu schnell gehen, zu hoch steigen,
weil man ihnen „einfach nicht" folgen kann? Wie wär's, wenn
einmal das Volk, oder auch jene, die es leiten, sich überlegte, ob
752
die Schuld nicht bei ihm liegt und ob ihm wirkh'ch das unver-
dorbene Empfinden eignet, das man ihm nachrühmt?
Vor einiger Zeit ist ein Büchlein geschrieben worden, das
den treffenden Titel führt „Der Schulaufsatz ein verkappter Schund-
literal"; schonungslos und folgerichtig weist es nach, dass die
Musteraufsätze, wie sie nicht Kinder, sondern einflussreiche Päda-
gogen gefertigt haben, unzweifelhaft zur Schundliteratur gehören,
dass also die Schule jahrzehntelang sich beflissen hat, den
Kindern das angeborene Gefühl für guten sprachlichen Ausdruck
abzugewöhnen. Der Erfolg zeigt sich in der Wahl des Lese-
stoffes, die das Volk trifft; er zeigt sich überall dort, wo ein ein-
facher Mann sich schriftlich äußern möchte und nicht über den
Aufsätzlistil hinauskommt. Das Geschlecht der Züs Bünzli hat
sich in die Hunderttausende vermehrt.
Ein anderes Büchlein wäre noch zu schreiben: „Das Schul-
wandbild ein verkapptes Schundgemälde", ich habe letzthin die
Schulausstellung des Pestalozzianums besucht und habe sie mit
Schaudern verlassen. Von den Bildern, die zur Verwendung im
Unterricht — ich spreche nicht vom Wandschmuck, der sich,
ach wie wenig, gebessert hat — da empfohlen sind, ist wohl
keines, das nicht die bescheidenste Kunstausstellung mit Entrüstung
zurückweisen würde. Die Farbe misstönend, alles ausdruckslos,
vieles erlogen, die Reproduktionstechnik so schwach, als sie
irgend sein kann. Pestalozzi sagte einst, für die Kinder sei das
Beste gerade gut genug; hier scheint der Gedanke gewaltet zu
haben, das Schlechteste sei für sie fast noch zu gut. Der Schund-
literat des Schulaufsatzes braucht sich nicht in Einsamkeit zu
schämen; er hat einen Genossen, der ihn um Haupteslänge überragt.
Vielleicht haben sich gewisse Schulen, haben sich hervor-
ragende junge Lehrer gegen diesen Schund gewendet — ich weiß
es nicht. Aber das weiß ich, dass ganze Generationen von
Menschen in den Jahren, wo die Augen am hellsten und der
Geist am weichsten ist, Tag für Tag vor diesen Bildern saßen,
dass sie ganze Stunden sich diese Scheußlichkeiten einprägen
mussten, bis ihr Gehirn davon erfüllt war. Kein Kunstwerk, auch
wenn man sich bisweilen mit einem solchen abgab, konnte so
753
lange und so tief wirken ; nichts konnte so sehr auf Denken und
Fühlen für das ganze Leben abfärben.
Und da kommt man nun mit dem „unverdorbenen" Volk
und seinem natürlichen Empfinden und möchte es zum Richter
in Kunstsachen erheben. Wo doch auf der Hand liegt, dass nur
ganz hervorragende Veranlagung oder gute häusliche Kunstpflege
oder strenge Arbeit an sich selbst dazu führen kann, um die Seele
nach einer solchen Durchtränkung mit dem elendesten Schund
wieder zu natürlichem Empfinden zu führen.
Unverdorben empfinden kann am Ende ein gescheiter An-
alphabet, wie man sie etwa in italienischen Dörfern findet, der
zeitlebens kein schlechtes Bild gesehen hat. Aber ein Volk, das
in seiner Jugend solches Kunstgift zu schmecken bekam, das dann
später durch traurige Reklameerzeugnisse, wie sie heute endlich
etwas seltener werden, gefüttert wurde; ein Volk, das die Kunst-
ausstellungen mit dem Gefühl besucht, alles besser zu verstehen,
da es ja aus der Schule weiß, wie man über Bilder spricht; ein
Volk, das ganz und gar 'die natürliche Gabe verloren hat, sich
in Kunstwerke einzufühlen, das stelle man uns nicht länger als
das Maß aller künstlerischen Dinge hin.
ZÜRICH ALBERT BAUR
SCHMUTZ UND HYGIENE
Der Aufsatz über „Schmutz" von Fritz Müller veranlasst mich zu fol-
genden Bemerkungen: Sicher ist der humorvolle Ansturm gegen die über-
triebene Bazillenfurcht gewisser Kreise eine gesunde Reaktion, die uns nur
angenehm sein kann. Auch die Auswüchse des Reinlichkeitsfanatismus sind
zu bedauern, namentlich wenn ihnen die Schönheit eines altersgrauen
Kunstdenkmals zum Opfer fällt. Es scheint uns aber notwendig, zwischen
Schmutz und Schmutz zu unterscheiden.
Vieles, das im gewöhnlichen Sprachgebrauch als Schmutz bezeichnet
wird, ist vom hygienischen Standpunkte aus vollständig harmlos und wird
meist aus erzieherischen, ästhetischen oder anderen Gründen bekämpft.
Hierher gehören die Flecken in einem Schulhefte, die Erde an den Händen
spielender Kinder usw. Davon muss aber reinlich geschieden werden, was
der Hygiene als schmutzig gilt; hierher muss alles, was unter Umständen
Krankheiten zu übertragen oder zu erzeugen vermag, gerechnet werden,
754
wie die Abfälle des menschlichen und tierischen Körpers, faulende oder in,
Zersetzung begriffene Stoffe des Tier- und Pflanzenreiches etc. Wir wissen,
dass solcher „Schmutz" immer große Mengen von Bakterien enthält, unter
denen krankheitserregende Arten sich vorfinden können. Diesen Schmutz
werden wir selbstverständlich überall, wo wir ihn antreffen, mit allen uns
zu Gebote stehenden Mitteln unschädlich zu machen suchen.
Wenn Fritz Müller auch diese Art von Schmutz als bedeutungslos
hinstellt, so müssen wir dem entschieden entgegentreten. Ein jeder weiß,
welchen Rückgang die Infektionskrankheiten durch die planmäßige Be-
kämpfung des Schmutzes in den Kulturstaaten erfahren haben. Die Bazillen-,
furcht ist nur dank den streng durchgeführten sanitarischen Verfügungen in
unseren Ländern unbegründet geworden, während sie anderwärts noch ganz
berechtigt ist. Fritz Müller erwähnt einige scheinbar wissenschaftliche Tat-
sachen, welche im Leser Zweifel an dem Wert dieser hygienischen Maß-
nahmen erwecken müssen. Der von Pettenkofer gemachte Versuch mit
Cholerabazillen nahm allerdings einen ganz anderen Verlauf. Pettenkofer und
sein Assistent Emmerich wollten die von ihnen vertretene Meinung beweisen,
dass die Choleravibrionen allein nicht ausreichen, den Symptomenkomplex
der Cholera hervorzurufen. Sie nahmen daher nach Neutralisierung des
Magensaftes etwas Wasser, in dem eine geringe Menge einer frischen
Cholerakultur aufgeschwemmt war. Pettenkoffer erkrankte bloß an heftigen
Durchfällen, Emmerich machte dagegen eine schwere Cholerainfektion durch,
welche ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Auf diesen Versuch hin die
„meisten hygienischen, aufdringlichen Angstregeln nach Pompeji gehen zu
heißen", scheint uns ganz ungerechtfertigt. Und wenn in den Ratschlägen
eines napolitanischen Fremdenführers ein komischer Widerspruch auffällt, so
mag uns der Mangel an Logik wohl belustigen, sollte uns aber nicht ab-
halten, beim Trinken von Wasser von fraglicher Reinheit in Italien vor-
sichtig zu sein. Dass wir schließlich mit jedem Atemzug Millionen Bakterien
in unser Inneres aufnehmen, ist nicht richtig; die in unsere Lungen ein-
strömende Luft ist in der Regel keimfrei. Die Vorstellung, dass diese
eingeatmeten Bakterien gar zu unserm Leben nötig seien, ist laienhaft
und vollkommen haltlos.
Zum Schluss sei nochmals betont, dass wir niemand durch die „epi-
demische Schmutz- und Bazillenfurcht" die Freude am Leben vermindern
wollen. Die Hygiene scheint uns im Gegenteil berufen, dem menschlichen
Leben eine größere Sicherheit und Sorglosigkeit als in vergangenen Jahr-
hunderten zu geben. Die Übertreibungen einzelner sollte uns nicht verhindern,
für die immer weitere Verbreitung der so einfachen, vom normalen Menschen
stets als eine Wohltat empfundenen hygienischen Maßnahmen einzutreten.
ZÜRICH R. KLINQER
DDD
KURZE ANZEIGEN
In dieser Rubrik werden unter Verantwortung der Redaktion kurze Notizen über Bücher,
Zeitschriften- und Zeitungsartikel erscheinen, die eine spätere einlässliche Besprechung nicht
ausschließen. Wir bitten unsere Leser, daran nach Lust mitzuarbeiten. D. R.
Von Walter von Molo i) ist der erste Band einer Schillertrilogie „Ums
Menschentum" herausgekommen. Prägnanter hätte der Verfasser den
') Walter von Molo: Ums Menschentum, Schuster & Loeffler, Berlin.
755
ersten Lebensabschnitt Schillers (bis zur Flucht nach Mannheim) nicht
überschreiben können. Dass er uns den Menschen Fritz Schiller erleben
lässt und nicht den distanzierten Geisteshelden Friedrich Schiller ist sein'
großes Verdienst. An sich zu erproben, wie ihm das gelingt, ist jedes
Lesers Sache. Hier sei bloß bemerkt, dass, so weit mir die Nachprüfung
möglich war, die einzelnen Daten mit bewunderungswürdiger Genauigkeit
wiedergegeben sind. Wie gewisse Partien aus den „Räubern" in den Dialog
verarbeitet werden, ist meisterhaft. Das Zeitkolorit ist mit gutem Ausdruck,
wenn auch manchmal künstlerisch verklärt, wiedergegeben. Das Buch,
auf das ich nach dem Erscheinen der beiden angekündigten letzten Teile
der Trilogie „Im Titanenkampf" und „Den Sternen zu" einlässlich zurück-
kommen werde, hat kulturhistorischen Wert.
DER FALL JACOBSOHN wird heute von dem Betroffenen in einer
im Verlag der Schaubühne erschienenen Schrift selbst erörtert. Man erinnert
sich, dass der Berliner Theaterkritiker Siegfried Jacobsohn im Jahr 1904
des Plagiats bezichtigt und in einem unrühmlichen Kesseltreiben um Amt
und Brot gebracht wurde; seither führt er in so tapferer und weitsichtiger
Art die Zeitschrift Die Schaubühne, dass er dadurch schon rein gewaschen
wäre, hätte er auch wirklich ein schweres Verbrechen begangen. Heute,
nachdem er neun Jahre sich über den Fall ausgeschwiegen, erklärt er das
Hineinkommen fremden Eigentums in seine Kritiken durch ein abnorm
tätiges Gedächtnis, gegen das er immer beim Schreiben gewappnet sein müsse.
Das verdient bei einem so reichen Geist und ehrlichen Kritiker Glauben;
besonders wenn man bedenkt, dass es viel leichter ist, einen festen Ge-
dankengang, wie er sich in der angegriffenen Besprechung findet, aus eige-
nen Mitteln zu bestreiten als störendes fremdes Gut hineinzuweben.
Was Jacobsohn begegnet ist, ist ein Berufsunfall, wie sie bei Kritikern
in der Regel tötlich verlaufen. Alles, was der Kritiker sagt, sagt er vor der
breiten, geschwätzigen Öffentlichkeit; ein leichter Maschinendefekt des Ge-
hirns setzt ihn Hohn und Spott oder Beschimpfung und Verachtung vor
der Menge aus. Und da jeder rechte Kritiker immer ein paar dutzend Feinde
hat, die das Strafgesetz nur mit Mühe davor bewahrt, Gift und Dolch gegen
ihn zu verwenden, so kennt er genau die Folgen seines Straucheins.
Die Schrift, der ein Reisetagebuch durch Italien und Paris zu köst-
lichem Schmucke dient, liest sich wie ein knapp gehaltener Roman, der das
Thema der rasch gefallenen und sich wieder aufrichtenden Größe behandelt.
In dem tätigen Verlag Eugen Salzer in Heilbronn erscheint seit kurzem
eine Taschenbücherei deutscher Dichter, alle Bändchen Zierden deutscher
Erzählungskunst und dazu rdcht angenehm gedruckt und ausgestattet. Von
der warmherzigen schwäbischen Erzählerin AUGUSTE SUPPER erschienen
da fünf Erzählungen unter dem Titel Am Wegesrand; Diakonus Kaufung
von HERM. ANDERS KRÜGER, mit einer andern Geschichte des selben
Verfassers ein zweites Bändchen füllend, ist eine gut geschaute und dar-
gestellte Entwicklungsstudie.
Das neueste Bändchen Sisto e Sesto unseres Landsmanns HEINRICH
FEDERER ist ohne Zweifel das bestgeschriebene seiner Werke; der Kon-
756
flikt zwischen dem strengen Kirchenfürsten Sixtus V. und seinem in armem
Bergdörfchen zum Briganten gewordenen und nun dem Tode geweihten
Bruder Sesto und dessen Sohn bietet des Überraschenden genug. Federer
hat hier zum erstenmal sich vom Gewand des Alltags befreit und seinem
Stil etwas festlichere Rhythmen zu geben versucht. Das ist ihm nicht übel
gelungen; es steht zu erwarten, dass er den Versuch mit noch besserem
Erfolge wiederholen werde.
EIN BEKENNTNIS. In seinem anregend geschriebenen, hübsch illus-
trierten Buche Aus dem unbekannten Italien (München 1911, R. Piper & Co.)
schreibt Alfred Steinitzer, für den der Offizierstand kein Hindernis war,
das wirkliche Italien und den wirklichen Italiener kennen zu lernen, Seite
86 und 87:
„ . . . Auch die persönliche Schätzung und Beliebtheit des Reichs-
deutschen vermindert sich zusehends. Mit patriotischem Bedauern muss fest-
gestellt werden, dass die Schuld hieran durchaus den Deutschen zur Last
fällt. Denn sie verstehen es nicht, die Italiener zu behandeln, weil ihnen
Kenntnis und Verständnis des italienischen Volkes fehlt. Die Italiener
werfen dem Deutschen vor, dass er ihnen auf Schritt und Tritt seine Über-
legenheit zeigt, und wer seine deutschen Landsleute vorurteilslos in Italien
betrachtet, muss diesen Vorwurf leider als nur zu berechtigt anerkennen.
Während der Deutsche seit Jahrhunderten den Franzosen und Englän-
der in vielen Stücken nachäfft, hat er keinen Blick für das Stück Kultur,
das noch heutzutage im Italiener, dem ältesten Kulturvolke Europas steckt.
(Die heutigen Griechen können als Nachkommen des alten Kulturvolkes
nicht angesehen werden.) Er fühlt sich, wenn er ein paar Kapitel aus
einer Kunstgeschichte gelesen hat, über den Eingeborenen, der zwar noch
weniger weiß als er, dem aber dafür die ererbte Kultur im Blute steckt,
erhaben; er zeigt ihm die Überlegenheit des Wissens, steht ihm aber an
Taktgefühl nach; er fühlt sich als Angehöriger des großen Deutschen
Reiches in politischer Bildung höher stehend, obwohl der nationale Sinn
des Italieners weit stärker ausgeprägt ist; er rümpft die Nase über dessen
mangelhafte Sauberkeit, obschon der Italiener weiße Wäsche und er ein
Jägerhemd trägt; der Ausdruck: „il Jägerhemd" wird für den Deutschen
ebenso angewandt, wie „la bistecca" (Beefsteak) für den Engländer, nur
hat er eine weit schärfere Spitze. Der „Lodendeutsche" aus dem Süden und
der im Vollbewusstsein seines Wertes schneidig auftretende Reserveoffizier
und Beamte aus dem Norden haben uns die Sympathien gründlich ver-
scherzt, die wir noch lange nach dem Kriege 1870—1871 in Italien genos-
sen haben.
Als Kuhurvolk sind wir Deutsche den Italienern gegenüber immer noch
Parvenü trotz unserer größeren Gelehrsamkeit und industriellen Tüchtig-
keit; wir kranken an dem Kastengeist des Offiziers- und Beamtentums,
der aus der historischen Entwicklung Preußens begreiflich, aber nunmehr
überlebt ist und der den demokratischen Italiener, der auch in den niederen
Ständen bis zu einem gewissen Grade immer „signor" sein will und es
durch eine gewisse „gentllezza" auch ist, verletzen muss. „Mitgebrachter
Maßstab und weiter Abstand" (wie sich ein genauer Kenner, A. Zacher,
in einem kürzlich erschienenen Buche über römisches Volksleben ausdrückt)
— das ist der Grund, warum der Deutsche den Italiener nicht versteht,
757
und die Schranke, die eine wahre Herzlichkeit verhindert. Und das kann
den Deutschen, die jährlich zu ungezählten Tausenden nach Italien pilgern,
gar nicht oft und eindringlich genug vorgehalten werden."
DDD
Wir verlassen uns vielleicht zu sehr auf LA SVIZZERA FARA DA SE
und vergessen inzwischen aufzumerken auf anscheinend belanglose Vor-
gänge, die, näher besehen, als Teile jener Aktion, welche die Entnationali-
sierung der Schweiz vorbereitet, sich erkennen lassen. Zu den Akteuren
und Kulissenschiebern zählen unter anderm — wir überzeugen uns davon
immer mehr — die Sektionen und Vorstände der Societä Dante Alighieri,
die bei unglaublich vielen Machinationen ihre Hand im Spiele haben.
Ein Beispiel für viele: am 31. August a. c. fand in Pallanza eine
zweite Zusammenkunft der italienischen Unterstützungskassen in der
Schweiz (deren Kongress von Ende August bis zum 4. September dauerte)
mit dem Zentralkomitee der Societä Dante Alighieri statt. Wir sind ver-
sucht zu glauben, dass diese Gesellschaft die Rolle übernommen habe, den
italienischen Unterstützungsvereinen in der Schweiz den nationalen Rücken
zu steifen. Jedenfalls kommt es kaum von ungefähr, dass an dem im Früh-
jahr dieses Jahres in Mailand abgehaltenen Emigrationskongress Worte
gefallen sind, die darauf deuten, dass man die Unterstützungskassen der
italienischen Emigranten nicht in erster Linie wegen der Sorge für ihr ma-
terielles Wohlergehen, sondern um der Bewahrung und Pflege nationaler
Gesinnung willen unterhält. Von mehreren Rednern wurde bedauert, dass
die italienischen Krankenkassen in der Schweiz der eidgenössischen Sub-
vention nur teilhaftig werden, wenn sie auch Schweizer als vollberechtigte
Mitglieder aufnehmen.
Es ist anscheinend nicht genug, wenn unser Staat italienischen Kassen
Vergünstigungen gewährt, wie dies kein zweiter Fremden gegenüber tut;
diese unterstützten Ausländerkassen empören sich sogar, dass man an die
Ausrichtung der eidgenössischen Subvention die Bedingung anstandsloser
Aufnahme allenfalls sich zum Eintritt meldender Schweizer knüpft. Freilich:
man hat die Ausländer in unserem Land förmlich zum Glauben erzogen,
dass sie in allen Fällen mindestens die selben Rechte zu beanspruchen hätten
wie wir Schweizer selbst. Lese man doch den materiell nicht zu beanstan-
denden, formell aber unglückselig redigierten Satz in Artikel 3 der Kranken-
und Unfallversicherung: „die Kassen dürfen Schweizer nicht ungünstiger
behandeln als andere Mitglieder"; dann wird man einsehen, wie sehr wir
die Ausländer in ihrer falschen Auffassung und gelegentlichen Anmaßung
bestärken.
Die italienischen Unterstützungskassen wollen nicht vorab oder gar
ausschließlich gemeinnützige Institute sein, sondern italienische Inseln im
fremden Land, die, geleitet durch die Einflüsterungen der Societä Dante
Alighieri, für Ausbreitung des nationalen Gedankens und Empfindens be-
sorgt sind. Im Grunde genommen sind sie Bazillenherde in unserm staat-
lichen Organismus, die mit Schuld tragen an dem schleichenden Fieber,
das ganz allmählich — wenn wir nicht energisch Vorsorge treffen — unsere
nationale Gesundheit verzehren wird.
Ja wohl: la Svizzera farä da se; aber gleichzeitig: Videant consules,
ne quid res publica detrimenti capiat. a. st.
DDD
758
JUNGTÜRKISCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK
Der Balkankrieg wird sicherlich auch zu einer teilweisen Umbildung
der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei führen, wie dieser Krieg
überhaupt ganz neue wirtschaftliche Perspektiven eröffnet. Das Eingreifen
der Staatsgewalt wird unvermeidlich sein, wenn die Türkei nach dem starken
Aderlass wirtschaftlich wieder in die Höhe kommen soll. Nicht allein die
Staatsfinanzen müssen reorganisiert, sondern auch die innere und äußere
Wirtschaftspolitik auf neue Grundlagen gestellt werden. Diese Fragen dürften
an das Osmanreich herantreten, so bald die letzten Kriegssorgen verscheucht
sind und das Land das politische Gleichgewicht wieder gefunden hat. Der
Islam huldigt eher einer individualistischen Wirtschaftspolitik; der Staats-
begriff ist ihm im Grunde genommen etwas Fremdes, er ist anti-etatistisch,
antinationai. Hartmann Der Islam, 1909, S. 64) sagt: „Das öffentliche
Recht ist fast gar nicht ausgebildet. Diese Unausgebildetheit wird Veran-
lassung, dass das persönliche Element, das im Vorstellungsleben besonders
stark ist, sich in der Gemeinde vordrängt, dass sich die Parteien zügellos
gebärden, dass die inneren Wirrnisse abreißen." Hat der Islam von heute
den Willen zum Staat?
Soeben hat ein junger deutscher Gelehrter in einem lehrreichen Buche
die Frage aufgeworfen, welche Wege die jungtürkische Wirtschaftspolitik
einzuschlagen habe (Carl Anton Schaefer, Verlag G. Braunsche Hofbuch-
druckerei, Karlsruhe). Das Buch erörtert neue interessante Probleme und
bietet eine Würdigung der ökonomischen und finanziellen Machtfaktoren.
Wie kaum in einem andern Werke findet man hier eine zusammenfassende
Darstellung der Banque Ottomane, die eine ungeheuer wichtige Rolle im
türkischen Wirtschaftsleben spielt. Die „Ottomanbank", wie der Börsen-
name schlechthin heißt, ist der Finanzagent der türkischen Regierung; sie
ist sodann gleichzeitig Kreditbank und Notenbank. Weder der Tripoliskrieg
noch der Balkankrieg konnte dem Institut etwas anhaben; das Vertrauen
der Geschäftswelt blieb ihm erhalten. Trotz Kirk-Kilisse und Kumanowo
ist der Notenumlauf eher noch gewachsen ; er hat sich auch Ende November
1912 trotz Lüle Burgas ziemlich behauptet und Ende Dezember während
des Waffenstillstandes wieder vermehrt. Für die zähe Lebenskraft der
Türkei ist die Tatsache Beweis, dass Handel und Verkehr nicht in einem
Maße eingedämmt wurden, wie man es eigentlich bei einem Lande erwarten
müsste, das ein Teil seiner Volkskraft auf dem Schlachtfelde ließ. Im Jahre
1925 läuft das Privileg der „Ottomanbank" ab; ob es erneuert werden wird,
erscheint heute zum mindesten sehr fraglich. Die Jungtürken, die eine
regere, von ausländischen Einflüssen unabhängigere Wirtschaftspolitik in-
augurieren wollen, planen eine „Nationalbank". Die „Ottomanbank" wahrte
tunlichst ihr Privatinteresse; sie hat früher den Versuch gemacht, ihre Noten
auch außerhalb Konstantinopels zahlbar zu stellen, allein sie wurde von
dem Versuche abgebracht, weil die andern Banken dies als einen billigen
Weg ansahen, auf Kosten der „Ottomanbank" sich Gold in der Provinz zu
verschaffen, indem sie die Noten dort präsentierten und die Goldversen-
dungskosten so ersparten.
Die ökonomischen Betrachtungen, die Schaefer an die Neuordnung der
staatlichen Verhältnisse schließt, treffen heute, nach dem Frieden von Bu-
karest, nicht mehr überall zu. Das Buch wurde Ende April 1913 bereits
759
abgeschlossen. Wie sich die neue Gruppierung im einzelnen vollzieht, kann
zurzeit noch nicht vorausgesehen werden; denn es ist ein überaus wahrer
Satz, dass bei aufsteigenden Ländern wirtschaftliche Gesichtspunkte ent-
scheiden. Vor dem Balkankrieg war die Türkei der größte Abnehmer bul-
garischer Waren. Wird nun für diese Produktion ein anderes Absatzgebiet
erschlossen, so dass man auf die Türkei verzichten kann? Ist das nicht
der Fall, so wird man wohl suchen, mit der Türkei in irgend einer Form
ins Reine kommen zu müssen. Im Jahre 1911 beschloss die Handelskammer
in Sofia, die Handelskammern in Belgrad und Konstantinopel zur Bildung
eines serbisch - bulgarischen und eines türkisch - bulgarischen Ausschusses
einzuladen. Der Zweck dieser Ausschüsse sollte sein, die gegenseitigen
Handelsbeziehungen der drei Länder zu fördern, ohne sich in die innere
oder äußere Handelspolitik der betreffenden Staaten einzumischen. Der
serbisch-bulgarische Ausschuss ist also vor dem Kriege gebildet worden.
Zur Gründung des türkisch-bulgarischen Ausschusses waren die ersten
Verhandlungen in Konstantinopel eingeleitet und das Programm des „Comite
Turco-Bulgare" ausgearbeitet worden. Es enthielt Richtlinien zur Annähe-
rung in Verkehrs-, Zoll-, Handelsrecht- und Landwirtschaftsfragen.
Der Kampf um die Balkanmärkte hat nun von neuem begonnen.
Deutschland macht Anstalten, Österreich, das bisher im Balkanhandel ein
unbestrittenes Übergewicht hatte, aus seinen beherrschenden Positionen zu
vertreiben ; schon vor dem Abschluss des Bukarester Friedens hat ein Heer
deutscher Agenten und Handelsreisender sich an Ort und Stelle begeben.
Die Balkanländer werden trachten, aus vorwiegenden Agrikulturstaaten sich
auch teilweise zu Industriestaaten heranzuentwickeln, denn die einseitig
agrarstaatliche Entwicklung ist für die nationale Selbständigkeit ebenso
wenig erwünscht wie eine einseitig industriestaatliche. Die Verselbständigung
der Wirtschaftspolitik wird daher neben der Wiederherstellung der Militär-
macht oberstes Ziel der Türkei und der Balkanstaaten werden. In seinem
Werke über die Albanesen sagte Georgwitsch, dass heutzutage für jede
Politik die Volkswirtschaft ausschlaggebend sei; für solche Länder sei die
Gewalt der wirtschaftlichen Tatsachen ein unbeugsamer Lehrmeister, der
auch den Blick utopistischer Gefühlspolitiker zur Erde zwinge. Schaefer
glaubt heute noch an die Ausführung des Programms des „Comite Turco-
Bulgare"; es in die Tat umzusetzen, werde das nächste Ziel für die An-
näherung sein, ganz im Sinne der bekannten Lehre David Humes und Adam
Smiths, dass eine Nation, wenn sie sich selbst Reichtümer erwerben will,
darauf bedacht sein müsse, die wirtschaftliche Stellung ihrer Nachbarvölker
zu stärken.
Das Buch von Carl Anton Schaefer lässt uns erkennen, welch eine
Fülle interessanter Wirtschaftsprobleme in der Türkei und im Balkan der
Lösung harren. Da, wo es sich um die Schilderung bestehender Verhält-
nisse handelt, befriedigt das Buch in hohem Grade. Nicht ein Gleiches
lässt sich sagen von jenen Partien, die mit der wirtschaftspolitischen Zu-
kunft sich befassen. Hier sind streng zu sondernde wirtschaftliche Posulate
mit Erfahrungssätzen der Balkanpolitik in einer Weise zusammengeworfen,
dass, wer die konkreten Verhältnisse nicht aus eigener Anschauung kennt,
kaum daraus klug wird.
ZÜRICH PAUL QYGAX
aaa
760
ZUR ÖKONOMIE KÜNSTLERISCHER KRÄFTE
Geistreich hat Ed. Korrodi im ersten Augustheft die ästhetische Ver-
rechnung von Hauptmanns „Festspiel in deutschen Reimen" durchgeführt.
Der Fall regt noch einige Betrachtungen an.
Wie fiel man just auf Hauptmann als den Berufenen zu einer patrioti-
schen Dichtung für die Masse? Finden sich Ansätze, Verheißungen oder
gar Erfüllungen in dieser Richtung bei dem Dichter? Nicht dass ich wüsste.
Auch von seinem großen historischen Drama, dem Florian Geyer, kann
man's wahrlich nicht sagen. Viel ergreifendes gegenständliches Detail, aber
kein durchsichtiger Bau in einfach-großen Linien; eine Fülle farbiger Ge-
stalten, aber keine starke dramatische Gestaltung; ein Held, der nicht
eigentlich heldenhaft wirkt. Heldisches Pathos ist Hauptmanns Sache nicht.
Das soziale Empfinden und Mitleiden pulsiert stark in ihm. Die mensch-
liche Schwäche ist bei ihm besser aufgehoben als die menschliche Größe,
das Leidende besser als das mannhaft sich Wehrende, kraftvoll Kämpfende,
noch im Unterliegen Siegende. Mit solcher Veranlagung, die einem tief
pessimistischen Zug gehorcht, ist gerade dem Enthusiastischen nicht leicht
beizukommen. Und doch wird just eine Festspieldichtung, die den Strom
aufflutender, hinstürmender, mitreißender Begeisterung eindrücklich zur An-
schauung bringen soll, ohne dieses Element eines heißen, unter Umständen
unbedenklichen Draufgängertums die Würze der Volkstümlichkeit einbüßen
und kalt lassen. Vollends das ironische Element aber ist ein Todfeind aller
Popularität. Hauptmann glaubte nicht darauf verzichten zu sollen. Les
petites marionettes fönt, fönt, fönt trois petits tours et puis s'en vont —
heißt's in dem alten französischen Kinderreim. So erscheint, wie einem
Anatole France, einem Gerhart Hauptmann das Weltgeschehen und das
Menschentreiben. Das schmeichelt aber dem Stolz der Menge nicht.
So hätte Hauptmann, und war er tausendmal ein Schlesier von Ge-
burt, für die Breslauer Aufgabe gar nicht in Betracht kommen dürfen. Die
ihn darum angingen, haben seine spezifische Begabung völlig verkannt.
Und das darf man ihnen als eine Versündigung gegen die Ökonomie des
Talentes anrechnen. Freilich, man wird dem gegenüber einwenden: Gerhart
Hauptmann hätte das selber einsehen und auf die Anfrage einen ablehnen-
den Bescheid geben sollen. Allein das ist leichter gesagt als getan. Ein
solcher Auftrag birgt eine starke Lockung. Wenn andere einem etwas zu-
trauen, ist es so leicht nicht, sich selbst zu misstrauen. Wer weiß, vielleicht
bringt man's doch auch zustande. Und die Ehre, die man damit davonträgt,
verführt. So kommen dann derartige falsche Situationen zustande. Die
Auftraggeber spekulieren mit dem berühmten Namen, und der berühmte Autor
lässt sich ködern. Das Resultat wird eine allgemeine Enttäuschung sein,
und der Künstler, der sich verführen ließ, trägt den schwersten Schaden
davon. Er wird aus den Grenzen seines Talentes herausgetrieben. Mit den
ihm verliehenen Mitteln soll er etwas machen, wozu sein Genius ihm die
Inspiration, die Kraft versagt ; sich selbst untreu werden will er auch nicht,
denn dazu ist er doch zu sehr Künstler, weiß auch, dass seine Freunde
ihm genau auf die Finger sehen und ihm sofort vorrechnen würden, er habe
schnöde zu fremden Göttern gebetet. So wird er niemand befriedigen. Er
zerbricht an einer Aufgabe, für die er nimmermehr geschaffen war.
761
Was bei Hauptmann sich ereignet hat, das kommt gar nicht so selten
auch auf andern Gebieten künstlerischen Schaffens vor. Ein Maler, ein
Bildhauer kann in ganz dieselbe Zwickmühle hineingeraten. Einsichtslose
drängen ihn in eine Arbeit hinein, der seine eigenste Begabung widerstrebt;
ein falscher Ehrgeiz, vielleicht der Hintergedanke: Jetzt will ich's denen,
die mir das nicht zutrauen, zeigen, dass sie sich geirrt haben ; eine schwäch-
liche Nachgiebigkeit gegenüber falsch beratenen und falsch beratenden so-
genannten Verehrern — sie locken ihn in das Netz. Kostbare schöpferische
Kräfte sind durch eine solche Missachtung der Ökonomie, die im künstleri-
schen Leben so gut zu Recht besteht wie im wirtschaftlichen, sozialen,
politischen, wo the right man on the right place wichtigstes Prinzip ist,
auf's schwerste geschädigt, unter Umständen in ihrem Lebensnerv getroffen
und vernichtet worden. Wir wollen das Allgemeine nicht durch Beispiele,
die auch in unserem Lande zur Verfügung ständen, verdeutlichen ; aber
unwichtig schien es uns nicht, die Breslauer Festspielfrage auch von diesem
Gesichtspunkt aus hier zu betrachten. Sie birgt eine Lehre in sich, die
ernstlich erwogen und beachtet zu werden verdient.
ZÜRICH H. TROG
a D D
„ARNOLD REITZENSTEIN"
Einen ganz merkwürdigen Begriff vom Wert der Untertitel scheint mir der
Verfasser dieses Buches') zu haben. Es gibt allerlei Leute, auch solche,
die manchmal den Drang fühlen, sich ihren Mitmenschen dadurch bekannt
zu machen, dass sie etliche Druckbogen mit jammergestaltigen Gedanken
bedrucken lassen. Zu diesen gehören verliebte Jünglinge oder andere
närrische Seelen. Meistens pflegt man solche Erzeugnisse zu späterem
rentablem Gebrauch zu alten Zeitungen zu legen; hin und wieder aber ist
es nicht unangebracht, einem solchen „Roman" auf die Schliche zu kommen
und das Publikum darüber aufzuklären, dass es noch andere Schundliteratur
gibt als Hintertreppenlektüre.
Mein verehrter Herr Verfasser, nehmen Sie mir meinen Ausfall nicht
zu übel. Er gilt nicht so sehr Ihnen, als der ganzen Horde derjenigen,
die Ihnen die Berechtigung geben, an Ihre gute „Muse" zu glauben. Bitte,
lesen Sie einmal im Buche eines Ihrer Freunde einen Satz wie den, den
Sie uns schon auf der ersten Seite auftischen:
„Es war einer der ersten Junitage des Jahres 1848, als nach jähem
Rückfall der Kälte, wie er alljährlich gegen Ende Mai den Winter noch-
mals auf die schon in Blätter- und Blütenfülle schwellenden Fluren herab-
zubannen droht, plötzlich wieder eine so warme Luft hereinströmte, als ob
der Lenz, dem soeben erst wieder siegreich zurückgekehrten Winter zum
Trotz, gleichsam schon die heißen Tage des Juli herbeibeschwören wollte."
Was würden Sie dazu sagen?
Oder wenn Sie lesen:
1) Hermann Brunnhofer, Arnold Reitzenstein — Kulturhistorischer Roman aus Hein-
rich Zschokkes Nachwelt — Max Drechsel, Bern.
762
„Inzwischen war die Mittagspause mit ihrem Rednergenuss und den
Tafelfreuden vorüber gerauscht ..."
Oder:
„Das Schützenfest rauschte vorüber . . .**
Oder:
„. . . und das Gefährt war am Hause Föhrenta! vorbeigerauscht . . .'^
„Rauschen" Sie da nicht selbst ein wenig auf?
Es mag für Sie sehr begeisternd sein, dass in einem „Gärtlein" „auf
der einen Seite Kartoffeln, Gurken, Kohl, Spinat, Mangoldkraut, Rettiche,
Zwiebeln, Sellerie, Petersilie, Kresse, Körbelkraut gezogen wurden, auf der
andern Seite aber in mehreren Reihen an dünnen Tannenstecken hoch-
emporrankende Prahlbohnen mit ihrer Fülle von Purpurblüten die Haupt-
rolle spielten; weiterhin Immergrün, flammend rote Tulpen, Kaiserkronen,
glühende Pfingstrosen, Resedas, Nelken, blendendweiße Lilien, ein beschei-
denes Dasein fristeten.''
Ich würde Ihnen sehr empfehlen, sich etwas vollständiger auszudrücken
und auf der einen Seite Rüben, Kohlrabi, Knoblauch, Erbsen, Hocker-
bohnen etc. auch eine Rolle spielen lassen, auf der andern aber auch herr-
lichblauen Kornblumen, wundergelben Strohsternen, süßschwarzen Dahlien
ein bescheidenes Dasein zu fristen erlauben.
Ist es nicht rührend dass einer sein Instrument „herunterlangte" (ge-
meint ist von der Schulter) „und Zwyssigs Melodie zu Widmers Schweizer-
psalm blies?" Warum in aller Welt drucken Sie dann zu den Worten, die
Sie für zwei Strophen anführen, nicht auch die Melodie ab? Ist es nicht
eine Offenbarung, wenn im Jahre 1850 „die Schweizerinnen in Staat und
Gemeinde zur gleichberechtigten Stellungen in jeder Art von Amts- oder
Privatbureau als Sekretärinnen, Kassiererinnen, Telegraphistinnen, Tele-
phonistinnen, Postbeamtinnen, Advokatinnen, Pfarrerinnen, Lehrerinnen»
Professorinnen, Schulinspektorinnen, Armenfürsorgerinnen gewählt worden
sind ?"
Wenn die Engländerinnen im selben Jahr 1850 „mit Radau ins Parla-
ment oder in städtische Ratsversammlungen einbrechen, den Ministern oder
Ratsherren Steine an den Kopf werfen", fällt Ihnen da nicht auch ein Stein
auf den Kopf?
Wenn „die Lawine der Berichterstattung losbricht", „ein Mund mit
Küssen überschüttet" wird, wenn „es Lothar in seinem schweizerisch scham-
haften Gemüte graut", wenn man 1850 im Schnellzug Frankfurt-Basel, 1852 im
Nachtzug nach Aarau sitzt, zwischenhinein das Einjährigfreiwilligenjahr ab-
dient, während doch die Eisenbahnstrecke Frankfurt-Basel, die Nachtzüge nach
Aarau, das Einjährigfreiwilligenjahr Dinge sind, die im Jahre 1852 der Zu-
kunft vorbehalten waren ; wenn man dann erst auf Seite 99 des „kultur-
historischen" Romanes angelangt ist und 192 Seiten besprechen sollte,
klappt man das Buch zu und überlässt es eventuellen Lesern, größere Lang-
mut aufzubringen.
Man wird nach diesen Beispielen begreifen, dass man mit einer guten
Dosis Unglauben an die Lektüre des schon einige Jahre früher erschienenen
Werkes des gleichen Autors, Professor für Sprachen an der Berner Uni-
763
versität, herantritt^). In diesem Buch, das die Schweizersagen wissenschafthch
behandelt und in Vergleich mit den deutschen Sagen zieht, machen die
Quellenangaben, die Anmerkungen und Nachträge einen soliden Eindruck.
Sicher ist nur das eine, dass das vom Verlag als Hausbuch empfohlene
Werk ein solches nie werden wird, da es die Fassungen der verschiedenen
Sagen nicht oder nur auszugsweise und sehr nüchtern wiedergibt. Gegen
Familienanschluss spricht auch der nach meiner Meinung falsche Stand-
punkt des Verfassers über das Verhältnis des Volkes zur Sage. Nicht da-
durch, dass man die Echtheit der Sagen an und für sich in Zweifel gesetzt
hat, sind sie dem Volk entfremdet worden, sondern, weil man sich alle
erdenkliche Mühe gegeben hat, und zwar mit Erfolg, die Wirklichkeit der
Sagengestalten abzuleugnen. Dadurch dass man die Zusammenhänge
dieser Gestalten mit Naturvorgängen nachweist, mögen diese nun noch so
gemeinverständlich sein, ist nichts geholfen. Volksbuch wird nur ein solches
Werk werden, das den Volksglauben wieder zu wecken im Stande ist! Wer
wagt sich an diese Aufgabe?
ZÜRICH ROBERT JAKOB LANG
a D D
DER KONGOSTAAT LEOPOLDS II.
Wenn die Schweiz auch keine direkten Kolonien verwaltet und nie-
mals erwerben wird, können wir doch an der gewaltigen Erscheinung der
modernen Kolonialwirtschaft nicht achtlos vorübergehen. Die weltwirt-
schaftlichen Zusammenhänge machen auch uns die Veränderungen der
Kolonialpolitik, die Steigerung oder Minderung der Produktion jedes Ge-
bietes usw. unmittelbar fühlbar; auch unsere international garantierte Neu-
tralität darf uns für die Machtverhältnisse der uns umgebenden Großstaaten
nicht gleichgültig machen, die immer mehr von der Entwickelung kolonialer
Gebiete abhängig werden. Aber selbst wenn wir wirtschaftlich und politisch
uns mit einer chinesischen Mauer umgeben könnten, bliebe uns die kuhu-
relle Pflicht, am Werke der Ausbreitung unserer Kultur über die ganze
Welt teilzunehmen. Die heutigen Kolonialreiche haben in der Geschichte
der Menschheit kein Vorbild; zum ersten Mal wird der Versuch gemacht,
den letzten Barbaren und Antipoden in ein System staatlicher und wirt-
schaftlicher Verhältnisse einzufügen, das in Europa ausgereift wurde. Alles
spricht dafür, dass der Versuch unaufhaltsam zum Erfolge führen wird. Glück-
licherweise stellt auch die Schweiz ihren Anteil zum Pionierkorps dieser Bewe-
gung. Von der bescheidenen Arbeit der Tausende von hoch geschulten Lehrern,
Ingenieuren und Arbeitern im Auslande berichtet die schweizer Presse
nur selten; für das Land bedeutet sie geradeso gut einen Gewinn wie für
die fremden Länder, denen der sichtbare Erfolg zugute kommt. (Es verhält
sich damit nicht anders wie mit der geistigen Aussaat, die unsere Hoch-
schulen durch die ausländischen Studenten ausstreuen — auch sie bringt
uns kulturelle und materielle Früchte und lohnt übergenug die Ausgaben,
die kurzsichtiger Chauvinismus verringern möchte.) Manchmal gelingt es
aber auch einem Schweizer, in die vordem Reihen zu treten. Wir haben
*) Prof. Dr. Hermann Brunnhofer, Die schweizerische Heldensage im Zusammenhang
mit der deutschen Götter- und Heldensage, Fr. Semminger, Bern.
,764
Afrikaforscher und Qrönlandreisende. Wir haben auch Leute, die an der
Kolonisation unmittelbar teilnehmen, nicht nur als Pflanzer und Händler.
Deren Wirken erscheint uns umso beachtenswerter, als sie von den poli-
tischen und wirtschaftlichen Machtvorstellungen vermutlich wenig beinflusst
sein werden, die manchmal den Angehörigen der kolonisierenden Völker
den Kopf verdrehen. Und wenn gar ein echter Marxist über seine kolo-
nialen Erfahrungen berichtet, so kann er erst recht auf Interesse zählen.
Von Max Büchlers erstem Bändchen über den Kongostaat, in dem dessen
Geschichte behandelt wird, war hier schon die Rede; der zweite Teil*)
wird außerhalb der Fachkreise noch mehr interessieren, da er über den
Spezialfall Kongo hinaus grundsätzliche Bedeutung hat. Die führenden
Sozialisten sind um das Kolonialprobiem nie recht herumgekommen ; wie
sich die Einzelnen und die sozialistischen Parteisynoden damit abfanden,
beschreibt Büchler nicht ohne Humor. Er selbst ist folgerichtig genug, um
eine kapitalistische Wirtschaft in Afrika auch dann für nötig zu halten,
wenn ihre Einführung nicht ohne Verletzungen der Humanität vor sich
gehen kann. Die Begründung ist in zwei ausführlichen Abschnitten gege-
ben, die von den Negern und vom Verhältnis der Eingebornen zur Kulti-
vationswirtschaft handeln. Reich an ethnographisch wertvollen Mitteilungen,
zu denen persönliche Erfahrungen und Forschungen den Verfasser nicht
minder befähigen als seine umfassende Kenntnis der Kolonialliteratur, sind
diese Abschnitte doch politisch zu würdigen. Man bekommt in diesen Fragen
fast immer nur extreme Stimmen zu hören. Entweder spricht der Kauf-
mann, der dem „Geschäft" alles andere zu opfern bereit ist und dem der | .
Diplomat und Kolonialbeamte gedankenlos nachbetet, oder der Missionär, j
der mit humanitären Phrasen oft ein Unverständnis der Wirklichkeit, noch
öfter ein anderes Geschäft, wenn auch vielleicht idealerer Art, zu bemänteln *
sucht. Von all diesen Vorurteilen ist Büchler frei und wenn er an alles
den sozialistisch-orthodoxen Maßstab anlegt, so hat dies mindestens den
Vorteil, eine ungewohnte, vielfach verblüffende Betrachtung zu ergeben.
Die Folgerungen daraus für den nunmehr belgischen Kongo bringen die
beiden letzten Abschnitte des Bandes, die auf jeder Seite das Streben
zeigen, den Dingen und Menschen gerecht zu werden. Dass Leopold II. wie
schon im ersten Bande besser davon kommt als im Urteil des europäischen
Bierbürgers, wird nicht überraschen; Büchler gibt aber auch die Quellen
an, aus denen man sich über die Angriffe auf die Kongoverwaltung unter-
richten kann. Ein Auszug des reichen Inhaltes lässt sich nicht in den
Rahmen einer kurzen Anzeige fügen. Die Lektüre selber, die auch durch
den lebhaft persönlichen Stil des Verfassers erleichtert wird, sei aber jedem
empfohlen, der den Blick über unsere engen Grenzpfähle hinaus richten
will. Ein echter Schweizer und ein rechter Kolonialmensch spricht hier —
hoffentlich hört nicht nur das Ausland seine Stimme.
PETERSBURG H. G. PRECONf
DDD
') Der Kongostaat Leopolds II. Von Dr. Max Büchler. Zweiter Teil : Die Eingeborenen
und die Kultivationspolitik. SP, 240 S. Zürich, Verlag von Rascher & Cie. 1913. Preis 4 Fr.
765
L'EROICA
Vor zwei Jahren wurde in der allerhand Unternehmungen holden
{Hafenstadt Spezia von kunsttreuen Neuitalienern eine vornehme Zeitschrift
gegründet, die manches versprach und schon manches gehalten hat:
L'EROICA, Rassegna d'ogni poesia. Mit einem gewissen Heldensinn trat
und tritt sie in der Tat ein für bedeutsame Kunstäußerungen in Worten,
Bildern und Tönen, besonders jüngerer, oft noch nicht genügend anerkann-
ter Künstler. Redigiert wird sie von Ettore Cozzani und Franco Oliva.
Jährlich erscheinen zehn Nummern ^). Die gute Ausstattung mag zu ihrem
durchdringenden Erfolge beigetragen haben.
Vor mir liegt die erste Nummer des dritten Jahrgangs. Aus dem
fesselnden Inhalt hebe ich hervor:
Das knappe Vorwort der Redaktoren, die sich der Verwirklichung ihres
einstigen Traumes freuen und mit wackerem Ruf zur Arbeit schließen:
„AI lavoro!" — Die bewegten balladenartigen Strophen Cozzanis La Tem-
pesta, die eine wilde Sage, „mito selvaggio", ein Monna Vanna-Motiv,
wirksam verwerten. D'Annunzios Meerespoesie und Frauenmacht leuchtet
durch; aber bei Cozzani ist mehr Einfachheit und Konzision^),
„Das Lob der Mutter", LElogio della madre, des hier schon mehr-
fach erwähnten Angiolo Silvio Novaro, eine warmblütige Dichtung in eigen-
wertiger Prosa, anschaulich, eindringlich, durchbebt vom Schlage eines
froh dankenden Herzens. Das Thema der Mutter — italienische Dichter
berühren es vielleicht noch häufiger als andere; in allen Schriften Novaros
kehrt es wieder, tief ergreifend in dem Gedicht La madre aus der Samm-
lung La Casa del Signore — erfährt im Elogio eine sonderlich zarte und
doch machtvolle Durchführung.
Ein Gedicht Francesco Chiesas, des in Italien so bewunderten und
gerne aufgenommenen Schweizers. Es gilt einer beglückenden Jungfrau,
Olimpia, die alle sie umgebende Lenzespracht in ihrer Gestalt, in ihrem
Wesen ausprägt, und den Dichter mahnt, sich sorglos, ohne Fragen, der
Frühlingsfreude, der genießenden Ruhe hinzugeben:
üomo, se i cieli tornano vivaci, Mensch, wenn der Himmel wieder leuchtet,
e il suol verdeggia e pigolano i nidi, und die Erde grünt, und die Nester jubeln,
uomo, t'allegra del bei tempo e taci. Mensch, freue dich der schönen Zeit und
Attendi il canto che t'allieti e guidi, schweige. Horche auf den Sang, der dir Wonne
cerca la bocca che ti parli e baci, und Führung ist, suche den Mund der dir
godi e riposa senza chieder come. Worte und Küsse beut, genieße und ruhe, und
Men gioia ö quando ne conosci il nome. frage nicht. Geringer ist die Freude, die du
ergründest und zu nennen weißt.
Wer etwa in Chiesa bisher mehr nur den hochintellektuellen, kühlen,
wenn noch so phantasieprächtigen Ästheten zu sehen vermochte, dem muss
die Wärme dieses Gedichtes besonders wohl tun. Als — vielleicht un-
bewusste — Leopardi-Reminiszenz, in Laut und Inhalt (L'Infinito!), mutet
die sechste, allerdings den andern innerlich völlig eingegliederte Strophe an:
„Sempre dolce mi fu tra l'erbe nuovej
di ruscelli ascoltar mite lamento
e pensarvi altre voci ..." —
>) Verlag Formiggini, Genua.
2) Zwei seiner Verse könnten von den Redaktoren und ihren Helfern gelten:
Noi come uccelli in rugiadosa frasca Wir, gleich Vögeln in taufrischem Laube,
sognavam voll con libere penne. träumten Flüge mit freien Flügeln.
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Jedes Heft ist in reicher Art geschmüc!<t. Prosen und Poesien werden
bildlich eingeleitet, und außerdem sind, unabhängig vom Text, verschiedene
Stiche, Drucke und Schnitte, auch farbige, beigegeben, wovon mir mehreres
bemerkenswert scheint. Urteile hierüber seien andern überlassen. Ich führe
nur zwei Namen an: Leonardo Bistolfi und Adolfo De Carolis.
Mannigfach ist der letzte Teil jedes Heftes, La buona novella, „Die
gute Kunde", das heißt mehrerlei Kritisches und Bibliographisches, sowie
persönliche Nachrichten. Unter diesem Titel stoße ich in der vorliegenden
Nummer nochmals auf Novaro und Chiesa. Von Novaro, dem „Dichter
ohne Hast und ohne Rast", wird eine mit Spannung erwartete Sammlung
lyrischer Gedichte angekündigt, Cuor nascosto, ein Buch „der Güte, Wahr-
heit, Einfachheit und Unmittelbarkeit". Ähnlich Novaro ist auch Chiesa
„einsam und ohne Eile". Seinen Werken wird eine anerkennende Charakte-
ristik zu Teil; besonders hervorgehoben wird sein letzter, lichtsprühen-
der erzählender Band Istorie e favole. Man mag dem Urteil zustimmen,
dass sich in diesem Bande Chiesa „jünger, freier, schwelgerischer" offenbart.
Sollte er aber wirklich — was Chiesas Entwicklung anbelangt — eine
„Überraschung" gewesen sein? — Wer aufmerksam durch Chiesas Viali
d'oro wandelte, erblickte da schon deutliche Anzeichen zu den neuen,
sinnenglühenden Bildern, wie sie die Istorie e favole da und dort vor
uns entfalten.
Eine besondere Rubrik gehört den mit Unrecht Vergessenen. Diesmal
wird ein oft allzu lebenslustiger sizilianischer Dichter, Domenico Tempio
(1750—1821), wiedererweckt, dessen Richtwort in seiner Mundart also lau-
tete: „Amu la Paci e cantu lu Piaciri", „Ich liebe den Frieden und singe
die Freude".
Eine kurze Mitteilung, Musicisti nuovi, verspricht für spätere Num-
mern musikalische Beiträge junger leistungskräftiger italienischer Musiker,
wie Bastianen!, Gui, Alaleona Malipiero, Barilli. „Eine stolze Ernte neuer
schöner Musik reift in Italien ! Hier, in dieser Eroica, werden wir des guten
Kornes erste reife Ähren brechen."
Wieder ein Abschnitt berichtet von den schon bestehenden und den
noch zu gründenden Corporazloni (Gesellschaften, Bünde) dell'Eroica,
so die der Graphiker, Musiker, Architekten, und vor allem die der Artieri,
das will besagen, Arbeiter gediegenster Gesinnung, mit künstlerischen Ab-
sichten. Es heißt, das Wort artiere müsse wieder geheiligt werden durch
das Licht edelster, makelloser Arbeit. Hat es nicht schon Carducci, der
große Erzieher Neu-ltaliens, wieder geheiligt? „11 poeta e un grande ar-
tiere . . .") Ferner: „Die Artieri der Eroica werden alle diejenigen Künstler
sein, die erfasst haben, was die Kunst dem Leben schuldet, und das Leben
der Kunst, und wie Kunst und Leben sich völlig in der Liebe des dekorativ
Schönen verbinden sollen, das unser Alltagsdasein in die helle Sonne der
Poesie erhebt."
So bemüht und bewährt sich auch in Italien eine rührige Zentrale
und ein mutiges Organ neuer Geschmacksbildung und freier Kunstentwicklung.
ZÜRICH E. N. BARAGIOLA
DOD
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SALOMON D. STEINBERG: DIE BLAUE STUNDE
In drei Teilen : „Aus Stunden der Dämmerung", „Aus Nächten, „Vom
Tage" bietet sich, sorgfältig komponiert, „Ein Kranz Gedichte von mir und
dir."*) in der Mitte leuchten zwei Lieder, das fernenmutige „Unruhiges
Leben" und das dunkle „Lied zum Wein". Aus Wünschen, Glück und Qua-
len der Liebe steigert sich das Lebensgefühl dort zum schicksalsbewussten
Zukunftsdrang, hier zur Ergriffenheit vor dem Symbol des rätselhaften Seins.
Der Grundton, der aus den neunundfünfzig Stücken der Sammlung
klingt und Schmerz und Freude dämpft zu wehmütiger Harmonie, ist in-
nige, sinnende Gehaltenheit. Der Dichter scheut das Laute, Grelle und
führt gern die Zeit herauf, „die zwischen Tag und Nacht erglänzt in matten
Farben." So wird vielleicht die Domäne seines Talents mit dem Hinweis
bezeichnet, dass die Dämmerung und allgemein die „kaum bewegte Land-
schaft" die Gedichte tragen, in denen die persönliche Melodie vibriert.
Spätherbstabend :
Tagmüde fließt der Strom hinab,
Von dunlilen Bändern überspielt.
Was sich im hellen Licht erhielt
Sinkt nieder matt und dämmert ab.
Ein Licht ums andere erstirbt,
Und alles fließt dem Dunkel zu,
Klingt aus und hüllt sich in die Ruh',
Die um den jungen Abend wirbt.
' Da wächst dein Bildnis mir empor,
In blasser Schönheit überhellt —
Dann aber schwankt es müd und fällt —
Versinkt im dämmerblauen Flor.
Die gegenwärtige Ruhesehnsucht oder überhaupt das Klarheitsbedürfnis
drängen oft zum Spruche, der den Weisheitsgewinn aus dem Erlebnis zieht.
Es dokumentiert die Begabung, dass diese nachdenklichen Schlüsse immer
im Felde der Poesie bleiben.
Dazu ist alles vornehm und mit den Mitteln einer einfachen Metrik
und Sprache gearbeitet. Bewirkt ein noch beschränktes Ausdrucksver-
mögen bisweilen Verschwommenheit der Faktur, hindert etwa ein Sich-
Verlieren im Rhythmus die Prägung des Gefühlten, oder sind die Reime
hin und wieder bezüglich des seelischen Gehalts nicht im Gleichgewicht,
so stellen diese Erstlingsakzidenzien doch den Wert des Ganzen nie in
Frage. Wo sich die Vorzüge rein zusammenfinden, da gilt, was der Dichter
bei einem Abschied ausspricht:
Als ob ein schönes Lied verklingt,
Legt es sich schwer in mich hinein.
USTER JOSEF HALPERIN
1) Axel Juncker Verlag, Berlin (brochiert 2 Mark, gebunden 3 Mark).
BERICHTIGUNG
Fräulein Anna Fierz, deren Korrektur uns nicht rechtzeitig erreichte, bittet uns um
Aufnahme folgender Berichtigungen zu ihrem Aufsatz in Heft 22:
S. 637, Zeile 21 : der Jugendformen. — Zeile 38 : seiner alten Recken. — Vorletzte
Zeile: Storm steht prächtig geordnet da. — Seite 638, I.Zeile: von der Wa/d^ und der grauen
Stadt. — Sechsletzte Zeile: die Plastik der Darstellung. — Seite 639, Vorletzte Zeile: das
Bild des Dichters leicht verwirren. — Seite 640, Zeile 7: das Po5f maidlein.
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
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